190 31 5MB
German Pages 780 Year 2014
Preis/Sagan (Hrsg.)
Europäisches Arbeitsrecht
Europäisches Arbeitsrecht Grundlagen · Richtlinien Folgen für das deutsche Recht herausgegeben von
Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis Dr. Adam Sagan, MJur (Oxon) bearbeitet von
Prof. Dr. Wiebke Brose, LL.M. (Köln/Paris I)
Dr. Sebastian Naber, LL.B. Rechtsanwalt, Hamburg
Universitätsprofessorin, Duisburg-Essen
Dr. Timon Grau Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Frankfurt a.M.
Dr. Stephan Pötters, LL.M. (Cantab) Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Bonn
Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis Prof. Dr. Michael Grünberger, LL.M. (NYU) Universitätsprofessor, Bayreuth
Universitätsprofessor, Köln
Dr. Sebastian Roloff Richter am Arbeitsgericht, Köln
Prof. Dr. Felix Hartmann, LL.M. (Harvard) Universitätsprofessor, Hamburg
Dr. Johannes Heuschmid Stellv. Leiter Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht, Frankfurt a.M.
Dr. Alice Jenner, LL.M. (LSE)
Dr. Adam Sagan, MJur (Oxon) Akademischer Rat, Köln
Dr. Piero Sansone Rechtsanwalt, Köln
Florian Schierle Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin
Rechtsanwältin, Düsseldorf
Dr. Christian Mehrens Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf
Dr. Thomas Müller-Bonanni, LL.M. (NYU) Rechtsanwalt, Düsseldorf
Dr. Ulrich Sittard Rechtsanwalt, Köln
Dr. Daniel Ulber Akademischer Rat, Köln
Dr. Stefan Witschen Akademischer Rat, Köln
2015
Zitierempfehlung: Verfasser in Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, §… Rz. …
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42048-2 © 2015 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: Schäper, Bonn Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
Zum Geleit Die Abfassung und Herausgabe eines Handbuchs zum europäischen Arbeitsrecht ist eine große Aufgabe, die Mut erfordert. Denn der in vielen Jahren in der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung angesammelte Stoff ist kaum noch übersehbar und schwer durchschaubar. Eine von Oetker/Preis herausgegebene Loseblattsammlung Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (Rechtsvorschriften, systematische Darstellungen, Entscheidungssammlung) nimmt 180 Regalzentimeter ein. Zudem beschränkt sich das Werk nicht auf das europäische Arbeitsrecht, sondern bezieht das deutsche ein, durch das das europäische hierzulande erst wirksam wird. Das deutsche Arbeitsrecht wird, wie das aller Mitgliedstaaten, flächendeckend vom europäischen überlagert und durchdrungen. Eins ist klar. Jede Darstellung, die nicht unförmig werden soll, muss sich auf das Wesentliche konzentrieren, multum, non multa bringen. Aber für wen soll sie wesentlich sein und was ist hier wesentlich? Adressat sind die Praktiker des Arbeitslebens, in Unternehmen, Verbänden und Gerichten. Das Handbuch will Vermittler sein zwischen dem, was in Brüssel und Luxemburg bestimmt wird, und den deutschen Stellen, die es umzusetzen haben. Dass das europäische Arbeitsrecht unter Beteiligung der deutschen Regierung, der deutschen EU-Parlamentarier und häufig auch der deutschen Sozialpartner zustande kommt, macht die Vermittlung nicht einfacher, weil supranationales und nationales Recht strukturell verschieden sind und erst einmal zusammengeführt werden müssen. Das Handbuch will den deutschen Rechtsanwendern auf doppelte Weise helfen. Zunächst in den §§ 1 und 2 durch Erläuterung von System und Methode des europäischen Arbeitsrechts. Schon das System des deutschen Arbeitsrechts ist wie auch das anderer nationaler Arbeitsrechte kompliziert, weil zu den üblichen Gestaltungsfaktoren Verfassung, Gesetz und Einzelvertrag der Tarifvertrag und die Betriebsvereinbarung hinzukommen. Das europäische Arbeitsrecht fügt dem Vierfaches hinzu, Grundrechte, Grundfreiheiten, Verordnungen und – praktisch besonders wichtig – Richtlinien, die einen ausgeprägten supranationalen Charakter haben, weil sie sich unmittelbar nur an die Mitgliedstaaten wenden, nicht an die Parteien des Arbeitslebens, auf die Gefahr hin, dass sie zu ihnen gar nicht durchdringen. Das hat den Europäischen Gerichtshof nicht ruhen lassen, und er hat Wege gefunden, um den Richtlinien doch weitgehende Wirkung auf Private zuschaffen: Unmittelbare Wirkung einiger Grundrechte durch das Medium konkretisierender Richtlinien, das Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts und die Haftung der Mitgliedstaaten, die eine Richtlinie nicht oder nicht fristgerecht umsetzen, für legislatives Unrecht durch Unterlassen. All dies gehört zum Werkzeug eines jeden, der mit Arbeitsrecht zu tun hat, und das Handbuch hilft bei seiner Anwendung. Der Grundlagenteil wird ergänzt durch die Darstellung des Vorlageverfahrens (§ 13 des Handbuchs), das von jedem Arbeitsgericht an Bundesarbeitsgericht und Bundesverfassungsgericht vorbei direkt zum Europäischen Gerichtshof führen kann und so das europäische Arbeitsrecht auch prozessual eng mit dem deutschen verknüpft. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hier auf die Rolle des Antreibers zurückgezogen und greift ein, wenn eine offensichtlich gebotene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof unterbleibt. Diese neuartigen prozessualen Wege lassen sich mit Hilfe des Handbuchs gut und sicher beschreiten. V
Geleitwort Auf die Behandlung der materiell-rechtlichen und prozessualen Grundlagen folgt eine Darstellung der Rechtsbereiche, die wohl jeder Praktiker als für ihn besonders bedeutsam bezeichnen würde. Das beginnt in § 3 mit einem besonders umfangreichen und engagierten Beitrag zu den Diskriminierungsverboten, ergänzt in § 4 um das Verbot der Altersdiskriminierung und in § 8 durch die Leiharbeit und den bei ihr geltenden Grundsatz der Gleichbehandlung. Darauf folgt in § 5 die Dienstleistungsfreiheit, in deren Zentrum die Arbeitnehmerentsendung und damit die Quelle des modernen deutschen Mindestlohnrechts steht. Von den beiden Hauptleistungen des Arbeitsverhältnisses, Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt, werden in §§ 6 und 7 Arbeitszeit und Urlaub umfassend behandelt, während das Arbeitsentgelt im Zusammenhang mit den Diskriminierungsverboten und der Arbeitnehmerentsendung eine große Rolle spielt, im Übrigen aber mangels Kompetenz der Union den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Mit dem Bestand des Arbeitsverhältnisses, der Voraussetzung für alles Weitere ist, befassen sich § 9 (Befristung), § 10 (Massenentlassung) und § 11 (Betriebsübergang). Aus dem kollektiven Arbeitsrecht wird in § 12 das europäische Betriebsverfassungsrecht behandelt, während Koalitions- Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht kein selbständiger Abschnitt gewidmet wird, da sie wie die Arbeitsentgelte nur im Zusammenhang mit anderen Regelungen in das europarechtliche Blickfeld geraten. Die Konzentration auf wenige zentrale Schwerpunkte, hat den Vorteil, dass diese umfassend und vollständig behandelt werden konnten, von der Entwicklung über den heutigen Stand zu einem steten Blick in die Zukunft, soweit sie sich heute schon abzeichnet. Die Autoren sowie Ulrich Preis und Adam Sagan als Herausgeber, allesamt seit langem im europäischen Recht aktiv, haben es sich nicht leicht gemacht. Sie haben den umfangreichen Stoff nicht einfach abgearbeitet, sondern Wert auf eine gut lesbare und durch Übersichten strukturierte Darstellung gelegt. Mögen der Mut, mit dem sie die schwierige Aufgabe in Angriff genommen haben und ihre Leistung die verdiente Anerkennung finden und zu einer unentbehrlichen Hilfestellung für die Praxis werden. Köln, im Oktober 2014
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Prof. Dr. Dres. h.c. Peter Hanau
Vorwort Es ist ein verbreiteter Allgemeinplatz, dass das Recht der Europäischen Union für das Arbeitsrecht von hoher und zunehmender Bedeutung ist. Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union wie etwa in der Rs. Junk haben gezeigt, dass ein einziges Judikat aus Luxemburg eine jahrzehntelange Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Fall bringen kann. Die Urteile in den Rs. Mangold und Kücükdeveci haben deutlich gemacht, dass selbst parlamentarische Gesetze vor dem Einfluss des europäischen Arbeitsrechts nicht sicher sind. Der wachsende Einfluss des europäischen Rechts auf das Arbeitsrecht und in der Folge auch auf die arbeitsrechtliche Beratung in der Praxis spiegelt sich im Schrifttum mit einer zunehmenden Zahl von Beiträgen in juristischen Fachzeitschriften zu Fragen des europäischen Arbeitsrechts wider. Im Gegensatz dazu klafft in der praxisorientierten Kommentar- und Handbuchliteratur insoweit noch eine Lücke, als dass das europäische Arbeitsrecht dort häufig allein aus der Perspektive seiner Einwirkung auf das deutsche Arbeitsrecht betrachtet und nur punktuell danach gefragt wird, ob und inwiefern bestimmte Vorschriften des deutschen Rechts in Übereinstimmung mit unionsrechtlichen Vorgaben zu interpretierten sind. Das europäische Recht erscheint dann – gleichsam wie in Platons Höhlengleichnis – lediglich im Widerschein der Auslegung deutscher Rechtsvorschriften und nicht als aus sich selbst heraus zu verstehender Teil der autonomen Unionsrechtsordnung. Das vorliegende Handbuch möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen, und vor allem der Praxis eine nützliche Hilfe beim (erstmaligen) Umgang mit dem europäischen Arbeitsrecht bieten. Freilich zählen zum „europäischen Recht“ nach einem weiten Begriffsverständnis neben dem Recht der Europäischen Union auch die Grundrechte der im Rahmen des Europarates abgeschlossenen völkerrechtlichen Vereinbarungen, im Einzelnen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Europäische Sozialcharta. Beide gewinnen in der jüngeren Vergangenheit zunehmende Bedeutung für das Arbeitsrecht. Dieses Werk legt dem Begriff des europäischen Rechts im Allgemeinen bzw. dem des europäischen Arbeitsrechts im Besonderen jedoch ein enges Verständnis zugrunde, das sich allein auf das Recht der Europäischen Union bezieht. Soweit nicht anders angegeben, wird zudem allein auf das derzeit geltende Unionsrecht Bezug genommen. Bestimmungen in älteren Fassungen der europäischen Verträge werden nach Maßgabe der amtlichen Übereinstimmungstabellen mit den sie ersetzenden Regelungen der aktuellen Verträge gleichgesetzt (Vertrag von Amsterdam: ABl. Nr. C 340 v. 10.11.1997, S. 85; Vertrag von Lissabon: ABl. Nr. C 83 v. 30.3.2010, S. 361). Das gilt entsprechend für die auf der Grundlage der europäischen Verträge erlassenen Richtlinien und sonstige europäische Vorschriften, die durch nachfolgende Rechtsakte abgelöst wurden, sowie für die zu den jeweiligen Vorfassungen des europäischen Rechts ergangene Rechtsprechung und die sich hierauf beziehende Literatur. Seinem originären Zweck entsprechend bezieht sich dieses Werk in erster Linie auf das europäische Recht und die Ausführungen hierzu lassen – der Rechtsprechungszuständigkeit des EuGH nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV folgend – das deutsche sowie das sonstige mitgliedstaatliche Recht prinzipiell außer Betracht. Soweit die Folgen des Unionsrechts für das deutsche Recht oder sonstige Fragen des nationalen Rechts behandelt werden, ist dies durch das Einrücken des Textes kenntlich gemacht. Hieraus ergibt sich die folgende Zweiteilung: Gegenstand des regulären „Fließtextes“ ist das europäische Recht, die eingerückten und mit grauer Randlinie versehenen Passagen betreffen das nationale Recht. VII
Vorwort Im Verlag Dr. Otto Schmidt danken wir Frau Dr. Julia Beck für ihre ebenso aufmerksame wie kompetente Lektoratsbetreuung sowie Frau Sonja Behrens-Khaled, die einen wesentlichen Impuls für die Entstehung des Werkes gegeben und es anfänglich mitbetreut hat. Die Manuskripte wurden am 6. Oktober 2014 abgeschlossen. Für Anregungen und Kritik sind wir dankbar ([email protected]). Köln, im Oktober 2014
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Ulrich Preis / Adam Sagan
Inhaltsübersicht Seite
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . Verzeichnis der zentralen Richtlinien Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . .
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V VII XIII XIV XV
§1 I. II. III. IV. V.
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts . . . . . . Historische Etappen des europäischen Arbeitsrechts Charakteristika der europäischen Rechtsordnung . . Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht . . . . . Auslegung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatik europäischer Richtlinien . . . . . . . . . . .
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1 6 14 22 36 50
§2 I. II. III.
79 80 83
VIII.
Die Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung und Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte (Art. 51 GRC) . . . . . . . . . . . . Unmittelbare Wirkung und Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittwirkung (horizontale Direktwirkung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkretisierung der Unionsgrundrechte durch Sekundärrecht . . . . . . . . . . Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen: Schranken-Schranken (Art. 52 Abs. 1 GRC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessuale Durchsetzung: Das arbeitsteilige System des Grundrechtsschutzes in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick: Einzelne Grundrechte mit arbeitsrechtlicher Relevanz . . . . . . . .
101 108
§3 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Nichtdiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung . . . . . . Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts . . . . Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts . Diskriminierungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskriminierungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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115 117 122 130 140 158 184 198 210
Verbot der Altersdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbot der Altersdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbot der Altersdiskriminierung auf den verschiedenen Stufen des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217 219 220
§5 I. II. III.
271 273 288 294
IV. V. VI. VII.
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§4 I. II. III.
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entsendung und Arbeitskollisionsrecht . . . . . . . . . . Entsenderichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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90 92 95 97
238 269
IX
Inhaltsübersicht Seite
§6 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.
Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermächtigungsgrundlage für die Arbeitszeitrichtlinie . . Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit Ruhepausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachtarbeit und Schichtarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen . . . . . . . . Ausstrahlungswirkung der Arbeitszeitrichtlinie . . . . . . Reformvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umsetzungsdefizite in Deutschland . . . . . . . . . . . . . .
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334 336 345 346 357 375 376 383 405 409 411
§7 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Urlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsnatur des Urlaubsanspruchs . . . . . . . . . . . Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs . . . . . . . . Urlaubsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Festlegung des Urlaubszeitraums . . . . . . . . . . . . Urlaubsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs Urlaubsabgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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412 413 416 417 423 427 430 434 436
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439 442 444 444 445 452 453
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465 471 472
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Leiharbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermächtigungsgrundlage der Richtlinie . . . . . . . . . . . Ziel der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen . . . . . Überprüfung von Einschränkungen und Verboten . . . . Grundsatz der Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Vertretung der Leiharbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . IX. Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter . . . . . . . . .
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§8 I. II. III. IV. V. VI. VII.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . und . . . . . . . . .
§9 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.
Befristungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Rahmenvereinbarung zur Richtlinie . . . . . . . . . . Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schnittstellen mit anderen unionsrechtlichen Regelungen . Anwendungsbereich und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV . . . Information und Beschäftigungsmöglichkeiten, § 6 Befr-RV Information und Konsultation, § 7 Befr-RV . . . . . . . . . . . Umsetzungsbestimmungen, § 8 Befr-RV . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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474 476 478 479 480 491 512 529 530 531 533
§ 10 I. II. III. IV. V.
Massenentlassungsrecht . . . . . . . Entstehungsgeschichte und Zweck Anwendungsbereich . . . . . . . . . . Konsultationsverfahren . . . . . . . . Anzeigeverfahren . . . . . . . . . . . . Ablaufplan . . . . . . . . . . . . . . . .
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535 536 539 549 564 574
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Inhaltsübersicht Seite
§ 11 I. II. III. IV.
Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutz vor Kündigung und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses infolge wesentlicher Verschlechterung der Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . V. Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . VI. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die Rechtsstellung und Funktion der Arbeitnehmervertretungen und ihre Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Information und Konsultation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 12 Europäisches Betriebsverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . I. Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG . . . . . . . II. Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung 2002/14/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
.. . .. . .. . .. . . .. . .. . .. . .. . . der Arbeitnehmer .. . .. . .. . .. . .
Das Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben der Rechtsprechung in der Europäischen Union . . Zweck und Bedeutung des Verfahrens nach Art. 267 AEUV Vorlageadressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlagegegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlagefrage, Vorlagebeschluss und Verfahren . . . . . . . . . . Verfahren beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerichtsorganisation im Vorabentscheidungsverfahren . . . .
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576 580 585 602 628 633 636 641 652 653 702
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710 712 713 715 716 718 723 733 739 744 744 747
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XI
Abkürzungsverzeichnis AEUV ASP CEDAW CMLR EAG EEA EG EGKS ELJ ELR EMRK
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrages von Lissabon Abkommen über die Sozialpolitik Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau) Common Market Law Review
EWCA Civ EWG EWGV
Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl European Law Journal European Law Reporter Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Erwägungsgrund Europäische Sozialcharta Europäische Union Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrages von Lissabon England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
GA GRC
Generalanwalt/Generalanwältin Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ICERD ILJ
International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung) Industrial Law Journal
RdJB RL
Recht der Jugend und des Bildungswesens Richtlinie
SCE SE SJZ
Societas Cooperativa Europaea/Europäische Genossenschaft Societas Europaea/Europäische Gesellschaft Schweizerische Juristenzeitung
VO
Verordnung
YLR
Yale Law Review
ErwGr. ESC EU EUV
XIII
Verzeichnis der zentralen Richtlinien Abkürzung
Abgekürzter Titel
Nummer
AntiRass-RL ArbZ-RL
Antirassismusrichtlinie Arbeitszeitrichtlinie
2000/43/EG 2003/88/EG
Befr-RV BÜ-RL
Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge Betriebsübergangsrichtlinie
1999/70/EG 2001/23/EG
Ents-RL EBR-RL
Entsenderichtlinie EBR-Richtlinie
96/71/EG 2009/38/EG
Geschl-RL Gleichb-RL
Geschlechterrichtlinie Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie
2006/54/EG 2000/78/EG
Leiharb-RL
Leiharbeitsrichtlinie
2008/104/EG
ME-RL
Massenentlassungsrichtlinie
98/59/EG
SCE-RL SE-RL
SCE-Richtlinie SE-Richtlinie
2003/72/EG 2001/86/EG
UuA-RL
Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie
2002/14/EG
Verschm-RL
Verschmelzungsrichtlinie
2005/56/EG
XIV
Literaturverzeichnis Ascheid/Preis/Schmidt (Hrsg.), Kündigungsrecht, 4. Aufl. 2012 (zit.: APS/Bearbeiter) Barnard, EU Employment Law, 4. Aufl. 2012 Bercusson, European Labour Law, 2. Aufl. 2009 Blanpain, European Labour Law, 14. Aufl. 2014 Blanpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1996 von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009 (zit.: EuVerfR/Bearbeiter) Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011 (zit.: Calliess/Ruffert/Bearbeiter) Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009 (zit.: Ehlers/Bearbeiter) Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Betriebsverfassungsgesetz, Kommentar, 27. Aufl, 2014 (zit.: Fitting) Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2014 Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010 (zit.: Gebauer/Wiedmann/Bearbeiter) Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt, 53. Erg-Lfg. Stand: Mai 2014 (zit.: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bearbeiter) von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2003 (zit.: von der Groeben/Schwarze/Bearbeiter) Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007 Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002 (zit.: Hanau/Steinmeyer/Wank/Bearbeiter) Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 9. Aufl. 2014 Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), Arbeitsrecht Kommentar, 6. Aufl. 2014 (zit.: HWK/Bearbeiter) Herdegen, Europarecht, 16. Aufl. 2014 Heß, Die Umsetzung von EG-Richtlinien im Privatrecht, 1999 (zit.: Heß, Die Umsetzung von EG-Richtlinien) Hobe, Europarecht, 7. Aufl. 2012 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994 Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001 Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Aufl. 2010 Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2012 Meinel/Heyn/Herms, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 4. Aufl. 2012 (zit.: Meinel/ Heyn/Herms/Bearbeiter) XV
Literaturverzeichnis Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014 (zit.: Meyer/Bearbeiter) Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2014 (zit.: ErfK/Bearbeiter) Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS), Rechtsvorschriften, Systematische Darstellungen und Entscheidungssammlung, Loseblatt, 179. Erg.Lfg., Stand: Juni 2014 (zit.: EAS/Bearbeiter) Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 6. Aufl. 2014 Preis (Hrsg.), Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011 (zit.: Preis/Bearbeiter) Preis (Hrsg.), Innovative Arbeitsformen, 2005 (zit.: Preis/Bearbeiter) Rebmann/Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 6. Aufl. 2012 (zit.: MüKoBGB/Bearbeiter) Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010 (zit.: Riesenhuber/ Bearbeiter) Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2007 Schmidt, M., Das Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2001 Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Aufl. 2010 (zit.: Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Bearbeiter) Schwarze, J. (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012 (zit.: Schwarze/Bearbeiter) Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2011 (zit.: Streinz/Bearbeiter) Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012 Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008 Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006 (zit.: Tettinger/Stern/Bearbeiter) Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2011 Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2007 Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht – EUV, AEUV, Grundrechte-Charta, 2012 (zit.: Vedder/Heintschel von Heinegg/Bearbeiter) Wlotzke/Preis/Kreft (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2009 (zit.: Wlotzke/ Preis/Kreft/Bearbeiter) Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2010 (zit.: Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe)
XVI
§1 Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts1 Rz. I. Historische Etappen des europäischen Arbeitsrechts 1. EWG-Vertrag (1957) . . . . . . . . . .
1
2. Das sozialpolitische Aktionsprogramm (1974) . . . . . . . . . . . . . .
5
3. Einheitliche Europäische Akte (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
4. Vertrag von Maastricht (1992) . . . . 10 5. Vertrag von Amsterdam (1997) . . . 12 6. Vertrag von Nizza (2001) . . . . . . . 14 7. Vertrag von Lissabon (2007) . . . . . 15 II. Charakteristika der europäischen Rechtsordnung 1. Autonomie des Unionsrechts . . . . 18 2. Rechtsquellen des Unionsrechts a) Die Europäischen Verträge . . . . 22 b) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . 23 c) Sekundäres Unionsrecht . . . . . . 27 3. Unmittelbare Anwendung . . . . . . 28 4. Anwendungsvorrang . . . . . . . . . . 31 III. Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht 1. Allgemeine Vorgaben . . . . . . . . . a) Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . b) Subsidiaritätsgrundsatz . . . . . . c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . d) Querschnittsklauseln . . . . . . . . 2. Primärrechtliche Kompetenzen und sekundäres Arbeitsrecht . . . . . . . a) Grundfreiheiten aa) Arbeitnehmerfreizügigkeit . bb) Dienstleistungsfreiheit . . . . cc) Niederlassungsfreiheit . . . . b) Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Voraussetzungen bb) Katalog sozialpolitischer Kompetenzen . . . . . . . . . . cc) Bereichsausnahme des Art. 153 Abs. 5 AEUV . . . . dd) Anhörung der europäischen Sozialpartner . . . . . . . . . .
38 39 40 43 44 45 48 50 51 52 53 55 60 62
c) Gleichbehandlung . . . . . . . . d) Rechtsangleichung im Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . e) Internationales Arbeitsrecht . f) Kompetenzabrundungsklausel
Rz. . . 63 . . 65 . . 67 . . 68
3. Der soziale Dialog . . . . . . . . . . . 71 IV. Auslegung des Unionsrechts 1. Grundsatz der autonomen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Die Methoden zur Auslegung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematik . . . . . . . . . . . . . . aa) Systematik des Rechtsaktes bb) Vorgaben des Primärrechts . cc) Enge Auslegung von Ausnahmevorschriften? . . . . . . c) Historische Auslegung . . . . . . . d) Normzweck . . . . . . . . . . . . . .
81 85 88 89 91 94 96 100
4. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . 103 5. Der Arbeitnehmerbegriff im Unionsrecht a) Autonomer und nationaler Arbeitnehmerbegriff . . . . . . . . . . 107 b) Autonomer Arbeitnehmerbegriff . 110 V. Dogmatik europäischer Richtlinien 113 1. Vorgaben für die Richtlinienumsetzung a) Vorwirkung und Sperrwirkung . . 115 b) Anforderungen an den Umsetzungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . 118 c) Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Innerstaatliche Wirkungen europäischer Richtlinien . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbare Anwendung aa) Entstehungsgeschichte . . . . bb) Unmittelbare Anwendung gegenüber dem Staat . . . . . cc) Keine unmittelbare Anwendung zwischen Privaten . . .
124 125 130 135
1 Für seine tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags danke ich Herrn stud. iur. Konstantin Axnick.
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§1
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
b) Richtlinienkonforme Auslegung aa) Grundlagen . . . . . . . . . . bb) Reichweite und Grenzen . (1) Einzelstaatliche Auslegungsmethoden . . . . (2) Verbot des Contralegem-Judizierens . . .
Rz. . 142 . 143 . 145 . 149
Rz. (3) Vertrauensschutz . . . . . 155 c) Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung . . . . . . . 160 d) Grundrechtskonkretisierende Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . 163
. 151
3. Überschießende Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Schrifttum: Monographien, Lehrbücher, Kommentare: Däubler (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012 (zit.: Däubler/Bearbeiter); Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Loseblatt, 35. Erg.-Lfg. Stand: Februar 2014 (zit.: Dauses/Bearbeiter); Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, 1999; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Dewald, Die Anwendung des Unionsrechts auf den deutschen Tarifvertrag, 2012; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999; Gerken/Rieble/G. Roth/Stein/Streinz, Das Mangold-Urteil des EuGH – „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, 2009; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997; Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979; Haltern, Eine Lanze für Mangold, in: Haltern/Bergmann (Hrsg.), Der EuGH in der Kritik, 2012, S. 26; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006; Heuschmid, Der Arbeitskampf im EU-Recht, in: Däubler (Hrsg.), Arbeitskampfrecht, 3. Aufl. 2011, S. 153; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008; Kutscher, Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, 1976, S. I-1; Langenbucher (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 3. Aufl. 2013 (zit. Langenbucher/Bearbeiter); Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI/1: Europäische Grundrechte I, 2010 (zit.: Merten/Papier/Bearbeiter, HGR VI/1); Müller-Graff, Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Profil der EU nach Lissabon, in: Fastenrath/Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S. 173; Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003; Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf die Praxis, 2003; Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, 2008; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, 2010; Staudinger, BGB, Einleitung zu §§ 241ff; §§ 241–243, Neubearbeitung 2009; Staudinger, Der Widerruf bei Haustürgeschäften: eine unendliche Geschichte?, NJW 2002, 653; Stein, Zwischenruf – Arrivederci Karlsruhe …, ZRP 2010, 265; Steiner, Das deutsche Arbeitsrecht im Kraftfeld von Grundgesetz und Europäischem Gemeinschaftsrecht, NZA 2008, 73; Steinmeyer, Der Vertrag von Amsterdam und seine Bedeutung für das Arbeits- und Sozialrecht, RdA 2001, 10; Thüsing/Braun (Hrsg.), Tarifrecht, 2011; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I, 2001; Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010. Beiträge in Festschriften und Sammelbänden: Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Koziol/Rummel (Hrsg.), Im Dienste der Gerechtigkeit – Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, S. 47; Canaris, Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Auslegung, in: Bauer/ Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat – Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 41; Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EGRichtlinien: Ein Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung auf der Basis gemeinsamer Rechtsgrundsätze, in: Börner/Jahrreiß/Stern (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit – Festschrift für Karl Carstens, Band 1, 1984, S. 95; Ipsen, Richtlinien-Ergebnisse, in: Hallstein/Schlochauer (Hrsg.), Zur Integration Europas – Festschrift für Carl Friedrich Ophüls, 1965, S. 69; Käppler, Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit durch das Arbeitnehmerentsenderecht und das sozialpolitische Prinzip der Mindestharmonisierung in Art. 137 EG, in: Bauer/Boe-
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
wer (Hrsg.), Festschrift für Peter Schwerdtner, 2003, S. 751; Schaub, EG-Recht und Tarifvertrag, in: Arbeitsrecht im sozialen Dialog – Festschrift für Hellmut Wißmann, 2005, S. 578; Schmidt-Preuß, Die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, in: Joost/Oetker/Paschke (Hrsg.), Festschrift für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 969; Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band II, 1995, S. 1507; Wank, Methodische Bemerkungen zu einigen neueren EuGH-Urteilen im Arbeitsrecht, Konzen/Krebber/Raab/Veit/Waas (Hrsg.), Festschrift für Rolf Birk, 2008, S. 929; Winter, Das Arbeitsrecht im europäischen Mehrebenensystem ist weiterhin in Bewegung, in: Creutzfeld/Hanau/Thüsing/Wißmann (Hrsg.), Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft – Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 633; Wißmann, Unionsrechtskonforme Auslegung von Tarifverträgen?, in: Creutzfeld/Thüsing/Hanau/Wißmann (Hrsg.), Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft – Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 649; Wißmann, Vertrauensschutz – europäisch und deutsch, in: Baeck/Hauck/Preis/Rieble/Röder/Schunder (Hrsg.), Festschrift für Jobst-Hubertus Bauer, 2010, S. 1161; Zachert, Europäische Tarifverträge – von korporatistischer zu autonomer Rechtsetzung?, in: Schlachter/Ascheid/Friedrich (Hrsg.), Tarifautonomie für ein neues Jahrhundert, Festschrift für Günter Schaub, München, 1998, S. 811. Aufsätze (bis 2000): Bach, Direkte Wirkung von EG-Richtlinien, JZ 1990, 1108; Birk, Die Gesetzgebungszuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft im Arbeitsrecht, RdA 1992, 68; Bleckmann, Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, 1177; Buchner, Die sozialpolitische Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft im Spannungsfeld von hoheitlicher Regelung und tarifautonomer Gestaltung, RdA 1993, 193; Ehricke, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts vor Ende der Umsetzungsfrist einer Richtlinie, EuZW 1999, 553; Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, 127; di Fabio, Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip? – Überlegungen zum Einfluss des indirekten Gemeinschaftsrechts auf die nationale Rechtsordnung, NJW 1990, 947; Glaesner, Die Einheitliche Europäische Akte, EuR 1986, 119; Heinze, Die Rechtsgrundlagen des sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene, ZfA 1997, 505; Hilf, Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie?, EuR 1993, 1; Höland, Partnerschaftliche Setzung und Durchführung von Recht in der Europäischen Gemeinschaft, ZIAS 1995, 425; Jarass, Folgen der innerstaatlichen Wirkung von EG-Richtlinien, NJW 1991, 2665; Kempen, Subsidiaritätsprinzip, europäisches Gemeinschaftsrecht und Tarifautonomie, KritV 1994, 13; Konzen, Der europäische Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht nach dem Vertrag über die Europäische Union, EuZW 1995, 39; Leible/Sosnitza, Richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist und vergleichende Werbung, NJW 1998, 2507; Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593; Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht – Das Privatrecht in der europäischen Integration, NJW 1993, 13; Nicolaysen, Richtlinienwirkung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zum Beruf, EuR 1984, 380; Schilling, Singularia non sunt extendenda – Die Auslegung der Ausnahme in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 1996, 44; Wank, Arbeitsrecht nach Maastricht, RdA 1995, 10; Zachert, EG-Binnenmarkt und Arbeitsrecht, AuR 1989, 161; Zuleeg, Eine neue Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte?, AuR 1995, 429. Aufsätze (ab 2000): Albin, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU – Anspruch und Rechtswirklichkeit, NVwZ 2006, 629; von Arnauld, Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts – Gedanken im Prozess der Konstitutionalisierung Europas, EuR 2003, 191; Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, 1106; Bärenz, Die Auslegung der überschießenden Umsetzung von Richtlinien am Beispiel des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, DB 2003, 375; Bauer/Arnold, Auf „Junk“ folgt „Mangold“ – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht, NJW 2006, 6; Bauer/von Medem, Kücükdeveci = Mangold hoch zwei? Europäische Grundrechte verdrängen deutsches Arbeitsrecht, ZIP 2010, 449; Bertram, Die AÜG-Reform im Spiegel des EG-Richtlinienentwurfs zur Leiharbeit, ZESAR 2003, 205; von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht – Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, ZaöRV 2002, 77; Borelli, Der Arbeitnehmerbegriff
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§1
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
im europäischen Recht, AuR 2011, 472; Bruun/Bücker, Der Monti II Verordnungsvorschlag der EU Kommission, NZA 2012, 1136; Burmeister/Staebe, Grenzen des sog. Gold Plating bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht, EuR 2009, 444; Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, 929; Classen, Alle Macht den Richtern?, jM 2014, 345; Colneric, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftskonforme Auslegung, ZEuP 2005, 225; von Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, 697; von Danwitz, Der Einfluss des nationalen Rechts und der Rechtsprechung der Gerichte der Mitgliedstaaten auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, ZESAR 2008, 57; von Danwitz, Funktionsbedingungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, EuR 2008, 769; Dederer, Die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts – Zur Vereinheitlichung von Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle, JZ 2014, 313; Dederichs, Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, EuR 2004, 345; Deinert, Partizipation europäischer Sozialpartner an der Gemeinschaftsrechtsetzung, RdA 2004, 211; Deinert, Arbeitskampf und anwendbares Recht, ZESAR 2012, 311; Derleder, Der Widerruf des Haustürpfandkredits, ZBB 2002, 202; Dörr, Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch in Deutschland – zwanzig Jahre nach Francovich, EuZW 2012, 86; Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217; Everling, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte, EuR 2010, 91; Fisahn/Mushoff, Vorwirkung und unmittelbare Wirkung Europäischer Richtlinien, EuR 2005, 222; Fischinger, Europarechtskonformität des § 15 IV AGG?, NZA 2010, 1048; Franzen, „Heininger“ und die Folgen: Ein Lehrstück zum Gemeinschaftsprivatrecht, JZ 2003, 321; Freitag, Privatrechtsangleichung auf Kosten Privater, EuR 2009, 796; Frenz, Die Vorwirkung von Richtlinien, EWS 2011, 33; Frenz, Soziale Grundlagen in EUV und AEUV, NZS 2011, 81; Fuchs, Die Bilanz des Europäischen Arbeitsrechts, ZESAR 2004, 5 und 111; Fuchs, Mangold – Kein ausbrechender Rechtsakt, ZESAR 2011, 3; Gas, Die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien zu Lasten Privater im Urteil „Mangold“, EuZW 2006, 737; Gehlhaar, Honeywell in der Praxis – Ein Aus- und Überlick, NZA 2010, 1053; Grundmann, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrehts – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze?, ZEuP 1996, 399; Gundel, Neue Grenzlinien für die Direktwirkung nicht umgesetzter EG-Richtlinien unter Privaten, EuZW 2001, 143; Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, 2185; Hailbronner, Hat der EuGH eine Normverwerfungskompetenz?, NZA 2006, 811; Hakenberg, Das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU – Eine neue Ära in der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, EuZW 2006, 391; Hamann, Die Richtlinie Leiharbeit und ihre Auswirkungen auf das nationale Recht der Arbeitnehmerüberlassung, EuZA 2009, 287; Hanau, Die Europäische Grundrechtecharta – Schein und Wirklichkeit im Arbeitsrecht, NZA 2010, 1; Häublein, Erlöschen von verbraucherschützenden Widerrufsrechten nach beiderseits vollständiger Leistungserbringung?, ZIP 2008, 2005; Herfs-Röttgen, Probleme der Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft, NZA 2002, 358; Herresthal, Voraussetzungen und Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung, EuZW 2007, 396; Herresthal, Die Richtlinienwidrigkeit des Nutzungsersatzes bei Nachlieferung im Verbrauchsgüterkauf, NJW 2008, 2475; Heß, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470; Heuschmid/Klauk, Zur Primärrechtswidrigkeit der Leiharbeits-Richtlinie, SR 2012, 84; Hirsch, Im Namen des Volkes: Gesetz – Recht – Gerechtigkeit, ZRP 2012, 205; Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, JZ 2006, 2113; Höpfner, Anmerkung zum Urteil des BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, EuZW 2009, 155; Höpfner, Altersdiskriminierung und europäische Grundrechte – Einige methodische Bemerkungen zum Richterrecht des EuGH, ZfA 2010, 449; Höpfner, Das deutsche Urlaubsrecht in Europa – Zwischen Vollharmonisierung und Koexistenz (Teil 1), RdA 2013, 16; Höpfner/Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1; Jacobs, Grundprobleme des Entschädigungsanspruchs nach § 15 Abs. 2 AGG, RdA 2009, 193; Jahn, Europarichter überziehen ihre Kompetenzen, NJW 2008, 1788; Jarass/Beljin, Unmittelbare Anwendung des EG-Rechts und EG-rechtskonforme Auslegung, JZ 2003, 768; Jarass/Beljin, Grenzen der Privatbelastung durch unmittelbar wirkende Richtlinien, EuR 2004, 714; Junker, Die Rom II-Verordnung: Neues Internationales Deliktsrecht auf europäischer Grundlage, NJW
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§1
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
2007, 3675; Junker, Europa und das deutsche Tarifrecht – Was bewirkt der EuGH?, ZfA 2009, 281; Junker/Aldea, Augenmaß im Europäischen Arbeitsrecht – Die Urteile Adeneler und Navas, EuZW 2007, 13; Kerwer, Finger weg von der befristeten Einstellung älterer Arbeitnehmer?, NZA 2002, 1316; Kleinsorge, Europäische Gesellschaft und Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer, RdA 2002, 343; Knöfel, Internationales Arbeitskampfrecht nach der Rom II-Verordnung, EuZA 2008, 228; Koch, Die Bewältigung von selbst- und fremdbestimmten Rechtsprechungsänderungen durch das BAG, SR 2012, 159; Kreft, Die Auslegung europäischen oder die Anwendung nationalen Rechts, RdA-Sonderbeil. 2006, 38; Leisner, Die subjektiv-historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts – Der „Wille des Gesetzgebers“ in der Judikatur des EuGH, EuR 2007, 689; Mayer/Schürnbrand, Einheitlich oder gespalten? – Zur Auslegung nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, JZ 2004, 545; Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, 219; Mörsdorf, Anmerkung zum Urteil des BGH v. 17.10.2012 – VIII ZR 226/11, JZ 2013, 191; Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, EuR-Beiheft 2009, 105; Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006, 737; Pernice, La Rete Europea di Costituzionalità – Der Europäische Verfassungsverbund und die Netzwerktheorie, ZaöRV 2010, 51; Poiares Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3; Potacs, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465; Pötters/Christensen, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze, JZ 2011, 387; Pötters/Stiebert, Neuausrichtung des Urlaubsrechts – Wie weit reichen die Konsequenzen der Rechtsprechung des EuGH?, ZESAR 2012, 23; Pötters/Traut, Eskalation oder Burgfrieden: Mangold vor dem BVerfG, ZESAR 2010, 267; Pötters/Traut, Die ultra-viresKontrolle des BVerfG nach „Honeywell“ – Neues zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EuGH?, EuR 2011, 580; Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht – Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 406; Preis/Sagan, Der GmbHGeschäftsführer in der arbeits- und diskriminierungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, BGH und BAG, ZGR 2013, 26; Preis/Temming, Altersdiskriminierung im Betriebsrentenrecht: Die Abstandsklausel ist angezählt, NZA 2008, 1209; Proelß, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Kompetenzmäßigkeit von Maßnahmen der Europäischen Union – Der „ausbrechende Rechtsakt“ in der Praxis des BVerfG, EuR 2011, 241; Raab, Europäische und nationale Entwicklungen im Recht der Arbeitnehmerüberlassung, ZfA 2003, 389; Rebhahn, Die Arbeitnehmerbegriffe des Unionsrechts in der neueren Judikatur des EuGH, EuZA 2011, 3; Reichold, Der Fall Mangold: Entdeckung eines europäischen Gleichbehandlungsprinzips?, ZESAR 2006, 55; Rieble/Kolbe, Vom Sozialen Dialog zum europäischen Kollektivvertrag?, EuZA 2008, 453; Riesenhuber/Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre, RIW 2005, 47; Rödl, Europäisches Verfassungsziel „soziale Marktwirtschaft“, Integration 2005, 150; Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten – Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, NJW 2000, 1889; Rolfs/de Groot, Die Befristung von Arbeitsverträgen in der Rechtsprechung des EuGH, ZESAR 2009, 5; Röthel, Vorwirkung von Richtlinien: viel Lärm um Selbstverständliches?, ZEuP 2009, 34; Sagan, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum Recht der Gleichbehandlung und des Betriebsübergangs, ZESAR 2011, 412; Sagan, Europäischer und nationaler Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen im Arbeits- und allgemeinen Privatrecht, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2010, 2011, S. 67; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern nach deutschem und Unionsrecht, 2011; Sauer, Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell, EuZW 2011, 94; Schiek, Diskriminierung wegen „Rasse“ oder „ethnischer Herkunft“, AuR 2003, 44; Schiek, Auslegung von § 17 KSchG im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, AuR 2006, 41; Schlachter, Methoden der Rechtsgewinnung zwischen EuGH und der Arbeitsgerichtsbarkeit, ZfA 2007, 249; Schlachter, Entwicklungen im Individualarbeitsrecht unter dem Einfluss der Rechtsprechung des EuGH – erforderliche und entbehrliche Veränderungen, RdA-Beilage 2009, 31; Schlachter, Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union – Wer ist Träger dieses Rechts?, ZESAR 2011, 156; Schnorbus, Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im nationalen Privatrecht, AcP 201 (2001), 860; Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180; Seifert, Arbeitsrechtliche Sonderregeln für kleine und mittlere Unternehmen, RdA 2004, 200; Streinz,
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Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, ZEuS 2004, 387; Streinz/Herrmann, Der Fall Mangold – eine „kopernikanische Wende im Europarecht“?, RdA 2007, 165; Sydow, Die Richtlinie als Instrument zur Entlastung des europäischen Gesetzgebers, JZ 2009, 373; Temming, Freie Rechtsschöpfung oder nicht: Der Streit um die EuGH-Entscheidung Mangold spitzt sich zu, NJW 2008, 3404; Thüsing, Zu den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung, ZIP 2004, 2301; Thüsing/Traut, Zur begrenzten Reichweite der Koalitionsfreiheit im Unionsrecht, RdA 2012, 65; Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1; Voßkuhle, Der Rechtsanwalt und das BVerfG – Aktuelle Herausforderungen der Verfassungsrechtsprechung, NJW 2013, 1329; Wank, Die personellen Grenzen des Europäischen Arbeitsrechts: Arbeitsrecht für Nicht-Arbeitnehmer?, EuZA 2008, 172; Wendenburg, Prozesskostenhilfe für juristische Personen – § 116 ZPO auf dem Prüfstand des EuGH, DRiZ 2011, 95; Willemsen, Aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum Arbeits- und Sozialrecht – Befristung, Betriebsübergang, RdA 2012, 291; Willemsen/Sagan, Der Tatbestand des Betriebsübergangs nach „Klarenberg“, ZIP 2010, 1205; Willemsen/Sagan, Die Auswirkungen der europäischen Grundrechtecharta auf das deutsche Arbeitsrecht, NZA 2011, 258; Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA 2013, 473; Wißmann, Ein Jahr Lissabon-Vertrag – aus arbeitsrechtlicher Perspektive, JbArbR 48 (2011), 73. Fremdsprachiges Schrifttum: Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2. Aufl. 2006; Coppel, Horizontal Effect of Directives, Industrial Law Journal 1997, 69; Craig, The legal effect of Directives: policy, rules and exceptions, European Law Review 2009, 349; Craig/de Búrca, EU Law, 5. Aufl. 2011; Eleftheriadis, The Direct Effect of Community Law – Conceptual Issues, Yearbook of European Law 1996, 205; de la Feria, Prohibition of Abuse of (Community) Law – The Creation of a new General Principle of EC Law through Tax, Common Market Law Review 2008, 395; Freedland, Employment Policy, in: Davies/Lyon-Caen/Sciarra/Simitis (Hrsg.), European Community Labour Law, 1996, S. 275; Guild, The EC Directive on Race Discrimination: Surprises, Possibilities and Limitations, Industrial Law Journal 2000, 416; Hepple, Community Measures for the Protection of Workers Against Dismissal, Common Market Law Review 1977, 489; Hepple, The Crisis in EEC Labour Law, Industrial Law Journal 1987, 77; Lenaerts/Corthaut, Of Birds and Hedges: The Role of Primacy in Invoking Norms of EU law, European Law Review 2006, 287; Mancini, The Making of a Constitution for Europe, Common Market Law Review 1989, 595; Mancini/Keeling, Democracy and the European Court of Justice, Modern Law Review 1996, 175; Pescatore, The Doctrine of „Direct Effect“ – An Infant Disease of Community Law, European Law Review 1983, 155; Prechal, Directives in EC Law, 2. Aufl. 2005; Snyder, The Effectiveness of European Community Law: Institutions, Processes, Tools and Techniques, The Modern Law Review 1993, 19; Timmermans, Directives: Their Effect within the National Legal Systems, Common Market Law Review 1979, 533; Tridimas, Black, White, and Shades of Grey: Horizontality of Directives Revisited, Yearbook of European Law 2002, 327; Weatherill, Breach of Directives and Breach of Contract, European Law Review 2001, 177; Weiler/Haltern, The Autonomy of the Community Legal Order – Through the Looking Glass, Harvard International Law Journal 1996, 411; de Witte, Direct Effect, Primacy, and the Nature of the Legal Order, in: Craig/de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 2. Aufl. 2011, S. 323.
I. Historische Etappen des europäischen Arbeitsrechts 1. EWG-Vertrag (1957) 1
Nach den schrecklichen Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg in Europa hinterlassen hatte, schlugen sechs Staaten, im Einzelnen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande, den Weg der europäischen Integration ein, der sich vor allem auf ein Zusammenwachsen auf dem Gebiet der Wirtschaft konzentrierte. In diesem Zuge wurde mit dem Vertrag über die Gründung der Europäischen 6
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Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18.4.19511 die sog. Montanunion sowie mit den Römischen Verträgen2 vom 25.3.1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft geschaffen. Die Organe der drei rechtlich selbständigen Gemeinschaften wurden aufgrund gesonderter Abkommen fusioniert.3 Obwohl der EWG-Vertrag ausweislich seiner Präambel das Ziel verfolgte, die Lebensund Beschäftigungsbedingungen der europäischen Völker stetig zu bessern, beinhaltete er nur wenige arbeitsrechtliche Regelungen und war in seinem Kern auf die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes gerichtet, in dem der EuGH „den wesentlichen Gegenstand“ des Vertrages sah.4 Bereits die einflussreichen Vorarbeiten, namentlich der Bericht einer Gruppe von Sachverständigen der Internationalen Arbeitsorganisation unter der Leitung von Bertil Ohlin5 und der Bericht des Intergouvernementalen Komitees unter dem Vorsitz des damaligen belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak,6 plädierten für Zurückhaltung im Bereich des Arbeitsrechts. Dieser Empfehlung folgten die Gründungsstaaten der EWG und erklärten sich in Art. 117 EWGV „über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen“. Dies sollte jedoch nicht Ergebnis eines obrigkeitlichen Eingriffs sein, sondern sich, wie es in Art. 117 EWGV weiter hieß, „sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Gemeinsamen Marktes als auch aus den in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren sowie der Angleichung [von] Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergeben“. Die Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen sollte sich als automatische Folge der wirtschaftlichen Prosperität im Gemeinsamen Markt und ganz in der klassischliberalen Tradition von Adam Smith gleichsam von „unsichtbarer Hand“ einstellen.7
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Für das Arbeitsrecht brachte der EWG-Vertrag allerdings gleichwohl zwei nicht unwesentliche Neuerungen mit sich. Zum einen statuierte er in Art. 119 EWGV (jetzt: Art. 157 AEUV) den Grundsatz gleichen Entgelts für Männer und Frauen, den der EuGH im Jahr 1976 in der Rs. Defrenne zum europäischen Grundrecht erhob.8 Hintergrund der Regelung war indes nicht das Anliegen der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter, sondern das Interesse der französischen Industrie, die Männer und Frauen schon nach einzelstaatlichem Recht gleich zu vergüten hatte und deswegen befürchtete, im Gemeinsamen Markt kompetetive Nachteile zu erleiden.9 Nichtsdestotrotz war der EWG-Vertrag dem deutschen Recht weit voraus, dessen § 1358 BGB (a.F.) den Ehemann noch bis zum Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18.6.195710 mit Zustimmung des Vormundschaftsgerichts berechtigte, das Arbeitsverhältnis seiner Ehefrau zu kündigen.
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1 Vgl. BGBl. II 1952, 445. 2 Vgl. BGBl. II 1957, 753. 3 Abkommen über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften v. 25.3.1957 (BGBl. II 1957, 1156) und Abkommen zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften v. 8.4.1965 (BGBl. II 1965, 1454). 4 EuGH v. 29.9.1987 – Rs. 126/86 – Giménez Zaera, Slg. 1987, 3697 – Rz. 10. 5 Social Aspects of European Economic Co-operation. Report by a Group of Experts, zusammengefasst in: International Labour Review 74 (1956), 99; dort auf S. 113: „[T]he countries concerned stand to gain from the benefits that result from freer international trade whether they pursue more or less uniform social policies or not.“ 6 Comité Intergouvernemental, Rapport des Chefs de Délégation, 21.4.1956. 7 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 4. 8 EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 – Defrenne, Slg. 978, 1365 – Rz. 26/29. 9 von der Groeben/Schwarze/Rust, Art. 141 EG Rz. 5 ff. 10 BGBl. I 1957, 609.
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Darüber hinaus gewährleistete Art. 48 EWGV (jetzt: Art. 45 AEUV) die Arbeitnehmerfreizügigkeit und verbot grundsätzlich jede an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Diskriminierung von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten. Die Arbeitnehmer eines Mitgliedstaates konnten danach von den anderen Mitgliedstaaten verlangen, grundsätzlich so behandelt zu werden, als seien sie deren Staatsangehörige (vgl. Rz. 48). Dieses Recht verstärkte der EuGH schon in seiner frühen Rechtsprechung, indem er entschied, dass sich Arbeitnehmer vor den Gerichten gegenüber den Mitgliedstaaten unmittelbar auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können.1 In seinem zum Klassiker der europarechtlichen Literatur avancierten Werk „Die europäische Gemeinschaft“ sah Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission, in der Arbeitnehmerfreizügigkeit einen „der spektakulärsten Programmpunkte der europäischen Integration erfüllt“. Nach seiner Ansicht hätte sich die Gemeinschaft allein um dieses Erfolges willen „Europäische Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft“ nennen können.2 Andere Stimmen sehen die Arbeitnehmerfreizügigkeit hingegen kritischer als wirtschaftspolitische Maßnahme zur effizienten Allokation der Ressource „Arbeit“ im Gemeinsamen Markt.3 2. Das sozialpolitische Aktionsprogramm (1974)
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Auf dem Fundament der Römischen Verträge entwickelte sich kein stringentes und kohärentes System des europäischen Arbeitsrechts. Vielmehr hing der Erlass arbeitsrechtlicher Regelungen insbesondere von den politischen Mehrheitsverhältnissen im Rat ab.4 Erst nachdem es in den frühen 1970er Jahren in Europa zu einem „Linksruck“ gekommen war und in einer Mehrzahl der Mitgliedstaaten, denen mit Wirkung zum 1.1.1973 Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich beigetreten waren,5 sozialdemokratische Kräfte die Regierung stellten, kam es auf der europäischen Ebene punktuell zu arbeitsrechtlichen Richtlinien.6 Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung war die Schlusserklärung der Staats- und Regierungschefs auf der Pariser Gipfelkonferenz vom 19./20.10.1972, in der sie betonten, dass „energischen Maßnahmen im sozialen Bereich die gleiche Bedeutung zukommt“ wie der Verwirklichung der wirtschaftlichen Ziele der Gemeinschaft.7 Als Reaktion hierauf legte die Kommission im Januar 1974 ein sozialpolitisches Aktionsprogramm8 vor. Da der Begriff der „Sozialpolitik“ im europäischen Recht nicht nur das Sozial(versicherungs)-, sondern vor allem auch das Arbeitsrecht umfasst, enthielt dieses Programm zahlreiche Initiativen im Bereich des Arbeitsrechts. In der Folge wurden auf diesem Gebiet mehrere bedeutsame Richtlinien erlassen, zu denen die Entgeltgleichheitsrichtlinie 75/117/EWG,9 die Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG,10 die Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG,11 die Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG12 und die Insolvenzricht-
1 EuGH v. 15.9.1969 – Rs. 15/69 – Ugliola, Slg. 1969, 363 – Rz. 7. 2 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 204. 3 Vgl. Barnard, EU Employment Law, S. 144; Freedland, European Community Labour Law, S. 270 (295 f.). 4 Hanau/Steinmeyer/Wank/Steinmeyer, § 11 Rz. 10. 5 ABl. Nr. L 73 v. 27.3.1972, S. 1. 6 Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, S. 60 f. 7 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 10/1972, S. 15 (20). 8 ABl. Nr. C 13 v. 12.2.1974, S. 1; näher hierzu: Zachert, AuR 1989, 161. 9 ABl. Nr. L 45 v. 19.2.1975, S. 19. 10 ABl. Nr. L 48 v. 22.2.1975, S. 29. 11 ABl. Nr. L 39 v. 14.2.1976, S. 40. 12 ABl. Nr. L 61 v. 5.3.1977, S. 26.
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linie 80/987/EWG1 gehören. Sie galten nach den entsprechenden Beitritten seit 1981 in Griechenland2 sowie seit 1986 in Spanien und Portugal.3 Die genannten Rechtsakte wurden auf die damalige Bestimmung des Art. 100 EWGV (jetzt: Art. 115 AEUV) zur Rechtsangleichung im Gemeinsamen Markt gestützt. So wurde etwa zur Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG bemerkt, dass sie offenkundig in der liberalen Tradition der Verträge stehe, die sich gegen ungleiche Wettbewerbsbedingungen im Gemeinsamen Markt richte.4 Allerdings setzte die Inanspruchnahme der Angleichungskompetenz Einstimmigkeit im Rat voraus. Deswegen kam diese erste Phase arbeitsrechtlicher Harmonisierung zu einem abrupten Ende als die konservative Partei unter Premierministerin Margaret Thatcher im Mai 1979 die Regierungsgeschäfte in London übernahm, die jeglicher Belastung der inländischen Wirtschaft durch arbeitsrechtliche Richtlinien ablehnend gegenüberstand.5
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3. Einheitliche Europäische Akte (1986) Mit der Einheitlichen Europäische Akte6 (EEA) vom 28.2.1986 kam es zu einer bedeutsamen Revision des EWG-Vertrages, mit dem sich die Mitgliedstaaten nunmehr nach dem neu eingefügten Art. 8a EWGV das Ziel setzten, schrittweise bis zum 31.12.1992 den europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen. Dieser sollte nach Art. 8a Abs. 2 EWGV (jetzt: Art. 26 Abs. 2 AEUV) einen Raum ohne Binnengrenzen umfassen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Damit sind die sog. Grundfreiheiten angesprochen, im Einzelnen die Warenverkehrsfreiheit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit (jetzt: Art. 34, 45, 49 und 56 AEUV).7 Zur Verwirklichung des Binnenmarktziels wurde mit Art. 100a EWGV (jetzt: Art. 114 AEUV) eine neue Kompetenz zur Rechtsangleichung geschaffen, die lediglich eine qualifizierte Mehrheit im Rat voraussetzte. Von ihrem Anwendungsbereich wurden aber Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer ausdrücklich ausgenommen. Im Übrigen wurde die Grundlage für die Errichtung des „Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften“ (EuG; jetzt: „das Gericht“) geschaffen, das mit dem Geschäftsjahr 1989/1990 seine Arbeit aufnahm.8
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Im Bereich der Sozialpolitik schuf die EEA in Art. 118a EWGV eine Kompetenz der Gemeinschaft, mit qualifizierter Mehrheit im Rat Richtlinien zur Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu erlassen. Dies wurde später u.a. zur Grundlage für die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG9 und die Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG10. Ferner
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ABl. Nr. L 283 v. 28.10.1980, S. 23. ABl. Nr. L 291 v. 19.11.1979, S. 1. ABl. Nr. L 302 v. 15.11.1985, S. 1. Hepple, Common Market Law Review 1977, 489 (489 f.); s. auch die Erwägungsgründe zur Richtlinie 75/129/EWG, die sich auf das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes“ beziehen. Bercusson, European Labour Law, S. 120 f.; eingehend: Hepple, Industrial Law Journal 1987, 77 (81 f.). ABl. Nr. L 169 v. 29.6.1987, S. 1; hierzu: Glaesner, EuR 1986, 119. Zu den Grundfreiheiten: Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Pache, § 10 Rz. 1 ff.; Streinz, Europarecht, Rz. 784 ff. Vgl. Beschluss des Rates 88/591/EGKS/EWG v. 24.10.1988 (ABl. Nr. L 319 v. 25.11.1988, S. 1); Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 10 Rz. 169 f. Seitdem wird den Aktenzeichen der Rechtssachen des Gerichtshofs ein „C“ („la Court“) und denjenigen des Gerichts ein „T“ („le Tribunal“) vorangestellt. ABl. Nr. L 348 v. 28.11.1992, S. 1. ABl. Nr. L 307 v. 13.12.1993, S. 18.
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ermöglichte der neue Art. 118b EWGV (jetzt: Art. 155 AEUV) den Sozialpartnern im Rahmen des sozialen Dialogs auf der europäischen Ebene vertragliche Beziehungen aufzunehmen. 9
Das liberale und auf die Beseitigung von Handelshemmnissen gerichtete Binnenmarktziel stellte die Gemeinschaft erneut vor die „soziale Frage“. Es stand zu befürchten, dass sich die intendierte Marktöffnung und der hierdurch ermöglichte Wettbewerb in bestimmten Regionen oder Wirtschaftszweigen zu Lasten von Arbeitnehmern auswirken würden.1 Jacques Delors, der damalige Präsident der Kommission, plädierte vor diesem Hintergrund dafür, den Binnenmarkt um eine verstärkte Harmonisierung des Arbeits- und Sozialrechts zu ergänzen. Nach seiner Sicht sollte die Gemeinschaft, um den Binnenmarkt zu vollenden, die Schaffung eines europäischen Sozialraums anstreben („l’Espace Sociale Européenne“).2 Tatsächlich wurde das Binnenmarktziel sozialpolitisch mit der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer flankiert.3 Sie wurde am 9.12.1989 von den Mitgliedstaaten – mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs – jedoch nur feierlich proklamiert und blieb unverbindlich.4 Sie bekräftigte allerdings die „soziale Dimension“ des Binnenmarktes und ebnete den Weg für ein Aktionsprogramm der Kommission, das auf die praktische Verwirklichung der Gemeinschaftscharta gerichtet war.5 Dies trug u.a. zum Erlass der Entsenderichtlinie 96/71/EG6 bei (vgl. § 5 Rz. 69 f.).7 4. Vertrag von Maastricht (1992)
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Der Vertrag von Maastricht8 vom 7.2.1992 stellte nach seiner Eingangsbestimmung „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ dar. Der europäische Zusammenschluss, der seitdem nicht mehr als EWG, sondern als „Europäische Gemeinschaft“ firmierte, setzte sich nun die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion zum Ziel. Zugleich wurden die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG, EGKS und EAG) zur ersten Säule einer neuen europäischen Architektur. Über ihr und den beiden intergouvernementalen Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (später: Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) wölbte sich nunmehr die Europäische Union. Sie bildete nach dem ursprünglichen EU-Vertrag gleichsam das Dach der neuen Rechtskonstruktion.9 Dabei war sie nach dem Vertrag von Maastricht nunmehr ausdrücklich dazu verpflichtet, die Grundrechte zu achten, die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben (ursprünglich: Art. F Abs. 2 EU-Vertrag;10 jetzt: Art. 6 Abs. 3 EUV). Aus diesen beiden Rechtserkenntnisquellen hatte der EuGH schon zuvor genuine Grundrechte des Gemeinschaftsrechts abgeleitet.11 Diese Rechtsprechung wurde mit dem Vertrag von Maastricht kodifiziert, der damit sichtbar zum
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Barnard, EU Employment Law, S. 11. EG Bulletin 2/1986, S. 13. Abgedruckt in: EAS, A 1500. Deswegen krit. Zuleeg, AuR 1995, 429; abw. Fuchs, ZESAR 2004, 5 (11). KOM (1989), 568 endg. ABl. Nr. L 18 v. 21.1.1997, S. 1. Barnard, EU Employment Law, S. 13. ABl. Nr. C 191 v. 29.7.1992, S. 1. Vgl. Hobe, Europarecht, § 6 Rz. 5. ABl. Nr. C 191 v. 29.7.1992, S. 5. Statt aller: EuGH v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 – Rz. 41.
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Rz. 13 § 1
Ausdruck brachte, dass der europäische Zusammenschluss nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist. Keine Einigung konnten die mittlerweile zwölf Mitgliedstaaten in Maastricht über die Zukunft der europäischen Sozialpolitik erreichen, da das Vereinigte Königreich jegliche Ausweitung der europäischen Zuständigkeiten auf diesem Gebiet ablehnte. Aus diesem Grund schlossen die übrigen elf Mitgliedstaaten das Abkommen über die Sozialpolitik1 (ASP) ab, das nach umstrittener Ansicht Teil des Gemeinschaftsrechts war.2 Es enthielt zahlreiche neue Kompetenzen im Bereich des Arbeitsrechts, die in der Folgezeit u.a. die Schaffung der Europäische Betriebsräte-Richtlinie 94/45/EG ermöglichten.3 Zudem führte es die Möglichkeit ein, eine im Rahmen des sozialen Dialogs auf der europäischen Ebene abgeschlossene Sozialpartnervereinbarung durch Beschluss des Rates durchzuführen. Auf diesem Weg wurden mit den Richtlinien 97/81/EG4 und 1999/70/EG5 die Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit sowie die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge durchgeführt.
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5. Vertrag von Amsterdam (1997) Mit Wirkung zum 1.1.1995 traten drei Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA/European Free Trade Association), namentlich Finnland, Österreich und Schweden, der EU bei.6 Da sie auch das ASP akzeptierten, galt der damals auf dem Gebiet der Sozialpolitik erreichte acquis communautaire, also der sozialpolitische Besitzstand der Gemeinschaft, für alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs. Diese Spaltung wurde mit dem Vertrag von Amsterdam vom 2.10.19977 überwunden, nachdem die Labour Party zuvor im selben Jahr die Wahlen zum britischen Unterhaus für sich entscheiden konnte und Tony Blair Premierminister wurde. Der Amsterdamer Vertrag integrierte die Bestimmungen des ASP in den EG-Vertrag, so dass die europäischen Vorschriften zur Sozialpolitik fortan für alle Mitgliedstaaten galten.8
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Des Weiteren führte der Vertrag von Amsterdam den Titel „Beschäftigung“ in den EG-Vertrag ein (jetzt: Art. 145 bis 150 AEUV). Dieser enthielt praktisch keine Kompetenzen zugunsten der EG, sondern statuierte im Wesentlichen einen – nach der Methode der offenen Koordinierung ausgestalteten – Prozess zur Abstimmung der mitgliedstaatlichen Beschäftigungspolitiken. Mangels verbindlicher Vorgaben für die inhaltiche Ausgestaltung des nationalen Rechts wird das beschäftigungspolitische Kapitel der Verträge als soft law qualifiziert.9 Bedeutsamer war, dass der Vertrag von Amsterdam mit Art. 13 EG-Vertrag (jetzt: Art. 19 AEUV) eine europäische Kompetenz für den Diskriminierungsschutz schuf. Auf dieser Grundlage – und nicht zuletzt wegen der Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs unter Jörg Haider im Jahr 2000 – wurden die Antirassismusrichtlinie
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ABl. Nr. C 224 v. 31.8.1992, S. 127. Wank, RdA 1995, 10. ABl. Nr. L 254, 30.9.1994, S. 64. ABl. Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 9; berichtigt: ABl. Nr. L 128 v. 30.4.1998, S. 71. ABl. Nr. L 175 v. 10.7.1999, S. 43. ABl. Nr. C 241 v. 29.8.1994, S. 1. ABl. Nr. C 340, 10.11.1997, S. 1. Allg. hierzu Steinmeyer, RdA 2001, 10. Fuchs/Marhold/Fuchs, Europäisches Arbeitsrecht, S. 39.
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§1
Rz. 14
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
2000/43/EG1 und die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG2 erlassen.3 Schließlich wurde der damalige Art. 141 EG-Vertrag (jetzt: Art. 157 AEUV) um eine Kompetenz für die Gleichbehandlung der Geschlechter in Arbeits- und Beschäftigungsfragen und um eine – auf das ASP zurückgehende – Vorschrift zur Anerkennung sog. positiver Maßnahmen erweitert, die tatsächlich bestehende Nachteile wegen des Geschlechts ausgleichen sollen. 6. Vertrag von Nizza (2001) 14
Im Rahmen der sog. Osterweiterung traten der Union mit Wirkung zum 1.5.2004 insgesamt zehn Staaten bei, im Einzelnen Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern.4 Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens5 wurde im Jahr 2007, der Beitritt Kroatiens6 im Jahr 2013 vollzogen. Der Vertrag von Nizza vom 26.2.20017 sollte insbesondere die institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung der Union schaffen und die Funktionsfähigkeit ihrer Organe sicherstellen. Daher war mit dieser Vertragsrevision keine bedeutsame Änderung auf dem Gebiet des europäischen Arbeitsrechts verbunden. Beachtlich ist allerdings, dass das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission am 7.12.2000 auf dem Gipfel von Nizza die zuvor vom sog. Grundrechtskonvent ausgearbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union „feierlich proklamiert“ haben.8 Die Entscheidung über deren endgültigen Status blieb jedoch dem sog. Post-Nizza-Prozess vorbehalten.9 7. Vertrag von Lissabon (2007)
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Nachdem die Ratifikation des Vertrages über eine Verfassung für Europa im Jahr 2005 an ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, erarbeitete eine Regierungskonferenz den am 13.12.2007 geschlossenen Vertrag von Lissabon,10 der am 1.12.2009 in Kraft trat. Der Vertrag hat in vielerlei Hinsicht die mit dem gescheiterten Verfassungsvertrag vorgesehenen Regelungen übernommen. Insbesondere hat die EU gem. Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV die Rechtsnachfolge der EG angetreten, so dass von dem vormaligen Säulenmodell – neben der EAG – nur noch die EU gleichsam als Monolith übrig geblieben ist. Folgerichtig wurde der bisherige EGVertrag umbenannt in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, der gleichrangig neben dem Vertrag über die Europäische Union steht. Das bisherige Gemeinschaftsrecht gilt als Unionsrecht fort.11
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Aus der Perspektive des Arbeitsrechts ist bedeutsam, dass der Vertrag von Lissabon die Grundrechtecharta, einschließlich der in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte, 1 2 3 4 5 6 7 8
ABl. Nr. L 180 v. 19.7.2000, S. 22. ABl. Nr. L 303 v. 2.12.2000, S. 16. Vgl. Guild, Industrial Law Journal 2000, 416; Schiek, AuR 2003, 44. ABl. Nr. L 236 v. 23.9.2003, S. 1. ABl. Nr. L 157 v. 21.6.2005, S. 1. ABl. Nr. L 112 v. 24.4.2012, S. 1. ABl. Nr. C 80 v. 10.3.2001, S. 1. ABl. Nr. C 364 v. 18.12.2000, S. 3; näher zum historischen Hintergrund der GRC: Barriga, Die Entstehung der Grundrechte der Europäischen Union, 2003; Tettinger/Stern/Mombaur, Kap. B IV Rz. 1 ff. 9 S. „Erklärung zur Zukunft der Union“ (ABl. Nr. C 80, 10.3.2001, S. 85). 10 ABl. Nr. C 306 v. 17.12.2007, S. 1 (konsolidierte Fassung 2012: ABl. Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 1). 11 Wißmann, JbArbR 48 (2011), 73 (73 f.).
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Rz. 17 § 1
Historische Etappen des europäischen Arbeitsrechts
mit Art. 6 Abs. 1 EUV zum verbindlichen Teil des europäischen Rechts erhoben und sie mit den europäischen Verträgen auf eine Stufe gestellt hat (vgl. § 2 Rz. 4). Darüber hinaus strebte die EG nach Art. 4 Abs. 1 EG-Vertrag (a.F.) eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb an. Diese Vorgabe wird zwar noch als Grundsatz der Wirtschafts- und Währungsunion etwa in Art. 119 Abs. 1 AEUV fortgeführt. In der allgemeineren Bestimmung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV wird die Union hingegen auf das Ziel einer im hohen Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet.1 Da der Vertrag von Lissabon aber nicht zu wesentlichen Änderungen in den beschäftigungs- oder sozialpolitischen Kapiteln des AEUV geführt hat, bleibt der Inhalt dieser Vorgabe vage. Die wesentlichste Änderung, die der Vertrag im Bereich der europäischen Sozialpolitik mit sich gebracht hat, ist die Gewährleistung der sozialen Grundrechte der Grundrechtecharta. Es ist daher plausibel, dass das Unionsziel der sozialen Marktwirtschaft das in den sozialen Grundrechten verkörperte europäische Sozialmodell reflektiert.2 Darüber hinaus statuiert Art. 3 Abs. 3 EUV eine Vielzahl weiterer sozialer Zielsetzungen der EU. Sie zielt danach auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt ab, bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit, sozialen Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, die Solidarität zwischen den Generationen sowie den Schutz der Rechte des Kindes.3 Die Zeit wird zeigen, ob die EU diesen hohen Anforderungen angesichts ihrer begrenzten Zuständigkeiten und den erheblichen Interessengegensätzen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts wird entsprechen können. Inkrafttreten
Entwicklung der Verträge
Staaten/Beitritt
23.7.1952
EGKS-Vertrag (gültig bis 24.7.2002)
1.1.1958
Römische Verträge Gründung der EWG und EAG
Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande
1.1.1973
Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich
1.1.1981
Griechenland
1.1.1986
Portugal und Spanien
1.1.1987
Einheitliche Europäische Akte Einführung des Binnenmarktes und europäischer Kompetenz für den Arbeitnehmerschutz
1 Hierzu: Schmidt-Preuß, FS Säcker, S. 969. 2 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 16; ähnl. Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 3 EUV Rz. 28; abl. Rödl, Integration 2005, 150 (157 f.); vgl. aber EuGH v. 17.2.2011 – Rs. C-52/09 – TeliaSonera Sverige, Slg. 2011, I-527 – Rz. 20; allg. zur Wirtschaftsverfassung der EU nach Lissabon: Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 18 (m.w.N.); Fastenrath/Nowak/Müller-Graff, Der Lissabonner Reformvertrag, S. 173. 3 Hierzu: Frenz, NZS 2011, 81 (82).
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§1
Rz. 18
Inkrafttreten
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
Entwicklung der Verträge
Staaten/Beitritt
1.11.1993 Vertrag von Maastricht Gründung der EU, Umbenennung der EWG in EG sowie Ausweitung sozialpolitischer Kompetenzen und des sozialen Dialogs auf der europäischen Ebene im ASP (ohne das Vereinigte Königreich) 1.1.1995
Finnland, Österreich und Schweden
1.5.1999
Vertrag von Amsterdam Übernahme des ASP in den EG-Vertrag, neuer Titel zur Beschäftigungspolitik und Kompetenz für Diskriminierungsschutz
1.2.2003
Vertrag von Nizza Vorbereitung der sog. Osterweiterung
1.5.2004
Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern
1.1.2007
Bulgarien und Rumänien
1.12.2009 Vertrag von Lissabon EU wird Rechtsnachfolgerin der EG, Verbindlichkeit der GRC und Unionsziel der sozialen Marktwirtschaft 1.7.2013
Kroatien
II. Charakteristika der europäischen Rechtsordnung 1. Autonomie des Unionsrechts 18
Da das europäische Recht auf einer vertraglichen Übereinkunft zwischen Staaten beruht, läge es bei formeller Betrachtung nahe, das Unionsrecht als Teil des Völkerrechts zu verstehen. Das Völkerrecht ist jedoch ganz und gar staatszentriert, so dass das europäische Recht nach diesem Verständnis gleichsam Spielball in den Händen der Nationalstaaten bleiben müsste. Alternativ könnte man den Geltungsgrund der europäischen Verträge in den Zustimmungsgesetzen der Mitgliedstaaten erblicken. Das europäische Recht wäre nach diesem Verständnis aber kaum mehr als ein Bündel einzelstaatlicher Ratifikationsakte. Beiden Betrachtungsweisen steht entgegen, dass der europäische Zusammenschluss nach dem Willen seiner Schöpfer zu einer „Föderation“ führen soll.1 Zentral für das Verständnis des europäischen Rechts ist deswegen die Erkenntnis, dass es weder Völkerrecht noch nationales Recht, sondern von diesen beiden Rechtsquellen unabhängig ist. Dies hat der EuGH im Jahr 1964 in seinem bahnbrechenden Urteil in der Rs. Costa entschieden: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden (…) ist. Denn durch die Gründung 1 Vgl. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 59.
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Charakteristika der europäischen Rechtsordnung
Rz. 21 § 1
einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechtsund Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“1 Das Unionsrecht ist eine autonome Rechtsordnung, die unabhängig zwischen dem Völkerrecht und dem mitgliedstaatlichen Recht steht.2 Das gilt freilich nur im sachlich begrenzten Anwendungsbereich des europäischen Rechts, weswegen dieses lediglich eine Teilrechtsordnung darstellt. Zugleich koppelt der EuGH das europäische Recht von den Interpretationsregeln des Völkerrechts und dem Willen der mitgliedstaatlichen Vertragsparteien ab.3 Denn Träger des europäischen Zusammenschlusses sind seiner Ansicht nach nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die europäischen Völker. Danach liegt der pouvoir constitutant des europäischen Rechts letztlich nicht bei den Mitgliedstaaten, sondern beim demokratischen Souverän in den Mitgliedstaten.4 Das löst die europäischen Verträge von ihren formalen Wurzeln im Völkerrecht und rückt sie in die Nähe des Verfassungsrechts.
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Bereits unter der Geltung des EWG-Vertrages hat der EuGH die Ansicht geäußert, dieser stelle, trotz seiner Form als völkerrechtliche Übereinkunft die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar.5 Auch im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, das europäische und mitgliedstaatliche Verfassungsrecht ergänzten sich wechselseitig zu einem materiellen Verfassungsverbund.6 Wenig klar ist, ob die Verträge einen „änderungsfesten Kerngehalt“ aufweisen, der der Disposition der Mitgliedstaaten entzogen ist.7 Schon in der Rs. Costa hat der EuGH auf die unbefristete Geltung der Verträge hingewiesen, wie sie nunmehr in Art. 53 EUV vorgesehen ist. Deswegen soll jedenfalls eine einvernehmliche Auflösung der Union ausgeschlossen sein.8
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Ursprünglich ist das BVerfG der Rechtsprechung des EuGH weitgehend gefolgt und hat diese in einer Entscheidung aus dem Jahr 1967 sogar teilweise antizipiert:
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„Die Gemeinschaft ist selbst kein Staat, auch kein Bundesstaat. Sie ist eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art (…), auf die die Bundesrepublik Deutschland (…) bestimmte Hoheitsrechte „übertragen“ hat. Damit ist eine neue öffentliche Gewalt entstanden, die gegenüber der Staats1 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 – Costa, Slg. 1964, 1253 (1269), Hervorhebungen diesseits; zuvor EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 3 (25): „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“. 2 Instruktiv hierzu: Craig/de Búrca/de Witte, The Evolution of EU Law, S. 323; ferner Streinz, Europarecht, Rz. 121 ff. 3 Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rz. 7. 4 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Ohler, Art. 48 EUV Rz. 11 (str.). 5 EuGH v. 14.12.1991, Gutachten 1/91 – EWR, Slg. 1991, I-6079 – Rz. 21; zuvor bereits EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 – Les Verts, Slg. 1986, 3335 – Rz. 1339; ferner EuGH v. 10.7.2003 – Rs. C-15/00 – Niederlande/Europäische Investitionsbank, Slg. 2003, I-7281 – Rz. 75. 6 Calliess/Ruffert/Calliess, Art. 1 EUV Rz. 41; Pernice, ZaöRV 2010, 51; für einen Verfassungspluralismus: Poires Maduro, EuR 2007, 3; instruktiv zum Ganzen: Weiler/Haltern, Harvard International Law Journal 1996, 411 (417 ff.); ferner Mancini, Common Market Law Review 1989, 595 (599 ff.). 7 Vgl. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 – EWR, Slg. 1991, I-6079 – Rz. 69 ff.; bejahend: Herdegen, Europarecht, § 6 Rz. 2 f.; diff. Schwarze/Herrnfeld, Art. 48 EUV Rz. 14; zw. Streinz/ Pechstein, Art. 48 AEUV Rz. 6. 8 Lenz/Borchardt/Booß, Art. 53 EUV Rz. 2; a.A. Calliess/Ruffert/Cremer, Art. 48 EUV Rz. 20.
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§1
Rz. 22
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
gewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist; (…). Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar. Die von den Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihrer vertragsgemäßen Kompetenzen erlassenen Rechtsvorschriften (…) bilden eine eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind. Das Gemeinschaftsrecht und das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten sind „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“; das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht fließt aus einer „autonomen Rechtsquelle“(…).“1 In späteren Entscheidungen erkannte das BVerfG als Grund für die innerstaatliche Geltung des europäischen Rechts jedoch allein das deutsche Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen an.2 Infolgedessen war es der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten die Union durch einen „gegenläufigen Akt“ aufheben könnten und bezeichnete sie – in konfrontativer Diktion – als „Herren der Verträge“.3 Demgegenüber charakterisiert der EuGH die Mitgliedstaaten als bloße „Rechtssubjekte“ der europäischen Rechtsordnung.4 Deutlicher könnte der Unterschied kaum sein. 2. Rechtsquellen des Unionsrechts a) Die Europäischen Verträge 22
Das Unionsrecht ist hierarchisch gegliedert. An der Spitze der Normenhierarchie steht das europäische Primärrecht, das insbesondere aus dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union besteht, die gem. Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV gleichrangig sind.5 Auf der gleichen Stufe steht gem. Art. 6 Abs. 1 EUV die Charta der Grundrechte. Das europäische Vertragsrecht, zu dem im Übrigen auch die Beitrittsabkommen zählen, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es – ggf. unter Mitwirkung von Unionsorganen – von den Mitgliedstaaten geschaffen wird. b) Allgemeine Rechtsgrundsätze
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Die Unionsverträge vermögen für sich genommen nicht die Erwartungen zu erfüllen, die man landläufig an eine eigenständige Rechtsordnung stellen würde. Insbesondere mangelt es an materiellen Schranken, die die Ausübung der Unionsgewalt begrenzen.6 Beispielsweise enthielten die Verträge bis zum Vertrag von Lissabon keinen geschriebenen Grundrechtskatalog. Das stellte den EuGH vor die Aufgabe, die Lücken in den europäischen Verträgen zu füllen. Freilich konnte er nicht unmittelbar die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts oder die mitgliedstaatlichen Verfassungen anwenden, ohne hierdurch den Anspruch des europäischen Rechts zu desavouieren, eine unabhängige Rechtsordnung zu sein. Er fand jedoch einen Weg, Anleihen beim internationalen und nationalen Recht zu nehmen, ohne die Eigenständigkeit des europäischen Rechts aufzugeben. 1 BVerfG v. 18.12.1967 – 1 BvR 248/63 und 216/67, BVerfGE 22, 293 (295 f.), Hervorhebungen diesseits. 2 BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 und 2159/92, BVerfGE 89, 155 (188). 3 BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 und 2159/92, BVerfGE 89, 155 (188), fortgeführt in: BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – BVerfGE 123, 267 (231); zu Recht abl. Everling, EuR 2010, 91 (95 f.). 4 EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 – EWR, Slg. 1991, I-6079 – Rz. 21. 5 Ausf. auch zu Normenhierarchien innerhalb des Primärrechts: von Arnauld, EuR 2003, 191; Nettesheim, EuR 2006, 737. 6 Herdegen, Europarecht, § 8 Rz. 15.
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Charakteristika der europäischen Rechtsordnung
Rz. 26 § 1
Die Grundlage für die Lückenfüllung im europäischen Primärrecht bot die Bestimmung zur außervertraglichen Haftung der Union. Nach der entsprechenden Regelung, die sich heute in Art. 340 Abs. 2 AEUV findet, haftet die Union nach den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.“ Den Rechtsgedanken dieser Vorschrift aufgreifend hat der EuGH insbesondere den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, aber auch dem Völkerrecht Prinzipien entnommen, die er auf der Ebene des europäischen Primärrechts als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts anerkennt. Dabei handelt sich um eine Rezeption internationaler und nationaler Rechtsprinzipien auf der Ebene des europäischen Rechts. Die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts sind ungeschriebener Teil des europäischen Primärrechts und finden in diesem ihre Rechtsquelle.1 Das nationale und internationale Recht ist demgegenüber eine bloße Rechtserkenntnisquelle der allgemeinen Grundsätze, nicht aber ihr Geltungsgrund. Es dient lediglich als Hilfsmittel bei deren Gewinnung und Auslegung.2
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In seiner Rechtsprechung hat der EuGH u.a. als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts anerkannt:
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– die Unionsgrundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten3 oder internationalen Verträgen zum Schutze der Menschenrechte4 ergeben (vgl. § 2 Rz. 1), – den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,5 – den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot,6 – den Grundsatz des Vertrauensschutzes,7 – den Grundsatz der Solidarität8 sowie – das Verbot des Rechtsmissbrauchs.9 Häufig stehen die allgemeinen Rechtsgrundsätze in einem inneren Zusammenhang zu dem in Art. 2 Satz 1 EUV genannten Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und betreffen das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Union bzw. den Mitgliedstaaten. Sie sind in der Regel öffentlich-rechtlicher Rechtsnatur. In vereinzelten Entscheidungen hat der EuGH jedoch auch allgemeine Rechtsgrundsätze mit zivilrechtlichem Charakter postuliert. So hat er in der Rs. Acton entschieden, dass Arbeitnehmern für die Zeit, in der sie sich an einem Streik beteiligen, nach einem „im Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten anerkannten Grundsatz“ kein Entgeltanspruch zusteht.10 In einer jüngeren Entscheidung hat er den Standpunkt eingenommen, es entspreche „einem 1 2 3 4
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Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rz. 31 ff. Vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 6 EUV Rz. 7. EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 – Rz. 4. EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 – Rz. 71 (EMRK); v. 15.6. 1978 – Rs. 149/77 – Defrenne, Slg. 1978, 1365 – Rz. 26/29 (ESC und bestimmte Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation); v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 – Grant, Slg. 1998, I-621 – Rz. 43 f. (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte). EuGH v. 12.7.200 – Rs. C-189/01 – Jippes u.a., Slg. 2001, I-5689 – Rz. 81. EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 – Rz. 13. EuGH v. 6.7.2000 – Rs. C-402/98 – Agricola Tabacchi Bonavicina, Slg. 2000, I-5501 – Rz. 37. EuGH v. 18.3.1980 – Rs. 154/78 u.a. – Ferriera Valsabbia, Slg. 1980, 907 – Rz. 59. EuGH v. 5.7.2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, Slg. 2007, I-5795 – Rz. 38; str., hierzu: de la Feria, Common Market Law Review 2008, 395 (433 ff.); Staudinger/Looschelders/Olzen, § 242 Rz. 1184 ff. (m.w.N.). EuGH v. 18.3.1975 – verb. Rs. 44, 46 und 49/74 – Acton, Slg. 1975, 383 – Rz. 11/16; zum Hintergrund: Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 198 ff.; s. ferner EuGH v. 15.6.1976 – Rs. 110/75 – Mills, Slg. 1976, 955 – Rz. 25, 27.
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§1
Rz. 27
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
der allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts, (…) dass sich die vollständige Durchführung eines Vertrags in der Regel aus der Erbringung der gegenseitigen Leistungen der Vertragsparteien und der Beendigung des entsprechenden Vertrags ergibt.“1 Auch der Grundsatz pacta sunt servanda ist ein allgemeiner Grundsatz des Zivilrechts.2 c) Sekundäres Unionsrecht 27
Im Rang unterhalb des europäischen Primärrechts stehen die europäischen Rechtsakte, die von den Unionsorganen auf der Grundlage der Verträge geschaffen wurden. Zu diesem abgeleiteten oder sekundären Unionsrecht zählen insbesondere die in Art. 288 AEUV genannten Verordnungen und Richtlinien. Das primäre Unionsrecht hat Vorrang gegenüber dem Sekundärrecht. Es ist „Grundlage, Rahmen und Grenze“ für das sekundäre Unionsrecht.3 Verstößt eine Norm des sekundären Unionsrechts gegen Vorgaben der Verträge, ist sie nichtig.4 3. Unmittelbare Anwendung
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Völkerrechtliche Verträge gelten zwischen den Staaten, die sie geschlossen haben, und regelmäßig lassen sich aus ihnen keine einklagbaren Rechte des Einzelnen ableiten. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Unionsrecht maßgeblich vom Völkerrecht, da der EuGH in der berühmten Rs. Van Gend & Loos aus dem Jahr 1963 entschied, dass das europäische Recht dem Einzelnen nicht nur Pflichten auferlegt, sondern auch Rechte verleiht, die vor den staatlichen Gerichten geltend gemacht werden können: „Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, dass dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet. Sie findet eine noch augenfälligere Bestätigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt. Zu beachten ist ferner, dass die Staatsangehörigen der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten dazu berufen sind, durch das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Funktionieren dieser Gemeinschaft beizutragen. Auch die dem Gerichtshof im Rahmen von Art. 177, der die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte gewährleisten soll, zukommende Aufgabe ist ein Beweis dafür, dass die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müssten sich vor den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können.“5
1 EuGH v. 10.4.2008 – Rs. C-412/06 – Hamilton, Slg. 2008, I-2383 – Rz. 42, Hervorhebungen diesseits; krit. Häublein, ZIP 2008, 2005 (2006); s. ferner EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 – E. Friz, Slg. 2010, I-2947 – Rz. 48. 2 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-277/05 – Société thermale d’Eugénie-Les-Bains, Slg. 2007, I-6415 – Rz. 24. 3 EuGH v. 5.10.1978 – Rs. 26/78 – Viola, Slg. 1978, 1771 – Rz. 9, 14. 4 EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 – Volker und Markus Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063 – Rz. 46 ff. 5 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1962, 3 (25 f.).
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Charakteristika der europäischen Rechtsordnung
Rz. 31 § 1
Die Grundlage für die sog. unmittelbare Anwendbarkeit1 des europäischen Rechts war weniger eine Frage rechtstechnischer Einzelheiten, sondern vielmehr „une certaine idée de l’Europe“;2 die europäischen Richter hatten eine bestimmte Vorstellung davon, wie Europa sein sollte. Ihre Entscheidung war einer der wichtigsten Bausteine in der Rechtsprechung des EuGH, der die Wirksamkeit des europäischen Rechts garantierte.3 Die Union könnte kaum eines ihrer Ziele effektiv verfolgen oder verwirklichen, wenn Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das europäische Recht allein im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens nach den Art. 258 und 259 AEUV sanktioniert werden könnten. In der Tat belegt das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, dass das europäische Recht auch dem Einzelnen Rechte verleiht, die er vor mitgliedstaatlichen Gerichten geltend machen kann. Andernfalls verbliebe für diese Verfahrensart kein nennenswerter Anwendungsbereich. Die Entscheidung für die unmittelbare Anwendbarkeit ermöglicht hingegen zugleich eine Kontrolle der Mitgliedstaaten, die nicht mehr nur bei der Kommission und den Mitgliedstaaten, sondern – unter Einbeziehung der mitgliedstaatlichen Gerichte – auch bei den „an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen“ liegt.4 Im Unionsrecht können ihnen die Mitgliedstaaten, anders als es vielfach im Völkerrecht der Fall ist, nicht mehr nach der Devise gegenübertreten „L’Etat, c’est moi.“5
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Eine Vorschrift der europäischen Verträge findet unmittelbar Anwendung, wenn sie unbedingt, rechtlich vollkommen und inhaltlich bestimmt ist, so dass sie keiner weiteren Ausführungsakte bedarf.6 Das bedeutet im Kern nichts anderes, als dass eine Primärrechtsnorm unmittelbar anwendbar ist, wenn sie im konkreten Einzelfall unmittelbar angewendet werden kann.7 Das hat der EuGH beispielsweise für den Grundsatz gleichen Entgelts nach Art. 157 AEUV8 sowie für die Grundfreiheiten9 bejaht (zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien vgl. Rz. 125 ff.).
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4. Anwendungsvorrang Nach völkerrechtlichen Grundsätzen kann sich kein Staat auf sein innerstaatliches Recht berufen, um sich von seinen Pflichten zu befreien, die sich aus einem internationalen Vertrag ergeben.10 Insoweit haben internationale Verträge Vorrang vor einzel1 Synonym „unmittelbare Wirkung“; zur Terminologie: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rz. 41. Auf eine davon zu unterscheidende „unmittelbare Geltung“, die in der Rspr. des EuGH keine Stütze findet, kann m.E. verzichtet werden; vgl. Haltern, Europarecht, Rz. 601; ferner Eleftheriadis, Yearbook of European Law 1996, 205; abw. Steinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 37. 2 Pescatore, European Law Review 1983, 155 (157). 3 Haltern, Europarecht, Rz. 600. 4 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1962, 3 (26). 5 Pointiert: Pescatore, European Law Review 1983, 155 (158). 6 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1962, 3 (25); v. 16.6.1966 – Rs. 57/65 – Lütticke, Slg. 1966, 258 (266). 7 GA van Gerven v. 27.10.1993 – Rs. C-128/92 – Banks, Slg. 1994, I-1209 – Rz. 27; Craig/de Búrca/de Witte, The Evolution of EU Law, S. 323 (330); vgl. Steinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 48. 8 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne, Slg. 1976, 455 – Rz. 21, 24. 9 Für die Warenverkehrsfreiheit: EuGH v. 22.3.1977 – Rs. 74/76 – Ianelli und Volpi, Slg. 1977, 557 – Rz. 13; für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337 – Rz. 5/7; für die Niederlassungsfreiheit: EuGH v. 21.6.1974 – Rs. 2/74 – Reyners, Slg. 1974, 631 – Rz. 24 ff.; für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH v. 3.12.1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 – Rz. 24/26. 10 S. Art. 27 Satz 1 Wiener Vertragsrechtskonvention (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23.5.1969, BGBl. II 1985, 927).
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§1
Rz. 32
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
staatlichem Recht. Dies ist jedoch ein Rechtssatz des Völkerrechts, der ausschließlich für das Verhältnis zwischen den vertragsschließenden Staaten gilt. Für das europäische Recht hat der EuGH ebenfalls einen Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht postuliert. Dieser soll aber anders als im Völkerrecht nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten gelten. Vielmehr sollen auch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen den Vorrang des europäischen Rechts anerkennen:1 „Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“2 32
Weitergehend hat der EuGH in der Rs. Simmenthal bekräftigt, dass nationales Recht, das mit europarechtlichen Regelungen kollidiert, ohne weiteres unanwendbar ist. Zudem hat er alle mitgliedstaatlichen Gerichte ermächtigt und verpflichtet, nationale Vorschriften, die gegen unmittelbar anwendbare Bestimmungen des Unionsrechts verstoßen, unangewendet zu lassen. Das soll selbst dann gelten, wenn die Verwerfung nationaler Gesetze nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht einem Verfassungsgericht vorbehalten ist.3 Die Nichtanwendung europarechtswidriger Vorschriften setzt nicht voraus, dass der EuGH zuvor einen Kollisionsfall festgestellt hat. Die unionsrechtliche Vorrangregel ist auch ohne eine vorhergehende Entscheidung des EuGH anzuwenden.4 Insgesamt regelt danach allein das europäische Recht den Fall seiner Kollision mit nationalem Recht und gewährt dem Unionsrecht den Vorrang, um auf diese Weise dessen Funktionsfähigkeit zu gewährleisten; sog. europarechtliche Theorie.5 Die einzelstaatlichen Gerichte üben bei der Nichtanwendung unionsrechtswidriger Gesetze mithin eine ihnen vom Unionsrecht verliehene Befugnis aus und werden als „ordentliche Unionsgerichte“6 tätig.
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Dem EuGH zufolge gilt der Vorrang des Unionsrechts uneingeschränkt. Jede Bestimmung des europäischen Primär- und Sekundärrechts geht ausnahmslos jeglicher Norm der Mitgliedstaaten, einschließlich des nationalen Verfassungsrechts, vor.7 Voraussetzung ist stets, dass die unionsrechtliche Norm unmittelbar anwendbar ist, weil es sonst an einer Kollision mit nationalem Recht fehlt.8 Unerheblich ist hingegen, in welcher zeitlichen Reihenfolge die kollidierenden Normen geschaffen wurden.9 Allerdings ist nationales Recht, das gegen Unionsrecht verstößt, nicht nichtig oder unwirksam, sondern lediglich unanwendbar; sog. Anwendungsvorrang.10 Die einzelstaatliche Norm bleibt wirksam und, soweit sie in einem verbleibenden Teil1 Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 1 AEUV Rz. 17. 2 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 – Costa, Slg. 1964, 1253 (1270). 3 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 – Simmenthal, Slg. 1978, 629 – Rz. 17 ff.; vgl. auch Kreft, RdASonderbeil. 2006, 38 (42). 4 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 53; Langenbucher/ Langenbucher, § 1 Rz. 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rz. 52; krit. Steiner, NZA 2008, 73 (74). 5 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rz. 49; Streinz, Europarecht, Rz. 206. 6 EuGH (Plenum) v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 – „Patentgerichtssystem“, Slg. 2011, I-1137 – Rz. 80; ähnl. Streinz/Huber, Art. 19 EUV Rz. 37 („funktionale“ Unionsgerichte). 7 EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 – Kreil, Slg. 2000, I-69. 8 von Danwitz, JZ 2007, 697 (702); Schlachter, ZfA 2007, 249 (255 f.). 9 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 – Simmenthal, Slg. 1978, 629 – Rz. 17f. 10 EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 – IN.CO.GE.’90, Slg. 1998, I-6307 – Rz. 21.
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Charakteristika der europäischen Rechtsordnung
Rz. 37 § 1
bereich nicht gegen das Unionsrecht verstößt, auch anwendbar. Zudem wird sie in Gänze anwendbar, wenn die unionsrechtliche Norm aufgehoben wird, gegen die sie ursprünglich verstieß. Der Vorrang des Unionsrechts ist nicht kodifiziert, doch hat die mit der Ausarbeitung des Vertrages von Lissabon befasste Regierungskonferenz in ihrer Erklärung Nr. 17 ausdrücklich auf den Vorrang des Unionsrechts hingewiesen, wie er sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt. Die Erklärung ist nicht gem. Art. 51 EUV Teil des europäischen Primärrechts, sondern lediglich eine Auslegungshilfe.1
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Für die Durchsetzung des von ihm postulierten Vorranges des Unionsrechts ist der EuGH auf die Mitwirkung der nationalen Gerichte angewiesen, da letztlich diese über die Nichtanwendung europarechtswidriger Gesetze zu entscheiden haben. Die Verwirklichung des Anwendungsvorrangs hängt mithin von dessen Akzeptanz der mitgliedstaatlichen Gerichte ab.2 Dort ist er jedoch auf ein geteiltes Echo gestoßen. Prinzipiell akzeptieren alle Mitgliedstaaten den Vorrang des Unionsrechts. Die weit überwiegende Mehrzahl formuliert jedoch Vorbehalte gegen einen uneingeschränkten Vorrang des europäischen Rechts gegenüber ihren nationalen Verfassungen bzw. gegenüber bestimmten nationalen Verfassungsprinzipien.3 Es bestehen mithin konkurrierende Verfassungsordnungen, die jeweils die Spitze der Normenhierarchie für sich in Anspruch nehmen. Deswegen wird mitunter von einem Verfassungspluralismus gesprochen, der sich nicht materiell zugunsten einer Seite entscheiden lasse, sondern im Konfliktfall eine Streitbeilegung durch Kooperation zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten erfordere.4
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Das BVerfG erkennt den Vorrang des Unionsrechts zwar als Rechtsprinzip des europäischen Rechts an, leitet seine Wirkung jedoch aus dem deutschen Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen und dem Grundgesetz ab:
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„Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen i.V.m. Art. 24 Abs. 1 GG [jetzt: Art. 23 GG] der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (…).“5 Danach darf der Anwendungsvorrang nicht weiter reichen, als das Grundgesetz es zulässt; sog. Theorie der verfassungsrechtlichen Ermächtigung.6 Auf dieser Grundlage hat sich das BVerfG vorbehalten, unionale Rechtsakte am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu überprüfen, doch übt es diese Prüfungskompetenz nicht aus, weil und solange die Unionsorgane „einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der [Union] generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist“.7 Es ist praktisch nicht denkbar, dass der unionale 1 2 3 4
Vgl. Schwarze/Becker, Art. 51 EUV Rz. 9 f. Craig/de Búrca/de Witte, The Evolution of EU Law, S. 323 (348 ff.). Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 10 Rz. 28 ff. Vgl. Poiares Maduro, EuR 2007, 3 (4 ff.); Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (5 f.); Voßkuhle, NJW 2012, 1329 (1330). 5 BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244), Hervorhebungen diesseits. 6 Vgl. Streinz, Europarecht, Rz. 210; krit. Everling, JZ 2000, 217 (225 f.); eingehend hierzu: Kreft, RdA-Sonderbeil. 2006, 38 (39 f.). 7 BVerfG v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (162 f.).
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§1
Rz. 38
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
Grundrechtsschutz diese Schwelle jemals unterschreiten wird. Ferner überprüft das BVerfG, ob sich europäische Rechtsakte im Rahmen der Kompetenzen bewegen, die der Union in den Verträgen übertragen wurden; sog. Ultra-vires-Kontrolle.1 Auch dies hat das BVerfG eingeschränkt und nimmt einen aus den ihr zustehenden Kompetenzen „ausbrechenden Rechtsakt“ der Union nur an, wenn das „kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt.“2 Im Übrigen prüft das BVerfG, ob der „unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG“ gewahrt ist.3
III. Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht 1. Allgemeine Vorgaben 38
Will die Union einen Sekundärrechtsakt, etwa eine arbeitsrechtliche Richtlinie, erlassen, muss sie die Prinzipien des Art. 5 EUV wahren, die für die gesamte Rechtsetzung der Union gelten und das vertikale Verhältnis zwischen ihr und den Mitgliedstaaten betreffen.4 Hierzu zählen der Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung sowie der Subsidiaritäts- und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Art. 5 EUV ist die „Zentralnorm für die Struktur der föderalen Kompetenzordnung“ in der Europäischen Union.5 Für die arbeitsrechtliche Rechtsetzung der Union sind ferner die sog. Querschnittsklauseln in den Art. 8 ff. AEUV von Bedeutung. a) Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung
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Zum Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung bestimmt Art. 5 Abs. 2 EUV, dass die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Jegliches Handeln der Union bedarf zu seiner Rechtmäßigkeit einer in den Verträgen enthaltenen oder aus ihnen abgeleiteten Ermächtigungsgrundlage. Die Union hat keine Zuständigkeit, ihre Kompetenzen selbst zu bestimmen, sog. Kompetenz-Kompetenz. Insbesondere in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Union von einem prinzipiell allzuständigen Staat.6 b) Subsidiaritätsgrundsatz
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Art. 2 AEUV unterscheidet zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten der Union. Im Bereich einer geteilten Zuständigkeit können gem. Art. 2 Abs. 2 AEUV die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch tätig werden, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat. In diesem Bereich bestehen gleichsam konkurrierende Kompetenzen, wobei eine Ausübung der unionalen gegenüber der nationalen Zuständigkeit Sperrwirkung entfaltet.7 Wie weit diese reicht, richtet sich nach dem 1 2 3 4 5 6 7
BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155 (188). BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 LS 1.a. BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – BVerfGE 123, 267 (268), Hervorhebung diesseits. Vgl. Schwarze/Lienbacher, Art. 5 EUV Rz. 1. Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, Art. 5 EUV Rz. 1. Streinz/Streinz, Art. 5 EUV Rz. 5. Calliess/Ruffert/Calliess, Art. 2 AEUV Rz. 16 f.
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Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht
Rz. 43 § 1
Inhalt des jeweiligen Sekundärrechtsakts.1 Gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. a, b und c AEUV handelt es sich bei den für das Arbeitsrecht relevanten Unionskompetenzen in den Bereichen Binnenmarkt, Sozialpolitik und Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts um geteilte Zuständigkeiten. Für die geteilten Kompetenzen der Union gilt das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EUV. Danach darf die Union nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der jeweils in Betracht gezogenen Maßnahme von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf der Unionsebene zu verwirklichen sind. Ist ein unionaler Rechtsakt auf die Angleichung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften gerichtet, kann dieses Ziel notwendigerweise nur auf der Unionsebene verwirklicht werden, so dass ein Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz von vorneherein ausgeschlossen ist. Seine Schwäche als Rechtsprinzip liegt darin, dass es keine Vorgaben für die genuin rechtspolitische Vorfrage enthält, ob eine Rechtsangleichung wünschenswert ist oder nicht.2
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In der Praxis beschränkt sich der Richtliniengeber häufig darauf, in den Erwägungsgründen zu der Richtlinie darauf hinzuweisen, dass die mit der Richtlinie beabsichtigte Rechtsangleichung auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann.3 Der EuGH hielt dies für ausreichend.4 Die vor diesem Hintergrund umstrittene Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip überhaupt justiziabel ist,5 hat der Vertrag von Lissabon entschieden, indem Art. 8 des sog. Subsidiaritätsprotokolls6 eine Subsidiaritätsklage eingeführt hat, die u.a. von einem mitgliedstaatlichen Parlament erhoben werden kann. Auch in der politischen Sphäre beziehen Art. 6 und 7 des Subsidiaritätsprotokolls – wie in Art. 12 Buchst. b EUV vorgesehen – die nationalen Parlamente in das unionale Gesetzgebungsverfahren ein. Sie haben das Recht, in einer begründeten Stellungnahme darzulegen, dass der Entwurf eines europäischen Rechtsetzungsaktes mit dem Subsidiaritätsprinzip unvereinbar ist (sog. Subsidiaritätsrüge).7 Von diesem Recht haben sie erstmalig im Fall des Vorschlags der Kommission für eine Verordnung über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen (sog. Monti II-Verordnung)8 Gebrauch gemacht. Insgesamt zwölf nationale Parlamente rügten einen Subsidiaritätsverstoß, woraufhin die Kommission ihren Entwurf zurückzog (vgl. § 5 Rz. 76).9
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c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Eine weitere Schranke für die Ausübung von Unionskompetenzen ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 4 EUV. Er verlangt, dass Maßnahmen der Union sowohl inhaltlich als auch formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen. Das soll ausschließlich die Autonomie 1 Lenz/Borchardt/Lenski, Art. 2 AEUV Rz. 9. 2 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 21; vgl. auch Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 11 Rz. 31. 3 So z.B. der 23. Erwägungsgrund zur Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG (ABl. Nr. L 327 v. 5.12. 2008, S. 9). 4 Vgl. EuGH v. 8.6.2010 – Rs. C-58/08 – Vodafone, Slg. 2010, I-4999 – Rz. 77. 5 Zum Ganzen: Albin, NVwZ 2006, 629 (631 ff.). 6 Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (ABl. Nr. C 83 v. 30.3.2010, S. 206). Das Protokoll ist gem. Art. 51 EUV Bestandteil der Verträge. 7 Vgl. hierzu: Calliess/Ruffert/Calliess, Art. 12 EUV Rz. 11 ff. 8 KOM (2012), 130 endg. 9 Zum Hintergrund: Bruun/Bücker, NZA 2012, 1136.
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§1
Rz. 44
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
der Mitgliedstaaten schützen, weswegen Art. 5 Abs. 4 EUV keinen individualschützenden Charakter aufweist und strikt vom grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu unterscheiden ist.1 Hinsichtlich des kompetenzrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips wird aus Art. 296 AEUV abgeleitet, dass die Union dem Instrument der Richtlinie gegenüber der Verordnung den Vorzug zu geben habe.2 Darüber hinaus fallen inhaltliche Konkretisierungen, wie beim Subsidiaritätsgrundsatz, schwer, denn wiederum entscheidet in erster Linie die Festsetzung des rechtspolitischen Ziels darüber, welches Mittel erforderlich ist.3 Der EuGH billigt dem Unionsgesetzgeber denn auch ein weites Ermessen zu, wenn er politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen trifft, die komplexe Prüfungen verlangen. Unverhältnismäßig soll ein Rechtsakt nur sein, wenn er zur Erreichung des jeweiligen Ziels offensichtlich ungeeignet ist.4 d) Querschnittsklauseln 44
Wird die Union rechtsetzend tätig, muss sie die sog. Querschnittsklauseln in den Art. 8, 9 und 10 AEUV beachten. Sie beziehen sich auf die Gleichbehandlung der Geschlechter, den sozialen Schutz sowie den Diskriminierungsschutz. Hierin spiegeln sich einige der in Art. 3 Abs. 3 EUV genannten Unionsziele wieder, wenngleich die Querschnittsklauseln keine Zielvorgaben beinhalten, sondern auf die inhaltliche Ausrichtung unionaler Rechtsakte einwirken. Offenbar wegen dieser beschränkenden Tendenz der Querschnittsklauseln bleiben sie in ihrer Formulierung zum Teil hinter den allgemeinen Unionszielen zurück.5 Art. 9 AEUV spricht von einem hohen Beschäftigungsniveau, Art. 3 Abs. 3 EUV demgegenüber von Vollbeschäftigung. Anders als in Art. 3 EUV findet sich in Art. 9 AEUV keine Pflicht zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit, sondern lediglich eines angemessenen sozialen Schutzes. Art. 10 AEUV verpflichtet nicht zur Solidarität zwischen den Generationen, sondern wendet sich gegen Diskriminierungen wegen des Alters. 2. Primärrechtliche Kompetenzen und sekundäres Arbeitsrecht
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Mit großer Weitsicht hat die Kommission in ihrem ersten allgemeinen Bericht über die Aktivitäten der Gemeinschaft im Jahr 1958 ausgeführt, dass die europäische Integration von einem großen Teil der öffentlichen Meinung nach ihrem Erfolg auf dem Gebiet der Sozialpolitik beurteilt würde.6 Die Bemühungen der europäischen Organe auf diesem Politikfeld hängen nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung von den ihnen zur Verfügung stehenden Kompetenzen im europäischen Primärrecht ab. Die Zuständigkeiten der Union auf dem Gebiet des Arbeitsrechts wurden mit den verschiedenen Vertragsrevisionen im Laufe der Zeit zwar stetig ausgeweitet, doch sind diese weder zusammenhängend geregelt, noch fügen sie sich zu einem konzisen Gesamtbild zusammen. Sie ergeben sich aus einer Vielzahl von Vorschriften, die unabhängig voneinander im Vertrag über die EU-Arbeitsweise verstreut sind. Dementsprechend beruhen die auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte nicht auf einer sys1 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, Art. 5 EUV Rz. 66 ff.; Streinz/Streinz, Art. 5 EUV Rz. 40. 2 Calliess/Ruffert/Calliess, Art. 296 AEUV Rz. 6; Streinz/Streinz, Art. 5 EUV Rz. 46; a.A. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, Art. 5 EUV Rz. 72. 3 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 22. 4 Statt aller: EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 – Rz. 123. 5 Vgl. EAS/Sagan, B 1100 Rz. 23. 6 Zit. n. Barnard, EU Employment Law, S. 8.
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Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht
Rz. 48 § 1
tematischen Konzeption, weswegen das sekundäre Arbeitsrecht keine in sich geschlossene Einheit bildet. Auch kann es wegen des Subsidiaritätsprinzips kein flächendeckendes EU-Arbeitsrecht geben, da es seiner Funktion nach darauf begrenzt ist, die mitgliedstaatlichen Arbeitsordnungen dort zu ergänzen, wo die nationalen Gesetzgeber an – meist territoriale – Grenzen stoßen. Das EU-Arbeitsrecht ist denn auch nicht darauf gerichtet, die tradierten mitgliedstaatlichen Arbeitsordnungen auf breiter Front zu überlagern oder gar zu verdrängen. Es beruht auch nicht auf dem „Koalitionsvertrag“ einer politisch homogen zusammengesetzten „europäischen Regierung“, sondern setzt einen Kompromiss zwischen den Unionsorganen und den zum Teil erheblich divergierenden Interessen einer Vielzahl von Mitgliedstaaten voraus, in deren Arbeitsrechtsordnungen es sich einfügen (lassen) muss. Das europäische Arbeitsrecht ist daher von Natur aus fragmentarisch.1 Für das Verständnis des sekundären EU-Arbeitsrechts ist es sinnvoll, sich die Rechtsgrundlage zu vergegenwärtigen, auf welcher die jeweiligen Regelungen erlassen wurden. Dies ist für die Bestimmung des Normzwecks und damit für ihre Auslegung von erheblicher Bedeutung (vgl. Rz. 92).
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Die meisten arbeitsrechtlichen Rechtsetzungskompetenzen der Union sind – häufig unter Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses – im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV2 auszuüben. Dieses wird durch einen Vorschlag der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat eingeleitet, der sich aus den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt und seine Beschlüsse grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit fasst.3 An die Übermittlung des Kommissionsentwurfs schließen sich erforderlichenfalls jeweils zwei Lesungen im Parlament und im Rat an, wobei es nur dann zu einer zweiten Lesung kommt, wenn sich die beiden Unionsorgane nicht schon im Rahmen der ersten Lesung einigen. Kommt es auch nach den zweiten Lesungen nicht zu einem Konsens, kann ein Vermittlungsausschuss angerufen werden, in dem Vertreter des Parlaments und des Rates paritätisch vertreten sind. Wird im Vermittlungsausschuss ein gemeinsamer Entwurf beschlossen, kann dieser anschließend in einer dritten Lesung erlassen werden, wenn das Parlament und der Rat ihn billigen. Notwendig ist also stets die Zustimmung von Parlament und Rat.
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a) Grundfreiheiten aa) Arbeitnehmerfreizügigkeit. Als eine der EU-Grundfreiheiten wird in Art. 45 AEUV die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährleistet, die gem. Art. 26 AEUV zu den konstituierenden Bestandteilen des Binnenmarktes gehört und einen „fundamentalen Grundsatz“ der Union darstellt.4 Sie gibt den Arbeitnehmern das Recht auf Zugang zu den Arbeitsmärkten anderer Mitgliedstaaten und beinhaltet insbesondere die hierfür erforderlichen Einreise- und Aufenthaltsrechte. Darüber hinaus gewährt sie das Recht, bei einer abhängigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen weder unmittelbar noch mittelbar wegen der 1 Fuchs, ZESAR 2004, 111 (112); pointierte Kritik bei Freedland, European Community Labour Law, S. 270 (278 f.). 2 Hierzu: Streinz, Europarecht, Rz. 548 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, Rz. 51 ff. 3 Vgl. Art. 16 EUV und Art. 3 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen zum Vertrag von Lissabon (ABl. Nr. C 83 v. 30.3.2010, S. 322 f.). 4 EuGH v. 7.7.1976 – Rs. 118/75 – Watson und Belman, Slg. 1976, 1185 – Rz. 16; allg. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit: Ehlers/Becker, § 9 Rz. 1 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 15 Rz. 1 ff.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 3 ff.
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§1
Rz. 49
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
Staatsangehörigkeit ungerechtfertigt benachteiligt zu werden. Dieses Diskriminierungsverbot ist unmittelbar anwendbar,1 so dass sich der einzelne Arbeitnehmer gegenüber der Union2 und den Mitgliedstaaten,3 aber auch gegenüber Tarifvertragsparteien4 und einzelnen Arbeitgebern5 hierauf berufen kann. Voraussetzung ist stets ein grenzüberschreitender Sachverhalt, weswegen Art. 45 AEUV prinzipiell keine Anwendung findet, wenn ein Mitgliedstaat seine eigenen Staatsangehörigen gegenüber EU-Ausländern benachteiligt.6 Schließlich enthält die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Beschränkungsverbot, das sich gegen Bestimmungen richtet, die einen Unionsbürger daran hindern oder davon abhalten, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen. Derartige Bestimmungen beeinträchtigen das Freizügigkeitsrecht auch dann, wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten und daher keine Diskriminierung vorliegt.7 49
Art. 46 AEUV verleiht der Union eine weitreichende Kompetenz zur Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Hierauf stützen sich etwa die Freizügigkeitsverordnung (EU) Nr. 492/20118 sowie bestimmte Vorschriften der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG9 und der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen 2005/36/EG10. Darüber hinaus ermächtigt Art. 48 AEUV die Union zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch rechtsetzend auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit tätig zu werden. Auf dieser Grundlage wurden die Regelungen des koordinierenden EU-Sozialrechts, insbesondere die Verordnungen (EG) Nr. 883/200411 und Nr. 987/200912, geschaffen.13
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bb) Dienstleistungsfreiheit. Eine mit der Kompetenz zur Rechtsetzung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit vergleichbare Befugnis findet sich für die Dienstleistungsfreiheit in den Art. 53 Abs. 1, 62 AEUV. Danach ist die Union zur Angleichung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften in Bezug auf den Dienstleistungsverkehr berechtigt. Dies ist die Grundlage für den Erlass der Entsenderichtlinie 96/71/EG (vgl. § 5 Rz. 63).
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cc) Niederlassungsfreiheit. Rechtsakte zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit können nach Art. 44 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Auf dieser Grundlage erging die Verschmelzungsrichtlinie 2005/56/EG,14 deren Art. 16
1 EuGH v. 4.4.1974 – Rs. 167/73 – Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359 – Rz. 35; v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337 – Rz. 5/7. 2 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 131 ff. (m.w.N.). 3 EuGH v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 – Graf, Slg. 2000, I-493 – Rz. 18. 4 EuGH v. 8.7.1999 – Rs. C-234/97 – Fernández de Bobadilla, Slg. 1999, I-4773 – Rz. 36; zu Satzungen von Sportverbänden: EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921 – Rz. 69 ff.; v. 13.4.2000 – Rs. C-176/96 – Lehtonen, Slg. 2000, I-2681 – Rz. 47 ff.; zum Ganzen: Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten, S. 185 ff. 5 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139 – Rz. 36; zust. Calliess/Ruffert/Brechmann, Art. 45 AEUV Rz. 55; krit. Streinz, Europarecht, Rz. 850; abl. Streinz/Franzen, Art. 45 AEUV Rz. 95 f. 6 EuGH v. 26.1.1999 – Rs. C-18/95 – Terhoeve, Slg. 1999, I-345 Rz. 26 (m.w.N.). 7 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921 – Rz. 96; hierzu umfassend: Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG, S. 27 ff. 8 ABl. Nr. L 414 v. 27.5.2011, S. 1. 9 ABl. Nr. L 158 v. 30.4.2004, S. 77. 10 ABl. Nr. L 255 v. 30.9.2005, S. 22. 11 ABl. Nr. L 166 v. 30.4.2004, S. 1. 12 ABl. Nr. L 284, v. 30.10.2009, S. 1. 13 Hierzu: EAS/Eichenhofer, B 1200 Rz. 1 ff. 14 ABl. Nr. L 310 v. 25.11.2005, S. 1.
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Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht
Rz. 54 § 1
die unternehmerische Mitbestimmung in Gesellschaften regelt, die in Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch die grenzüberschreitende Fusion von Kapitalgesellschaften entstehen. b) Sozialpolitik Die zentralen Bestimmungen zu den arbeitsrechtlichen Zuständigkeiten finden sich im Titel „Sozialpolitik“, der begrifflich nicht nur das Sozial(versicherungs)-, sondern vor allem auch das Arbeitsrecht umfasst. Insbesondere Art. 153 AEUV enthält einen weitreichenden Kompetenzkatalog, der überwiegend arbeitsrechtliche Rechtsetzungskompetenzen enthält.
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aa) Allgemeine Voraussetzungen. Art. 153 AEUV erlaubt allein den Erlass von Richtlinien, die gem. Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. b Satz 1 AEUV lediglich Mindestvorschriften enthalten dürfen. Das bedeutet nach Art. 153 Abs. 4 Spiegelstr. 2 AEUV, dass die sozialpolitischen Richtlinien die Mitgliedstaaten nicht daran hindern dürfen, zugunsten der Arbeitnehmer strengere, aber unionsrechtskonforme Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu treffen.1 Für den Bereich der Sozialpolitik ist somit das Konzept der Mindestharmonisierung verbindlich vorgeschrieben.2 Sozialpolitische Richtlinien gestatten deswegen den Mitgliedstaaten in aller Regel ausdrücklich den Erlass von Vorschriften, die für die Arbeitnehmer günstiger sind. Die Union ist indes nicht auf das Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners verpflichtet, der sich aus dem Vergleich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergibt.3 Die Richtlinien müssen nach Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. b Satz 1 AEUV schrittweise anzuwenden sein, wofür eine angemessene Umsetzungsfrist bereits genügt.4 Gemäß Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. b Satz 2 AEUV dürfen sie keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleineren und mittleren Unternehmen entgegenstehen. Diese Aussage hat lediglich programmatischen Charakter und enthält kein einklagbares Recht.5 Die sozialpolitischen Richtlinien müssen auf der nationalen Ebene nicht zwingend von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Art. 153 Abs. 3 AEUV erlaubt den Mitgliedstaaten, die Durchführung auf einzelstaatliche Sozialpartner zu übertragen. Die Umsetzung erfolgt dann durch den Abschluss von Tarifverträgen, doch bleibt der Mitgliedstaat für die ordnungsgemäße Umsetzung verantwortlich.
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Die Umsetzung von Richtlinien durch Tarifvertrag ist in Deutschland praktisch nicht von Bedeutung. Das Unionsrecht verlangt eine flächendeckende Richtlinienumsetzung, die die Tarifvertragsparteien in Deutschland wegen ihrer beschränkten Tarifzuständigkeit und der Begrenzung ihrer Rechtsetzungsbefugnisse auf ihre jeweiligen Mitglieder nicht gewährleisten können.6
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1 Schwarze/Rebhahn/Reiner, Art. 153 AEUV Rz. 75. 2 Siehe hierzu: Käppler, FS Schwerdtner, S. 751 (761 ff.). 3 EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 56; teilw. abw. Streinz/Eichenhofer, Art. 153 AEUV Rz. 27; ähnl. EAS/Sagan, B 1100 Rz. 37; anders Schwarze/Rebhahn/Reiner, Art. 153 AEUV Rz. 69. 4 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 38; strenger Calliess/Ruffert/Krebber Art. 153 AEUV Rz. 31. 5 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 153 AEUV Rz. 11; Buchner, RdA 1993, 193 (194); Calliess/Ruffert/Krebber Art. 153 AEUV Rz. 32; a.A. EuG v. 17.6.1998 – Rs. T-135/96 – UEAPME, Slg. 1998, II-2335 – Rz. 80; Seifert, RdA 2004, 200 (203). 6 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 153 AEUV Rz. 13; Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau § 19 Rz. 18 f.
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§1
Rz. 55
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
55
bb) Katalog sozialpolitischer Kompetenzen.1 Innerhalb des Art. 153 AEUV lassen sich drei Gruppen von Zuständigkeiten unterscheiden. In der ersten Gruppe ist eine Kompetenz zur Rechtsangleichung ausgeschlossen. Die zweite Gruppe erfordert eine einstimmige Beschlussfassung im Rat. In der dritten Gruppe genügt hingegen ein Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit. Für bestimmte Bereiche wird in Art. 153 Abs. 5 AEUV eine Unionszuständigkeit ausgeschlossen.
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Der Union steht keine Kompetenz für die Angleichung des mitgliedstaatlichen Rechts auf den Gebieten der sozialen Ausgrenzung und der Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes zu (Art. 153 Abs. 1 Buchst. j und k AEUV). In diesen beiden Bereichen beschränken sich die Zuständigkeiten der Union gem. Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. a AEUV auf die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.
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In einem besonderen Gesetzgebungsverfahren, das Einstimmigkeit im Rat erfordert, kann die Union gem. Art. 153 Abs. 2 UAbs. 3 i.V.m. Abs. 1 Buchst. c, d, f und g AEUV Richtlinien zu den folgenden Materien erlassen: – Soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, – Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags, – Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, und – Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig in der Union aufhalten.
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Einer Rechtsetzungszuständigkeit im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterliegen nach Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. b Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Buchst. a, b, e, h und i AEUV die folgenden Bereiche: – Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, – Arbeitsbedingungen, – Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, – berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen sowie – Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz.
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Auf der Grundlage des heutigen Art. 153 AEUV wurden zahlreiche arbeitsrechtliche Richtlinien erlassen, die von erheblicher Bedeutung für die Praxis sind. Zu ihnen zählen u.a.: – die allgemeine Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie 2002/14/EG,2 – die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG,3 – die Insolvenzrichtlinie 2008/94/EG,4 – die Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG,5 – die Europäische-Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG,6 1 Näher hierzu: Birk, RdA 1992, 68; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 7 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank/Steinmeyer, § 12 Rz. 38 ff.; Wank, RdA 1995, 10 (18 ff.). 2 ABl. Nr. L 80 v. 23.3.2002, S. 29. 3 ABl. Nr. L 299 v. 18.11.2003, S. 9. 4 ABl. Nr. L 283 v. 28.10.2008, S. 36. 5 ABl. Nr. L 327 v. 5.12.2008, S. 9. 6 ABl. Nr. L 122 v. 16.5.2009, S. 28.
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Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht
Rz. 62 § 1
– die Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 89/391/EWG1 sowie zahlreiche Einzelrichtlinien zum technischen und sozialen Arbeitsschutz, wie etwa die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG2. cc) Bereichsausnahme des Art. 153 Abs. 5 AEUV. Art. 153 Abs. 5 AEUV schließt eine Zuständigkeit der Union für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht aus. Nach dem Wortlaut der Norm gilt dies nur für die sich aus Art. 153 AEUV ergebenden Unionskompetenzen. Nach ihrem Zweck scheint sie bei vordergründiger Betrachtung die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu schützen. In den von der Ausschlussklausel erfassten Bereichen haben die meisten Mitgliedstaaten die staatliche Rechtsetzung aber ohnehin weitgehend zugunsten der nationalen Sozialpartner zurückgenommen. Ihr primärer Zweck zielt daher auf den Schutz der Autonomie der einzelstaatlichen Tarifvertragsparteien.3 Aus diesem Grund und wegen des engen sachlichen Zusammenhangs zu den in Art. 153 Abs. 5 AEUV aufgezählten Materien ist eine sozialpolitische Kompetenz der Union für das Tarifvertragsrecht ebenfalls ausgeschlossen.4
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Die Ausnahme des Arbeitsentgelts bezieht sich lediglich auf Regelungen, die unmittelbar die Höhe des Entgelts festlegen, nicht aber auf Bestimmungen, die nur mittelbar auf diese einwirken.5 Zulässig ist etwa die Regelung in Art. 5 Abs. 1, 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. ii Leiharb-RL, nach der Leiharbeitnehmern prinzipiell mindestens die Vergütung zustehen muss, die sie bei einer hypothetischen Beschäftigung beim Entleiher erhalten würden.6
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dd) Anhörung der europäischen Sozialpartner. Bevor die Kommission einen auf Art. 153 AEUV gestützten Rechtsetzungsvorschlag unterbreitet, ist sie nach Art. 154 Abs. 2 AEUV zur Anhörung der europäischen Sozialpartner verpflichtet. Erachtet sie anschließend eine Unionsmaßnahme für zweckmäßig, besteht eine erneute Anhörungspflicht nach Art. 154 Abs. 3 AEUV. Die europäischen Sozialpartner haben bei beiden Anhörungen gem. Art. 154 Abs. 4 AEUV das Recht, in Verhandlungen über eine Vereinbarung zu treten (vgl. Rz. 71). In diesem Fall ist die Kommission verpflichtet, ihr Rechtsetzungsverfahren auszusetzen und – grundsätzlich bis zur Dauer von neun Monaten – das Ergebnis der Verhandlungen abzuwarten.7 Ein unter Verstoß gegen die Anhörungspflichten erlassener Rechtsakt der Union ist prinzipiell nichtig.8 Damit tritt im Bereich der euro-
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1 ABl. Nr. L 183 v. 29.6.1989, S. 1. 2 ABl. Nr. L 348 v. 28.11.1992, S. 1. 3 GA Kokott v. 9.1.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2483 – Rz. 172; Däubler/Heumschid, Arbeitskampfrecht, § 11 Rz. 123; EAS/Sagan, B 1100 Rz. 45; vgl. auch EuGH v. 13.9. 2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 40. 4 Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 163; Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 153 AEUV Rz. 12; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 421; EAS/Sagan, B 1100 Rz. 45; a.A. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 153 AEUV Rz. 104; Thüsing/Traut, RdA 2012, 65 (67). Für eine „enge“ Auslegung des Art. 153 Abs. 5 AEUV: EuGH v. 13.9. 2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 39; zu Recht abl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 8. 5 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 43 ff.; abw. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 153 AEUV Rz. 11. 6 Hamann, EuZA 2009, 287 (291 ff.); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 68 ff.; EAS/Sagan, B 1100 Rz. 47; a.A. Bertram, ZESAR 2003, 205 (214); Lenz/Borchardt/Coen, Art. 153 AEUV Rz. 44; Raab, ZfA 2003, 389 (414). 7 KOM (2004), 557 endg., S. 11; Vedder/Heintschel von Heinegg/Gassner, Art. 154 AEUV Rz. 8; Schwarze/Rebhahn, Art. 154 AEUV Rz. 11; EAS/R. Schwarze, B 8100 Rz. 98; a.A. Höland, ZIAS 1995, 425 (441). 8 EuG v. 17.6.1998 – Rs. T-135/96 – UEAPME, Slg. 1998, II-2335 – Rz. 89 f.; näher Streinz/Eichenhofer, Art. 154 AEUV – Rz. 4.
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§1
Rz. 63
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
päischen Sozialpolitik neben den Grundsatz der vertikalen Subsidiarität in Art. 5 Abs. 3 AEUV der Vorrang der europäischen Sozialpartner hinzu, der als Grundsatz der sozialen Subsidiarität bezeichnet wird.1 c) Gleichbehandlung 63
Art. 157 AEUV enthält zum einen den unmittelbar anwendbaren Grundsatz gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher und gleichwertiger Arbeit.2 Zum anderen ermächtigt die Vorschrift die Union dazu, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zu diesem Grundsatz sowie zur Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der Geschlechter in Arbeits- und Beschäftigungsfragen zu beschließen. Das ermöglicht Rechtsakte der Union etwa in den Bereichen der sozialen Sicherheit, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Teilzeitarbeit.3 Auf diese Ermächtigungsgrundlage stützt sich insbesondere die Geschlechterrichtlinie 2006/54/EG.4 Die Zuständigkeit zur Regelung sog. positiver Maßnahmen, die bestehende Nachteile eines Geschlechts ausgleichen sollen, weist Art. 157 Abs. 4 AEUV den Mitgliedstaaten zu.5
64
Eine weitere Rechtsgrundlage im Bereich des Gleichbehandlungsrechts ist Art. 19 Abs. 1 AEUV, der Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung erlaubt. Diese Aufzählung ist abschließend.6 Zudem setzt die Norm voraus, dass die Diskriminierung in einem Bereich verboten wird, für den der Union nach einer anderen Vorschrift eine Rechtsetzungskompetenz zusteht.7 Für das Arbeitsrecht kann insoweit insbesondere an die Unionszuständigkeit für die Arbeitsbedingungen nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV angeknüpft werden. Wiederum werden positive Maßnahmen nicht erfasst, weil Art. 19 Abs. 2 AEUV insoweit eine Angleichung nationalen Rechts expressis verbis ausschließt.8 Die heute in Art. 19 Abs. 1 AEUV befindliche Vorschrift ist die Grundlage für die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG und die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG. d) Rechtsangleichung im Binnenmarkt
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Art. 114 AEUV ermächtigt die Union im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zum Erlass von Vorschriften, die der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarktes dienen. Hiervon sind gem. Art. 114 Abs. 2 AEUV Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer ausgenommen. Eine Art. 114 AEUV entsprechende Kompetenz zum Erlass von Richtlinien, für die diese Ausnahme nicht gilt, findet sich in Art. 115 AEUV. Diese setzt in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Einstimmigkeit im Rat voraus. Auf dieser Grundlage wurden vor allem die frühen arbeitsrechtlichen Richtlinien geschaffen, bei deren Erlass es noch an sozialpolitischen 1 KOM (2002), 341 endg., S. 9; s. ferner Heinze, ZfA 1997, 505 (521); EAS/Sagan, B 1100 Rz. 48. 2 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne, Slg. 1976, 455 – Rz. 21, 24. 3 Streinz/Eichenhofer, Art. 157 AEUV Rz. 23; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 78. 4 ABl. Nr. L 204 v. 26.7.2006, S. 25. 5 Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 92; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 81; abw. Streinz/Eichenhofer, Art. 157 AEUV Rz. 25 f. 6 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 56. 7 BGH v. 26.11.2007 – NotZ 23/07, NJW 2008, 1229 (1232); weitergehend: von der Groeben/ Schwarze/Zuleeg, Art. 13 EG Rz. 12. 8 Streinz/Streinz, Art. 19 AEUV Rz. 20; a.A. Schwarze/Holoubek, Art. 19 AEUV Rz. 21.
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Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht
Rz. 68 § 1
Kompetenzen der Union fehlte. Wenn auch die ursprünglichen Richtlinien inzwischen ersetzt wurden, stützen sich die Nachfolgeakte gleichwohl auf die heute in Art. 115 AEUV befindliche Reglung. Hierzu gehören insbesondere: – die Nachweisrichtlinie 91/533/EWG,1 – die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG2 und – die Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG3. In einem auf Art. 115 AEUV übertragbaren4 Grundsatzurteil zu Art. 114 AEUV hat der EuGH entschieden, dass ein Rechtsakt zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt dazu beitragen muss, spürbare Hindernisse der Grundfreiheiten oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen.5 Auch die betreffenden Richtlinien im Bereich des Arbeitsrechts müssen folgerichtig so ausgelegt werden, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden und sich begünstigend auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken.6
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e) Internationales Arbeitsrecht Zu den allgemeinen Zielen der Union gehört nach Art. 3 Abs. 2 EUV, den Bürgern einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“7 ohne Binnengrenzen zu bieten. Das umfasst die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen, in deren Rahmen gem. Art. 81 Abs. 2 Buchst. c AEUV Maßnahmen erlassen werden können, die die Vereinbarkeit der mitgliedstaatlichen Kollisionsnormen und Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten sicherstellen. Der Union steht damit eine Kompetenz für das internationale Arbeitsrecht zu, von der Dänemark und im Grundsatz auch das Vereinigte Königreich ausgenommen sind.8 Zum internationalen Arbeitsrecht der Union gehört die Rom I-Verordnung,9 die das internationale Arbeitsvertragsrecht regelt (vgl. § 5 Rz. 47 ff.), sowie die Rom II-Verordnung,10 die Bestimmungen zum internationalen Arbeitskampfdeliktsrecht enthält. Im Übrigen enthalten die Art. 18 ff. der sog. EuGVO11 Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit für Arbeitsverträge.
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f) Kompetenzabrundungsklausel Ist zur Erreichung eines Unionsziels ein Tätigwerden der Union erforderlich, ohne dass ihr die hierfür erforderlichen Befugnisse zustehen, ermächtigt die Kompetenzabrundungsklausel des Art. 352 AEUV den Rat, auf Vorschlag der Kommission und 1 2 3 4 5 6
7 8 9 10 11
ABl. Nr. L 288 v. 18.10.1991, S. 32. ABl. Nr. L 225 v. 12.8.1998, S. 16. ABl. Nr. L 82 v. 22.3.2001, S. 16. Lenz/Borchardt/Fischer, Art. 115 AEUV Rz. 2; Streinz/Leible/Schröder, Art. 115 AEUV Rz. 8 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Tietje Art. 115 AEUV Rz. 7f. EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 – Rz. 84, 97 und 107. So zur Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG: EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres, Slg. 2005, I-11237 – Rz. 40; GA Maduro v. 16.6.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres, Slg. 2005, I-11237 – Rz. 30; allg. EAS/Sagan, B 1100 Rz. 54. Hierzu: Müller-Graff, EuR-Beiheft 2009, 105. Siehe Protokoll (Nr. 22) über die Position Dänemarks und Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands (ABl. Nr. C 83, 10.3.2010, S. 295, 299). ABl. Nr. L 177 v. 4.7.2008, S. 6; hierzu: HWK/Tillmanns, Art. 3, 8, 9 Rom-I-VO Rz. 1 ff. ABl. Nr. L 199 v. 31.7.2007, S. 40; hierzu: Deinert ZESAR 2012, 311; Junker, NJW 2007, 3675; Knöfel EuZA 2008, 228. ABl. Nr. L 12 v. 16.1.2001, S. 1.
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§1
Rz. 69
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
nach Zustimmung des Parlaments einstimmig die geeigneten Rechtsvorschriften zu erlassen. Aufgrund der Verzahnung dieser subsidiären Kompetenz mit den weitgesteckten Unionszielen könnten hierauf prinzipiell auch Maßnahmen gestützt werden, die beispielsweise der Förderung der sozialen Gerechtigkeit nach Art. 3 Abs. 3 EUV dienen.1 Um eine unzulässige Aushöhlung mitgliedstaatlicher Kompetenzen und des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung zu verhindern, kann Art. 352 AEUV aber „keine Grundlage dafür bieten, den Bereich der [Unionsbefugnisse] über den allgemeinen Rahmen hinaus auszudehnen, der sich aus der Gesamtheit der Vertragsbestimmungen (…) ergibt“.2 69
Für das Arbeitsrecht von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob die Bereichsausnahme des Art. 153 Abs. 5 AEUV im Rahmen des Art. 352 AEUV zu berücksichtigen ist. Für eine solche „Fernwirkung“ spricht, dass die Kompetenzabrundungsklausel nach Art. 352 Abs. 3 AEUV keine Harmonisierung in einem Bereich gestattet, in dem eine Angleichung von Rechtsvorschriften nach den Verträgen ausgeschlossen ist. Wenn danach aber schon das bloße Harmonisierungsverbot des Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. a AEUV zu berücksichtigen ist, muss dies erst recht für die Bereichsausnahme des Art. 153 Abs. 5 AEUV gelten.3
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Der Rückgriff auf Art. 352 AEUV war etwa für den Erlass der SE-Richtlinie 2001/86/EG4 erforderlich, weil sie für die unternehmerische Mitbestimmung nicht nur Mindestvorschriften i.S.d. Art. 153 Abs. 2 AEUV enthält, sondern die unternehmerische Mitbestimmung in der SE nach ihrem Art. 13 Abs. 2 abschließend regelt.5 Ebenfalls auf Art. 352 AEUV stützt sich die SCE-Richtlinie 2003/72/EG.6 3. Der soziale Dialog
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Auf der europäischen Ebene bestehen seit langem Zusammenschlüsse mitgliedstaatlicher Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen. Zu diesen europäischen Sozialpartnern gehören auf der allgemeinen, branchenübergreifenden Ebene vor allem BusinessEurope7, als Vertretung der privaten Arbeitgeber, der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP8), als Vertretung der öffentlichen Arbeitgeber, sowie auf der Seite der Arbeitnehmer der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB9). Daneben gibt es zahlreiche sog. brachenspezifische Sozialpartner, die einem bestimmten Wirtschaftssektor zuzuordnen sind.10 Die europäischen Sozialpartner sind nach Art. 155 AEUV zum sozialen Dialog auf Unionsebene berechtigt, vertragliche Beziehungen aufzunehmen und Vereinbarungen abzuschließen. Derartige Sozialpartnervereinbarungen können nach Art. 155 Abs. 2 AEUV auf zwei unterschiedlichen Wegen durchgeführt werden. Zum einen ist eine Umsetzung nach den jeweiligen Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten möglich. In diesem Fall sind die Mit1 Vgl. Calliess/Ruffert/Rossi, Art. 352 AEUV Rz. 33. 2 EuGH v. 23.3.1996 – Gutachten 2/94 – „EMRK-Beitritt“, Slg. 1996, I-1759 – Rz. 30. 3 EAS/Hergenröder, B 8400 Rz. 47 und 50; Rieble/Kolbe, EuZA 2008, 453 (466); Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 61f.; Thüsing/Traut, RdA 2012, 65 (68); näher zum Ganzen: EAS/Sagan, B 1100 Rz. 62 ff. 4 ABl. Nr. L 294 v. 10.11.2001, S. 22. 5 Str.; Herfs-Röttgen, NZA 2002, 358 (358 f.); Kleinsorge, RdA 2002, 343 (345 f.). 6 ABl. Nr. L 207 v. 18.8.2003, S. 25. 7 Zuvor: Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas/Union des Industries de la Communauté Européenne (UNICE). 8 Centre Européen de l’Entreprise Publique. 9 Häufig auch „ETUC“ (European Trade Union Congress). 10 Aufzählung bei Calliess/Ruffert/Krebber Art. 154 AEUV Rz. 20 f.
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Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht
Rz. 73 § 1
gliedstaaten unstreitig nicht zur Umsetzung der Vereinbarung verpflichtet,1 weswegen von einer autonomen Sozialpartnervereinbarung gesprochen wird.2 Auch kann eine solche nicht unmittelbar Rechtswirkungen für Arbeitsvertragsparteien erzeugen, zumal diese nicht selbst Mitglied der europäischen Verbände sind. Notwendig ist vielmehr eine Umsetzung der europäischen Vereinbarung durch den Abschluss von Tarifverträgen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nach nationalem Tarifvertragsrecht; sog. Modell des mehrstufigen Kollektivvertrages.3 Zum anderen kann der Rat die Vereinbarung auf gemeinsamen Antrag der Vertragsparteien und auf Vorschlag der Kommission durch Beschluss durchführen. Damit ist kein Beschluss i.S.d. Art. 288 AEUV gemeint. Vielmehr ergeht der Ratsbeschluss in Form einer Richtlinie, die die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Vereinbarung verpflichtet.4 Die Rechtsnatur des sozialen Dialogs ist umstritten. An einem Ende des Meinungsspektrums wird die Ansicht vertreten, es handele sich um ein Verfahren hoheitlicher Rechtsetzung unter Mitwirkung der Sozialpartner.5 Das beruht vor allem auf der Annahme, autonome Vereinbarungen würden allenfalls schuldrechtlich zwischen den europäischen Vertragsparteien wirken.6 Am anderen Ende des Meinungsspektrums findet sich die Auffassung, dass es sich bei den Sozialpartnervereinbarungen i.S.d. Art. 28 Var. 1 GRC um europäische Tarifverträge handelt.7 Hierfür spricht, dass dem Grundrecht kein nationalrechtlicher, sondern ein europäischer Begriff des Tarifvertrages zugrunde liegt, der einen unmittelbaren Durchgriff auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse nicht voraussetzt. Es ist auch nicht erklärlich, warum Art. 155 AEUV den Sozialpartnern den Abschluss einer bloß schuldrechtlichen Abrede erlauben sollte. Diese Rechtsmacht stünde ihnen auch ohne die Norm zu. Die effektive Umsetzung einer autonomen Vereinbarungen muss vor allem im Fall des Art. 154 Abs. 4 AEUV gewährleistet sein, weil sie den Erlass eines unionalen Rechtsakts verhindert.8 Die Kommission ist jedenfalls nicht ohne weiteres berechtigt, eine Einigung der europäischen Sozialpartner mit einem eigenen Vorschlag zu konterkarieren.
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Eine autonome Vereinbarung löst aus diesen Gründen auf Seiten der nationalen Mitglieder der europäischen Vertragsparteien eine unionsrechtliche Durchführungspflicht
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1 Statt aller: Schwarze/Rebhahn, Art. 155 AEUV Rz. 10. 2 Vgl. KOM (2004), 557 endg., S. 11 f. 3 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 155 AEUV Rz. 4; Lenz/Borchardt/Coen, Art. 155 AEUV Rz. 3; Fuchs/Marhold/Fuchs, Europäisches Arbeitsrecht, S. 337 f.; Höland, ZIAS 1995, S. 425 (440 ff.); Konzen, EuZW 1995, 39 (47); Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rz. 392; Zachert, FS Schaub, S. 811 (827); a.A. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 436 ff. – Modell der parallelen Wirkungsstatute; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung Rz. 811 – sog. Statuskontraktmodell; Kempen, KritV 1994, 13 (51 ff.) – sog. IPR-Modell. 4 Streinz/Eichenhofer, Art. 155 AEUV Rz. 17. 5 Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rz. 395, die zu Unrecht von „staatlicher“ Rechtsetzung sprechen; Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 28 GRC Rz. 6; Thüsing/Braun/Reufels, Tarifrecht, Kap. 13 Rz. 80; Rieble/Kolbe, EuZA 2008, 453 (460). 6 EAS/R. Schwarze, B 8100 Rz. 52. 7 Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßahmen, S. 223 ff.; EAS/Sagan, B 8100 Rz. 110 (m.w.N.); tendenziell EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751 – Rz. 58 f.; BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 122/03 – NZA 2004, 545 (547); v. 19.1.2011 – 3 AZR 29/09 – NZA 2011, 860 – Rz. 47. Abl. zum Arbeitskampf im sozialen Dialog: EAS/Hergenröder, B 8400 Rz. 51 ff.; Steinz/Eichenhofer, Art. 155 AEUV Rz. 9; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßahmen, S. 316 ff.; a.A. EAS/R. Schwarze, B 8100 Rz. 39. 8 KOM (2004), 557 endg., S. 11 f.; a.A. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 155 AEUV Rz. 19, der in diesem Fall die Vertragsparteien – mit Wortlaut und Zweck des Art. 155 Abs. 2 AEUV unvereinbar – für verpflichtet hält, einen Antrag auf Durchführung ihrer Vereinbarung durch Ratsbeschluss zu stellen.
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§1
Rz. 74
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
nach Art. 155 Abs. 2 AEUV aus. Das entspricht der Praxis des sozialen Dialogs.1 Voraussetzung dieser Verpflichtung ist, dass die nationalen Mitglieder die europäischen Sozialpartner ihrerseits zum Abschluss von Vereinbarungen legitimiert haben. Ein Verstoß gegen die Durchführungspflicht kann zu einer unionsrechtlichen und verschuldensunabhängigen Schadensersatzpflicht der nationalen Verbände gegenüber ihren Mitgliedern führen, die infolge fehlerhafter oder verspäteter Umsetzung einen Schaden erleiden.2 Begrenzt wird die Umsetzungspflicht gem. Art. 155 Abs. 2 AEUV – in Übereinstimmung mit Art. 28 Var. 1 GRC – durch nationale Verfahren und Gepflogenheiten. Sie ist insbesondere ausgeschlossen, wenn der nationale Verband nicht tariffähig ist. Ferner wird der Umsetzungstarifvertrag häufig keine Geltung für Außenseiter beanspruchen können. Diese Schranken können die europäischen Sozialpartner nur überwinden, wenn der Rat die Durchführung ihrer Vereinbarung anordnet. Versteht man den sozialen Dialog als Ausprägung eines europäischen Kollektivvertragssystems, lässt sich der Ratsbeschluss bruchlos als „europäische Allgemeinverbindlicherklärung“ verstehen.3 74
Anfänglich tendierten die europäischen Sozialpartner dazu, ihre Vereinbarungen durch Ratsbeschluss durchführen zu lassen. Auf diese Weise sind – neben mehreren sektorspezifischen Vereinbarungen4 – durchgeführt worden: – die Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit mit der Richtlinie 97/81/EG,5 – die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge mit der Richtlinie 1999/70/EG6 sowie – die (überarbeitete) Rahmenvereinbarung über Elternurlaub mit der Richtlinie 2010/18/EU.7
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In der jüngeren Vergangenheit häufen sich autonome Vereinbarungen, zu denen u.a. gehören:8 – die Rahmenvereinbarung über Telearbeit vom 16.7.2002, – die Vereinbarung über eine europäische Fahrerlaubnis für Zugführer in grenzüberschreitenden interoperablen Verkehrsdiensten vom 27.1.2004, – die Rahmenvereinbarung über arbeitsbedingten Stress vom 8.10.2004, – die Rahmenvereinbarung zu Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz vom 27.4. 2007, – die Vereinbarung über die Umsetzung der beruflichen Befähigungsnachweise für Friseure vom 18.6.2009 und – die Vereinbarung zu Mindestanforderungen für Standardspielerverträge im Profifußball vom 19.4.2012. 1 S. etwa Nr. 8 der Vereinbarung über die beruflichen Befähigungsnachweise für Friseure v. 18.6. 2009 (Nachw. in der Fn. in Rz. 75); weitere Beispiele bei Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßahmen, S. 271 ff. 2 Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßahmen, S. 283 ff. unter Verweis auf EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und 9/90 – Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357. 3 Deinert, RdA 2004, 211 (220); EAS/Sagan, B 1100 Rz. 110; Wank, RdA 1995, 10 (20). 4 Zur Arbeitszeit von Seeleuten: Richtlinie 1999/63/EG (ABl. Nr. L 167 v. 2.7.1999, S. 33); zur Arbeitszeit des fliegenden Personals in der zivilen Luftfahrt: Richtlinie 2000/79/EG (ABl. Nr. L 302 v. 1.12.2000, S. 57); zu Einsatzbedingungen im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr: Richtlinie 2005/47/EG (ABl. Nr. L 195 v. 27.7.2005, S. 15). 5 ABl. Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 9; berichtigt: ABl. Nr. L 128 v. 30.4.1998, S. 71. 6 ABl. Nr. L 175 v. 10.7.1999, S. 43. 7 ABl. Nr. L 68, 18.3.2010, S. 13. 8 Die Vereinbarungen sind in einer Datenbank auf der Internetpräsenz der Kommission abrufbar (http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId= 521&langId=de).
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Nachweisrichtlinie 91/533/EWG Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG
Rechtsangleichung im Binnenmarkt
Verschmelzungsrichtlinie 2005/56/EG
Niederlassungsfreiheit
Entsenderichtlinie 96/71/EG
Dienstleistungsfreiheit
Freizügigkeitsverordnung (EU) Nr. 492/2011 Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG Berufsqualifikationenrichtlinie 2005/36/EG
Arbeitnehmerfreizügigkeit
BINNENMARKT
Rahmenvereinbarung zu Telearbeit Rahmenvereinbarung zu arbeitsbedingtem Stress Rahmenvereinbarung zu Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz
Autonome Sozialpartnervereinbarungen
Vereinbarung über Teilzeitarbeit (Richtlinie 97/81/EG) Vereinbarung über befristete Arbeitsverträge (Richtlinie 1999/70/EG) Rahmenvereinbarung über Elternurlaub (RL 2010/18/EU)
Per Ratsbeschluss durchgeführte Sozialpartnervereinbarungen
Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 89/391/EWG (und besondere Arbeitsschutzrichtlinien) Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie 2002/14/EG Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG Insolvenzrichtlinie 2008/94/EG Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG Europäische-Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
Unionale Sozialpolitik
SOZIALPOLITIK
Sonstiges
Rom I-Verordnung (EG) Nr. 593/2008 Rom II-Verordnung (EG) Nr. 864/2007 EuGVO (EG) Nr. 44/2001
INTERNATIONALES ARBEITSRECHT
SE-Richtlinie 2001/86/EG SCE-Richtlinie 2003/72/EG
KOMPETENZABRUNDUNG
Geschlechterrichtlinie 2006/54/EG Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG
GLEICHBEHANDLUNG
Sekundäres EU-Arbeitsrecht nach Kompetenzgrundlagen
Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht Rz. 75 § 1
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§1
Rz. 76
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
IV. Auslegung des Unionsrechts 1. Grundsatz der autonomen Auslegung 76
Das Unionsrecht ist eine sowohl vom Völkerrecht als auch vom Recht der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung (vgl. Rz. 18 ff.). Deswegen ist es notwendig, das Unionsrecht prinzipiell autonom und einheitlich auszulegen und anzuwenden.1 Es ist im Grundsatz unabhängig vom mitgliedstaatlichen Recht zu verstehen und hat in allen Mitgliedstaaten denselben Inhalt. Das folgt auch aus der Vorlageverpflichtung der mitgliedstaatlichem Höchstgerichte nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die sich sinnvoll nur dann erklären lässt, wenn das europäische Recht unionsweit einheitlich auszulegen ist.2
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Im Unionsrecht verwendete Begriffe können grundsätzlich nicht unter Rückgriff auf mitgliedstaatliche Begriffsverständnisse interpretiert werden. Beispielsweise verbietet die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Diskriminierung von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten wegen ihrer Staatsangehörigkeit (vgl. Rz. 48). Es liefe dem Zweck dieses Verbots zuwider, wenn die Mitgliedstaaten selbst entscheiden könnten, wen sie als Arbeitnehmer ansehen und wer infolgedessen in den Genuss des Diskriminierungsschutzes kommt. Der Arbeitnehmerbegriff des Art. 45 AEUV ist deswegen autonom auszulegen.3 Der Rechtsanwender steht daher vor der durchaus anspruchsvollen Aufgabe, bei der Auslegung des europäischen Rechts, seine vom nationalen Recht geprägten Begriffverständnisse auszublenden. Sie sind für die Interpretation europäischen Rechts ohne Bedeutung. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn das Unionsrecht auf das nationale Recht verweist.4 Ob eine solche Verweisung auf einzelstaatliches Recht vorliegt, ist eine durch Auslegung des Unionsrechts zu beantwortende Frage (vgl. Rz. 108). 2. Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts
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Zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sind im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten alle mitgliedstaatlichen Gerichte berufen.5 Hiervon geht Art. 267 AEUV aus, der voraussetzt, dass die einzelstaatlichen Gerichte Fragen zur Auslegung des Unionsrechts selbst zu beantworten haben. Daher ist es missverständlich, von einem Monopol des EuGH für die Auslegung des Unionsrechts zu sprechen.6 Allerdings können die mitgliedstaatlichen Gerichte nach Art. 267 AEUV verfahrensrechtlich verpflichtet sein, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen (vgl. § 13 Rz. 39 ff.). Ferner sind sie zwar berechtigt, in eigener Verantwortung die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Rechtswidrigkeit von Unionsrecht festzustellen.7 Insoweit besteht ein Verwerfungsmonopol des EuGH. Die konkrete Anwendung des Unionsrechts auf den jeweiligen Einzelfall ist hingegen sogar vornehmlich Aufgabe der nationalen Gerichte, 1 St. Rspr., EuGH v. 18.1.1984 – 327/82 – Ekro, Slg. 1984, 107 – Rz. 11; v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 40; v. 21.2.2008 – Rs. C-426/08 – Tele2 Telecommunication, Slg. 2008, I-685 – Rz. 26; v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 – Meerts, Slg. 2009, I-10063 – Rz. 41; weitere Nachweise bei Schwarze/J. Schwarze, Art. 19 EUV Rz. 44. 2 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 7. 3 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie Blum, Slg. 1986, 2121 – Rz. 16. 4 EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 – Meerts, Slg. 2009, I-10063 – Rz. 41. 5 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 7; ferner Streinz/Huber, Art. 19 EUV Rz. 41; Riesenhuber/Pechstein/Drechsler, Europäische Methodenlehre, § 8 Rz. 16; Schwarze/ J. Schwarze, Art. 19 EUV Rz. 39. 6 So etwa: Riesenhuber/Schmidt-Räntsch, Europäische Methodenlehre, § 23 Rz. 11; wie hier: Schroeder, JuS 2004, 180 (181). 7 EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 – Rz. 14 ff.
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Auslegung des Unionsrechts
Rz. 80 § 1
die insoweit als Richter der Union, mit anderen Worten als „ordentliche Unionsgerichte“ tätig werden.1 Art. 19 Abs. 1 EUV schreibt dem Gerichtshof der Europäischen Union, der den EuGH, das Gericht2 und etwaige Fachgerichte3 umfasst, die Aufgabe zu, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu sichern.4 Gleichwohl hat der EuGH hervorgehoben, dass im Vorabentscheidungsverfahren eine Aufgabenteilung zwischen der europäischen und der einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit besteht und die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts beiden als gemeinsame Aufgabe übertragen ist.5 Anders als den mitgliedstaatlichen Gerichten steht dem EuGH die Zuständigkeit für die autoritative Auslegung des Unionsrechts zu.6 An diese Auslegung sind die mitgliedstaatlichen Gerichte gebunden und dürfen ihren Entscheidungen keine abweichende Auslegung des Unionsrechts zugrunde legen.7 Umgekehrt steht dem EuGH keine Zuständigkeit für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zu,8 so dass er insoweit an die – etwa in einem Vorlagebeschluss enthaltene – Interpretation der mitgliedstaatlichen Gerichte gebunden ist.9 Aus diesem Grund stellt der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nicht fest, dass eine bestimmte Norm des einzelstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht unvereinbar wäre. Vielmehr formuliert er beispielsweise, dass eine bestimmte Norm des europäischen Rechts dahin auszulegen ist, dass sie „einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht“.10 Die Kompetenzverteilung nach Art. 19 EUV zwingt zu diesem sprachlichen Kunstgriff, der jegliche Aussage zur Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts vermeidet.11
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Eine „zwielichtige“ Rolle kommt den Schlussanträgen der Generalanwälte zu. Bei formaler Betrachtung sind sie lediglich unverbindliche Rechtsgutachten, die den EuGH bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen.12 Gleichwohl können sie für das Verständnis der europäischen Rechtsprechung von erheblicher Bedeutung sein.13 Das gilt sowohl für den Fall, dass sich der EuGH der Argumentation des Generalanwalts – ausdrücklich oder konkludent – anschließt, als auch für den Fall, dass er
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1 EuGH (Plenum) v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09 – „Patentgerichtssystem“, Slg. 2011, I-1137 – Rz. 80; ferner von Danwitz, ZESAR 2008, 57 (58); Hirsch, ZRP 2012, 205 (208 f.); Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule – I-1 (I-13); Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889; s. auch BVerfG 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (316). 2 Dem Gericht können gem. Art. 256 Abs. 3 AEUV Zuständigkeiten für Vorabentscheidungen zugewiesen werden, wovon bislang kein Gebrauch gemacht wurde. 3 Bislang wurde gem. Art. 257 AEUV allein das „Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“ eingerichtet; s. Hakenberg, EuZW 2006, 391. 4 Zur Arbeitsweise des EuGH: von Danwitz, EuR 2008, 769; Everling, EuR 1994, 127. 5 EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 – Foglia, Slg. 1981, 3045 – Rz. 14 ff. 6 Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule – I-1 (I-14); Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889 (1890 f.). 7 Vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (304); BAG v. 26.4.2006 – 7 AZR 500/04 – NZA 2006, 1162 – Rz. 19. 8 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677 – Rz. 43; v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional u.a., Slg. 2009, I-7633 – Rz. 37; Schlachter, ZfA 2007, 249 (250). 9 Schwarze/J. Schwarze, Art. 19 EUV Rz. 44. 10 So der Tenor in: EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365. 11 Anders: EuGH v. 10.3.2011 – Rs. C-109/09 – Deutsche Lufthansa, Slg. 2011, I-1309; krit. Sagan, ZESAR 2011, 412 (416); Willemsen, RdA 2012, 291 (296 f.). 12 Vgl. EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-229/09 – Hogan Lovells International – Slg. 2010, I-11335 – Rz. 26; BVerfG 28.10.2009 – 2 BvR 2236/09 – BVerfGK 16, 328 (337); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 252 AEUV Rz. 13. 13 Vgl. Riesenhuber/Rebhahn, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 11.
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§1
Rz. 81
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
den Schlussanträgen nicht folgt, weil hieraus ersichtlich wird, dass die vorgebrachten Argumente ihn nicht überzeugt haben. 3. Die Methoden zur Auslegung des Unionsrechts 81
Die Auslegung des Völkerrechts beruht neben der Gleichheit der vertragsschließenden Staaten vor allem auch auf dem Grundsatz staatlicher Souveränität. So unterliegen etwa völkerrechtliche Regelungen, die die Souveränität der Vertragsstaaten einschränken, dem Gebot restriktiver Interpretation. Das Unionsrecht ist jedoch seinem Zweck nach vor allem auch auf eine Einschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten gerichtet, weswegen für dessen Interpretation der Rückgriff auf völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze ausscheidet. Auch findet die Wiener Konvention zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge1 keine Anwendung.2
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Der gewaltenteilige Rechtsstaat mit prinzipiell ganzheitlicher und kodifizierter Rechtsordnung geht notwendigerweise von der Gesetzesbindung des Richters aus. Die Regeln zur Auslegung von Gesetzen bilden in diesem Kontext die Demarkationslinie zwischen rechtsetzender und rechtsprechender Gewalt, die bis hin zu einer verfassungsrechtlichen Bindung der Gerichte an die „anerkannten Methoden der Rechtsfindung“ reichen kann.3 Im Gegenzug müssen die Auslegungsregeln dem Postulat der richterlichen Gesetzesbindung gerecht werden. Dies lässt sich nicht ohne weiteres auf die Europäische Union übertragen.4 Das Unionsrecht ist keine ganzheitliche, sondern eine fragmentarische und chronisch unfertige Teilrechtsordnung. Anders als der in sich ruhende Verfassungsstaat ist es auf einen dynamischen, gar perpetuellen Integrationsprozess ausgerichtet, in dem idealiter jeder Integrationsschritt den nächsten erforderlich macht.5 Dabei ist das Recht das hauptsächliche Mittel, mit dem die Integration zu bewirken ist. Das findet seinen sichtbaren Ausdruck darin, dass der europäische Integrationsverband eine „Schöpfung des Rechts“ ist und sich zuvörderst als Rechtsgemeinschaft versteht.6 Ferner zielt Art. 1 EUV auf die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ ab und dies ist das „Fundamentalziel“7 der Union, dem sämtliche Unionsorgane verpflichtet sind und das über das geltende Unionsrecht hinausweist.8 All dies ist bei der Auslegung des Unionsrechts zu berücksichtigen.9 Auch sollte nicht übersehen werden, dass das Unionsrecht zwar den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts kennt, der dem Gewaltenteilungsprinzip ähnlich ist.10 Doch vereinigt der EuGH sowohl fach- als auch verfassungsgerichtliche Funktionen auf sich, so dass er selbst über die Abgrenzung seiner Kom1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23.5.1969 (BGBl. II 1985, 927). 2 Zum Ganzen Haltern, Europarecht, Rz. 635; teilw. abw. Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1181); Besonderheiten gelten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. 3 Vgl. BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210). 4 Abw. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (6 ff.). 5 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 22 ff.; näher zu den funktionalistischen Integrationstheorien: Calliess/Ruffert/Calliess, Art. 1 EUV Rz. 21 f. (m.w.N.). 6 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 53 ff.; vgl. EuGH v. 23.4.1986 – Rs. C-294/83 – Les Verts, Slg. 1986, 1339 – Rz. 23. 7 Streinz/Pechstein, Art. 1 EUV Rz. 19. 8 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 1 EUV Rz. 14. 9 Everling, JZ 2000, 217 (223); Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule – I-1 (I-41); Potacs, EuR 2009, 465 (474); Schroeder, JuS 2004, 180 (185 f.); abl. noch BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134 und 2159/92, BVerfGE 89, 155 (209); zust. jetzt BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (307). 10 Vgl. EuGH v. 30.3.1995 – Rs. C-65/93 – Parlament/Rat, Slg. 1995, I-643 – Rz. 21; Oppermann/ Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 5 Rz. 15 und 20.
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Auslegung des Unionsrechts
Rz. 85 § 1
petenz für die Rechtsprechung einerseits und der Rechtsetzungskompetenz des europäischen Gesetzgebers andererseits zu entscheiden hat.1 Die Auslegung des Unionsrechts bedarf vor diesem Hintergrund einer eigenständigen Methodik, die sich zwar an den tradierten Auslegungskriterien orientieren kann, aber in erster Linie der Teleologie der europäischen Integration, der Struktur der europäischen Rechtsordnung und den in den Verträgen kodifizierten Unionszielen entsprechen muss.2 Der EuGH greift vor allem auf systematische und teleologische Argumente zurück, um insbesondere die im „großen Plan“3 des europäischen Rechts bestehenden Lücken füllen zu können. Angesichts der – zum Teil berechtigten, zum Teil überzogenen – Kritik an der integrationsfreundlichen Rechtsprechung des EuGH,4 sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass die Präferenz zugunsten der Integration gleichsam auf dem „genetischen Code“ des europäischen Rechts und des EuGH beruht, für den sich die Gründungsstaaten der EWG mit dem Ziel des immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker bewusst entschieden haben.5
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Bei der Auslegung des Unionsrechts ist verschiedentlich zwischen primärem und sekundärem Unionsrecht sowie zwischen unmittelbar anwendbarem Unionsrecht einerseits und grundsätzlich nur mittelbar wirkenden Richtlinien anderseits zu differenzieren. Eine besondere Methode für die Auslegung des europäischen Arbeitsrechts besteht jedoch nicht.6
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a) Wortlaut Die Auslegung des europäischen Rechts nach dessen Wortlaut stellt den Rechtsanwender vor das Problem, dass es gem. Art. 55 Abs. 1 EUV mittlerweile in bis zu 24 verschiedenen Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sein kann. Die grammatikalische Auslegung erfordert daher prinzipiell einen Vergleich aller Sprachfassungen.7 Dieser kann bereits mit erheblichem Gewicht für eine bestimmte Auslegung sprechen. So genügte dem EuGH in der Rs. Junk im Kern eine Auslegung der verschiedenen Wortlaute der Massenentlassungsrichtlinie, um geradezu unabweisbar darzulegen, dass sich der dort verwendete Begriff der „Entlassung“ nicht auf die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist, sondern auf den arbeitgeberseitigen Ausspruch der Kündigung bezieht.8 Allerdings darf sich die Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften in keinem Fall mit dem Postulat
1 Vgl. EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529 – Rz. 23; Calliess, NJW 2005, 929. 2 Vgl. Colneric, ZEuP 2005, 225; Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rz. 168; Riesenhuber/Pechstein/Drechsler, Europäisches Arbeitsrecht, § 8 Rz. 13; Streinz, Europarecht, Rz. 614; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 9 Rz. 183; monographisch: Buck, Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 143 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 192 ff. 3 Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule – I-1 (I-38). 4 Vgl. Bauer/Arnold, NJW 2006, 6 („Tugendterror“); Hailbronner, NJW 2004, 2185 („fehlende Rationalität“); Jahn, NJW 2008, 1788 („Methodenwillkür“); Preis, NZA 2006, 406 („Superrevisionsinstanz“). 5 Mancini/Keeling, Modern Law Review 1996, 175 (186); ähnl. Arnull, The EU and its Court of Justice, S. 612. 6 Riesenhuber/Rebhahn, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 6 f. 7 Vgl. EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, 469 – Rz. 11. 8 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885 – Rz. 31 ff.; krit. Wank, FS Birk, S. 929 (930 f.).
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eines eindeutigen Wortlauts begnügen, sondern hat stets auch die Systematik und den Zweck der auszulegenden Vorschrift in den Blick zu nehmen.1 86
Schwieriger liegen die Dinge, wenn die unterschiedlichen Sprachfassungen voneinander abweichen, wie das Beispiel des Art. 2 ArbZ-RL zeigt. Während der dort definierte Begriff der Arbeitszeit in der deutschen, englischen und niederländischen Fassung voraussetzt, dass der Arbeitnehmer „arbeitet“, ist es nach der spanischen, französischen und italienischen Version ausreichend, dass er „bei der Arbeit ist“ oder sich dort aufhält.2 In der Rs. Rockfon stellte der EuGH zur ursprünglichen Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG fest, dass der in ihrer deutschen Fassung verwendete Begriff des „Betriebs“ in den anderen Sprachfassungen auch Niederlassung, Unternehmen, Arbeitsmittelpunkt, räumliche Einheit oder Arbeitsort bedeuten könne.3 In solchen Fällen setzt sich nicht die mehrheitlich verbreitete Fassung durch. Vielmehr ist eine Auslegung nach Maßgabe der Systematik und dem Zweck der Norm entscheidend.4
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Insgesamt hat die grammatikalische Auslegung im Unionsrecht eine weitaus geringere Bedeutung als im nationalen Recht.5 Überspitzt hat Generalanwalt Lagrange in den Anfangsjahren der EWG formuliert: „Bekanntlich sind alle vier Sprachen maßgebend, was letzten Endes bedeutet, dass keine maßgebend ist.“6 b) Systematik
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Jede Vorschrift des europäischen Rechts ist „in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Unionsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift“ auszulegen.7 Die damit angesprochene Auslegung nach der Gesetzessystematik, die sich in einem Teilbereich mit einer teleologischen Auslegung überschneidet,8 beruht im Ausgangspunkt auf dem Gedanken, dass jede Norm Bestandteil einer strukturierten Rechtsordnung ist und ihre Stellung innerhalb dieser über ihren Inhalt Aufschluss gibt. Wenngleich das Unionsrecht im Allgemeinen und das europäische Arbeitsrecht im Besonderen keine ganzheitliche Rechtsordnung, sondern nur eine fragmentarische Teilrechtsordnung darstellt, ist es dennoch einer systematischen Auslegung zugänglich. Denn die Vielzahl der europäischen Regelungen „steht nicht beziehungslos nebeneinander, sondern ist vom Gesetzgeber als ein zusammenhängendes, nach Prinzipien geordnetes widerspruchsfreies Ganzes gewollt“.9 Daher kann für die Auslegung des euro-
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EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 20. Vgl. GA Ruiz-Jarabo Colomer 8.4.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2004, I-8393 – Rz. 31. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 – Rockfon, Slg. 1995, I-4291 – Rz. 27. EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-75/92 – Kraaijeveld, Slg. 1996, I-5403 – Rz. 28; v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 – The Institute of the Motor Industry, Slg. 1998, I-7053 – Rz. 16. Statt aller: Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 19 EUV Rz. 12; vgl. EuGH v. 16.12.1960 – Rs. 6/60 – Humblet – Slg. 1960, 1165 (1194); abw. Dederichs, EuR 2004, 345 (349); diff. Dauses/Bleckmann/Pieper, B.I. Rz. 5 ff. GA Lagrange v. 27.1962 – Rs. 13/61 – de Geus en Uitdenbogerd, Slg. 1962, 119 (149). EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 20; ferner EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-306/07 – Andersen, Slg. 2008, I-10279 – Rz. 40; 3.4.2008 – Rs. C-442/05 – Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien, Slg. 2008, I-1817 – Rz. 30. Vgl. Colneric, ZEuP 2005, 225 (227). Riesenhuber/Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 11 Rz. 25.
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päischen Rechts der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung fruchtbar gemacht werden.1 aa) Systematik des Rechtsaktes. Hinweise für die Auslegung einer Norm des europäischen Arbeitsrechts lassen sich aus dem Zusammenhang zu anderen Vorschriften gleichen Ranges, insbesondere desselben Rechtsaktes gewinnen.
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Auf der Ebene des Primärrechts hat der EuGH die Anwendung des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV auf Tarifverträge insbesondere wegen der sozialpolitischen Ziele der Union, wie etwa der Förderung des sozialen Dialogs nach Art. 152 AEUV, prinzipiell abgelehnt.2 Ferner weist er zum Urlaubanspruch aus Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL darauf hin, dass die Mitgliedstaaten von dieser Vorschrift im Gegensatz zu den anderen Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie keine Ausnahmen vorsehen dürfen. Aus der singulären Stellung der Norm innerhalb der Richtlinie leitet er ihren besonderen Charakter mit der Folge ab, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, auf die Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL Bezug nimmt, nicht zum Erlass von Vorschriften berechtigen, die die Entstehung oder den Umfang des Urlaubsanspruchs beeinträchtigen.3
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bb) Vorgaben des Primärrechts. Aufgrund des Stufenbaus der unionalen Rechtsordnung orientiert sich die Auslegung des Sekundärrechts in verschiedener Weise am höherrangigen Primärrecht. Hierzu gehört ganz allgemein die primärrechtskonforme Auslegung, nach der sekundäres Unionsrecht so auszulegen ist, dass es nicht gegen Primärrecht verstößt.4 Arbeitsrechtliche Richtlinien sind insbesondere im Einklang mit den Unionsgrundrechten, vor allem den sozialen Grundrechten der Art. 27 ff. GRC, zu interpretieren.5 So hat der EuGH beispielsweise in der Rs. Werhof entschieden, dass die Betriebsübergangsrichtlinie im Lichte der negativen Koalitionsfreiheit auszulegen ist und nicht verlange, dass eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel nach einem Betriebsübergang dynamisch fortgelte (vgl. § 11 Rz. 131).6
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Einen Sonderfall der primärrechtskonformen Interpretation stellt die kompetenzkonforme Auslegung dar.7 Danach ist ein Sekundärrechtsakt so auszulegen, dass die Voraussetzungen erfüllt werden, die das Primärrecht an seinen Erlass stellt. Ein Beispiel hierfür ist die Betriebsübergangsrichtlinie, die einerseits dem Schutz der Arbeitnehmer und andererseits mit Rücksicht auf ihre Rechtsgrundlage im heutigen Art. 115 AEUV der Verwirklichung des Binnenmarktes dient.8 Ferner verbietet Art. 19 Abs. 1 AEUV nicht Diskriminierungen wegen einer Krankheit und die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG kann daher nicht auf solche ausgedehnt werden.9
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Eine Auslegung des Sekundärrechts im Lichte des Primärrechts ist auch dann geboten, wenn es mehrere Auslegungsmöglichkeiten gibt, die mit dem Primärrecht ver-
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1 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 32; abl. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (12). 2 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751 – Rz. 54 ff. 3 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 – Rz. 41 ff. 4 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 – Borgmann, Slg. 2004, I-3219 – Rz. 30; näher Riesenhuber/Leible/Domröse, Europäische Methodenlehre, § 9 Rz. 1 ff. 5 Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258 (260 f.). 6 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 32 ff. 7 Riesenhuber/Krebber, Europäische Methodenlehre, § 18 Rz. 24; Langenbucher/Langenbucher, § 1 Rz. 17. 8 EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres, Slg. 2005, I-11237 – Rz. 40; vgl. GA Maduro v. 16.6.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres, Slg. 2005, I-11237 – Rz. 30; allg. EAS/Sagan, B 1100 Rz. 54. 9 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 55 f.
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einbar sind. In diesem Fall sollte man von einer primärrechtsorientierten Auslegung sprechen. So hat der EuGH zu der heute in Art. 151 AEUV befindlichen Vorschrift entschieden, dass sie trotz ihres programmatischen Charakters wichtige Anhaltspunkte für die Auslegung von Rechtsakten der Union auf dem Gebiet der Sozialpolitik liefere.1 Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass für die Auslegung des europäischen Arbeitsrechts die Unionsziele nach Art. 3 EUV, die Querschnittsklauseln der Art. 8, 9 und 10 AEUV sowie bei auf Art. 153 AEUV gestützten Richtlinien die sozialen Ziele der Union nach Art. 151 AEUV zu berücksichtigen sind. 94
cc) Enge Auslegung von Ausnahmevorschriften? In Anlehnung an die Auslegungsmaxime singularia non sunt extendenda2 vertritt der EuGH die Ansicht, dass Ausnahmebestimmungen im Unionsrecht eng auszulegen sind.3 Die Problematik dieser Rechtsprechung liegt darin, dass der Ausnahmecharakter einer Bestimmung nicht nur aus materiellen, sondern zum Teil aus bloß formellen Gesichtspunkten wie etwa ihrer Formulierung abgeleitet wird.4 Deswegen treibt die Rechtsprechung zuweilen eigenartige Blüten, etwa wenn der EuGH behauptet, die Tatbestandsmerkmale eines Betriebsübergangs nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. b BÜ-RL müssten eng ausgelegt werden, um den Anwendungsbereich der Richtlinie nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL nicht einzuschränken.5 Hier konstruiert der EuGH den Ausnahmecharakter der Norm, die den tatbestandlichen Anwendungsbereich der Richtlinie definiert.
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Noch bedenklicher ist die Annahme, Art. 153 Abs. 5 AEUV sei wegen seines angeblichen Ausnahmecharakters eng auszulegen.6 Damit wird eine Normenhierarchie zwischen den verschiedenen Absätzen des Art. 153 AEUV unterstellt, obwohl die Mitgliedstaaten über den Kompetenzkatalog des Art. 153 Abs. 1 AEUV ohne die Ausschlussklausel des Art. 153 Abs. 5 AEUV sicherlich keine Einigkeit erzielt hätten. Auch in der Sache handelt es sich bei Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht um eine Ausnahme, da die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung die Regel, die Zuständigkeit der Union hingegen die begründungsbedürftige Ausnahme ist.7 Nach vorzugswürdigem Verständnis unterliegen Ausnahmevorschriften den gewöhnlichen Auslegungsmethoden, weswegen eine restriktive Auslegung nicht auf ihren formalen Ausnahmecharakter, sondern auf materielltelelogische Erwägungen zu stützen ist.8 c) Historische Auslegung
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Für das Primärrecht kommt eine Auslegung nach dem Willen des historischen Gesetzgebers nicht in Betracht, da die entsprechenden Materialien und Verhandlungs1 EuGH v. 17.3.1993 – verb. Rs. C-72/91 und C-73/91 – Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887 – Rz. 26. 2 Zum Völkerrecht: BVerwG 21.6.2005 – 2 WD 12/04, NJW 2006, 77 (98). 3 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, 2007, I-7109 – Rz. 39 (Art. 153 Abs. 5 AEUV); v. 18.11.2010 – Rs. C-356/09 – Kleist, Slg. 2010, I-11939 – Rz. 39 (Geschlechtsdiskriminierung); v. 7.4.2011 – Rs. C-519/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 19 (Arbeitsschutzrahmenund Arbeitszeitrichtlinie); v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, NZA 2011, 1039 – Rz. 56 (Art. 2 Abs. 5 RL 2000/78/EG); v. 17.11.2011 – Rs. C-435/10 – van Ardennen, NZA 2012, 27 – Rz. 34 (Insolvenzrichtlinie). 4 Ähnl. die Kritik von Schilling, EuR 1996, 44 (51 ff.). 5 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 – Klarenberg, Slg. 2009, I-803 – Rz. 41; abl. Willemsen/Sagan, ZIP 2010, 1205 (1207). 6 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, 2007, I-7109 – Rz. 39. 7 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 8. 8 Riesenhuber/Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 11 Rz. 62; ähnl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449f. und 456.
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niederschriften kaum zugänglich sind. Beim Abschluss des EWG-Vertrages entschied man sich bewusst dagegen, die Materialien zu veröffentlichen.1 Daher fragt der EuGH bei der Auslegung der Verträge zu Recht nicht nach ihrer Entstehungsgeschichte.2 Es bleibt abzuwarten, ob er künftig auf die – im Internet leicht verfügbaren – Materialien zu den jüngeren Vertragsrevisionen zurückgreifen wird.3 Auf der Ebene des Sekundärrechts ergeben sich subjektiv-historische Argumente aus den Erwägungsgründen zu einer Richtlinie, die ihrem „verfügenden Teil“ – in Erfüllung der Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV – vorangestellt werden. Sie finden im nationalen Recht keine Entsprechung, sind aber integraler Bestandteil der Richtlinien und als solcher bei deren Auslegung zu berücksichtigen.4 Problematisch sind Diskrepanzen zwischen den Vorschriften einer Richtlinie und ihren Erwägungsgründen. Ein Beispiel hierfür ist der dritte Satz des 18. Erwägungsgrundes zur SERichtlinie 2001/86/EG, der auf „strukturelle Veränderungen einer bereits gegründeten SE“ eingeht, in den Vorschriften der Richtlinie aber keine Entsprechung findet. Derartige Divergenzen können darauf beruhen, dass man sich nicht einigen konnte, die betreffende Aussage als „harte“ Norm in die Richtlinie aufzunehmen und man sie deswegen in die „weichen“ Erwägungsgründe verschoben hat. Das mag im Einzelfall notwendig sein, um einen politischen Konsens zu erzielen,5 ändert jedoch nichts an der Unverbindlichkeit der Erwägungsgründe. Deswegen ist im Fall von Widersprüchen ausnahmslos den verbindlichen Normen der Richtlinie der Vorzug zu geben.6 Allerdings kann ein Erwägungsgrund ein zusätzliches Argument dafür sein, den überschießenden Wortlaut einer Richtliniennorm einschränkend auszulegen.7
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Außerhalb der Erwägungsgründe ist eine Erforschung der gesetzgeberischen Intention regelmäßig aus praktischen Gründen ausgeschlossen, denn häufig sind nur die Materialien der Kommission und des Parlaments, nicht aber die des Rates zugänglich.8 Maßgeblich könnte jedoch nur ein einheitlicher Wille aller an der Rechtsetzung beteiligten Organe sein.9 Zudem beruhen die Entscheidungen des Rates oftmals auf einem politischen Ausgleich unterschiedlicher, wenn nicht sogar gegensätzlicher Interessen. Ein Bündel disparater Partikularinteressen lässt sich für die Auslegung des autonomen Unionsrechts kaum sinnvoll nutzbar machen. Die starre Orientierung auf den ursprünglichen Willen des Gesetzgebers passt auch nicht zum dynamischen Prozess der europäischen Integration.10 Deswegen berücksichtigt der EuGH den Willen
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1 Buck, Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 146; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 9 Rz. 193. 2 Lenz/Borchardt, Art. 19 EUV Rz. 20f.; Riesenhuber/Pechstein/Drechsler, Europäische Methodenlehre, § 8 Rz. 32; Schwarze/J. Schwarze, Art. 19 EUV Rz. 37; Streinz, ZEuS 2004, 387 (401 f.); abl. Leisner, EuR 2007, 689. 3 Arnull, The EU and its Court of Justice, S. 615. 4 EuGH v. 15.5.1997 – Rs. C-355/95 P – TWD, Slg. 1997, I-2449 – Rz. 20; Lenz/Borchardt/Borchardt, Art. 19 EUV Rz. 22; zum Ganzen: Riesenhuber/Köndgen, Europäische Methodenlehre, § 7 Rz. 39 ff. 5 Vgl. Hilf, EuR 1993, 1 (8). 6 Vgl. GA Stix-Hackl v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 – Paul u.a., Slg. 2004, I-9425 – Rz. 132; Schlachter, ZfA 2007, 249 (252). 7 Weitergehend Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (15). 8 Vgl. zu den Schwierigkeiten beim Zugang zu Ratsdokumenten: EuG v. 22.3.2011 – Rs. T-233/09 – Access Info Europe, Slg. 2011, II-1073 sowie nachgehend EuGH v. 17.10.2013 – Rs. C-280/11 P – Access Info Europe, ECLI:EU:C:2013:671; s. aber auch Riesenhuber/Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 11 Rz. 34 f. 9 Leisner, EuR 2007, 689 (702); so auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (14). 10 Vgl. Riesenhuber/Baldus, Europäische Methodenlehre, § 3 Rz. 209 f.; Oppermann/Classen/ Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rz. 174 f.; Vedder/Heintschel von Heinegg/Pache,
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
des historischen Gesetzgebers prinzipiell nur dann, wenn sich dieser im Wortlaut der Norm niedergeschlagen hat.1 Verschiedentlich greift er allerdings auf Änderungen zurück, die im Rechtsetzungsverfahren am ursprünglichen Entwurf vorgenommen wurden.2 99
Für die Auslegung des geschriebenen Unionsrechts ist der Rechtsvergleich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nahezu bedeutungslos, und zwar selbst dann, wenn das auszulegende Unionsrecht dem Recht eines Mitgliedstaates nachgebildet wurde.3 Ein solcher Vergleich widerspräche dem Grundsatz der Autonomie des Unionsrechts und wird vom EuGH praktisch nicht verwendet. Gänzlich anders ist dies im Hinblick auf die Anerkennung der ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, die der EuGH – im Wege der Rechtsfortbildung – auf der Unionsebene anhand eines wertenden Rechtsvergleichs der nationalen Rechtsordnungen rezipiert (vgl. Rz. 24). d) Normzweck
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Teleologischen Argumenten kommt bei der Auslegung des europäischen Rechts überragende Bedeutung zu. Es ist insbesondere so zu interpretieren, dass seine Funktionsfähigkeit und die Verwirklichung der unionalen Regelungsziele gewährleistet ist.4 Die Auslegungsmaxime der praktischen Wirksamkeit („règle de l’effet utile“) ist einerseits wegen ihrer Ausrichtung auf die objektiven Unionsinteressen diejenige Auslegungsart, die der Dynamik des europäischen Integrationsprozesses am besten gerecht wird. Anderseits dürfte sie wegen ihrer extensiven Handhabung durch den EuGH und ihrer völkerrechtlichen Provenienz5 zugleich der wesentlichste Anlass für Irritationen und Kritik beim deutschen Publikum sein.6 Sie darf jedoch nicht dahin missverstanden werden, dass sie die „größtmögliche Ausschöpfung“ der Unionsbefugnisse zum Ziel hätte.7 Vielmehr geht es darum, dass unionsrechtliche Normen zum einen nicht jeglichen Sinnes entleert werden8 und zum anderen das mit ihnen verfolgte Regelungsziel bestmöglich verwirklichen.9 Zwischen diesen beiden Polen gibt es Abstufungen, die insbesondere vom Gewicht des jeweiligen Unionsziels abhängen.
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Im Arbeitsrecht finden sich unterschiedlich zu bewertende Anwendungen der teleologischen Auslegung nach der praktischen Wirksamkeit. Überzeugend hat der EuGH etwa in der Rs. Adeneler ausgeführt, dass eine nationale Regel, nach der zwei befris-
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Art. 19 EUV Rz. 19; Schroeder, JuS 2004, 180 (183); Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 19 EUV Rz. 13; vgl. Dauses/Bleckmann/Pieper, B.I Rz. 41. EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 – Antonissen, Slg. 1991, I-745 – Rz. 18; v. 13.2.1996 – verb. Rs. C-197/94 und C-252/94 – Bautiaa und Société française maritime, Slg. 1996, I-505 – Rz. 51. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 – Rockfon, Slg. 1995, I-4291 – Rz. 33. Riesenhuber/Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 11 Rz. 38; vgl. Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 19 EUV Rz. 13. EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/47 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337 – Rz. 12; v. 6.10.1981 – Rs. 246/80 – Broekmeulen, Slg. 1981, 2311 – Rz. 16; v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen u.a., Slg. 1991, I-415 – Rz. 31. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, S. 461 f. m.N. auch zu den römischrechtlichen Wurzeln in dem von Julian formulierten Grundsatz ut res magis valeat quam pereat. So Potacs, EuR 2009, 465 (m.w.N.); teilw. krit. Streinz, FS Everling, S. 1507 und Streinz, ZEuS 2004, 387. Unrichtig: BVerfG v. 2.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155 (210); korrigiert in: BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – BVerfGE 123, 267 (351 f.). Vgl. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 – Viking, Slg. 2007, I-10779 – Rz. 69. Hierzu: von Danwitz, ZESAR 2008, 57 (60).
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Auslegung des Unionsrechts
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Rz. 103
tete Arbeitsverhältnisse bei einer bloß zwanzigtägigen Unterbrechung nicht mehr als aufeinanderfolgend anzusehen sind, die praktische Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge in Frage stellt (vgl. § 9 Rz. 172).1 In der Rs. Odar hat sich der EuGH sogar für eine Auslegung des Unionsrechts ausgesprochen, die die praktische Wirksamkeit nationaler Vorschriften (!) schützt.2 Nicht unproblematisch ist hingegen das Urteil in der Rs. Coleman, nach dem eine Arbeitnehmerin auch dann wegen einer Behinderung diskriminiert werden kann, wenn sie Nachteile wegen einer Behinderung ihres Sohnes erleidet. Der EuGH verwies darauf, dass die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG anzuwenden sei, weil ihr andernfalls ein großer Teil ihrer praktischen Wirksamkeit genommen würde.3 Das mag im Ergebnis stimmen, doch ist mit dem Rekurs auf ihre Wirksamkeit noch nicht begründet, dass die Richtlinie diesen Fall erfasst (vgl. § 3 Rz. 57). Nicht verständlich ist hingegen die Behauptung des EuGH in der Rs. Scattolon, die praktische Wirksamkeit der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG (jetzt: 2001/23/EG) würde beeinträchtigt, wenn es infolge eines Betriebsübergangs zu einer Ablösung normativ wirkender Tarifverträge kommt, mit der sich die Arbeitsbedingungen der vom Übergang betroffenen Arbeitnehmer verschlechtern.4 Der vom EuGH postulierte Kontinuitätsschutz, dessen Wirksamkeit er zu schützen gedenkt, lässt sich nicht begründen, weil ein Kollektivvertrag nach Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL nur bis „zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags“ aufrecht zu erhalten ist (vgl. § 11 Rz. 122). In der Summe sollte die Kritik an der teleologischen Auslegung des Unionsrechts weniger der Methode als solcher, als vielmehr ihrer jeweiligen Anwendung im konkreten Einzelfall gelten.5 Ihre Überzeugungskraft hängt maßgeblich davon ab, ob sich das jeweils in Anspruch genommene Ziel tatsächlich begründen lässt.6
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4. Rechtsfortbildung Unstreitig ist, dass Art. 19 EUV den EuGH zur Fortbildung des Unionsrechts berechtigt,7 die sich noch weniger trennscharf von der bloßen Auslegung abgrenzen lässt, als dies im nationalen Recht der Fall ist. Das schließt insbesondere die Anerkennung und Konkretisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts ein.8 Heftig umstritten ist, welchen Grenzen der EuGH dabei unterliegt. Kristallisationspunkt dieser Streitfrage war das Mangold-Urteil.9 Ebenso zahlreiche wie namhafte Kritiker warfen dem EuGH vor, er habe das darin postulierte Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen Alters erfunden und die der Union zustehenden Kompetenzen überschritten.10 Mit der Kodifikation dieses Grundrechts in Art. 21 Abs. 1 GRC ist zwar der konkrete 1 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u.a., Slg. 2006, I-5057 – Rz. 72 ff.; aufgegriffen in: EuGH v. 10.3.2011 – Rs. C-109/09 – Deutsche Lufthansa, Slg. 2011, I-1309 – Rz. 43. 2 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 67. 3 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 48. 4 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 76. 5 Zutreffend: Schlachter, ZfA 2007, 249 (252). 6 Vgl. Streinz, ZEuP 2004, 387 (404 f.). 7 Lenz/Borchardt/Borchardt, Art. 19 EUV Rz. 40; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 9 Rz. 270; s. auch BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (243). 8 Zum Ganzen: Calliess, NJW 2005, 929; Everling, JZ 2000, 217; Riesenhuber/Neuner, Europäische Methodenlehre, § 13 Rz. 1 ff. 9 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981. 10 Gerken/Rieble/G. Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, S. 29 ff.; ferner Hailbronner, NZA 2006, 811; Preis, NZA 2006, 401 (410); Reichold, ZESAR 2006, 55 (58); abw. Temming, NJW 2008, 3404; jetzt auch Haltern, Der EuGH in der Kritik, S. 25 ff.; zuvor schon Haltern, Europarecht, Rz. 759 ff.
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Rz. 104
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
Anlass der Debatte fortgefallen, die generelle Problematik bleibt aber nach wie vor von Interesse. 104
Die Schranken der Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung ergeben sich im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten aus der Verbandskompetenz der Union. Da das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auch für den EuGH gilt, darf unionale Rechtsfortbildung nicht die Zuständigkeiten überschreiten, die der Union durch die Verträge übertragen wurden.1 Eine weitere Schranke folgt aus der Organkompetenz des EuGH im Verhältnis zu den Legislativorganen der Union. Unzulässig ist eine richterliche Rechtsfortbildung, die wegen eines Eingriffs in den Zuständigkeitsbereich des europäischen Gesetzgebers gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts verstößt.2 Folgt man dem EuGH darin, dass das Unionsrecht eine vom mitgliedstaatlichen Recht unabhängige und diesem gegenüber unbedingt vorrangige Rechtsordnung darstellt (vgl. Rz. 31 ff.), liegt die Zuständigkeit dafür, letztverbindlich Verstöße gegen die unionalen Verbands- oder Organkompetenzen festzustellen, ausschließlich beim EuGH.3 Die Frage nach den Grenzen bei der Fortbildung des Unionsrechts kann sich danach nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis stellen. Für diese Position spricht immerhin, dass eine nationale Kontrolle von EuGH-Urteilen die einheitliche Geltung des Unionsrechts und die Funktionsfähigkeit der Union in Frage stellt.4
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Das BVerfG sieht den Grund für die innerstaatliche Geltung des Unionsrechts hingegen im deutschen Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen (vgl. Rz. 36 f.). Nach dem Maastricht-Urteil wäre eine Fortbildung des Unionsrechts, die vom Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt ist, im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane seien aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, einen solchen aus den europäischen Kompetenzen ausbrechenden Rechtsakt anzuwenden.5 Das BVerfG nimmt für sich in Anspruch, auch Entscheidungen des EuGH daraufhin zu überprüfen, ob sie sich in den Grenzen der unionalen Verbandskompetenz halten (sog. Ultra-vires-Kontrolle).6
106
Das ist im Honeywell-Beschluss des BVerfG aktuell geworden, in dem darüber zu befinden war, ob das Mangold-Urteil einen „ausbrechenden Rechtsakt“ darstellte.7 Das BVerfG hat dies zu Recht verneint und seine entsprechende Kompetenzkontrolle unter Berufung auf den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes8 in zweierlei Hinsicht erheblich abgeschwächt. Zum einen respektiert das BVerfG die strukturellen Besonderheiten bei der Auslegung des Unionsrechts und erkennt an, dass es nicht seine Aufgabe ist, seine eigene Interpretation des Unionsrechts an die Stelle derjenigen des EuGH zu setzen.9 Ein ausbrechender Rechtsakt soll nur dann vorliegen, wenn ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die europäische Kompetenzordnung vorliegt und dieser zu einer strukturell bedeutsamen Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt. Damit nähert sich 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Everling, JZ 2000, 217 (226). Riesenhuber/Neuner, Europäische Methodenlehre, § 13 Rz. 14. EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199 – Rz. 15. Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 19 EUV Rz. 18. BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155 (188); instruktiv hierzu: Kreft, RdA-Sonderbeil. 2006, 38 (40). Mit guten Gründen abl. Proelß, EuR 2011, 241 (247 f.). BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286; zuvor: BAG v. 26.4.2006 – 7 AZR 500/04 – NZA 2006, 1162 – Rz. 17 ff.; hierzu: Fuchs, ZESAR 2011, 3; Pötters/Traut, EuR 2011, 580; Proelß, EuR 2011, 241. Grundlegend: BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – BVerfGE 123, 267 (346 f.). Zuvor schon: Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267 (271); zust. Sauer, EuZW 2011, 94 (95); polemische und verfehlte Kritik bei Gehlhaar, NZA 2010, 1053.
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Auslegung des Unionsrechts
§1
Rz. 108
die Prüfungsintensität der Ultra-vires-Kontrolle an die Überprüfung des Unionsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte an, die das BVerfG bis auf weiteres generell nicht mehr ausübt (vgl. Rz. 37).1 Zum anderen hat das BVerfG erklärt, dass dem EuGH vor der Feststellung eines ausbrechenden Rechtsakts im Wege der Vorabentscheidung Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen ist. Solange das BVerfG an den in Honeywell aufgestellten Grundsätzen festhält, ist die verfassungsgerichtliche Verwerfung eines EuGH-Urteils jedenfalls im Bereich des Arbeitsrechts wohl nur ein theoretischer Fall.2 5. Der Arbeitnehmerbegriff im Unionsrecht a) Autonomer und nationaler Arbeitnehmerbegriff Die komplexen Fragen, die mit der Auslegung des europäischen Arbeitsrechts verbunden sind, lassen sich am Begriff des Arbeitnehmers exemplifizieren.3 Verwendet eine europäische Norm diesen Begriff, ist in einem ersten Schritt zu klären, ob es sich um einen autonomen Begriff handelt oder ob auf den nationalen Begriff verwiesen wird. Im letztgenannten Fall entscheidet das jeweils anwendbare mitgliedstaatliche Recht darüber, ob eine Person i.S.d. betreffenden Unionsvorschrift als Arbeitnehmer anzusehen ist. Allerdings sind die Mitgliedstaaten nicht gänzlich frei von unionsrechtlichen Bindungen, wenn sie bei der Richtlinienumsetzung darüber entscheiden, welche Personen sie in deren Anwendungsbereich einbeziehen. Sie dürfen zum einen nicht ohne weiteres eine bestimmte Gruppe von Personen von der Anwendung ausnehmen, die nach dem sonstigen nationalen Recht als Arbeitnehmer angesehen wird.4 Zum anderen können der unionsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz und die praktische Wirksamkeit der umzusetzenden Richtlinie beispielsweise zur Einbeziehung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes verpflichten, die im Recht des jeweiligen Mitgliedstaates nicht als Arbeitnehmer qualifiziert werden.5
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Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass das Unionsrecht den autonomen Arbeitnehmerbegriff zugrunde legt (vgl. Rz. 77). Zweifelhaft ist, unter welchen Voraussetzungen eine Ausnahme anzuerkennen ist. Zur Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG war der EuGH der Auffassung, dass sie nur eine Teilharmonisierung auf dem Gebiet des Inhaberwechsels vorsehe. Dieser Zweck sei nur einschlägig, wenn die betreffende Person schon vor dem Inhaberwechsel nach nationalem Recht als Arbeitnehmer qualifiziert wurde. Der Richtlinie liege deswegen der nationalrechtliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde.6 Nach dieser – zwischenzeitlich in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d BÜ-RL kodifizierten – Rechtsprechung sollten im Wesentlichen teleologische Erwägungen den Ausschlag zwischen autonomer und nationaler Auslegung des Arbeitnehmer-
108
1 Vgl. Proelß, EuR 2011, 241 (253 f.); für eine Vereinheitlichung der Prüfungsmaßstäbe: Dederer, JZ 2014, 313 (315 ff.). 2 Vgl. die abw. Meinung des Richters Landau, in: BVerfG, NJW 2010, 3422 – Rz. 103; ferner Stein, ZRP 2010, 265; Voßkuhle, NJW 2013, 1329 (1331); jetzt aber „rückfällig“: BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, NJW 2013, 1499 – Rz. 91; hierzu: Winter, NZA 2013, 473. Etwas anderes kann für Beschlüsse der Europäischen Zentralbank gelten, die sich auf die Haushaltsverantwortung des Deutschen Bundestages auswirken, da das BVerfG diese zum Identitätskern des Grundgesetzes zählt: BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvE 13/13 u.a. – NJW 2014, 907 – Rz. 36 ff.; krit. Classen, jM 2014, 345. 3 Allg. Borelli, AuR 2011, 472; Rebhahn, EuZA 2012, 3; Wank, EuZA 2008, 172; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe, S. 124 ff. 4 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05 – Confédération générale du travail u.a., Slg. 2007, I-611 – Rz. 45 ff. 5 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso – Slg. 2007, I-7109 – Rz. 29. 6 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 – Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 – Rz. 18 ff.
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§1
Rz. 109
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
begriffs geben.1 Dieses Abgrenzungskriterium erfordert jedoch häufig diffizile Wertungen und hat den Nachteil, dass bis zu einer Entscheidung des EuGH erhebliche Unsicherheit über die zutreffende Auslegung besteht. Deswegen ist es im Interesse der Rechtssicherheit zu begrüßen, dass in einer jüngeren Entscheidung allein darauf abgestellt wird, ob das Unionsrecht eine ausdrückliche Verweisung auf das nationale Recht enthält.2 Fehlt es an einer solchen, soll dies bereits für sich genommen gegen eine Ausnahme vom Grundsatz der einheitlichen Geltung des Unionsrechts sprechen. 109
Legt man die bisherige Rechtsprechung des EuGH zugrunde, ergibt sich für die Abgrenzung des autonomen und nationalen Arbeitnehmerbegriffs das folgende Bild: Autonomer Arbeitnehmerbegriff
Nationaler Arbeitnehmerbegriff
Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 AEUV Soziale Grundrechte gem. Art. 27 ff. GRC Grundsatz der Entgeltgleichheit gem. Art. 157 AEUV (vgl. § 3 Rz. 33 ff.) Geschlechterrichtlinie 2006/54/EG (vgl. § 3 Rz. 47) Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG (vgl. § 3 Rz. 47) Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG (vgl. § 3 Rz. 47) Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG (vgl. § 6 Rz. 58) Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 89/391/EWG (str.3) Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG4
Nachweisrichtlinie 91/533/EWG Insolvenzrichtlinie 2008/94/EG Rahmenvereinbarung über Teilzeit gem. RL 97/81/EG Rahmenvereinbarung über Elternurlaub gem. RL 2010/18/EU5 Entsenderichtlinie 96/71/EG Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG (vgl. § 8 Rz. 15) Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (str., vgl. § 9 Rz. 18 ff.) Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (str., vgl. § 10 Rz. 22) Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG (vgl. § 11 Rz. 56 ff.) Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie 2002/14/EG Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG (h.M.; vgl. § 12 Rz. 44) SE-Richtlinie 2001/86/EG SCE-Richtlinie 2003/72/EG Verschmelzungsrichtlinie 2005/56/EG
b) Autonomer Arbeitnehmerbegriff 110
Verwendet eine Norm des europäischen Rechts einen autonomen Arbeitnehmerbegriff, ist in einem zweiten Schritt dessen konkreter Inhalt zu klären. Bislang hat sich für das europäische Arbeitsrecht kein einheitlicher Arbeitnehmerbegriff herausgebildet. 1 Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 14 Rz. 2; weiterführend: Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 475 ff.; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe, S. 408 ff. 2 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 27 f. 3 Vgl. Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe, S. 268 ff. (m.w.N.). 4 EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-116/06 – Kiiski, Slg. 2007, I-7643 – Rz. 24; krit. Rebhahn, EuZA 2012, 3 (24 f.); ferner EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 39. 5 S. aber EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 – Chatzi, Slg. 2010, I-8489 – Rz. 27 ff.
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Auslegung des Unionsrechts
§1
Rz. 112
Weitgehend geklärt ist der autonome Arbeitnehmerbegriff der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der weit auszulegen ist. Danach ist Arbeitnehmer, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, wobei völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeiten außer Betracht bleiben. Das wesentliche Merkmal eines Lohn- oder Gehaltsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.1 Das Kriterium der Weisungsgebundenheit dient der Abgrenzung zu selbständigen Tätigkeiten, die unter die Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit fallen.2 Im Einzelnen hängt diese Abgrenzung „von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte.“3 Nach vereinzelten Entscheidungen des EuGH soll sich die Frage, ob zwischen einer GmbH und ihrem Geschäftsführer eine Weisungsbeziehung besteht, danach richten, ob ein Unterordnungsverhältnis besteht.4 Auch dies wird weit verstanden, so dass Geschäftsführer einer GmbH als Arbeitnehmer i.S.d. Unionsrechts einzuordnen sein können.5 Unerheblich ist, ob das der Tätigkeit zugrunde liegende Rechtsverhältnis privat- oder öffentlich-rechtlicher Rechtsnatur ist,6 so dass auch Beamte, Richter und Soldaten Arbeitnehmer i.S.d. Art. 45 AEUV sind.7
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Soweit dem sonstigen europäischen Arbeitsrecht ein autonomer Arbeitnehmerbegriff zugrunde liegt, weicht dessen Inhalt zum Teil von der Rechtsprechung zu Art. 45 AEUV ab. Für das Arbeitsschutzrecht definiert etwa Art. 3 Buchst. a Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 89/391/EWG, dass Arbeitnehmer jede Person ist, die von einem Arbeitgeber beschäftigt wird, einschließlich Praktikanten und Lehrlingen, jedoch mit Ausnahme von Hausangestellten. Allerdings setzt sich in der Rechtsprechung mehr und mehr die Tendenz durch, den Arbeitnehmerbegriff der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die übrigen Arbeitnehmerbegriffe im europäischen Arbeitsrecht zu übertragen. Das gilt etwa für den Grundsatz der Entgeltgleichheit nach Art. 157 AEUV,8 die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG9 und die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG10. Der EuGH hat sogar die weitrechende These aufgestellt, dass der Arbeitnehmerbegriff des Art. 45 AEUV ebenfalls für den Arbeitnehmerbegriff gelte, der in Rechtsakten
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1 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 – Rz. 16 f.; v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96 – Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691 – Rz. 32; v. 8.6.1999 – Rs. C-337/97 – Meeusen, Slg. 1999, I-3289 – Rz. 13; v. 23.32004 – Rs. C-138/02 – Collins, Slg. 2004, I-2703 – Rz. 26; v. 7.9.2004 – Rs. C-456/02 – Slg. 2004, I-7573 – Rz. 15; v. 14.6.2012 – Rs. C-542/09 – Kommission/Niederlande, NVwZ-RR 2012, 697 – Rz. 68; näher: Schlachter, ZESAR 2011, 156. 2 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 69. 3 EuGH v. 14.12.1989 – Rs. C-3/87 – Agegate, Slg. 1989, 4459 – Rz. 36. 4 EuGH v. 27.6.1996 – Rs. C-107/94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 – Rz. 26; v. 8.6.1999 – Rs. C-337/97 – Meeusen, Slg. 1999, I-3289 – Rz. 15. 5 EuGH v. 7.5.1998 Rs. C-350/96 – Clean Car Autoservice, Slg. 1998, I-2521 – Rz. 30; vgl. auch EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 38 ff.; ausf. hierzu: Preis/Sagan, ZGR 2013, 26. 6 EuGH v. 12.2.1974 – Rs. 152/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153 – Rz. 5; 3.7.1986 – Rs. 66/85 – LawrieBlum, Slg. 1986, 2121 – Rz. 20. 7 Calliess/Ruffert/Brechmann, Art. 45 AEUV Rz. 12 (m.w.N.). 8 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 66 f. 9 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 39. 10 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-519/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 21; v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, NVwZ 2012, 688 – Rz. 23.
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§1
Rz. 113
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
nach Art. 288 AEUV verwendet wird.1 Demnach wäre der weite Arbeitnehmerbegriff der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf alle Richtlinien zu erstrecken, denen ein autonomer Arbeitnehmerbegriff zugrunde liegt. Setzt sich diese Erkenntnis durch, könnte man vielleicht schon von einem einheitlichen europäischen Arbeitnehmerbegriff, jedenfalls aber von einer erkennbaren Tendenz zur Vereinheitlichung des Arbeitnehmerbegriffs im europäischen Recht sprechen.2
V. Dogmatik europäischer Richtlinien 113
Art. 288 AEUV enthält die Handlungsformen der Union, zu denen u.a. die Verordnung und die Richtlinie zählen. Die Verordnung hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie schafft Unionsrecht, das für die Mitgliedstaaten und die Bürger gilt, ohne hierfür eines nationalen Durchführungsaktes zu bedürfen. Die Verordnung entspricht daher der Sache nach einem „europäischen Gesetz“3 und ist die Standardform europäischer Rechtsetzung.4 Die Richtlinie findet hingegen weder im internationalen noch im nationalen Recht eine Entsprechung.5 Sie ist nur für die Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist, und nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt den Mitgliedstaaten jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Anders als die Verordnung setzt die Richtlinie einen zweistufigen Rechtsetzungsprozess in Gang und verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, innerstaatliches Recht zu beseitigen, zu modifizieren, neu zu schaffen oder auch nur beizubehalten.6 Tatsächlich ergehen weniger als 10 % aller Rechtsakte der Union in Form der Richtlinie,7 doch ist sie für das Arbeitsrecht von besonderer Bedeutung, weil dieses auf der Ebene des Sekundärrechts nahezu ausschließlich durch Richtlinien geregelt wird (vgl. Rz. 45 ff.).
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Über die rechtspolitische Bewertung der Richtlinie als Handlungsform herrscht Uneinigkeit. Auf der einen Seite wird hervorgehoben, dass sie weniger intensiv in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreife als die unmittelbar anzuwendende Verordnung und deswegen den kompetenzrechtlichen Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entspreche.8 Die Richtlinie erlaube es den Mitgliedstaaten, das europäische Recht systemkonform in ihre Rechtsordnung einzupassen, wozu die Union mit dem Erlass einer Verordnung nicht in der Lage sei.9 Auf der anderen Seite wird mit guten Gründen kritisiert, dass die indirekte Rechsetzung, die mit der Richtlinie verbunden ist, zu Divergenzen zwischen europäischem und nationalem Recht führen kann.10 Insbesondere die für diesen Fall eintretenden innerstaatlichen Wirkungen der Richtlinie (vgl. Rz. 124 ff.) seien kaum noch überschaubar, weswegen eine Reform erforderlich sei.11 Selbst die Kommission nannte die Richtlinie im Zuge der Vertrags1 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-519/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 22; s. auch Borelli, AuR 2011, 472 (473). 2 Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (46 f.). 3 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 54; Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rz. 72; Streinz, Europarecht, Rz. 468. 4 von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, 77 (92 f.); Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 53. 5 Ipsen, FS Ophüls, S. 69 (71); Prechal, Directives in EC Law, S. 1. 6 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rz. 104. 7 von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, 77 (92 f.); Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 67. 8 Vgl. Calliess/Ruffert/Calliess, Art. 5 EUV Rz. 54; a.A.: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Bast/von Bogdandy, Art. 5 EUV Rz. 72. 9 von Danwitz, JZ 2007, 697 (698); vgl. auch Schlachter, ZfA 2007, 249 (257). 10 Streinz, Europarecht, Rz. 476. 11 Hilf, EuR 1993, 1; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 67.
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Dogmatik europäischer Richtlinien
§1
Rz. 116
revision von Maastricht ein „instrument hybride, et de statut ambigu“, konnte sich mit ihrem Vorschlag für eine Ersetzung durch ein europäisches Gesetz aber nicht durchsetzen.1 1. Vorgaben für die Richtlinienumsetzung a) Vorwirkung und Sperrwirkung Arbeitsrechtliche Richtlinien treten gem. Art. 297 AEUV in Ermangelung einer abweichenden Festlegung am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im EUAmtsblatt in Kraft und verpflichten die Mitgliedstaaten zur Umsetzung innerhalb der in ihnen genannten Frist. Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, die Richtlinie bereits vor Ablauf der Frist umzusetzen, sie entfaltet jedoch schon vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist Vorwirkung. In diesem Zeitraum besteht die aus dem Loyalitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV abgeleitete Verpflichtung der Mitgliedstaaten, keine Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen; sog. Frustrationsverbot.2 Dagegen verstößt aber nicht schon jedweder Erlass einer richtlinienwidrigen Norm. Vielmehr müssen die mitgliedstaatlichen Maßnahmen vermuten lassen, dass das Richtlinienziel nicht erreicht wird, etwa weil der Mitgliedstaat einen richtlinienwidrigen Umsetzungsakt erlassen hat, den er für abschließend hält und nicht mehr fristgerecht ändern kann.3
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Im Mangold-Urteil hat der EuGH die Vorwirkung der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG überspannt, falls er – nach einem umstrittenen Verständnis4 – angenommen haben sollte, dass richtlinienwidrige Gesetze, die vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist erlassen werden, unanwendbar sind.5 Eine nachfolgende Entscheidung wies bereits in die Richtung, dass die Vorwirkung einer Richtlinie allenfalls den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit der Unionsgrundrechte eröffnet.6 Schließlich hat der EuGH in den Rs. Bartsch, Römer und Kücükdeveci klargestellt, dass nationales Recht erst nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.7 Insoweit hat er das Mangold-Urteil aufgegeben.8 Der Verstoß des Mitgliedstaates gegen das Frustrationsverbot führt aus Gründen der Rechtssicherheit lediglich zu einer objektiven Verletzung der Umset-
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1 Zit. nach Snyder, The Modern Law Review 1993, 19 (41). 2 Grundlegend: EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 – Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 – Rz. 45; bestätigt in: EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 – ATRAL, Slg. 2003, I-4431 – Rz. 58; v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 – Rieser, Slg. 2004, I-1477 Rz. 66; allg. hierzu: Fisahn/Mushoff, EuR 2005, 222; Frenz, EWS 2011, 33; Riesenhuber/Hofmann, Europäische Methodenlehre, § 16 Rz. 1 ff.; Röthel, ZEuP 2009, 34; s. auch Art. 18 Wiener Vertragsrechtskonvention (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23.5.1969, BGBl. II 1985, 927). 3 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 – Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 – Rz. 47 f. 4 Statt aller: Riesenhuber/Hofmann, Europäische Methodenlehre, § 16 Rz. 20 (m.w.N.). 5 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 67 ff.; insoweit zu Recht krit. Gas, EuZW 2006, 737; wegen der Besonderheiten des Art. 18 Richtlinie 2000/78/EG zust. Röthel, ZEuP 2009, 34 (38 ff.); ähnl. von Danwitz, JZ 2007, 697 (700). 6 EuGH v. 17.1.2008 – Rs. C-246/06 – Navarro, Slg. 2008, I-105 – Rz. 32. 7 EuGH v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 – Bartsch, Slg. 2008, I-7245 – Rz. 25; v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 24 f.; v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 – Römer, NZA 2011, 557 – Rz. 61. 8 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rz. 118; krit. Preis/Temming, NZA 2008, 1209 (1210 f.).
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§1
Rz. 117
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
zungspflicht, nicht aber zur Unanwendbarkeit nationaler Gesetze (zu den Folgen für die Auslegung des nationalen Rechts vgl. Rz. 147).1 117
Wurde die Richtlinie ordnungs- und fristgemäß umgesetzt, entfaltet sie nach Ablauf der Umsetzungsfrist Sperrwirkung. Der nationale Gesetzgeber ist unionsrechtlich nach Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet, das Umsetzungsgesetz nicht aufzuheben oder richtlinienwidrig zu ändern oder sonstiges richtlinienwidriges Recht zu erlassen.2 b) Anforderungen an den Umsetzungsakt
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Bei unbefangener Lektüre des Art. 288 Abs. 3 AEUV, nach dem eine Richtlinie nur hinsichtlich des zu erreichenden „Ziels“ verbindlich ist, könnte man meinen, dass Richtlinien den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belassen müssten. Diese Vorstellung wäre irrig. Der EuGH hat zu keinem Zeitpunkt Bedenken gegen inhaltlich nicht ausgestaltungsbedürftige Richtlinien gehegt. Auch nach praktisch einhelliger Ansicht im Schrifttum können Richtlinien so detaillierte Regelungen enthalten, dass den Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung in der Sache keine Entscheidungsfreiheit verbleibt.3
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Die weitere Aussage des Art. 288 Abs. 3 AEUV, dass die Wahl der Form und der Mittel zur Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, ist ebenfalls nicht wörtlich zu verstehen. Da das Arbeitsrecht im Wesentlichen durch Parlamentsgesetze geregelt ist, erfordert die Umsetzung arbeitsrechtlicher Richtlinien in aller Regel ebenfalls den Erlass eines Parlamentsgesetzes. In den seit 1990 erlassenen Richtlinien findet sich die formelle Anforderung, dass bei der Umsetzung die Richtlinie in Bezug zu nehmen oder auf sie hinzuweisen ist; sog. Zitiergebot.4 In inhaltlicher Hinsicht sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Bestimmungen der Richtlinie vollständig und genau einzuhalten,5 nicht aber wörtlich zu übernehmen.6 Den strengeren Anforderungen des sog. Transparenzgebots unterliegt die Umsetzung von Richtliniennormen, die subjektive Rechte des Einzelnen enthalten. In diesem Fall müssen die Mitgliedstaaten, „um die volle Anwendung der Richtlinie nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu gewährleisten, (…) Rechtsvorschriften erlassen, die geeignet sind, eine so bestimmte, klare und transparente Lage zu schaffen, dass der Einzelne seine Rechte erkennen und sich vor den nationalen Gerichten auf sie berufen kann“.7 1 Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 84; vgl. auch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 – Rieser, Slg. 2004, I-1477 – Rz. 67; a.A. Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 24; diff. Röthel, ZEuP 2009, 34 (43 ff.). 2 Oppermann/Classen/Nettesheim/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rz. 98. 3 GA Jacobs v. 27.1.1994 – Rs. C-316/93 – Vaneetveld, Slg. 1994, I-763 – Rz. 28; Calliess/Ruffert/ Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 25; von der Groeben/Schwarze/Schmidt, Art. 249 EG Rz. 38; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 89; Vedder/Heintschel von Heinegg/Vedder, Art. 288 AEUV Rz. 22; näher Sydow, JZ 2009, 373 (374 f.). 4 Z.B. Art. 11 Abs. 2 Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG. 5 EuGH v. 18.3.1980 – Rs. 91/79 – Kommission/Italien, Slg. 1980, 1099 – Rz. 6; v. 3.6.1992 – Rs. C-287/91 – Kommission/Italien, Slg. 1992, I-3515 – Rz. 7; 14.12.1995 – Rs. C-16/95 – Kommission/Spanien, Slg. 1995, I-4883 – Rz. 8. 6 EuGH v. 9.4.1987 – Rs. 363/85 – Kommission/Italien, Slg. 1987, 1733 – Rz. 15; v. 20.5.1992 – Rs. C-190/90 – Kommission/Niederlande, Slg. 1992, I-3265 – Rz. 17. 7 St. Rspr., EuGH v. 15.6.1995 – Rs. C-220/94 – Kommission/Luxemburg, Slg. 1995, I-1589 – Rz. 10; ferner EuGH v. 30.5.1991 – Slg. C-361/88 – Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-2567 – Rz. 15; v. 18.1.2001 – Rs. C-162/99 – Kommission/Italien, Slg. 2001, I-541 – Rz. 22; v. 18.12. 2008 – Rs. C-338/06 – Kommission/Spanien, Slg. 2008, I-10139 – Rz. 54.
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§1
Rz. 122
c) Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip Häufig enthalten arbeitsrechtliche Richtlinien keine Regelungen zu den Rechtsfolgen, die bei einem Verstoß gegen die in ihnen vorgesehen Bestimmungen eintreten sollen. Auch das Verfahren zur Durchsetzung der Rechte und Pflichten, die in ihnen enthalten sind, wird kaum jemals in den Richtlinien selbst geregelt. Dann obliegt es den Mitgliedstaaten, die materiell-rechtlichen Sanktionen und Verfahrensregelungen in eigener Verantwortung zu regeln; sog. Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.1 Die Freiheit der Mitgliedstaaten wird indes durch die primärrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität einschränkt.
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Nach dem Äquivalenzgrundsatz müssen die Mitgliedstaaten darauf achten, dass Verstöße gegen das Unionsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen das nationale Recht.2 Sie sind nicht verpflichtet, die günstigste innerstaatliche Regelung auf die Klagen zu erstrecken, die sich auf das umgesetzte Richtlinienrecht stützen.3 Die unionsrechtlichen und nationalrechtlichen Vorschriften sind vielmehr objektiv und abstrakt4 hinsichtlich ihres Gegenstandes, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale miteinander zu vergleichen, um festzustellen, ob der Äquivalenzgrundsatz einschlägig ist.5 Da dem EuGH keine Zuständigkeit für die Auslegung des nationalen Rechts zusteht, ist der betreffende Vergleich von den nationalen Gerichten vorzunehmen.6 Der EuGH scheint die Vergleichbarkeit aber nicht weit zu verstehen, wie sich in der Rs. Bulicke zeigte. Unter der Prämisse, dass es im deutschen Recht vor dem Erlass des AGG keinen Entschädigungsanspruch wegen einer Diskriminierung aus einem in § 1 AGG genannten Grund gab, hielt er die zweimonatige Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG wohl für nicht mit der dreijährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB vergleichbar, überließ die abschließende Prüfung aber dem vorlegenden Gericht.7
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Im Hinblick auf das Effektivitätsprinzip ist zwischen materiell-rechtlichen Rechtsfolgen und Verfahrensregelungen zu unterscheiden. Die nationalrechtlichen Sanktionen müssen nicht nur effektiv, sondern auch abschreckend und verhältnismäßig sein.8 Der genaue Inhalt dieser Anforderungen ist nur ansatzweise präzisiert worden, doch dürften die antagonistischen Kriterien der abschreckenden Wirkung einerseits und der Verhältnismäßigkeit andererseits von größerer Bedeutung sein als das Erfordernis einer wirksamen Sanktion. Hierfür wird wohl nur zu verlangen sein, dass die Verhän-
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1 St. Rspr., EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2483 – Rz. 44; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 173; v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Sgl. 2011, I-7907 – Rz. 87. 2 EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 29; v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 – Paquay, Slg. 2007, I-8511 – Rz. 52; v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 62. 3 EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 – Edis, Slg. 1998, I-4951 – Rz. 36. 4 EuGH v. 29.10.2009 – Rs. C-63/08 – Pontin, Slg. 2009, I-10467 – Rz. 46. 5 EuGH v. 1.12.1998 – Rs. C-326/96 – Levez, Slg. 1998, I-7835 – Rz. 43; v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 – Preston u.a., Slg. 2000, I-3201 – Rz. 49. 6 EuGH v. 10.7.1997 – Rs. C-261/95 – Palmisani, Slg. 1997, I-4025 Rz. 38; 29.10.2009 – Rs. C-63/08 – Pontin, Slg. 2009, I-10467 – Rz. 45. 7 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 19 und 31 ff.; i.E. ebenso BAG v. 15.3.2012 – 8 AZR 37/11 – NZA 2012, 910 – Rz. 32 ff.; Jacobs, RdA 2009, 193 (200); Sagan, ZESAR 2011, 412 (420); a.A. Fischinger, NZA 2010, 1048 (1050). 8 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 40 (zur Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG); v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu und Sardino, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 51; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 158.
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
gung der Sanktion nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.1 Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Sanktion abschreckend ist, hat der EuGH entschieden, dass bei der Einräumung eines „Entschädigungsanspruchs“ dessen Bemessung in einem angemessenen Verhältnis zum entstandenen Schaden stehen muss und eine „rein symbolische Entschädigung“ nicht ausreichend ist.2 Ob die bloße Naturalrestitution eine hinreichend abschreckende Rechtsfolge oder aus Präventionsgründen eine darüber hinausgehende Strafandrohung notwendig ist, hängt vom Inhalt der jeweiligen Richtlinie ab.3 Im Gegensatz zu der haftungsverschärfenden Anforderung der abschreckenden Wirkung dient der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Haftungsbegrenzung. Die Mitgliedstaaten dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels erforderlich ist, und müssen, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende wählen.4 Das schließt eine verschuldensunabhängige Haftung nicht aus, doch können pauschale Geldbußen unverhältnismäßig sein, wenn sie nicht hinreichend nach der Schwere der Rechtsverletzung differenzieren.5 123
Mitgliedstaatliche Verfahrensregelungen dürfen nach dem Effektivitätsgrundsatz die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich machen noch übermäßig erschweren.6 Dabei müssen zum einen die nationalen Verfahrensvorschriften unter Berücksichtigung ihrer Stellung im gesamten Verfahren, dessen Ablauf und Besonderheiten gewürdigt und zum anderen die Grundsätze berücksichtigt werden, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie etwa der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens.7 Ein Anwendungsfall des Prinzips der Rechtssicherheit ist die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen und auch insoweit hatte der EuGH in der Rs. Bulicke gegen die zweimonatige Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG keine durchgreifenden Bedenken.8 Etwas anderes gilt, wenn schwangeren Arbeitnehmerinnen eine fünfzehntägige Klagefrist für die Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes nach Art. 10 Mutterschutz-RL 92/85/EWG auferlegt wird.9 In seiner jüngeren Rechtsprechung zum Effektivitätsgrundsatz zieht der EuGH zudem das Unionsgrundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 47 GRC heran und leitet hieraus auch Vorgaben für die Gewährung von Prozesskostenhilfe ab.10
1 GA Kokott v. 14.10.2004 – Rs. C-387/02 – Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 – Rz. 88 ff. 2 EuGH v. 10.4.1983 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 23 f. 3 GA Ruiz-Jarabo Colomer v. 26.5.2005 – Rs. C-176/03 – Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879 – Rz. 46. 4 EuGH v. 9.3.2010, verb. Rs. C-379/08 und C-380/08 – ERG u.a., Slg. 2010, I-2007 – Rz. 86; v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 – Kommission/Belgien, EuZW 2013, 234 – Rz. 49. 5 EuGH v. 9.2.2012 – Rs. C-210/10 – Urbán, ECLI:EU:C:2012:64 – Rz. 47 ff. 6 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2483 – Rz. 46; v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, NZA 2011, 1219 – Rz. 89. 7 EuGH v. 14.12.1995 – Rs. C-312/93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599 – Rz. 14; v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 – Unibet, Slg. 2007, I-2271 – Rz. 54. 8 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 36 ff.; ferner EuGH v. 15.4. 2010 – Rs. C-542/08 – Barth, Slg. 2010, I-3189 – Rz. 28 ff.; zum unzulässigen Erfordernis, Richtlinienrecht zunächst außergerichtlich geltend zu machen: EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 71 ff. 9 Vgl. EuGH v. 29.10.2009 – Rs. C-63/08 – Pontin, Slg. 2009, I-10467 – Rz. 60 ff. 10 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 – DEB, Slg. 2010, I-13849 Rz. 27 ff.; hierzu: Wendenburg, DRiZ 2011, 95.
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§1
Rz. 126
2. Innerstaatliche Wirkungen europäischer Richtlinien Im Idealfall scheint es denkbar, dass sich eine Richtlinie nicht auf das nationale Recht und auf Rechtsstreitigkeiten vor den nationalen Gerichten auswirkt. Die Richtlinie bliebe auf ihre Wirkung gegenüber den Mitgliedstaaten begrenzt und innerstaatlich würde allein das ihrer Umsetzung dienende Gesetz angewendet.1 In der Realität lässt sich eine derart hermetische Trennung der europäischen und der nationalen Rechtssphäre nicht durchführen, weil die Mitgliedstaaten nicht nur in seltenen Einzelfällen gegen ihre Pflicht zur Richtlinienumsetzung verstoßen. Umsetzungsfehler können sich daraus ergeben, dass der nationale Gesetzgeber schuldlos den Inhalt der Richtlinie verfehlt, weil sie unklar formuliert ist und bei Ablauf der Umsetzungsfrist noch keine erläuternde Entscheidung des EuGH vorliegt. Immerhin begegnet auch er der Richtlinie aus der Perspektive eines Rechtsanwenders.2 Die Umsetzung kann ferner verspätet oder sogar unter einem geradezu absichtlichen Verstoß gegen die Vorgaben der Richtlinie erfolgen, wie das Beispiel des § 2 Abs. 4 AGG zeigt (vgl. § 3 Rz. 52). Gerät die Richtlinie auf diese Weise in ein Spannungsverhältnis zum nationalen Recht, stellt sich die Frage nach ihren innerstaatlichen Wirkungen. Hierzu besteht eine weitreichende, komplexe und für die Rechtspraxis überaus bedeutsame Rechtsprechung des EuGH, die sich am besten anhand ihrer historischen Entwicklung verstehen lässt.
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a) Unmittelbare Anwendung aa) Entstehungsgeschichte. Ausgangspunkt der Entwicklung war die Erkenntnis, dass sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf bestimmte Vorschriften des Primärrechts berufen konnte mit der Folge, dass entgegenstehendes nationales Recht außer Anwendung zu bleiben hat (vgl. Rz. 28 ff.). Das warf die Frage auf, ob dies ebenso für die Vorschriften einer Richtlinie gelten konnte. Dies ließ sich mit ernstzunehmenden Gründen verneinen.3 Der Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV ordnet nur die „unmittelbare Geltung“ der Verordnung, nicht aber der Richtlinie an. Deren unmittelbare Anwendung drohte zudem etwaige Umsetzungsspielräume der Mitgliedstaaten auszuhöhlen. Besonders schwer wog der Einwand, dass Richtlinien unter dem Regime des EWG-Vertrages keiner Veröffentlichung im europäischen Amtsblatt bedurften, sondern durch Bekanntgabe gegenüber den Mitgliedstaaten wirksam wurden. An sämtliche Mitgliedstaten gerichtete Richtlinien wurden aber seit 1960 jedenfalls tatsächlich im Amtsblatt veröffentlicht.
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In der Rs. van Duyn4 entschied sich der EuGH dennoch mit ebenfalls guten Gründen für die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien. Die unmittelbare Geltung von Verordnungen lasse nicht darauf schließen, dass eine Richtlinie niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könne. Die nützliche Wirkung („effet utile“) und die in Art. 288 Abs. 3 AEUV angeordnete Verbindlichkeit der Richtlinie würden abgeschwächt, könnte sich der Einzelne nicht auf sie berufen und die nationalen Gerichte sie unberücksichtigt lassen. Ferner seien die nationalen Gerichte befugt, ihn, den EuGH, im Vorabentscheidungsverfahren nach der Auslegung aller Handlungen der europäischen Organe zu befragen, weswegen sich der Einzelne vor ihnen auch auf Richtlinien berufen können müsse. Damit greift der EuGH eine Überlegung auf, die er zuvor schon
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Vgl. EuGH v. 15.7.1982 – Rs. 270/81 – Felicitas Rickmers-Linie, Slg. 1982, 2771 – Rz. 24. Herresthal, NJW 2008, 2475 (2477). Zusammenfassend: Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 10 Rz. 80 ff. (m.w.N.). EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337 – Rz. 12 f.; bestätigt in: EuGH v. 1.2.1977 – Rs. 51/76 – Verbond nederlandse ondernemingen, Slg. 1977, 113 – Rz. 20 ff.
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
zur unmittelbaren Anwendung des Primärrechts entwickelt hat (vgl. Rz. 29). Müssten Verstöße der Mitgliedstaaten gegen die Umsetzungspflicht „zentral“ von der Kommission im Vertragsverletzungsverfahren geltend gemacht werden, blieben sie häufig ohne Konsequenzen. Die Anerkennung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ergänzt diese Kontrolle um die Möglichkeit, eine Verletzung der Umsetzungspflicht im „dezentralen“ Vorabentscheidungsverfahren festzustellen. Das Zusammenwirken der privaten Kläger, der nationalen Gerichte und des EuGH in dieser Verfahrensart dient zugleich der effektiven Überwachung der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung. Schließlich enthielt die streitgegenständliche Richtlinienbestimmung in der Rs. van Duyn eine unbedingte und vorbehaltlose Verpflichtung, die zur ihrer Anwendung keiner weiteren Konkretisierung bedurfte. Auf eine solche Richtlinienvorschrift könne sich der Einzelne, so der EuGH, im vertikalen Verhältnis gegenüber einem Mitgliedstaat unmittelbar berufen. 127
Obwohl sich das Urteil in der Rs. van Duyn nahtlos in die Dogmatik des europäischen Rechts einfügte und die unmittelbare Richtlinienwirkung nur unter bestimmten Voraussetzungen zuließ, stieß es bei den mitgliedstaatlichen Gerichten auf erhebliche Skepsis. Mit Argwohn wurde der Rekurs auf den effet utile zur Kenntnis genommen, die beim Primärrecht genügt hatte, um dessen unmittelbare Wirkung auch im horizontalen Verhältnis zwischen Privaten anzuerkennen.1 Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf Richtlinien drohte nach Meinung der Kritiker den Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien einzuebnen. So wurde die van Duyn-Entscheidung zu einem „der unpopulärsten Urteile überhaupt“.2 Der französische Conseil d’État erklärte kurze Zeit später, dass sich die Bürger nicht auf Richtlinien berufen könnten.3 Das kam der Negation der van Duyn-Entscheidung gleich.
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Das zwang den EuGH dazu, seine Rechtsprechung in der Rs. Ratti erheblich einzuschränken, indem er seine Argumentation um den Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs ergänzte.4 Danach sollen einem Mitgliedstaat, der eine Richtlinie nicht fristgemäß umgesetzt hat, aus seinem Rechtsbruch keine Vorteile erwachsen.5 Ein solcher Staat könne gegenüber einem Bürger nicht nationales Recht zur Anwendung bringen, das er bei ordnungsgemäßer Richtlinienumsetzung hätte aufheben müssen. Dieses Argument zielte darauf ab, der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, weil der staatliche Richtlinienverstoß nicht dem Einzelnen zugerechnet werden kann und die horizontale Anwendung der Richtlinie ihm gegenüber daher ausscheiden musste.6 Tatsächlich sollte dieses Argument der Rechtsprechung des EuGH in Deutschland letztlich zum Durchbruch verhelfen. Anfänglich folgte der BFH noch dem Vorbild des Conseil d’État und verweigerte dem EuGH in mehreren Entscheidungen offen die Gefolgschaft.7 Erst ein späterer Beschluss des BVerfG glättete die Wogen, legitimierte die unmittelbare Richtlinienwirkung aber nicht mit dem effet 1 2 3 4
EuGH v. 12.12.1975 – Rs. 36/74 – Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405 – Rz. 28. Haltern, Europarecht, Rz. 677 f. Conseil d’État v. 22.12.1978 – Nr. 11604 – Cohn-Bendit, EuR 1979, 292 = DVBl. 1980, 126. EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 – Ratti, Slg. 1979, 1629 – Rz. 22 f.; hierzu: Haltern, Europarecht, Rz. 683 („radikale Wende“). 5 Aus deutscher Sicht sind Parallelen zur unredlichen Vereitelung der gegnerischen Rechtsposition (vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen, BGB, Neubearbeitung 2009, § 252 Rz. 246 ff.) oder zum Rechtsgrundsatz nemo audietur turpitudinem suam allegans denkbar; s. Bach, JZ 1990, 1108 (1114). 6 Pescatore, European Law Review 1983, 155 (171); krit. zu diesem Argument: Müller-Graff, NJW 1993, 13 (20). 7 BFH v. 16.7.1981 – V B 51/80 – BFHE 133, 470; v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383 = NJW 1985, 2103.
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utile des europäischen Rechts, sondern – in Übereinstimmung mit der Rs. Ratti – als neue „Sanktionskategorie“ für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Umsetzungsverpflichtung.1 Die Entstehungsgeschichte verdeutlicht, dass die Begrenzung der unmittelbaren Richtlinienwirkung auf vertikale Rechtsverhältnisse, die de facto mit der Rs. Ratti beschlossen war, aus Sicht des EuGH erforderlich gewesen ist, um die Zustimmung der mitgliedstaatlichen Gerichte zu sichern. Sie folgte weder aus der Dogmatik des europäischen Rechts noch aus der Logik der europäischen Integration, sondern war ein dem EuGH abgerungener Kompromiss.2 Es sollte daher nicht überraschen, dass der EuGH seine Rechtsprechung anschließend nicht konsequent fortgesetzt hat, sondern ganz im Gegenteil bei jeder sich bietender Gelegenheit danach trachtete, andere Mittel und Wege zu finden, um Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Umsetzungspflicht unterhalb der Schwelle der unmittelbaren Horizontalwirkung möglichst wirksam zu sanktionieren. Seine nachfolgende Rechtsprechung wirkt wie ein fortgesetzter Versuch, aus der Sackgasse herauszufinden, in die ihn die Rs. Ratti geführt hat.3
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bb) Unmittelbare Anwendung gegenüber dem Staat. Die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat hängt nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des EuGH4 von drei Voraussetzungen ab:
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– Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie ist abgelaufen. – Die Richtlinie wurde nicht ordnungsgemäß umgesetzt. – Die Richtlinienbestimmung ist inhaltlich unbedingt und hinreichend genau. Zuweilen formuliert der EuGH, dass Vorschriften einer Richtlinie unmittelbar anzuwenden sind, wenn die Richtlinie „nicht fristgemäß oder nur unzulänglich“ umgesetzt wurde.5 Dennoch ist unstreitig, dass eine Richtlinie vor Fristablauf keine unmittelbare Wirkung entfaltet.6 Der streitgegenständliche Sachverhalt muss sich auf die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist beziehen.7 Ferner muss objektiv ein Verstoß gegen die Umsetzungspflicht vorliegen. Entspricht das nationale Recht der Richtlinie oder kann es zumindest richtlinienkonform ausgelegt werden, bedarf es der unmittelbaren Anwendung der Richtlinie nicht (vgl. Rz. 145).
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Die Richtliniennorm muss geeignet sein, unmittelbar Rechtswirkungen zu entfalten. Das setzt nicht voraus, dass sie ein subjektives Recht einräumt.8 Ausreichend ist, dass sie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist (vgl. Rz. 30). Sie ist inhaltlich unbedingt, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und ihrem Wesen nach keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der
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BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (241 f.). Vgl. Nicolaysen, EuR 1984, 380 (388); ferner Prechal, Directives in EC Law, S. 224. Arnull, The EU and its Court of Justice, S. 195. EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-62/00 – Marks & Spencer, Slg. 2002, I-6325 – Rz. 25; v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 103; v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 33. Z.B. EuGH v. 1.7.2010 – Rs. C-194/08 – Gassmayr, Slg. 2010, I-6281 – Rz. 44, Hervorhebung diesseits. EuGH v. 3.3.1994 – Rs. C-316/93 – Vaneetveld, Slg. 1994, I-763 – Rz. 16; Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 51. EuGH v. 17.1.2008 – Rs. C-246/06 – Navarro, Slg. 2008, I-105 – Rz. 28 f.; ErfK/Wißmann, Vorb AEUV Rz. 24. Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (771); Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 66 ff.; Streinz/ Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 110 (m.w.N.); a.A. Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 10 Rz. 84.
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Mitgliedstaaten bedarf.1 Daran fehlt es, wenn sie den Mitgliedstaaten für ihre Umsetzung – einer Wahlschuld vergleichbar – mehrere Möglichkeiten einräumt. Hinreichend genau ist eine Richtliniennorm, wenn sie eine klare und eindeutige Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält.2 Das wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass sie unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, da diese im gerichtlichen Verfahren zu konkretisieren sind.3 Insgesamt stellt der EuGH keine hohen Anforderungen und hielt beispielsweise das Diskriminierungsverbot in § 4 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge für inhaltlich unbedingt und hinreichend genau (vgl. § 9 Rz. 51 ff.).4 133
Auf der Rechtsfolgenseite ist die Richtliniennorm – von Amts wegen5 – gegenüber dem Staat anzuwenden. Dem in der Rs. Ratti aufgestellten Argument des Rechtsmissbrauchs würde es entsprechen, die unmittelbare Anwendung auf diejenige mitgliedstaatliche Stelle zu beschränken, die für das jeweilige Umsetzungsdefizit verantwortlich ist. Diese Konsequenz hat der EuGH aber nicht gezogen, sondern legt den Begriff des Staates extrem weit aus. Hierunter fallen alle staatlichen Organe, einschließlich der Kommunen und öffentlich finanzierter Einrichtungen,6 und zwar auch dann, wenn sie nicht hoheitlich, sondern auf der Grundlage eines privaten Vertrages als Arbeitgeber handeln.7 Das gilt ebenso für privatrechtlich organisierte Unternehmen, die im Eigentum oder unter der Kontrolle staatlicher Stellen stehen.8 „Staat“ im diesem Sinne sind mithin alle öffentlichen Arbeitgeber.9 Freilich kann sich in der umgekehrten Situation der Staat gegenüber dem Einzelnen in keinem Fall auf eine Richtlinie berufen.10
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Noch nicht abschließend geklärt ist die Wirkung von Richtlinien auf einzelstaatliche Tarifverträge.11 Fällt keine der Tarifvertragsparteien unter den Staatsbegriff, müsste eine unmittelbare Anwendung europäischer Richtlinien auf sie ausnahmslos ausscheiden.12 Allerdings vertritt der EuGH die Ansicht, dass – auch private – Tarifvertragsparteien im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung wegen Alters die Vorgaben der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG einzuhalten haben.13 Das begründet er aber damit, dass die Richtlinie das Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen Alters konkretisiert sowie ferner mit Art. 16 Buchst. b Gleichb-RL. Diese Besonderheiten des Gleichbehandlungsrechts stehen einer Verallgemeinerung dieser Rechtsprechung entgegen. Andere Maßstäbe gelten, wenn die Tarifvertragspartei auf 1 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337 – Rz. 13/14. 2 EuGH v. 22.9.1983 – Rs. 271/82 – Auer, Slg. 1983, 2727 – Rz. 16; v. 23.2.1994 – Rs. C-236/92 – Comitato di coordinamento per la difesa della cava u.a., Slg. 1994, I-483 – Rz. 10. 3 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337 – Rz. 13/14; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 108. 4 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Imact, Slg. 2008, I-2483 – Rz. 59 ff.; krit. Rolfs/de Groot, ZESAR 2009, 5 (12 f.). 5 EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 – Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 – Rz. 55 ff.; Calliess/ Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 69. 6 Schlachter, ZfA 2007, 249 (258). 7 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 56; v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 – Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 – Rz. 30 f. 8 EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 – Foster u.a., Slg. 1990, I-3313 – Rz. 20; v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 39. 9 HWK/Tillmanns, Vorb. AEUV Rz. 19; ErfK/Wißmann, Vorb AEUV Rz. 25. 10 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 – Rz. 10. 11 Zum Primärrecht: Junker, ZfA 2009, 281. 12 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 9; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 529. 13 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, NZA 2011, 1039 – Rz. 46 ff.; ebenso zu Betriebsparteien: EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 34.
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§1
Rz. 137
Arbeitgeberseite zum „Staat“ gehört.1 Normen eines von ihr geschlossenen Tarifvertrages, die gegen unmittelbar anwendbare Bestimmungen einer Richtlinie verstoßen, bleiben außer Anwendung. Schließlich kann sich ein Arbeitnehmer gegenüber einem „staatlichen“ Arbeitgeber darauf berufen, dass eine Tarifnorm unangewendet bleibt, wenn sie gegen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienvorschrift verstößt. Das gilt auch dann, wenn die Tarifnorm zwischen Privaten vereinbart wurde.2 cc) Keine unmittelbare Anwendung zwischen Privaten. In der Rs. Marshall führte der EuGH den mit der Rs. Ratti eingeschlagenen Weg fort und entschied nunmehr ausdrücklich, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen und als solche nicht gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden kann.3 Danach war die horizontale Anwendung von Richtlinien zwischen einem Arbeitnehmer und einem privaten Arbeitgeber ausgeschlossen. Bezeichnend ist, dass es sich dabei um ein bloßes obiter dictum handelte, denn im konkreten Fall stand ein öffentlicher Arbeitgeber auf der Beklagtenseite. Der EuGH konnte sich im Zeitpunkt der Entscheidung aber im Streit mit dem Conseil d’État und dem BFH noch nicht der Unterstützung des BVerfG sicher sein. Die Rs. Marshall liest sich daher wie ein „Vergleichsvorschlag“ des EuGH: Er verzichtet auf die horizontale Richtlinienwirkung und die mitgliedstaatlichen Gerichte akzeptieren im Gegenzug die vertikale Wirkung.4 Dieses Angebot hat das BVerfG später angenommen (vgl. Rz. 128).
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In der Sache hat der EuGH die Ablehnung der horizontalen Richtlinienwirkung vor allem auf den Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV gestützt, nach dem die Richtlinie an die Mitgliedstaaten adressiert ist. Ausdrücklich wies er den Einwand zurück, dass es zu einer willkürlichen Unterscheidung zwischen den Arbeitnehmern des „Staates“, die sich auf sie begünstigende Richtlinien berufen können, und denen privater Arbeitgeber komme, denen dies versagt bleibt. Diese Differenzierung hätte sich, so der EuGH, leicht vermeiden lassen, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt hätte.5
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Die Differenzierung zwischen Arbeitnehmern öffentlicher und privater Arbeitgeber rührt zwar vom europäischen Recht her, ist aber, wie der EuGH zu Recht ausführt, von den Mitgliedstaaten zu verantworten. Deswegen muss sie in Deutschland einer Prüfung anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG standhalten. Das BAG handhabt dies großzügig und lässt die beschränkte Richtlinienwirkung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV als sachlichen Grund für die Differen-
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1 Vgl. EuGH v. 15.7.2010 – Rs. C-271/08 – Kommission/Deutschland, Slg. 2010, I-7091 – Rz. 46 ff. (zu Tarifverträgen der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände); allg. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 532. 2 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 9; Däubler/Schiek, TVG, Einl. Rz. 384. 3 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 – Marshall, Slg. 1986, 723 – Rz. 48; seitdem st. Rspr. v. 5.10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 108; v. 19.10.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 46; v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 37; ebenso: Hilf, EuR 1993, 1 (9 f.); Jarass, NJW 1991, 2665 (2666); a.A. und für eine Horizontalwirkung: GA van Gerven v. 26.1.1993 – Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367 – Rz. 12; GA Jacobs v. 27.1.1994 – Rs. C-316/93 – Vaneetveld, Slg. 1994, I-763 – Rz. 29 ff.; GA Lenz v. 9.2.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 – Rz. 43 ff.; Arnull, The EU and its Court of Justice, S. 198 ff.; Craig, European Law Review 2009, 349; Prechal, Directives in EC Law, S. 255 ff.; Müller-Graff, NJW 1993, 13 (20 f.); tendenziell Hanau, NZA 2010, 1 (4). 4 Haltern, Europarecht, Rz. 698. 5 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 – Marshall, Slg. 1986, 723 – Rz. 51.
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
zierung ausreichen.1 Das kaschiert die Verantwortung des deutschen Gesetzgebers für die tatbestandliche Ungleichbehandlung. Nach vorzugswürdigem Verständnis bedarf diese einer sachlichen Rechtfertigung, die über den bloßen Rekurs auf die nach dem europäischen Recht eintretenden Rechtsfolgen hinausgeht. Eine solche wird sich kaum jemals finden lassen, da sich der Gesetzgeber mit der fehlerhaften Richtlinienumsetzung selbst ins Unrecht gesetzt hat. 138
Den Grundsatz, dass eine Richtlinie nicht unmittelbar zwischen Privaten anzuwenden ist, versteht der EuGH nicht dahin, dass sie keinerlei negative Auswirkungen auf Private haben könnte. Zu einer Beeinträchtigung Privater kann es insbesondere bei der sog. Doppelwirkung in Dreiecksverhältnissen kommen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein Einzelner gegenüber dem Staat auf ihn begünstigende Vorschriften einer Richtlinie beruft, wodurch zugleich ein anderer Privater belastet wird. Hierzu hat der EuGH klargestellt, dass „bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter, selbst wenn sie gewiss sind,“ dem Einzelnen nicht das Recht nehmen, sich gegenüber dem Staat auf eine fehlerhaft umgesetzte Richtlinie zu berufen.2 Das betrifft im Arbeitsrecht etwa „starre“ Geschlechterquoten im öffentlichen Dienst, die mit Art. 14 Abs. 1 Geschl-RL unvereinbar sind.3 Die hierdurch benachteiligten Bewerber können von staatlichen Arbeitgebern verlangen, dass die Quotenregelung unangewendet bleibt, wodurch im Gegenzug die von ihr begünstigten Bewerber beeinträchtigt werden.4 Ebenso kann ein privater Arbeitgeber geltend machen, nicht für den Verstoß gegen ein mitgliedstaatliches Nachtarbeitsverbot für Frauen bestraft zu werden, das mit Art. 14 Abs. 1 Geschl-RL unvereinbar ist.5
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Besondere Probleme bereiten die Fälle der sog. inzidenten Horizontalwirkung, die sich im Zusammenhang mit der Richtlinie 83/189/EWG6 stellen. Diese Richtlinie schrieb u.a. vor, dass die Mitgliedstaaten der Kommission jeden Entwurf zu bestimmten technischen Vorschriften mitzuteilen hatten. In der Rs. Unilever ging der EuGH davon aus, dass unter Verstoß gegen diese Mitteilungspflicht erlassene Normen unanwendbar seien und sich ein Privater hierauf auch berufen könne. An dem Rechtsstreit waren jedoch zwei private Unternehmen beteiligt, so dass eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie strictu sensu ausscheiden musste. Im Einzelnen machte der Kläger aber geltend, dass ein ihm vom Verkäufer gelieferter Kaufgegenstand mangelhaft sei, da er in Italien wegen Verstoßes gegen technische Normen nicht verkehrsfähig sei. Der beklagte Verkäufer wandte ein, dass die betreffenden Normen gegen die Richtlinie 83/189/EWG verstießen und deswegen unanwendbar seien. Der EuGH gab ihm Recht und entschied, dass die Unanwendbarkeit der technischen Normen auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten – und damit inzident bei der Frage nach der Verkehrsfähigkeit des Produkts – beachtet werden müsse.7 In zahlreichen Stellungnahmen ist versucht worden, diese Entscheidung mit dem Grundsatz in Einklang zu bringen, dass eine Richtlinie als solche zwischen Privaten keine unmittel-
1 BAG v. 2.4.1996 – 1 ABR 47/95 – NZA 1996, 998 (1001); zust. ErfK/Wißmann, Vorb AEUV Rz. 24. 2 Allg. EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 – Wells, Slg. 2004, I-723 – Rz. 57 (m.w.N.). 3 EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 – Kalanke, Slg. 1995, I-3051 – Rz. 24. 4 BAG v. 5.3.1995 – 1 AZR 590/92 – NZA 1996, 751 (756). 5 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-345/89 – Stoeckel, 1991, I-4047 – Rz. 20. 6 Richtlinie 83/189/EWG (ABl. Nr. L 109 v. 26.4.1983, S. 8); jetzt Richtlinie 98/34/EG (ABl. Nr. L 204 21.7.1998 S. 37). 7 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, Slg. 2000, I-7535 – Rz. 49; zuvor bereits: EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-194/94 – CIA Security International, Slg. 1996, I-2201 – Rz. 47 ff.
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§1
Rz. 141
bare Anwendung findet.1 Denn immerhin hatte sich etwa auch die Klägerin in der Rs. Faccini Dori lediglich auf die Nichtanwendung nationalen Rechts berufen, das gegen eine Richtlinie verstieß, blieb damit aber vor dem EuGH ohne Erfolg.2 Die unterschiedlichen Rechtsfolgen lassen sich vor allem darauf zurückführen, dass die Richtlinie 83/189/EWG unmittelbar das Verfahren zum Erlass einzelstaatlicher Gesetze regelt, wie sie sich im nationalen Recht in der Regel nur aus der Verfassung ergeben.3 Diese Besonderheit weisen arbeitsrechtliche Richtlinien nicht auf. Die Rechtsprechung zur inzidenten Richtlinienwirkung goss Wasser auf die Mühlen der sog. Theorie der negativen Richtlinienwirkung.4 Danach soll eine Richtlinie zwischen Privaten zwar keine normersetzende Wirkung („invocabilité de substitution“) dergestalt haben, dass sie positiv an die Stelle nationalen Rechts treten könnte. Sie soll aber stets normkassierende „negative“ Wirkung („invocabilité d’exclusion“) haben, so dass richtlinienwidriges Recht – auch zwischen Privaten – unangewendet zu bleiben hat. Damit ließe sich nicht nur die inzidente Richtlinienwirkung plausibel erklären, sondern wohl auch verallgemeinern. Im deutschen Schrifttum firmiert eine ähnliche Position als „Lehre von der Maßstabsnorm“.5 Gegen diese Lehren, die vor allem mit dem Vorrang der Richtlinie gegenüber einzelstaatlichem Recht argumentieren, spricht der unüberwindbare Einwand, dass eine Richtlinienbestimmung, die im Horizontalverhältnis nicht unmittelbar anwendbar ist, nicht mit nationalem Recht kollidiert (vgl. Rz. 33).6 In diesem Fall befindet sich das Richtlinienrecht normhierarchisch nicht in einem höheren „Stockwerk“ als das nationale Recht, sondern in der anderen „Doppelhaushälfte“.7 Der EuGH ist der Theorie der negativen Richtlinienwirkung zu Recht nicht gefolgt. Mit nicht zu überbietender Deutlichkeit hat er klargestellt, dass das europäische Recht keinen Mechanismus enthält, der es einem nationalen Gericht erlaubt, „von einer Vorschrift einer nicht umgesetzten Richtlinie abweichende nationale Vorschriften zu eliminieren, wenn diese Richtlinienvorschrift nicht vor dem nationalen Gericht in Anspruch genommen werden kann“.8
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Umso erstaunlicher ist, dass das BVerfG im Honeywell-Beschluss unter Hinweis auf die Rs. Unilever ohne nähere Differenzierung ausführt, der EuGH habe anerkannt, „dass richtlinienwidrig erlassene innerstaatliche Normen in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet bleiben müssen“. Mit der Mangold-Ent-
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1 Gundel, EuZW 2001, 143; Jarass/Beljin, EuR 2004, 714 (722 f.); Weatherill, European Law Review 2001, 177. 2 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 – Rz. 20; zur Abgrenzung zur inzidenten Richtlinienwirkung: Coppel, Industrial Law Journal 1997, 69; Langenbucher/Langenbucher, § 1 Rz. 80 f. 3 In diese Richtung EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 – Unilever, Slg. 2000, I-7535 – Rz. 50; vgl. auch Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 58. 4 Begründet von: Timmermans, Common Market Law Review 1979, 533 (544 ff.); ferner GA Léger v. 11.1.2000 – Rs. C-287/98 – Linster, Slg. 2000, I-6917 Rz. 43 ff. und GA Saggio v. 16.12. 1999 – Rs. C-240/98 – Océano Grupo Editorial, Slg. 2000, I-4941 – Rz. 30 (m.w.N.); beschränkt auf die RL 2000/78/EG: GA Bot v. 7.7.2009 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 70 ff.; vgl. auch Lenaerts/Corthout, European Law Review 2006, 287 (291 f.); Tridimas, Yearbook of European Law 2002, 327 (329 ff.); abl. von Danwitz, JZ 2007, 697 (703); Kerwer, NZA 2002, 1316 (1319 f.); ErfK/Wißmann, Vorb AEUV Rz. 22. 5 Statt aller: Bach, JZ 1990, 1108 (1111 ff.). 6 von Danwitz, JZ 2007, 697 (703); Schlachter, ZfA 2007, 249 (256). 7 In Anlehnung an Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (53). 8 EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 – Arcaro, Slg. 1996, I-4705 – Rz. 39 f.; dem folgend: BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02 – NZA 2003, 742 (750); v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08 – NZA 2010, 1020 – Rz. 22.
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
scheidung habe der EuGH „eine weitere Fallgruppe für die sog. ‚negative‘ Wirkung von Richtlinien“ geschaffen.1 Damit wird die Rechtsprechung des EuGH unzutreffend wiedergegeben. Es steht aber nicht zu erwarten, dass der EuGH die „Einladung“ aus Karlsruhe, sich der Theorie der negativen Richtlinienwirkung anzuschließen, annehmen wird.2 b) Richtlinienkonforme Auslegung 142
Nur kurze Zeit nach dem Urteil in der Rs. Marshall entwickelte der EuGH in der Rs. von Colson und Kamann3 eine neue Rechtspflicht der Mitgliedstaaten – genauer: der mitgliedstaatlichen Gerichte –, die die fehlende Horizontalwirkung von Richtlinien kompensieren sollte:4 das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung. Dieses Gebot musste der EuGH freilich extensiv interpretieren, damit es ähnlich intensiv auf das mitgliedstaatliche Recht einwirkt wie die unmittelbare Richtlinienanwendung. Anders als die heftig umstrittene Direktwirkung wurde die neue Auslegungsregel von den mitgliedstaatlichen Gerichten weitgehend akzeptiert. Der Grund hierfür dürfte wohl nicht zuletzt darin liegen, dass sie die einzelstaatlichen Richter nicht dazu verpflichtet, nationale Gesetze zu ignorieren und stattdessen europäische Richtlinien anzuwenden. Die mitgliedstaatlichen Gerichte behielten das letzte Wort bei der Frage, ob und inwieweit das nationale Recht in Überstimmung mit der jeweiligen Richtlinie ausgelegt werden kann.5
143
aa) Grundlagen. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts dem System des AEU-Vertrages immanent.6 Die besondere Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung folgt demgegenüber aus der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie aus Art. 288 Abs. 3 AEUV und dem allgemeinen Gebot der Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV.7 Diese richten sich auch an die mitgliedstaatlichen Gerichte.8 Hieraus folgt zugleich, dass es – trotz des Rubrums der richtlinienkonformen „Auslegung“ – nicht um spezifische Methode zur Interpretation nationalrechtlicher Normen, sondern der Sache nach um eine mittelbare Anwendung europäischer Richtlinien geht. Schon in seiner frühen Judikatur hat der EuGH keinen Zweifel daran gelassen, dass die richtlinienkonforme Auslegung darauf gerichtet ist, dem in der betreffenden Richtlinie vorgesehenen Ziel zum Durchbruch zu verhelfen.9 Die englische Rechtster-
1 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (311 f.). 2 Sagan, ZESAR 2011, 412 (414 f.). 3 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 26; seitdem st. Rspr., EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – Rz. 8; v. 15.5. 2003 – Rs. C-160/01 – Mau, Slg. 2003, I-4791 – Rz. 35 ff.; v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 110 ff.; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 197 ff.; v. 10.3.2011 – Rs. C-109/09 – Deutsche Lufthansa, Slg. 2011, I-1309 – Rz. 52 ff. 4 von Danwitz, JZ 2007, 697 (700); vgl. Mörsdorf, EuR 2009, 219 (222 ff.). 5 Haltern, Europarecht, Rz. 727 und 745. 6 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 Rz. 24. 7 Str., wie hier: Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 78 (m.w.N. auch zu den Gegenmeinungen). 8 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 110. 9 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – Rz. 8.
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Rz. 146
minologie bringt dies treffend zum Ausdruck, indem sie zwischen „direct effect“ (unmittelbarer Anwendung) und „indirect effect“ (richtlinienkonforme Auslegung) differenziert.1 Auch aus der Perspektive des deutschen Rechts dient die richtlinienkonforme Auslegung der Effektuierung europäischer Richtlinien. Sie ist dabei nicht nur mit der verfassungskonformen Auslegung vergleichbar,2 sondern weist auch methodische Parallelen zur Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes auf. Auch bei der richtlinienkonformen Auslegung ist – mit den Worten des BVerfG im Lüth-Urteil3 – gleichsam nach einer „Einbruchstelle“ im nationalen Recht zu fragen, innerhalb derer die zuvor zu ermittelnden Vorgaben der Richtlinie verwirklicht werden können. Dabei zählen Richtlinien nach zutreffender Ansicht zudem zu den Gesetzen i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG, an die die deutschen Gerichte gebunden sind. Die Rechtsprechung ist demzufolge nicht nur unions-, sondern auch verfassungsrechtlich zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet.4
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bb) Reichweite und Grenzen. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung hängt auf der europäischen Ebene nicht von der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie ab und gilt universell sowohl in vertikalen als auch in horizontalen Rechtsverhältnissen.5 Sie hat sogar Vorrang vor einer unmittelbaren Anwendung der Richtlinie, weil es an dem hierfür erforderlichen Umsetzungsdefizit mangeln kann, wenn das einzelstaatliche Recht einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich ist.6 Auf der nationalen Ebene erstreckt sich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auf das gesamte nationale Recht, unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde.7 Das lässt sich nicht auf Tarifverträge übertragen, die nicht der Umsetzung von Richtlinien dienen.8 Zudem steht zwischen der Richtlinie und dem Tarifvertrag das staatliche Gesetzesrecht. Die richtlinienkonforme Auslegung eines nationalen Gesetzes kann mittelbar auf den Tarifvertrag einwirken, weil dieser geltungserhaltend so auszulegen ist, dass er mit dem höherrangigen Gesetzesrecht im Einklang steht.9
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Die außerordentliche Reichweite der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird dadurch gekennzeichnet, dass sie von den mitgliedstaatlichen Gerichten verlangt, das nationale Recht unter voller Ausschöpfung des ihnen zustehenden Beurteilungsspielraums10 „so weit wie möglich“11 im Lichte der Richtlinie auszulegen. Der „positive“ Inhalt dieser Pflicht erschöpft sich darin, die Vorgaben der Richtlinie im Einzelfall zur Geltung zu bringen. Stehen diese – etwa aufgrund einer Vorabentschei-
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Z.B. Craig/de Búrca, S. 191 ff. und 200 ff. Vgl. BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02 – NZA 2003, 742 (747). BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 (206). Riesenhuber/W.-H. Roth, Europäische Methodenlehre, § 14 Rz. 14 (m.w.N.); i.E. Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (774). Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (774); Schlachter, ZfA 2007, 249 (259). EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-237/07 – Janecek, Slg. 2008, I-6221 – Rz. 36; v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 32. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 – Rz. 26. Thüsing, ZIP 2004, 2301 (2304). Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 1500; s. ferner HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 81; Däubler/ Schiek, TVG, Einl. Rz. 385; Wißmann, FS Bepler, S. 649 (655 ff.); weitergehend Dewald, Die Anwendung des Unionsrechts auf den deutschen Tarifvertrag, S. 187 ff.; für eine richtlinienkonforme Auslegung von Tarifverträgen hingegen: Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 297; s. ferner Schaub, FS Wißmann, S. 578 (580 f.); unklar BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08 – NZA 2010, 1020 – Rz. 24 ff. EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 29. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 113.
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Rz. 147
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
dung des EuGH – fest, stellt sich inhaltlich die weitere Frage, welche Normen des nationalen Rechts einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich sein können und ob einer solchen „negativ“ eine Beschränkung entgegensteht.1 147
Zweifelhaft ist der zeitliche Beginn der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. in der Rs. Adeneler hat der EuGH einerseits entschieden, dass sie erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt.2 Andererseits hat er ausgeführt, dass das Frustrationsverbot (vgl. Rz. 115) auch an die mitgliedstaatlichen Gerichte adressiert sei. Deswegen müssten sie es schon ab Inkrafttreten der Richtlinie „so weit wie möglich unterlassen“, das innerstaatliche Recht – nicht nur ein Umsetzungsgesetz (!) – in einer Weise auszulegen, die die rechtzeitige Erreichung des Richtlinienziels ernsthaft gefährden würde.3 Der Unterschied dieser Unterlassungspflicht zum Gebot richtlinienkonformer Auslegung bleibt unklar.4 Ebenso unklar ist, unter welchen Umständen ein vor Ablauf der Umsetzungsfrist ergehendes Judikat eine rechtzeitige Umsetzung der Richtlinie durch den Gesetzgeber behindern oder gar ernstlich gefährden sollte. Dafür reicht der Umstand, dass die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung den Ablauf der Umsetzungsfrist überdauert, jedenfalls dann nicht aus, wenn der Streitgegenstand sich auf die Zeit vor Fristablauf bezieht.5 Letztlich dürfte eine europarechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ein theoretischer Fall sein.6
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Eine andere Frage ist, ob die mitgliedstaatlichen Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist berechtigt sind, eine „richtlinienkonforme“ Auslegung des nationalen Rechts vorzunehmen – genauer: vorwegzunehmen.7 Der BGH und der österreichische OGH bejahen dies recht großzügig sogar dann, wenn es an einem umsetzenden Legislativakt mangelt, obwohl es in diesem Fall zu Kompetenzkonflikten zwischen einzelstaatlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung kommen kann.8 Unproblematisch und der Sache nach geboten ist eine Auslegung im Lichte der Richtlinie hingegen, wenn der nationale Gesetzgeber sie schon vor Ablauf der Frist umsetzt, um eine unterschiedliche Auslegung vor und nach Fristablauf zu vermeiden.9 In beiden Fällen besteht jedenfalls keine unionsrechtliche Verpflichtung, weswegen man insoweit von einer „richtlinienorientierten“ Auslegung sprechen sollte.
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(1) Einzelstaatliche Auslegungsmethoden. In der Praxis werden die methodischen Regeln für die Auslegung des nationalen Rechts einer richtlinienkonformen Auslegung 1 Vgl. Canaris, FS R. Schmidt, S. 41 (51). 2 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u.a., Slg. 2006, I-5057 – Rz. 115; ebenso die h.M.: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rz. 133; Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 80; HWK/Tillmanns, Vorb. AEUV Rz. 23; Streinz, Europarecht, Rz. 502; a.A. ErfK/Wißmann, Vorb AEUV Rz. 36 (vorzeitig bei Inkrafttreten eines ordnungsgemäßen Umsetzungsgesetzes); GA Kokott v. 27.10.2005 – Rs. C-212/04 – Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 – Rz. 52 (Inkrafttreten der Richtlinie). 3 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u.a., Slg. 2006, I-5057 – Rz. 122 f.; fortgesetzt in: EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 – VTB-VAB – Rz. 39. 4 Keinen Unterschied sehen Haltern, Der EuGH v. in der Kritik, S. 25 (47); Preis/Temming, NZA 2008, 1209 (1210 f.); wohl auch GA Tizzano v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 120 ff. Zu dieser Problematik in der Rs. Mangold: Schlachter, ZfA 2007, 249 (263). 5 Anders offenbar Hofmann, JZ 2006, 2113 (2116). 6 Junker/Aldea, EuZW 2007, 13 (15 f.); so auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (28). 7 Zum Ganzen: Riesenhuber/Hofmann, Europäische Methodenlehre, § 16 Rz. 26 ff. (m.w.N.). 8 BGH v. 5.2.1998 – 1 ZR 211/95, BGHZ 138, 55; OGH v. 29.9.1998 – 4 Ob 235/98 – GRUR-Int. 1999, 794; zust. Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507; abl. Ehricke, EuZW 1999, 553 (554 ff.). 9 Ehricke, EuZW 1999, 553 (554); Schlachter, ZfA 2007, 249 (264).
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häufig nicht entgegenstehen.1 Das gilt insbesondere für Umsetzungsgesetze, die speziell der Durchführung einer Richtlinie dienen. Ihr Wortlaut ist der Richtlinie in der Regel zumindest nachempfunden, oftmals wird der Richtlinienwortlaut sogar vollständig übernommen. Der systematische Kontext der nationalen Norm ist wenig bedeutsam. Beispielsweise könnte § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB selbst dann noch richtlinienkonform interpretiert werden, wenn die Vorschrift isoliert in das BetrVG, die ZPO oder gar die StPO überführt würde. Ein Umsetzungsgesetz dient sowohl nach dem Willen des Gesetzgebers2 als auch nach seinem objektiven Zweck der Durchführung der Richtlinie und wird auch aus diesen Gründen in aller Regel in Übereinstimmung mit ihr auszulegen sein. In einer vereinzelten Entscheidung war der EuGH sogar der Ansicht, Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichte zu einer richtlinienkonformen Auslegung „ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten.“3 Der Wille des Gesetzgebers wird praktisch auf die Absicht zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung reduziert.4 Schließlich sind Umsetzungsakte sogar insoweit einer verfassungskonformen Auslegung im Lichte der nationalrechtlichen Grundrechte entzogen, als sie zwingende Vorgaben der europäischen Richtlinie umsetzen.5 Wegen der unbedingten Pflicht zur Richtlinienumsetzung gilt dies sogar unabhängig davon, ob die Richtlinie unmittelbar anwendbar ist oder nicht.6 Etwas anderes ist nur denkbar, wenn die Richtlinie dem einzelstaatlichen Gesetzgeber Ermessensspielräume einräumt. Das gesetzgeberische Ermessen bei der Ausfüllung dieser Spielräume unterliegt nach der Rechtsprechung des BVerfG der Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes.7 Insgesamt reicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung so weit, dass Umsetzungsgesetze nur ihrer Form nach nationales, materiell aber europäisches Recht sind.8 Das wirft die allgemeinere Frage auf, wie sich die richtlinienkonforme Auslegung zum nationalen Auslegungskanon verhält. Nach einem restriktiven Verständnis sollen die einzelstaatlichen Auslegungsmethoden lediglich mit der Maßgabe anzuwenden sein, dass bei der Auswahl unter den nach ihnen vertretbaren Auslegungsergebnissen einem richtlinienkonformen Ergebnis der Vorzug zu geben ist. Die richtlinienkonforme Auslegung soll nur eingreifen, wenn „die herkömmlichen Auslegungsmethoden noch Zweifel lassen.“9 Diese Ansicht ließ sich ursprünglich darauf stützen, dass der EuGH in der Rs. von Colson und Kamann eine richtlinienkonforme Auslegung nur innerhalb des Beurteilungsspielraums verlangte, den das nationale Recht den einzelstaatlichen Gerichten einräumt.10 Es stellte sich jedoch bald darauf das Problem, dass sich die englischen Gerichte zu einer streng wortlautgetreuen Interpretation nationaler Gesetze verpflichtet sahen. Deswegen hätte die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung dort praktisch wirkungslos bleiben müssen, wenn 1 Riesenhuber/W.-H. Roth, Europäische Methodenlehre, § 14 Rz. 39. 2 So schon BGH v. 5.12.1974 – II ZB 11/73, NJW 1975, 213 (214); vgl. Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (49 f.). 3 EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 – Björnekulla Fruktindustrier, Slg. 2004, I-5791 – Rz. 13. 4 Riesenhuber/W.-H. Roth, Europäische Methodenlehre, § 14 Rz. 28. 5 Weitergehend Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (80). 6 Statt aller BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95 ff.). 7 Vgl. BVerfG v. 11.3.2008 – 1 BvR 256/08, BVerfGE 121, 1 (15). 8 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 117. 9 BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 343/03 – NZA 2005, 114 (117); vgl. auch Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 282 ff.; Schnorbus, AcP 201 (2001), 860 (867 ff.); ähnl. Koch, SR 2012, 159 (167); M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung, S. 124 ff.; krit. Grundmann, ZEuP 1996, 399 (415 ff.), der zu Recht moniert, dass die nationalen Auslegungsmethoden stets ein eindeutiges Ergebnis hervorbringen. 10 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 28.
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sie die einzelstaatlichen Auslegungsregeln nicht modifiziert.1 Daher entwickelte der EuGH seine Rechtsprechung fort und verlangte, dass das nationale Recht „so weit wie möglich“ anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie ausgelegt wird.2 Zudem muss das nationale Gericht bei einem Umsetzungsgesetz davon ausgehen, dass der Gesetzgeber „die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“.3 Damit greift die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung schon unmittelbar in den Auslegungsvorgang und nicht erst in die Auswahl des Auslegungsergebnisses ein.4 Könnten die nationalen Auslegungsmethoden als solche einer richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehen, wäre auch kaum erklärlich, welche Funktion die Contra-legemGrenze haben sollte (vgl. Rz. 151 ff.). Deswegen sprechen die besseren Gründe dafür, der richtlinienkonformen Auslegung bis an die Grenze des Contra-legem-Judizierens Vorrang vor den mitgliedstaatlichen Auslegungsmethoden einzuräumen.5 Zumindest haben die nationalen Gerichte im Sinne eines Optimierungsgebots denjenigen Auslegungskriterien den Vorzug zu geben, die im Einzelfall zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führen.6 Als „Einfallstor“ eignet sich insbesondere die teleologische Auslegung.7 Stehen jedoch mehrere Auslegungen des nationalen Rechts mit der Richtlinie und dem sonstigen Unionsrecht im Einklang, ist innerhalb dieses Umsetzungsspielraums allein anhand nationaler Auslegungsmethoden zu entscheiden.8 151
(2) Verbot des Contra-legem-Judizierens. Seine für die Rechtspraxis bedeutsamste Grenze findet das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung darin, dass es die einzelstaatlichen Gerichte nur im Rahmen der ihnen nach dem nationalen Recht zustehenden Kompetenzen bindet.9 Damit sind die verfassungsrechtlichen Prinzipien der richterlichen Gesetzesbindung und der Gewaltenteilung angesprochen, die es den nationalen Gerichten untersagen, an die Stelle des Gesetzgebers zu treten.10 Konkretisiert wird dies mit dem unionsrechtlichen Verbot, die richtlinienkonforme Auslegung zur Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem zu machen.11 Damit soll sichergestellt werden, dass die Union, die ihrerseits gem. Art. 2 EUV dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist, nicht für eine Auslegung mitgliedstaatlicher 1 Zum Hintergrund: Prechal, Directives in EC Law, S. 193 ff. 2 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – Rz. 8; v. 27.6.2000 – Rs. C-240/98 – Océano Grupo Editorial, Slg. 2000, I-4941 – Rz. 30; v. 24.6.2008 – Rs. C-188/07 – Commune de Mesquer, Slg. 2008, I-4501 Rz. 84. Vereinzelt rekurriert der EuGH noch auf den Beurteilungsspielraum der nationalen Gerichte: EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 29; v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-396/08 – Bruno und Pettini, Slg. 2010, I-5119 – Rz. 74. 3 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 112; vgl. BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06 u.a. – NJW 2012, 669 – Rz. 51. 4 Mörsdorf, EuR 2009, 219 (226). 5 So die h.M. mit Unterschieden im Detail: Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (67 ff.); Everling, FS Carstens, S. 95 (101); Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 343 f.; Herresthal, EuZW 2007, 396 (397); Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (775); Langenbucher/Langenbucher, § 1 Rz. 92; Lutter, JZ 1992, 593 (604 f.); Riesenhuber/W.-H. Roth, Europäische Methodenlehre, § 14 Rz. 40 f.; Schlachter, ZfA 2007, 249 (260); a.A. di Fabio, NJW 1990, 947 (949 ff.). 6 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06 u.a. – NJW 2012, 669 Rz. 46. 7 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 352. 8 Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (77 f.). 9 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 110. 10 Höpfner, ZfA 2010, 449 (477). 11 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 – Pupino, Slg. 2005, I-5285 – Rz. 47 (zur „rahmenbeschlusskonformen Auslegung“); v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler u.a. – Slg. 2006, I-6057 – Rz. 110.
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Normen verantwortlich gemacht wird, die deren Sinn ins Gegenteil verkehrt. Trotz dieses unionalen Eigeninteresses daran, dass eine Contra-legem-Auslegung unterbleibt, hängt die konkrete Reichweite dieses Verbots vom nationalen Recht ab, da dessen Auslegung in Rede steht und der EuGH hierfür nicht zuständig ist. Im Einzelnen richtet sich die Contra-legem-Grenze nach den Befugnissen der nationalen Gerichte, die ihnen nach dem jeweiligen Verfassungsrecht zustehen.1 Nicht einen nach der nationalen Methodenlehre abgesteckten „Auslegungsspielraum“, sondern diesen verfassungsrechtlichen „Zuständigkeitsspielraum“ müssen die nationalen Gerichte zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung voll ausschöpfen.2 Weitreichende Konsequenzen für die Praxis hat die überzeugende Rechtsprechung des BAG, nach der die Contra-legem-Grenze nicht als Bindung an den Wortlaut des deutschen Rechts, sondern – in Abgrenzung von judikativen zu legislativen Tätigkeiten – funktionell zu verstehen ist. Sie bezieht sich auf einen Bereich „in dem eine richterliche Rechtsfindung unzulässig ist, weil sie eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen ändern will und damit – nach deutschem Verfassungsrecht – die Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt“.3 Diese Grundsätze verbieten es den Gerichten nicht, das Recht fortzuentwickeln, sofern sie sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Sie müssen gesetzgeberische Grundentscheidungen respektieren und den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgen. Verfassungswidrig ist eine Gesetzesauslegung, die „den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird“.4 Nur auf diese mittelbare Art und Weise beschränkt der nationale Auslegungskanon die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung.5
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Aufgrund dieser Weichenstellung verpflichtet das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung die deutschen Gerichte auch zur verfassungsgemäßen Rechtsfortbildung.6 Das entspricht der Forderung des EuGH, nach im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung bei von Normwidersprüchen diejenigen Auslegungsmethoden einzusetzen, die im nationalen Recht für die Auflösung von Normkollisionen dienen.7 Unklar ist, ob damit nur für Widersprüche zwischen verschiedenen
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1 Vgl. BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06 u.a. – NJW 2012, 669 – Rz. 47 ff.; Canaris, FS R. Schmidt, S. 41 (56). 2 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 28; v. 28.9. 1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 29; v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-396/08 – Bruno und Pettini, Slg. 2010, I-5119 – Rz. 74. 3 BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08 – NZA 2010, 1020 – Rz. 29; in diese Richtung zuvor schon: BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 – Rz. 20 f. im Anschluss an Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (91); enger: BAG v. 15.3.2012 – 8 AZR 37/11 – NZA 2012, 910 – Rz. 58 (eindeutiger Wortlaut und klarer Wille des Gesetzgebers); anders noch: BGH v. 14.10.2003 – XI ZR 134/02, NJW 2004, 154 (klarer Wortlaut); für eine weite Wortlautgrenze: Pötters/Christensen, JZ 2011, 387. Ausf. zum Ganzen: M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung, S. 156 ff. 4 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210). 5 Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (70 f.). 6 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 – Rz. 65; BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 Rz. 21; v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 Rz. 30; ErfK/ Wißmann, Vorb AEUV Rz. 37. 7 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 116; v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 – Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 – Rz. 63.
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Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
Vorschriften des nationalen Rechts gemeint sind,1 oder ob der EuGH insoweit von einer Kollision von Richtlinie und nationalem Recht ausgeht. Letzteres wäre keineswegs selbstverständlich, denn die richtlinienkonforme Auslegung setzt nicht die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie voraus (vgl. Rz. 145). Deswegen liegt nicht notwendigerweise eine „echte“ Kollision der Richtlinie mit dem nationalen Recht vor.2 Wohl aber kollidiert die Pflicht des Staates zur Richtlinienumsetzung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV mit der richtlinienwidrigen Vorschrift nationalen Rechts. Hieraus leitet sich die unionsrechtliche Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Anwendung des nationalen „Kollisionsinstrumentariums“ ab.3 Soweit ihnen für die Interpretation des nationalen Rechts die teleologische Reduktion bzw. Extension oder der Analogieschluss zur Verfügung stehen, sind diese Methoden folglich auch zugunsten der richtlinienkonformen Auslegung zum Einsatz zu bringen.4 154
Umstritten sind die Voraussetzungen, unter denen die für eine Fortbildung des Rechts erforderliche Regelungslücke anzunehmen ist. Die Kernfrage ist, ob diese nur anhand einer isolierten Betrachtung des nationalen Rechts oder aber unter Berücksichtigung des Richtlinienverstoßes festgestellt werden darf. Sowohl der BGH als auch das BAG haben sich für die letztgenannte Lösung ausgesprochen. Sie bejahen eine Regelungslücke, wenn der deutsche Gesetzgeber in der Absicht, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen, ein Gesetz erlässt – oder auch nur aufrecht erhält – und sich dieses hernach aufgrund einer Entscheidung des EuGH als richtlinienwidrig herausstellt.5 Dies rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass die Legislativkompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten aufgeteilt sind. Deswegen kann keiner der Verbände für sich in Anspruch nehmen, seine jeweilige Rechtsordnung gemäß eines eigenen konzisen „Regelungsplans“ auszugestalten. Beide können Ingerenzen des jeweils anderen „Regelungsplans“ nicht verhindern. Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit können nur auf der Ebene der Gesamtrechtsordnung postuliert werden, die sich aus der Summe der europäischen und deutschen Normen zusammensetzt. Sie ist daher der richtige Anknüpfungspunkt für eine in sich stimmige Rechtsfortbildung. Deswegen liegt eine Regelungslücke auch bei dem „systemwidrigen Regelungsdefizit“ vor, das sich aus dem Verstoß des Mitgliedstaates gegen seine Pflicht zur Richtlinienumsetzung ergibt.6 Hierdurch können Divergenzen zwischen Richtlinien und Umsetzungsgesetzen weitgehend verhindert werden. Es lässt sich nicht einwenden, dass der Richtlinie
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So Höpfner, RdA 2013, 16 (22). Zutr. Mörsdorf, EuR 2009, 219 (224): „fiktive Normenkollision“. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 (51); abw. Franzen, JZ 2003, 321 (327). Riesenhuber/W.-H. Roth, Europäische Methodenlehre, § 14 Rz. 30; Schlachter, ZfA 2007, 249 (260 f.). 5 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 – Rz. 67; BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 – Rz. 25; BGH v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 – Rz. 32; vgl. BVerfG v. 17.1.2013 – 1 BvR 121/11 u.a. – NZG 2013, 464, 466; offenbar soll – ohne erkennbaren Grund – anderes gelten, solange es an einer Entscheidung des EuGH mangelt: BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08 – NZA 2010, 1020 – Rz. 30 ff.; für eine isolierte Betrachtung des nationalen Rechts: OLG München v. 20.6.2013 – 14 U 103/13, VersR 2013, 1025 (1028 f.). 6 Grundlegend zum Ganzen: Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (84 ff.); Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 218 ff.; Herresthal, EuZW 2007, 396 (398 f.); i.E. ebenso Langenbucher/Langenbucher, § 1 Rz. 91 ff.; Mörsdorf, EuR 2009, 219 (229); Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 (51 f.); Schlachter, ZfA 2007, 249 (261); krit. Auer, NJW 2007, 1106 (1108); a.A. M. Weber, Grenzen EUrechtskonformer Auslegung, S. 133 f.; für eine Beschränkung auf unmittelbar geltendes Richtlinienrecht: Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (33).
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auf diese Weise verordnungsgleiche Wirkungen zugeschrieben würden.1 Zum einen findet auch bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung unter Berücksichtigung des Richtlinienverstoßes nur das nationale Recht, nicht die Richtlinie unmittelbare Anwendung. Zum anderen dient die richtlinienkonforme Auslegung gerade dazu, die fehlende Horizontalwirkung von Richtlinien auszugleichen und soll dieser möglichst nahe kommen. Auch drohen die nationalen Gerichte anders als im Kontext der herkömmlichen Rechtsfortbildung nicht ihre eigene Wertung an die Stelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu setzen, sondern folgen der Wertung des ebenfalls demokratisch legitimierten Richtliniengebers.2 Ein nennenswerter Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten ist ebenfalls nicht zu erkennen, da diese mit Ablauf der Umsetzungsfrist ohnehin nicht mehr befugt sind, an richtlinienwidrigen Gesetzen festzuhalten.3 Bestehen hingegen deutliche Anhaltspunkte für die Annahme, der Gesetzgeber habe sich bewusst gegen die Vorgaben des europäischen Rechts entschieden, scheidet eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung aus.4 Maßgeblich ist insoweit, ob die ursprüngliche Wertungsentscheidung des Gesetzgebers im jeweiligen Anwendungszeitpunkt trotz der zwischenzeitlichen Entscheidung des EuGH noch aktuell ist, weil er die Umsetzung dieser Entscheidung eindeutig abgelehnt hat.5 Unzulässig ist ferner die Fortbildung einer nationalen Norm, die ihr jeglichen Anwendungsbereich entzieht.6 Das kommt ihrer Aufhebung gleich, die dem Gesetzgeber vorbehalten ist. Fehlt es nach Fristablauf an jeglicher Umsetzung der Richtlinie durch den Gesetzgeber, ist das nationale Recht schon deswegen lückenhaft und im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen richtlinienkonform fortzubilden.7 (3) Vertrauensschutz. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass sie mit Nachteilen und sonstigen belastenden Wirkungen für private Rechtssubjekte verbunden ist.8 Eine besondere Belastung kann sich daraus ergeben, dass Entscheidungen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren lediglich die Auslegung des europäischen Rechts betreffen und diese Auslegung prinzipiell auf den Zeitpunkt zurückwirkt, in dem es in Kraft getreten ist.9 Aus diesem Grundsatz der Rückwirkung10 folgt, dass die richtlinienkonforme Auslegung des einzelstaatlichen Rechts grundsätzlich auch auf die Zeit vor der Verkündung eines entsprechenden Urteils des EuGH – genauer: auf die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist – zurückzubeziehen ist. In diesem Fall können die einzelstaatlichen Gerichte unionsrechtlich verpflichtet sein, eine bislang entgegenstehende Rechtsprechung auch mit Wirkung für die Vergangenheit zu ändern. Deswegen stellt sich die Frage, ob und inwieweit das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung der nationalen Gerichte geschützt wird. Dass 1 2 3 4 5 6
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So aber Höpfner, RdA 2013, 16 (22). Herresthal, EuZW 2007, 396 (399). Unberechtigt daher die Kritik von Höpfner, EuZW 2009, 155 (160). Herresthal, EuZW 2007, 396 (400); Schlachter, ZfA 2007, 249 (261). Herresthal, NJW 2008, 2475 (2477). Auer, NJW 2007, 1106 (1108); Canaris, FS Bydlinski, S. 47 (94); Canaris, FS R. Schmidt, S. 41 (57); Mörsdorf, EuR 2009, 219 (231); M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung, S. 171; vgl. auch BVerfG v. 30.6.1964 – 1 BvL 16/62 u.a. – BVerfGE 18, 97 (111); a.A. Herresthal, EuZW 2007, 396 (400). Riesenhuber/W.-H. Roth, Europäische Methodenlehre, § 14 Rz. 49. Prechal, Directives in EC Law, S. 211 ff.; Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rz. 81; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV Rz. 129; vgl. auch EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rz. 110 ff.; ausf. hierzu Jarass/Beljin, EuR 2004, 714. Statt aller EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 – Barra, Slg. 1988, 355 – Rz. 11. Vgl. Schlachter, ZfA 2007, 249 (265).
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ein solches Vertrauen schutzwürdig sein kann, folgt aus der Überlegung, dass der Einzelne den Zugang zum EuGH nicht in jedem Fall erzwingen kann. Entscheiden die Höchstgerichte, dass ihre Rechtsprechung so offenkundig mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass ausnahmsweise keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht,1 kann der Einzelne eine Überprüfung derselben durch den EuGH nicht durchsetzen (vgl. § 13 Rz. 24 ff., 39 ff.). Folgerichtig muss er im Gegenzug darauf vertrauen dürfen, dass die Rechtsprechung der letztinstanzlichen Gerichte tatsächlich mit dem Unionsrecht im Einklang steht.2 Stellt sich nach einer Entscheidung des EuGH das Gegenteil heraus, kann ihm nicht entgegengehalten werden, er hätte dies vorhersehen müssen. Freilich rechtfertigt die Rückwirkungsproblematik es nicht, schon die Vorfrage nach der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts – allgemein und auch für die Zukunft – zu verneinen.3 156
Der EuGH hat das Problem des Vertrauensschutzes im Kontext der richtlinienkonformen Auslegung längst erkannt. In ständiger Rechtsprechung formuliert er, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sowie insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt wird.4 Damit ist nicht der Weg für eine Anwendung einzelstaatlicher Vorgaben zum Vertrauensschutz geebnet.5 Der EuGH bezieht sich auf unionsprimärrechtliche Rechtsgrundsätze, so dass das Problem der Rückwirkung auf der Ebene des europäischen, nicht des nationalen Rechts zu lösen ist.6 Der Vorrang der europäischen Rechtsgrundsätze kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass man den Vertrauensschutz unter die Contra-legem-Grenze subsumiert.7 Diese tritt vielmehr als eigenständige Schranke zum Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Rückwirkungsverbot hinzu, die in der Rechtsprechung des EuGH lange vor dem jüngeren Verbot des Contra-legem-Judizierens etabliert waren.8
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Unter welchen konkreten Voraussetzungen das europäische Recht eine Beschränkung der rückwirkenden Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gestattet, ist noch nicht geklärt. Auch dies rechtfertigt den Rückgriff auf nationale Vorschriften nicht.9 Im Streitfall ist eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Vertrauensschutz dürfte jedenfalls für Kläger ausgeschlossen sein, die ihre Ansprüche schon vor der Entscheidung des EuGH gerichtlich geltend gemacht haben, aus der sich die Richtlinienwidrigkeit der nationalen Rechsprechung ergibt.10 Besondere Bedeutung kommt der Frage zu, ab welchem Zeitpunkt im Übrigen Vertrauensschutz zu versagen ist. Dabei ist nicht darauf abzustellen, ab wann mit hinreichender Sicherheit eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zu erwarten ist.11 Entscheidend ist, wie lange in die Europarechtskonformität der bisherigen Rechtsprechung vertraut werden darf. 1 2 3 4
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EuGH v. 6.10.1982 – Rs. C-283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 16. Sagan, ZESAR 2011, 412 (415). A.A. Canaris, FS R. Schmidt, S. 41 (58). EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2483 – Rz. 100; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 199; v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 – Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 – Rz. 61; v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Rz. 52. A.A. BAG v. 22.3.2007 – 6 AZR 499/05, NZA 2007, 1101 – Rz. 18; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz, S. 200 f.; Wank, FS Birk, S. 929 (936). Sagan, JbJZRWiss 2010, S. 67 (77 ff.); M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung, S. 142 ff.; i.E. auch Riesenhuber, Anm. zu BAG, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21. So aber wohl Höpfner, RdA 2013, 16 (26). EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 – Rz. 13. Vgl. aber Wißmann, FS Bauer, S. 1161 (1164). Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne, Slg. 1976, 455 – Rz. 74 f. A.A. Höpfner, RdA 2013, 16 (28).
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Stellt sich diese nach einer Entscheidung des EuGH als richtlinienwidrig dar, besteht kein berechtigter Anlass, sich auf ihren Fortbestand zu verlassen. Das gilt aber auch schon dann, wenn die Europarechtskonformität der bisherigen Rechtsprechung durch eine einschlägige Vorlage nach Art. 267 AEUV in Zweifel gezogen wird.1 Mit ihrer Veröffentlichung im europäischen Amtsblatt kann kaum jemals eine Entscheidung des EuGH ausgeschlossen werden, nach der sich die bestehende Rechtsprechung als europarechtswidrig herausstellt. Das BAG greift zur Frage des Vertrauensschutzes hingegen auf das nationalverfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot zurück, das sich aus dem grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzip und Art. 20 Abs. 3 GG ergibt.2 Es hält insbesondere eine Vorlage an den EuGH mit der Begründung für verzichtbar, dass die richtlinienkonforme Auslegung eine Frage des nationalen und nicht des europäischen Rechts sei.3 Dieses formalistische Argument lässt unberücksichtigt, dass die richtlinienkonforme Auslegung zugleich die unionsrechtliche Pflicht der einzelstaatlichen Gerichte aus Art. 288 Abs. 3 AEUV erfüllt und deswegen sehr wohl eine Frage des Unionsrechts ist. Ferner kann das Vertrauen in einen nationalrechtlichen Tatbestand nicht nur nach nationalem Recht geschützt werden. So subsumiert der EuGH sogar das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit eines mitgliedstaatlichen Verwaltungsaktes unter den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit.4 Ebenso wie für die Anwendung der nationalen Grundrechte muss für den Vertrauensschutz gelten, dass der Rückgriff auf das Grundgesetz jedenfalls „solange“ gesperrt ist, wie die Union nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts einen adäquaten Vertrauensschutz bietet. Es wäre daher sehr zu begrüßen, wenn ein Gericht dem EuGH bei nächster Gelegenheit die Frage nach der zutreffenden Rechtsgrundlage für den Vertrauensschutz bei richtlinienkonformer Auslegung vorlegen würde.
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In der Rechtsprechung des BAG hat sich noch keine einheitliche Linie zur Reichweite des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes durchgesetzt. Danach soll im Bereich des Massenentlassungsrechts einerseits das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung bis zu einer Änderung der Verwaltungspraxis der Bundesagentur für Arbeit selbst dann noch schutzwürdig sein, wenn sie bereits vom EuGH für richtlinienwidrig erklärt wurde.5 Anderseits versagt das BAG Vertrauensschutz nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG, weil seine nachfolgende Rechtsprechung gleichsam unter dem Vorbehalt einer Überprüfung am Maßstab des europäischen Rechts gestanden habe (vgl. § 7 Rz. 51).6 Das kommt einer Negation jeglichen Vertrauensschutzes gleich. Dabei wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass das BAG bei Zweifeln an der Vereinbarkeit seiner Rechtsprechung mit der Richtlinie von Amts wegen eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV hätte beschließen müssen. Gerade der Umstand, dass es zu einer solchen Vorlage nicht gekommen ist, musste schutzwürdiges Vertrauen darauf begründen, dass seine Rechtsprechung mit der Richtlinie im Ein-
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1 Zutreffend: BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 – Rz. 74; zust. Schlachter, RdA-Beilage 2009, 31 (36). 2 BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05 – NZA 2006, 971 – Rz. 33; BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07 – NZA 2009, 538 – Rz. 69 ff.; zu Recht abl. Schiek, AuR 2006, 41 (43). 3 BAG v. 12.7.2007 – 2 AZR 492/05 – NZA 2008, 476 – Rz. 32. 4 Statt aller: EuGH v. 13.3.2008 – verb. Rs. C-383/06 bis C-385/06 – Vereniging Nationaal Overlegorgaan Sociale Werkvoorziening u.a., Slg. 2008, I-1561 – Rz. 52. 5 BAG v. 22.3.2007 – 6 AZR 499/05 – NZA 2007, 1101. 6 BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09 – NZA 2010, 810 – Rz. 111; zust. Pötters/Stiebert, ZESAR 2012, 23 (25); allg. Koch, SR 2012, 159 (167).
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klang stand (zum Vertrauensschutz bei primärrechtswidrigen Gesetzen vgl. § 13 Rz. 117 ff.).1 c) Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung 160
Die Rechtsprechung des EuGH zu den innerstaatlichen Wirkungen europäischer Richtlinien fand ihren vorläufigen Schlusspunkt in der Rs. Francovich.2 Scheidet sowohl die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts als auch die unmittelbare Anwendung der europäischen Richtlinie aus, kann der Einzelne nach dieser Entscheidung im Wege der Staatshaftung vom jeweiligen Mitgliedstaat Schadenersatz verlangen.
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Gegenstand der Rs. Francovich war die Klage eines Arbeitnehmers, dessen privater Arbeitgeber insolvent war. Er wandte sich gegen den italienischen Staat und machte geltend, dass ihm ein Schaden entstanden war, weil dieser die Insolvenzrichtlinie 80/987/EWG nicht rechtzeitig umgesetzt hatte. Eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts kam nicht in Betracht. Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie schied ebenfalls aus, da sie den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht bei der Ausgestaltung der in ihr vorgesehenen „Garantieeinrichtung“ einräumte. Dem Einzelnen müsse, so der EuGH, wenn er die ihm nach Unionsrecht zustehenden Rechte nicht vor den nationalen Gerichten geltend machen könne, ein Ersatzanspruch gegen den Staat zustehen. Dabei handelt es sich um einen genuin unionsrechtlichen3 und prinzipiell verschuldensunabhängigen4 Anspruch. Dessen Anerkennung durch den EuGH ist darauf gerichtet, die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber zu einer ordnungs- und fristgemäßen Umsetzung europäischer Richtlinien anzuhalten. Tatsächlich wirkt er sich aber auch auf die richtlinienkonforme Auslegung aus. Können die einzelstaatlichen Gerichte ein Umsetzungsdefizit mittels richtlinienkonformer Auslegung beheben, scheidet der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch aus. Die weitgehende Auslegung des nationalen Rechts im Lichte europäischer Richtlinien dient nicht zuletzt der Vermeidung der Staatshaftung.5
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Im Einzelnen besteht der Staatshaftungsanspruch unter drei Voraussetzungen:6 – Die Richtlinie muss die Verleihung eines hinreichend bestimmbaren7 subjektiven Rechts beinhalten, das sich nicht gegen den Staat richten oder unmittelbar anwendbar sein muss.8 In aller Regel räumen Richtlinien nur Arbeitnehmern Rechte ein, weswegen Arbeitgebern meist schon wegen dieser Voraussetzung kein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch zusteht. – Der Einzelne ist wegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes des Mitgliedstaats gegen die Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV gehindert, sein subjektives Recht vor den einzelstaatlichen Gerichten – im Wege richtlinienkonformer Auslegung oder aufgrund unmittelbarer Richtlinienwirkung – geltend zu ma1 Sagan, JbJZRWiss 2010, S. 67 (89 f.). 2 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 – Rz. 31 ff.; zum Ganzen: Dörr, EuZW 2012, 86. 3 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 – Rz. 41; BGH v. 12.5.2011 – III ZR 59/10 – NZG 2011, 837. 4 EuGH v. 5.3.1996 – Rs. C-46/93 – Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 – Rz. 79. 5 Vgl. Freitag, EuR 2009, 796 (800). 6 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 47; w.N. bei HWK/Tillmanns, Vorb. AEUV Rz. 24 f.; ErfK/Wißmann, Vorb AEUV Rz. 28 ff. 7 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 – Rz. 40. 8 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 – Rz. 28 (zur Richtlinie 85/577/EWG).
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chen. Ein solcher Verstoß liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat die Grenzen, die ihm das Unionsrecht setzt, offenkundig und erheblich überschritten hat. Dabei ist der Verstoß im Hinblick auf seine Schwere und Vorwerfbarkeit im Einzelfall zu würdigen. Hinreichend qualifiziert ist jedenfalls ein Verstoß gegen die bestehende Rechtsprechung des EuGH1 und die verspätete Umsetzung einer Richtlinie2. Ein entsprechender Verstoß kann auch darin liegen, dass ein mitgliedstaatliches Gericht seiner Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. § 13 Rz. 39 ff.).3 – Es muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem mitgliedstaatlichen Umsetzungsdefizit und dem entstandenen Schaden bestehen. Im Übrigen bestimmt sich der haftungsausfüllende Tatbestand ebenso wie die gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs nach nationalem Recht. Dieses muss aber die europarechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität wahren (vgl. Rz. 121 ff.).4 d) Grundrechtskonkretisierende Richtlinien Das jüngste Kapitel zur Effektuierung europäischer Richtlinien in horizontalen Rechtsverhältnissen hat der EuGH mit den Rs. Mangold5 und Kücükdeveci6 aufgeschlagen. Danach ist ein nationales Gesetz in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen, wenn es in den Anwendungsbereich der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG oder einer anderen Richtlinie fällt, gegen das – nunmehr in Art. 21 Abs. 1 GRC kodifizierte – Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen Alters verstößt und nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann (vgl. § 2 Rz. 17 ff.). Die fehlende Horizontalwirkung von Richtlinien soll in dieser Fallgruppe durch die Anwendung der Unionsgrundrechte kompensiert werden, die – im Gegensatz zu Richtlinien – entgegenstehendes nationales Recht auch im Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten zu derogieren vermögen.7 Damit kommt es zwar nicht zu einer unmittelbaren Anwendung von Richtlinien zwischen Privaten,8 doch hat der Verstoß des nationalen Rechts gegen die Richtlinie durchaus präjudizielle Bedeutung für die Grundrechtsverletzung, denn die Richtlinie 2000/78/EG soll eine bloße „Konkretisierung“ des Grundrechts aus Art. 21 Abs. 1 GRC darstellen. Wegen der damit implizit postulierten Identität von Richtlinie und Grundrecht,9 die mit der europäischen Normenhierarchie nicht zu vereinbaren ist,10 soll offenbar jeder Richtlinienverstoß notwendigerweise auch eine Grundrechtsverletzung begründen.
1 EuGH v. 5.3.1996 – Rs. C-46/93 – Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 – Rz. 55 ff. 2 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 (48). 3 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239 – Rz. 30 ff.; v. 13.6.2006 – Rs. C-173/03 – Traghetti del Mediterraneo, Slg. 2006, I-5177 – Rz. 30 ff. 4 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 – Rz. 42 f. 5 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981. 6 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365. 7 Haltern, Der EuGH in der Kritik, S. 25 (38 ff.). 8 Mörsdorf, EuR 2009, 219 (234); Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165 (167 f.); das übersehen Bauer/Arnold, NJW 2006, 6 (9). 9 Vgl. Merten/Papier/Skouris, HGR VI/1, § 157 Rz. 24 („Kohärenz“ zwischen Grundrecht und Sekundärrecht). 10 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 107; Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258 (261); ebenfalls krit. GA Trstenjak v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 154 ff.; Höpfner, ZfA 2010, 449 (453).
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Die Bedeutung dieser Fallgruppe hängt maßgeblich davon ab, für welche Richtlinien und Grundrechte der EuGH ein Konkretisierungsverhältnis annehmen wird. Das dürfte neben dem Alter zunächst für alle anderen in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG genannten Diskriminierungsmerkmale gelten, die sich sämtlich in Art. 21 Abs. 1 GRC wiederfinden.1 Wegen ihrer strukturellen Ähnlichkeit dürfte der EuGH die Konkretisierungsthese auch auf die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG und Art. 21 Abs. 1 GRC sowie auf das Diskriminierungsverbot der Geschlechterrichtlinie 2006/54/EG und Art. 23 GRC übertragen.2 Im Bereich des Urlaubsrechts hat der EuGH die Klägerin in der Rs. Dominguez hingegen für den Fall, dass richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendung ausscheiden sollten, auf den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch verwiesen und nicht verlangt, dass das richtlinienwidrige Gesetzesrecht erforderlichenfalls außer Anwendung bleibt.3 Das lässt darauf schließen, dass der Urlaubsanspruch aus Art. 7 ArbZ-RL keine Konkretisierung des Unionsgrundrechts auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 31 Abs. 2 GRC darstellt. Ausdrücklich hat der EuGH ein Konkretisierungsverhältnis zwischen Art. 3 Abs. 1 UuA-RL und dem Unionsgrundrecht auf Unterrichtung und Anhörung aus Art. 27 GRC abgelehnt und sich dabei auf die Bezugnahme auf das Unionsrecht und einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 27 GRC berufen.4 In einem Rechtsstreit zwischen Privaten führt Art. 27 GRC folglich nicht zur Unanwendbarbeit nationaler Normen, die gegen Art. 3 Abs. 1 UuA-RL verstoßen. Setzt sich diese Linie allgemein durch, ist auch eine zur Unwanwendbarkeit nationaler Gesetze führende Konkretisierung der Art. 16, 28, 30, 34, 35, 36 GRC durch europäische Richtlinien ausgeschlossen, da diese Bestimmungen der Charta ebenso wie Art. 27 auf das Unionrecht und einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Bezug nehmen. Jedenfalls wird für eine Konkretisierung zu verlangen sein, dass sich der Inhalt der jeweils verletzten Richtliniennorm auch aus dem Grundrecht ergibt.5 Insgesamt wäre es zu begrüßen, wenn die bedenkliche Konkretisierungsthese auf das Gleichbehandlungsrecht beschränkt bliebe.6 3. Überschießende Richtlinienumsetzung
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Zuweilen geht der einzelstaatliche Gesetzgeber über die Vorgaben einer Richtlinie hinaus und erstreckt ein Umsetzungsgesetz auf Sachverhalte, die nicht in den – persönlichen, sachlichen oder zeitlichen – Anwendungsbereich der umzusetzenden Richtlinie fallen; sog. überschießende Richtlinienumsetzung.7 Ein Beispiel hierfür ist die Pflicht zur Unterrichtung der einzelnen Arbeitnehmer vor einem Betriebsübergang. In Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL ist eine solche Unterrichtung nur vorgesehen, wenn es unabhängig vom Willen der Arbeitnehmer im Betrieb oder Unternehmen kein Organ der 1 Preis/Temming, NZA 2010, 185 (190). 2 Für Art. 20 GRC: Preis/Temming, NZA 2010, 185 (190); zum Verhältnis von Art. 20 GRC und der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG: Heuschmid/Klauk, SR 2012, 84. 3 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 41 ff.; abw. zuvor: Pötters/Christensen, JZ 2011, 387 (393); Pötters/Stiebert, ZESAR 2012, 23 (28); in diese Richtung wohl auch BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216 – Rz. 29. 4 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – ZIP 2014, 287 – Rz. 44 f. 5 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – ZIP 2014, 287 – Rz. 46. 6 Näher Sagan, ZESAR 2011, 412 (413 f.); ebenfalls krit. Bauer/v. Medem, ZIP 2010, 449 (452); a.A. und für eine Ausdehnung auf Freiheitsrechte der GRC: Preis/Temming, NZA 2010, 185 (190); vgl. auch Winter, FS Bepler, S. 633 (643 ff.). 7 Zum Ganzen: Riesenhuber/Habersack/Mayer, § 15 Rz. 23 ff.; zu den unionsrechtlichen Grenzen: Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444.
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Rz. 167
Arbeitnehmervertretung gibt. Der deutsche Gesetzgeber hat sich hingegen dafür entschieden, die Unterrichtung der einzelnen Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 5 BGB für jeden Betriebs- oder Betriebsteilübergang vorzuschreiben und ist damit über den Anwendungsbereich der europäischen Unterrichtungspflicht hinausgegangen (vgl. § 11 Rz. 210 ff.). Davon abzugrenzen ist der Fall, dass der Gesetzgeber inhaltlich über die Anforderungen einer Richtlinie hinausgeht. Das gilt beispielsweise für den Anspruch des Arbeitnehmers auf eine Verringerung seiner Arbeitszeit nach § 8 TzBfG, da der Arbeitgeber nach § 5 Nr. 3 Buchst. a der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit lediglich verpflichtet sein soll, den Teilzeitwunsch eines Arbeitnehmers zu „berücksichtigen“. In einem solchen Fall hat das europäische Recht für die Auslegung des weitergehenden nationalen Rechts praktisch keine Bedeutung. Bei der überschießenden Richtlinienumsetzung ist im Ausgangspunkt klar, dass derjenige Teil der nationalen Vorschrift, der sich im Anwendungsbereich der Richtlinie befindet, vollumfänglich der Bindung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV unterliegt und daher richtlinienkonform auszulegen ist. Fraglich ist, was für den übrigen Teil der Norm gilt, der auf der autonomen Entscheidung des einzelstaatlichen Gesetzgebers beruht. In diesem Bereich besteht keine unionsrechtliche Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung, so dass sich die Interpretation des „überschießenden“ Normbereichs allein nach nationalem Recht richtet.1 Allerdings sind die einzelstaatlichen Gerichte auch insoweit gem. Art. 267 AEUV zu einer Vorlage an den EuGH berechtigt, aber freilich nicht verpflichtet (vgl. § 13 Rz. 29 ff.).2
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Auf der nationalen Ebene kommen für die Auslegung des überschießenden Normbereichs zwei Alternativen in Betracht. Man kann sich entweder an dem Ergebnis der richtlinienkonformen Auslegung orientieren und die Norm einheitlich auslegen (sog. richtlinienorientierte Auslegung) oder aber die Norm abhängig vom Anwendungsbereich der betreffenden Richtlinie jeweils unterschiedlich auslegen (sog. gespaltene Auslegung). Auch aus dem deutschen Recht ergibt sich keine Pflicht zur richtlinienorientierten Auslegung.3 Für sie spricht aber mit erheblichem Gewicht, dass sich der Gesetzgeber mit der Schaffung einer einheitlichen Vorschrift in aller Regel bewusst für die Erstreckung der Richtlinie über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus entschieden hat.4 Gegen eine gespaltene Auslegung sprechen die Gebote der Normbestimmtheit und Normklarheit, da ein und dieselbe Vorschrift in Abhängigkeit von einer Vorschrift des Unionsrechts unterschiedlich verstanden wird.5 Nicht zu Unrecht ist die gespaltene Auslegung deswegen als äußerst künstliche und nur dem europarechtlich informierten Juristen verständliche Monstrosität bezeichnet worden.6 Allenfalls in Ausnahmefällen wird man unter dem Eindruck besonders schwerwiegender Gründe, zu denen etwa das Gebot der verfassungskonformen Auslegung gehört, eine gespaltene Auslegung vor-
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1 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 – Rz. 33; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 (548 f.). 2 Vgl. EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 – Rz. 33; v. 3.12.1998 – Rs. C-247/97 – Schoonbroodt, Slg. 1998, I-8095 – Rz. 14; v. 11.1.2001 – Rs. C-1/99 – Kofisa Italia, Slg. 2001, I-207 – Rz. 32 f.; s. auch BAG v. 18.4.2012 – 4 AZR 168/10 (A) – NZA 2013, 386 – Rz. 14 ff. 3 Mörsdorf, JZ 2013, 191 (192 ff.); abw. Bärenz, DB 2003, 375 (376). 4 Vgl. BGH v. 9.4.2002 – XI ZR 91/99, NJW 2002, 1881 (1884); Heß, RabelsZ 66 (2002), 470 (486); Staudinger, NJW 2002, 653 (655). 5 S. BVerfG v. 26.7.2005 – 1 BvR 782/94 u.a. – NJW 2005, 2363 (2371). 6 Derleder, ZBB 2002, 202 (207).
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§1
Rz. 168
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
nehmen dürfen.1 Man kann deswegen von einer widerleglichen Vermutung für eine einheitliche Auslegung sprechen.2
Prüfungsschema 168
I.
Vorfrage: Eröffnung des Anwendungsbereichs einer europäischen Richtlinie
II. Richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts – Begründung: Pflicht aller nationalen Gerichte nach Art. 4 Abs. 3 EUV, 288 Abs. 3 AEUV (vgl. Rz. 143) – Inhalt: Auslegung des gesamten nationalen Rechts in Übereinstimmung mit der Richtlinie (vgl. Rz. 145) – Beginn: Ablauf der Umsetzungsfrist (vgl. Rz. 147) 1. Auslegung der Richtlinie – Grundsatz: Autonome, d.h. einheitliche und vom nationalen Recht unabhängige Auslegung (vgl. Rz. 76 f.) a) Wortlaut: alle 24 amtlichen Sprachfassungen (vgl. Rz. 85) b) Systematik: Innere Systematik der Richtlinie, primärrechts- und kompetenzkonforme Auslegung usw. (vgl. Rz. 88 ff.) c) Wille des Richtliniengebers: unverbindliche Erwägungsgründe zur Richtlinie (vgl. Rz. 97) d) Zweck: effet utile im Rahmen der europäischen Integration, der allgemeinen Unionsziele nach Art. 3 EUV und ggf. der sozialpolitischen Ziele nach Art. 151 AEUV (vgl. Rz. 100) – Ausnahme: Nationalrechtliche Auslegung bei Verweis auf das mitgliedstaatliche Recht (vgl. Rz. 77) – Allgemeine Vorgaben für materiell-rechtliche Sanktionen und das gerichtliche Verfahren a) Grundsatz: Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (vgl. Rz. 120) Mangelt es an spezialgesetzlichen Vorgaben im Unionsrecht, richtet sich die Sanktion von Verstößen gegen umgesetztes Richtlinienrecht und das Verfahren zur Geltendmachung von Rechten aus einer Richtlinie nach nationalem Recht b) Grenzen aa) Äquivalenzgrundsatz: Nationale Vorschriften dürfen nicht ungünstiger sein als nach Gegenstand und Rechtsgrund vergleichbare nationale Regelungen (vgl. Rz. 121) bb) Effektivitätsgrundsatz (1) Nationalrechtliche Sanktionen müssen jedenfalls wirksam, abschreckend und verhältnismäßig sein (vgl. Rz. 121) 1 Riesenhuber/Habersack/Mayer, § 15 Rz. 40 ff. (auch zu weiteren Ausnahmen); weitergehend BGH v. 17.10.2012 – VIII ZR 226/11, NJW 2013, 220 – Rz. 15 ff. (zu § 439 Abs. 1 BGB). 2 Riesenhuber/Habersack/Mayer, § 15 Rz. 39; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 (550 f.); a.A. Mörsdorf, JZ 2013, 191 (194).
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(2) Durchsetzung der durch Unionsrecht verliehenen Rechte darf nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (vgl. Rz. 123) 2. Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung a) Unionsprimärrecht: Vertrauensschutz nach allgemeinen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots; str. (vgl. Rz. 156) b) Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung gegenüber nationalen Auslegungsmethoden (vgl. Rz. 150) Subjektiver und objektiver Zweck des nationalen Rechts ist in aller Regel ordnungsgemäße Richtlinienumsetzung zur Vermeidung der unionsrechtlichen Staatshaftung c) Contra-legem-Grenze Funktionelles Verständnis: Ausgeschlossen ist nur Auslegung, die gegen die verfassungsrechtliche Gesetzesbindung der Gerichte und das Gewaltenteilungsprinzip verstößt (vgl. Rz. 152) – Keine Beschränkung auf möglichen Wortsinn des nationalen Gesetzes (vgl. Rz. 152) – Erforderlichenfalls richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, soweit verfassungsrechtlich zulässig (vgl. Rz. 153 f.) 3. Annex: Überschießende Umsetzung von Richtlinien Tatbestand: Nationale Umsetzungsnorm gilt für Sachverhalte, die nicht in den Anwendungsbereich der umzusetzenden Richtlinie fallen (vgl. Rz. 165) – Keine europarechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (vgl. Rz. 166) – Bewusste Entscheidung des Gesetzgebers für einheitliche Regelung spricht für einheitliche „richtlinienorientierte“ Auslegung der nationalen Norm, die nicht nach dem Anwendungsbereich der Richtlinie differenziert (vgl. Rz. 166) – Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV auch zulässig, wenn nur „überschießender“ Teil des nationalen Rechts in Rede steht (vgl. Rz. 166) III. Unmittelbare Anwendung von Richtlinien – Begründung: Nützliche Wirkung und Verbindlichkeit der Richtlinie vs. Verhinderung missbräuchlicher Berufung der Mitgliedstaaten auf Umsetzungsdefizit (vgl. Rz. 126 und 128) – Nur erforderlich, wenn richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich (vgl. Rz. 145) 1. Voraussetzungen – Ablauf der Umsetzungsfrist (vgl. Rz. 131) – Fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie (vgl. Rz. 131) – Richtliniennorm ist inhaltlich unbedingt und hinreichend genau (vgl. Rz. 132) 2. Rechtsfolgen – „Vertikale“ Anwendung gegen den Staat, d.h. alle öffentlichen Arbeitgeber und im Eigentum oder unter der Kontrolle des Staates stehende Unternehmen in privater Rechtsform (vgl. Rz. 133) Sagan
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§1
Rz. 168
Grundlagen des europäischen Arbeitsrechts
– Keine „horizontale“ Anwendung gegenüber privaten Arbeitgebern (vgl. Rz. 135) IV. Unanwendbarkeit nationaler Gesetze – Begründung: Mitgliedstaatlicher Verstoß gegen Unionsgrundrechte (vgl. Rz. 163) 1. Voraussetzungen a) Richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts und unmittelbare Anwendung der Richtlinie nicht möglich (vgl. Rz. 163) b) Nationales Gesetz fällt in den Anwendungsbereich einer Richtlinie, deren Umsetzungsfrist abgelaufen ist (vgl. Rz. 115) c) Nationales Gesetz verstößt gegen Unionsgrundrecht Insbesondere: Verstoß gegen „grundrechtskonkretisierende“ Richtlinie, so dass Richtlinienverstoß zugleich Grundrechtsverletzung begründet (vgl. Rz. 163) Konkretisierungsverhältnis besteht (vgl. Rz. 164): – zwischen Gleichb-RL 2000/78/EG und Art. 21 Abs. 1 GRC – wohl zwischen AntiRass-RL 2000/43/EG und Art. 21 Abs. 1 GRC – wohl zwischen Geschl-RL 2006/54/EG und Art. 23 GRC – nicht zwischen Art. 7 ArbZ-RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC – nicht zwischen Art. 3 Abs. 1 UuA-RL 2002/14/EG und Art. 27 GRC – wohl nicht bei den Art. 16, 27, 28, 30, 34, 35 und 36 GRC 2. Rechtsfolge – Unanwendbarkeit des nationalen Gesetzes auch zwischen Privaten, aber nicht wegen Richtlinienverstoß, sondern wegen Grundrechtsverletzung (vgl. Rz. 163) V. Staatshaftung für fehlerhafte oder verspätete Richtlinienumsetzung – Unionsrechtlicher und prinzipiell verschuldensunabhängiger Anspruch gegen den Mitgliedstaat (vgl. Rz. 161) – Unionsrechtliche Voraussetzungen (vgl. Rz. 162) 1. Hinreichend bestimmtes subjektives Recht des Einzelnen, das sich nicht gegen den Staat richten muss 2. Hinreichend qualifizierter Verstoß des Mitgliedstaats gegen die Umsetzungsverpflichtung 3. Unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Umsetzungsfehler und dem Schaden – Der haftungsausfüllende Tatbestand im Übrigen und die gerichtliche Durchsetzung richten sich nach nationalem Recht (vgl. Rz. 162)
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§2 Die Unionsgrundrechte
I. Entwicklung und Rechtsquellen .
Rz. 1
II. Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte (Art. 51 GRC) . . . . .
8
1. Bindung der EU-Organe . . . . . . .
9
2. Bindung der Mitgliedstaaten . . . . a) Das bisherige case law: Begrenzung auf den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ . . . . b) Die Kücükdeveci-Entscheidung c) Änderungen durch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC („Durchführung des Rechts der Union“)? . . . . . . . .
12 13 17 19
III. Unmittelbare Wirkung und Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . 25 IV. Drittwirkung (horizontale Direktwirkung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 V. Konkretisierung der Unionsgrundrechte durch Sekundärrecht . . . . 38 VI. Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen: SchrankenSchranken (Art. 52 Abs. 1 GRC)
Rz. 2. Wesensgehaltsgarantie (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC) . . . . . . . . . . 48 VII. Prozessuale Durchsetzung: Das arbeitsteilige System des Grundrechtsschutzes in der EU 1. Grundrechtsschutz durch den EuGH a) Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV als Verfassungsbeschwerde des Unionsrechts? . 51 b) Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Mitgliedstaatliche Gerichte als „Juge de l’Union“ . . . . . . . . . . . 62 3. Der EuGH als gesetzlicher Richter i.S.v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG . . 63 4. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1 GRC)
68
VIII. Überblick: Einzelne Grundrechte mit arbeitsrechtlicher Relevanz . . 70 1. Arbeitnehmerseite . . . . . . . . . . 71 2. Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . 79
1. Verhältnismäßigkeit und praktische Konkordanz (Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC) . . . . . . . . . . . . . . 42 Schrifttum: Monografien, Kommentare, Handbücher: Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001; Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006 (zit.: Bearbeiter, in: Heselhaus/Nowak, HdbEuropGR); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, 2009; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004; Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten, 2011; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, 2011; Pötters, Grundrechte und Beschäftigtendatenschutz, 2013; Preedy, Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten, 2005; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen – Eine dogmatische Analyse des Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta, 2008. Aufsätze, Anmerkungen: Bauer/Arnold, Verbot der Altersdiskriminierung – Die BartschEntscheidung des EuGH und ihre Folgen, NJW 2008, 3377; Coppel/O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, Common Market Law Review 1992, 669; Cremer, Grundrechtsverpflichtete und Grundrechtsdimensionen nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, EuGRZ 2011, 545; Denman, The Charter of Fundamental Rights, European Human Rights Law Review 2010, 351; Everling, Die Entstehung einer Europäischen Grundrechtsgemeinschaft, in: Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 167 ff.; Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385;
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§2
Rz. 1
Die Unionsgrundrechte
Junker, Europäische Vorschriften zur Kündigung, EuZA 2014, 143; F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681; Krebber, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das deutsche Individualarbeitsrecht, EuZA 2013, 188; Mancini, The Making of a Constitution for Europe, Common Market Law Review 1989, 595; Müller-Graff, Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten, EuR 2014, 3; Pötters/Traut, Eskalation oder Burgfrieden: Mangold vor dem BVerfG ZESAR 2010, 267; Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht – Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401; Seifert, Die horizontale Wirkung von Grundrechten – Europarechtliche und rechtsvergleichende Überlegungen, EuzW 2011, 696; Seifert, Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299; Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte, 2011; Thüsing, Zur Unanwendbarkeit nationalen Rechts bei Verstoß gegen den europarechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, ZIP 2010, 199; Thüsing/Traut, Zur begrenzten Reichweite der Koalitionsfreiheit im Unionsrecht, RdA 2012, 65; von Arnauld, Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts – Gedanken im Prozess der Konstitutionalisierung Europas, EuR 2003, 191; Willemsen/Sagan, Die Auswirkungen der europäischen Grundrechtecharta auf das deutsche Arbeitsrecht, NZA 2011, 258; Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, 514.
I. Entwicklung und Rechtsquellen 1
Die Grundrechte sind bereits seit rund 40 Jahren als sog. allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrechts) anerkannt und damit ungeschriebener Bestandteil des Primärrechts1 (vgl. § 1 Rz. 23 ff.). Über die Jahrzehnte hat der EuGH einen umfassenden Grundrechtekatalog geschaffen.2 Eine wichtige Quelle sind dabei zunächst die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, sofern sie sich in Struktur und Ziele der Union einfügen.3 Ferner fußt der EuGH die ungeschriebenen Grundrechte auf internationale Verträge zum Schutz der Grund- und Menschenrechte, an die sich die Mitgliedstaaten gebunden haben.4 Vor allem die EMRK ist dabei als eine wichtige Erkenntnisquelle zu erwähnen.5 Ihre besondere Bedeutung für die Entwicklung eines ius commune des europäischen Grundrechtsschutzes wird auch durch Art. 6 Abs. 3 EUV verdeutlicht. Ferner können die bis zum Inkrafttreten des Lissabonvertrages nicht verbindliche Charta der Grundrechte der EU (GRC)6 und weitere internationale Verträge, im arbeitsrechtlichen Kontext etwa die Vereinbarun-
1 Grundlegend EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125; 12.11.1969 – Rs. 29/69 – Stauder, Slg. 1969, 419; vgl. v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; s. ausführlich Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte, 2011, S. 25 ff. 2 Mancini, Common Market Law Review 1989, 595 (611); kritisch Coppel/O’Neill, CMLRev. 1992, 669. 3 EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. 4 Vgl. zu letzterem Aspekt EuGH v. 14.5.1974 – Rs. 4/73 – Nold, Slg. 1974, 491 (502): „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und dass er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. Hiernach kann er keine Maßnahmen als Rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten. Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“ 5 S. etwa EuGH v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 – Rz. 41; v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 – Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 – Rz. 12. 6 ABl. v. 30.3.2010, 2010/C 83/02.
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Entwicklung und Rechtsquellen
§2
Rz. 3
gen im Rahmen der ILO oder die Europäische Sozialcharta, zur Schaffung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen herangezogen werden.1 In Deutschland wurde dieser Prozess der „Entdeckung“ eines Grundrechtekanons durch den EuGH von Seiten des BVerfG aus nationaler, verfassungsrechtlicher Perspektive begleitet.2 Mit ihrer sog. Solange-Rechtsprechung haben die Karlsruher Richter zunächst mangels eines hinreichenden europäischen Grundrechtsschutzes eine eigene Prüfkompetenz für Rechtsakte der Gemeinschaft angenommen (Solange I3). In Solange II4 änderten sie ihre Rechtsprechung und reagierten auf die zwischenzeitliche Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH. Nun gilt: Solange der EuGH einen „wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften […], der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, [generell gewährleistet]“, übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nicht mehr aus. In der Bananenmarkt-Entscheidung5 konkretisierte das BVerfG seine Solange II-Rechtsprechung und errichtete sehr hohe Hürden für die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen Unionsrechtsakte: Es müsse dargelegt werden, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei, und zwar generell, also nicht nur in einem Einzelfall.
2
Weiterentwickelt hat das BVerfG das „Kooperationsverhältnis“6 zwischen Karlsruhe und Luxemburg im Lissabon-Urteil.7 In dieser Entscheidung hat es verfassungsrechtliche Grenzen für den Integrationsprozess aufgezeigt und außerdem die eigene Befugnis begründet, zu überprüfen, ob Rechtsakte der EU aus dem gesteckten Kompetenzrahmen ausbrechen („ausbrechender Rechtsakt“). Ansatzpunkt dieser Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG ist Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Aus Sicht des GG beruht die Wirkung des europäischen Rechts in der deutschen Rechtsordnung auf der Übertragung von deutschen Hoheitsrechten auf die Union durch die jeweiligen Zustimmungsgesetze zu den Verträgen.8 Der Umfang der Kompetenzen der Union kann also nicht über das hinausgehen, was ihr übertragen wurde. Das nationale Zustimmungsgesetz legt somit den äußeren Rahmen der Kompetenzen der Union im Bereich des deutschen Rechts fest. Dies korreliert – aus der Warte des Unionsrechts – mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV). Den vorläufigen Schlusspunkt in dieser Kette von Entscheidungen bildet der Mangold-Beschluss9 (vgl. § 1 Rz. 103 ff.). Konkret ging es hierbei um die Frage, ob die extensive Rechtsprechung des EuGH zu Grundfreiheiten und Grundrechten in der Rs. Mangold einen ausbrechenden
3
1 So stützte der EuGH etwa die Anerkennung eines Streikgrundrechts auf ein ganzes Bündel von internationalen und nationalen Grundrechtsvorschriften, s. hierzu EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 – Viking, Slg. 2007, I-10779 – Rz. 43 f.; v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767. 2 Zusammenfassend zur Entwicklung der Fallpraxis Haltern, Europarecht, Rz. 1045 ff. 3 BVerfG v. 29.5.1972 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271. 4 BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339. 5 BVerfG v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147. 6 Hierzu Pötters/Traut, EuR 2011, 580; Sauer, EuZW 2011, 94. 7 BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08 u.a., BVerfGE 123, 267. 8 Vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 = NZA 2010, 995 – Rz. 53; Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz/Scholz, Art. 23 GG Rz. 68; Sachs/Streinz, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 23 Rz. 61. 9 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286; zustimmend Hamenstädt, EuR 2011, 263; Pötters/Traut, EuR 2011, 580.
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§2
Rz. 4
Die Unionsgrundrechte
Rechtsakt darstellt. Dies hat das BVerfG verneint. Dem ist schon deshalb zuzustimmen, weil die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten als Teil des acquis communautaire immer wieder durch die nationalen Zustimmungsgesetze zu den einzelnen Reformen der Verträge gebilligt wurde. Das BVerfG betont, dass der EuGH durch die Verträge von den Mitgliedstaaten auch die Befugnis übertragen bekommen habe, das Recht im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung fortzubilden.1 Generell schränkten die Karlsruher Richter die Ultra-vires-Kontrolle ein. Ein ausbrechender Rechtsakt komme nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert sei. Das setze voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich sei und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führe. Im Hinblick auf Entscheidungen des EuGH sei es nicht Aufgabe des BVerfG, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen.2 Vor der Annahme eines Utra-vires-Akts müsse zudem dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlungen gegeben werden. 4
Mit Inkrafttreten des Lissabonvertrages am 1.12.2009 kommt nunmehr der GRC verbindliche Wirkung zu. Art. 6 Abs. 1 Halbs. 2 EUV sieht vor, dass „die Charta der Grundrechte und die Verträge […] rechtlich gleichrangig“ sind, d.h. die GRC ist normenhierarchisch als Teil des Primärrechts anzusehen. Damit verfügt das Unionsrecht nun über einen geschriebenen Grundrechtekanon.
5
Die verfügbaren Rechtsquellen sind hierdurch zugleich vielschichtiger geworden,3 denn neben der GRC gelten die richterrechtlich entwickelten Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze weiter (ausdrücklich: Art. 6 Abs. 3 EUV). Gleichwohl dürfte eine kontinuierliche Entwicklung der Grundrechtsdogmatik gewährleistet sein. Die zu einzelnen Grundrechten entwickelten Rechtsprechungslinien können auf vergleichbare Rechte der GRC übertragen werden. Aus der Präambel zur Charta wird deutlich, dass diese keine neuen Grundrechte schaffen sollte, sondern lediglich bestehende Gewährleistungen bestätigt und „sichtbarer“ macht:4 „Zu diesem Zweck ist es notwendig, […] den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden. Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“
1 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 – Rz. 62; vgl. zuvor bereits v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, NJW 1988, 1459, 1462. 2 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 – Rz. 66. 3 Zu problematischen Folgen F. Kirchhof, NJW 2011, 3681, 3686; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Schorkopf, Art. 6 EUV Rz. 56 f.; Huber, NJW 2011, 2385. 4 S. auch Denman, European Human Rights Law Review 2010, 349 (351); Zuleeg, EuGRZ 2000, 514; Meyer, GRC, Präambel Rz. 43 ff.; Jarass, GRC, Präambel Rz. 10.
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Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte
§2
Rz. 8
Die „Scharniernormen“ der Art. 52 f. GRC verzahnen das Grundrechtsregime der GRC mit der EMRK und den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und somit mit den beiden Hauptquellen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts. Nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC haben die in der Charta verbrieften Rechte, „die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, […] die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird.“ Diese Regelung wird durch Art. 53 GRC ergänzt, wonach die Charta ein bereits bestehendes Schutzniveau, das etwa durch die EMRK oder die Verfassungen der Mitgliedstaaten garantiert wird, nicht einschränkt. Kontinuität bei der Interpretation der Unionsgrundrechte wird ferner auch durch Art. 52 Abs. 4 GRC erzielt, wonach diejenigen Grundrechte der Charta, die sich auch aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, „im Einklang mit diesen Überlieferungen“ ausgelegt werden. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Erklärungen zur Schlussakte zum Lissabonvertrag, wonach die Charta die durch die EMRK garantierten sowie sich aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten ergebenden Rechte „bekräftigt“.1
6
In neueren Fällen des EuGH wird deutlich, dass er die Unionsgrundrechte auf all diese Quellen stützt. So verweist er etwa in der Entscheidung in der Rs. Kücükdeveci im Hinblick auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz und das daraus als Unterfall resultierende Verbot der Altersdiskriminierung in erster Linie auf die Leitentscheidung Mangold, in der dieser allgemeine Rechtsgrundsatz „entdeckt“ worden war.2 Neben diesem Case-law-Ansatz3 stützen sich die Luxemburger Richter auch auf Art. 21 GRC als Geltungsgrund für das Verbot der Altersdiskriminierung.4 Ein solches Zusammenziehen mehrerer Rechtsquellen und Maßstäbe geht allerdings teilweise zu Lasten der dogmatischen Klarheit der Grundrechtsprüfung. Von GA Cruz Villalón wird die GRC daher zu Recht zum primären Maßstab erhoben, denn diese habe die ungeschriebenen Grundrechte „positiviert“.5 Dies ist jedenfalls dann die vorzugswürdige Lösung, wenn die GRC speziellere Vorgaben als die anderen Rechtsquellen – wie insbesondere die EMRK – enthält. So sollte etwa das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten in erster Linie am Maßstab des Art. 8 GRC geprüft werden; der Schutz der Privatsphäre nach Art. 7 GRC wird verdrängt und Art. 8 EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR sollten lediglich über Art. 52 Abs. 3 GRC Berücksichtigung finden.6
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II. Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte (Art. 51 GRC) Anders als die nationalen Grundrechte des GG für Deutschland können die Unionsgrundrechte keine universale Geltung in Europa beanspruchen. Sie gelten gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC nur „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ Rein nationale Sachverhalte 1 S. Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13.12.2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, ABl. C 115 v. 9.5.2008, S. 335 (337) unter A. 1., Erklärung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2 EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 20 f. 3 Ausführlich zur Case-law-Dimension des Unionsrechts Pötters/Christensen, JZ 2012, 289; Jacob, Precedents and Case-based Reasoning in the European Court of Justice, 2014, passim. 4 EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 20 f. 5 GA Cruz Villalón v. 19.5.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 29 = BeckRS 2011, 80871. 6 Vgl. Guckelberger, EuZW 2011, 126 (127); Britz, EuGRZ 2009, 1 (2).
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§2
Rz. 9
Die Unionsgrundrechte
sind also nicht vom Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte erfasst. Art. 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 52 Abs. 2 GRC stellen insofern klar, dass die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt und keine neuen Zuständigkeiten begründet.1 1. Bindung der EU-Organe 9
In ihrer klassischen Funktion binden die Unionsgrundrechte zunächst die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU. Dies wird schon in den frühen Entscheidungen des EuGH deutlich: In den Rs. Nold2 und Internationale Handelsgesellschaft,3 in denen die Entwicklung eines ungeschriebenen europäischen Grundrechtekanons angestoßen wurde, ging es um eine Beschränkung der Hoheitsbefugnisse der europäischen Institutionen durch Grundrechte.
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Sofern also seitens der EU Hoheitsgewalt ausgeübt wird, ist die Geltung der Unionsgrundrechte umfassend. Es gibt keinerlei secteurs exclus mehr, vielmehr soll ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet werden.4 Somit unterliegen auch die Bereiche der früheren 2. und 3. Säule (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) nunmehr der Geltung der Unionsgrundrechte. Vor allem für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (heute geregelt in Art. 21–46 EUV) birgt dies erhebliche Sprengkraft.
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Dies illustriert die Leitentscheidung in der Rs. Kadi: In diesem Urteil ging es um Nichtigkeitsklagen gegen zwei Verordnungen, die ihrerseits zur Umsetzung mehrerer Resolutionen des UN-Sicherheitsrates erlassen worden waren. Auf Grundlage dieser Resolutionen sollten u.a. Gelder „eingefroren“ werden, um die Finanzierung des Terrorismus zu unterbinden. Wer hiervon betroffen ist, ergibt sich aus einer vom Sanktionsausschuss des UN-Sicherheitsrats geführten Liste, an die wiederum der Anhang der entsprechenden EU-Verordnungen angepasst wird. Das EuG entschied erstinstanzlich noch, dass man an die Listen des Sicherheitsrats unionsrechtlich gebunden sei und eine Überprüfung am Maßstab der Grundrechte ausscheiden müsse.5 Dem ist der EuGH als Rechtsmittelinstanz jedoch zu Recht nicht gefolgt.6 Die Bindungswirkung des Völkerrechts nach Art. 216 Abs. 2 AEUV könne es keinesfalls erlauben, die systematischen Zusammenhänge in Frage zu stellen, die zu den Grundlagen der Unionsrechtsordnung selbst gehören. Dazu zähle der Schutz der Grundrechte, der die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Unionsrechtsakte im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten durch den Unionsrichter einschließt. Der Vorrang des Völkerrechts auf der Ebene des Unionsrechts würde sich nicht auf das Primärrecht und insbesondere die allgemeinen Grundsätze – zu denen die Grundrechte gehören
1 2 3 4 5
Vgl. auch nahezu wortgleich Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV sowie Abs. 5 der Präambel zur GRC. EuGH v. 14.5.1974 – Rs. 4/73 – Nold, Slg. 1974, 491. EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. Meyer/Borowsky, GRC, Art. 51 Rz. 16. EuG v. 21.9.2005 – Rs. T-315/01 – Kadi, Slg. 2005, II-3649 – Rz. 181 ff., insb. Rz. 190: „Aus dem Vorstehenden folgt ferner, dass die Mitgliedstaaten sowohl nach den Regeln des allgemeinen Völkerrechts als auch nach den spezifischen Bestimmungen des Vertrages berechtigt und sogar verpflichtet sind, jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts – und wäre es eine Bestimmung des Primärrechts oder ein allgemeiner Grundsatz dieses Rechts – unangewendet zu lassen, die der ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Verpflichtungen aufgrund der Charta der Vereinten Nationen entgegenstehen würde.“ 6 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P – Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 – insb. Rz. 304 ff. = NJW 2008, 3697.
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Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte
Rz. 14 § 2
– erstrecken.1 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem auch, dass der EuGH eine Nichtjustiziabilität der Verordnung in Kadi mit der Begründung ablehnt, dass auf Ebene der UN kein hinreichender Grundrechtsschutz gewährleistet werde.2 Insofern bestehen eindeutige Parallelen zur Solange I-Entscheidung des BVerfG.3 2. Bindung der Mitgliedstaaten Für das Arbeitsrecht ist die Bestimmung der Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte von besonderer Bedeutung. Das EU-Arbeitsrecht wird – entsprechend dem allgemeinen Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV; vgl. § 1 Rz. 41) – in erster Linie durch die Mitgliedstaaten vollzogen. Auch im Bereich der Rechtsetzung werden die mitgliedstaatlichen Institutionen als ein „verlängerter Arm“ der Union tätig, denn ganz überwiegend ergeht EU-Arbeitsrecht in Form von Richtlinien, die der nationalen Umsetzung bedürfen.
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a) Das bisherige case law: Begrenzung auf den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ Bei Erlass eines Umsetzungsaktes üben die Organe der Mitgliedstaaten nicht nur nationale Staatsgewalt aus, sondern eben auch hoheitliche Befugnisse, die im Unionsrecht wurzeln. In einer solchen sog. Agency-Situation sind auch die Mitgliedstaaten an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Primärrechts gebunden.4 Im Leiturteil Wachauf5 entschied der EuGH dementsprechend, dass der nationale Gesetzgeber die Unionsgrundrechte beachten muss, wenn er EU-Recht durchführt. Die Ratio dieser Rechtsprechung liegt auf der Hand: Durch die Verlagerung von Vollzug oder Rechtsetzung auf die Ebene der Mitgliedstaaten soll der Schutz durch die europäischen Grundrechte nicht verkürzt werden.6
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In der Entscheidung Bostock7 stellten die Luxemburger Richter klar, dass eine solche Bindung auch dann besteht, wenn den Mitgliedstaaten – etwa bei der Umsetzung einer Richtlinie – ein Entscheidungsspielraum bei der Durchführung des Unionsrechts
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1 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P – Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 – Rz. 308. 2 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P – Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 – Rz. 322: „Eine solche Nichtjustiziabilität, die eine erhebliche Abweichung von dem im EGVertrag vorgesehenen System des gerichtlichen Rechtsschutzes der Grundrechte darstellen würde, erscheint nämlich in Anbetracht dessen, dass das betreffende Verfahren der Überprüfung offenkundig nicht die Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes bietet, nicht gerechtfertigt.“ 3 So auch Sauer, NJW 2008, 3685 (3686). 4 S. bspw. EuGH v. 5.5.1981 – Rs. 804/79 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045 – Rz. 23 ff.; vgl. ausführlich zur Agency-Situation Tettinger/Stern/Ladenburger, Art. 51 Rz. 26; Haltern, Europarecht, Rz. 1098 ff.; vgl. ferner Stern/Everling, 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 167 (176); Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (521, 528); Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 4 Rz. 12; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (6); Heselhaus/Nowak/Nowak, HdbEuropGR, § 6 Rz. 31. 5 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 – Wachauf, Slg. 1989, 2609 – Rz. 19 und 22; vgl. auch Tettinger/ Stern/Ladenburger, Art. 51 Rz. 26. 6 Vgl. Tettinger/Stern/Ladenburger, Art. 51 Rz. 26; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (521, 523); s. auch GA Jacobs v. 27.4.1989 – Rs. 5/88 – Wachauf, Slg. 1989, 2609 – Rz. 22. Haltern, Europarecht, Rz. 1099, Fn. 53, weist zu Recht darauf hin, dass es sich hierbei letztlich um eine Anwendung des Grundsatzes nemo plus iure transferre potest quam ipse habet handelt, denn die europäischen Institutionen hätten selbst auch keine Regelung erlassen können, die gegen Unionsgrundrechte verstößt. 7 EuGH v. 24.3.1994 – Rs. C-2/92 – Bostock, Slg. 1994, I-955.
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§2
Rz. 15
Die Unionsgrundrechte
verbleibt. Später hatte der EuGH die Möglichkeit, in der Rs. Bartsch1 zu präzisieren, dass diese Bindung noch nicht gilt, bevor die Umsetzungsfrist abgelaufen ist. Ein weiterer wesentlicher Schritt war die Entscheidung in der Rs. ERT.2 Der EuGH urteilte, dass bei der Beschränkung von Grundfreiheiten die Unionsgrundrechte im Rahmen der Rechtfertigung zu berücksichtigen sein können. 15
Trotz dieser schrittweisen Erweiterung des Einflussbereichs der Unionsgrundrechte auf nationale Sachverhalte führt die Fallpraxis des EuGH nicht zu einer umfassenden Bindung der nationalen Staatsgewalt an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Primärrechts. Vielmehr verhalten sich die Unionsgrundrechte und die Grundrechtsordnung des GG zueinander wie zwei Kreise, die sich in einem Teilbereich überschneiden, im Übrigen aber unterschiedliche Felder abdecken.3 So stellte der EuGH in der Rs. Cinéthèque klar, dass er „zwar für die Einhaltung der Grundrechte auf dem Gebiet des [Union]srechts zu sorgen“ habe, nicht aber prüfen kann, „ob ein nationales Gesetz, das […] zu einem Bereich gehört, der in das Ermessen des nationalen Gesetzgebers“ fällt, mit Grundrechten vereinbar ist.4 Zusammenfassend lässt sich damit im Hinblick auf die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte festhalten, dass diese nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts besteht.5
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In jüngerer Zeit hat sich die Rechtsprechungspraxis weiterentwickelt und Entscheidungen wie Carpenter6 oder Mangold7 wiesen in Richtung eines sehr weiten Ansatzes.8 Andere Verdikte hingegen schienen dieser Entwicklung nicht zu folgen, so sprachen etwa die Urteile Palacios de la Villa9 und Bartsch10 eher für ein engeres Verständnis. Auf letztere Judikate konnten sich daher Ansichten, die teilweise auch Mangold immer schon eng interpretiert hatten, stützen und ein restriktives Verständnis des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte fordern.11 Bei richtiger Lesart fügt sich aber auch die Mangold-Entscheidung in die klassische Dogmatik des EuGH ein (vgl. § 1 Rz. 103 ff.).12 Auch hier beschränkten die Luxemburger Richter den Einflussbereich der Unionsgrundrechte – wenn auch nur recht beiläufig – explizit auf solche Fälle, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.13 1 EuGH v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 – Bartsch, Slg. 2008, I-7245 – Rz. 25; s. hierzu Bauer/Arnold, NJW 2008, 3377; Bayreuther, EuZW 2008, 698. 2 EuGH v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 – Rz. 41 ff.; zu den weitreichenden Folgen vgl. EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-62/00 – Carpenter, Slg. 2002, I-6279. 3 Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267 (270). 4 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 60/84 u.a. – Cinéthèque, Slg. 1985, 2605 – Rz. 26; vgl. auch EuGH v. 30.9.1987 – Rs. 12/86 – Demirel, Slg. 1987, 3719; s. hierzu auch Mancini, Common Market Law Review 1989, 595 (611); Temple Lang, Legal Issues of European Integration 1991, S. 23 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law, 2. Aufl. 2006, S. 36. 5 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 – Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 – Rz. 13; v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925 – Rz. 42; v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 – Caballero, Slg. 2002, I-11915 – Rz. 31; vgl. Huber, NJW 2011, 2385 (2386). 6 EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-62/00 – Carpenter, Slg. 2002, I-6279. 7 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981. 8 Mangold wurde teilweise als ausbrechender Rechtsakt eingestuft, s. etwa Gerken/Rieble/ Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, 2009 m.w.N.; dagegen jedoch zu Recht BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286. 9 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531. 10 EuGH v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 – Bartsch, Slg. 2008, I-7245. 11 Thüsing, RdA 2008, 51 (52); Bauer/Arnold, NJW 2008, 3377 (3379 f.); GA Mazák v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 136 ff. 12 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286; Thüsing, RdA 2008, 51 (52); Pötters/ Traut, ZESAR 2010, 267. 13 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 75; Bauer/Arnold, NJW 2008, 3377 (3378).
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Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte
Rz. 19 § 2
b) Die Kücükdeveci-Entscheidung Offen geblieben war in Mangold die Frage, ob nur solche nationalen Vorschriften vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst sind, bei denen der Gesetzgeber bewusst zur Durchführung von Unionsrecht gehandelt hat, oder ob dies auch für „Bestandsnormen“ des nationalen Rechts gilt, die ursprünglich nicht zur Durchführung von Unionsrecht erlassen wurden, aber später aufgrund neuer unionsrechtlicher Vorgaben hätten angepasst werden müssen oder das Unionsrecht bereits korrekt „umsetzen“. In Kücükdeveci entschied der EuGH diese Frage dahingehend, dass jede nationale Rechtsnorm, die einen von einer europäischen Richtlinie geregelten Bereich erfasst, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, denn die Richtlinie hat mit Ablauf ihrer Umsetzungsfrist eine entsprechende Ausweitung des Anwendungsbereichs „bewirkt“.1 Mit Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie führt diese also zu einer automatischen Erweiterung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts um die von ihr geregelten Sachverhalte und mithin auch zu einer entsprechenden Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte.
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Diesem Ansatz ist prinzipiell zuzustimmen.2 Die Logik, die der vom EuGH vertretenen Lösung zugrunde liegt, ist, dass die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts nicht davon abhängen kann, ob es ein Mitgliedstaat für notwendig befunden hat, zur Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben tätig zu werden oder nicht. Außerdem würden die Reichweite des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und damit die Geltungskraft der Grundrechte in jedem einzelnen Mitgliedstaat divergieren, denn die Anpassungsbedürftigkeit des nationalen Rechts wird je nach Richtlinie und je nach Mitgliedstaat unterschiedlich sein.3 Überdies leuchtet es ein, dass der EuGH versucht, die Grenzen des Anwendungsbereichs des Unionsrechts einheitlich aus der Warte des Unionsrechts zu bestimmen, da er unionsrechtliche Fragen nur auf Grundlage des (autonom auszulegenden) Unionsrechts beantworten kann. Jeder Sekundärrechtsakt führt also zu einer automatischen Expansion des Anwendungsbereichs des Unionsrechts insgesamt, wobei im Falle von Richtlinien freilich der Ablauf der Umsetzungsfrist abzuwarten ist, da sie erst dann Verbindlichkeit beanspruchen können.4 Insofern besteht eine Parallele zum Gebot der richtlinienkonformen Auslegung, denn auch hier geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das gesamte nationale Recht hiervon erfasst ist, „unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie, um die es geht, erlassen wurde.“5
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c) Änderungen durch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC („Durchführung des Rechts der Union“)? Die dargelegte bisherige Fallpraxis wird durch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC nicht korrigiert. Danach gelten die Bestimmungen der GRC für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der „Durchführung des Rechts der Union“6. 1 EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 25. 2 Vgl. ausführlich Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267 (269); kritisch Thüsing/Horler, Common Market Law Review 2010, 1161. 3 Vgl. Waltermann, EuZA 2010, 541 (548 f.). 4 Vgl. zu diesem Aspekt EuGH v. 23.9.2008 – Rs. C-427/06 – Bartsch, Slg. 2008, I-7245 – Rz. 25; 7.9.2006 – Rs. C-81/05 – Cordero Alonso, Slg. 2006, I-7569 – Rz. 29; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 – VTB-VAB NV, Slg. 2009, I-2949. 5 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057; v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Rz. 51; hierzu Greiner, EuZA 2011, 74 (81 f.). 6 EN: „only when they are implementing Union law“; FR: „uniquement lorsqu’ils mettent en oeuvre le droit de l’Union“.
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§2
Rz. 20
Die Unionsgrundrechte
20
Diese Formulierung macht jedenfalls deutlich, dass mit der GRC keine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte verbunden ist. So stellte der EuGH jüngst in der Rs. Cruciano Siragusa fest, dass er eine nationale Regelung, „die nicht in den Rahmen des Unionsrechts fällt“, nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen könne.1 Dies werde durch die Erläuterungen zu Art. 51 GRC bestätigt, die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 GRC für die Auslegung der Charta gebührend zu berücksichtigen sind. Danach gelte die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Der Begriff der Durchführung des Rechts der Union verlange „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad […], der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.“2 Es sei u.a. zu prüfen, ob mit der nationalen Vorschrift „eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.“3
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Auch das BAG hat bestätigt, dass Streitigkeiten ohne Unionsrechtsbezug nicht in Konformität mit den Unionsgrundrechten ausgestaltet werden müssen.4 Im Vergleich zu den Grundrechten des GG fehlt der GRC ein umfassender und damit auch tendenziell expansiver Charakter. Eine Kündigung, die lediglich an §§ 138, 242 BGB zu messen sei, stelle keinen Sachverhalt dar, bei dem die GRC zu berücksichtigen sei. Art. 30 GRC, wonach jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung hat, ändere somit nichts daran, dass nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die §§ 138, 242 BGB keine Durchführung einer europäischen Richtlinie darstellen und auch keine sonstigen Anknüpfungspunkte an das Unionsrecht aufweisen würden.
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In einem jüngeren Judikat zur Befristung von Arbeitsverhältnissen angestellter Hochschulprofessoren entschied das BAG, dass die Erstberufung eines Professors keine Berührung zum Unionsrecht aufweise.5 Die erstmalige Befristung eines Arbeitsverhältnisses werde nicht durch die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge reguliert. Damit fehle es zugleich an einem unionsrechtlichen Bezug, der nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und damit auch des in Art. 30 GRC niedergelegten Grundrechts auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung begründen könnte.
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Die Entscheidung Cruciano Siragusa macht deutlich, dass der EuGH um Kontinuität in seiner Grundrechtsdogmatik bemüht ist. Der Gerichtshof zitiert ausgiebig die ei1 EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 – Cruciano Siragusa, NVwZ 2014, 575 – Rz. 21 ff.; vgl. zuvor bereits 15.11.2011 – Rs. C-256/11 – Dereci, Slg. 2011, I-11339 – Rz. 71. 2 EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 – Cruciano Siragusa, NVwZ 2014, 575 – Rz. 24; vgl. in diesem Sinne bereits v. 29.5.1997 – Rs. C-299/95 – Kremzow, Slg. 1997, I-2629 – Rz. 16; vgl. ferner aktuell v. 17.9.2014 – Rs. C-562/12 – Liivimaa Lihaveis, BeckRS 2014, 81856 – Rz. 62. 3 EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 – Cruciano Siragusa, NVwZ 2014, 575 – Rz. 25; v. 18.12.1997 – Rs. C-309/96 – Annibaldi, Slg. 1997, I-7493 – Rz. 21 ff.; v. 8.5.2013 – Rs. C-87/12 – Ymeraga, NVwZ-RR 2013, 620 – Rz. 41; vgl. aktuell v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 – Hernández, BeckRS 2014, 81152 – Rz. 37. 4 BAG v. 8.12.2011 – 6 AZN 1371/11, NZA 2012, 286 (287); vgl. zuvor bereits Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258 (259). 5 BAG v. 11.9.2013 – 7 AZR 843/11, NZA 2013, 1352 (1356).
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Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte
Rz. 23 § 2
gene Rechtsprechung, und zwar Judikate, die sowohl vor als auch nach Inkrafttreten des Lissabonvertrages und der damit verbundenen Inkorporation der Charta in das Primärrecht ergangen sind. Außerdem verwendet er teilweise die alte Formel von der Begrenzung auf den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“.1 Auch synonyme Formulierungen finden sich in neueren Entscheidungen: In der Rs. J/Parlament lehnt der EuGH die Anwendbarkeit der Charta ab, da es an einem „engen Zusammenhang mit dem Unionsrecht“ fehle.2 In dem aktuellen Fall Association de médiation sociale bejaht der EuGH die Anwendbarkeit „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“3. All dies lässt vermuten, dass der EuGH insgesamt seine Fallpraxis fortsetzen wird, dass also mit Art. 51 Abs. 1 GRC auch keine Einengung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte verbunden ist. Auch die ERT-Rechtsprechung dürfte weiterhin gelten. In der Rs. Chartry4 lehnt der EuGH eine Durchführung i.S.v. Art. 51 GRC u.a. mit dem Hinweis darauf ab, dass ein Grundfreiheitenbezug fehle. Dies hätte die Anwendbarkeit des Unionsrechts aufgrund der ERT-Rechtsprechung ausgelöst, so dass man davon ausgehen kann, dass diese Fallgruppe weiterhin unter Art. 51 GRC fortgilt. In einem aktuellen Urteil in der Rs. Hernández5 hat der EuGH sogar ausdrücklich davon gesprochen, dass der Begriff der Durchführung in Art. 51 GRC die vor dem Inkrafttreten der Charta entwickelte Rechtsprechung zur Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts bestätigt. Dabei verweist er u.a. auch auf die ERT-Entscheidung.6 In der Rs. NS bejahte der EuGH schließlich die Anwendbarkeit der GRC in einem asylrechtlichen Sachverhalt, bei dem eine Verordnung der EU zur Anwendung kam, die den Mitgliedstaaten bestimmte Ermessenspielräume einräumt. Übt ein Mitgliedstaat dieses Ermessen aus, führt er nach Ansicht des EuGH Unionsrecht durch i.S.v. Art. 51 Abs. 1 GRC.7
1 S. etwa EuGH v. 12.11.2010 – Rs. C-339/10 – Estov, Slg. 2010, I-11465 – Rz. 13 f.; vgl. aktuell auch 10.7.2014 – Rs. C-198/13 – Hernández, BeckRS 2014, 81152 – Rz. 33; ähnlich v. 8.5.2014 – Rs. C-329/13 – Stefan, NVwZ 2014, 865 Rz. 30: „wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“. 2 EuGH v. 14.11.2013 – Rs. C-550/12 P – J/Parlament, BeckRS 2013, 82220 – Rz. 30. 3 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193 – Rz. 42. 4 EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-457/09 – Chartry, Slg. 2011, I-819 – Rz. 23 ff.: „Ferner bestimmt Art. 51 Abs. 1 GRC, dass diese „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. […] Die Vorlageentscheidung [enthält] keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits eine Anknüpfung an das Unionsrecht aufweist. Der Ausgangsrechtsstreit, in dem ein belgischer Staatsangehöriger und der belgische Staat über die Besteuerung von Tätigkeiten streiten, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausgeübt wurden, weist keinerlei Bezug zu einem der durch die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit, den freien Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr geregelten Sachverhalte auf. Er betrifft auch nicht die Anwendung nationaler Maßnahmen, mit denen der betreffende Mitgliedstaat Unionsrecht durchführt.“ 5 EuGH v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 – Hernández, BeckRS 2014, 81152 – Rz. 33 ff. 6 EuGH v. 10.7.2014 – Rs. C-198/13 – Hernández, BeckRS 2014, 81152 – Rz. 33. 7 EuGH v. 21.12.2011 – verb, Rs. C-411/10 und C-493/10 – NS, NVwZ 2012, 417 – Rz. 55 ff., 68.
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§2 24
Rz. 24
Die Unionsgrundrechte
In der Literatur gibt es jedoch auch abweichende Stimmen,1 die eine Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC allein auf die Wachauf-Konstellation2 (vgl. Rz. 12), also auf Fälle der Umsetzung von Unionsrecht, begrenzen wollen. Damit wären insbesondere die ERT-Rechtsprechung und wohl auch Mangold und Kücükdeveci korrigiert bzw. eingeschränkt. Trotz des in der Tat recht engen Wortlauts von Art. 51 Abs. 1 GRC3 ist aber eine weite Auslegung, die das gesamte case law des EuGH mit einbezieht, vorzuziehen. Zwar mag es in der Entstehungsgeschichte einige Anhaltspunkte für eine bewusste Einschränkung der EuGH-Rechtsprechung gegeben haben,4 diese haben sich jedoch nicht in den „gebührend zu berücksichtigenden“5 Erläuterungen zur GRC niedergeschlagen.6 Im Gegenteil: Dort wird auf die gesamte Entwicklung der Fallpraxis Bezug genommen, insbesondere die Entscheidung in der Rs. ERT wird ausdrücklich zitiert.7 Für eine kontinuierliche Fortschreibung der bisherigen Fallpraxis spricht, dass nach dem restriktiven Ansatz unklar wäre, ob die geforderte Einschränkung nur für die geschriebenen Grundrechte der GRC gelten soll oder sich auch auf die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze erstrecken würde.8 Für einen möglichst einheitlichen Maßstab streiten auch die „Scharniernormen“ der Art. 52 f. GRC. In der Präambel zur GRC ist sogar die Rede davon, dass die Charta „den Schutz der Grundrechte stärken“ soll – eine Begrenzung des bisherigen Schutzbereichs ist somit sicherlich nicht intendiert.9
III. Unmittelbare Wirkung und Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Vorschriften 25
Der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung (oder der unmittelbaren Anwendbarkeit bzw. Direktwirkung) des Unionsrechts ermöglicht es Einzelnen, sich unmittelbar vor einem nationalen Gericht auf eine EU-Rechtsvorschrift zu berufen. Das Prinzip 1 S. Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 51 GRC Rz. 17; Meyer/Borowsky, Art. 51 Rz. 24 ff.; wohl auch Huber, NJW 2011, 2385 (2387); Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, 2011, S. 56; vgl. zum gleichlautenden Art. II-51 Abs. 1 Satz 1 des Konventsentwurfs für eine Europäische Verfassung Cremer, NVwZ 2003, 1452; ferner Cremer, EuGRZ 2011, 545 (551); a.A. die wohl h.M., s. Di Federico, The EU Charter of Fundamental Rights – From Declaration to Binding Instrument, 2011, S. 39 f.; Jarass, Art. 51 Rz. 19; instruktiv auch Jarass, NVwZ 2012, 457 (459); ferner Grabenwarter, EuGRZ 2004, 564; Semmelmann, ELRev 2010, 516 (526); Shuibhne, European Law Review 2009, 230 (242); zweifelnd Chalmers/ Monti, European Union Law: Cases and Materials – Updating Supplement, 2008, S. 73 f.; Schwarze/Hatje, Art. 51 GRC Rz. 18; differenzierend Tettinger/Stern/Ladenburger, Art. 51 Rz. 20 ff. 2 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 – Wachauf, Slg. 1989, 2609 – Rz. 19 und 22. 3 Die englische Sprachfassung ist ähnlich eng, der Begriff „implement“ wird regelmäßig ebenfalls nur im Sinne von Umsetzung oder allenfalls im Sinne von Durchführung verstanden (vgl. Semmelmann, European Law Review 2010, 516 (526), die jedoch im Ergebnis zu Recht nicht eine enge Interpretation vertritt; ebenso Shuibhne, European Law Review 2009, 230 (242)). Der französische Wortlaut, der als Verb „mettre en œuvre“ verwendet, ist hingegen weiter, auch hier dürfte es aber sprachlich schwer fallen, etwa noch die ERT-Rechtsprechung diesem Begriff zu subsumieren. 4 S. hierzu ausführlich Meyer/Borowsky, Art. 51 Rz. 2 ff.; ferner Huber, NJW 2011, 2385 (2387). 5 Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV, 52 Abs. 7 GRC. 6 Diesen klaren Widerspruch gestehen auch Anhänger der Gegenansicht ein, s. Meyer/Borowsky, Art. 51 Rz. 30af. 7 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 303 v. 14.12.2007, S. 20, Erläuterung zu Art. 51 GRC. 8 Vgl. Jarass, NVwZ 2012, 457 (459). 9 Ebenso Jarass, NVwZ 2012, 457 (459).
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Unmittelbare Wirkung
Rz. 28 § 2
der unmittelbaren Wirkung ist seit der Leitentscheidung in der Rs. van Gend & Loos1 anerkannt. Bedingung hierfür ist, dass die Verpflichtungen eindeutig, klar und uneingeschränkt sein müssen und keine zusätzlichen Maßnahmen auf nationaler oder EUEbene erfordern dürfen (vgl. § 1 Rz. 28 ff.). Eine unmittelbare Wirkung der Grundfreiheiten und unterschiedlicher Unionsgrundrechte ist seit langem anerkannt.2 Darauf aufbauend dürfte davon auszugehen sein, dass nahezu alle Grundrechte der GRC unmittelbar anwendbar sind. Wenn sogar der recht vage formulierte allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 20, 21 GRC) unmittelbare Wirkung entfaltet,3 dürften auch die übrigen Grundrechte „inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt“ sein.4 Die Unionsgrundrechte sind somit unmittelbar einklagbare Rechte.5
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Etwas anderes dürfte hingegen bei den sog. Grundsätzen der GRC gelten.6 Hierbei handelt es sich nicht um „echte“ Grundrechte, sondern eher um Staatszielbestimmungen.7 Sie können gem. Art. 52 Abs. 5 Satz 2 GRC vor Gericht nur bei der Auslegung sie konkretisierender Rechtsakte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Sie begründen insbesondere keine direkten Ansprüche auf den Erlass positiver Maßnahmen durch die Organe der Union oder die Behörden der Mitgliedstaaten.8 Als Beispiele für Vorschriften der GRC, die lediglich Grundsätze normieren, nennen die Erläuterungen Art. 25 (Rechte älterer Menschen), 26 (Integration von Menschen mit Behinderung) und 37 GRC (Umweltschutz).9 Es handelt sich dabei eher um (sozial-)politische Ziele, die einer Ausgestaltung durch den (Unions-)Gesetzgeber bedürfen, denn um klassische Grundrechte.
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Vorschriften des nationalen Rechts, die gegen unmittelbar wirkende Unionsgrundrechte verstoßen, sind aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts unanwendbar (jedoch nicht nichtig).10 Vorschriften des EU-Sekundärrechts wie insbesondere Richtlinien sind bei einer Verletzung von Unionsgrundrechten aufgrund des Vorrangs des Primärrechts, zu dem die Bestimmungen der GRC ebenso wie die allgemeinen Rechtsgrundsätze uneingeschränkt gehören (Art. 6 EUV), nichtig.11
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1 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (25). 2 Zur unmittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten s. nur EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1; v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921; zur unmittelbaren Wirkung der Unionsgrundrechte s. v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 – Stauder, Slg. 1969, 419; v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365. 3 EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981. 4 A.A. im Hinblick auf das Recht auf bezahlten Jahresurlaub GA Trstenjak v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 – Dominguez, BeckRS 2011, 81367 – Rz. 133 ff. 5 Jarass, Einl. Rz. 51. 6 Für Art. 27 GRC (Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen) zu Recht ablehnend EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193, 195 – Rz. 47 ff. 7 Treffend Seifert, EuzW 2011, 696 (701); Seifert, EuZA 2013, 299 (305). 8 So die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303/20, Erläuterung zu Art. 52. 9 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 303 v. 14.12.2007, S. 20, Erläuterung zu Art. 52. 10 S. nur EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 20 f.; v. 8.9. 2010 – Rs. C-409/06 – Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 – Rz. 58 ff. 11 Hierzu grundlegend EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 – Schecke und Eifert, EuZW 2010, 939; vgl. jüngst auch das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland u.a., NVwZ 2014, 709.
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§2
Rz. 29
Die Unionsgrundrechte
IV. Drittwirkung (horizontale Direktwirkung) 29
Aus der Unanwendbarkeits- bzw. Nichtigkeitsrechtsfolge resultiert zunächst eine „negative Drittwirkung“: Auch in Streitigkeiten zwischen Privaten sind Vorschriften, die gegen Unionsgrundrechte verstoßen, unanwendbar oder – im Falle von EU-Sekundärrecht – nichtig. Dies illustriert die Entscheidung in der Rs. Kücükdeveci, die zur Unanwendbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB in einem privaten Rechtsstreit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin geführt hat.1 Dies stellt jedoch keinen Fall einer Drittwirkung der Grundrechte dar, sondern ist schlicht eine Folge des normenhierarchischen Vorrangs des EU-Primärrechts vor nationalem Recht und EU-Sekundärrecht.
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Eine Entscheidung des EuGH, die sich ausdrücklich mit der Frage einer echten/positiven Drittwirkung der Unionsgrundrechte auseinandersetzt, fehlt bislang. Die Luxemburger Richter scheinen insofern eine ausweichende Strategie zu verfolgen: In der Rs. Dominguez hatte die Generalanwältin Trstenjak ausführlich (und ablehnend) zur Drittwirkung des Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31 Abs. 2 GRC) Stellung bezogen.2 Der EuGH griff dies jedoch in seiner Entscheidung nicht auf, sondern beschränkte sich in seinen Ausführungen auf die sekundärrechtliche Verankerung des Urlaubsanspruchs (Art. 7 ArbZ-RL). Die Richter gingen in Dominguez von einem staatlichen Arbeitgeber aus, so dass die Richtlinie zur unmittelbaren Anwendung kam und sich eine Diskussion über die Drittwirkung des Primärrechts erübrigte. Sie verwiesen zwar als Alternative nur auf einen Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat (vgl. § 1 Rz. 160 ff.); man wird jedoch in diese recht knappen Ausführungen – gerade angesichts der sehr ausführlichen Schlussanträge – nicht hineinlesen können, dass der EuGH implizit die Frage der Drittwirkung des Unionsgrundrechts auf Jahresurlaub verneinend beantworten wollte.3
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Eine ausführliche dogmatische Stellungnahme des EuGH zur Drittwirkung der Grundrechte – wie etwa seitens des BVerfG im Lüth-Urteil4 – wird indes aller Voraussicht nach auch in Zukunft nicht erfolgen. Dies liegt zum einen an dem unterschiedlichen Urteilsstil des EuGH, der in der Tradition französischer Gerichte steht, die einen eher apodiktischen Duktus pflegen. Zum anderen ist die Drittwirkung eine vor allem im deutschen Recht ausgiebig untersuchte Thematik, die in anderen Mitgliedstaaten nicht vergleichbar problematisiert wird. Im Ergebnis dürfte unstreitig sein, dass eine Vielzahl von Grundrechten Wirkung zwischen Privatpersonen entfaltet, und ebenso ist allgemein anerkannt, dass die Maßstäbe zur Bewältigung von Konflikten in horizontalen Rechtsbeziehungen andere sind als im vertikalen Staat/BürgerVerhältnis. Der Generalanwalt Cruz-Villalón bringt es in seinen Schlussanträgen in der Rs. Association de médiation sociale auf den Punkt: „Das Problem der häufig mit dem etablierten deutschen Begriff bezeichneten „Drittwirkung“ ist nicht so sehr die Idee selbst, ihr Begriff oder ihre Existenz in unserer Verfassungskultur, die schwerlich zu bestreiten ist. Das Problem ist das richtige Verständnis ihrer konkreten Wirkung, ein Problem, das sich in dem Maße vergrößert, in dem diese Wirkung fast zwangsläufig proteisch in dem Sinne ist, dass sie ganz unterschiedliche Erscheinungs-
1 EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; vgl. aktuell v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193. 2 GA Trstenjak v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 – Dominguez, BeckRS 2011, 81367 – Rz. 80 ff. 3 Vgl. bereits Pötters, EuZW 2012, 345 (346). 4 BVerfG v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 (200).
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Drittwirkung
Rz. 33 § 2
formen annimmt.“1 Die in der nationalen Dogmatik geläufigen Schlagwörter unmittelbar und mittelbar sind dabei nur wenig hilfreich.2 Auch bei den Bestimmungen der GRC sollte die Möglichkeit einer Drittwirkung grundsätzlich anerkannt werden. Der Wortlaut des Art. 51 GRC spricht zwar prima facie eher gegen eine Bindung Privater an Unionsgrundrechte, denn dort sind zunächst nur die Institutionen und die Mitgliedstaaten angesprochen.3 Daraus kann jedoch nicht zwingend geschlussfolgert werden, dass in jedem Fall eine Drittwirkung ausgeschlossen werden sollte. Der Grundrechtekonvent überließ die Entscheidung derartiger Probleme Rechtsprechung und Literatur;4 auch die Erläuterungen zur Charta klammern diese Thematik aus.5 Im Ergebnis ist der Wortlaut also kein entscheidendes Argument für oder gegen die Anerkennung einer Drittwirkung. Zieht man eine Parallele zu den Grundfreiheiten, so spricht dies für die Anerkennung einer Drittwirkung.6 Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH nach der AngoneseRechtsprechung7 sogar eine unmittelbare Drittwirkung bejaht. Bei einer pauschalen Übertragung der Grundfreiheitenrechtsprechung auf sämtliche Grundrechte ist aber Vorsicht geboten.8 Andere Grundrechtsregime des Europarechts wie insbesondere die in der EMRK verbürgten Rechte binden nur die Mitgliedstaaten, nicht aber Private.9 Auch die EMRK strahlt jedoch auf Privatrechtsverhältnisse aus, wie etwa die zahlreichen Streitigkeiten zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei deliktischen Haftungsfällen im Bereich des Medienrechts belegen.10 Ob man eine solche Form der Drittwirkung nun als mittelbar oder unmittelbar bezeichnet, ist von untergeordneter Bedeutung.
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All dies macht deutlich: Es sollte durch Auslegung der jeweiligen Norm bestimmt werden, ob und inwiefern einem Grundrecht der GRC Drittwirkung zukommt. Bei manchen Grundrechten – wie etwa dem Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art. 19 GRC) – sind eindeutig nur die Mitgliedstaaten und die EU-Organe Adressaten. Gleiches gilt für manche soziale Grundrechte, die eine staatliche Leistung voraussetzen, z.B. das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29 GRC).11 Bei vielen anderen Grundrechten wird man – wie auch bei den Grundfreiheiten – unterschiedliche Wege einer Drittwirkung bejahen müssen, sei es durch eine Schutzpflichtkonstruktion12 oder durch eine Ausstrah-
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1 GA Cruz Villalón v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, BeckRS 2014, 80206 – Rz. 36. 2 Ausführlich Pötters, Grundrechte und Beschäftigtendatenschutz, 2013, S. 65 ff. 3 Vgl. Hilson, European Law Review 2004, 636 (645); Schwarze/Hatje, Art. 51 GRC Rz. 20; GA Trstenjak v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 – Dominguez, BeckRS 2011, 81367 – Rz. 80. 4 Tettinger/Stern/Ladenburger, Art. 51 GRC Rz. 11; Heselhaus/Nowak/Nowak, HdbEuropGR, § 6 Rz. 58. 5 S. Meyer/Meyer, Art. 51 Rz. 31. 6 Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rz. 332 f.; kritisch Jarass, Art. 51 Rz. 24; Ehlers/Ehlers, § 14 Rz. 54. 7 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139. 8 Jarass, Art. 51 Rz. 24; a.A. von der Groeben/Schwarze/Beutler, Art. 6 EU Rz. 66. 9 S. hierzu Grabenwarter, EMRK, 4. Aufl. 2009, § 19 Rz. 14; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rz. 339; vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 51 GRC Rz. 18; Jarass, Art. 51 Rz. 24; Huber, NJW 2011, 2385 (2390). 10 Zu denken ist etwa an die Caroline-Urteile des EGMR; hierzu zusammenfassend Jürgens, NJW 2007, 2517; vgl. aktuell auch EGMR 10.10.2013 – 64569/09 – Delfi, MMR 2014, 35. 11 Seifert, EuZA 2013, 299 (304). 12 Suerbaum, EuR 2003, 390; s. auch Seifert, EuzW 2011, 696 (701), der zu Recht darauf hinweist, dass vom EGMR im Hinblick auf Grundrechte der EMRK begründete Schutzpflichten schon wegen Art. 52 Abs. 3 GRC bei der Auslegung der Grundrechte der GRC beachtet werden müssen.
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§2
Rz. 34
Die Unionsgrundrechte
lungswirkung1 bei der Auslegung des Sekundärrechts bzw. des vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfassten nationalen Rechts.2 Bereits auf diese Weise können die Grundrechte weitreichende Wirkungen in Rechtsbeziehungen zwischen Privaten entfalten.3 34
Dies wird durch die Entscheidungen zum Datenschutzrecht illustriert: Das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC) ist auch im Zivilrecht zu beachten, denn der Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst auch Datenverarbeitungen durch private Stellen (vgl. Art. 3 RL 95/46/EG). Die Datenschutzrichtlinie und die jeweiligen nationalen Umsetzungsakte müssen daher im Lichte der Unionsgrundrechte ausgelegt werden.4 Die Generalklausel des Art. 7 Buchst. f RL 95/46/EG schreibt sogar ausdrücklich eine Grundrechts- und Interessenabwägung als Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Datenverarbeitung vor. In der aktuellen Entscheidung in der Rs. Google Spain5 legte der EuGH die Rechte des von einer Datenverarbeitung Betroffenen6 im Lichte der Unionsgrundrechte sehr weit aus. Danach können Privatpersonen grundsätzlich – gestützt auf nationale Datenschutzvorschriften i.V.m. Art. 8 GRC – von Google die Löschung von Sucheinträgen verlangen, sofern nicht ausnahmsweise die wirtschaftlichen Interessen des (privaten) Suchmaschinenbetreibers oder das öffentliche Informationsinteresse überwiegen.
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Darüber hinaus wird man für einige Grundrechte, die erkennbar gerade auf Privatrechtsverhältnisse zugeschnitten sind, eine Drittwirkung bejahen müssen in dem Sinne, dass Private diese Rechte – sofern der jeweilige Sachverhalt vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst ist – „unmittelbar“ beachten müssen.7 Dies sind in erster Linie soziale Grundrechte: das Verbot der Zwangsarbeit und des Menschenhandels (Art. 5 GRC)8, die Koalitionsfreiheit und das damit verbundene Recht auf Kollektivmaßnahmen (Art. 28 GRC), das Verbot der Kinderarbeit (Art. 32 Abs. 1 GRC)9 und das Recht auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31 Abs. 2 GRC). All dies 1 S. auch Jarass, Art. 51 Rz. 27. 2 Hierzu etwa EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 – Promusicae, Slg. 2008, I-271 – Rz. 62 ff.; v. 24.11.2011 – Rs. C-70/10 – Scarlet Extended, MMR 2012, 174 – Rz. 43 ff.; v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 – Google Spain, NVwZ 2014, 857 (862 f.); v. 27.3.2014 – Rs. C-314/12 – UPC Telekabel Wien, NJW 2014, 1577 – Rz. 46 f. 3 Vgl. treffend Jarass, Art. 51 Rz. 27. 4 Grundlegend EuGH v. 20.5.2003 – verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/91 – Rechnungshof u.a./Österreichischer Rundfunk, Slg. 2003, I-4989 – Rz. 68 ff.; ferner v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 – Promusicae, Slg. 2008, I-271 – Rz. 62 ff.; v. 6.11.2003 – Rs. C-101/01 – Lindqvist, Slg. 2003, I-12971 – Rz. 87; aktuell v. 17.7.2014 – Rs. C-141/12 u.a. – Y. S., NVwZ-RR 2014, 736 – Rz. 54; v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 – Google Spain, NVwZ 2014, 857 (862 f.); vgl. ferner GA Kokott v. 8.5.2008 – Rs. C-73/07 – Tietosuojavaltuutettu, Slg. 2008, I-9831 – Rz. 37. 5 EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 – Google Spain, NVwZ 2014, 857 (862 f.). 6 Konkret ging es um die Rechte auf Auskunft und Widerspruch nach Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a RL 95/46/EG. 7 So auch Jarass, Art. 51 Rz. 25; Magiera, DÖV 2000, 1023 (1025); vgl. auch Ehlers/Ehlers, § 14 Rz. 54, der Art. 5 Abs. 3, 32 Abs. 1 GRC als Beispiele nennt; vgl. ferner Hilson, European Law Review 2004, 636 (645 f.); Meyer/Borowsky, Art. 51 Rz. 31, der auf Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 GRC verweist; s. auch Heselhaus/Nowak/Nowak, HdbEuropGR, § 6 Rz. 58, der auf Art. 24 GRC verweist; anders hingegen Tettinger/Stern/Ladenburger, Art. 51 Rz. 11, der Art. 3 Abs. 2, 5 Abs. 3, 24 Abs. 1 und Abs. 2, 32 Abs. 1 GRC als Beispiele für Bestimmungen nennt, bei denen aufgrund des Wortlauts eine unmittelbare Drittwirkung in Betracht kommt, dies aber i.E. auch für diese Normen ablehnt; vgl. auch Seifert, EuzW 2011, 696 (700 f.); Seifert, EuZA 2013, 299 (303). 8 S. auch Ehlers/Ehlers, § 14 Rz. 54; Magiera, DÖV 2000, 1023 (1025); Seifert, EuzW 2011, 696 (700). 9 Seifert, EuzW 2011, 696 (700).
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Konkretisierung der Unionsgrundrechte durch Sekundärrecht
Rz. 38 § 2
sind Vorschriften, die sich auch und gerade gegen andere Privatpersonen und nicht nur gegen Hoheitsträger der EU oder der Mitgliedstaaten richten. Neben dem Wortlaut dieser Vorschriften sprechen hier teleologische Erwägungen für die Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung, denn typische Grundrechtsgefährdungen entstehen bei diesen Bestimmungen gerade auch durch andere Private. Um die praktische Wirksamkeit (effet utile) zu gewährleisten, müssen Privatpersonen bei solchen Grundrechten daher ebenfalls gebunden sein. Bei der Interpretation der jeweiligen Grundrechtsvorschriften wird man ferner ergänzend auf die nationalen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zurückgreifen können (Art. 52 Abs. 4 GRC). Wenn etwa in mehreren Mitgliedstaaten der Koalitionsfreiheit unmittelbare Drittwirkung zukommt (s. nur Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG für Deutschland), dann spricht dies dafür, dass Gleiches auch für Art. 28 GRC gilt. Die sog. Grundsätze der GRC können hingegen gem. Art. 52 Abs. 5 Satz 2 GRC vor Gericht nur bei der Auslegung sie konkretisierender Rechtsakte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Schon die Annahme einer unmittelbaren Wirkung ist hier abzulehnen (vgl. Rz. 27). Aus ihnen konkrete Rechtsfolgen gegenüber Privatpersonen abzuleiten, verbietet sich mithin erst Recht. So entschied der EuGH in der Rs. Association de médiation sociale, dass aus Art. 27 GRC keine unmittelbaren Ansprüche abgeleitet werden können.1 Das dort geregelte Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen ist schon nach dem klaren Wortlaut konkretisierungsbedürftig („die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind“).
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Als ein caveat gilt es schließlich stets zu beachten: Die wie auch immer geartete Drittwirkung der Grundrechte der GRC gilt nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts bzw. in den Grenzen des Art. 51 GRC.2 Vor allem begründen die Grundrechtsgewährleistungen keine neuen Kompetenzen der EU (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV sowie Art. 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 52 Abs. 2 GRC). So resultiert etwa aus Art. 28 GRC keine Regelungsbefugnis im Bereich des Streikrechts.3 Somit ist es auch dem EuGH verwehrt, ähnlich wie das BAG eine richterrechtliche Streikordnung zu schaffen. Die prinzipielle Anerkennung der Drittwirkung eines Unionsgrundrechts bedeutet also nicht zwingend, dass dieses sich tatsächlich auf viele Privatrechtsverhältnisse auswirkt. Diese kompetenziell bedingten Einschränkungen sind ein wesentlicher Unterschied nicht nur im Vergleich zu den Grundrechten der nationalen Verfassungen, sondern auch zu den Grundfreiheiten, die umfassend im Rahmen des nationalen Rechts zu beachten sind.4
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V. Konkretisierung der Unionsgrundrechte durch Sekundärrecht Während einerseits bei der Auslegung des Sekundärrechts die Grundrechte im Rahmen der Drittwirkung zu beachten sind, so können andererseits sekundärrechtliche Bestimmungen zur Konkretisierung der Unionsgrundrechte herangezogen werden (vgl. § 1 Rz. 163 f.). Leitentscheidung ist insofern das Urteil in der Rs. Kücükdeveci. Der EuGH rekurrierte dort auf die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG 1 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193 – Rz. 42 ff. 2 Vgl. Seifert, EuzW 2011, 696 (701 f.); F. Kirchhof, NJW 2011, 3681 (3684 f.). 3 Vgl. Thüsing/Traut, RdA 2012, 65. 4 F. Kirchhof, NJW 2011, 3681 (3684 f.).
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§2
Rz. 39
Die Unionsgrundrechte
um eine relevante Ungleichbehandlung i.S.d. allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 21 GRC) festzustellen1 und zog die Richtlinie außerdem als Maßstab im Rahmen der Rechtfertigung heran.2 Dadurch wird die fehlende horizontale Direktwirkung von Richtlinien faktisch aufgehoben (vgl. § 1 Rz. 163). So überraschend das Ergebnis in Kücükdeveci auf den ersten Blick gewesen sein mag – die Konkretisierung von Primärrecht durch Sekundärrecht stellt kein Novum dar, welches der EuGH in dieser etwas konstruiert anmutenden Entscheidung erstmalig entwickelt hätte. Vielmehr ist der EuGH bei den Grundfreiheiten bereits mehrfach diesen Weg gegangen. So verwendet er die Maßstäbe der Arbeitnehmerentsenderichtlinie 96/71/EG bei der Prüfung der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeeinträchtigungen.3 Sie regelt nach Ansicht des EuGH abschließend, welche Mindeststandards von den entsendenden Unternehmen seitens des Zielmitgliedstaats gefordert werden können.4 Weder durch staatliche Regelungen noch durch kollektive Maßnahmen können höhere Standards verlangt werden.5 Auch im Vergaberecht konkretisieren die Richtlinien 92/50/EWG und 2004/18/EG die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit.6 39
In der aktuellen Entscheidung in der Rs. Association de médiation sociale7 hat der EuGH jedoch aufgezeigt, dass die Kücükdeveci-Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf sämtliche Bestimmungen der GRC übertragbar ist (vgl. § 1 Rz. 164). In diesem Urteil ging es um das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen gem. Art. 27 GRC. Der entscheidende Unterschied im Vergleich zu Art. 21 GRC bestehe darin, dass Art. 27 GRC nicht unmittelbar anwendbar sei und damit kein subjektives Recht verleihen könne. Darüber helfe auch nicht eine konkretisierende Richtlinie hinweg: „Diese Feststellung kann nicht dadurch entkräftet werden, dass Art. 27 der Charta im Zusammenhang mit den Bestimmungen der RL 2002/14/EG betrachtet wird. Da dieser Artikel nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts anderes gelten.“8 Eine zwingende Prämisse für das sich wechselseitig verstärkende Zusammenspiel von Primär- und Sekundärrecht à la Kücükdeveci ist somit die unmittelbare Wirkung der primärrechtlichen Norm. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH weitere einschränkende Voraussetzungen entwickeln wird oder ob Kücükdeveci für alle unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der GRC gilt. Gegen eine Übertragbarkeit hat sich die Generalanwältin Trstenjak ausgesprochen.9 Sie argumentiert, dass es hierdurch zu einer Vermengung von Rechtsquellen unterschiedlicher Rangordnung 1 Insofern rekurriert der EuGH auf die Definition in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Gleichb-RL 2000/78/EG, s. EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 28 ff. 2 In Bezug auf Diskriminierungen wegen des Alters stützt sich der EuGH auf Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL 2000/78/EG, s. EuGH v. 19.1.2012 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 32 ff. 3 S. EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; vgl. auch EuGH v. 11.12. 2007 – Rs. C-438/05 – Viking, Slg. 2007, I-10779. 4 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 – Rz. 81 ff., 111; EuGH v. 3.4. 2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 33 ff. 5 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 – Rz. 111. 6 Hierzu GA Trstenjak v. 14.4.2010 – Rs. C-271/08 – Kommission/Deutschland, Slg. 2010 I-7091. 7 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193 – Rz. 47 ff. 8 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193 – Rz. 49. 9 GA Trstenjak v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 – Dominguez, BeckRS 2011, 81367 – Rz. 154 ff. und 164 ff.
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Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen
Rz. 42 § 2
komme und dass Bedenken hinsichtlich des Gebots der Rechtssicherheit bestünden, sollte diese Vorgehensweise verallgemeinert werden. Bei einigen Grundrechten liegt jedoch eine Übertragung nahe, so etwa beim Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC).1 Schon die Erläuterungen zur Charta sprechen davon, dass sich dieses Grundrecht u.a. auf die Richtlinie 95/46/EG stützt.2 Das EU-Datenschutzrecht ist außerdem durch vergleichbare Charakteristika gekennzeichnet, wie sie Trstenjak für das Diskriminierungsrecht ausgemacht hat: Wie die Antidiskriminierungsrichtlinien trifft auch die Datenschutzrichtlinie 95/46/EG eine umfassende und weitestgehend abschließende Regelung.3 Ähnlich wie bei dem primärrechtlichen Begriff der Diskriminierung wird man auch im Hinblick auf den Terminus der personenbezogenen Daten annehmen können, dass die Richtlinie nur eine detailliertere Ausformulierung des Primärrechts enthält.
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Allgemein gilt es bei der Übertragung des Kücükdeveci-Ansatzes jedoch stets zu beachten: Die Konkretisierung von Primärrecht durch Sekundärrecht ist nur zulässig, soweit das Sekundärrecht nicht letztlich Reichweite und Inhalt des Primärrechts verbindlich bestimmt.4 Kurzum: Konkretisieren heißt nicht definieren. Wird dies beachtet und werden die jeweiligen Rechtswirkungen dogmatisch sauber getrennt, kommt es auch nicht zu einer Vermengung der Rechtsquellen.
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VI. Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen: Schranken-Schranken (Art. 52 Abs. 1 GRC) 1. Verhältnismäßigkeit und praktische Konkordanz (Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC) Wie auch im nationalen Verfassungsrecht muss bei jeder Einschränkung von Grundrechten der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden. Nach st. Rspr. des EuGH verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört (vgl. § 1 Rz. 23 ff.), dass die von einem Unionsrechtsakt eingesetzten Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sind und nicht über das hierzu Erforderliche hinausgehen.5 Außerdem müssen die durch die 1 In diese Richtung wohl EuGH v. 17.7.2014 – Rs. C-141/12 u.a. – Y. S., NVwZ-RR 2014, 736 – Rz. 55, wonach das Auskunftsrecht des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 GRC durch Art. 12 lit. a) Richtlinie 95/46/EG „durchgeführt“ wird (EN: „implemented“, FR: „mise en œuvre“). 2 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 303 v. 14.12.2007, S. 20, Erläuterung zu Art. 8. 3 Vgl. EuGH v. 24.11.2011 – verb. Rs. C-468/10 und C-469/10 – ASNEF, NZA 2011, 1409. 4 Vgl. hierzu zutreffend GA Bot v. 7.7.2009 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 = ZIP 2009, 1483 Rz. 82 ff.: „Diese Erwägungen stehen meines Erachtens im Einklang mit der Normenhierarchie innerhalb der Rechtsordnung der [Union]. […] Da nämlich die Richtlinie 2000/78 ein Instrument ist, das die konkrete Anwendung des Verbots der Altersdiskriminierung erleichtern, insbesondere den Rechtsschutz für Arbeitnehmer bei Verstoß gegen diesen Grundsatz verbessern soll, kann sie die Tragweite dieses Grundsatzes nicht berühren, auch – und vor allem – nicht nach Ablauf der den Mitgliedstaaten für ihre Umsetzung eingeräumten Frist.“ Vgl. auch die Ausführungen der GA Trstenjak v. 14.4.2010 – Rs. C-271/08 – Kommission/Deutschland, BeckEuRS 2010, 511233 – Rz. 177; vgl. aus der Rspr. des EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 29; ferner v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 – Jenkins, Slg. 1981, 911 – Rz. 22. 5 EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland u.a., NVwZ 2014, 709 = EuZW 2014, 459, 462 – Rz. 46; v. 17.10.2013 – Rs. C-291/12 – Schwarz, NVwZ 2014, 435 – Rz. 34; v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 – Schecke und Eifert, EuZW 2010, 939, 943 – Rz. 74; 8.6.2010 – Rs. C-58/08 – Vodafone, EuZW 2010, 539 – Rz. 51; v. 6.12.2005 – verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04 – ABNA u.a., Slg. 2005, I-10423 – Rz. 68.
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§2
Rz. 43
Die Unionsgrundrechte
fragliche Maßnahme bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.1 Die Verhältnismäßigkeit ist nicht nur ein allgemeiner Rechtsgrundsatz,2 sondern nunmehr auch in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC festgeschrieben: „Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ 43
Im Hinblick auf Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC gilt, was oben (vgl. Rz. 5, 19 ff.) bereits zu den einzelnen Grundrechten dargelegt wurde: Die in der GRC positivierten allgemeinen Rechtgrundsätze sind in Kontinuität zur bisherigen Grundrechtsdogmatik weiterzuentwickeln.3 Es kann also auf das case law vor Inkrafttreten des Lissabonvertrages zurückgegriffen werden. Dies bedeutet, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung in vier gedankliche Prüfschritte4 – wie sie sich auch im nationalen Verfassungsrecht etabliert haben – aufgeteilt werden sollte: – legitimes Ziel („…von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“), – Geeignetheit, – Erforderlichkeit, – Angemessenheit.
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Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Einhaltung dieser Voraussetzungen betrifft, hat der EuGH dem EU-Gesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen zugebilligt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit der zur Zielerreichung vorgesehenen Maßnahmen. Die legislative Tätigkeit verlange sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen, bei denen der Gesetzgeber komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen müsse. Es gehe somit nicht darum, ob eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; ein Rechtsakt sei vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn er zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist.5 Diese Rechtsprechung entspricht der ständigen Fallpraxis des BVerfG, das dem nationalen Gesetzgeber ebenfalls eine weite Einschätzungsprärogative einräumt. Selbst wenn der Gesetzgeber aber über eine solche Befugnis verfügt, ist er doch verpflichtet, seine Entscheidung auf objektive Kriterien zu stützen.6
1 EuGH v. 8.6.2010 – Rs. C-343/09 – Afton Chemical, Slg. 2010, I-7027 – Rz. 45; v. 21.7.2011 – Rs. C-15/10 – Etimine, BeckRS 2011, 81146 – Rz. 124; v. 11.7.1989 – Rs. 265/87 – Schräder, Slg. 1989, 2237 – Rz. 21. 2 S. nur EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-184/02 – Spanien/P, Slg.2004, I-778 – Rz. 52; v. 6.12.2005 – verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04 – ABNA u.a., Slg. 2005, I-10423 – Rz. 87; vgl. aktuell v. 9.11.2010 – Rs. C-92/09 und C-93/09 – Schecke und Eifert, EuZW 2010, 939 – Rz. 74 ff. 3 Vgl. Jarass, Art. 52 Rz. 36; Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 52 GRC Rz. 65 ff. 4 Ausführlich Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 52 GRC Rz. 65 ff. 5 EuGH v. 8.6.2010 – Rs. C-58/08 -Vodafone, EuZW 2010, 539 – Rz. 52 f.; v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 – Rz. 123. 6 EuGH v. 8.6.2010 – Rs. C-58/08 -Vodafone, EuZW 2010, 539 – Rz. 52 f.; v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 – Rz. 123.
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Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen
Rz. 47 § 2
Die Prüfdichte ist außerdem variabel: Sie ist umso höher je gewichtiger die Grundrechtsbeeinträchtigung ist.1 So stellt etwa die Vorratsdatenspeicherung einen schweren Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC) und des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 GRC) dar. Hier verlangt der EuGH, dass sich „die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Notwendige beschränken müssen.“2 Außerdem müsse die Unionsregelung „klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der fraglichen Maßnahme vorsehen und Mindestanforderungen aufstellen, so dass die Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert wurden, über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang zu diesen Daten und jeder unberechtigten Nutzung ermöglichen.“3 Sowohl die Anforderungen an die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer staatlichen Maßnahme als auch an die Bestimmtheit der fraglichen Normen steigen also mit zunehmender Eingriffsintensität. Diese Grundsätze sind ebenfalls im nationalen Verfassungsrecht bekannt.4
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Die vierstufige Verhältnismäßigkeitsprüfung ist bei Interessenkollisionen im Rahmen der Drittwirkung der Grundrechte zu modifizieren. Verschiedene Grundrechtspositionen sind im Wege praktischer Konkordanz einem möglichst schonenden Ausgleich zuzuführen. An die Stelle des vom Hoheitsträger verfolgten (legitimen) Zwecks treten im horizontalen Verhältnis die Rechte, Interessen und Freiheiten des jeweils anderen Grundrechtsträgers. Da der gesetzgeberische Zweck als Bezugspunkt im horizontalen Verhältnis fehlt, entfallen regelmäßig auch die klassischen Überlegungen zur Geeignetheit und Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffs.5 Ein weiterer Unterschied, der hinsichtlich der Drittwirkung im Vergleich zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit einer hoheitlichen Maßnahme zu berücksichtigen ist, liegt darin, dass es keine Vorrangregel für Zweifelsfälle gibt; der Grundsatz in dubio pro libertate gilt mithin nicht.6 Beide Seiten können sich auf die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten berufen, eine feste Rangordnung zwischen den einzelnen Verfassungswerten gibt es nicht.7
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Die Abwägung zwischen kollidierenden Grundrechten und Interessen kann nur einzelfallbezogen erfolgen.8 Die konkrete Gewichtung der verschiedenen Positionen sollte dabei den mitgliedstaatlichen Gerichten überlassen werden. Eine solche Handhabe kann sich auf wichtige Urteile wie Omega9 oder Familiapress10 stützen. Die
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1 EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland u.a., NVwZ 2014, 709 = EuZW 2014, 459 – Rz. 47. 2 EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland u.a., NVwZ 2014, 709 = EuZW 2014, 459 Rz. 52 m.w.N.; vgl. auch v. 17.10.2013 – Rs. C-291/12 – Schwarz, NVwZ 2014, 435 zur Speicherung biometrischer Daten im Reisepass. 3 EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 – Digital Rights Ireland u.a., NVwZ 2014, 709 = EuZW 2014, 459 Rz. 554 f. 4 S. etwa BVerfG v. 27.2.2008 – 1 BvR 370, 595/07, BVerfGE 120, 274 m.w.N. zur st. Rspr. 5 Vgl. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (19 f.); Isensee/Kirchhof/Rüfner, HandbStR V, 1992, § 117 Rz. 70. 6 Isensee/Kirchhof/Rüfner, HandbStR V, 1992, § 117 Rz. 70. 7 Vgl. hierzu aus dem nationalen Verfassungsrecht BVerfG v. 27.11.1990 – BvR 402/87, BVerfGE 83, 130 (143). 8 EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-101/01 – Lindqvist, Slg. 2003, I-12971 Rz. 85; vgl. ferner GA Kokott v. 8.5.2008 – Rs. C-73/07 – Tietosuojavaltuutettu, Slg. 2008, I-9831 – Rz. 46 ff. 9 EuGH v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 – Omega, Slg. 2004, I-9609 – Rz. 37 ff. 10 EuGH v. 26.6.1997 – Rs. C-368/95 – Familiapress, Slg. 1997, I-3689 – Rz. 26.
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§2
Rz. 48
Die Unionsgrundrechte
Entscheidungen in den Rs. Viking und Laval1 wiesen zwar eher in eine andere Richtung;2 aktuellere Verdikte, insbesondere zum Datenschutzrecht, bestätigen jedoch die eher großzügige Linie.3 Ein Einschätzungsspielraum für die mitgliedstaatlichen Gerichte bedeutet freilich nicht, dass diese befugt wären, konkrete unionsrechtliche Topoi selbständig zu interpretieren. Unionsrechtliche Begriffe sind autonom auszulegen und verbindliche Vorgaben kann insoweit allein der EuGH machen (vgl. § 1 Rz. 76 ff.). Dies hat zur Folge, dass die Auslegung qualifizierter Schranken Aufgabe des EuGH ist, während den mitgliedstaatlichen Gerichten die Interpretationsarbeit und die Abwägungsvorgänge auf der Ebene der Schranken-Schranken überantwortet ist. Entscheidungen zum Diskriminierungsrecht verdeutlichen diese Arbeitsteilung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten: Eine unmittelbare Diskriminierung ist regelmäßig nur gerechtfertigt, wenn das Merkmal eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ (vgl. Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL) darstellt. Diese qualifizierte Schranke wird vom EuGH selbst geprüft.4 Eine nur mittelbare Geschlechtsdiskriminierung kann hingegen durch kollidierende legitime Ziele gerechtfertigt sein (vgl. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Gleichb-RL). Hier prüft der EuGH das Vorliegen eines – nach dem Unionsrecht – legitimen Ziels,5 während die Abwägung von den nationalen Gerichten durchzuführen ist.6 2. Wesensgehaltsgarantie (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC) 48
Jede einschränkende Regelung muss ferner gem. Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts achten. Dieses Gebot ist vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu trennen (absolute Theorie).7 Schon im Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRC wird die selbständige Bedeutung deutlich, denn Verhältnismäßigkeitsprinzip und Wesensgehaltsgarantie sind in unterschiedlichen Sätzen geregelt. In den Erläuterungen zur GRC findet sich der Hinweis, „dass die Würde des Menschen zum Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört.“8 Dies deutet darauf hin, dass – ähnlich wie teilweise im nationalen Verfassungsrecht zu Art. 19 Abs. 2 GG vertreten wird – der Wesensgehalt sich mit der Menschenwürdedimension deckt.
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In der Rechtsprechung des EuGH geht die Wesensgehaltsgarantie hingegen in der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf (relative Theorie).9 Der Wesensgehalt wird danach bei 1 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 – Viking, Slg. 2007, I-10779 – Rz. 43 f.; v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767. 2 Vgl. hierzu Barnard, Cambridge Law Journal 2008, 262 (264): „The ECJ then applied the strictest form of the proportionality test, unmitigated by any references to margin of appreciation.“ Vgl. auch Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10 (18). 3 EuGH v. 24.11.2011 – verb. Rs. C-468/10 und C-469/10 – ASNEF und FECEMD, NZA 2011, 1409 – Rz. 35 ff.; zuvor bereits EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-101/01 – Lindqvist, Slg. 2003, I-12971 – Rz. 85; vgl. treffend auch GA Kokott v. 8.5.2008 – Rs. C-73/07 – Tietosuojavaltuutettu, Slg. 2008, I-9831 – Rz. 46 ff. 4 S. etwa EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, NJW 2011, 3209 – Rz. 65–76; vgl. zuvor bereits 2.2.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 35 ff. 5 Vgl. EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 77 ff. = NJW 2011, 3209. 6 Vgl. etwa EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 71 ff.; ferner 23.10.2003 – Rs. C-4/02 – Schönheit, Slg. 2003, I-12575 – Rz. 82. 7 Jarass, GRCh, Art. 52 Rz. 45; vgl. auch Meyer/Borowsky, Art. 51 Rz. 23. 8 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 303 v. 14.12.2007, S. 20, Erläuterung zu Art. 1. 9 Das Gericht suggeriert eine Vermengung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, s. etwa EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P – Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 – Rz. 183; v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 – DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesell-
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Prozessuale Durchsetzung
Rz. 51 § 2
einem unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff verletzt, da in diesem Fall zugleich dessen Wertsetzung verkannt wird.1 Es bleibt abzuwarten, ob die Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC künftig an eigenständiger Bedeutung in der Rechtsprechung gewinnen wird. Ein denkbarer Ansatzpunkt wäre etwa die bereits heute umfangreiche Rechtsprechung zum Datenschutzrecht. Hier könnte die Fallpraxis des BVerfG zum Vorbild genommen werden. Die Karlsruher Richter haben im Bereich des Persönlichkeits- und Privatsphärenschutzes den Begriff des Kernbereichs privater Lebensgestaltung geprägt; dieser lässt sich dogmatisch auf Art. 19 Abs. 2 GG stützen.2 Dieser Kernbereich ist absolut geschützt, Eingriffe können also nicht gerechtfertigt werden.3 Eine entsprechende Dogmatik ließe sich insbesondere zu den Unionsgrundrechten der Art. 7 GRC (Achtung des Privat- und Familienlebens, Unverletzlichkeit der Wohnung, Kommunikationsfreiheit) und Art. 8 GRC (Recht auf Schutz personenbezogener Daten) entwickeln.
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VII. Prozessuale Durchsetzung: Das arbeitsteilige System des Grundrechtsschutzes in der EU 1. Grundrechtsschutz durch den EuGH a) Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV als Verfassungsbeschwerde des Unionsrechts? Ein wichtiges prozessuales Mittel zur Durchsetzung des materiellen Grundrechtsschutzes ist zunächst die Nichtigkeitsklage, mit der Handlungen der EU-Organe angegriffen werden können. Seit den Römischen Verträgen (damals Art. 173; vgl. § 1 Rz. 1) bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon blieb der Wortlaut der Regelung zur Nichtigkeitsklage nahezu unverändert. Vor allem die strikte Trennung zwischen privilegierten Klägern nach Art. 263 Abs. 2 AEUV, also Mitgliedstaaten, Europäischem Parlament, Rat oder Kommission, und nichtprivilegierten Individualklägern hatte unangetastet über Jahrzehnte Bestand. Erstere konnten und können ohne weiteres Rechtsakte der Union im Rahmen der Nichtigkeitsklage überprüfen lassen. Individualkläger konnten dagegen nach der Vorgängerregelung des Art. 230 Abs. 4 EG nur gegen an sie adressierte Entscheidungen und gegen solche „Handlungen“4, die sie unmittelbar und individuell betrafen, vorgehen. Eine der nationalen Verfassungs-
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schaft mbH, Slg. 2010, I-13849 – Rz. 47 = EuZW 2011, 137; 5.10.1994 – Rs. C-280/93 – Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, Nach Art. 6 EUV, Grundrechtsschutz und rechtsstaatliche Grundsätze Rz. 61. BVerfG v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 (41); v. 8.3.1972 – 2 BvR 28/71, BVerfGE 32, 373 (379); v. 31.1.1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238 (248); v. 14.9.1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367 (373 f.); zur Übertragbarkeit auf das Unionsrecht vgl. auch Thüsing, Beschäftigtendatenschutz und Compliance, 2. Aufl. 2014, § 3 Rz. 1. BVerfG v. 31.1.1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238 (245); v. 14.9.1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367 (373 f.); v. 3.3.2004 – 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279 (313): „Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt.“ Dies sind alle Maßnahmen der Union, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, s. EuGH v. 11.11.1981 – Rs. 60/81 – IBM, Slg. 1981, 2639 – Rz. 9; v. 18.11.2010 – Rs. C-322/09 P – NDSHT, Slg. 2010, I-11911 – Rz. 45; v. 13.10.2011 – verb. Rs. C-463/10 P und C-475/10 P – Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-9639 – Rz. 36 ff. Dieser Begriff umfasst somit Handlungen mit allgemeiner Geltung sowie individuelle Handlungen, EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P – Inuit Tapiriit Kanatami u.a., NVwZ 2014, 53 – Rz. 53.
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Die Unionsgrundrechte
beschwerde vergleichbare Rechtsschutzmöglichkeit gab es daher im Unionsrecht nicht. 52
Die Rechtsschutzmöglichkeiten von Individualklägern nach der weiterhin bestehenden zweiten Variante des Art. 263 Abs. 4 AEUV sind vor allem deshalb sehr begrenzt, weil der EuGH die Kriterien „unmittelbar und individuell“ äußerst restriktiv auslegt.1 Unmittelbarkeit ist in diesem Kontext so zu verstehen, dass die angefochtene Handlung den Kläger ipso facto beeinträchtigen muss; es dürfen also grundsätzlich keine weiteren Umsetzungsakte hinzutreten.2 Weiter eingegrenzt werden die Klagemöglichkeiten durch das Erfordernis der individuellen Betroffenheit. Nach der berühmten Plaumann-Formel kann eine solche nur dann vom Kläger geltend gemacht werden, „wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis der übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“3 Einige Ausnahmen zu dieser strengen Grundhaltung erkannte der EuGH lediglich in Teilrechtsgebieten an, allen voran im europäischen Kartellrecht.4
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Vor dem Lissabonvertrag wurde dieser restriktive Ansatz von vielen Seiten kritisiert.5 Das Gericht erster Instanz6 wagte schließlich den Vorstoß und versuchte, den Rechtsschutz auszuweiten.7 Der EuGH blieb in der Entscheidung Unión de Pequeños Agricultores jedoch bei seiner Haltung.8 Angesichts der begrenzten Klagemöglichkeiten auf europäischer Ebene sei es in erster Linie Aufgabe der nationalen Gerichte, für ausreichenden Rechtsschutz zu sorgen. Sie hätten die nationalen Verfahrensvorschriften so anzuwenden, dass die Rechtmäßigkeit europäischer Rechtsakte inzidenter bei der Überprüfung der auf ihnen beruhenden nationalen Umsetzungsakte geltend gemacht werden kann.9 Der Gerichtshof konzedierte zwar, dass die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklagen von Individualklägern im Lichte des Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zu beurteilen sei (vgl. Art. 47 GRC). Auch dieser Grundsatz könne aber nicht über das Erfordernis der individuellen Betroffenheit hinweghelfen.10 Eine so weitgehende Erweiterung der Klagebefugnis würde sich über den Vertragstext hinwegsetzen und könne nur durch eine Reform erreicht werden.11 1 Vgl. Calliess/Ruffert/Cremer, Art. 263 AEUV Rz. 33 ff.; Craig/de Búrca, EU Law, 5. Aufl. 2011, Kapitel 14. 2 EuGH v. 13.5.1971 – Rs. 41/70 – International Fruit Company, Slg. 1971, 411 – Rz. 23 ff.; vgl. auch Borowski, EuR 2004, 879 (889); Calliess/Ruffert/Cremer, Art. 263 AEUV Rz. 36. 3 EuGH v. 15.7.1963 – Rs. 25/62 – Plaumann, Slg. 1963, 211 (238). 4 S. etwa EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76 – Metro-SB-Grossmärkte GmbH, Slg. 1977, 1875; v. 28.1.1986 – Rs. 169/84 – COFAZ, Slg. 1986, 391; v. 21.2.1984 – verb. Rs. 239/82 und 273/82 – Allied Corporation u.a., Slg. 1984, 1005; EuG v. 12.12.1996 – Rs. T-87/92 – Kruidvat, Slg. 1996, II-1931. 5 S. insb. den eindringlichen Appell des GA Jacobs v. 21.3.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677; nach seiner Ansicht sollte der Kläger bereits dann individuell betroffen sein, „wenn die Handlung aufgrund seiner persönlichen Umstände erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder wahrscheinlich haben wird“ (Rz. 60). 6 S. etwa EuG v. 3.5.2002 – Rs. T-177/01 – Jégo-Quéré, Slg. 2002, II-2365 – Rz. 50. 7 Albors-Llorens, Cambridge Law Journal 72 (2003), S. 74 ff. 8 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677; zur Entwicklung bis zu dieser Entscheidung s. Lock, European Law Review 2010, 777 (788). 9 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677 – Rz. 42. 10 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677 – Rz. 44. 11 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677 – Rz. 45.
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Rz. 56 § 2
Diese Aussage verbunden mit der Tatsache, dass die Situation des Individualrechtsschutzes allgemein als unbefriedigend empfunden wurde1, mag Anstoß für die Mitgliedstaaten gewesen sein, im Lissabonvertrag die Regelung zur Nichtigkeitsklage zu reformieren. Im neu gefassten Art. 263 Abs. 4 AEUV sind zunächst die bisherigen zwei Varianten (Adressatenstellung oder unmittelbare und individuelle Betroffenheit) weiter enthalten. Diese sind genauso auszulegen wie zuvor.2 Nunmehr können Privatpersonen aber auch gem. Art. 263 Abs. 4, Var. 3 AEUV gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Nichtigkeitsklage erheben. Für diesen Fall ist es somit gerade nicht erforderlich, dass eine individuelle Betroffenheit vorliegt, die strengen Voraussetzungen der Plaumann-Rechtsprechung müssen also nicht erfüllt werden. Die Neuregelung findet nach dem Grundsatz tempus regit actum auf alle Klagen Anwendung, die seit dem Inkrafttreten dieser Vorschrift eingereicht wurden.3
54
Was der Gesetzgeber mit dem Begriff der Rechtsakte mit Verordnungscharakter meint, blieb zunächst unklar: Der Vertrag kennt diesen Terminus im Übrigen nicht. Der EuGH hat sich nunmehr in der Rs. Inuit Tapiriit Kanatami für eine restriktive Interpretation entschieden. Danach sind Gesetzgebungsakte (insb. Richtlinien und Verordnungen) keine Rechtsakte mit Verordnungscharakter i.S.v. Art. 263 Abs. 4 AEUV.4 Der EuGH begründet dies im Wesentlichen mit systematischen und genetischen Argumenten. Der Begriff müsse enger verstanden werden als der in den ersten beiden Varianten verwendete Ausdruck der Handlungen.5 Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte sei zu beachten, dass die Neufassung des Art. 263 Abs. 4 AEUV inhaltlich dem gescheiterten Art. III-365 Abs. 4 des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa entspreche. Aus den Vorarbeiten zu dieser Norm gehe hervor, dass die Änderung von Art. 230 Abs. 4 EG zwar dazu dienen sollte, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für Nichtigkeitsklagen natürlicher und juristischer Personen zu erweitern, doch sollten die in ex-Art. 230 Abs. 4 EG vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen für Gesetzgebungsakte nicht geändert werden.6
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Dem ist zuzustimmen.7 Außerdem kann noch ein weiterer Schluss aus der Systematik der Art. 289 ff. AEUV gezogen werden: Der Begriff der Rechtsakte mit Verordnungscharakter ist nicht nur als Gegenbegriff zu Gesetzgebungsakten zu verstehen, sondern er sollte sogar auf die Rechtsakte der Art. 290 f. AEUV begrenzt werden.8
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1 Vgl. Lenaerts, International & Comparative Law Quarterly 2010, 255 (265). 2 So ausdrücklich EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P – Inuit Tapiriit Kanatami u.a., NVwZ 2014, 53 – Rz. 55. 3 EuG v. 7.9.2010 – Rs. T-532/08 – Norilsk Nickel Harjavalta Oy und Umicore, Slg. 2010, II-3959; v. 7.9.2010 – Rs. T-539/08 – Etimine und Etiproducts, Slg. 2010, II-4017; v. 6.9.2011 – Rs. T-18/10 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a., Slg. 2011, II-5599 – Rz. 34 = EuZW 2012, 395; ausführlich Werkmeister/Pötters/Traut, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 13 (2010-2011), S. 311 (330). 4 EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P – Inuit Tapiriit Kanatami u.a., NVwZ 2014, 53 – Rz. 50 ff.; zuvor bereits EuG v. 6.9.2011 – Rs. T-18/10 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a., Slg. 2011, II-5599 = EuZW 2012, 395; vgl. ferner GA Wathelet v. 29.5.2013 – Rs. C-133/12 P – Stichting Woonlinie, BeckRS 2013, 81087; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, Art. 263 AEUV Rz. 61; Pötters/Werkmeister/Traut, EuR 2012, 546; Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761; a.A. Everling, EuZW 2010, 572; Frenz/Distelrath, NVwZ 2010, 162. 5 EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P – Inuit Tapiriit Kanatami u.a., NVwZ 2014, 53 – Rz. 58. 6 Sekretariat des Europäischen Konvents, Schlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofs v. 25.3.2003 – CONV 636/03, Rz. 22. 7 Vgl. ausführlich Werkmeister/Pötters/Traut, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 13 (2010-2011), S. 311 ff.; Werkmeister/Pötters/Traut, EuR 2012, 546. 8 Nach Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 (1767) sind sie jedenfalls der „Hauptanwendungsfall“ der Rechtsakte mit Verordnungscharakter nach Art. 263 Abs. 4 AEUV.
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§2
Rz. 57
Die Unionsgrundrechte
In Art. 290 AEUV wird der europäischen Kommission die Befugnis übertragen, den Inhalt von Verordnungen oder Richtlinien im Detail zu ergänzen, in Art. 291 AEUV wird sie zu Maßnahmen ermächtigt, um eine uneinheitliche Umsetzung von Unionsrechtsakten zu verhindern. Korrespondierend dazu wurde mit Art. 263 Abs. 4, Var. 3 AEUV eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen solche Rechtsnormen etabliert. Eine weitere Begrenzung der Klagemöglichkeit liegt darin, dass der angegriffene Rechtsakt den Kläger unmittelbar betreffen muss und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen darf.1 57
Insgesamt ist die Nichtigkeitsklage trotz der Reform durch den Lissabonvertrag weiterhin nicht mit einer Verfassungsbeschwerde vergleichbar. b) Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV
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Angesichts der begrenzten Klagemöglichkeiten für Privatpersonen nach Art. 263 Abs. 4 AUV wird der Grundrechtsschutz in der Union auch künftig wesentlich durch Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV zu gewährleisten sein. Dieses Verfahren eröffnet zwar keinen Rechtsbehelf für die Parteien eines bei einem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreits,2 es dient aber gleichwohl auch dem individuellen Rechtsschutz.3 Die praktische Bedeutung dieses Verfahrens ist immens: Vorabentscheidungsersuchen machen fast zwei Drittel der beim EuGH eingehenden Rechtssachen aus.4 Das Verfahren dient dem Zweck, im Geist der Zusammenarbeit5 unterschiedliche Auslegungen des von den nationalen Gerichten anzuwendenden Unionsrechts zu verhindern und die Anwendung dieses Rechts zu gewährleisten, indem Art. 267 AEUV dem nationalen Richter die Möglichkeit gibt, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus dem Erfordernis ergeben könnten, dem Unionsrecht im Rahmen der Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten zu voller Geltung zu verhelfen.6
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Aus diesem Telos lassen sich formelle Anforderungen hinsichtlich der gerichtlichen Vorlage ableiten: Der EuGH hat mehrfach betont, dass das Erfordernis, zu einer für das nationale Gericht nützlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, es gebietet, dass dieses Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Bestimmungen des Unionsrechts gibt, um deren Auslegung es ersucht.7 Überdies sollen die Angaben in den Vorlageentscheidungen nicht nur dem Gerichtshof sachdienliche Antworten ermöglichen, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Gelegenheit geben, gem. Art. 23 Abs. 2 der Satzung des EuGH8 Erklärungen abzugeben.9 Dieses Begründungserfordernis bietet zugleich eine Chance für das nationale Gericht, Einfluss auf das Vorlageverfahren
1 Hierzu EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-274/12 P – Telefónica SA/Kommission, EuZW 2014, 228 – Rz. 27 ff. 2 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 9. 3 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 3. 4 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 2. 5 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 1. 6 EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg. I-2011, 6817 – Rz. 60; v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, EuZW 2013, 100 – Rz. 83; vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 2. 7 S. nur EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, EuZW 2013, 100 – Rz. 84; 3.5.2012 – Rs. C-185/12 – Ciampaglia, BeckRS 2012, 81560 Rz. 5. 8 Protokoll Nr. 3 zum AEUV, ABl. C 83 v. 30.3.2010. 9 EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, EuZW 2013, 100 – Rz. 85; v. 23.3.2012 – Rs. C-348/11 – Thomson Sales Europe, BeckRS 2012, 81068 Rz. 49 und die dort angeführte Rspr.
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zu nehmen.1 Es kann durch geschickte Formulierung der Vorlagefragen und der entsprechenden Erläuterungen die Antwortmöglichkeiten des EuGH eingrenzen. Voraussetzung (vgl. § 13 Rz. 24 ff.) eines Vorabentscheidungsersuchens ist nach Art. 267 Abs. 2 AEUV zunächst, dass in einem Prozess vor einem nationalen Gericht eine Frage des Unionsrechts aufgeworfen wird. Die dem EuGH vorgelegte Frage des Unionsrechts muss ferner entscheidungserheblich sein (vgl. § 13 Rz. 29 ff.).2 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es insofern ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu übernehmen hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind.3 Der Gerichtshof ist verpflichtet, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen.4 Der EuGH kann es nur dann ablehnen, über eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage zu befinden, wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Gemeinschaftsvorschrift, um die das vorlegende Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist.5 Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht.6
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Die Vorlagemöglichkeit verdichtet sich nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu einer Vorlagepflicht, wenn die Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gericht selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann (vgl. § 13 Rz. 39 ff.). Als Rechtsmittel in diesem Sinne sind neben den formellen Rechtsmitteln der Berufung und Revision auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision sowie die Nichtvorlagebeschwerde anzusehen.7 Für das arbeitsgerichtliche Verfahren bedeutet dies, dass auch im Falle der Nichtzulassung der Revision keine Vorlagepflicht besteht, da eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich ist (§ 72a ArbGG bzw. § 92a ArbGG im Falle der Rechtsbeschwerde).8 Eine richterrechtlich anerkannte Ausnahme von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist die sog. Acte-clair-Doktrin, die der EuGH in der Entscheidung C.I.L.F.I.T. begründet hat (vgl. § 13 Rz. 54 ff.).9 Nach dieser Rechtsprechung muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nicht nachkommen, wenn die das Unionsrecht betreffende Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war. Ebenso besteht keine Vorlagepflicht, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch
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1 2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Pötters, EuZW 2014, 591. ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 19. EuGH v. 15.1.2013 – Rs. C-416/10 – Krizˇan, NVwZ 2013, 347 – Rz. 53. EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-169/07 – Hartlauer, Slg. 2009, I-1721 – Rz. 24; v. 15.1.2013 – Rs. C-416/10 – Krizˇan, NVwZ 2013, 347 – Rz. 53. EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-169/07 – Hartlauer, Slg. 2009, I-1721 – Rz. 25. EuGH v. 15.1.2013 – Rs. C-416/10 – Krizˇan, NVwZ 2013, 347 – Rz. 54; v. 17.7.2014 – Rs. C-141/12 u.a. – Y. S., NVwZ-RR 2014, 736 – Rz. 63. Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 267 AEUV Rz. 26; vgl. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 – Cartesio, Slg. 2008, I-9641 – Rz. 75 ff. Ebenso ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 28 f. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 12 ff.; vgl. hierzu Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 267 AEUV Rz. 32.
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§2
Rz. 62
Die Unionsgrundrechte
sind.1 Schließlich kann die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig sein, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte in den anderen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das innerstaatliche Gericht davon absehen, diese Frage dem Gerichtshof vorzulegen, und sie stattdessen in eigener Verantwortung lösen.2 2. Mitgliedstaatliche Gerichte als „Juge de l’Union“ 62
Aus den dargelegten Begrenzungen der Nichtigkeitsklage und der entsprechend großen Bedeutung des Vorlageverfahrens folgt ein dezentrales Rechtsschutzsystem, bei dem die mitgliedstaatlichen Gerichte eine ganz wesentliche Rolle für die Effektivität des Grundrechtsschutzes spielen. Es ist also in erster Linie die Aufgabe der nationalen Richter, als Juge de l’Union die Wahrung des Unionsrechts zu sichern (vgl. § 1 Rz. 78).3 Dieser Vorrang des Rechtsschutzes auf nationaler Ebene wird auch durch Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zum Ausdruck gebracht, wonach wirksame Rechtsbehelfe auf nationaler Ebene zur Verfügung gestellt werden müssen.4 Somit findet der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) eine justizielle Ausprägung. 3. Der EuGH als gesetzlicher Richter i.S.v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
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Wenn nach alledem der Grundrechtsschutz zu einem wesentlichen Teil durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleistet wird, dann ist es für die Gewährleistung eines einheitlichen Schutzstandards erforderlich, dass ein intensiver Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten stattfindet. Dieser Dialog zwischen Luxemburg und den mitgliedstaatlichen Gerichten wird über das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV geführt (vgl. Rz. 57). Die Vorlagepflicht bei letztinstanzlichen Entscheidungen (Art. 267 Abs. 3 AEUV) ist auch verfassungsrechtlich abgesichert. Bereits seit der berühmten Solange II-Entscheidung5 ist allgemein anerkannt, dass der EuGH gesetzlicher Richter i.S.v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist. Die Missachtung der Vorlagepflicht kann also von den Parteien eines Rechtsstreits mithilfe einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden (vgl. § 13 Rz. 63 ff.).
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Dabei ist jedoch der begrenzte Prüfmaßstab des BVerfG im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden zu beachten.6 Das BVerfG kontrolliert lediglich, ob eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts vorliegt. Für die Verletzung von Normen des Prozessrechts bedeutet dies, dass nur dann eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters vorliegt, wenn Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnorm bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Ge1 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 14. 2 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 – Rz. 16. 3 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677 – Rz. 42; vgl. Schröder, DÖV 2009, 61 (64); Cremer, Die Verwaltung 2004, 165 (171 ff.). 4 Vgl. Lenaerts, International & Comparative Law Quarterly 2010, 255 (265): „The duties of national judges as’juge de l’Union’ regarding the interpretation and application of EU law continue to be part and parcel of the ’acquis de l’Union’. In fact, new specific Treaty provisions highlight the importance of the role of national judges in ensuring effective judicial protection of EU rights.“ 5 BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339. 6 S. etwa bereits BVerfG v. 3.10.1951 – 1 BvR 103/51, BVerfGE 1, 7; vgl. ferner v. 14.3.1967 – 1 BvR 334/61 BVerfGE 21, 209 (216); v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, 30 (53).
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Rz. 67 § 2
danken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind.1 Dieser bloße Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht.2 Wann von einer willkürlichen Missachtung der Vorlagepflicht an den EuGH auszugehen ist, hat das BVerfG in drei Fallgruppen konkretisiert.3 Zunächst wird die Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das nationale Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung).
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Problematisch und immer wieder Gegenstand von Entscheidungen ist vor allem die dritte Fallgruppe. Hier kommt es – so zutreffend der Erste Senat des BVerfG – für die Prüfung einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.4 Der Mangold-Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG schien hingegen von einem großzügigeren Maßstab auszugehen: Es soll genügen, wenn das nationale Gericht die strittige materiell-rechtliche Frage des Unionsrechts vertretbar selbst löst.5 Eine willkürliche Missachtung der Vorlagepflicht könne hingegen nur gegeben sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen seien. In einer aktuellen Kammerentscheidung werden Unterschiede in der Rechtsprechung jedoch bestritten: „Beide Senate stimmen – unbeschadet zum Teil abweichender Formulierungen – in der Sache überein.“6
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Unabhängig von den Unstimmigkeiten bei den Formulierungen sollte sich die Prüfung nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei der dritten Fallgruppe (Unvollständigkeit der Rechtsprechung) an den Voraussetzungen der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV und der Ausnahme nach der Acte-clair-Doktrin7 orientieren. Es
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1 So zuletzt das BVerfG im Mangold-Beschluss BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995. 2 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995; vgl. v. 6.5.2008 – 2 BvR 2419/06, NVwZ-RR 2008, 658 (660). 3 Vgl. bereits BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, BVerfGE 82, 159; vgl. ferner v. 20.9.2007 – 2 BvR 855/06, NJW 2008, 209; v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268. 4 BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428 (3434). 5 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995 – Rz. 89 f.; zuvor bereits v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, BVerfGE 82, 159. 6 BVerfG v. 29.4.2014 – 2 BvR 1572/10, BeckRS 2014, 51475 – Rz. 24. 7 Grundlegend zur Acte-clair-Doktrin EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 (3429) = NJW 1983, 1257.
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Rz. 68
Die Unionsgrundrechte
geht darum, ob diese prozessrechtlichen Vorgaben vertretbar subsumiert wurden und nicht, ob die dem Fall zugrunde liegende unionsrechtliche Frage richtig beantwortet wurde. Das Gericht muss einschlägige Rechtsprechung des EuGH auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren.1 Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig (acte clair) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt (acte éclairé).2 4. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1 GRC) 68
Nach Art. 47 Abs. 1 GRC hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das „Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“ In personeller Hinsicht steht dieses Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nicht nur natürlichen Personen zu, sondern es gilt grundsätzlich auch für juristische Personen.3 In sachlicher Hinsicht gewährleistet Art. 47 Abs. 1 GRC nicht nur einen Rechtbehelf bei der Verletzung von Rechtspositionen der GRC, sondern bei allen vom Unionsrecht garantierten „Rechten und Freiheiten“. Auch Rechte, die die Mitgliedstaaten gewähren, werden erfasst, sofern diese Regelungen Unionsrecht umsetzen oder durchführen.4 Art. 47 Abs. 1 GRC fordert indes keine Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch Rechtsmittel, zwingend garantiert ist also nur eine gerichtliche Instanz.5
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Das Rechtsschutzsystem der Art. 251 ff. AEUV wird jedoch durch die grundrechtliche Verankerung des Gebots effektiven Rechtsschutzes nicht verändert. Die dargelegten Restriktionen im Rahmen der Nichtigkeitsklage (vgl. Rz. 51 ff.) können also nicht unter Hinweis auf Art. 47 Abs. 1 GRC umgangen werden. In den Erläuterungen zur GRC wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Norm nicht die Bestimmungen über die Zulässigkeit direkter Klagen beim EuGH ändern soll.6
VIII. Überblick: Einzelne Grundrechte mit arbeitsrechtlicher Relevanz 70
Abschließend soll ein kursorischer Überblick zu den einzelnen Bestimmungen der GRC, die sich auf arbeitsrechtliche Sachverhalte auswirken können, gegeben werden. Ergänzend sei auf folgende Abschnitte hingewiesen: – Zum Diskriminierungsverbot des Art. 21 GRC vgl. § 3 Rz. 11 ff. – Zum Grundrecht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit nach Art. 31 Abs. 2 GRC vgl. § 6 Rz. 38 ff. 1 BVerfG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/8 u.a., BVerfGE 82, 159 (196); BVerfG v. 29.4.2014 – 2 BvR 1572/10, BeckRS 2014, 51475 – Rz. 22. 2 So auch zuvor bereits BVerfG v. 28.1.2014 – 2 BvR 1561/12, NVwZ 2014, 646 (657). 3 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 – DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH, Slg. 2010, I-13849 = EuZW 2011, 137. 4 Zutreffend Calliess/Ruffert/Blanke, Art. 47 GRC Rz. 6; der Maßstab der unionsrechtlichen Rechtsschutzgarantie des Art. 47 Abs. 1 GRC muss dabei nicht zwingend deckungsgleich sein mit den nationalrechtlichen Vorgaben nach Art. 19 Abs. 4 GG, vgl. Werkmeister, N&R 2014, 30 (34 f.). 5 EuGH v. 28.7.2011 – Rs. C-69/10 – Samba Diouf, Rz. 69, NVwZ 2011, 1380; v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14 – Morcillo u.a., BeckRS 2014, 81585 Rz. 36. 6 Erläuterungen zur Grundrechtecharta, ABl. C 303 v. 14.12.2007, S. 29, Erläuterung zu Art. 47 GRC.
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Überblick: Einzelne Grundrechte mit arbeitsrechtlicher Relevanz
Rz. 73 § 2
– Zum Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 31 Abs. 2 GRC vgl. § 7 Rz. 3. 1. Arbeitnehmerseite Auf Arbeitnehmerseite sind zunächst klassische Freiheitsrechte zu beachten, die im Rahmen der Drittwirkung der unternehmerischen Tätigkeit des Arbeitgebers Grenzen ziehen. Die im nationalen Recht – insbesondere bei der Auslegung des KSchG – besonders wichtige Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ist in der Charta in Art. 15 Abs. 1 GRC normiert. Dieses Grundrecht wurde vom EuGH bereits im Rahmen des Diskriminierungsrechts im Zusammenhang mit dem Verbot der Altersdiskriminierung fruchtbar gemacht.1 Im Kündigungsschutz dürfte die unionsrechtliche Berufsfreiheit indes keine zentrale Rolle spielen, denn zum einen ist der nationale Kündigungsschutz nicht vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst und zum anderen enthält Art. 30 GRC eine speziellere Regelung. Weitere zentrale Grundrechte sind etwa die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRC) und die Meinungsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 GRC). Diese Grundrechte können in den unterschiedlichsten Sachverhalten relevant werden. Der Schutz von Ehe und Familie (Art. 9 GRC), der etwa in der Rechtsprechung des EGMR zum kirchlichen Arbeitsrecht2 relevant geworden ist, dürfte hingegen vorerst nur eine untergeordnete Rolle spielen, denn in diesem Bereich gibt es bis dato – soweit ersichtlich – kaum sekundärrechtliche Regelungen, die den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnen würden. Ein Bereich, der hingegen ganz überwiegend von den Unionsrechten und immer weniger von den nationalen Grundrechten bestimmt sein wird, ist der Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Privatsphäre. Hierzu gewährleistet Art. 7 GRC das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, den Schutz der Wohnung sowie die Kommunikationsfreiheit. Zum Datenschutz enthält die Charta – anders als das Grundgesetz – mit Art. 8 GRC eine spezielle Vorschrift (vgl. zudem Art. 16 AEUV).
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Ferner sind in der Charta eine Reihe von konkreten Ausprägungen der Menschenwürdegarantie (Art. 1 GRC) festgeschrieben, so etwa das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit sowie des Menschenhandels gem. Art. 5 GRC.
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Detailreicher geregelt und wohl auch stärker ausgeprägt als im nationalen Verfassungsrecht ist der Diskriminierungsschutz. Neben dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 20 GRC) enthält die Charta in Art. 21 Abs. 1 GRC zahlreiche spezifische Diskriminierungsverbote. Die offene Aufzählung in Art. 21 Abs. 1 GRC macht aber deutlich, dass es sich hierbei letztlich um Ausprägungen eines allgemeinen Diskriminierungsverbotes handelt. Aufgrund der zahlreichen Antidiskriminierungsrichtlinien, die in Deutschland insbesondere im AGG umgesetzt sind, ist der Anwendungsbereich dieser Grundrechte sehr weit. Besonders wichtig ist die Gleichheit von Frauen und Männern. Diese ist in Art. 23 GRC noch einmal eigens geregelt. Danach ist sie „in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts“ zu gewährleisten (Art. 23 Abs. 1 GRC). Zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen bietet Art. 23 Abs. 2 GRC eine Rechtfertigungsgrundlage für affirmative action.
73
1 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785 – Rz. 37: „Daraus folgt, dass auf die Teilnahme älterer Arbeitnehmer am Berufsleben und damit am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben besonderes Augenmerk zu richten ist.“ 2 EGMR v. 23.9.2010 – 1620/03 – Schüth, NZA 2011, 279; v. 23.9.2010 – Rs. 425/03 – Obst, NZA 2011, 277; v. 3.2.2011 – 18136/02 – Siebenhaar, EzA Nr. 17 zu § 611 BGB 2002 Kirchliche Arbeitnehmer.
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§2
Rz. 74
Die Unionsgrundrechte
74
Auf Arbeitnehmerseite sind neben den Gleichheitsrechten und den klassischen Freiheitsrechten eine Fülle von sozialen Grundrechten und Grundsätzen zu beachten, wie sie dem deutschen Verfassungsrecht ganz überwiegend fremd sind. Neben dem Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung (Art. 14 Abs. 1 GRC) und dem Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer beruflichen Eingliederung (Art. 26 GRC) sind dies vor allem die Gewährleistungen der Art. 27 ff. GRC unter dem Titel IV der Charta („Solidarität“). Diese Bestimmungen sind für das Arbeitsrecht von besonderer Bedeutung, die in Art. 27, 28, 30 und 31 GRC normierten Rechte gelten in personaler Hinsicht sogar ausdrücklich nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dabei ist zu beachten, dass der Arbeitnehmerbegriff der Charta autonom auszulegen ist (vgl. § 1 Rz. 76 f., 108 f.) und von der klassischen nationalen Begrifflichkeit abweicht. Ausgangspunkt dürfte stets die Lawrie-Blum-Formel sein, die der EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) entwickelt hat. Danach ist Arbeitnehmer jede Person, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.1 Der Schutzbereich erfasst in personaler Hinsicht also nicht allein Unionsbürger. Dies sollte entsprechend auch für den Arbeitnehmerbegriff der Art. 27 ff. GRC gelten,2 denn die Grundrechte sind strukturell am ehesten mit den Grundfreiheiten vergleichbar. Außerdem beschränkt die Charta in anderen Bestimmungen (insbesondere den Art. 39 ff. GRC unter Titel V) den personalen Schutzbereich ausdrücklich auf Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, während die übrigen Rechte unter Titel IV Menschenrechte sind (s. etwa Art. 29 und 35 GRC). Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff ist ferner tendenziell weiter als der des nationalen Rechts und erfasst insbesondere auch Beamte. Dies illustriert die Entscheidung in der Rechtssache Neidel, wonach Beamte auch Arbeitnehmer i.S.d. sekundären Urlaubsrechts sind.3 Dies wird man entsprechend für das Recht auf bezahlten Jahresurlaub gem. Art. 31 Abs. 2 GRC annehmen müssen. Der EuGH weist darauf hin, dass Beamte ohnehin alle wesentlichen Merkmale des europäischen Arbeitnehmerbegriffs erfüllen würden.4 Er bereitet damit den Weg für eine weitere Ausdehnung arbeitsrechtlicher Vorschriften auf den gesamten öffentlichen Dienst.5
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Bei den sozialen Bestimmungen ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, wenn es darum geht, konkrete Ansprüche oder anderweitige unmittelbare Rechtsfolgen im nationalen Recht abzuleiten. Dies ist insbesondere bei den sog. Grundsätzen ausgeschlossen (vgl. Rz. 27). Von den Erläuterungen zur GRC werden Art. 25 und 26 GRC als Beispiele für bloße Grundsätze i.S.v. Art. 52 Abs. 5 GRC genannt. Viele Bestimmungen enthalten auch die Wendung, dass ein Recht oder Anspruch nur „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ gewährleistet ist (so etwa Art. 27, 28, 30, 34–36 GRC). Diese Formulierung kann ebenfalls einen bloßen Grundsatz indizieren, zumindest liegt lediglich ein normgeprägtes Grundrecht vor. All diese Bestimmungen bedürfen also der gesetzgeberischen Konkretisierung. Ohne entsprechende Sekundärrechtsakte entfalten sie grund-
1 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 – Rz. 16 f.; vgl. ferner v. 26.2. 1992 – Rs. C-357/89 – Raulin, Slg. 1992, I-1027; v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96 – Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691 – Rz. 32; v. 23.32004 – Rs. C-138/02 – Collins, Slg. 2004, I-2703 – Rz. 26. 2 Ebenso Meyer/Rudolf, Art. 27 Rz. 20. 3 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, NVwZ 2012, 688 – Rz. 19 ff.; vgl. zuvor bereits v. 12.2.1974 – Rs. 152/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153. 4 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, NVwZ 2012, 688 – Rz. 23; vgl. aktuell v. 10.9.2014 – Rs. C-270/13 – Haralambidis – Rz. 40 ff. 5 Vgl. bereits Pötters, NZA 2014, 704, 705.
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Überblick: Einzelne Grundrechte mit arbeitsrechtlicher Relevanz
Rz. 78 § 2
sätzliche keine konkreten Wirkungen, sondern können eher als Zielbestimmungen verstanden werden. Diese Einschätzung wird durch erste Entscheidungen des BAG bestätigt.1 So kann etwa auf Art. 30 GRC (Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung) kein europäisches Kündigungsschutzrecht gestützt werden, denn dies würde die Zuständigkeiten der Union überschreiten und somit gegen Art. 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 52 Abs. 2 GRC verstoßen.2 Bei der Auslegung des TzBfG ist hingegen Art. 30 GRC Rechnung zu tragen, denn Befristungen sind, obwohl es sich bei ihnen nicht um einseitige Maßnahmen, sondern um vertragliche Vereinbarungen handelt, „Entlassungen“ i.S.v. Art. 30 GRC.3 Auch bei der Auslegung des Befristungsrechts ist aber der Anwendungsbereich des Unionsrechts genau zu bestimmen (vgl. Rz. 20 f.).4
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Die wohl bislang für die Auslegung des nationalen Rechts bedeutsamste Vorschrift der Art. 27 ff. GRC ist das Recht auf bezahlten Jahresurlaub gem. Art. 31 Abs. 2 GRC. Dieses kommt über Art. 7 ArbZ-RL im nationalen Urlaubsrecht zur Anwendung. Die zentralen Bestimmungen des nationalen Rechts sind namentlich das BUrlG sowie die entsprechenden urlaubsrechtlichen Regelungen für Beamte. Das Unionsrecht determiniert dabei jedoch ausschließlich den Mindestjahresurlaub von vier Wochen, weitergehende Gewährleistungen wie etwa der Schwerbehindertenzusatzurlaub nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX müssen daher aus unionsrechtlicher Sicht nicht zwingend denselben Maßstäben unterworfen werden.5
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Das Fehlen von sekundärrechtlichen Bestimmungen bedeutet indes nicht, dass den einschlägigen Unionsgrundrechten keine Bedeutung zukäme. Dies illustriert anschaulich die Rechtsprechung zum Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen (Art. 28 GRC)6, welches die Vereinigungsfreiheit und das darin enthaltene Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten (Art. 12 Abs. 1 GRC), ergänzt. Art. 28 GRC kann zum einen über die ERT-Rechtsprechung (vgl. Rz. 14, 23 f.) zur Anwendung kommen, wie die Entscheidungen Viking und Laval7 eindrucksvoll gezeigt haben. Diese extensive Rechtsprechung steht nicht im Widerspruch zu Art. 153 Abs. 5 AEUV i.V.m. Art. 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 52 Abs. 2 GRC. Sinn und Zweck des Art. 153 Abs. 5 AEUV zielen allein darauf ab, die verschiedenen nationalen Streikrechte unberührt zu lassen und insofern die (Gesetzgebungs-)Kompetenzen voneinander abzugrenzen (vgl. § 1 Rz. 60 ff.). Die Mitgliedstaaten haben in diesem Bereich also weiterhin die Kompetenz, müssen aber dennoch bei der Ausübung dieser Kompetenz das Unionsrecht und damit auch die Grundfrei-
78
1 BAG v. 22.1.2014 – 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483 (486); v. 19.3.2014 – 7 AZR 828/12, BeckRS 2014, 68935; v. 8.12.2011 – 6 AZN 1371/11, NZA 2012, 286 (287); v. 11.9.2013 – 7 AZR 843/11, NZA 2013, 1352 (1356); vgl. Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258. 2 BAG v. 8.12.2011 – 6 AZN 1371/11, NZA 2012, 286 (287). 3 BAG v. 22.1.2014 – 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483 (486); v. 19.3.2014 – 7 AZR 828/12, BeckRS 2014, 68935; vgl. aber auch EuGöD v. 21.2.2013 – Rs F-58/08 – Avogadri, BeckRS 2013, 80462 – Rz. 55. 4 Hierzu BAG v. 11.9.2013 – 7 AZR 843/11, NZA 2013, 1352 (1356). 5 BVerwG v. 31.1.2013 – 2 C 10/12, NVwZ 2013, 1295; vgl. aber BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810, wonach für § 7 BUrlG eine gespaltene Auslegung abzulehnen ist. 6 Hierzu ausführlich Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, 2008, passim.; Thüsing/Traut, RdA 2012, 65. 7 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 – Viking, Slg. 2007, I-10779 – Rz. 43 f.; v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767.
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§2
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Die Unionsgrundrechte
heiten beachten.1 Zum anderen ist Art. 28 GRC allgemein als Wertentscheidung zugunsten von Kollektivverhandlungen zu berücksichtigen. Dies wirkt sich etwa im (weitestgehend unionsrechtlich determinierten) Diskriminierungsrecht aus: Hier muss die wichtige Rolle der Sozialpartner bei der Umsetzung von Unionsrecht hinreichend berücksichtigt werden. So geht der EuGH davon aus, dass bei Tarifverträgen eine weniger strikte Überprüfung der Rechtfertigungstatbestände des Diskriminierungsrechts als bei einer Umsetzung durch den Gesetzgeber angezeigt ist.2 2. Arbeitgeberseite 79
Auch Arbeitgeber können sich auf Art. 28 GRC berufen, es gelten aber spiegelbildlich die dargelegten Restriktionen.
80
Zentrales Grundrecht auf Seiten des Arbeitgebers dürfte regelmäßig die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRC) sein. Ein Unternehmen ist jede Einheit, unabhängig von Rechtsform und Finanzierungsart, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, also Güter und Dienstleistungen auf einem Markt anbietet.3 Das Recht auf unternehmerische Freiheit umfasst das Recht jedes Unternehmens, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben und dabei in den Grenzen seiner Verantwortlichkeit für seine eigenen Handlungen frei über seine wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können.4 Ferner garantiert Art. 16 GRC die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb.5 Die unternehmerische Freiheit ist Kontrapunkt zu den sozialen Grundrechten des Titels IV.6
81
Das BAG hat in einer Entscheidung zu § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG, wonach die Arbeitnehmerüberlassung auf einen vorübergehenden Zeitraum beschränkt wird, auf das Grundrecht aus Art. 16 GRC rekurriert.7 Es unterliege keinem Zweifel, dass die unternehmerische Freiheit, einem Verbot der nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung nicht entgegenstehe. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob die Leiharbeitsrichtlinie eine Regelung zur nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung enthalte und damit den für die Anwendung der GRC notwendigen unionsrechtlichen Bezug nach Art. 51 Abs. 1 GRC herstelle. Jedenfalls sei durch ein solches Verbot die durch Art. 16 GRC geschützte Vertragsfreiheit auf verhältnismäßige Weise eingeschränkt.8
82
Art. 16 GRC verdrängt im Wege der Spezialität die in Art. 15 Abs. 1 GRC geregelte Berufsfreiheit, welche auch für unselbständige Tätigkeit gilt.9 Unklar ist das Verhält-
1 Vgl. Pötters/Kalf, ZESAR 2012, 216 (222); Joussen, ZESAR 2008, 333 (334); Franzen, FS Buchner, 231 (233 f.); Junker, SAE 2008, 209 (214). 2 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391. 3 Jarass, Art. 15 Rz. 7. 4 EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-314/12 – UPC Telekabel Wien, NJW 2014, 1577 – Rz. 49; vgl. auch v. 24.11.2011 – Rs. C-70/10 – Scarlet Extended, MMR 2012, 174; v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 – Sky Österreich, EuZW 2013, 347 – Rz. 42. 5 EuGH v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 – Schaible, DÖV 2014, 41 – Rz. 25; v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 – Sky Österreich, EuZW 2013, 347 – Rz. 42. 6 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, Nach Art. 6 EUV, Grundrechtsschutz und rechtsstaatliche Grundsätze Rz. 197. 7 BAG v. 10.7.2013 – 7 ABR 91/11, NJW 2014, 331. 8 BAG v. 10.7.2013 – 7 ABR 91/11, NJW 2014, 331 – Rz. 47. 9 Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 15 GRC Rz. 4; a.A. wohl Meyer/Bernsdorff, Art. 15 Rz. 10.
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Überblick: Einzelne Grundrechte mit arbeitsrechtlicher Relevanz
Rz. 85 § 2
nis zu den Grundfreiheiten. Der EuGH scheint davon auszugehen, dass diese eine spezielle Ausprägung von Art. 16 GRC darstellen.1 Abzugrenzen ist die unternehmerische Freiheit schließlich vom Eigentumsrecht (Art. 17 GRC). Während sich das Eigentumsrecht auf materielle und immaterielle Güter bezieht, schützt die unternehmerische Freiheit die wirtschaftliche Initiative und die Handlungsfähigkeit auf einem Markt, nicht aber die konkreten Gewinne, die sich in einem auf diesem Markt erlangten Vermögen äußern.2 Die Eigentumsgarantie wird man vor allem im EU-Datenschutzrecht und den entsprechenden nationalen Umsetzungsakten fruchtbar machen können, wenn etwa der Arbeitgeber Überwachungsmaßnahmen zur Aufklärung von Straftaten durchführt.
83
Die Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRC) ist nicht nur auf Seiten des Arbeitnehmers zu beachten, sondern kann in ihrer kollektiven Ausprägung3 auch auf Seiten des Arbeitgebers angeführt werden. Dies ist etwa denkbar bei Ungleichbehandlungen wegen einer Religion, die nach der sog. Kirchenklausel des Art. 4 Abs. 2 Gleichb-RL gerechtfertigt sein können. Diese Vorschrift erlaubt nicht nur eine Unterscheidung nach der Religion des Arbeitnehmers, sondern auch eine Benachteiligung wegen der Religion des Arbeitgebers und erfasst damit jedes Diskriminierungsverbot.4 Über das Diskriminierungsrecht hinaus dürfte jedoch Art. 10 GRC nur wenig Relevanz aufweisen. Regelungen zum Staatskirchenrecht sind Sache der Mitgliedstaaten (vgl. Art. 17 AEUV).
84
Prüfungsschema Grundrechtsverletzungen I.
85
Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte 1. Bei allgemeinen Rechtsgrundsätzen: umfassende Bindung der EU-Hoheitsgewalt, für Mitgliedstaaten nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts 2. Bei Grundrechten der GRC a)
Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC („für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“)
b)
Zuständigkeitsschranke, Art. 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 52 Abs. 2 GRC
II. Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts 1. Echtes Grundrecht oder bloßer Grundsatz 2. Personaler Schutzbereich 3. Sachlicher Schutzbereich 4. Zudem zu beachten: a)
Kein Absinken unter EMRK-Standard und sonstige int. Übereinkünfte zum Schutz der Menschenrechte, Art. 52 Abs. 3, 53 GRC
b)
Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, Art. 52 Abs. 4 GRC
1 EuGH v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 – Sokoll-Seebacher, EuZW 2014, 307 – Rz. 21 f.: „Zur Bestimmung der Tragweite der unternehmerischen Freiheit verweist [Art. 16 GRC] u.a. auf das Unionsrecht. Diese Verweisung ist so zu verstehen, dass Art. 16 der Charta u.a. auf Art. 49 AEUV verweist, der die Ausübung der Niederlassungsfreiheit, einer Grundfreiheit, garantiert.“ 2 GA Cruz Villalón v. 19.2.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, BeckRS 2013, 80324 – Rz. 51. 3 Hierzu Jarass, Art. 10 Rz. 15; Pötters/Kalf, ZESAR 2012, 216 (221). 4 MünchKomm/BGB/Thüsing, § 9 AGG Rz. 7.
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§2
Rz. 85
Die Unionsgrundrechte
III. Eingriff1 IV. Rechtfertigung 1. Qualifizierte Schranke? 2. Ansonsten: Art. 52 Abs. 1 GRC – allg. Gesetzesvorbehalt (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC) oder verfassungsimmanente Schranken 3. Verhältnismäßigkeit bzw. praktische Konkordanz, Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC 4. Wesensgehaltsgarantie, Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC
1 Bei Gleichheitsgrundrechten ist anstelle des Eingriffs in den Schutzbereich eine relevante Ungleichbehandlung bzw. Anknüpfung an dem jeweiligen Diskriminierungsmerkmal zu prüfen.
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§3 Nichtdiskriminierungsrecht Rz. I. Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung 1. Aufgabe des Nichtdiskriminierungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichtdiskriminierung als spezielles Gleichbehandlungsrecht a) Gemeinsamkeiten zwischen allgemeiner Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung . . . . . . . b) Unterschiede . . . . . . . . . . . . .
1
6 9
II. Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts 1. Primärrecht (GRC, AEUV) a) Unionsgrundrechte auf Nichtdiskriminierung (Art. 21 Abs. 1, 23 GRC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entgeltgleichheit für Männer und Frauen (Art. 157 AEUV) . . . . . . c) Diskriminierungsrechtliche Kompetenzgrundlage (Art. 19 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Spezialfall: Staatsangehörigkeit (Art. 21 Abs. 2 GRC, Art. 18 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezielles Nichtdiskriminierungsrecht im Sekundärrecht a) Geschlechterrichtlinie . . . . . . . b) Antirassismusrichtlinie . . . . . . c) Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Richtlinie zur Gleichbehandlung Selbständiger . . . . . . . . . . . . . e) Richtlinien außerhalb von Beschäftigung und Beruf . . . . . . .
bb) Zugang . . . . . . . . . . . . . . b) Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . bb) Arbeitsentgelt . . . . . . . . . cc) Entlassungsbedingungen . . . c) Berufsberatung und berufliche Aus- und Weiterbildung . . . . . . d) Mitgliedschaft und Mitwirkung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen . . . . . . . . . . . .
Rz. 44 47 49 51 54 55
IV. Diskriminierungsmerkmale 1. Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . 56
11 17 21 24
25 26 27 28 29
3. Bedeutung des Völkerrechts . . . . . 30 III. Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts 1. Art. 157 AEUV . . . . . . . . . . . . . 32 a) Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . 33 b) Entgelt (Art. 157 Abs. 2 AEUV) . 36 2. Anwendungsbereich des speziellen Nichtdiskriminierungsrechts der Richtlinien a) Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . 40 aa) Erwerbstätigkeit . . . . . . . . 41
2. Diskriminierungskategorisierungen im speziellen Nichtdiskriminierungsrecht a) Rasse und ethnische Herkunft aa) Probleme des Rassenbegriffs bb) Zuschreibungen ethnischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . cc) Sonderfall „Sprache“ . . . . . dd) Nationale Herkunft und Staatsangehörigkeit . . . . . . b) Geschlecht aa) Kategorisierung „Mann/ Frau“ . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schwangerschaft . . . . . . . . cc) Trans*identität und Inter*sexualität . . . . . . . . . . c) Religion und Weltanschauung aa) Schutzzweck . . . . . . . . . . bb) Geschützes Verhalten . . . . cc) Weltanschauung . . . . . . . . d) Sexuelle Ausrichtung . . . . . . . . e) Behinderung aa) Unionsrechtliche Vorgaben . (1) Individuelle Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . (2) Teilhabehindernis am beruflichen Leben . . . . bb) Erweiterungen im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . f) Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 62 66 67 68 70 73 76 79 85 86 90 94 95 97 98
3. Mehrdimensionale Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 V. Diskriminierungstatbestand 1. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . 103
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§3
Nichtdiskriminierungsrecht
Rz. 2. Unmittelbare Diskriminierung a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . 110 aa) Ungleiche Behandlung (1) Weniger günstige Behandlung . . . . . . . . . . 111 (2) Andere Person in einer vergleichbaren Situation . . . . . . . . . . 114 (a) Sonderfall Entgeltdiskriminierung? . . . . . . . . . 115 (b) Deskriptives Modell zur Feststellung der Vergleichbarkeit . . . . . . . . 118 (c) Vergleichsperson . . . . . 122 bb) Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal (1) Grundverständnis . . . . 126 (2) Ausdrückliche und verdeckte Anknüpfung . . . 130 (3) Sonderfall: Schwangerschaft und Mutterschaft 134 3. Mittelbare Diskriminierung a) Entstehungsgeschichte und Normzweck . . . . . . . . . . . . . b) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ungleiche Behandlung (1) Neutrales Differenzierungskriterium . . . . . (2) Besondere Benachteiligung . . . . . . . . . . . (a) Vergleichbarkeit . . . . (b) Benachteiligung . . . . . bb) Keine sachliche Rechtfertigung (1) Grundlagen . . . . . . . (2) Legitimer Zweck . . . . (3) Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . (a) Angemessenheit (Eignung) . . . . . . . . . . . (b) Erforderlichkeit . . . . .
. 136 . 139
Rz. VI. Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen 1. System der Rechtfertigungsgründe und Struktur der Rechtfertigungsprüfung a) Problemstellung . . . . . . . . . . b) Prüfungsstruktur . . . . . . . . . . c) Rechtfertigungsgründe in den Richtlinien (Überblick) . . . . . . aa) Besondere Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . bb) Allgemeine Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . d) Art. 157 AEUV . . . . . . . . . . .
186 187 192 193 195 198
2. Besonderer Freiheitsschutz von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . 201 3. Allgemeiner Freiheitsschutz: Berufliche Anforderungen a) Struktur . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen aa) Berufliche Anforderung . . bb) Verhältnismäßigkeit . . . c) Kundenpräferenzen . . . . . . .
. 209 . 213 . 219 . 224
4. Positive Maßnahmen . . . . . . . . . 228 VII. Sanktionen
. 140 . 142 . 143 . 147 . 156 . 159 . 164 . 165 . 168
4. Belästigung und sexuelle Belästigung a) Grundlagen und Normzweck . . . 171 b) Belästigung . . . . . . . . . . . . . . 174 c) Sexuelle Belästigung . . . . . . . . 178
1. Primärrechtliche vs. sekundärrechtliche Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Grundsatz der Mindestanforderungen und Verschlechterungsverbot . 239 3. Präventive Maßnahmen . . . . . . . 241 4. Reaktive Maßnahmen . . . . . . . . a) Nichtigkeit diskriminierender Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . b) Beseitigung der Auswirkungen ungleicher Maßnahmen . . . . . c) Anforderungen an die Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Besonderheiten beim Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . .
247 248 251 257 262
5. Viktimisierung . . . . . . . . . . . . . 271 VIII. Rechtsdurchsetzung 1. Individuelle Rechtsdurchsetzung . 274
5. Anweisung zur Diskriminierung . . 180
2. Kollektive Rechtsdurchsetzung . . 280
6. Besondere Erscheinungsformen der Diskriminierung a) Unterstelltes Merkmal . . . . . . . 183 b) Dreiecksverhältnisse . . . . . . . . 184
3. Beweislastverteilung a) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . 282 b) Beweislastverteilung . . . . . . . 286 c) Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . 291
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Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
Rz. 1
§3
Schrifttum: Adomeit/Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – Kommentar, 2. Aufl. 2011; Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2010, zugreifbar unter http://www.antidiskriminierungsstel le.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/mehrdimensionale_diskriminierung_theo rien.pdf?__blob=publicationFile [Stand: 31.5.2014]; Bauer/Göpfert/Krieger, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – Kommentar, 3. Aufl. 2011; Bell/Waddington, Reflecting on Equalities in European Equality Law, ELR 28 (2003), 349; Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008; Birtz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), 355; Chege, Multidimensional Discrimination in EU Law: Race, Sex and Ethnicity, 2011; Classen, Freiheit und Gleichheit im öffentlichen und im privaten Recht – Unterschiede zwischen europäischem und deutschem Grundrechtsschutz?, EuR 2008, 627; Collins, Discrimination, Equality and Social Inclusion, Mod. L. Rev. 66 (2003), 16; Däubler/Bertzbach (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 3. Aufl. 2013; Ellis/Watson, EU-Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012; Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010; Franke/Steinel, Diskriminierungsschutz in den Mitgliedstaaten der EU, ZESAR 2012, 157; Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, 65; Fredman, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011; Fredman, Equality: A New Generation?, ILJ 30 (2001), 145; Grünberger, Personale Gleichheit, 2013; Grünberger, Selbstverantwortung und Solidarität im Wirtschaftsrecht – Nichtdiskriminierungsrecht, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Selbstverantwortung vs. Solidarität im Wirtschaftsrecht, 2014, S. 79; Hey (Hrsg.), Kommentar zum AGG, 2009; Holzleithner, Mehrfachdiskriminierung im europäischen Rechtsdiskurs, in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Diskriminierung, 2010, 95; Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), 299; Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 2006; Kainer, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Zivilrecht, 2014; Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, 1; Mahlmann/Rudolf (Hrsg.), Gleichbehandlungsrecht, 2007; Meinel/Heyn/Herms, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2. Aufl. 2010; Naguib, Mehrfachdiskriminierung: Analysekategorie im Diskriminierungsschutzrecht, SJZ 2010, 233; Nettesheim, Diskriminierungsschutz ohne Benachteiligung? EuZW 2013, 48; Rebhahn/Kietaibl, Mittelbare Diskriminierung und Kausalität, Rechtswissenschaft 2010, 373; Reinicke, Diskriminierungsverbote und Gleichbehandlungsgebote in der betrieblichen Altersversorgung, insbesondere Unisex, BetrAV 2012, 402; Rolfs, Diskriminierungsschutz in der betrieblichen Altersversorgung, SR 2013, 41; Rupp, Die unmittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 1 AGG, RdA 2009, 307; Schiek/Chege (Hrsg.), From European Union non-discrimination law towards multidimensional equality for Europe, 2009; Schiek (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), 2007; Schiek, A New Framework on Equal Treatment of Persons in EC Law?, ELJ 8 (2002), 290; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000; Schiek/Waddington/Bell (Hrsg.), Non-Discrimination Law, 2007; Schlachter, Benachteiligung wegen besonderer Verbindungen statt Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe, RdA 2010, 104; Schleusener/Suckow/Voigt, AGG, 4. Aufl. 2013; Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001; Somek, Engineering Equality, 2011; Waddington/Bell, More Equal than Others: Distinguishing European Union Equality Directives, CMLR 38 (2001), 567; v. Roetteken, Unionsrechtliche Aspekte des Schadensersatzes und der Entschädigung bei Diskriminierungen, NZA-RR 2013, 337; Wagner/Potsch, Haftung für Diskriminierungsschäden nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, JZ 2006, 1085; Wendeling-Schröder/Stein, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2008; Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht, 2001; Zinsmeister, Mehrdimensionale Diskriminierung, 2007.
I. Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung 1. Aufgabe des Nichtdiskriminierungsrechts Diskriminierungsverbote knüpfen an personenbezogene Merkmale von Individuen an. Diese Merkmale werden traditionell entweder vom Recht und/oder in der Gesell-
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Nichtdiskriminierungsrecht
schaft zu bestimmten Zwecken instrumentalisiert:1 Mit der Zuschreibung dieser Merkmale werden die betroffenen Individuen zu Mitgliedern einer als homogen konstruierten Gruppe (die „Anderen“) gemacht, die aufgrund dieser Merkmale von der jeweils herrschenden Gruppe („uns“) unterschieden wird.2 Die Unterscheidung anhand bestimmter Merkmale ist notwendig, um die „Anderen“ anders – in der Regel schlechter – behandeln zu können, weil sie als solche weniger wert sind als „wir“. Diese Eigenschaften konstituieren den sozialen Status einer Person und ihren Platz in der sozialen Statushierarchie einer Gesellschaft.3 Der soziale Status weist der Person eine Position in hierarchisch organisierten Gesellschaften zu. Diesen Nexus wollen Diskriminierungsverbote aufbrechen. 2
Die Funktion des Nichtdiskriminierungsprinzips ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext seiner Verwendung im Recht.4 Im Kontext des Unionsrechts stellt es im Ausgangspunkt den Zugang zu Markt und Wettbewerb sicher.5 Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt, dass das Nichtdiskriminierungsrecht den Zweck hat, sicherzustellen, dass Arbeitnehmer unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft aus dem Maghreb,6 ihrer homosexuellen Orientierung7 oder ihres fortgeschrittenen Alters8 den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt und damit die gleiche Freiheit haben, wie flämische oder wallonische, heterosexuelle oder jüngere Arbeitnehmer. Zentrale Aufgabe dieser Funktion ist, dazu beizutragen, einen funktionsfähigen Markt zu gewährleisten.
3
Andererseits begrenzt das Nichtdiskriminierungsprinzip die Auswirkungen ökonomischer Rationalität auf die Merkmalsträger. Ein Beispiel dafür ist die eingeschränkte Berücksichtigung von Kundenpräferenzen in der Rechtfertigung (vgl. Rz. 224 ff.). Ein anderes Beispiel ist das Verbot der mittelbaren Diskriminierung (vgl. Rz. 136 ff.). Damit versetzt sich das Recht in die Lage, die soziale Realität der Verteilung von Erwerbschancen und die im Wirtschaftssystem bestehenden Strukturen systemischer Diskriminierung wahrzunehmen.9 Aufgabe des Verbots mittelbarer Diskriminierung ist es also, zu verhindern, dass die strukturellen Nachteile von Gruppen auf dem (Arbeits-)Markt und die gesellschaftlich bedingten Schwächen bei der Durchsetzung ihrer Interessen von anderen Akteuren perpetuiert werden.10 Deshalb hat sich der EuGH gegen den Einsatz einer Sonderformel zur Herabsetzung der Sozialplanabfindung bei behinderten Arbeitnehmern ausgesprochen: Würde man die frühere Bezugsberechtigung einer Altersrente bei Schwerbehinderten akzeptieren, wäre „die praktische Wirksamkeit der nationalen Vorschriften, die den genannten Vorteil vorsehen“ beeinträchtigt, weil „deren Daseinsberechtigung allgemein darin besteht, den Schwierigkeiten und besonderen Risiken Rechnung zu tragen, mit denen schwerbehinderte Arbeitnehmer konfrontiert sind.“11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 530 ff. Fishan, Rechtstheorie 2006, 67; Schiek, ELJ 9 (2002), 290 (309). Balkin, YLJ 106 (1997), 2313. Die folgenden Abschnitte sind übernommen aus Grünberger, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Selbstverantwortung vs. Solidarität im Wirtschaftsrecht, S. 79, 110 ff. Vertiefend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 894 ff. EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187. EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept, NZA 2013, 891. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343; vertiefend Grünberger, EuZA 2011, 171. Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (335). Grünberger, Personale Gleichheit, S. 660. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 67 f., NZA 2012, 1435 (Hervorhebungen diesseits).
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Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
Rz. 6
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Das Nichtdiskriminierungsrecht ist kein genuines Sozialschutzrecht. Es hat als Gleichbehandlungsrecht einen anderen Regulierungsanspruch. Zweck des Nichtdiskriminierungsrechts ist nicht die Versorgung mit Gütern (Arbeitsplatz oder Dienstleistung), die einer diskriminierten Person vorenthalten werden. „Ziel der Diskriminierungsverbote ist vielmehr der Schutz bestimmter Personen vor Benachteiligung als solcher.“1 Das Nichtdiskriminierungsrecht schützt als Recht auf gleiche Behandlung eine Person lediglich davor, bei der Verteilung von Freiheiten ungleich behandelt zu werden. Auf die Frage, wie diese Freiheiten als solche auszugestalten sind, kann es daher keine Antwort geben.2 Tritt bei einer Person dagegen eine besondere Schutzbedürftigkeit auf, reagiert das Recht darauf sozialrechtlich.3 Der entscheidende Unterschied ist die Ungleichbehandlung, die in einem Fall Tatbestandsvoraussetzung ist, während im anderen Fall nur die schutzbedürftige Lage ausschlaggebend ist.
4
Die Entscheidungspraxis des EuGH ist nicht einheitlich. Einerseits sei der Abfindungsausschluss von entlassenen Arbeitnehmern, die auf dem Arbeitsmarkt bleiben wollen, nicht damit zu rechtfertigen, dass sie aufgrund ihres Alters eine Rente als Einkommensersatz in Anspruch nehmen können.4 Das Gleichbehandlungsrecht schützt nicht das Einkommen, sondern die Möglichkeit, seine Arbeitskraft unter tatsächlich gleichen Bedingungen am Arbeitsmarkt anzubieten.5 Deshalb fallen Krankheiten, die erst nach dem Mutterschaftsurlaub auftreten, unter die allgemeine Regelung für Krankheitsfälle und sind keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, sofern auch Männer unter den gleichen Voraussetzungen aufgrund solcher Fehlzeiten entlassen würden.6 Problematisch ist dagegen die Praxis des EuGH, den Schutz des speziellen Nichtdiskriminierungsrechts einerseits mit dem Kündigungsschutz von schwangeren Frauen andererseits gleichzusetzen.7 Den eigentlichen Sozialschutz übernimmt Art. 10 der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG. Dieser Schutz ist unabhängig von einer tatbestandlichen (!) Ungleichbehandlung, besteht aber nur für Arbeitnehmerinnen.8
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2. Nichtdiskriminierung als spezielles Gleichbehandlungsrecht a) Gemeinsamkeiten zwischen allgemeiner Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung konkretisiert den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz.9 Ausgangspunkt ist die Prämisse, dass jede Person einen moralischen Anspruch darauf hat, von anderen privaten Akteuren als Gleicher behandelt zu werden.10 Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung sind danach zwei Seiten einer Medaille.11 Diskriminierungsverbote teilen die Grundstruktur des allgemeinen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Britz, VVDStRL 64 (2005), 355 (390). Unzutreffend daher Fastrich, RdA 2000, 65 und Somek, Engineering Equality, S. 131 f. Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 788 ff. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 44. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 45. EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-179/88 – Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund (Hertz), Slg. 1990 I-3979 – Rz. 12 ff. EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 68. Näher Ellis/Watson, EU-Anti-Discrimination Law, S. 338. Vgl. dazu statt vieler Fredman, Discrimination Law, S. 1 ff.; Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 437 ff. Zu den Grundlagen näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 902 ff. Schiek/Schiek, AGG, Einl. Rz. 42.
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Nichtdiskriminierungsrecht
Gleichbehandlungsgebots.1 Der Unterschied besteht in der erheblichen Verschärfung der Rechtfertigungsanforderungen. Bei der Geltung eines Diskriminierungsverbots muss die Ungleichbehandlung ohne Rückgriff auf die vom Gesetz für ungeeignet erklärten („verpönten“2) Kriterien begründet werden können.3 7
Die einheitliche Grundstruktur von allgemeinem Gleichheitssatz und Diskriminierungsverboten findet sich auch im Unionsrecht.4 Bei erster Betrachtung erweckt es zwar den Anschein, zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz und Diskriminierungsverboten scharf zu unterscheiden, indem es in der Sache den „Grundsatz der Gleichbehandlung“ auf ein Diskriminierungsverbot beschränkt.5 Die jeweiligen Richtlinien definieren den Grundsatz der Gleichbehandlung als das Verbot jeder unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung sowie anderer unerwünschter Verhaltensweisen, die Diskriminierungscharakter haben. Dieser Eindruck täuscht.6 Art. 2 der Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG7 (AntiRass-RL) und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG8 (Gleichb-RL) verwenden die Begriffe „Diskriminierung“ und „Gleichbehandlungsgrundsatz“ synonym. Wird vom „allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz“ oder vom „allgemeinen Diskriminierungsverbot“ gesprochen,9 ist damit regelmäßig dasselbe gemeint.10 Diskriminierungsverbote werden als „specific prohibition of a particular type of discrimination“11 von „the general principle of equal treatment, or of non-discrimination“12 unterschieden. Der systematische Zusammenhang von allgemeinem Gleichheitssatz und Diskriminierungsverboten in Art. 20 und Art. 21 GRC bestätigt die These, dass es sich bei Letzteren um Konkretisierungen des Ersteren handelt.13
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Allgemeine Gleichbehandlungsgebote und spezielle Diskriminierungsverbote sind zwei Säulen eines einheitlichen Grundsatzes: dem Prinzip der personalen Gleichheit. Dieses weist zwei Strukturelemente auf, die sich in allgemeinen Gleichbehandlungsgeboten und bei Diskriminierungsverboten wiederfinden: die Ungleichbehandlung einer Person oder Personengruppe und die Möglichkeit ihrer Rechtfertigung.14 Beide
1 Siehe Mahlmann/Rudolf/Mahlmann, Gleichbehandlungsrecht, § 3 Rz. 17; Grünberger, Personale Gleichheit, S. 774 ff. 2 Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, S. 25 (59); zur Klarstellung, dass nicht das Merkmal, sondern die Anknüpfung daran „verpönt“ ist, s. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, S. 173. 3 Vertiefend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 527 ff. 4 Kischel, EuGRZ 1997, 1 (4); Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 36 f.; Ehlers/Kingreen, § 17 Rz. 20 und Mahlmann/Rudolf/Mahlmann, Gleichbehandlungsrecht, § 3 Rz. 22 ff.; zurückhaltender Rossi EuR 2000, 197 (205 ff.). 5 Vgl. dazu Riesenhuber, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, S. 123 (132 f.). 6 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 778 ff. 7 Richtlinie 2000/43/EG v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse und ethnischen Herkunft (ABl. Nr. L 180 v. 19.7.2000, S. 22). 8 Richtlinie 2000/78/EG v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. Nr. L 303 v. 2.12.2000, S. 16). 9 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 56; vgl. auch GA Mazák v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 90 f. 10 Heselhaus/Nowak/Odendahl, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 43 Rz. 1. 11 GA Mazák v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 92. Vgl. auch EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 75. 12 GA Mazák v. 15.2.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 90. 13 Dazu Tettinger/Stern/Sachs, Art. 20 Rz. 16; Ehlers/Kingreen, § 17 Rz. 19 f.; Meyer/Hölscheidt, Vor Titel III Rz. 17b ff. 14 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 750.
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Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
Rz. 10 § 3
Gruppen unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtfertigungsmöglichkeit. b) Unterschiede Das Nichtdiskriminierungsprinzip kontrolliert die Rechtfertigungsanforderungen, sobald das Recht die Anknüpfung einer Unterscheidung mit besonderen Differenzierungs-, Diskriminierungs- oder Benachteiligungsverboten belegt. Als Konsquenz dessen steigt die „Kontrolldichte“ an. Für die Rechtfertigung genügt nicht mehr jeder sachliche Grund („Willkürkontrolle“).1 Das Recht schließt bestimmte Gründe als solche von der Rechtfertigung aus und erlaubt die Anknüpfung daran nur unter Beachtung mehr oder weniger strenger Verhältnismäßigkeitskriterien („grundsätzliches Anknüpfungsverbot“). Beispiele dafür sind die Rechtfertigungsmöglichkeiten bei einer Altersdiskriminierung (vgl. § 4 Rz. 22 ff., 43 ff.) oder wegen beruflicher Anforderungen (vgl. Rz. 209 ff.). Schließlich kann es die Anknüpfung auch per se verbieten („striktes Anknüpfungsverbot“). Ein Beispiel dafür ist die Differenzierung nach Rasse und ethnischer Herkunft im Anwendungsbereich des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots.2
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Das dem Nichtdiskriminierungsrecht zugrunde liegende Nichtdiskriminierungsprinzip ist dreistufig aufgebaut.3 Das unterscheidet es vom allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Es basiert zunächst auf dem Grundsatz formaler Rechtsgleichheit. Auf zweiter Stufe konkretisiert und erweitert es diesen Grundsatz um spezifische formal konzipierte Diskriminierungsverbote. Weil die gleiche Anwendung von Diskriminierungsverboten nicht immer in der Lage ist, gesellschaftlich vorhandene Ungleichheiten zu beseitigen, akzeptiert das Nichtdiskriminierungsprinip auf dritter Stufe formale Ungleichbehandlungen aufgrund bestimmter Merkmale. Darunter fallen beispielsweise angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung (vgl. Art. 5 Gleichb-RL) oder positive Maßnahmen wie die Frauenförderung (Art. 157 Abs. 4 AEUV, 3 Geschl-RL4). Alle drei Bausteine des Nichtdiskriminierungsprinzips sind Anwendungsfälle distributiver Gerechtigkeit. Es geht immer um die rechtliche Absicherung des Versprechens gleicher Freiheit aller Personen in den verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft. Die Sicherstellung dieser Freiheit ist genuine Aufgabe des Privatrechts.5
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1 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 752 ff. 2 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 20 AGG Rz. 13. 3 Ausführlich Grünberger, NZA-Beilage 2012, 139 (142 ff.); Grünberger, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Selbstverantwortung vs. Solidarität im Wirtschaftsrecht, S. 79, 108 ff. 4 Richtlinie v. 5.7.2006, zur Verwirklichkung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen ind Arbeits- und Beschhäftigungsfragen (ABl. Nr. L 204 v. 26.7.2006, S. 23). Die Richtlinien 75/117/EWG, 76/207/EWG (in der durch RL 2002/73/EG geänderten Fassung), 86/378/EWG und 97/80/EG wurden gem. Art. 34 Abs. 1 Geschl-RL mit Wirkung vom 15.8.2009 aufgehoben. 5 Vertiefend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 870 ff.
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II. Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts 1. Primärrecht (GRC, AEUV) a) Unionsgrundrechte auf Nichtdiskriminierung (Art. 21 Abs. 1, 23 GRC) 11
Art. 21 Abs. 1 GRC enthält einen nicht abschließenden1 Katalog von 17 Merkmalen, die weder von der Union noch von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 GRC) zur Diskriminierung benutzt werden dürfen. Art. 23 Abs. 1 GRC ordnet an, dass dem Grundsatz der Gleichbehandlung wegen des Geschlechts umfassende Geltung zukommt. Insoweit ist Art. 23 Abs. 1 GRC konkreter als die Zielvorgaben in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV und Art. 8 AEUV und geht inhaltlich („in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung […]“) über Art. 157 Abs. 1 AEUV hinaus (vgl. Rz. 18).2 Die Norm bildet die Grundlage für ein einheitliches beschäftigungsrechtliches Diskriminierungsverbot aus Gründen des Geschlechts.3 Art. 23 Abs. 2 GRC ist eine Rechtsgrundlage für die Einführung positiver Maßnahmen (vgl. Rz. 228 ff.), und ist – soweit die einschlägige Maßnahme eine formale Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts darstellt4 – zugleich ein Rechtfertigungsgrund für diese. Obwohl eine entsprechende Regelung in Art. 21 GRC fehlt, darf daraus nicht geschlossen werden, dass entsprechende Maßnahmen bei den übrigen Merkmalen in Art. 21 Abs. 1 GRC unzulässig wären.5
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Art. 21 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 GRC sind spezielle Gleichheitssätze, denen Vorrang gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 20 GRC zukommt.6 Weil sie dessen Grundstruktur teilen, ermöglichen sie im Ausgangspunkt auch eine Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen.7 Das ist insbesondere deshalb wichtig, weil die speziellen Gleichheitssätze unmittelbar anwendbar sind. Art. 21 Abs. 1 GRC verleiht nach der Rechtsprechung des EuGH schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht, das er als solches geltend machen kann.8 Bei Art. 23 Abs. 1 GRC ließe sich die unmittelbare Geltung im Horizontalverhältnis mit einer Parallele zur Rechtsprechung des EuGH zu Art. 157 Abs. 1 AEUV begründen (vgl. Rz. 18). Die unmittelbare Geltung im Horizontalverhältnis wirft allerdings Probleme auf:9 Gilt sie für alle 17 Merkmale des Art. 21 Abs. 1 GRC oder beschränkt sich auf die sieben Merkmale, die im speziellen sekundärrechtlichen Nichtdiskriminierungsrecht (vgl. Rz. 25 ff.) geschützt sind (Geschlecht, Rasse, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung)? Das Verhältnis von Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 GRC zu Art. 157 Abs. 1 AEUV mag noch von Art. 52 Abs. 2 GRC gelöst werden. Nicht restlos geklärt ist dagegen das Zusammenspuel von Grundrechten und dem speziellen Nichtdiskriminierungsrecht der Richtlinien.
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Nach der Rechtsprechung des EuGH in den Rs. Mangold und Rs. Kücükdeveci statuiert die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie – dasselbe muss auch für die übrigen 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Tettinger/Stern/Sachs, Art. 21 Rz. 23. Streinz/Streinz, Art. 23 GRC Rz. 5. Zutreffend Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 23 GRC Rz. 6. Das ist bei der Bandbreite positiver Maßnahmen nicht zwangsläufig der Fall, vgl. Kocher, RdA 2002, 167 (168 ff.); Grünberger, Personale Gleichheit, S. 712. I.E. Schwarze/Graser, Art. 21 GRC Rz. 11; näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 13 ff. Calliess/Ruffert/Rossi, Art. 20 GRC Rz. 17; Streinz/Streinz, Art. 20 GRC Rz. 6. Classen, EuR 2008, 627 (633 ff.); Schwarze/Graser, Art. 21 GRC Rz. 7 ff.; grundlegend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 802 ff. EuGH v. 14.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, Rz. 47, NZA 2014, 193. Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 1022 ff.
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Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 15 § 3
Richtlinien des speziellen Nichtdiskriminierungsrechts gelten – den Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nicht selbst, sondern schafft lediglich einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung verschiedener Formen der Diskriminierung, u.a. wegen des Alters (vgl. § 2 Rz. 38 ff.). Die Richtlinien „konkretisieren“ lediglich den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts bzw. das Unionsgrundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen Alters aus Art. 21 Abs. 1 GRC.1 Soweit die Richtlinien die Diskriminierungskategorie „Geschlecht“ erfassen, geht der EuGH bereits seit der Rs. Defrenne II davon aus, dass die Richtlinien Art. 157 Abs. 1 AEUV „präzisieren“.2 Dasselbe gilt dann im Verhältnis von Richtlinien und Art. 23 Abs. 1 GRC. Anders formuliert: Die jeweils einschlägige Richtlinie konkretisiert das, was aufgrund des in der GRC enthaltenen und unmittelbar anwendbaren3 Verbots der (Alters-)Diskriminierung ohnehin und unabhängig von der Richtlinie (vgl. Rz. 15) auch zwischen Privaten gilt.4 Das betrifft nicht nur das Alter, sondern alle in den Richtlinien enthaltenen Merkmale.5 Die Richtlinien werden deshalb nicht entbehrlich.6 Sie liefern den inhaltlichen Prüfungsmaßstab des allgemeinen Rechtsgrundsatzes bzw. der GRC und gehen als spezielle Regelung dem subsidiären Grundrecht vor. Ist der primärrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ausreichend konkret – das ist bei Art. 157 AEUV der Fall – stützt sich der EuGH unmittelbar auf den Grundsatz und nicht auf die konkretisierende Richtlinie.7 Im Übrigen wendet er jeweils die einschlägige Richtlinie an und greift nur dann auf die GRC zurück, wenn eine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie auch nicht über eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts möglich ist (vgl. § 1 Rz. 142 ff.).8 Das gilt allerdings nur, wenn die Richtlinie ihrerseits mit den primärrechtlichen Vorgaben konform ist.9 Verstößt eine in der Richtlinie vorgesehene Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz oder ein Rechtfertigungsgrund gegen Art. 21 Abs. 1 oder Art. 23 GRC, ist diese Ausnahme oder dieser Rechtfertigungsgrund nichtig.10 An der grundsätzlich nur vertikalen Richtlinienwirkung im Privatrechtsverhältnis ändert das nichts (vgl. § 1 Rz. 135 ff., zur „Drittwirkung der Grundrechte siehe § 2 Rz. 29 ff.).11
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Die Existenz der Richtlinie löst das Geltungsproblem des primärrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Privatrechtsverhältnis. Weil das Primärrecht die Mit-
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1 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 74 ff.; v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 20; EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 und C-298/10 – Hernnigs und Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 47. 2 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 54; weitere Nachweise bei von Roettken, AGG, § 1 – Rz. 21h, 22, 34 ff. 3 EuGH v. 14.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – Rz. 47, NZA 2014, 193. 4 Vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 = NZA 2010, 995 – Rz. 70; unzutreffend daher MünchKomm/BGB/Thüsing, Einl. AGG Rz. 33. 5 Däubler/Bertzbach/Däubler, Einl. Rz. 102b. 6 Anders P. Huber, NJW 2011, 2385 (2389 f.); näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 1031 ff. 7 Vgl. dazu Sagan, ZESAR 2011, 412 (414). 8 Vgl. dazu EuGH v. 14.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – Rz. 41 ff., NZA 2014, 193, dort wegen der fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 27 GRC allerdings verneint. 9 Grundlegend EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Association Belge des Consommateurs TestAchats u.a., Slg. 2011, I-773. 10 EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Association Belge des Consommateurs Test-Achats u.a., Slg. 2011, I-773 – Rz. 32 zu Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts in Versicherungsverträgen. 11 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – HK Danmark (Kristensen) – Rz. 18, EuZW 2013, 951; näher Mörsdorf, EuR 2009, 219 (234 f.).
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§3
Rz. 16
Nichtdiskriminierungsrecht
gliedstaaten ausschließlich im Anwendungsbereich des Unionsrechts bindet (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC), kann Art. 21 GRC nur in einer unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen angewendet werden.1 Voraussetzung ist damit, dass ein Fall nicht nur eine der Vorschriften der Charta, sondern gerade eine andere, für den Fall relevante Vorschrift des Unionsrechts berührt.2 Das kann entweder aufgrund der jeweiligen Gleichbehandlungsrichtlinie3 oder aufgrund einer anderen unionsrechtlichen Maßnahme4 der Fall sein. Die einzelne Gleichbehandlungsrichtlinie ist – kompetenzrechtlich gesprochen – eine, wenn auch nicht die einzige (!), Möglichkeit, um die Anwendbarkeit der vorrangigen Unionsgrundrechte zu eröffnen.5 Die einschlägige, aber mangels Horizontalwirkung nicht unmittelbar anwendbare Richtlinie ist nur einer von mehreren potentiellen Türöffnern zum Primärrecht, wenngleich in der Praxis der wichtigste.6 Verstößt eine staatliche oder private Maßnahme gegen den – auch im Horizontalverhältnis – unmittelbar anwendbaren allgemeinen Grundsatz bzw. Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 GRC, darf sie aufgrund des vorrangig anzuwendenden Unionsrechts nicht mehr angewendet werden. 16
Für die praktische Anwendung ergibt sich daraus folgende Prüfungsabfolge: (1.) Die gesuchte Rechtsfolge ist dem nationalen Recht zu entnehmen, mit dem die Richtlinie umgesetzt wird. (2.) Das gesamte nationale Recht ist richtlinienkonform auszulegen, um das dem Einzelnen von der Richtlinie und – subsidiär – der GRC gewährte subjektive Recht auf Gleichbehandlung effektiv durchzusetzen (vgl. § 1 Rz. 142 ff.). (3.) Ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich, sind Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 GRC im Horizontalverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber unmittelbar anzuwenden. (a) Das Diskriminierungsverbot folgt dabei unmittelbar aus der GRC. (b) Hinsichtlich der Rechtfertigung ist zu unterscheiden: Dass sie grundsätzlich möglich ist, folgt aus Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 GRC. Der Kreis der möglichen Rechtfertigungsgründe und die richterliche Kontrolldichte werden dagegen unter Rückgriff auf die „konkretisierende“ Richtlinien in Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 GRC „hineingelesen“. Voraussetzung dafür ist, dass die in der jeweiligen Richtlinie vorgesehenen Rechtfertigungsgründe ihrerseits grundrechtskonform sind. b) Entgeltgleichheit für Männer und Frauen (Art. 157 AEUV)
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Der Wortlaut des Art. 157 Abs. 1 AEUV verpflichtet jeden Mitgliedstaat, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen sicherzustellen. Primäre Adressaten des Diskriminierungsverbots sind – neben der Union selbst – die Mitgliedstaaten der Union. Damit sollen Wettbewerbsnachteile für die Mitgliedstaaten vermieden werden, die sich innerstaatlich zur Entgeltgleichheit unabhängig vom Geschlecht bekannten.7
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Art. 157 Abs. 1 AEUV erstreckt sich seit der Entscheidung des EuGH in der Rs. Defrenne II auf alle Tarifverträge, die abhängige Erwerbstätigkeit regeln, und auf alle Ver1 Grundlegend EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 – Fransson – Rz. 19, NJW 2013, 1415; bestätigt EuGH v. 14.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – Rz. 42 f., NZA 2014, 193. 2 GA Wahl 26.9.2013 – Rs. C-363/12 – Z, Rz. 71. 3 Beispielhaft EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – HK Danmark (Kristensen) – Rz. 21 = EuZW 2013, 951. 4 Vgl. EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 – Fransson – Rz. 27, NJW 2013, 1415. 5 Kritisch Höpfner, ZfA 2010, 449 (467). 6 Enger Mörsdorf, EuR 2009, 219 (237). 7 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 3 f.
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Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 20 § 3
träge zwischen Privatpersonen.1 Die Norm ist auch im einzelnen Arbeitsverhältnis unmittelbar anwendbar und begründet ein subjektives Recht des Arbeitnehmers (vgl. Rz. 235) gegenüber dem Arbeitgeber auf gleiche Entlohnung für gleiche oder gleichwertige Arbeit.2 Sie zählt als Individualgrundrecht zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts (vgl. § 1 Rz. 23 ff.).3 Art. 157 Abs. 1 AEUV ist ein spezifischer Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes.4 Art. 157 Abs. 1 AEUV soll auch in der sozialen Lebenswirklichkeit effektiv durchgesetzt werden.5 Weil sich Art. 157 Abs. 1 AEUV auf die Gleichbehandlung in Entgeltfragen beschränkt, stellt sich die Frage, ob es daneben ein allgemeines Diskriminierungsverbot aus Gründen des Geschlechts in Arbeits- und Beschäftigungsfragen gibt.6 Die Frage ist mit Blick auf Art. 23 Abs. 1 GRC und die jüngere Rechtsprechung des EuGH mittlerweile zu bejahen.7 Für die Anwendung im Arbeitsverhältnis ist das insbesondere dann von Bedeutung, wenn und soweit es Richtlinien gibt, mit denen der Gleichbehandlungsgrundsatz „konkretisiert“ wird (vgl. Rz. 13 ff.).8
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Den Anfang machte die – mittlerweile abgelöste9 – Richtlinie 75/117/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen.10 Sie sollte im Wesentlichen die konkrete Anwendung des (heute) in Art. 157 Abs. 1 AEUV enthaltenen Grundsatzes des gleichen Entgelts erleichtern, ohne dessen Inhalt oder Reichweite zu berühren.11 Zu nennen ist auch die – nicht mehr gültige12 – Richtlinie 86/378/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit.13 Beide Richtlinien sind mittlerweile in der, auf Grundlage des Art. 157 Abs. 3 AEUV ergangenen, Neufassung der Geschl-RL aufgegangen (vgl. Rz. 25). Daneben ist auch die, ebenfalls auf Art. 157 Abs. 3 AEUV beruhende14 Richtlinie 2010/41/EU (vgl. Rz. 28) zu erwähnen, die an die Stelle der Richtlinie 86/613/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, sowie über den Mutterschutz15 getreten ist. Nicht genuin gleichbehandlungsrechtlich, sondern sozialrechtlich (vgl. Rz. 4) konzipiert ist die Richtlinie 92/85/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von
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1 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 40; v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 – Nimz, Slg. 1991, I-297 – Rz. 11. 2 Lenz/Borchardt/Coen, Art. 157 AEUV Rz. 2. 3 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 12; v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 – Defrenne III, Slg. 1978, 1365 – Rz. 26 ff. 4 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 28; v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 – Richards, Slg. 2006, I-3585 – Rz. 23. 5 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 291. 6 Bejahend Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 72; zurückhaltend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 7. 7 Vgl. EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 71. 8 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 291. 9 Art. 34 Abs. 1 Geschl-RL. 10 ABl. Nr. L 45 v. 19.2.1975, S. 19. 11 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 28. 12 Art. 34 Abs. 1 Geschl-RL. 13 ABl. Nr. L 225 v. 12.8.1986, S. 40, geändert durch Richtlinie 96/97/EG (ABl. Nr. L 46 v. 17.2. 1997, S. 20). 14 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 78. 15 ABl. Nr. L 359 v. 19.12.1986, S. 56.
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§3
Rz. 21
Nichtdiskriminierungsrecht
schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz.1 c) Diskriminierungsrechtliche Kompetenzgrundlage (Art. 19 AEUV) 21
Art. 19 Abs. 1 AEUV erlaubt der Union geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus den dort abschließend aufgezählten2 Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Art. 19 AEUV ist eine eigenständige Kompetenzgrundlage.3 Umstritten ist, ob es sich um eine subsidiäre oder um eine kumulativ neben anderen Kompetenzgrundlagen tretende Ermächtigungsnorm der Union ist.4 Im Wesentlichen besteht darüber Einigkeit, dass Art. 157 Abs. 3 AEUV für Arbeits- und Beschäftigungsfragen spezieller ist.5 Art. 19 AEUV enthält selbst kein materielles Diskriminierungsverbot.6 Dieses findet sich jetzt primärrechtlich in Art. 21, 23 GRC und dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Nichtdiskriminierung (vgl. Rz. 12 ff.). Art. 19 AEUV begründet dagegen keine subjektiven Rechte Privater und ist deshalb auch nicht unmittelbar in Arbeitsverhältnissen anwendbar.7 Zu den in Art. 19 AEUV der Union erlaubten Maßnahmen, Diskriminierungen von Personen zu bekämpfen, zählt allerdings der Erlass von Diskriminierungsverboten, die an Privatrechtssubjekte adressiert sind.8 Davon hat der Unionsgesetzgeber Gebrauch gemacht (vgl. Rz. 25 ff.). Obwohl es an einer Art. 157 Abs. 4 AEUV bzw. Art. 23 Abs. 2 GRC vergleichbaren Regelung fehlt, steht Art. 19 Abs. 1 AEUV dem Einsatz sog. „positiver Maßnahmen“ (vgl. Rz. 228 ff.) im Sekundärrecht nicht entgegen.9 Soweit diese zu einer formalen Ungleichbehandlung führen, genügt die textliche Grundlage im Sekundärrecht.10
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Art. 19 Abs. 1 AEUV erlaubt der Union nur Maßnahmen gegen Diskriminierungen zu treffen, wenn diese im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten liegen. Die Interpretation der Formulierung wirft erhebliche Schwierigkeiten auf.11 Sie betreffen nicht nur die der Anwendung der Richtlinien vorgelagerte und nur vom EuGH letztverbindlich zu entscheidende Frage, ob sich die EU bei der Festlegung des Anwendungsbereichs innerhalb ihrer Kompetenzen bewegt. Wegen der Formulierung in Art. 3 Abs. 1 AntiRass-RL und Gleichb-RL, wonach die jeweilige Richtlinie „im Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkei-
1 ABl. Nr. L 348 v. 28.11.1992, S. 1, geändert durch Richtlinie 2007/30/EG (ABl. Nr. L 165 v. 27.6.2007, S. 21). 2 Schwarze/Holoubek, Art. 19 AEUV Rz. 20. 3 EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Association Belge des Consommateurs Test-Achats u.a., Slg. 2011, I-773 – Rz. 19; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 6. 4 Zum Streitstand Streinz/Streinz, Art. 19 AEUV Rz. 3 f. 5 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 19; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 80; Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 38; Streinz/Streinz, Art. 19 AEUV Rz. 7. 6 Calliess/Ruffert/Epiney, Art. 19 AEUV Rz. 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 6. 7 Ganz h.M., vgl. Streinz/Streinz, Art. 19 AEUV Rz. 19 m.w.N. 8 Bouchouaf/Richter, Jura 2006, 651 (652); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 44; Wernsmann, JZ 2005, 224 (227). 9 Kritischer dagegen Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 45 f. 10 Vgl. zur parallelen Behandlung beim Merkmal „Geschlecht“: Grünberger, Personale Gleichheit, S. 709 f. 11 Vertiefend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 10 ff.
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Rz. 25 § 3
Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts
ten gilt“, könnte ihr auch Bedeutung für die Interpretation der Richtlinien zukommen.1 Im Kern gibt es zwei plausible Verständnismöglichkeiten: Nach einer weiten Auslegung ist Art. 19 Abs. 1 AEUV ähnlich wie Art. 18 Abs. 1 AEUV zu verstehen. Danach genügt ein Zusammenhang mit einer unionsrechtlich geregelten Situation.2 Die enge Auslegung betont dagegen den unterschiedlichen Wortlaut beider Regelungen und verlangt daher, dass die Union sachlich zur Regelung des jeweiligen Bereichs zuständig ist (vgl. § 1 Rz. 64).3 Folgt man der zweiten Auffassung, darf die Union nach Art. 19 Abs. 1 AEUV nur in denjenigen Bereichen tätig werden, in denen ihr auch sonst eine Rechtsetzungsbefugnis zusteht.
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d) Spezialfall: Staatsangehörigkeit (Art. 21 Abs. 2 GRC, Art. 18 AEUV) Art. 21 Abs. 2 GRC und Art. 18 Abs. 1 AEUV verbieten eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dieses Merkmal fehlt im Kompetenzkatalog des Art. 19 Abs. 1 AEUV. Folglich enthalten auch die diskriminierungsrechtlichen Richtlinien kein an private Akteure adressiertes Verbot der Benachteiligung aus diesem Grund. In der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit kann allerdings eine Ungleichbehandlung wegen der ethnischen Herkunft liegen (vgl. Rz. 67).4 Ob das in Art. 21 Abs. 2 GRC grundrechtlich und in Art. 18 AEUV als Grundfreiheit inhaltsidentisch5 enthaltene Diskriminierungsverbot zugunsten der Staatsangehörigen von EU-Mitgliedstaaten6 auch auf Private anwendbar ist, wird vom speziellen Diskriminierungsrecht nicht beantwortet. Das ist eine Frage der unmittelbaren Horizontalwirkung von Art. 18 AEUV und seiner speziellen Ausprägungen in den als Diskriminierungsverboten verstandenen Grundfreiheiten (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit).7 Nach der zutreffenden Rechtsprechung des EuGH kann diesen Diskriminierungsverboten unmittelbare Wirkung auch im Privatrechtsverkehr zukommen.8 Dafür sprechen auch die Parallelen zu Art. 157 Abs. 1 AEUV9 und Art. 21 Abs. 1 GRC (vgl. Rz. 18 und 13 ff.).
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2. Spezielles Nichtdiskriminierungsrecht im Sekundärrecht a) Geschlechterrichtlinie Von großer praktischer Bedeutung war die Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg so1 So BGH v. 26.11.2007 – NotZ 23/07, NJW 2008, 1229 – Rz. 27; v. 22.3.2010 – NotZ 16/09, NJW 2010, 3783 – Rz. 15. 2 Haratsch, in: Klein (Hrsg.), Rassische Diskriminierung – Erscheinungsformen und Bekämpfungsmöglichkeiten, 2002, S. 195 (208 f.); Polloczek, Altersdiskriminierung im Licht des Europarechts, 2008, S. 69 f.; Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, 2003, S. 52. 3 Calliess/Ruffert/Epiney, Art. 19 AEUV Rz. 6; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Grabenwarter, Art. 19 AEUV Rz. 12; Schwarze/Holoubek, Art. 19 Rz. 5; Wernsmann, JZ 2005, 224 (229 f.). 4 MünchKomm/BGB/Thüsing, § 1 AGG Rz. 100. 5 Calliess/Ruffert/Rossi, Art. 21 GRC Rz. 11; Streinz/Streinz, Art. 21 GRC Rz. 8. 6 Zum persönlichen Anwendungsbereich näher Streinz/Streinz, Art. 18 AEUV Rz. 33 ff., 38 f. 7 Näher Bachmann, AcP 210 (2010), 424 (465 ff.); Herresthal, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, S. 177 ff.; Ludwigs/Weidermann, Jura 2014, 152; Müller-Graff, EuR 2014, 3 (18 f.). 8 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 – Angonese, Slg. I-4139 – Rz. 36. 9 Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Bogdandy, Art. 18 AEUV Rz. 28.
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§3
Rz. 26
Nichtdiskriminierungsrecht
wie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen.1 Die ergänzende Richtlinie 97/80/EG über die Beweislast bei Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts2 kodifizierte die Rechtsprechung des EuGH und führte zahlreiche Neuerungen ein. Beide Richtlinien wurden von der Richtlinie 2002/73/EG3 wesentlich geändert und mittlerweile von der konsolidierenden Richtlinie 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen4 (Geschl-RL) ersetzt. In den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt der Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs und zur Berufsbildung (Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und b Geschl-RL), alle Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts (Art. 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL), die Mitwirkung und Leistungsgewährung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen (Art. 14 Abs. 1 Buchst. d Geschl-RL) und die Gleichbehandlung in betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (Art. 5 ff. Geschl-RL). b) Antirassismusrichtlinie 26
Die Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft5 (AntiRass-RL) betrifft nur Diskriminierungen aus Gründen der Rasse und ethnischen Herkunft (Art. 2 Abs. 1), erfasst aber neben Sachverhalten im Zusammenhang mit Beschäftigung und Beruf auch Sozialschutz und soziale Vergünstigungen, Bildung und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum (Art. 3). Rechtfertigungsfähig ist eine Diskriminierung nur, wenn sie aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung ist, einem rechtmäßigen Zweck dient und angemessen ist (Art. 4) oder es sich um eine positive Maßnahme handelt (Art. 5). c) Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie
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Die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf6 (Gleichb-RL) schützt vor einer Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung, der Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung (Art. 1). Der sachliche Anwendungsbereich beschränkt sich auf Bereiche im Zusammenhang mit Beschäftigung und Beruf (Art. 3 Abs. 1). Mit der Breite der Diskriminierungsmerkmale korrelieren zahlreiche Rechtfertigungsmöglichkeiten (Art. 4, 6 und 7). d) Richtlinie zur Gleichbehandlung Selbständiger
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Die Richtlinie 2010/41/EU vom 7.7.2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben,7 betrifft alle selbständigen Erwerbstätigen. Das sind alle Personen, die 1 2 3 4
ABl. Nr. L 39 v. 14.2.1976, S. 40. ABl. Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 6. ABl. Nr. L 269 v. 5.10.2002, S. 15. ABl. Nr. L 204 v. 26.7.2006, S. 23. Die Richtlinien 75/117/EWG, 76/207/EWG (in der durch RL 2002/73/EG geänderten Fassung), 86/378/EWG und 97/80/EG wurden gem. Art. 34 Abs. 1 Gleichb-RL mit Wirkung vom 15.8.2009 aufgehoben. 5 ABl. Nr. L 180 v. 19.7.2000, S. 22. 6 ABl. Nr. L 303 v. 2.12.2000, S. 16. 7 ABl. Nr. L 180 v. 15.7.2010, S. 1.
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Geltungsgründe des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 30 § 3
nach den Bedingungen des innerstaatlichen Rechts eine Erwerbstätigkeit auf eigene Rechnung ausüben (Art. 2 Buchst. a). Ebenfalls erfasst werden die Ehepartner und – soweit nach nationalem Recht vorgesehen – die Lebenspartner, wenn sie weder abhängig Beschäftigte noch Gesellschafter sind und sich gewöhnlich an den Tätigkeiten des selbständigen Erwerbstätigen beteiligen, indem sie dieselben Aufgaben oder Hilfsaufgaben erfüllen (Art. 2 Buchst. b). Verboten ist jede Diskriminierung in Verbindung mit der Gründung, Einrichtung oder Erweiterung eines Unternehmens bzw. der Aufnahme oder der Ausweitung jeglicher anderen Art von selbständiger Tätigkeit (Art. 4 Abs. 1). Nach der nicht unproblematischen Rechtsprechung des EuGH (vgl. Rz. 5) muss das nationale Gericht nicht entscheiden, ob die Entlassung einer schwangeren Beschäftigten gegen die Geschl-RL, die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG oder die Richtlinie 2010/41/EU verstößt: „Unabhängig davon, welche Richtlinie Anwendung findet, kommt es darauf an, der Betroffenen den Schutz zu gewährleisten, den das Unionsrecht Schwangeren für den Fall gewährt, dass das Rechtsverhältnis, das sie mit einer anderen Person verbindet, wegen ihrer Schwangerschaft beendet wurde“.1 e) Richtlinien außerhalb von Beschäftigung und Beruf Der sachliche Anwendungsbereich der Antirassismusrichtlinie erfassst auch Bereiche jenseits von Beschäftigung und Beruf. Dazu zählen der Sozialschutz, die sozialen Vergünstigungen, die Bildung und der Zugang zu und „die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum“ (Art. 3 Abs. 1 Buchst. e-h). Die auf Grundlage von Art. 19 Abs. 1 AEUV ergangene Richtlinie 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen2 betrifft nur Diskriminierungen und Belästigungen aufgrund des Geschlechts (Art. 4). Der Grundsatz der Gleichbehandlung verpflichtet alle Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen (Art. 3 Abs. 1). Ausgeschlossen sind die Bereiche des Privat- und Familienlebens (Art. 3 Abs. 1), der Beschäftigung und des Berufs (Art. 3 Abs. 4). Noch nicht abschließend entschieden wurde über den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.3 Ziel dieses Vorschlags ist die Ausdehnung der für diese Merkmale bestehenden Diskriminierungsverbote auf Bereiche außerhalb von Beschäftigung und Beruf.4
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3. Bedeutung des Völkerrechts Eine wichtige Quelle des Nichtdiskriminierungsrechts sind völkerrechtliche Übereinkommen. Dazu zählen neben den allgemeinen Instrumenten,5 beispielsweise Art. 14 EMRK, insbesondere das Internationale Übereinkommen vom 7.3.1966 zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (ICERD)6 und das Übereinkommen zur 1 2 3 4 5 6
EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 70. ABl. Nr. L 373 v. 21.12.2004, S. 37. KOM (2008), 426 endg. KOM (2008), 426 endg., S. 7. Vertiefend dazu BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 43 ff. BGBl. II 1969, S. 961; UNTS Bd. 660, S. 195; dazu Delbrück, Die Rassenfrage als Problem des Völkerrechts und nationaler Rechtsordnungen, 1971; Grünberger, Personale Gleichheit, S. 277 ff.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 46.
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§3
Rz. 31
Nichtdiskriminierungsrecht
Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18.12.19791 (CEDAW)2. Diese Verträge haben unmittelbare Bedeutung nur für die Mitgliedstaaten, weil diese – sofern im nationalen Methodenkanon vorhanden3 – das nationale Recht völkerrechtskonform auslegen müssen. 31
Neben den Mitgliedstaaten ist auch die Union4 Vertragspartei des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.20065 (sog. UN-Behindertenkonvention).6 Wenn die EU Vertragssubjekt internationaler Übereinkünfte ist, haben diese gegenüber den (sekundären) Rechtsakten der Union Vorrang (Art. 216 Abs. 2 AEUV).7 Dieser Vorrang gebietet es, die in Umsetzung der Übereinkommen erlassenen Bestimmungen von Richtlinien nach Möglichkeit völkerrechtskonform auszulegen.8 Das bedeutet, dass der EuGH und auch der nationale Rechtsanwender vor einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts eine völkerrechtskonforme Auslegung der jeweiligen Richtlinie vorzunehmen haben, die gegebenenfalls weitgehend vom jeweils einschlägigen Abkommen vorgegeben sein kann.9 Wegen der vielen konkreten Vorgaben der Behindertenkonvention wirkt sich die Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung in der Praxis spürbar aus.10 Das gilt vor allem für die Pflicht des Arbeitgebers, angemessene Vorkehrungen gem. Art. 5 Richtlinie 2000/78/EG und Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i, 2 UAbs. 4 UN-Behindertenkonvention (vgl. Rz. 216) zu treffen.11
III. Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts 1. Art. 157 AEUV 32
Der Anwendungsbereich von Art. 157 Abs. 1 AEUV ist zweifach beschränkt: In persönlicher Hinsicht gilt das Gleichbehandlungsgebot nur für Arbeitnehmer. Das folgt aus Art. 157 Abs. 2 AEUV. In sachlicher Hinsicht beschränkt sich das Gleichbehandlungsgebot auf das Entgelt.
1 BGBl. II 1985, 648. 2 Dazu näher König, in: Rudolf (Hrsg.), Frauen und Völkerrecht, 2006, 81 ff.; Heintschel von Heinigg, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, 2009, § 175 Rz. 7 ff.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 47 ff. 3 Das ist in Deutschland der Fall, vgl. BVerfG v. 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09, BVerfGE 128, 326 – Rz. 89 ff.; v. 18.8.2013 – 2 BvR 1380/08, NJW 2013, 3714 – Rz. 27; näher dazu BeckOGK-BGB/ Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 42. 4 ABl. Nr. L 23 v. 27.1.2010, 35; zur Kompetenz der EU s. Waddington, Breaking New Ground, in: Arnardóttir/Quinn (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilites, 2009, S. 111 (117 ff.). 5 BGBl. II 2008, 1420. 6 Näher Degener, RdJB 2009, 200; Lachwitz, BtPrax 2008, 143; Petri/Stähler, ZESAR 2008, 167; Stein/Lord in: Arnardóttir/Quinn (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2009, S. 17 ff.; im Überblick BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 51 f. 7 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 28, NZA 2013, 553. 8 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 29, NZA 2013, 553. 9 Zu den Grenzen vgl. EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 – Grant, Slg. 1998 I-621 Rz. 47. 10 Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 52 ff.; Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, Einl. Rz. 160c. 11 Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 50 ff.
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Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 34 § 3
a) Arbeitnehmer Art. 157 Abs. 1 AEUV ist in persönlicher Hinsicht nur anwendbar, wenn die ungleich behandelten Personen Arbeitnehmer sind.1 Dabei handelt es sich um einen einheitlichen und autonomen Begriff des Unionsrechts (vgl. § 1 Rz. 110 ff.).2 Man kann daher nicht auf das nationale Begriffsverständnis zurückgreifen.3 Im Unionsrecht gibt es mehrere Arbeitnehmerbegriffe, die im Grundsatz verschiedene Zwecke verfolgen.4 Die Bedeutung hängt vom jeweiligen Anwendungsbereich ab.5 Weil der Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 157 Abs. 1 AEUV zu den Grundlagen der Union zählt (vgl. Rz. 18), geht der EuGH mit Recht von einem weiten Begriffsverständnis aus.6 Die Rechtsprechung orientiert sich dabei am Arbeitnehmerbegriff des Art. 45 AEUV,7 der aufgrund der unterschiedlichen Zwecksetzung nicht unkritisch übernommen werden darf.8 Danach ergibt sich für die Anwendung von Art. 157 AEUV und das spezielle sekundärrechtliche Gleichbehandlungsrecht sowie der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG ein insoweit einheitlicher unionsweiter Arbeitnehmerbegriff.9
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Arbeitnehmer i.S.v. Art. 157 Abs. 1 AEUV ist nach diesen Vorgaben, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.10 Ob ein solches Unterordnungsverhältnis vorliegt, ist in jedem Einzelfall nach Maßgabe aller Gesichtspunkte und aller Umstände zu beantworten, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen.11 Entscheidend ist, inwieweit ihre Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt ihrer Arbeit eingeschränkt ist.12 Sind die Personen verpflichtet, zu festen Zeiten an ihrem Arbeitsplatz anwesend zu sein, sind sie zweifellos Arbeitnehmer.13 Irrelevant ist die beschränkte Höhe der Vergütung oder der Umstand, dass die betroffene Person nur eine geringe Anzahl von Wochenstunden Arbeit leistet.14 Die Grenze liegt dort, wo die ausgeübte Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie vollständig untergeordnet und unwesentlich ist.15 Entscheidend ist, ob die tatsächlich erbrachten Leistungen auf dem Beschäftigungsmarkt üblich sind.16 Selbständige Erbringer von Dienstleistungen, die gegenüber dem Empfänger der Dienstleistungen nicht in einem
34
1 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 62. 2 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 64; Rebhahn, EuZA 2012, 3 (5); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rz. 2. 3 EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-11606 – Kiiski, Slg. 2007 I-7643 – Rz. 26 m.w.N.; v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 30. 4 Vertiefend Rebhahn, EuZA 2012, 3. 5 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 62. 6 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 64. 7 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-519/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 22. 8 Schwarze/Rebhahn/Reiner, Art. 153 AEUV Rz. 6. 9 Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (47); a.A. Rebhahn, EuZA 2012, 3 (31). 10 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 67; v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 39 m.w.N. (zur RL 92/85/EWG); grundlegend EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie-Blum – Rz. 17 (zu Art. 45 AEUV). 11 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 69; v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 46 (zur RL 92/85/EWG). 12 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 72. 13 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 42. 14 EuGH v. 4.6.2009 – verb. Rs. C-22/08 und C-23/08 – Vatsouras u.a., Slg. 2009, 4585 – Rz. 27 ff. 15 EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-46/12 – N. – DÖV 2013, 356 – Rz. 42. 16 EuGH v. 7.9.2004 – Rs. C-456/02 – Trojani, Slg. 2004, I-7573 – Rz. 24.
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§3
Rz. 35
Nichtdiskriminierungsrecht
Unterordnungsverhältnis stehen, sind nicht mehr vom Arbeitnehmerbegriff erfasst, sofern die Selbständigkeit nicht lediglich fiktiv ist.1 35
Bei den Kriterien des Arbeitnehmerbegriffs handelt es sich um objektive Faktoren.2 Sofern eine Person die Voraussetzungen erfüllt, ist die Einordnung der Rechtsbeziehung zwischen ihr und der anderen Partei des Arbeitsverhältnisses nach nationalem Recht für das unionsrechtliche Verständnis unerheblich.3 Unter den Arbeitnehmerbegriff des Art. 157 AEUV fallen daher – abweichend vom nationalen Begriffsverständnis – auch Beamte.4 Bedeutungslos ist, ob ein Arbeitnehmer als Arbeiter, Angestellter oder Beamter beschäftigt wird oder ob sein Beschäftigungsverhältnis öffentlichem oder privatem Recht unterliegt.5 Selbständige Erbringer von Dienstleistungen, die gegenüber deren Empfänger nicht in einem Unterordnungsverhältnis stehen, sind dagegen keine Arbeitnehmer i.S.v. Art. 157 Abs. 1 AEUV.6 Maßgeblich ist allerdings auch hier nicht, wie die Parteien das Rechtsverhältnis bezeichnen, sondern ob die Begriffsvoraussetzungen objektiv vorliegen.7 Dagegen können Mitglieder des Leitungsorgans einer Gesellschaft unionsrechtlich betrachtet Arbeitnehmer sein, wenn sie ihre Tätigkeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen Organs der Gesellschaft ausüben und jederzeit ohne Einschränkung von ihrem Amt abberufen werden können.8 Das hat Auswirkungen auf die Behandlung von Geschäftsführern der GmbH.9 b) Entgelt (Art. 157 Abs. 2 AEUV)
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In sachlicher Hinsicht beschränkt sich Art. 157 Abs. 1 AEUV auf die Gleichbehandlung bei Entgeltfragen. Art. 157 Abs. 2 AEUV enthält dafür eine Legaldefinition. Danach zählen zum Entgelt die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Im Wortlaut ist damit ein weiter Entgeltbegriff angelegt.10 Der EuGH11 versteht unter Entgelt „alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gewährten Vergütungen, vorausgesetzt, dass sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Beschäfti-
1 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 68, 71; v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 41. 2 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 29. 3 EuGH v. 7.9.2004 – Rs. C-456/02 – Trojani, Slg. 2004, I-7573 – Rz. 16; v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 40 m.w.N. (zur RL 92/85/EWG). 4 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 – Rz. 20 (zu Art. 45 AEUV); v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel – Rz. 19 ff., NVwZ 2012, 688; s. auch EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 27 f.; v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 – Kreil, Slg. 2000, I-69 – Rz. 18 m.w.N. (jeweils zur RL 76/207EWG). 5 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel – Rz. 25, NVwZ 2012, 688; v. 12.2.1974 – Rs. 152/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153 – Rz. 5. 6 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 68. 7 Vgl. EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 71; v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 41 (zur RL 92/85/EWG). 8 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 51 (zur RL 92/85/EWG). 9 Dazu vertiefend Preis/Sagan, ZGR 2013, 26. 10 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1 (2). 11 Siehe dazu die umfangreichen Nachweise bei Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 22 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 51 ff.; ErfK/Schlachter, Art. 157 AEUV Rz. 7 f.; Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 12 f.
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Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 38 § 3
gungsverhältnisses gewährt“.1 Damit ist von einem sehr weiten Entgeltbegriff auszugehen.2 Für die Anwendung von Art. 157 AEUV ist es unerheblich, aus welchem Grund der Arbeitgeber die Leistung gewährt, sofern er diese im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis erbringt.3 Als mögliche Grundlage kommen alle Regelungsinstrumentarien des Beschäftigungsverhältnisses in Betracht. Diese reichen von den einseitigen Maßnahmen des Arbeitgebers über den individuellen Vertrag bis zu Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen. Inhaltlich sind alle im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis gewährten Leistungen des Arbeitgebers erfasst: Gratifikationen,4 Zuschläge, Zulagen und Urlaubsentgelt.5 Dazu zählen auch die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall6 und Vergünstigungen, die ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern oder deren Ehe- und Lebenspartnern aufgrund des Dienstverhältnisses7 gewährt.
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Leistungen, die nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden, können ihre Grundlage im Arbeitsverhältnis haben.8 Sieht ein Tarifvertrag ein verpflichtendes Betriebsrentensystem vor und wird daraus eine Hinterbliebenenrente gezahlt, hat diese Rente ihren Ursprung im Beschäftigungsverhältnis des Ehegatten bzw. Lebenspartners und dessen Arbeitgebers.9 Art. 157 AEUV erfasst nicht nur den Anspruch auf die von einem Betriebsrentensystem erbrachten Leistungen, sondern auch den Anspruch auf Beitritt zu diesem System.10 Im Einzelnen bereitet die Abgrenzung zu den von Art. 157 AEUV nicht erfassten Leistungen jeder Art seitens der staatlichen Systeme oder der damit gleichgestellten Systeme einschließlich der staatlichen Systeme der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes Probleme.11 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist Art. 157 AEUV nicht auf Systeme anwendbar, zu deren Finanzierung Arbeitnehmer, Arbeitgeber und eventuell die öffentliche Hand in einem Maße beitragen, das weniger von einem Beschäftigungsverhältnis abhängt, sondern vielmehr durch sozialpolitische, ethische, haushalterische Erwägungen bestimmt wird.12 Diese politischen Erwägungen spielen dagegen keine Rolle bei betrieblichen Systemen, die nur für eine besondere Gruppe von Arbeitnehmern gelten, wenn die Leistung unmittelbar von der abgeleisteten Dienstzeit abhängt und wenn ihre Höhe nach den letzten Bezügen berechnet wird.13 Leistungen eines die staatlichen Sozialsysteme ergänzenden betrieblichen Versorgungssystems fallen
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1 Exemplarisch EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 23; v. 21.7.2005 – Rs. C-207/04 – Vergani, Slg. 2005, I-7453 – Rz. 22. 2 Vgl. Barnard, EU Employement Law, S. 299 f. 3 EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 – Lewen, Slg. 1999, 7243 – Rz. 20; v. 21.7.2005 – Rs. C-207/04 – Vergani, Slg. 2005, I-7453 – Rz. 22. 4 EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 – Lewen, Slg. 1999, 7243 – Rz. 21. 5 Vgl. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 25. 6 EuGH v. 8.9.2005 – Rs. C-191/03 – McKenna, Slg. 2005, I-7631 – Rz. 29 m.w.N. 7 EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 – Grant, Slg. 1998, I-621 – Rz. 13 m.w.N. 8 EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 44 m.w.N. 9 EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 – Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 – Rz. 12 f.; v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 45 m.w.N. 10 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 Rz. 63 m.w.N. 11 Dazu Barnard, EU Employement Law, S. 301. 12 EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. 395/08 und 396/08 – Bruno u.a., Slg. 2010 I-5119 – Rz. 41 m.w.N.; grundlegend EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 – Barber, Slg. 1990, I-1889 – Rz. 22 ff. 13 EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 48; v. 23.10.2003 – verb. Rs. C-4/02 und C-05/02 – Schönheit u.a., Slg. 2003, I-12575 – Rz. 58.
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§3
Rz. 39
Nichtdiskriminierungsrecht
danach unter Art. 157 AEUV.1 Kein Entgelt sind staatliche vermittelte Vorteile wie Steuervergünstigungen.2 39
Probleme bereitet die Abgrenzung zu den nicht unter Art. 157 Abs. 1 AEUV fallenden, aber von den diskriminierungsrechtlichen Richtlinien (vgl. Rz. 47 f.) erfassten „sonstigen Arbeitsbedingungen“. Das gilt beispielsweise für die Regelungen zur Ermittlung der Dienstaltersstufe mit Auswirkungen auf das Arbeitsentgelt. Ein Beispiel dafür ist die unterschiedliche Behandlung von (tarifvertraglichen) Höhergruppierungen bei gleichbleibender Tätigkeit (Bewährungsaufstieg).3 Während der EuGH in einer älteren Entscheidung die Entgelterhöhungen bei „quasi automatischem Bewährungsaufstieg“ ohne weiteres als Arbeitsentgelt einordnete,4 sieht er darin jetzt eine „Präzisierung der Bedingungen des Zugangs zu einer höheren Stufe der beruflichen Rangordnung“ und damit eine Fallgruppe des beruflichen Aufstiegs.5 Regelungen zur Ermittlung der Dienstaltersstufe werden vom EuGH ebenfalls als Zugangsbedingungen interpretiert.6 In der Sache geht er davon aus, dass eine Regelung sowohl eine Bedingung für den Zugang zur Erwerbstätigkeit und die Einstellung („sonstige Arbeitsbedingung“) als auch eine Regelung des Arbeitsentgelts sein kann.7 Die früher notwendige Abgrenzung zwischen dem sachlichen Anwendungsbereich des Art. 157 Abs. 1 AEUV und der (vormaligen) Richtlinie 76/207/EWG ist in der Geschlechterrichtlinie 2006/54/EG weggefallen. Das hat in zweierlei Hinsicht praktische Auswirkungen: Für Arbeitnehmer kommt es zu einem Gleichklang von Richtlinien und Art. 157 Abs. 1 AEUV.8 Dagegen können sich selbständig Erwerbstätige nicht auf Art. 157 Abs. 1 AEUV und – wegen des beschränkten persönlichen Anwendungsbereichs – auch nicht auf die Entgeltdiskriminierung der Richtlinien stützen. Weil die neue Rechtsprechung in Zugangsvoraussetzungen zum Entgelt gleichzeitig „sonstige Arbeitsbedingungen“ sieht, können sie sich auf die Richtlinien berufen (vgl. Rz. 47 f.). 2. Anwendungsbereich des speziellen Nichtdiskriminierungsrechts der Richtlinien a) Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit
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Art. 3 Abs. 1 Buchst. a AntiRass-RL, 3 Abs. 1 Buchst. a Gleichb-RL und 14 Abs. 1 Buchst. a Geschl-RL erfassen im Wesentlichen wortlautidentisch alle Bedingungen für den Zugang zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, einschließlich des beruflichen Aufstiegs. Der sachliche – und implizit auch persönliche – Anwendungsbereich darf aufgrund des mit den Richtlinien verfolgten Zwecks und des Umstands, dass die Richtlinie „in dem jeweiligen Bereich nur der Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist, der einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts und in Art. 21 [GRC] niedergelegt ist, nicht eng definiert werden“.9
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aa) Erwerbstätigkeit. Der Begriff der unselbständigen Erwerbstätigkeit ist einheitlich und autonom unionsrechtlich auszulegen.10 Wie ein Vergleich von Art. 3 Abs. 1 1 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 Rz. 20 f.; v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 – Barber, Slg. 1990, I-1889 – Rz. 27 f. 2 EuGH v. 21.7.2005 – Rs. C-207/04 – Vergani, Slg. 2005, I-7453 – Rz. 23. 3 Vertiefend Adomeit/Mohr, AGG, § 2 Rz. 90. 4 EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 – Nimz, Slg. 1991, I-297 – Rz. 9 f. 5 EuGH v. 18.11.2004 – Rs. C-284/02 – Sass, Slg. 2004, I-11143 – Rz. 31. 6 EuGH v. 18.9.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325 – Rz. 35. 7 EuGH v. 18.9.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325 – Rz. 35. 8 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV – Rz. 60. 9 EuGH v. 12.5.2011 – Rs. C-391/09 – Runevicˇ-Vardyn u. a., Slg. 2011 I-3787 – Rz. 43. 10 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 39.
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Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 43 § 3
Buchst. a AntiRass-RL mit Art. 14 Abs. 1 Buchst. a Geschl-RL bestätigt, verwenden die Richtlinien die Begriffe „unselbständig“ und „abhängig“ synonym. Für die Auslegung orientiert sich der EuGH am Arbeitnehmerbegriff des Art. 157 AEUV (vgl. Rz. 33 ff.).1 Besondere Schwierigkeiten entstehen im Zusammenhang mit Organmitgliedern von Kapitalgesellschaften, insbesondere Fremd-Geschäftsführern und Vorständen (vgl. Rz. 35).2 Der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinien ist unabhängig davon eröffnet, wie man die Tätigkeit der Organmitglieder unionsrechtlich einordnet: Sie üben entweder eine unselbständige oder eine selbständige Tätigkeit aus.3 Allerdings gilt das nur für die Zugangsbedingungen. Zweifelhaft ist, ob aus unionsrechtlicher Sicht die in den nationalen Rechtsordnungen anzutreffende Differenzierung zwischen dienstvertraglichem Anstellungsverhältnis und gesellschaftsrechtlichem Bestellungsverhältnis relevant ist.4 Der Normzweck des Diskriminierungsverbots (vgl. Rz. 1 f.) spricht im Ergebnis dafür, dass auch das Bestellungsverhältnis in den sachlichen Anwendungsbereich fällt. Insbesondere mit der nach außen wirkenden diskriminierenden Bestellung oder Abberufung wird der soziale Gleichbehandlungsanspruch einer Person verletzt. Zur Klärung dieser Frage ist letztlich aber eine Vorlage an den EuGH erforderlich. Der persönliche Anwendungsbereich bestimmt sich für Organmitglieder nach § 6 Abs. 3 AGG. Soweit sie den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllen, ist der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinien und – wegen des Gebots richtlinienkonformer Interpretation – auch des § 6 Abs. 1 AGG eröffnet. Sofern das Organmitglied nicht Arbeitnehmer ist, erweitert § 6 Abs. 3 AGG den persönlichen Anwendungsbereich, allerdings nur im sachlichen Anwendungsbereich der Art. 3 Abs. 1 Buchst. a AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. a Geschl-RL. Daraus folgt, dass für diese Selbständigen Benachteiligungen bei Vergütung und Entlassungen bzw. Abberufungen nicht von einem Diskriminierungsverbot erfasst sind.5
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Auch der Begriff der selbständigen Tätigkeit ist im Anwendungsbereich der Richtlinien unionsrechtlich autonom und einheitlich zu interpretieren. Er ergibt sich im Umkehrschluss zur unselbständigen Tätigkeit. Ein abweichendes Konzept verfolgt Art. 2 Richtlinie 2010/41/EU6. Danach sind selbständige Erwerbstätige, „alle Personen, die nach den Bedingungen des innerstaatlichen Rechts eine Erwerbstätigkeit auf eigene Rechnung ausüben“. Das wesentliche Merkmal der selbständigen Tätigkeit besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen, ohne dessen Weisungen unterworfen zu sein, Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. Rz. 34). Darunter fallen alle unternehmerischen (gewerblichen) oder selbständigen (frei-)beruflichen Tätigkeiten.7 Ein öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger übt eine selbständige Tätigkeit aus, weil er sie gegen Vergütung, auf eigene Rechnung und frei von Weisungen in Bezug auf die
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1 EuGH v. 11.10.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 39; v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 66; dazu Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (48 f.); krit. Rebhahn, EuZA 2011, 3 (24 f.). 2 Zur Einordnung Korte, NZG 2013, 601 (603); Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (27 ff.). 3 Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (48). 4 S. Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (36 ff.). 5 Korte, NZG 2013, 601 (606 f.). 6 Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, und zur Aufhebung der Richtlinie 86/613/EWG (ABl. Nr. L 180 v. 15.7.2010, S. 1). 7 Vgl. BVerwG v. 26.1.2011 – 8 C 46/09, NZA-RR 2011, 233 – Rz. 22.
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§3
Rz. 44
Nichtdiskriminierungsrecht
Organisation der Arbeit Dritten anbietet.1 Dasselbe gilt für Notare.2 Eine selbständige Erwerbstätigkeit liegt auch vor, wenn jemand einer Personengesellschaft beitreten will.3 Davon abzugrenzen ist ein Beitritt, mit dem lediglich eine Kapitalanlage angestrebt wird.4 44
bb) Zugang. Das Diskriminierungsverbot gilt für alle Bedingungen, von denen der „Zugang“ zur Erwerbstätigkeit abhängig ist. Damit wollen die Richtlinien die gleichen Partizipationsmöglichkeiten aller privaten Akteure am Beschäftigungsmarkt sichern. Als Regelbeispiele nennen die Richtlinien Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen. Zu den Auswahlbedingungen zählen alle vom Arbeitgeber aufgestellten objektiven und subjektiven Berufszulassungs- und Berufsausübungsregelungen, beispielsweise Altersgrenzen.5 Erfasst wird auch der Fall, dass die Erwerbstätigkeit aufgrund einer Befristung endet und die Stelle neu besetzt werden soll.6 Besondere Probleme entstehen hinsichtlich der Frage, ob eine Ungleichbehandlung den Zugang zu einer selbständigen Tätigkeit betrifft.7
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Im Ergebnis fällt die gesamte Phase der Vertragsanbahnung einer Beschäftigung darunter.8 Zugang betrifft nicht nur die Bedingungen, die vor der Begründung eines konkreten Arbeitsverhältnisses bestanden haben, sondern alle Umstände, die sich auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit auswirken können.9 Daher erfasst er auch öffentliche Äußerungen im Vorfeld von Auswahlverfahren, die geeignet sind, Angehörige geschützter Gruppen von einer Bewerbung abzuschrecken.10 Das gilt auch, wenn die Äußerung nicht von einer rechtlich für das Unternehmen handlungs- und vertretungsbefugten Person stammt, sondern von einem Dritten, der in der Öffentlichkeit als Repräsentant des Unternehmens wahrgenommen wird.11
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Für den beruflichen Aufstieg gelten die Voraussetzungen für den diskriminierungsfreien Zugang entsprechend. Zum Aufstieg zählen alle angestrebten Veränderungen im Tätigkeits- oder Verantwortungsbereich der Arbeitnehmer, die – wie eine Versetzung oder Beförderung – eine Verbesserung „der beruflichen Rangordnung“12 und damit des Status als Beschäftigter mit sich bringen.13 Dazu zählt auch die Beurteilung jedes Arbeitnehmers wegen der damit einhergehenden Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg.14
1 BVerwG v. 26.1.2011 – 8 C 46/09, NZA-RR 2011, 233 – Rz. 22. 2 Grünberger, LMK 2014, 356538; offengelassen von BGH v. 26.11.2007 – NotZ 23/07, BGHZ 174, 273 – Rz. 27; v. 22.3.2010 – NotZ 16/09, BGHZ 185, 30 – Rz. 22. 3 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 2 Rz. 6; MünchKomm/BGB/Thüsing, § 2 AGG Rz. 5; anders nur Schroeder/Diller, NZG 2006, 728 (729 f.). 4 Erman/Belling, § 2 AGG Rz. 5. 5 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010. I-1 – Rz. 27. 6 BGH v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, BGHZ 193, 110 – Rz. 20; abl. Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (63). 7 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 2 AGG Rz. 28 f. 8 Kania/Merten, ZIP 2007, 8. 9 EuGH v. 13.7.1995 – Rs. C-116/94 – Meyers, Slg. 1995, I-2145 – Rz. 22. 10 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 25. 11 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 47 ff., NZA 2013, 891. 12 EuGH v. 18.11.2004 – Rs. C-284/02 – Sass, Slg. 2004 I-11143 – Rz. 31. 13 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 2 Rz. 30a; Adomeit/Mohr, AGG, § 2 Rz. 89; ErfK/ Schlachter, § 2 AGG Rz. 7. 14 EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-136/95 – Thibaut, Slg. 1998 I-2011 – Rz. 27.
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Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 49 § 3
b) Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen aa) Allgemeines. Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AntiRass-RL, 3 Abs. 1 Buchst. c Gleichb-RL und 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL erfassen wortlautidentisch alle Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen. Der sachliche Anwendungsbereich ist auf unselbständig Erwerbstätige beschränkt.1 Das folgt aus einem Vergleich des Wortlauts der Art. 3 Abs. 1 Buchst. a mit Buchst. c AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL, der nicht nur für den Begriff des Arbeitsentgelts ausdrücklich auf Art. 157 AEUV verweist. Darauf können sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur Arbeitnehmer berufen (vgl. Rz. 33 ff.). Der Anwendungsbereich ist nur eröffnet, wenn die Bedingungen in einem bereits bestehenden Beschäftigungsverhältnis der unselbständig Erwerbstätigen wurzeln.2 Das kann sowohl ein aktuell bestehendes als auch ein ehemaliges Beschäftigungsverhältnis sein.3
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Zu den „Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“ gehören alle Umstände, aufgrund derer und unter denen die Arbeitsleistung zu erbringen ist.4 Das betrifft sowohl die Bedingungen selbst als auch deren Grundlage.5 Erfasst sind alle Leistungen, die notwendig mit einem Arbeitsverhältnis verknüpft sind oder unmittelbar auf dem Arbeitsverhältnis beruhen.6 Dazu zählt beispielsweise der Urlaubsanspruch.7 Zu den Maßnahmen zählen die Ausgestaltung des konkreten Arbeitsplatzes,8 die Versetzung oder Umsetzung9 und alle Verhaltensweisen, die den entlassenen Arbeitnehmer bei seiner Suche nach einer neuen Stelle behindern, beispielsweise die Weigerung des ehemaligen Arbeitgebers, ein Arbeitszeugnis auszustellen.10
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bb) Arbeitsentgelt. Als Regelbeispiel für die Beschäftigungsbedingungen nennen die Richtlinien das Arbeitsentgelt. Art. 4 Geschl-RL statuiert den Grundsatz der Entgeltgleichheit neben Art. 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL noch einmal ausdrücklich. Das wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen primär- und sekundärrechtlichem Entgeltdiskriminierungsverbots auf.11 Nach der Rechtsprechung des EuGH zur Vorgängerrichtlinie 75/117/EWG12 erleichert die Richtlinie lediglich die konkrete Anwendung des Art. 157 AEUV, ohne den Inhalt oder die Reichweite des primärrechtlichen Grundsatzes zu berühren.13 Wegen der unmittelbaren Wirkung des Art. 157 Abs. 1 AEUV ist Art. 4 Geschl-RL daher bedeutungslos, soweit er mit Art. 157 AEUV identisch ist.14
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1 Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, § 2 Rz. 30; Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 2 Rz. 32; Meinel/Heym/Herms, AGG, § 2 Rz. 19; Adomeit/Mohr, AGG, § 2 Rz. 97; MünchKomm/BGB/ Thüsing, § 2 AGG Rz. 8; a.A. ErfK/Schlachter, § 2 AGG Rz. 8; BeckOK-ArbR/Roloff, § 2 AGG Rz. 7. Nicht eindeutig ist EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 33, weil der EuGH die Altersgrenze bei Kassenärzten neben Art. 3 Abs. 1 Buchst. a auch an Buchst. c Gleichb-RL misst. 2 Vgl. Adomeit/Mohr, AGG, § 2 Rz. 93. 3 EuGH v. 22.9.1998 – Rs. C-185/97 – Coote, Slg. 1998, I-5199 – Rz. 25; v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 44 m.w.N. 4 Vgl. BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803 – Rz. 12. 5 Zur Differenzierung BeckOK-ArbR/Roloff, § 2 AGG Rz. 6. 6 EuGH v. 13.7.1995 – Rs. C-116/94 – Meyers, Slg. 1995, I-2145 – Rz. 24. 7 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803 – Rz. 12. 8 Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 80 (im Zusammenhang mit Art. 5 Gleichb-RL). 9 ErfK/Schlachter, § 2 AGG Rz. 8. 10 EuGH v. 22.9.1998 – Rs. C-187/97 – Coote, Slg. 1998, I-5199 – Rz. 10, 27. 11 Eingehend dazu Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, S. 256 ff. 12 ABl. Nr. L 45 v. 19.2.1975, S. 19. 13 EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 – Jenkins, Slg. 1981, 911 – Rz. 22. 14 Zu möglichen Unterschieden und der Rechtsprechung zum sekundärrechtlichen Entgeltgleichheitsgrundsatz s. Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, S. 258 ff.
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§3
Rz. 50
Nichtdiskriminierungsrecht
50
Im Übrigen definiert die Geschlechterrichtlinie den Entgeltbegriff (Art. 2 Abs. 1 Buchst. e) in fast wortlautidentischer Übernahme von Art. 157 Abs. 2 AEUV (vgl. Rz. 36 ff.). Art. 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL verweist ausdrücklich auf Art. 157 AEUV. Daraus folgt, dass hinsichtlich der Diskriminierungskategorie „Geschlecht“ derselbe Entgeltbegriff Anwendung findet. Der EuGH hat diesen Entgeltbegriff auch in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG angewendet.1 Es ist daher davon auszugehen, dass der Entgeltbegriff im speziellen sekundärrechtlichen Nichtdiskriminierungsrecht gleichbedeutend mit Art. 157 AEUV ist.2
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cc) Entlassungsbedingungen. Die „Entlassungsbedingungen“ sind ebenfalls weit zu verstehen.3 Erfasst sind alle rechtlichen und tatsächlichen Maßnahmen, mit denen das bestehende Beschäftigungsverhältnis (ex nunc oder ex tunc) beendet wird. Sie beziehen sich sowohl auf das „Ob“ als auch auf das „Wie“ der Beendigung.4 Darunter fallen die (außerordentliche oder ordentliche) Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber,5 eine automatische oder vom Arbeitgeber herbeigeführte Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Erreichen einer Altersgrenze,6 die Anfechtung des Vertrages7 oder der Eintritt eines (vertraglich vereinbarten) Befristungszeitraums8. Weil auch „Regelungen über freiwilliges Ausscheiden“9 erfasst werden, werden auch die Kündigung durch den Arbeitnehmer oder einvernehmlich geschlossene Aufhebungsverträge10 erfasst. Das gilt ebenso für alle Leistungen, die einen unmittelbaren Bezug zur Entlassung aus dem Beschäftigungsverhältnis haben, insbesondere für Abfindungen, die im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt werden.11 Darunter fallen auch betriebliche Sozialpläne.12
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Nach § 2 Abs. 4 AGG gelten für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz. Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm legen es nahe, sie als vollständige Bereichsausnahme für Kündigungen zu lesen. Damit würde Deutschland gegen seine Umsetzungspflichten verstoßen. Deshalb ist fraglich, ob § 2 Abs. 4 AGG richtlinienkonform ist.13
1 EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 40 f. 2 Zurückhaltender Barnard, EU Employement Law, S. 302. 3 EuGH v. 16.2.1982 – Rs. 19/81 – Burton, Slg. 1982, 554 – Rz. 9; v. 21.7.2005 – Rs. C-207/04 – Vergani, Slg. 2005, I-7453 – Rz. 27; v. 12.9.2103 – Rs. C-614/11 – Kuso – Rz. 36, NZA 2013, 1071. 4 Vgl. BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 524/09, NZA 2011, 970 – Rz. 14. 5 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 25 f. 6 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 – Marshall, Slg. 1986, 723 – Rz. 34; v. 16.10. 2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 45 f.; v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 27 f.; v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 33; v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 40 f.; v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 und C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11689 – Rz. 29 f. 7 EuGH v. 5.5.1994 – Rs. C-421/92 – Habermann-Beltermann,, Slg. 1994, I-1657 – Rz. 13 f. 8 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981. 9 EuGH v. 16.2.1982 – Rs. 19/81 – Burton, Slg. 1982, 554 – Rz. 9; v. 21.7.2005 – Rs. C-207/04 – Vergani, Slg. 2005, I-7453 – Rz. 27. 10 EuGH v. 16.2.1982 – Rs. 19/81 – Burton, Slg. 1982, 554 – Rz. 9. 11 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 21. 12 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 33, NZA 2012, 1435; v. 16.2.1982 – Rs. 19/81 – Burton, Slg. 1982, 554 – Rz. 9. 13 Siehe Schreiben der Kommission v. 31.1.2008, Vertragsverletzungsverfahren 2007/23, K(2008) 0103, 3 f.
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Anwendungsbereich des Nichtdiskriminierungsrechts
Rz. 55 § 3
Dazu hat sich ein breites Meinungsspektrum herausgebildet.1 Das BAG ist der Auffassung, dass § 2 Abs. 4 AGG keinen vollständigen Anwendungsausschluss des AGG auf Kündigungen anordnet.2 Im sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich des KSchG würden benachteiligende Kündigungen nicht nach eigenen Unwirksamkeitsnormen bewertet. Sie seien für die Beurteilung der Frage relevant, ob die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist oder nicht.3 Es ist zweifelhaft, ob die Rechtsprechung des BAG den unionsrechtlichen Anforderungen an die effektive und transparente Umsetzung der Richtlinien genügt. Deshalb ist eine Vorlage gem. Art. 267 AEUV angezeigt. Zum Kündigungsschutz zählen nach neuester Rechtsprechung des BAG nur solche Vorschriften des deutschen Rechts, die speziell auf Kündigungen zugeschnitten sind.4 Das ist nur dann der Fall, wenn sie die Kündigung als Tatbestandsmerkmal enthalten. Die für den Kündigungsschutz im Kleinbetrieb und in der Wartezeit maßgeblichen zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB zählten nicht mehr zu den Kündigungsschutzregeln.5 § 2 Abs. 4 schließt damit die Anwendung des AGG auf solche (ordentlichen) Kündigungen nicht aus.6
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c) Berufsberatung und berufliche Aus- und Weiterbildung In den sachlichen Anwendungsbereich fallen gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b Geschl-RL die Berufsberatung, die Berufsbildung und die praktische Berufserfahrung. Damit wird das gesamte Spektrum von Tätigkeiten erfasst, damit ein privater Akteur seine Leistungen erfolgreich auf dem Markt für selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit (vgl. Rz. 33 ff.) anbieten kann.
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d) Mitgliedschaft und Mitwirkung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen Art. 3 Abs. 1 Buchst. d AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. d Geschl-RL erstrecken die Diskriminierungsverbote auf die Mitgliedschaft und die Mitwirkung in Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisationen bzw. berufsbezogenen Vereinigungen sowie die Inanspruchnahme der Leistungen dieser Einrichtungen. Damit der Normzweck der Richtlinien erreicht werden kann, muss für die selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigen (vgl. Rz. 33 ff.) die ungehinderte Mitwirkung in den entsprechenden Berufsverbänden und ähnlichen Vereinigungen gesichert werden. In den sachlichen Anwendungsbereich fallen daher alle Regelungen und Maßnahmen, die den Zugang zur Mitgliedschaft, die interne Mitwirkung an der Willensbildung oder die Inanspruchnahme der Leistungen der genannten Vereinigungen betreffen. Zu den erfassten Vereinigungen zählen neben den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden auch Berufsverbände von Freiberuflern7 und Spielervereinigungen von
1 Zum Problem und zum Streitstand s. BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361 – Rz. 30 ff.; weitere Nachweise bei BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 2 AGG Rz. 72 f. 2 Grundlegend BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361 – Rz. 34 ff. 3 BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361 – Rz. 40. 4 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 34. 5 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 34; Kittner/Däubler/Zwanziger/ Zwanziger, KSchR, AGG Rz. 63. 6 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 34; vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 2 AGG Rz. 77 ff. 7 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 2 Rz. 42.
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§3
Rz. 56
Nichtdiskriminierungsrecht
Berufssportlern.1 Die Richtlinien beanspruchen Anwendung auch auf öffentlich-rechtlich organisierte Zusammenschlüsse.
IV. Diskriminierungsmerkmale 1. Grundfragen 56
Das primäre Unionsrecht (vgl. Rz. 12) kennt insgesamt sieben Diskriminierungsmerkmale, die in den Richtlinien (vgl. Rz. 25 ff.) aufgegriffen werden und an die anzuknüpfen privaten Akteuren in privaten Rechtsbeziehungen verboten wird. Diese – ihrerseits notgedrungen „diskriminierende“2 – Auswahl basiert auf einer politischen Wertentscheidung darüber, bei welcher Kategorisierung von Menschen das Risiko einer faktischen Zurücksetzung besonders groß ist.3 Das basiert auf der Überlegung, dass verschiedene Menschen von sozial wirksamen Kategorisierungen auch unterschiedlich betroffen werden. Deshalb wird vorgeschlagen, anstelle von „Diskriminierungsgründen“ oder „-merkmalen“ von „Kategorisierung“ zu sprechen.4 Das hat nicht nur theoretische Gründe, sondern auch einen erheblichen praktischen Vorteil: Als Rechtsanwender vermeidet man damit den typischen Fehler, „objektiv“ vorhandende Merkmale bei benachteiligten Personen zu suchen, an denen die Diskriminierung festgemacht werden kann. Im Nichtdiskriminierungsrecht kommt es nicht darauf an, ob eine Eigenschaft tatsächlich vorliegt, sondern nur darauf, welche soziale Bedeutung dieser Kategorie zugeschrieben wird.5 Es geht also nicht um etwas, „was Menschen haben oder in unterschiedlichen Ausprägungen ‚sind‘, sondern um Einteilungen, die von diskriminierenden Personen in bestimmten Machtpositionen gemacht werden.“6
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Daher kann eine verbotene Kategorisierung auch erfolgen, wenn der Diskriminierende lediglich annimmt, dass ein verpöntes Merkmal bei einer Person vorliege und sie deshalb unterschiedlich behandelt. Dafür spricht auch die Entscheidung des EuGH in der Rs. Coleman. Danach gilt das Diskriminierungsverbot nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die jeweils genannten Gründe.7 Für den Schutz vor Benachteiligung wegen der sexuellen Ausrichtung (vgl. Rz. 86 ff.) kommt es beispielsweise nur darauf an, dass die besondere sexuelle Orientierung einer Person, gleich ob tatsächlich vorliegend oder nur angenommen, den Grund der Belästigung bot.8 Das gilt selbst dann, wenn dem Diskriminierenden selbst bekannt war, dass der Betroffene nicht homosexuell ist.9
1 Gegenwärtig gibt es drei solche Spielervereinigungen: Die Vereinigung der Vertragsfußballer e.V., die Vereinigung der Eishockeyspieler e.V. und die Spielerinitiative Basketball, s. Weichselgärtner, Das AGG im Leistungssport, 2011, S. 53. 2 So die Kritik von Schwab, DNotZ 2006, 649 (671 f.). 3 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 7. 4 Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, 2010, S. 25. 5 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 531. 6 Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, 2010, S. 25 (26). 7 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 38. 8 England and Wales Court of Appeal (Civil Division) 19.12.2008 – English v. Thomas Sanderson Ltd – EWCA Civ 2008, 1421 – Rz. 39 (Sedley LJ). 9 England and Wales Court of Appeal (Civil Division) 19.12.2008 – English v. Thomas Sanderson Ltd – EWCA Civ 2008, 1421 – Rz. 39 (Sedley, LJ) und Rz. 70 (Collins, LJ).
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Diskriminierungsmerkmale
Rz. 60 § 3
Die Diskriminierungskategorisierungen des Unionsrechts sind einheitlich-autonom auszulegen.1 Nach ganz überwiegender Ansicht sind die in den Richtlinien aufgeführten Diskriminierungsmerkmale abschließend.2 Dafür spricht das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, mit dem die Rechtssetzungskompetenz der EU beschränkt wird. Daher ist Krankheit als solche (vgl. Rz. 96) kein weiteres Diskriminierungsmerkmal der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie.3 Politische Ansichten sind – anders als bei Art. 14 EMRK – ebenfalls kein verpöntes Merkmal.4
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Auf nationaler Ebene ist dagegen zu differenzieren.5 Wenn höherrangiges Recht dem nachgeordneten Recht ge- oder verbietet, ein bestimmtes Merkmal als zulässiges Diskriminierungsmerkmal auszugestalten, ist diese Entscheidung entweder rechtsfortbildend im Wege einer Analogie oder über die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte mittels der Generalklauseln umzusetzen.6 Im deutschen Recht stellt sich das Problem beispielsweise für das Merkmal „Weltanschauung“, weil es in § 19 Abs. 1 AGG fehlt,7 aber in Art. 4 Abs. 1 GG gleichrangig mit der Religion behandelt wird,8 oder für die Kategorisierungen „persönliche Abstammung“ und „Heimat“, die nicht von der ethnischen Herkunft, aber von Art. 3 Abs. 3 GG erfasst sind.
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2. Diskriminierungskategorisierungen im speziellen Nichtdiskriminierungsrecht a) Rasse und ethnische Herkunft aa) Probleme des Rassenbegriffs. Art. 1 AntiRass-RL verbietet Diskriminierungen „aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft“. ErwGr. 6 AntiRass-RL stellt klar, dass die Verwendung des Begriffs „Rasse“ nicht die Akzeptanz von Theorien bedeute, mit denen versucht werde, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu begründen. Beide Begriffe werden weder im Primär- noch im Sekundärrecht definiert. Zur Interpretation kann man auf das Völkerrecht,9 insbesondere das Begriffsverständnis in Art. 1 ICERD (vgl. Rz. 30) zurückgreifen. Der Begriff basiert im Völkerrecht (vgl. Rz. 31) nicht auf biologischen Merkmalen, sondern auf einer sozialen Kategorisierung.10 Das Recht bedient sich dieses Begriffs, um wirksam gegen die mit dem Rassismus verbundene so-
1 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 40 (zum Merkmal Behinderung). 2 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 56. 3 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 57. 4 Vertiefend MünchKomm/BGB/Thüsing, § 1 AGG Rz. 94 ff. 5 Vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 57 f. 6 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 851 ff. 7 Siehe BGH v. 9.3.2012 – V ZR 115/11, NZG 2012, 718 Rz. 9. 8 Zur notwendigen Analogie BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 19 AGG Rz. 77 f. 9 Howard, International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 24 (2008), 5 (7 ff.). 10 Vgl. Präambel ICERD: „In der Überzeugung, dass jede Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlich falsch, moralisch verwerflich sowie sozial ungerecht und gefährlich ist“; näher Britz, EuGRZ 2002, 381 (384 f.); Fries, Die Bedeutung von Art. 5(f) der Rassendiskriminierungskonvention im deutschen Recht, 2003, S. 43 ff.; Wolfrum, in: Wolfrum (Hrsg.), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalem Menschenrechtsschutz, 2003, S. 215 (221 ff.).
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ziale Diskriminierung vorgehen zu können.1 Das ist auch für das europäische Nichtdiskriminierungsrecht maßgeblich.2 61
Deshalb ist es methodisch falsch, die Zuschreibung aufgrund vermeintlich „biologischer Merkmale“ vorzunehmen. Stellt man – wie häufig – auf Hautfarbe, Gesichtsform, Augenform,3 Haartracht,4 Physiognomie und Körperbau,5 Morphologie des Körpers und des Gesichts oder Pigmentierung6 der betroffenen Person ab, realisiert man damit ungewollt rassistische Vorverständnisse.7 Die vermeintlich deskriptiven äußerlichen Merkmale werden als solche nur deshalb wahrgenommen, weil unsere soziale Prägung diese Merkmale erst sichtbar macht. Es handelt sich bei „Rasse“ daher um sozial-kulturell geprägte Zuschreibungen, wie sie auch für die Kategorisierung nach ethnischer Herkunft verwendet werden.8 Deshalb ist zwischen den Merkmalen „Rasse“ und „ethnischer Herkunft“ nicht zu trennen.9 Beides sind „related and overlapping concepts“.10 Die Unterscheidung danach, ob es sich um äußerliche, unveränderliche (dann Rasse) oder kulturell-soziale Merkmale (dann ethnische Herkunft) handle,11 ist nicht durchführbar. Eine begriffliche Trennung von Rasse und ethnischer Herkunft ist daher überflüssig.12
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bb) Zuschreibungen ethnischer Herkunft. Die Kategorisierung „ethnische Herkunft“ zeichnet sich dadurch aus, dass die Zuschreibung nach ethnischen Zugehörigkeiten erfolgt. „Rasse“ und ihre Stellvertretermerkmale wie „Hautfarbe“ sind klassische Beispiele solcher Kriterien. Ein anderes ist die in Art. 1 ICERD (und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) genannte „Abstammung“. Darunter ist nach der verallgemeinerungsfähigen Definition des BVerfG „vornehmlich die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren“ im Sinne einer von den Vorfahren hergeleiteten sozialen Verwurzelung zu verstehen.13 Ob diese zum Stigma wird, teilt uns in vielen Fällen die Geschichte mit.14 Die Sinti und Roma beispielsweise zählen im Europa des frühen 21. Jahrhunderts dazu.15 Dasselbe gilt immer noch für Juden, die im Kontext sozialer Hierar1 Näher zur Unterscheidung von Rasse als Rechtsbegriff und Rassismus als ideologische Einstellung Howard, International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 24 (2008), 5 (11 ff.); Barskanmaz, KJ 2009, 296 (297 ff.). 2 Fredman, Discrimination Law, S. 50 ff.; Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 10; Stork, Das Anti-Diskriminierungsrecht der Europäischen Union und seine Umsetzung in das deutsche Zivilrecht, 2006, S. 88 f. 3 NK-BGB/Legerlotz, § 1 AGG Rz. 17. 4 Däubler/Bertzbach/Däubler, § 1 Rz. 24, 35. 5 Boemke/Danko, AGG im Arbeitsrecht, 2007, § 2 Rz. 5. 6 Hey/Beitze, AGG, § 1 Rz. 10. 7 Greiner, DB 2010, 1940; ähnlich auch Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 1 Rz. 11. 8 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 563. 9 Vgl. Falke/Rust/Falke, AGG, § 1 Rz. 18; Kamanabrou, RdA 2006, 321 (322); Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 14 f.; Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 1 Rz. 12; zu Art. 1 ICERD auch Wolfrum, in: Wolfrum (Hrsg.), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalem Menschenrechtsschutz, 2003, 215 (222). 10 EGMR v. 13.12.2005 – 55762/00 – Timishev v. Russia – Rz. 55. 11 VG Berlin v. 26.10.2012 – 5 K 222.11, BeckRS 2012, 60586; Annuß, BB 2006, 1629 (1630); Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 29; Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 49; Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 20. 12 Vgl. die Gleichsetzung in EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187. 13 BVerfG v. 22.1.1959 – 1 BvR 154/55, BVerfGE 9, 124 (129); ganz ähnlich das traditionelle Verständnis des Begriffs im Race Relations Act 1976, vgl. Lustgarten, International and Comparative Law Quarterly 28 (1979), 221 (235). 14 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 564 f. 15 Vgl. Kommission, Soziale und wirtschaftliche Integration der Roma v. 7.4.2010, KOM (2010) 133 endg.; s. auch Lustgarten, International and Comparative Law Quarterly 28 (1979), 221 (236); Hepple, Mod. L. Rev 67 (2004), 1 (8 f.) sowie aus sozialwissenschaftlicher Sicht Koch,
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chien nicht nur wegen ihrer Religion, sondern vor allem wegen der prägenden Wirkung antisemitischer Rassetheorien als ethnische Gruppe wahrgenommen werden.1 Fehlt die historische Dimension, ist es in der Praxis schwierig festzustellen, ob ein gesellschaftliches Stigma auf einer ethnischen Zugehörigkeit der Betroffenen beruht.2 Die Kategorisierung ist weit auszulegen, weil nur damit ein möglichst lückenloser und damit effektiver Schutz vor ethnisch motivierten Benachteiligungen gewährleistet werden kann.3 Herkömmlich geht man dabei von objektiven Merkmalen aus.4 Das House of Lords knüpfte in einer für die Auslegung der Richtlinien informativen Entscheidung zum Verbot der ethnischen Diskriminierung nach dem Race Relations Act 1976 an insgesamt sieben Stellvertretermerkmale5 an. Unter einer ethnischen Gruppierung können Bevölkerungsteile verstanden werden, die durch gemeinsame Herkunft, eine lange gemeinsame Geschichte, Kultur oder Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden sind.6 Dazu zählen regelmäßig die Wahrnehmung einer Gruppe als abgegrenzt in Gebräuchen, Herkunft und Erscheinung, äußerem Erscheinungsbild, Sprache und Religion.7 Erfasst werden sowohl Fälle, in denen die Benachteiligung eine bestimmte Herkunft betrifft, als auch solche, in denen die Benachteiligung allein daran anknüpft, dass der Betroffene gerade nicht einer bestimmten Herkunft ist.8
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Die objektive Bestimmung greift vielfach zu kurz, um die damit zu erfassenden Zuschreibungen abzubilden.9 Es handelt sich um Stellvertretermerkmale, die einzeln oder in der Summe den Schluss zulassen, dass es sich bei dem Betroffenen um jemanden handelt, der als Angehöriger einer „anderen“ Gruppe wahrgenommen wird.10 Sie basieren auf kulturellen und sozialen Vorverständnissen und Zuschreibungen des Diskriminierenden über die betroffene Person. Daher kommt es nicht darauf an, ob sich „Angehörige eines fremden Volkes oder einer fremden Kultur“ durch gemeinsame einheitliche Merkmale auszeichnen.11 Entscheidend ist vielmehr dass sie als „Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer“12 – und damit als „anders“ – wahrgenommen werden.13 Um feststellen zu können, dass eine verpönte Kategorisierung
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in: Hormel/Scherr (Hrsg.), Das Diskriminierungsverbot als Menschenrechtsprinzip, 2010, S. 255 ff. Vgl. Employment Appeal Tribunal v. 17.9.1980 – Seide v. Gillette Industries Ltd – Industrial Relations Law Reports 1980, 427 (zum Race Relations Act 1976); Stork, Das Anti-Diskriminierungsrecht der Europäischen Union und seine Umsetzung in das deutsche Zivilrecht, 2006, S. 91 f.; Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 17 f.; Williams, ILJ 8 (1980), 263. Vgl. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, S. 73 ff. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 31. Beispielhaft ArbG Berlin v. 26.9.2007 – 14 Ca 10356/07, BeckRS 2008, 50553; Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 51. House of Lords v. 24.3.1983 – Mandla v. Dowell Lee – 1 All England Law Reports 1983, 1062 (H.L.): „a long shared history, a cultural tradition of its own, either a common geographical origin, or descent from a small number of common ancestors, a common language, a common literature, a common religion und being a minority or being an oppressed or a dominant group within a larger community.“. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 31. VG Berlin v. 26.10.2012 – 5 K 222.11, BeckRS 2012, 60586. Vgl. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 31. Vgl. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, S. 77 ff. Grünberger, Personale Gleichheit, S. 565; vgl. auch VG Berlin v. 26.10.2012 – 5 K 222.11, BeckRS 2012, 60586. Siehe aber BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 Rz. 31; in diese Richtung Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 52. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 Rz. 31. Ausführlich dazu BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 73 ff.
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vorliegt, muss man begründen können, dass die vorgefundene soziale Grenze als spezifisch ethnische Grenze identifiziert wird.1 65
Dieses Problem stellte sich im „Ossi“-Fall.2 Obwohl das ArbG Stuttgart auf vermeintlich objektive Merkmale abstellte, arbeitete es implizit mit der These, dass Ethnien Grenzziehungen voraussetzen. Weil es keine solche Grenzziehung zwischen Ost- und Westdeutschen wahrnehmen konnte, verneinte es eine eigene Ethnie von „Ostdeutschen“.3 „Keine Ethnien sind demzufolge Ost- und Westdeutsche, Bayern und Schwaben, Düsseldorfer und Kölner“.4 Auch der Berliner ist keine Ethnie.5
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cc) Sonderfall „Sprache“. Zweifelhaft ist, ob die Sprache ein Stellvertretermerkmal für die ethnische Herkunft ist.6 Das ist für die Anknüpfung an die Muttersprache zu bejahen.7 Diese wird als Indikator für unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten verwendet. Verlangt der Arbeitgeber von den Bewerbern, dass sie „Deutsch als Muttersprache“ sprechen müssen, werden i.d.R. alle nicht im deutschen Sprachraum geborenen oder herangewachsenen Bewerber ausgeschlossen. Verlangt der Arbeitgeber dagegen von den Arbeitnehmern lediglich Deutschkenntnisse, knüpft er an ein neutrales Kriterium an.8 Allerdings benachteiligt diese Anforderung Arbeitnehmer, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, im Vergleich zu Arbeitnehmern, deren Muttersprache Deutsch ist, in besonderer Weise.9 Sprachkenntnisse und Sprachtests sind daher klassische Beispielsfälle mittelbarer Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft.10 Die ausreichenden Deutschkenntnisse müssen daher vor dem Hintergrund der (vorgesehenen) Tätigkeit sachlich gerechtfertigt werden.11
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dd) Nationale Herkunft und Staatsangehörigkeit. Art. 3 Abs. 2 AntiRass-RL stellt ausdrücklich klar, dass sie nicht für unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit gilt. Weil die Kriterien für die Staatsangehörigkeit aber ethnisch geprägt sein können, kann in der Anknüpfung an den Status als Ausländer eine (verdeckte) Diskriminierung (vgl. Rz. 130 ff.) wegen der ethnischen Zugehörigkeit liegen. Für die notwendige Differenzierung im Einzelfall stehen zwei Orientierungspunkte fest: Bei einer scheinbar allein auf die Staatsangehörigkeit bezogenen Differenzierung liegt eine unmittelbare Diskriminierung12 wegen der Ethnie vor, wenn damit die Zugehörigkeit zur Volks- und Kulturgemeinschaft für eine Differenzierung erfasst wird.13 Wenn ein Arbeitgeber mitteilt, „keine Marokkaner“ einzustellen, ist das nach der zutreffenden Interpretation des EuGH die „Äußerung eines Arbeitgebers, er werde keine Arbeitnehmer
1 Vgl. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, S. 82. 2 ArbG Stuttgart v. 5.4.2010 – 17 Ca 8907/09, NZA-RR 2010, 344. 3 ArbG Stuttgart v. 5.4.2010 – 17 Ca 8907/09, NZA-RR 2010, 344 (345); offen gelassen von LAG Hessen v. 7.2.2012 – 2 Sa 1411/10, BeckRS 2012, 71279. 4 ArbG Würzburg v. 23.1.2009 – 3 Ca 664/08, AE 2009, 275. 5 Offengelassen von VG Berlin v. 26.10.2012 – 5 K 222.11, BeckRS 2012, 60586. 6 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 76 ff. 7 ArbG Berlin v. 11.2.2009 – 55 Ca 16952/08, NZA-RR 2010, 16 (17). 8 BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 16 f.; v. 22.6.2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226 – Rz. 34. 9 BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226 – Rz. 40. 10 Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 3 Rz. 38; Schiek/Schiek, AGG, § 3 Rz. 35; MünchKomm/BGB/ Thüsing, § 3 AGG Rz. 50; a.A. Adomeit/Mohr, § 1 Rz. 53. 11 BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226 – Rz. 40. 12 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 25; a.A. Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 18 (mittelbare Diskriminierung). 13 BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 31.
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einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Rasse einstellen“.1 Dasselbe gilt auch für die Anknüpfung an „Türken“, „Spanier“, „Ausländer“, oder „Nicht-Deutsche“. Die Entscheidung der Antirassismusrichtlinie, streng zwischen Staatsangehörigkeit einerseits und ethnischer Herkunft andererseits zu trennen, zwingt dazu, die konkrete Anknüpfung kontextbezogen zu interpretieren.2 Deshalb ist beispielsweise die Frage nach der Staatsangehörigkeit keine verdeckte (unmittelbare oder mittelbare) Diskriminierung wegen der ethnischen Zugehörigkeit, wenn damit herausgefunden werden soll, ob der Bewerber eine Arbeitserlaubnis benötigt.3 Will der Arbeitgeber dagegen nur Unionsbürger einstellen, weil er bürokratische Hindernisse vermeiden will, kann darin eine (mittelbare) Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft liegen. Der Arbeitgeber darf nicht von vornherein ausschließen, dass EU-Ausländer eine Arbeitserlaubnis besitzen.4 b) Geschlecht aa) Kategorisierung „Mann/Frau“. Der Begriff „Geschlecht“ wird im Unionsrecht traditionell als Oberbegriff für Männer und Frauen verwendet (vgl. Art. 157 Abs. 2 Satz 2 AEUV). Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau (Art. 23 Abs. 1 GRC, 157 Abs. 1 AEUV) gehört als Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes zu den elementaren Grundsätzen des Unionsrechts.5 Unproblematisch erfasst sind alle Fälle, in denen der Arbeitgeber eine Maßnahme ausdrücklich an die Eigenschaft „Frau“/„weiblich“ oder „Mann“/„männlich“ anknüpft. Das ist etwa der Fall, wenn die Bestimmungen in einem Einzelarbeitsvertrag ausdrücklich auf das Geschlecht der Arbeitnehmer abstellen und zwischen „Frauen“ und „Männern“ unterscheiden.6
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Das europäische Nichtdiskriminierungsrecht ist symmetrisch konzipiert. Es knüpft am Geschlecht an und schützt Männer und Frauen gleichermaßen vor Diskriminierungen. Daher diskriminiert die bevorzugte Behandlung von Frauen bei der Vergabe von Plätzen einer Kindertagesstätte die männlichen Arbeitnehmer.7 Tatsächliche oder vermeintliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern spielen erst im Rechtfertigungsdiskurs eine Rolle.8 Die Lösung des Unionsrechts lautet daher: formale Gleichbehandlung der Geschlechter im Tatbestand der Benachteiligung und Berücksichtigung der Differenz auf der Rechtfertigungsebene (vgl. Rz. 228 ff.).
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bb) Schwangerschaft. Das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht ordnet ausdrücklich an, dass keine Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft oder Mutterschaft erfolgen darf (Art. 2 Abs. 2 Buchst. c Geschl-RL). Dasselbe gilt nach der Rechtsprechung des EuGH auch für die Anwendung des Art. 157 Abs. 1 AEUV.9 Der EuGH hat die Ungleichbehandlung aufgrund der Schwangerschaft der Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts gleichgestellt, ohne dass es auf eine Vergleichsperson (vgl. Rz. 111 ff.) männlichen Geschlechts ankommt.10 Eine Geschlechtsdiskriminierung
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EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 25. Grünberger, Personale Gleichheit, S. 567. Kleinebrink, ArbRB 2006, 374 (377); Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 63. Grünberger, Personale Gleichheit, S. 567. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 5. Zuletzt EuGH v. 12.9.2013 – Rs. C-614/11 – Kuso – Rz. 42 f., NZA 2013, 1071. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 – Lommers, Slg. 2002, I-2891 – Rz. 30. Exemplarisch EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 – Lommers, Slg. 2002, I-2891 – Rz. 38, 47. EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-66/96 – Pedersen, Slg. 1998, I-7327 – Rz. 35; v. 8.9.2005 – Rs. C-191/03 – McKenna, Slg. 2005, I-7631 – Rz. 40 ff. 10 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, I-3941 – Rz. 16 ff.; v. 14.7.1994 – Rs. C-32/93 – Webb, Slg. 1994, I-3567 – Rz. 25.
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wird folglich nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich auf eine Stelle nur Frauen bewerben.1 71
Obwohl der Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Buchst. c Geschl-RL ausdrücklich auf die Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG2 verweist, geht der EuGH von einem unterschiedlichen Begriff der Schwangerschaft in beiden Richtlinien aus. Das wirkt sich inbesondere in den Fällen aus, die von der „traditionellen“ Schwangerschaft abweichen: Wird einer Frau gekündigt, die sich einer In-vitro-Fertilisation unterzieht und erfolgt die Kündigung zwischen der Follikelpunktion und der Einsetzung der in vitro befruchteten Eizellen in ihre Gebärmutter, liegt aus Gründen der Rechtssicherheit keine Schwangerschaft i.S.d. Richtlinie 92/85/EWG vor.3 Beruht die Kündigung allerdings auf diesem Sachverhalt, ist sie eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.4 Das Ergebnis ist einigermaßen überraschend: Die spezielle Schutzvorschrift ist nicht anwendbar, weil keine tatbestandsmäßige Schwangerschaft vorliegt. Weil aber ein Zusammenhang mit einer Schwangerschaft und damit mit einer nur Frauen treffenden Situation gegeben war, ist genau aus diesem Grund das Diskriminierungsverbot einschlägig.5 Schwierige Fragen entstehen beim Vorliegen einer Ersatzmutterschaft.6 Wegen des klar definierten Ziels der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmerinnen in einem schutzbedürftigen Zustand ist die Richtlinie 92/85/EWG nach der zweifelhaften Auffassung des EuGH nicht auf eine Mutter anzuwenden, deren genetisches Kind durch eine Ersatzmutter geboren wird.7 Wird der genetischen Mutter kein dem Adoptionsurlaub entsprechender Urlaub gewährt, liege darin keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.8
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Im Einzelnen differenziert der EuGH bei der Schwangerschaft in nicht unproblematischer Weise: Die Entlassung einer Arbeitnehmerin wegen ihrer Schwangerschaft oder wegen während der Schwangerschaft aufgetretenen Krankheiten ist in jedem Fall entweder von Art. 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL oder Art. 10 RL 92/85/EWG verboten.9 Krankheiten, die erst nach dem Mutterschaftsurlaub auftreten, fallen dagegen unter die allgemeine Regelung für Krankheitsfälle und sind deshalb keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, sofern auch Männer unter den gleichen Voraussetzungen aufgrund solcher Fehlzeiten entlassen würden.10 Der Entgeltfortzahlungsanspruch darf dagegen bereits während der Schwangerschaft sowie aufgrund damit zusammenhängender Krankheiten gekürzt werden.11 Bei der Berechnung von Fehlzeiten, die nach dem Mutterschaftsurlaub eingetreten sind, verbietet es die Geschl-RL, die vom Anfang der Schwangerschaft an bis zum Beginn des Mutter1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Anders noch BAG v. 20.2.1986 – 2 AZR 244/85, NZA 1986, 739 (740). ABl. Nr. L 348 v. 28.11.1992, S. 1. EuGH v. 26.2.2008 – Rs. C-506/06 – Mayr, Slg. 2008, I-1017 – Rz. 41 f. EuGH v. 26.2.2008 – Rs. C-506/06 – Mayr, Slg. 2008, I-1017 – Rz. 51; GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 58. EuGH v. 26.2.2008 – Rs. C-506/06 – Mayr, Slg. 2008, I-1017 – Rz. 53 f. Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 97 ff. EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-167/12 – C.D. vs. S.T. – Rz. 37 ff.; v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 58, NZA 2014, 525. EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 61 ff., NZA 2014, 525. EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-179/88 – Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund (Hertz), Slg. 1990, I-3979 – Rz. 13; v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 – Brown, Slg. 1998, I-4185 – Rz. 25; v. 8.9. 2005 – Rs. C-191/03 – McKenna, Slg. 2005, I-7631 – Rz. 44. EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-179/88 – Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund (Hertz), Slg. 1990, I-3979 – Rz. 12 ff. EuGH v. 13.2.1996 – Rs. C-343/93 – Gillespie, Slg. 1996, I-475 – Rz. 17 ff.; v. 8.9.2005 – Rs. C-191/03 – McKenna, Slg. 2005, I-7631 – Rz. 57 ff. Zu den Anforderungen näher EuGH v. 1.10. 2010 – Rs. C-194/08 – Gassmayr, Slg. 2010, I-6281 – Rz. 54 ff.
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schaftsurlaubs eingetretene Fehlzeit zu berücksichtigen.1 Dagegen erlaubt es das Unionsrecht, Fehlzeiten im Zusammenhang mit einer schwangerschaftsbedingten Krankheit innerhalb enger Grenzen auf eine Gesamtzahl von bezahlten Fehltagen anzurechnen.2 cc) Trans*identität und Inter*sexualität. Nach traditioneller Auffassung handelt es sich beim „Geschlecht“ um eine biologisch vorgegebene Kategorie,3 die keine definitorischen Probleme verursacht.4 Tatsächlich ist die Lage deutlich komplizierter. Geschlecht ist – wie seine Unterbegriffe „Mann“ und „Frau“ – im Wesentlichen ein sozial und rechtlich konstruierter Begriff. Der EuGH hat deshalb das Merkmal „Geschlecht“ nicht als biologische Kategorie, sondern i.S.v. „gender“ als soziales Konstrukt interpretiert.5 Jede im sozialen Kontext erfolgte Verknüpfung eines Menschen mit einem Geschlecht fällt unter dieses Diskriminierungsverbot.6 Es ist nicht auf die „Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Geschlecht“ beschränkt.7 Die Kategorien Mann/Frau sind im Unionsrecht lediglich Fallgruppen des Geschlechts.
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Diskriminierungen trans*identer (trans*sexueller)8 und inter*sexueller Menschen sind daher Diskriminierungen wegen des Geschlechts.9 Inter*sexe sind Menschen, bei denen biologisch-somatisch Mehrdeutigkeiten eine eindeutige Zuordnung erschweren. Damit hat eine Ungleichbehandlung aufgrund der Inter*sexualität zwangsläufig einen unmittelbaren Bezug zum Geschlecht der Person. Trans*ident sind Menschen, deren Geschlechtsmerkmale im Zeitpunkt ihrer Geburt eine eindeutige Zuordnung ermöglichen, die sich aber „nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig“ empfinden (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG10). Die Geschlechterrichtlinie gilt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH auch für Diskriminierungen, die ihre Ursache in der „Geschlechtsumwandlung des Betroffenen“ haben.11 Diese Kategorisierung beschränkt sich nicht auf post-operative trans*idente Personen,12 sondern erfasst alle trans*identen Personen. Die Geschlechtszugehörigkeit kann nämlich „nicht allein nach den physischen Geschlechtsmerkmalen bestimmt werden. Sie hängt wesentlich auch von der psychischen Konstitution eines Menschen und seiner nachhaltig selbst empfundenen Geschlechtlichkeit ab.“13
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1 EuGH v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 – Brown, Slg. 1998, I-4185 – Rz. 25; v. 8.9.2005 – Rs. C-191/03 – McKenna, Slg. 2005, I-7631 – Rz. 46 f. 2 EuGH v. 8.9.2005 – Rs. C-191/03 – McKenna, Slg. 2005, I-7631 – Rz. 63 ff. 3 Vgl. nur Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 73 m.w.N. 4 Preis, ZESAR 2007, 308 (311). 5 Ellis/Watson, EU-Anti-Discrimination Law, 2012, S. 26. 6 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 572 f. 7 Vgl. EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 – Richards, Slg. 2006, I-3585 – Rz. 24. 8 Grundlegend EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-13/94 – P & S und Cornwall County Council, Slg. 1996, I-2143 – Rz. 20 f.; v. 7.1.2004 – Rs. C-117/01 – K.B., Slg. 2004, I-541 – Rz. 34; v. 27.4. 2006 – Rs. C-423/04 – Richards, Slg. 2006, I-3585 – Rz. 24. 9 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 48; Schwarze/Holoubek, Art. 19 AEUV Rz. 14; Falke/Rust/Rust, AGG, § 1 Rz. 43 ff.; Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 27; MünchKomm/BGB/Thüsing, § 1 AGG Rz. 58; für sexuelle Identität dagegen BT-Drucks. 16/1780, 31; Bauer/Göpfer/ Krieger, AGG, § 1 Rz. 25. 10 Gesetz über die Änderung der Vornamen und der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz/TSG) vom 10.9.1980, BGBl. I, 1654. 11 EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-423/04 – Richards, Slg. 2006, I-3585 – Rz. 24. 12 So Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 76. 13 BVerfG v. 6.12.2005 – 1 BvL 3/03, BVerfGE 115, 1 (15) mit Anm. Grünberger, JZ 2006, 516; grundlegend BVerfG 11.10.1978 – 1 BvR 16/72, BVerfGE 49, 286 (298 f.).
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§3 75
Rz. 75
Nichtdiskriminierungsrecht
In Deutschland findet man dagegen häufig die Behauptung, Ungleichbehandlungen trans*identer oder inter*sexueller Menschen fielen unter das Merkmal der sexuellen Identät (§§ 1, 19 Abs. 1 AGG).1 Dem liegt eine heteronormative und bipolare Konzeption von Geschlechtlichkeit zugrunde:2 Danach wird das „Geschlecht“ bewusst eng als entweder männlich oder weiblich definiert und letztlich mit der Heterosexualität als Sollensnorm gleichgesetzt. Alle Abweichungen von dieser Konzeption werden unterschiedslos als gemeinsame Kategorie behandelt. Unionsrechtlich ist das unhaltbar. Dabei handelt es sich nicht um einen rein akademischen Streit. Beispielsweise ist Art. 157 Abs. 1 AEUV nur anwendbar, wenn man diese Phänomene der Diskriminierungskategorie „Geschlecht“ zuordnet. c) Religion und Weltanschauung
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aa) Schutzzweck. Religion und Weltanschauung sind gem. Art. 21 Abs. 1 GRC, 1 Gleichb-RL verpönte Unterscheidungsmerkmale bei Beschäftigung und Beruf. Das in einer Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung liegende Unrecht besteht darin, dass es einer Person unzumutbar ist, zur Vermeidung sozialer Nachteile ihren Glauben oder ihr religiöses Bekenntnis zu verbergen.3 Wer danach unterscheidet, verlangt von den „Anderen“, dass sie sich, um der Diskriminierung auszuweichen, „uns“ anpassen.4 Religion und Weltanschauung sind konstitutiv für die ethische Person und personale Identität.5 Diesen Schutz bewirkt das Nichtdiskriminierungsprinzip. Dabei handelt es sich um ein veränderbares Persönlichkeitsmerkmal.6
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Das Bekenntnis zur Religion ist als solches freiheitsrechtlich garantiert (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 GRC, 9 Abs. 1 Halbs. 2 EMRK).7 Die Entscheidung wird gleichheitsrechtlich abgesichert, weil die Person nicht fürchten muss, dafür rechtliche Nachteile im Arbeitsleben in Kauf nehmen zu müssen. Die Verankerung ausdrücklicher Diskriminierungsverbote im Völkerrecht und im primären Unionsrecht ist ernst zu nehmen. Das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Religion muss unionsrechtlich als Gleichbehandlungs- und nicht nur als Freiheitsrecht verstanden werden. Aus dogmatischer Sicht hat das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht ein eigenständiges Rechtfertigungsregime errichtet.8
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Es ist deshalb fraglich, ob die nach wie vor freiheitsrechtlich konzipierte Rechtsprechung des BAG9 mit den aus der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie folgenden Umsetzungspflichten vereinbar ist.
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bb) Geschützes Verhalten. Der Begriff der Religion findet sich auch in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 GRC. Dort ist er in enger Anlehnung an Art. 9 EMRK auszulegen.10 Dasselbe Verständnis liegt aufgrund der gleichheitsrechtlichen Absicherung des freiheitsrechtlichen Schutzes (vgl. Rz. 77) auch Art. 21 Abs. 1 GRC, 19 Abs. 1 AEUV und der Gleichbehand1 BT-Drucks. 16/1780, 31; Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 1 Rz. 25; ErfK/Schlachter, § 1 AGG Rz. 6; zutreffend dagegen Koch-Rein, Streit 2006, 9. 2 Zum Begriff näher Schmidt, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2006, 174 (176); da Silva, KJ 2008, 266 (267 f.); Kocher, KJ 2009, 386 (397 f.). 3 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 531 ff. 4 Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S. 204 f. 5 EGMR v. 16.6.2010 – 7710/02 – Grzelak v. Polen – Rz. 85. 6 Balkin, YLR 106 (1997), 2313 (2361 ff.). 7 Zum Folgenden näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 110 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit, S. 575 ff. 8 Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 19. 9 Vgl. BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087. 10 Vgl. Erläuterungen zu Art. 10 GRC (ABl. C 303 v. 4.12.2007, S. 17).
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Diskriminierungsmerkmale
Rz. 82 § 3
lungsrahmenrichtlinie zugrunde. Damit kommt der Rechtsprechung des EGMR entscheidende Bedeutung zu. Für den Rechtsanwender stellen sich zwei Herausforderungen: Es ist festzustellen, welche Gruppen eine Religion oder Weltanschauung bilden. Im Anschluss daran ist zu entscheiden, welches religionsgeleitete Verhalten unter das Diskriminierungsmerkmal fällt.1 Die großen Glaubensrichtungen fallen unproblematisch unter den Religionsbegriff. Das sind die römisch-katholische Kirche, die evangelischen Landeskirchen, „der“ Islam (Shiiten und Sunniten), orthodoxe bzw. orientalische Kirchen, der Buddhismus, der Hinduismus, Shintoismus und die jüdischen Gemeinden.2 Genauso geschützt werden neugegründete und unbekannte religiöse Gruppen.3 Geschützt wird auch der Glaube an keine Religion: „atheists, agnostics, sceptics and the unconcerned“.4 Beispiele aus der jüngsten Entscheidungspraxis des EGMR sind die Zeugen Jehovas,5 der „Bund Evangelikaler Gemeinden in Österreich“,6 die orthodoxe Kirche Bulgariens,7 die „Wahre Orthodoxe Kirche Moldaviens“,8 die Osho-Bewegung,9 Pfingstkirchen10 und Aleviten11. Diese liberale Begriffsbestimmung12 folgt schon aus dem Grundsatz, dass es Art. 9 EMRK dem Staat verbietet, die Legitimation des religiösen Bekenntnisses zu bewerten,13 so dass „everyone … is entitled to hold whatever beliefs he wishes.“14
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Genießen die Gruppen im nationalen Recht den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, ist die Zugehörigkeit dazu in jedem Fall als Religion zu bewerten. Das ist für Zeugen Jehovas,15 die Neuapostolische Kirche, die Gemeinschaft der Mormonen,16 die Heilsarmee und die Baháí-Religion17 der Fall.18 Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer Religionsgemeinschaften.19
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Für die Zweifelsfälle verlangt der EGMR, dass die Überzeugung ein bestimmtes Maß an „cogency, seriousness, cohesion and importance“ aufweise.20 Der Schutzumfang
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1 Eingehend dazu BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 113 ff. 2 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 52; Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 90. 3 Vgl. EGMR v. 31.7.2008 – 40825/98 – Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a. v. Österreich, NVwZ 2009, 509 Rz. 98. 4 EGMR v. 16.6.2010 – 7710/02 – Grzelak v. Polen – Rz. 85. 5 EGMR v. 31.7.2008 – 40825/98 – Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a. v. Österreich, NVwZ 2009, 509 Rz. 98. 6 EGMR v. 10.12.2009 – 33001/03 – Koppi v. Österreich – Rz. 25. 7 EGMR v. 22.1.2009 – 412/03 u.a. – Holy Synod of the Bulgarian Orthodox Church (Metropolitan Inokentiy) u.a. v. Bulgarien – Rz. 100 ff. 8 EGMR v. 27.2.2007 – 952/03 – Biserica Adeva˘rat Ortodoxa˘ din Moldova u.a. v. Moldavien. 9 EGMR v. 6.11.2008 – 58911/00 – Leela Förderkreis e.V. u.a. v. Deutschland, Rz. 81. 10 EGMR v. 24.2.1998 – 23372/84 u.a. – Larissis u.a. v. Greece. 11 EGMR v. 9.10.2007 – 1448/04 – Hasan and Eylem Zengin v. Türkei – Rz. 66 i.V.m. 79. 12 Evans, Freedom of Religion under the European Convention of Human Rights, 2001, S. 55. 13 EGMR v. 13.12.2001 – 45701/99 – Metropolitan Church of Bessarabia u.a. v. Moldavien – Rz. 117. 14 House of Lords v. 24.2.2005 – R v. Secretary of State for Education and Employment a.o. (ex parte Williamson) – United Kingdom House of Lords 2005, 15 – Rz. 22 f. (per Lord Bingham). 15 BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (397 ff.). 16 BAG v. 24.4.1997 – 2 AZR 268/96, NZA 1998, 145 (147). 17 BVerfG v. 5.12.1991 – 2 BvR 263/86, BVerfGE 83, 341 (353). 18 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 53. 19 BVerfG v. 19.12.2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370 (372). 20 EGMR v. 25.2.1982 – 7511/76, 7743/76 – Campbell & Cosans v. Vereinigtes Königreich – Rz. 36; v. 6.11.2008 – 58911/00 – Leela Förderkreis e.V. u.a. v. Deutschland – Rz. 80.
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§3
Rz. 83
Nichtdiskriminierungsrecht
hängt dann davon ab, ob die Glaubensüberzeugung überhaupt geschützt ist.1 Verlangt man, dass diese objektiv bestimmbar ist, riskiert man die Schutzlosstellung derjenigen, die des Schutzes besonders bedürfen, weil ihre Glaubensüberzeugung noch nicht allgemein anerkannt ist. Lässt man dagegen eine bloß subjektive Glaubensüberzeugung genügen, expandiert ein spezifisches Diskriminierungsmerkmal zum allgemeinen Diskriminierungsverbot.2 Gleichwohl muss man das Selbstverständnis der betroffenen Person zum Ausgangspunkt der Untersuchung machen.3 „Religionsfreiheit ist zunächst Sache des individuellen Gewissens.“4 Für die Abgrenzung kommt es darauf an, ob es sich bei der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder bei der entsprechenden Handlung um Kommunikationsformen handelt, die von der allseitigen Erfüllung religiöser Aufgaben geprägt ist.5 Das ist von den Kommunikationsbeziehungen abzugrenzen, deren Zielsetzung in erster Linie politischer oder wirtschaftlicher Natur ist, mögen sie auch religiöse Grundlagen haben.6 83
Weil Art. 10 Abs. 1 GRC, 9 EMRK nicht nur die eigene Überzeugung (forum internum), sondern auch die Freiheit schützt, diese allein oder gemeinsam mit Anderen zu äußern (forum externum),7 stellt sich im Nichtdiskriminierungsrecht das Definitionsproblem in voller Schärfe, wenn ein Akteur seine religiöse Überzeugung kundtut oder zum Maßstab seines Handelns nimmt.8 Der Katalog möglicher Konfliktherde ist lang: Darunter fallen Kleidung und Bekleidungsvorschriften, bestimmte Beschäftigungshandlungen,9 Identifikationsanforderungen und Rücksichtnahme auf religiöse Feiertage.10 Diese Fälle machen die Religion einer Person für die anderen – Kollegen, Arbeitgeber, Vermieter etc. – sichtbar. Knüpft man daran ein auch an Private adressiertes Diskriminierungsverbot, bedarf es jedenfalls auf der Ausübungsebene zusätzlicher Kriterien, um den geschützten religiös/weltanschaulich determinierten „way of life“11 von einem nicht geschützten zu unterscheiden.12 Wenn der Arbeitnehmer, entgegen bestehender vertraglicher Pflichten, ein Privileg in Anspruch nimmt, kann der Arbeitgeber nach Auffassung des EuGH13 und des EGMR14 von ihm verlangen, substantiiert darzulegen, warum er zu der privilegierten Gruppe zählt.
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Die Auffassung des BAG, wonach die diskriminierte Person eine Darlegungslast für einen konkreten und ernsthaften Glaubenskonflikt trifft,15 ist – soweit das 1 Tettinger/Stern/Muckel, Art. 4 Rz. 14; Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 20; Thüsing, ZfA 2001, 397 (405). 2 Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 20; vgl. die ähnliche Problemlage im Verfassungsrecht: Sachs/ Kokott, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 4 Rz. 16. 3 Siehe Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 382. 4 EGMR v. 5.4.2007 – 18147/02 – Scientology Kirche Moskau v. Russland, NJW 2008, 495 Rz. 72. 5 Vgl. BVerwG v. 25.1.2006 – 6 A 6/05, NVwZ 2006, 694 (zu Art. 4 GG). 6 Vgl. BVerwG v. 25.1.2006 – 6 A 6/05, NVwZ 2006, 694 (zu Art. 4 GG). 7 Siehe EGMR v. 26.10.2000 – 30985/96 – Hasan & Chaush v. Bulgarien – Rz. 60; v. 25.5.1993 – 14307/88 – Kokkinakis v. Griechenland – Rz. 31; näher Fahlbeck, International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 20 (2004), 27 (29). 8 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 578 f. 9 Vgl. BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087. 10 Fahlbeck, International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 20 (2004), 27 (28). 11 Zum Begriff Gunn, Harvard Human Rights Journal 16 (2003), 189 (204). 12 Vgl. allgemein House of Lords v. 24.2.2005 – R v. Secretary of State for Education and Employment a.o. (ex parte Williamson) – United Kingdom House of Lords 2005, 15 – Rz. 58, 63 f. (per Lord Walker). 13 Vgl. dazu EuGH v. 27.10.1976 – Rs. 130/75 – Prais, Slg. 1976, 1589 – Rz. 12 ff. 14 EGMR v. 13.4.2006 – 55170/00 – Kosteski v. Mazedonien, NZA 2006, 1401 – Rz. 39. 15 BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087 – Rz. 36.
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Diskriminierungsmerkmale
Rz. 87 § 3
mit den Beweisanforderungen der Gleichbehandlungsrichtlinie (vgl. Rz. 282 ff.) vereinbar ist – daher unionsrechtskonform. cc) Weltanschauung. Unionsrechtlich ist noch nicht abschließend geklärt, was vom Begriff „Weltanschauung“ erfasst wird.1 Im Wesentlichen sind zwei Interpretationen denkbar: Nach einer engen Auffassung ist Weltanschauung eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel menschlichen Lebens, die auf innerweltliche Bezüge beschränkt ist.2 Danach fällt eine politische Überzeugung nicht darunter, selbst wenn sie Sichtweisen von Politik und Gesellschaft sehr umfassend erklärt.3 Nach einem weiten Verständnis fallen darunter auch politische und sonstige Anschauungen.4 Die Zugehörigkeit zu einer Partei oder das Eintreten für deren Ziele würde damit das Diskriminierungsmerkmal der „Weltanschauung“ erfüllen.5 Die zweite Variante überzeugt nicht.6 Weltanschauung befindet sich in Art. 10 Abs. 1 Satz 2, 21 Abs. 1 GRC im Schlepptau der Religion. Die Weltanschauung wird insbesondere in Art. 21 Abs. 1 GRC deutlich von den politischen oder sonstigen Anschauungen getrennt. Alle mir zugänglichen Sprachfassungen von Art. 1 Gleichb-RL greifen diese Differenzierung auf. Im Ergebnis ist die politische Anschauung für den Bereich von Beschäftigung und Beruf keine grundsätzlich verpönte Diskriminierungskategorie.
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d) Sexuelle Ausrichtung Art. 157 Abs. 1 AEUV, die Geschlechter- und die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie zwingen dazu, zwischen Geschlecht einerseits und sexueller Ausrichtung andererseits zu unterscheiden.7 Werden Personen, die in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben, ungleich behandelt, liegt darin keine Diskriminierung wegen ihres Geschlechts.8 Zwar knüpft die Differenzierung an das Geschlecht des Arbeitnehmers bzw. seines/ihres Partners an. Allerdings signalisiert das Geschlecht des Partners dem Diskriminierenden, dass die ungleich behandelte Person homosexuell ist. Die Gleichgeschlechtlichkeit des Paares ist damit ein Stellvertretermerkmal der sexuellen Ausrichtung.9 Diskriminierungen aufgrund der trans*identen (trans*sexuellen) Prägung eines Menschen oder aufgrund ihrer Inter*sexualität sind dagegen Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts (vgl. Rz. 73 ff.).
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Mit der sexuellen Ausrichtung wird die Präferenz eines Menschen bei der Wahl seiner Sexual- oder seiner Lebenspartner erfasst.10 Darunter fallen nach allgemeiner Ansicht
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1 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 580 ff.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 123 ff. 2 BT-Drucks. 16/2022, 13 (zu § 19 Abs. 1 AGG). 3 BVerwG v. 7.7.2004 – 6 C 17/03, NJW 2005, 85 (88); v. 15.12.2005 – 7 C 20/04, NJW 2006, 1303; BAG v. v. 22.3.1995 – 5 AZB 21/94, NZA 1995, 823 (827) (jeweils mit Bezug auf Art. 4 GG). 4 Däubler, NJW 2006, 2608; Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 68; Palandt/Ellenberger, § 1 AGG Rz. 5. 5 Offen gelassen von BAG v. 12.5.2011 – 2 AZR 479/09, NZA-RR 2012, 43 – Rz. 38; v. 21.9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317 – Rz. 28. 6 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 580 ff. 7 Grundlegend EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 – Grant, Slg. 1998, I-621 – Rz. 37 ff. 8 A.A. Koppelman, New York University Law Review 69 (1994), 197; aus deutscher Perspektive zuletzt Bieback, FS Pfarr, 2010, S. 184 (190 ff.). 9 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 573 f. 10 Zum Folgenden näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 151 ff.
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§3
Rz. 88
Nichtdiskriminierungsrecht
die Hetero-, Homo- und Bisexualität eines Menschen.1 Ein klassischer Fall liegt vor, wenn eine dem Arbeitgeber zurechenbare Person öffentlich mitteilt, einen vermeintlich homosexuellen Fußballspieler nicht in die Mannschaft aufzunehmen2 und dadurch den Anschein einer aufgrund der sexuellen Ausrichtung diskriminierenden Einstellungspolitik erzeugt.3 Die vielfach vorgeschlagene Unterscheidung zwischen der geschützten Orientierung/Identität und dem nicht geschützten Verhalten4 ist nicht tragfähig und daher zurückzuweisen.5 Der Schutz vor Benachteiligungen wegen der sexuellen Orientierung erfüllt damit denselben Zweck wie der Schutz vor Benachteiligungen wegen der Religion. Beide schützen Identität und das damit korrespondierende Verhalten. 88
Die Kategorisierung erfasst aber auch sozial nicht akzeptierte sexuelle Ausrichtungen.6 Versteht man das Nichtdiskriminierungsrecht als „Freiheitsrecht der sozial Schwachen“7 muss man begründen, warum Menschen, die kleinen sexuellen Minderheiten angehören, davon ausgeschlossen werden sollen.8 Menschen, deren sexuelle Orientierung nicht dem entspricht, was die Gesellschaft noch glaubt tolerieren zu können, bedürfen ganz besonders des Schutzes durch das Nichtdiskriminierungsrecht vor falschen Zuschreibungen und sozialer Hierarchisierung. Nicht mehr vom Schutz der sexuellen Orientierung erfasst sind wegen Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL („Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“) konkrete Verhaltensweisen, die – ohne Verstoß gegen das Konventionsrecht auf Privatsphäre in Art. 8 Abs. 1 EMRK9 – strafrechtlich erfasst sind.10
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Entscheidet sich ein Mitgliedstaat dafür, eine rechtlich gesicherte Partnerschaft für Personen gleichen Geschlechts einzuführen, muss er bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Nichtdiskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung beachten.11 Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine Ungleichbehandlung, die an das Statusverhältnis einer rechtlich gesicherten gleichgeschlechtlichen Partnerschaft anknüpft, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung konstituiert, sofern sich (verschiedengeschlechtliche) Ehegatten und (gleichgeschlechtliche) Lebenspartner in einer vergleichbaren Situation bezüglich der konkreten Maßnahme befinden.12 Ob eine vergleichbare Situation vorliegt, hat der EuGH zunächst der Prüfung des natio1 Statt vieler Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 89 f.; zum Begriffsverständnis in den Mitgliedstaaten s. Chopin/Gounari, Developing Anti-Discrimination Law in Europe, 2010, http://www.migpolgroup.com/public/docs/180.DevelopingAntiDiscinEurope_Comparativeana lysis_IV_EN_11.09.pdf, S. 22. 2 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 35, NZA 2013, 891. 3 Vertiefend Benecke/Böglmüller, EuZW 2013, 474. 4 Erman/Armbrüster, § 1 AGG Rz. 12; Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 1 Rz. 52; Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 164; ErfK/Schlachter, § 1 AGG Rz. 14; MünchKomm/BGB/Thüsing, § 1 AGG Rz. 90. 5 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 583 ff.; ähnlich Annuß, BB 2006, 1629 (1630 f.); Falke/ Rust/Plett, AGG, § 1 Rz. 101. 6 Vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 152. 7 Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S. 203 f. 8 In der Sache auch Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 94; Wendeling-Schröder/Stein/ Stein, AGG, § 1 Rz. 82. 9 Vgl. EGMR v. 22.10.1981 – 7525/76 – Dudgeon v. Vereinigtes Königreich. 10 Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 94; Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 31. 11 EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 59; v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 – Römer, Slg. 2011, I-3591 – Rz. 42; v. 12.12.2013 – Rs. C-267/12 – Hay – Rz. 26, NZA 2014, 153. 12 Grundlegend EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 72.
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Diskriminierungsmerkmale
Rz. 92 § 3
nalen Gerichts überlassen.1 Mittlerweile prüft der EuGH selbst, ob die Situationen vergleichbar sind.2 Er hat das bezüglich eines tarifvertraglich für die Eheschließung vorgesehenen Sonderurlaubs und einer Eheschließungsprämie im Verhälntis zum französichen PACS mit Recht bejaht.3 Die Ungleichbehandlung der Lebenspartnerschaft ist nach der zutreffenden Rechtsprechung des EuGH keine mittelbare4 Diskriminierung, sondern eine unmittelbare5 Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung der Partner. e) Behinderung aa) Unionsrechtliche Vorgaben. Der Begriff „Behinderung“ wird im Unionsrecht nicht definiert.6 Implizit unterscheidet die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie zwischen „Behinderung“ und „Nicht-Behinderung“. Geschützt werden nur behinderte Personen. Damit ist das Merkmal asymmetrisch ausgestaltet. Nach der Rechtsprechung des EuGH verweist die Richtlinie nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten.7 Erforderlich ist eine autonome und einheitliche Auslegung unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Zieles.8
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Methodisch betrachtet ist es daher unzulässig, von der Definition in § 2 Abs. 1 SGB IX auf den Inhalt des § 1 AGG zu schließen.9 Vielmehr ist zunächst zu ermitteln, welche Vorgaben Art. 1 Gleichb-RL dem nationalen Recht macht. Erst im Anschluss daran kann man bestimmen, ob sich die nationale Definition im Rahmen des unionsrechtlich zulässigen bewegt.10
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Der EuGH interpretiert den Begriff mittlerweile völkerrechtskonform mit Blick auf das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (vgl. Rz. 31).11 Das hat erhebliche praktische Bedeutung für die Konzeption des Behindertenbegriffs. Das UN-Übereinkommen folgt im Ausgangspunkt dem sozialen Begriff der Behinderung.12 Dieser ist jetzt auch für das Unionsrecht maßgeblich.13 Der
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6 7 8 9 10 11 12 13
EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 72. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-267/12 – Hay – Rz. 35 ff., NZA 2014, 153. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-267/12 – Hay – Rz. 36 ff., NZA 2014, 153. So GA Ruiz-Jarabo Colomer v. 6.9.2007 – Rs. C-267/07 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 96 ff.; BVerfG v. 19.6.2012 – 2 BvR 1397/09, BVerfGE 131, 239 – Rz. 62 f.; v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, NJW 2013, 2257 – Rz. 79; Mahlmann, EuZW 2008, 318 (319). EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 72; v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 – Römer, Slg. 2011, I-3591 – Rz. 52; v. 12.12.2013 – Rs. C-267/12 – Hay – Rz. 44, NZA 2014, 153; s. auch BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 – Rz. 92; BAG v. 14.1.2009 – 3 AZR 20/07, NZA 2009, 489 – Rz. 20. EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 34, NZA 2013, 553. EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 39; abl. Domröse, NZA 2006, 1320. EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 40; BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 823/06, NZA 2007, 1098 – Rz. 19. Siehe BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 58 ff.; nicht überzeugend daher Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 75 m.w.N. Zutreffend MünchKomm/BGB/Thüsing, § 1 AGG Rz. 81. EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 28 ff., NZA 2013, 553. Zum Unterschied zwischen dem individualistischen/medizinischen und dem sozialen Begriff s. GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 85; Stein/Lord, in: Arnardóttir/Quinn (Hrsg.), The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2009, S. 17 (25). EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 38, NZA 2013, 553.
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§3
Rz. 93
Nichtdiskriminierungsrecht
EuGH weicht damit erheblich von seiner ursprünglich engen Definition der Behinderung in der Rs. Chacón Navas1 ab.2 Behinderung muss seitdem als ein sich „ständig weiterentwickelnder“ Begriff verstanden werden.3 93
Der Begriff der Behinderung ist „so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können.“4 Daraus folgt ein zweistufiger Prüfungsaufbau: Anknüpfungspunkt ist (1.) die individuelle Beeinträchtigung, die (2.) ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bilden muss.5
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(1) Individuelle Beeinträchtigung. Die erste Prüfungsstufe hat eine lediglich grobe „Siebfunktion“.6 Die Behinderung muss von anderen Abweichungen eines konstruierten Normalzustandes unterschieden werden, denen ebenfalls soziale Relevanz zukommt, die aber vom Gesetz nicht als verpöntes Merkmal ausgestaltet wurden. Es muss sich um körperliche, seelische, geistige oder sonstige Sinnesbeeinträchtigungen handeln, die langfristig angelegt sind.7 Der Begriff erfasst nicht nur Beeinträchtigungen, die angeboren sind oder von Unfällen herrühren, sondern auch solche, die von einer Krankheit verursacht sind.8 So liegt beispielsweise eine Beeinträchtigung bereits mit Beginn einer HIV-Infektion9 vor, und eine Kurzsichtigkeit10 ist als solche ebenfalls eine Beeinträchtigung. Erfasst sind auch chronische Hauterkrankungen oder eine chronisch verlaufende Hepatitis B und C11 oder die Tatsache, dass eine Frau kein Kind austragen kann.12
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(2) Teilhabehindernis am beruflichen Leben. Die Beeinträchtigung muss in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können.13 Die Behinderung erschwert danach die soziale Inklusion des Merkmalsträgers, gerade weil das soziale Umfeld danach differenziert.14 Der unionsrechtliche Begriff beschränkt sich wegen des beschränkten sachlichen Anwendungsbereichs der Gleich-
1 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 43. 2 GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-362/13 – Z – Rz. 88 („Paradigmenwechsel“); BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 59 („Modifikation“). 3 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 37, NZA 2013, 553. 4 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 38, NZA 2013, 553; v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 76, NZA 2014, 525. 5 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 587 f.; Armbrüster, VersR 2006, 1297 (II 2). 6 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 587. 7 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge), Rz. 39, NZA 2013, 553; v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 45. 8 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge), Rz. 40, NZA 2013, 553. 9 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 Rz. 71; zum U.S.-Recht: Supreme Court 25.6.1998 – Bragdon v. Abbott – U.S. 524 (1998), 624 (632 ff.). 10 Siehe zum U.S.-Recht: Supreme Court 22.6.1999 – Sutton v. United Air Lines, Inc. – U.S. 527 (1999), 471 (490). 11 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 45 f. 12 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 78 f., NZA 2014, 525. 13 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 38, NZA 2013, 553. 14 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 588.
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Diskriminierungsmerkmale
Rz. 97 § 3
behandlungsrahmenrichtlinie1 auf die Teilhabe am Berufsleben.2 Eine relevante Beeinträchtigung liegt vor, wenn sich die medizinisch konzipierte Beeinträchtigung des Individuums nach Auffassung der Umwelt dieser Person nachteilig auf die Ausführung einer beruflichen Tätigkeit auswirken kann.3 Das Umfeld nimmt diese Beeinträchtigung erst dann als Behinderung wahr, wenn die Teilhabebeeinträchtigung wahrscheinlich von langer Dauer sein wird.4 Die Unmöglichkeit, auf konventionellem Weg ein Kind zu bekommen, wird davon nicht mehr erfasst. Sie hindert für sich genommen die Bestellmutter nicht am Zugang zur Beschäftigung, an der Ausübung eines Berufs oder dem beruflichen Aufstieg.5 Eine heilbare oder unheilbare Krankheit (HIV-Infektion)6 ist eine „Behinderung“, „wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist.“7 Bringt die Krankheit dagegen keine damit einhergehende Einschränkung im Berufsleben mit sich, handelt es sich um eine im speziellen Nichtdiskriminierungsrecht nicht erfasste sonstige Krankheit.8 Personen mit „irgendeiner Krankheit“ werden von der Gesellschaft gerade nicht stigmatisiert. Anders verhält es sich bei chronischen oder progressiv verlaufenden Krankheiten. Man kann diesbezüglich nicht zwischen der Behinderung und der sie auslösenden Krankheit unterscheiden.9 Hier kommt es zu Teilhabebeeinträchtigungen, weil ihre Träger „im gesellschaftlichen Verkehr nicht wesentlich von ‚dauerhaft‘ Behinderten“ unterscheiden werden.10 Danach kann eine Langzeiterkrankung, wie beispielsweise Diabetes oder eine Allergie11 bzw. Hepatitis B oder C bzw. eine chronischen Hauterkrankung12 eine Behinderung sein. Eine Kündigung, die wegen einer Krankheit erfolgt, die ihrerseits zum dauerhaften Ausschluss von der Tätigkeit führen muss, ist danach immer eine Diskriminierung aufgrund der Behinderung.13
96
bb) Erweiterungen im nationalen Recht Im Anwendungsbereich der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie ist der Behindertenbegriff im AGG richtlinienkonform anhand des autonomen unionsrechtlichen Verständnisses zu interpretieren (vgl. Rz. 91 ff.). Daraus folgt zwingend, dass eine Beschränkung auf schwerbehinderte Menschen ausscheidet.14 Im Übrigen kann 1 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 588; s. auch GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-363/13 – Z – Rz. 91; kritisch Waddington, CMLR 44 (2007), 487 (494). 2 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 80, NZA 2014, 525; GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 90, NZA 2014, 525. 3 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 588. 4 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 45. 5 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 81, NZA 2014, 525. 6 Zum Fall von HIV BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 71. 7 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 41, NZA 2013, 553. 8 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 44; v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 42, NZA 2013, 553; s. auch BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 72. 9 A.A. OLG Karlsruhe v. 27.5.2010 – 9 U 156/09, NJW 2010, 2668 (2870). 10 GA Geelhoed v. 16.3.2006 – Rs. C-13/05 – Chacón Navas, Slg. 2006, I-6467 – Rz. 63. 11 GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 84. 12 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 46. 13 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 45 ff. 14 Allg. M., s. BAG v. 27.11.2011 – 8 AZR 580/09, NZA 2011, 737 – Rz. 36; MünchKomm/BGB/ Thüsing, § 1 AGG Rz. 79; zur Rechtslage vor Inkraftreten des AGG s. BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 823/06, NZA 2007, 1098 Rz. 19 ff.; 18.11.2008 – 9 AZR 643/07, NZA 2009, 728 Rz. 36.
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97
§3
Rz. 98
Nichtdiskriminierungsrecht
man sich an der Definition in § 2 Abs. 1 SGB IX anlehnen.1 Eine schematische Gleichsetzung scheidet aus.2 Aus den unterschiedlichen Definitionen im Unionsrecht und im nationalen Recht ergeben sich jedoch nach wie vor Unterschiede im Begriffsverständnis, die für die vom AGG Erfassten teils günstiger, teils ungünstiger sind:3 Weiter ist es, weil es die Teilhabebeschränkung nicht nur auf das Berufsleben (vgl. Rz. 95), sondern auf „das Leben in der Gesellschaft“ insgesamt bezieht. Das deutsche Recht konkretisiert mit sechs Monaten den Zeitfaktor, während der EuGH darin einen flexiblen Gesichtspunkt sieht. Enger ist es, weil es alterstypische Einschränkungen nicht stets als Behinderung ansieht und verlangt, dass die Beeinträchtigung der Teilhabe bereits eingetreten ist. Soweit das nationale Verständnis enger ist, muss auf den unionsrechtlichen Behindertenbegriff abgestellt werden.4 Das hat zwei wichtige Auswirkungen: Für § 1 AGG genügt es, dass Beeinträchtigungen eintreten „können“,5 und es reicht aus, wenn die Behinderung zu einer Beinträchtigung des Lebens in der Gesellschaft führt; eine Beeinträchtigung des Berufslebens ist nicht erforderlich.6 f) Alter 98
Das Alter wird als „ein besonders egalitäres, dem Gedanken der Gerechtigkeit gerade verpflichtetes Unterscheidungsmerkmal“ wahrgenommen.7 Die Segmentierung menschlicher Lebensläufe durch altersbezogene Regelungen wirft aber erhebliche gleichbehandlungsrechtliche Probleme auf.8 Die Entscheidung des europäischen Gesetzgebers, das Alter als verpönte Kategorisierung auszugestalten, stellt das Arbeitsrecht vor erhebliche Herausforderungen (vgl. § 4 Rz. 1 ff.).
99
Mit „Alter“ werden alle Differenzierungen erfasst, die an das Lebensalter einer Person anknüpfen.9 Es geht also nicht nur um den Schutz älterer Menschen,10 auch wenn der Integration älterer Arbeitnehmer von der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.11 Das Verbot der Altersdiskriminierung verbietet daher auch eine Ungleichbehandlung Jüngerer.12 Die Palette von Maßnahmen, die an das „Alter“ anknüpfen ist breit (ausführlich dazu § 4 Rz. 59 ff.). Probleme bereiten Anknüpfungen, die nicht unmittelbar das Alter betreffen, aber damit in einem engen Zusammenhang stehen. Das gilt insbesondere für die Berufserfahrung. Ist das benutzte Kriterium untrennbar mit dem Alter des Arbeitnehmers verbunden, liegt eine (unmittelbare) Benachteiligung wegen des Alters vor.13 Keine untrennbare Ver1 Vgl. BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667 – Rz. 32; v. 7.6.2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370 – Rz. 25; v. 22.10.2009 – 8 AZR 642/08, NZA 2010, 280 – Rz. 20; Domröse, NZA 2006, 1320 (1323); Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 37; ErfK/Schlachter, § 1 AGG Rz. 9; insoweit zutreffend auch Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 75 m.w.N. 2 Zutreffend MünchKomm/BGB/Thüsing, § 1 AGG Rz. 81. 3 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 60 ff. 4 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 65. 5 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 65. 6 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 73 f. 7 Huster, EuR 2010, 325 (336). 8 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 590 f. 9 BAG v. 13.10.2009 – 9 AZR 722/08, NZA 2010, 327 – Rz. 49. 10 Allg. Meinung, BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 Rz. 32; statt aller Däubler/ Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 84 m.w.N. 11 Vgl. ErwGr. 6 und 8 RL 2000/78/EG; zu weitgehend aber BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 – Rz. 32, wonach der Schutz Älterer „Hauptzielrichtung“ der Richtlinie sei. 12 Thüsing/Siebert, ZESAR 2014, 81 (82). 13 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 23.
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Grünberger
Diskriminierungsmerkmale
Rz. 101
§3
knüpfung mit dem Alter besteht, wenn ein Tarifvertrag für die Eingruppierung nur die bei bestimmten Arbeitgebern erworbene Berufserfahrung berücksichtigt und identische Erfahrungen bei anderen Arbeitgebern ausschließt.1 Dagegen ist die Anwendung einer Sonderformel bei der Berechnung einer Sozialplanabfindung2 und der Ausschluss einer Entlassungsabfindung3 jeweils für rentennahe Jahrgänge untrennbar mit dem Alter verbunden, wenn die Rentenbezugsberechtigung an ein Mindestalter geknüpft ist. Zweifelhaft ist die Auffassung des BAG, wonach die Kürzungsregelung eines Sozialplans, die an die Bezugsmöglichkeit einer gesetzlichen Altersrente anknüpft, nur mittelbar wegen des Alters benachteilige, weil sie maßgeblich von der jeweiligen Rentenberechtigung abhänge.4 Besondere Schwierigkeiten bereiten Stellenausschreibungen. Eine Anzeige, die sich „speziell an Berufseinsteiger“ richtet, deren Hochschulabschluss „maximal ein Jahr zurückliegen“ sollte, knüpft jedenfalls mittelbar an das Alter des Bewerbers an.5
100
3. Mehrdimensionale Diskriminierung Der diskriminierungsrechtliche Normalfall ist die Ungleichbehandlung einer Person wegen eines verpönten Merkmals. Das Verständnis des speziellen unionsrechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts beruht auf Zuschreibungen aufgrund der Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Gruppe.6 Es impliziert damit eine „single identity ascription“.7 Dies verkürzt das Problem, weil alle Personen multiple Identitäten bilden.8 Besonders diskriminierungsgefährdet sind Menschen, die wegen des Zusammentreffens von mehreren Diskriminierungskategorisierungen nicht nur aufgrund eines, sondern zugleich anhand mehrerer Merkmale diskriminiert werden können.9 Die ErwGr. 14 AntiRass-RL und 3 Gleichb-RL sprechen das Problem an, dass Frauen nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch mit Rücksicht auf andere Merkmale benachteiligt werden. Mehrdimensionale Diskriminierung10 wird im spezifischen Nichtdiskriminierungsrecht der Union also mit Blick auf (nur) zwei Kategorisierungen gesehen.11 In völkerrechtlicher Hinsicht ist insbesondere12 auf Art. 6 UN-Behinderten1 EuGH v. 7.6.2012 – Rs. C-132/11 – Tyrolean Airways – Rz. 29, NZA 2012, 742; BAG v. 19.12. 2013 – 6 AZR 94/12, ZTR 2014, 232 – Rz. 50. 2 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 36, NZA 2012, 14356; Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324. 3 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 23; dazu näher Grünberger, EuZA 2011, 171. 4 BAG v. 23.4.2013 – 1 AZR 915/11, NJW 2013, – Rz. 32. 5 Offengelassen von BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 997/12, NZA 2014, 489 – Rz. 37 aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit des Klägers. 6 Vertiefend Nielsen, in: Schiek/Chege, From European Union non-discrimination law towards multidimensional equality for Europe, 2009, 3 (33 ff.); Chege, Multidimensional Discrimination in EU Law: Race, Sex and Ethnicity, 2011, 179 ff. 7 Fredman, in: Schiek/Chege (Hrsg.), From European Union non-discrimination law towards multidimensional equality for Europe, 2009, S. 72, 74. 8 Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung, 2010, S. 7. 9 Siehe BT-Drucks. 16/1780, 23 f. 10 Zum Begriff Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung, 2010, S. 24 ff. 11 Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung,, 2010, S. 41. 12 Zu den vorsichtigen Ansätzen im ICERD s. Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung, 2010, S. 46.
Grünberger
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101
§3
Rz. 102
Nichtdiskriminierungsrecht
konvention (vgl. Rz. 31) hinzuweisen, der eine Berücksichtigung mehrdimensionaler Diskriminierung im Zusammenhang mit der Behinderung verlangt. 102
In der Rechtsprechung des EuGH lassen sich zwei Fallkonstellationen nachweisen, bei denen es sich in der Sache um Fälle einer multidimensionalen Diskriminierung handelt. In der ersten Fallgruppe trifft ein unionsrechtlich geschütztes auf ein nicht geschütztes Merkmal.1 Sie belegen die konzeptionelle Unzulänglichkeit abgeschlossener Merkmalskataloge für die Erfassung multidimensionaler Benachteilungen.2 Die zweite Fallgruppe zeichnet sich dadurch aus, dass die direkte Anknüpfung an eine Unterscheidung zugleich eine mittelbare Benachteiligung wegen eines verpönten Merkmals ist.3 Weil die Ungleichbehandlung eines (schwer-)behinderten älteren Arbeitnehmers zugleich an zwei Merkmale anknüpft (Behinderung und Alter), müssen beide Anknüpfungen unabhängig voneinander gerechtfertigt werden können.4
V. Diskriminierungstatbestand 1. Begriffsbestimmungen 103
Diskriminierung ist ein Rechtsbegriff. Damit werden unterschiedliche tatsächliche Erscheinungsformen von Ungleichbehandlungen in der Arbeitswelt rechtlich erfasst. Man muss den Rechtsbegriff und die tatsächlichen Erscheinungsformen unterscheiden, weil das Recht eine eigenständige Bewertung und Einordung dieser sozialen Faktoren vornimmt.5
104
In sozialer Hinsicht werden traditionell zwei6 Diskrimierungsfallgruppen unterschieden: die präferenzbedingte und die statistische Diskriminierung.7 Von präferenzbedingter Diskriminierung (taste-based discrimination) spricht man, wenn der Benachteiligende oder ein Dritter, auf dessen Interessen Rücksicht zu nehmen der Benachteiligende rationale Gründe hat,8 mit Angehörigen einer nach bestimmten Merkmalen zusammengesetzten Gruppe aus systemfremden Gründen nichts zu tun haben will.9 Das Modell der statistischen Diskriminierung basiert darauf, dass es rationale Gründe gibt, anhand bestimmter personenbezogener Merkmale zu diskriminieren. Das ist der Fall, wenn ein personenbezogenes Merkmal in einem statistisch signifikanten Zusammenhang mit einer anderen Eigenschaft der Person – dem Hauptmerkmal (Ausbildung, Produktivität, gesundheitliche Risiken) – steht und die Differenzierung anhand dieses Hauptmerkmals ökonomisch rational ist. Weil es für den Benachteiligenden u.U. prohibitiv hohe Informationskosten verursachen würde, das Hauptmerkmal zu ermitteln, fungiert das personenbezogene Merkmal als dessen 1 EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 – Defrenne III, Slg. 1978, 1365 – Rz. 2 ff. (Geschlecht und Alter); v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 – Grant, Slg. 1998, I-621 (sexuelle Ausrichtung und Geschlecht). 2 Vgl. Baer/Bittner/Göttsche, in: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), Mehrdimensionale Diskriminierung, 2010, S. 63. 3 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 55 ff., NZA 2012, 1435. 4 Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (334). 5 Ausführlich dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 631ff; BeckOGK-BGB/Grünberger/ Block, § 3 AGG Rz. 8 ff. 6 Abweichend Posner, The University of Chicago Law Review 56 (1989), 1311 (1318 ff.). 7 Statt vieler Strauss, Georgetown Law Journal 79 (1991), 1619 (1621 ff.); Vandenberghe, European Review of Contract Law 3 (2007), 410; Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008, 14 ff.; ein guter Überblick bei Schwab, Employment Discrimination, in: Dau-Schmidt/ Harris/Lobel (Hrsg.), Labor and Employment Law and Economics, 2009, S. 296 (299 ff.). 8 Näher Gardner, Oxford Journal of Legal Studies 18 (1998), 167 (168). 9 Grundlegend Becker, Economics of Discrimination, 2. Aufl. 1971.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 107
§3
Stellvertretermerkmal.1 Sie tritt in verschiedenen Kombinationen auf.2 Ergänzend kann man die tatsächlichen Erscheinungsformen auch danach unterscheiden, ob es sich um intrinsische oder instrumentale Diskriminierungen handelt.3 Eine zweckrationale oder instrumentale Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung ein rationales Mittel ist, um ein bestimmtes ökonomisch gesetztes Handlungsziel (Zweck) zu erreichen.4 Bei einer intrinsischen Diskriminierung fehlt diese Zweck-Mittel-Relation.5 Die Diskriminierung anhand personenbezogener Merkmale wird mit solchen internen Handlungsgründen als Zweck an sich gerechtfertigt. Die Richtlinien definieren insgesamt fünf Verhaltensweisen, die sie als Diskriminierung konzipieren. Zu den verbotenen rechtlichen Erscheinungsformen zählen die unmittelbare und mittelbare Diskriminierung, die Belästigung mit dem Spezialfall der sexuellen Belästigung und die Anweisung Dritter zur Diskriminierung. Mit dem jeweils verwendeten Diskriminierungsbegriff verfolgen die Richtlinien das übergreifende Ziel, die Bandbreite von Ungleichbehandlungen in der Gesellschaft systemkonform erfassen zu können.
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Das AGG spricht dagegen „von ‚Benachteiligung‘ […], um deutlich zu machen, dass nicht jede unterschiedliche Behandlung, die mit der Zufügung eines Nachteils verbunden ist, diskriminierenden Charakter hat“.6 Diskriminierung sei „nur die rechtswidrige, sozial verwerfliche Ungleichbehandlung“.7 Damit weicht das AGG vom Sprachgebrauch der Richtlinien ab. Inhaltlich macht das keinen Unterschied.
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2. Unmittelbare Diskriminierung a) Grundlagen Die unmittelbare Diskriminierung bildet im europäischen Nichtdiskriminierungsrecht den Normalfall einer Diskriminierung.8 Das Recht reagiert damit auf Verhaltensmuster seiner Umwelt, die an Merkmale anknüpfen, die nach rechtlicher Einschätzung grundsätzlich irrelevant sein müssen.9 Das Verbot schützt vor Ungleichbehandlungen, die an Diskriminierungsmerkmale anknüpfen. Unerheblich ist, welche Gesinnung das Verhalten des Normadressaten anleitet.10
1 Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008, S. 9; grundlegend Phelps, American Economic Review 62 (1972), 659; Arrows, Models of Job Discrimination, in: Pascal (Hrsg.), Racial Discrimination in Economic Life, 1972, S. 82 ff.; Arrows, The Theory of Discrimination, in: Ashenfelter/Rees (Hrsg.) Discrimination in Labor Markets, 1973, S. 3 ff. 2 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 637 f. 3 Ausführlich Grünberger, Personale Gleichheit, S. 641 ff.; in knapper Form auch BeckOGKBGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 16 ff. 4 Zur unheitlichen Terminologie s. Hellman, California Law Review 86 (1998), 315 (317 f.) (proxy-discrimination); Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 165 ff.; Huster JZ 1994, 541 (543 ff.); Huster, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 3 Rz. 82 ff. (externe Zwecke und Ziele); Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 395 ff. (intensionale Prädikate). 5 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 395 ff. 6 BT-Drucks. 16/1780, 30; ähnlich auch Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 18. 7 BT-Drucks. 16/1780, 30. 8 Kritisch Somek, Engineering Equality, S. 113 ff. 9 Waddington/Hendriks, International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 18 (2002), 403 (404). 10 Vgl. zu § 3 Abs. 1 AGG BAG v. 6.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667 – Rz. 35 m.w.N.
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§3
Rz. 108
Nichtdiskriminierungsrecht
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Die Richtlinien1 gehen von einem zweigliedrigen Begriff2 der unmittelbaren Diskriminierung aus: Sie liegt vor wenn (1.) eine Person eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde und (2.) dies auf einem verpönten Merkmal beruht. Der Begriff der unmittelbaren Diskriminierung ist ein grundsätzliches Anknüpfungsverbot.3 Es besteht kein Raum für ungeschriebene Rechtfertigungsmöglichkeiten.4 Unerheblich ist auch, ob die konkrete Regelung für die betroffene Gruppe von Arbeitnehmern günstig oder ungünstig ist.5
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Daher ist die Auffassung des BAG,6 wonach man aufgrund der Ambivalenz des Alters bereits auf tatbestandlicher Ebene differenzieren dürfe, nicht richtlinienkonform.7 b) Tatbestand
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Der objektive Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung liegt vor, wenn der Normadressat eine Person weniger günstig behandelt (aa). Ob das der Fall ist, ergibt sich im Regelfall aus einem Vergleich zu der Behandlung einer anderen Person in einer vergleichbaren Situation (bb). Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es nicht erforderlich, dass eine von der Maßnahme betroffene konkrete Person identifizierbar ist.8 In Mitgliedstaaten wie Deutschland, die auf ein Verbandsklagerecht in richtlinienkonformer Weise verzichtet haben, stellen sich dann praktische Schwierigkeiten bei der Rechtsdurchsetzung.9 aa) Ungleiche Behandlung
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(1) Weniger günstige Behandlung. Um festzustellen, ob eine „weniger günstige“ Behandlung einer Person vorliegt, benötigt man – entgegen häufig anderslautender Vorstellungen – keine Vergleichsperson.10 Es genügt, wenn eine Person aufgrund eines Verhaltens einer anderen Person einen Nachteil erlitten hat. Eine Analsye der Rechtsprechung des EuGH11 zeigt, dass die „weniger günstige Behandlung“ bereits in einer objektiven Ungleichbehandlung per se liegt, solange sich diese im sachlichen Anwen1 Art. 2 Abs. 2 Buchst. a AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Geschl-RL. 2 Anders Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 8 Rz. 27 (dreigliedrig); Barnard, EU Employement Law, S. 314 ff. identifiziert dagegen ein eigenständiges, von den Richtlinien abweichendes Modell der Diskriminierung bei Art. 157 AEUV. 3 Vgl. Schiek/Schiek, AGG, § 3 Rz. 4. 4 St. Rspr., s. EuGH v. 18.11.2010 – Rs. C-356/09 – Kleist, Slg. 2010, I-11939 – Rz. 41; v. 12.12. 2013 – Rs. C-267/12 – Haye – Rz. 45, NZA 2014, 153; a.A. Wernsmann, JZ 2005, 224 (227 ff.); Adomeit/Mohr, AGG, § 3 Rz. 27, Nettesheim, EuZW 2013, 48 (zum Alter). 5 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 61 f., NZA 2012, 1435; EuGH v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 und C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 – Rz. 34. 6 BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 – Rz. 25; zustimmend Adomeit/Mohr, AGG, § 1 Rz. 141; Reichold, EWiR 2010, 341; Däubler/Bertzbach/Däubler, AGG, § 1 Rz. 86. 7 Grünberger, EuZA 2011, 171 (175) unter Verweis auf EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343; Bieder, ArbuR 2010, 268; Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (330); Schlachter, Anm. zu AP AGG § 3 Nr. 3 (unter 2 a). 8 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 24 ff.; v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 36, NZA 2013, 891; a.A. wohl Adomeit/Mohr, AGG, § 3 Rz. 67 f.; ErfK/Schlachter, AGG, § 3 Rz. 5. 9 Dazu Benecke/Böglmüller, EuZW 2013, 474 (475). 10 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 647 ff.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 25 ff. 11 Siehe EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 57; v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 51; v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 34; v. 18.9.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg.
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Diskriminierungstatbestand
Rz. 114
§3
dungsbereich der Richtlinien verwirklicht.1 Entscheidend ist nur, ob die Person irgendwelche Nachteile erleidet oder erlitten hat, unabhängig davon ob diese materieller oder immaterieller Natur sind und ungeachtet eines möglicherweise zurücksetzenden Elements.2 Auch für die Richtlinien gilt das bei Art. 157 AEUV entwickelte Kriterium, wonach man jeden einzelnen Bestandteil eines Regelungskomplexes getrennt würdigt und auf tatbestandlicher Ebene keine Gesamtsaldierung vornehmen darf.3 Damit unvereinbar ist die teilweise in der deutschen Literatur4 und vom BAG5 (6. Senat) vertretene Auffassung, nach der ein Nachteil nicht bereits in jeder unterschiedlichen Behandlung liege.6 Vielmehr müsse sich die Differenzierung für eine bestimmte Gruppe negativ auswirken, indem sie diese zurücksetze.7
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Beispiel: Ein Nachteil im Rahmen einer Auswahlentscheidung, insbesondere bei einer Einstellung und Beförderung, liegt vor, wenn die betroffene Person nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgenommen wird.8 Die weniger günstige Behandlung liegt in der Versagung einer Chance.9 Dasselbe gilt bei einem Unterlassen, selbst wenn keine Handlungspflicht besteht.10 Daher wird ein Beschäftigter weniger günstig behandelt, wenn der Arbeitgeber ein befristetes Arbeitsverhältnis nicht verlängert.11
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(2) Andere Person in einer vergleichbaren Situation. Eine zentrale Weichenstellung erfolgt bei der Frage, ob die vermeintlich weniger günstig behandelte Person anders behandelt wird „als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“.12 Vergleichbar können nur solche Situationen sein, die jeweils im sachlichen Anwendungsbereich des Dis-
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2009, I-5325 – Rz. 36; v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010, I-1 – Rz. 29; v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 35; v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 37; v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 23; v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 29; v. 21.7.2011 – Rs. C-159/10 – Fuchs & Köhler, Slg. 2011, I-6919 – Rz. 34; 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 und C-298/10 – Hennigs u.a., Slg. 2011, I-7965 – Rz. 58; v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 43 f.; 18.11.2011 – verb. Rs. C-250/09 und C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 – Rz. 32; v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt – Rz. 20, NZA 2012, 785; v. 6.11.2012 – Rs. C-286/12 – Kommission v. Ungarn – Rz. 51, ZESAR 2013, 276; v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 36, NZA 2012, 1435; v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – HK Danmark (Kristensen) – Rz. 34 f., EuZW 2013, 951. Vgl. dazu die – kritische – Analyse bei Nettesheim EuZW 2013, 48. Schiek/Schiek, AGG, § 3 Rz. 8. EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 29, 35; a.A. Adomeit/ Mohr, AGG, § 3 Rz. 35. ErfK/Schlachter, AGG, § 3 Rz. 2; Schleusener/Suckow/Voigt/Schleusener, AGG, § 3 Rz. 10; Wendeling-Schröder/Stein/Wendeling-Schröder, AGG, § 3 Rz. 4. BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 – Rz. 25, 29 f. Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 26. BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 – Rz. 25 (zum Alter); ähnlich BAG v. 16.2. 2012 – 6 AZR 553/10, NZA 2012, 555 – Rz. 21 (zur Behinderung). BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667 – Rz. 33; s. bereits BAG v. 21.7.2009 – 9 AZR 431/08, NZA 2009, 1087 – Rz. 22; v. 18.3.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 20; v. 20.5.2010 – 8 AZR 287/08, NZA 2010, 1006 – Rz. 13. Vgl. BAG v. 23.8.2012 – 8 AZR 285/11, NZA 2013, 37 – Rz. 22; v. 16.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667 – Rz. 33 jeweils m.w.N. Siehe zu § 3 Abs. 1 AGG: BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 25; BVerwG v. 3.3.2011 – 5 C 16/10, NJW 2011, 2452 – Rz. 17 („insbesondere“ bei gesetzlich auferlegten Handlungspflichten). EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 – Jiménez Melgar, Slg. 2001, I-6915 – Rz. 47; BAG v. 21.6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 25. Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 648 ff.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 30 ff.
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§3
Rz. 115
Nichtdiskriminierungsrecht
kriminierungsverbots liegen.1 Probleme bereitet der dabei zu wählende Vergleichsmaßstab. 115
(a) Sonderfall Entgeltdiskriminierung? Das gilt insbesondere für die Entgeltdiskriminierung. Aufgrund von ErwGr. 8 Geschl-RL ist mit dem EuGH davon auszugehen, dass für die Ungleichbehandlung bei Entgeltfragen aufgrund des Geschlechts ein identischer Vergleichsmaßstab sowohl bei Art. 157 Abs. 1 AEUV als auch bei Art. 4 Abs. 1 und 14 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL zugrunde liegt.2 Offen ist, ob das auch für den Diskriminierungsbegriff in der Antirassismus- und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie gilt. Der übergreifende Gedanke, dass die Richtlinien den im Primärrecht, insbesondere der Grundrechtecharta enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatz „konkretisieren“ (vgl. Rz. 13 ff.), spricht im Ergebnis für einen einheitlichen Diskriminierungsbegriff.3
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Maßgeblich ist, ob sich die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in gleichen oder vergleichbaren Situationen befinden.4 Das ist der Fall, wenn sie gleiche oder zumindest als gleichwertig anerkannte Arbeit verrichten.5 Maßgeblich sind ausschließlich objektive Faktoren.6 Dazu zählen die Art der Arbeit, Ausbildungsanforderungen und Arbeitsbedingungen.7 Dabei stellt der EuGH mit Recht auf die konkreten Tätigkeiten ab. Entscheidend sind die tatsächlichen Gesichtspunkte, die das Arbeitsverhältnis auszeichnen, wie die Art der tatsächlich übertragenen Tätigkeiten, die Ausbildungsanforderungen für deren Ausübung und die Arbeitsbedingungen, unter denen diese Tätigkeiten tatsächlich ausgeübt werden.8
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Diese Feststellung hängt vielfach von Wertungen ab. Hervorzuheben sind die Fälle, in denen verschiedene Arbeitnehmergruppen, die nicht dieselbe Berufsberechtigung oder Qualifikation für die Ausübung ihres Berufs besitzen, eine anscheinend identische Tätigkeit ausüben.9 Der EuGH behandelt die Berufsausbildung dann nicht nur als Rechtfertigungsgrund, sondern auch als Kriterium zur Feststellung der Vergleichbarkeit.10 Weil dadurch bereits die Ungleichbehandlung ausscheidet, kommt es auf die Rechtfertigung nicht mehr an.11 Das überzeugt nicht, wenn man davon ausgeht, dass auch unmittelbare Entgeltdiskriminierungen nach Art. 157 Abs. 1 AEUV gerechtfertigt werden können.12 Die Berufsausbildung ist dann ein Rechtfertigungsgrund für die ungleiche Bezahlung. Geht man dagegen davon aus, dass keine Rechtfertigung möglich ist, ist man gezwungen, diesen Anspekt bereits in den Tatbestand zu integrieren (vgl. Rz. 200).
1 Vgl. EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 73 (zu Art. 141 EGV). 2 Vgl. EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 24, NZA 2013, 315; Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 282 ff.; ErfK/Schlachter, AGG, § 2 Rz. 9. 3 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 645 f. 4 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 24, NZA 2013, 315. 5 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 28, NZA 2013, 315; v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 39. 6 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 75. 7 EuGH v. 11.5.1999 – Rs. C-308/97 – Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse, Slg. 1999, I-2865 – Rz. 18; v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 27, NZA 2013, 315. 8 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 48. 9 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 28, NZA 2013, 315. 10 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 24, NZA 2013, 315. 11 So auch Calliess/Ruffert/Krebber Art. 157 AEUV Rz. 54. 12 Dazu bereits BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 33; vertiefend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 802 ff.; kritisch auch Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 228 f.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 120
§3
(b) Deskriptives Modell zur Feststellung der Vergleichbarkeit. Die Vergleichbarkeit ist einheitlich für alle Fälle unmittelbarer Diskriminierung anhand eines deskriptiven Modells festzustellen. Diesem Modell folgt der EuGH außerhalb der Entgeltdiskriminierung im Anwendungsbereich der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie. Das ist verallgemeinerungsfähig.
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Maßgeblich sind die tatsächlich bestehenden Gemeinsamkeiten der verschiedenen Personen vor der Grundlage vergleichbarer Lebenssachverhalte.1 Die Situationen müssen nicht identisch, sondern nur vergleichbar sein.2 Die Vergleichbarkeit verlangt eine „ähnliche“,3 aber keine „gleiche“4 Situation. Bezugspunkt der Vergleichbarkeit ist der konkrete Lebenssachverhalt, auf den sich die benachteiligende Maßnahme bezieht. Die Vergleichbarkeit muss also nicht allgemein und abstrakt festgestellt werden. Sie hat spezifisch für die konkret in Streit stehende Maßnahme zu erfolgen.5 Ob die Situationen vergleichbar sind, ist ausschließlich im Lichte des Zwecks und des Ziels der differenzierenden Maßnahme zu beurteilen.6 Normative Aspekte spielen keine Rolle. Es kommt allein darauf an, ob die betroffene Person und die Vergleichsperson mit Bezug auf die konkrete Behandlung in einer rechtstatsächlich vergleichbaren Situation sind.7 Insbesondere ist keine Gesamtbetrachtung der verschiedenartigen Maßnahmen vorzunehmen. Diese wäre mit dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der Diskriminierungsverbote unvereinbar. Das gilt nicht nur für Art. 157 AEUV, sondern für alle Aspekte des Gleichbehandlungsgrundsatzes.8 Ob Vergleichbarkeit gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der vom EuGH entwickelten Kriterien typischerweise vom nationalen Gericht zu entscheiden.9
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Beispiele: In einer Auswahlsituation sind nur die Arbeitnehmer vergleichbar, die gleichermaßen objektiv für die zu besetzende Stelle geeignet sind.10 Maßgeblich für die objektive Eignung ist nicht das vom Arbeitgeber erstellte formelle Anforderungsprofil, sondern die Anforderungen, die der Arbeitgeber stellen durfte.11 Die Berufsausbildung kann berücksichtigt werden, weil sie ein Kriterium ist, um festzustellen, ob die Arbeitnehmer eine vergleichbare Arbeit verrichten sollen.12 Bei Entlassungsbedingungen stellt der EuGH nur darauf ab, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer in derselben
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1 Zusammenfassend BAG v. 7.6.2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370 – Rz. 29 m.w.N. 2 EuGH v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 – Römer, Slg. 2011, I-3591 – Rz. 42; v. 13.12.2013 – Rs. C-267/12 – Haye – Rz. 33, NZA 2014, 153. 3 Rupp, RdA 2009, 307. 4 BAG v. 19.8.2010 – 8 AZR 466/09, NZA 2011, 203 – Rz. 35. 5 EuGH v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 – Römer, Slg. 2011, I-3591 – Rz. 42; v. 13.12.2013 – Rs. C-267/12 – Haye – Rz. 33 f., NZA 2014, 153 (jeweils zur Gleichb-RL); in der Sache a.A. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 56; Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 16 (jeweils zu Art. 157 AEUV). 6 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-127/07 – Arcelor Atlantique et Lorraine u.a., Slg. 2008, I-9895 – Rz. 26; v. 18.11.2010 – Rs. C-356/09 – Kleist, Slg. 2010, I-11939 – Rz. 34; v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Association Belge des Consommateurs Test-Achats u.a., Slg. 2011, I-773 – Rz. 29. 7 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 37. 8 Grundlegend EuGH v. 6.4.2000 – Rs. C-226/98 – Jørgensen, Slg. 2000, I-2447 – Rz. 27 ff. 9 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 49 (zu Art 157 AEUV). 10 St. Rspr. zu § 3 Abs. 1 AGG, vgl. BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667 – Rz. 35; v. 18.3.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 22. 11 Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 8 AZR 180/12, NZA 2013, 840 – Rz. 29 m.w.N.; v. 18.3.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 22. 12 Insoweit zutreffend EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 29, NZA 2013, 315 (zu Art. 157 AEUV).
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Rz. 121
Nichtdiskriminierungsrecht
faktischen Situation befinden, weil ihr Arbeitsverhältnis endet. Für die Vergleichbarkeit ist es irrelevant, ob sie sozialrechtlich unterschiedlich behandelt werden.1 121
Bei Entgeltfragen kommt es zur Sicherung der praktischen Wirksamkeit des Art. 157 Abs. 1 AEUV auf jeden einzelnen Bestandteil des den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gezahlten Entgelts an. Aufgrund des identischen Normzwecks ist das auch auf die sekundärrechtlichen Verbote der Entgeltdiskriminierungen zu übertragen.2 Damit scheidet insbesondere eine Gesamtbewertung der ihnen gewährten Vergütungen aus.3 Wird die Arbeit nach Akkord bezahlt, ist das gewährte Entgelt aufgrund der gleichen Maßeinheit festzusetzen (Art. 157 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AEUV). Der Arbeitgeber darf dabei die Produktivität der Arbeitnehmer und damit ihre persönliche Leistungsfähigkeit berücksichtigen.4 Bei einer nach Zeit bezahlten Arbeit kommt es nach Art. 157 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b AEUV auf die gleiche oder gleichwertige Arbeit – und damit auf dieselben Kriterien wie in Art. 157 Abs. 1 AEUV – an.5 Dafür sind ausschließlich objektive Kriterien maßgeblich. Dazu zählt beispielsweise die Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben.6 Dagegen spielen subjektive, in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe (z.B. Leistungsfähigkeit oder Qualität der Leistungen) für die Vergleichbarkeit keine Rolle.7 Unterscheidet der Arbeitgeber zwischen Teilzeit- und Vollzeitarbeitnehmern, sind deren Arbeitsbedingungen abgesehen von der Teilzeit/Vollzeit zu vergleichen. Wenn der Arbeitsvertrag des Teilzeitarbeitnehmers weder die Wochenarbeitszeit noch eine Ausgestaltung der Arbeitszeit festlegt und dem Arbeitnehmer die Wahl lässt, einer Anforderung des Arbeitgebers nachzukommen, sind die Angehörigen beider Gruppen insoweit nicht vergleichbar.8
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(c) Vergleichsperson. Nach dem übereinstimmenden Wortlaut der Richtlinien ist die weniger günstige Behandlung mit einer Behandlung zu vergleichen, die „eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.9 Die vergleichbare Situation kann sich gegenüber einer gegenwärtig existierenden Person ergeben („erfährt“). Sie kann auch im Vergleich zu einer Person festgestellt werden, die sich in der Vergangenheit in vergleichbarer Lage befunden hat („erfahren hat“). Insoweit stimmen die Entscheidungspraxis zu Art. 157 Abs. 1 AEUV10 und die Richtliniendefinition überein.
123
Ein Unterschied zur bisherigen Entscheidungspraxis des EuGH zu Art. 157 AEUV11 besteht darin, dass die Richtlinien nicht voraussetzen, dass eine vergleichbare Person tatsächlich existiert. Es genügt, wenn die Behandlung mit einer hypothetischen Vergleichsperson („erfahren würde“) verglichen werden kann. Umstritten ist, ob das Kon-
1 EuGH v. 18.11.2010 – Rs. C-356/09 – Kleist, Slg. 2010, I-11939 – Rz. 33 ff.; v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 60, NZA 2012, 1435. 2 Vgl. EuGH v. 6.4.2000 – Rs. C-226/98 – Jørgensen, Slg. 2000, I-2447 – Rz. 28. 3 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 35; v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 – Barber, Slg. 1990, I-1889 – Rz. 34 f. 4 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 71 f. 5 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 74. 6 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 75, 77. 7 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 76. 8 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 – Wippel, Slg. 2004, I-9483 – Rz. 52; kritisch Schwarze/ Rebhahn, Art. 157 AEUV – Rz. 16. 9 Zum Folgenden ausführlich BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 39 ff. 10 Siehe EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 – Macarthys, Slg. 1980, 1275 – Rz. 12; v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 102. 11 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 – Macarthys, Slg. 1980, 1275 – Rz. 15; v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 101.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 125
§3
zept der hypothetischen Vergleichsperson mittlerweile auch für Art. 157 AEUV gilt.1 Dabei handelt es sich letztlich um ein Scheinproblem:2 Zwar muss sich die Vergleichbarkeit als relatives Konzept zwingend an der Entgelthöhe tatsächlich Beschäftigter des Arbeitgebers orientieren.3 Allerdings wird sich immer eine tatsächliche Person finden lassen, die aktuell oder in der Vergangenheit in vergleichbarer Lage war und anders bezahlt wurde. Zweifelhaft ist der räumliche Bezug des Vergleichsmaßstabes. Insbesondere bei Entgeltfragen ist es praktisch wichtig, ob die Vergleichsperson betriebs-, unternehmens-, konzernbezogen oder ohne solche Beschränkungen ermittelt werden kann.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH sind nur die Arbeitnehmer zu vergleichen, deren Entgeltbedingungen „auf ein und dieselbe Quelle zurückzuführen“ sind.5 Andernfalls „fehlt eine Einheit, die für die Ungleichbehandlung verantwortlich ist und die Gleichbehandlung herstellen könnte.“6 Ein betriebsbezogener Vergleichsmaßstab erfüllt diese Voraussetzung.7 Nicht mehr in den Anwendungsbereich fallen dagegen Vergleichspersonen, die bei anderen Unternehmen beschäftigt sind.8
124
Vielfach wird ohne Weiteres davon ausgegangen, dass sich die weniger günstig behandelte Person von der Behandlung der Vergleichsperson gerade aufgrund eines verpönten Merkmals unterscheiden müsse.9 Das kann nicht überzeugen.10 Nach zutreffender Auffassung spielt das verpönte Diskriminierungsmerkmal für die Feststellung der Vergleichbarkeit keine Rolle.11 Die Ungleichbehandlung ist schon aufgrund der begrifflichen Zweiaktigkeit der unmittelbaren Diskriminierung (vgl. Rz. 108) vom Grund der Ungleichbehandlung zu trennen. Man muss für die Vergleichbarkeit daher nur das (Haupt-)Merkmal herausarbeiten, das der Diskriminierende seiner Differenzierung selbst zugrunde legt. Ob er damit auch an ein verpöntes Merkmal anknüpft, ist erst auf der nächsten Stufe zu prüfen (vgl. Rz. 126 ff.). Dieser deskriptive Ansatz vermeidet schwierige Fragen zur Ermittlung der richtigen Vergleichsperson in den Fällen der Schwangerschaft (vgl. Rz. 134), der „verdeckten Diskriminierung“ (vgl. Rz. 130 ff.) und bei Mehrfach- oder multidimensionalen Diskriminierungen (vgl. Rz. 101 f.).
125
1 Verneinend Calliess/Ruffert/Krebber Art. 157 AEUV Rz. 51; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 8 Rz. 12; bejahend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 68; ausführlich Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 230 f., 282 ff.; offengelassen von Barnard, EU Employement Law, S. 303 f. 2 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 41. 3 Schleusener/Suckow/Voigt/Schleusener, AGG, § 3 Rz. 7. 4 Vertiefend Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 53; Barnard, EU Employement Law, S. 307 ff. 5 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 – Lawrence, Slg. 2002, I-7325 – Rz. 18. Zum Hintergrund der Entscheidung s. Barnard, EU Employement Law, S. 308 ff.; kritisch dazu Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 225 ff. 6 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 – Lawrence, Slg. 2002, I-7325 – Rz. 18. 7 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 40; v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 – Lawrence, Slg. 2002, I-7325 – Rz. 17. 8 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 50. 9 Vgl. Armbrüster in: Mahlmann/Rudolf (Hrsg.), Gleichbehandlungsrecht, 2007, § 7 Rz. 101; Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 3 Rz. 11; Rupp RdA 2009, 307. 10 Ausführlich zum Problem Grünberger, Personale Gleichheit, S. 650 ff. 11 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 650 ff.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 43 ff.; vgl. auch BAG v. 18.3.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 22.
Grünberger
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§3
Rz. 126
Nichtdiskriminierungsrecht
bb) Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal 126
(1) Grundverständnis. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt nur dann vor, wenn eine Person „wegen“ (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Gleichb-RL) bzw. „aufgrund“ (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a AntiRass-RL und 2 Abs. 1 Buchst. a Geschl-RL) eines verpönten Merkmals ungleich behandelt wird. Damit verlangt das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht einen Zurechnungszusammenhang zwischen Ungleichbehandlung und Merkmal. Aus dem Spektrum der möglichen Zurechnungskriterien1 ist nur das Verständnis als tatbestandliches Anknüpfungsverbot richtlinienkonform.2 Die verpönten Merkmale dürfen daher – vorbehaltlich der Rechtfertigungsgründe – nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche oder tatsächliche Ungleichbehandlung herangezogen werden.3
127
Die praktische Wirksamkeit des speziellen unionsrechtlichen Diskriminierungsrechts zwingt dazu, auf jede Form subjektiver Zurechnung zu verzichten. Es kommt daher weder auf ein schuldhaftes Handeln4 noch auf eine Benachteiligungsabsicht oder auf die Motivation5 an.
128
Nur in der Sache richtig, terminologisch jedoch problematisch,6 ist die Auffassung des BAG, wonach der erforderliche Kausalzusammenhang (besser: Zurechnungszusammenhang) gegeben ist, wenn die Benachteiligung an einen oder mehrere der in § 1 AGG genannten Gründe anknüpft oder dadurch motiviert oder Bestandteil eines Motivbündels ist, das die Entscheidung beeinflusst hat.7
129
Maßgeblich ist nur der mit der Ungleichbehandlung beim Betroffenen eingetretene Erfolg.8 Die vom Normadressaten vorgenommene Diskriminierung muss normativ als Anknüpfung an eine verpönte Diskriminierungskategorie gewürdigt werden können. Das ist auch der Fall, wenn lediglich eine Mitursächlichkeit des verpönten Merkmals festgestellt werden kann.9 Völlig irrelevant ist, ob darin zugleich auch eine Herabwürdigung des Betroffenen liegt.10
130
(2) Ausdrückliche und verdeckte Anknüpfung. Unproblematisch erfasst wird die ausdrückliche Anknüpfung. Das ist der Fall, wenn eine staatliche oder privat gesetzte Regelung ausdrücklich an das verpönte Merkmal anknüpft.11 Kündigt beispielsweise der Arbeitgeber einem behinderten Arbeitnehmer wegen fehlender Einsatzmöglichkeiten, knüpft er unmittelbar an die Behinderung an.12 Der Arbeitgeber muss dabei keine positive Kenntnis davon haben, dass das Merkmal bei dem Betroffenen tatsächlich vorliegt. Weil die Anknüpfung nicht auf subjektiven Faktoren basiert, ist es auch unerheblich, ob 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 652 f. Grünberger, Personale Gleichheit, S. 653; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 46. Siehe EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 38. A.A. Maier-Reimer, NJW 2006, 2577 (2579); Adomeit/Mohr, NZA 2007, 179 (180 ff.); unklar Adomeit/Mohr, AGG, § 3 Rz. 50 ff. Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 163 ff.; Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 18; zu den konzeptionellen Schwierigkeiten eines Nichtdiskriminierungsrechts, das auf Beweggründe abstellt s. Somek, Engineering Equality, 2011, S. 103 ff., 128. Siehe BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 47. BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945 – Rz. 37; v. 18.3.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 24; v. 26.9.2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258 – Rz. 25. Grundlegend EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 – Worringham und Humphreys vs. Lloyds Bank, Slg. 1981, 767 – Rz. 24; v. 13.7.1989 – Rs. 171/88 – Rinner-Kühn, Slg. 1989, 2743 (jeweils zu Art. 157 AEUV). BAG v. 26.9.2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258 – Rz. 25. A.A. Lobinger, EuZA 2009, 365 (378 f.); Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht, 2012, S. 125 (und passim). Dammann, Grenzen zulässiger Diskriminierung, 2005, S. 204 ff. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 54.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 133
§3
er subjektiv davon ausgeht, dass das Merkmal vorliegt.1 Das wirft Probleme auf, wenn die Diskriminierungskategorie für den Arbeitgeber nicht sichtbar ist. Nach Auffassung des BAG kann eine dem Arbeitgeber nicht bekannte Eigenschaft nicht kausal für eine ungleiche Behandlung sein.2 Daher bestehe keine Vermutung für die Benachteiligung wegen einer Behinderung, wenn der Merkmalsträger den Arbeitgeber nicht selbst über seine Schwerbehinderteneigenschaft informiere. Diese Rechtsprechung ist nicht unproblematisch, weil sie auf der Konzeption von „Sichtbarkeit“ der Diskriminierungskategorien basiert. Dabei handelt es sich aber um einen ungeeigneten Versuch, die Diskriminierungskategorien zu erfassen.3 In der Sache handelt es sich bei diesen Fällen um ein Problem der Beweislast (vgl. Rz. 282 ff.).
131
In der theoretischen und praktischen Handhabung bereiten die Fälle, in denen der Normadressat eine Unterscheidung nicht ausdrücklich aufgrund der verpönten Merkmale trifft, erhebliche Probleme.4 Dazu zählen Differenzierungen nach Schwangerschaft (vgl. Rz. 134), Familienstand bzw. verschiedengeschlechtlich vs. gleichgeschlechtlich, Transsexualität oder Krankheit. Die entscheidende Frage lautet, ob das vom Normadressaten gewählte Differenzierungskriterium in rechtlicher Hinsicht unter ein verpöntes Merkmal fällt (Geschlecht, sexuelle Ausrichtung, Behinderung). Nach zutreffender Auffassung erfasst die unmittelbare Diskriminierung nicht nur die ausdrückliche, sondern auch die verdeckte Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal: „Sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Benachteiligung können offen oder verdeckt erfolgen, je nachdem, ob direkt an ein verbotenes (unmittelbare Diskriminierung) bzw. nur dem Anschein nach neutrales Merkmal (mittelbare Diskriminierung) offen oder verdeckt angeknüpft wird.“5 Es ist daher falsch, jede statistische Diskriminierung (vgl. Rz. 104), die nicht an ein offen verpöntes Stellvertretermerkmal anknüpft, nur als mittelbare Diskriminierung zu erfassen.
132
Beispiele: Wer nach dem Familienstand („verheiratet“ oder „verpartnert“) unterscheidet, knüpft zwar an ein scheinbar neutrales Merkmal an. Dieses führt allerdings zwangsläufig zum Ausschluss homosexueller Menschen. Daher liegt eine verdeckte unmittelbare Diskriminierung vor.6 Das ist auch der Fall, wenn an eine ansteckende Krankheit angeknüpft wird, soweit diese in untrennbarem Zusammenhang mit einer Behinderung steht und damit kategorial ausschließlich Träger eines Diskriminierungsmerkmals trifft.7 Anders ist dagegen zu entscheiden, wenn ausschließlich nach krankheitsbedingten Fehlzeiten differenziert wird und die Norm in gleicher
133
1 2 3 4 5 6
Vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 60 f. BAG v. 26.9.2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258 – Rz. 31. Näher dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 858 ff. Zum Folgenden ausführlicher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 51 ff. BAG v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93 – Rz. 50. EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 72; v. 13.12.2013 – Rs. C-267/12 – Haye – Rz. 44, NZA 2014, 153; vgl. auch BAG v. 14.1.2009 – 3 AZR 20/07, NZA 2009, 489 – Rz. 20; BVerfG v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 – Rz. 92; EGMR v. 24.6.2010 -30141/04 – Schalk & Kopf vs. Österreich, NJW 2011, 1421 – Rz. 99; zur abweichenden Einordnung s. die Nachweise bei BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 1 AGG Rz. 159. 7 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 46; v. 7.6.2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370 – Rz. 23; v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93 – Rz. 50.
Grünberger
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§3
Rz. 134
Nichtdiskriminierungsrecht
Weise auf behinderte und nichtbehinderte Menschen anwendbar ist.1 Hier kommt daher nur eine mittelbare Diskriminierung in Betracht.2 134
(3) Sonderfall: Schwangerschaft und Mutterschaft. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. c Geschl-RL gilt „jegliche ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub“ i.S.d. Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG als (unmittelbare) Diskriminierung. Damit wurde die ständige Rechtsprechung des EuGH3 kodifiziert. Der Arbeitgeber differenziert zwar nach der Schwangerschaft der betroffenen Frauen und nicht nach ihrem Geschlecht. Damit behandelt er aber schwangere Frauen schlechter als Personen, die nicht schwanger sind. Dazu zählen selbstverständlich auch nicht schwangere Frauen. Nach der von der Geschlechterrichtlinie getroffenen Wertung fällt das Anknüpfungsmerkmal „Schwangerschaft“ unter das verbotene Merkmal „Geschlecht“. Nach dem hier vertretenen deskriptiven Modell der Vergleichbarkeit (vgl. Rz. 118 ff.) liegt darin kein Verzicht auf die Vergleichsperson, sondern die konsequente Trennung zwischen Vergleichsperson, tatsächlichem Differenzierungsgrund und seiner rechtlichen Bewertung.4
135
Mit „Mutterschaft“ ist nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. c Geschl-RL nicht die Mutterschaft als solche, sondern nur der Mutterschaftsurlaub nach der Richtlinie 92/85/EG gemeint. Daher ist der von jener Richtlinie verfolgte Schutzzweck auch für die Auslegung der Geschlechterrichtlinie maßgeblich.5 Nach der nicht unproblematischen Auffassung des EuGH soll damit zum einen der Schutz der körperlichen Verfassung der Frau während und nach ihrer Schwangerschaft und zum anderen der Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der sich an Schwangerschaft und Entbindung anschließenden Zeit gewährleistet werden, damit diese Beziehung nicht durch die Doppelbelastung infolge der gleichzeitigen Ausübung eines Berufs gestört wird.6 Diese Zielsetzung beschränkt sich auf die sich „an Schwangerschaft und Entbindung“ anschließende Zeit.7 Mutterschaft i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG setzt also voraus, dass die betreffende Arbeitnehmerin schwanger war und entbunden hat (vgl. Rz. 71).8 3. Mittelbare Diskriminierung a) Entstehungsgeschichte und Normzweck
136
Das Konzept der mittelbaren Diskriminierung entstand zunächst im Zusammenhang mit den primärrechtlich9 und sekundärrechtlich10 verankerten Verboten der Diskri1 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 72, NZA 2013, 553. 2 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 – HK Danmark (Ring und Skouboe Werge) – Rz. 75 ff., NZA 2013, 553. 3 Grundlegend EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, I-3941 – Rz. 12; weitere Nachweise in EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 – Paquay, Slg. 2007, I-8511 – Rz. 29; v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 59. 4 Dazu näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 651 f.; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 55 ff. 5 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 – Z – Rz. 58, NZA 2014, 525. 6 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-167/12 – C.D. vs. S.T. – Rz. 34; v. 19.9.2013 – Rs. C-5/12 – Betriu Montull – Rz. 49, ZESAR 2014, 182. 7 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-167/12 – C.D. vs. S.T. – Rz. 36. 8 EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-167/12 – C.D. vs. S.T. – Rz. 37. 9 Zuerst in EuGH – Rs.15/69 – Ugliola, Slg. 1969, 363 – Rz. 6 f. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. 10 Grundlegend EuGH v. 12.2.1974 – Rs. 152/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153 – Rz. 11 f. zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer in VO (EWG) Nr. 1612/68.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 138
§3
minierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit1 und beeinflusste – im Anschluss an die mittelbare Rezeption U.S.-amerikanischen Rechts2 über das britische und irische Recht3 – die Interpretation des Art. 157 AEUV.4 Das Sekundärrecht kannte mit Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 76/207/EWG bereits vom Anbeginn die mittelbare Diskriminierung. Die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 157 AEUV und der Richtlinie nahm der Richtliniengeber 1997 zum Anlass5 einer Begriffsdefinition (Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 97/80/EG6). Mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. b AntiRass-RL und Gleichb-RL liegt eine Neukonzeption der mittelbaren Diskriminierung vor. Diese wird in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Geschl-RL auch für das Merkmal Geschlecht übernommen. Der neue Begriff weicht im Wortlaut erheblich von der Vorgängerversion ab. Aus der Entstehungsgeschichte wird deutlich, dass damit auch an den deutlich strengeren Rechtfertigungsmaßstab zur mittelbaren Diskriminierung beim Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit7 angeknüpft wird.8
137
Der Grund, warum das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht auch mittelbare Benachteiligungen erfasst, ist nach wie vor umstritten.9 Seine Aufgabe besteht nach zutreffender Auffassung darin, zu verhindern, dass die strukturellen Nachteile von Gruppen auf dem Arbeitsmarkt und die gesellschaftlich bedingten Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihrer Interessen von den anderen Akteuren perpetuiert werden.10 Es basiert auf der Zusammenführung von formalen und materiellen Konzeptionen von Gleichbehandlung:11 „Mit dem Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung greift das Recht tatsächliche gesellschaftliche Erscheinungen auf und ordnet sie den herkömmlichen Diskriminierungsverboten zu. Dies ist ein notwendiger Prozess, wenn das Recht nicht an der gesellschaftlichen Realität vorbei existieren will.“12 Der EuGH betont in den Rs. Jenkins und Bilka die Schwierigkeiten von Arbeitnehmerinnen, in Vollzeit zu arbeiten.13 Damit nimmt er Bezug auf die soziale Realität der Verteilung von Erwerbschancen in einer Gesellschaft, die Kindererziehung und Hausarbeit im Wesentlichen immer noch den Frauen zuweist.14
138
1 Vertiefend Tobler, Indirect Discrimination, 2005, S. 104 ff. 2 Grundlegend Supreme Court 8.3.1971 – Griggs vs. Duke Power Co. – U.S. 401 (1971), 424. 3 Siehe Fredman, Discrimination Law, S. 177 ff.; Tobler, Indirect Discriminiation, 2005, S. 91 ff.; Schiek, in: Schiek/Waddington/Bell (Hrsg.), Non-Discrimination Law, 2007, S. 349 ff. 4 Grundlegend EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 – Jenkins, Slg. 1981, 911 und v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607; zum Ganzen s. den Überblick bei BeckOGK-BGB/Grünberger/ Block, § 3 AGG Rz. 58 ff. 5 Zur Entstehungsgeschichte Tobler, Indirect Discriminiation, 2005, S. 279 ff. 6 ABl. Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 6. 7 Dazu grundlegend EuGH v. 23.5.1996 – Rs. C-237/94 – O’Flynn, Slg. 1996, I-2617 – Rz. 19. 8 Siehe KOM (1999), 565 endg., S. 9; BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947 – Rz. 20. 9 Zum Folgenden ausführlich BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 63 ff. 10 BAG v. 14.10.1986 – 3 AZR 66/83, NZA 1987, 445 (447). 11 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 662. 12 Hanau/Preis, ZfA 1988, 177 (182); ähnlich auch die Einschätzung von Rebhahn/Kietaibl, Rechtswissenschaft 2010, 373 (388 ff.). 13 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 29; fast identisch bereits EuGH v. 31.3.1981 – Rs.96/80 – Jenkins, Slg. 1981, 911 – Rz. 13. 14 Siehe BAG v. 14.10.1986 – 3 AZR 66/83, NZA 1987, 445 (446).
Grünberger
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§3
Rz. 139
Nichtdiskriminierungsrecht
b) Begriff 139
Der Begriff der mittelbaren Benachteiligung ist zweigliedrig aufgebaut: Bestimmte Elemente müssen positiv vorliegen (vergleichsweise ungünstigere Behandlung wegen eines geschützten Merkmals aufgrund neutraler Vorschriften oder Maßnahmen) und andere Elemente dürfen nicht gegeben sein (rechtfertigende Ziele und verhältnismäßige Mittel zu ihrer Durchsetzung).1 Der entscheidende konzeptionelle Unterschied zur unmittelbaren Diskriminierung ist die tatbestandliche Rechtfertigungsmöglichkeit.2 Die positiven Tatbestandsmerkmale sind von demjenigen, der sich auf das Diskriminierungsverbot berufen will, darzulegen und – unter Berücksichtigung der Beweiserleichterungen der Richtlinien – zu beweisen.3 Dagegen hat der Diskriminierende darzulegen und zu beweisen, dass die besondere Benachteiligung von Merkmalsträgern objektiv gerechtfertigt ist.4 aa) Ungleiche Behandlung
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(1) Neutrales Differenzierungskriterium. Prüfungsgegenstand sind „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ (Art. 2 Abs. 2 Buchst. b AntiRass-RL und Gleichb-RL, 2 Abs. 1 Buchst. b Geschl-RL). Das ist weit auszulegen. Erfasst ist jedes Verhalten (Tun oder Unterlassen), das zwischen mindestens zwei Personengruppen differenziert.5 Danach kann nicht nur ein einzelnes Entgeltkriterium, sondern das Entgeltsystem in seiner Gesamtheit diskriminierend sein.6
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Der Differenzierungsgrund muss „dem Anschein nach“ neutral sein. „Neutral“ bedeutet, dass die Differenzierung nicht unmittelbar an ein verpöntes Merkmal – dann unmittelbare Diskriminierung7 – anknüpft. Wird an ein scheinbar neutrales Kriterium angeknüpft, das in der sozialen Wirklichkeit aber zwangsläufig nur von Personen einer Merkmalsgruppe erfüllt wird, liegt eine verdeckte unmittelbare Diskriminierung vor (vgl. Rz. 131 ff.). Damit nimmt die verdeckte Diskriminierung eine Sonderstellung ein: Steht der Zusammenhang des Stellvertretermerkmals zum verpönten Merkmal fest, liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor. Lässt er sich nicht überzeugend darlegen, ist der Fall über die mittelbare Diskriminierung zu lösen.8
142
(2) Besondere Benachteiligung. Die Anknüpfung an das neutrale Kriterium muss „Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören“, bzw. „Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können“ (Art. 2 Abs. 2 Buchst. b AntiRass-RL). Bezüglich des Merkmals Geschlecht muss die Anknüpfung „Personen des einen Geschlechts in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts benachteiligen können“ (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Geschl-RL).
143
(a) Vergleichbarkeit. Daraus folgt, dass die Situation der betroffenen Personen mit der Lage anderer Personen vergleichbar sein muss. Es müssen Vergleichsgruppen gebildet werden, die es erlauben, festzustellen, ob eine bestimmte Personengruppe gegenüber anderen Personengruppen benachteiligt sein kann. Das Konzept der mittelbaren Diskrimi1 2 3 4 5 6 7 8
ErfK/Schlachter, AGG, § 3 Rz. 13; Tobler, Indirect Discriminiation, 2005, 211. EuGH v. 13.12.2013 – Rs. C-267/12 – Haye – Rz. 45, NZA 2014, 153. Vgl. BAG v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93 – Rz. 51. EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 – Enderby, Slg. 1993, I-5535 – Rz. 13 f., 18; v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny – Rz. 41, NZA 2013, 315. Näher Schiek in: Schiek/Waddington/Bell (Hrsg.), Non-Discrimination Law, 2007, S. 397. Grundlegend EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 – Enderby, Slg. 1993, I-5535 – Rz. 15 ff. Näher Tobler, Indirect Discriminiation, 2005, S. 307 ff. Siehe Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung, 1994, S. 73 f.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 147
§3
nierung ist daher, wie die unmittelbare Diskriminierung, Ausdruck der Forderung, Gleiches auch gleich zu behandeln.1 Aus dem Wortlaut der Antirassismus- und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie folgt, dass die betroffenen Personen lediglich mit „anderen Personen“ zu vergleichen sind. Damit bleibt das verpönte Merkmal an dieser Stelle unberücksichtigt. Man muss daher nur feststellen, ob die Situationen, in denen die Personen anhand eines neutralen Kriteriums unterschieden werden – abgesehen von diesem Merkmal – vergleichbar sind. Damit ist die Vergleichbarkeit im Rahmen der mittelbaren Diskriminierung wie die einer unmittelbaren Diskrikiminierung zu prüfen. Maßgeblich ist ein deskriptives Verständnis, das die Vergleichbarkeit deutlich von dem Vorliegen des Merkmals und möglichen Rechtfertigungsanforderungen trennt (vgl. Rz. 118 ff.).2 Allerdings stellt die Geschlechterrichtlinie auf „Personen des anderen Geschlechts“ ab. Dabei handelt es sich nach dem hier vertretenen Verständnis aber nicht um ein Problem der Vergleichsgruppenbildung, sondern um die Frage, ob im Vergleich zu NichtMerkmalsträgern eine besondere Benachteiligung vorliegt.
144
Die Vergleichsgruppenbildung orientiert sich – in Übereinstimmung mit der unmittelbaren Diskriminierung – am tatsächlichen Zweck der vom Normadressaten vorgenommenen Differenzierung (vgl. Rz. 118 ff.). Deshalb hängt die Vergleichsgruppe auch davon ab, ob es sich um eine gesetzliche Regelung, einen Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung, eine individualvertragliche Regelung oder eine einseitige Maßnahme des Vertragspartners handelt.3
145
Die Entscheidungspraxis hält diesen Prüfungsmaßstab nicht immer durch. Vielfach stellt sie genuine Rechtfertigungserwägungen bereits auf Ebene der Vergleichbarkeit an. Nicht überzeugen kann daher der Ansatz von EuGH und BAG, Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis während der Elternzeit unter Suspendierung der wechselseitigen Hauptpflichten ruht, nicht mit den aktiven Beschäftigten vergleichen zu wollen.4 Die entscheidende Frage lautet, ob der Normadressat tatsächlich die Elternzeit als negativen Faktor bei der Berechnung von Entgeltbestandteilen einsetzen darf, wenn davon Frauen besonders benachteiligt werden. Das ist eine Frage, die im Rechtfertigungsdiskurs zu behandeln ist.5
146
(b) Besondere Benachteiligung. Zum zentralen Merkmal des objektiven Tatbestandes wird die Frage, welche Anforderungen an den Zurechnungszusammenhang zu stellen sind, um feststellen zu können, dass die neutrale Maßnahme Merkmalsträger in besonderer Weise benachteiligen kann.6 Eine subjektive Komponente ist nicht erforderlich.7 Es genügt, wenn die Differenzierung aufgrund des neutralen Merkmals die Personen in
147
1 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 – Wippel, Slg. 2004, I-9483 – Rz. 56; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361 – Rz. 33; vertiefend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 798 ff. (dort auch zur Gegenansicht). 2 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 662. 3 Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 235. 4 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-333/97 – Lewen, Slg. 1999, I-7243 – Rz. 37; v. 19.7.2009 – Rs. C-537/07 – Gómez-Limón Sánchez-Camacho, Slg. 2009, I-6525 – Rz. 57; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361 – Rz. 34. 5 Zur Unzulänglichkeit näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 73. 6 Vertiefend Hanau/Preis, ZfA 1988, 177 (188 ff.); Rebhahn/Kietaibl, Rechtswissenschaft 2010, S. 373 (384 ff., 388 ff.). 7 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607; Hanau/Preis, ZfA 1988, 177 (189); Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 240 f.
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§3
Rz. 148
Nichtdiskriminierungsrecht
besonderer Weise benachteiligen kann. Es kommt auch nicht darauf an, ob sich die besondere Benachteiligung ausschließlich mit dem verpönten Merkmal und nicht mit anderen Gründen erklären lässt.1 Entscheidend ist nur, ob es zur gleichheitswidrigen Auswirkung einer neutralen Anknüpfung kommt. 148
Der besondere Nachteil muss de facto wesentlich mehr Merkmalsträger als Nichtmerkmalsträger treffen.2 „Dies kann der Fall sein, wenn Vorschriften im Wesentlichen oder ganz überwiegend Personen, die eines der verpönten Merkmale erfüllen, betreffen, wenn sie an Voraussetzungen anknüpfen, die von Personen, die [nicht unter ein verpöntes Merkmal fallen], leichter erfüllt werden oder wenn sich die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm besonders zum Nachteil von Personen, für die ein [verpöntes] Merkmal gilt, auswirken.“3
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Bezüglich des vom Betroffenen zu erbringenden Nachweises zur Glaubhaftmachung (vgl. Rz. 286 ff.) muss man hinsichtlich des Anwendungsbereichs unterscheiden: Für die Entgeltdiskriminierung nach Art. 157 Abs. 1 AEUV – Gleiches galt für die mittlerweile abgelöste Richtlinie 76/207/EWG4 – sind statistische Nachweise nach Auffassung des EuGH nicht nur ein Indiz, dem besonderes Gewicht beizumessen ist. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil für die besondere Benachteiligung.5
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Voraussetzung für den statistischen Nachweis ist, dass die statistischen Daten aussagekräftig sind.6 Das ist der Fall, wenn sie sich auf eine ausreichende Zahl von Personen beziehen, nicht rein zufällige oder konjunkturelle Erscheinungen widerspiegeln und generell gesehen als aussagekräftig erscheinen.7 Die Gesamtheit der Personen, auf die die neutrale Differenzierung angewendet wird, ist mit der Gesamtheit der Personen zu vergleichen, die aufgrund der Differenzierung benachteiligt werden. Innerhalb beider Gruppen ist dann der prozentuale Anteil von „anderen Personen“ (Nichtmerkmalsträger) und den besonders betroffenen Personen (Merkmalsträger) zu ermitteln.
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Unterschiedliche Auffassungen bestehen darüber, wie die dafür notwendigen Relationen festzustellen sind.8 Man kann den Vergleich nämlich mit drei unterschiedlichen Methoden ermitteln:9 Entweder stellt man auf den Anteil von Frauen in der benachteiligten Gruppe ab,10 oder auf den den Anteil von Frauen in der bevorzugten Grup1 Schlachter, NZA 1995, 393 (397); a.A. Hanau/Preis, ZfA 1988, 177 (188 ff.) („objektiv geschlechterdiskriminierende Tenzdenz“); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 36. 2 EuGH v. 20.11.2012 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 58. 3 BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947 – Rz. 20; v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361 – Rz. 27. 4 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 60; v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 59 ff. 5 EuGH v. 20.10.2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 60. 6 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 41 f., NZA 2013, 315. 7 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 45, NZA 2013, 315; v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 62. 8 Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997, S. 76 ff.; Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung im Erwerbsleben, 1999, S. 117 ff.; Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, 235 ff.; Tobler, Indirect Discrimination, 2005, S. 231 ff.; Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben, 1994, S. 83. 9 Barnard/Hepple, Cambridge Law Journal 59 (2000), 562 (572 f.). 10 Vgl. EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06 – Voß, Slg. 2007, I-10573 – Rz. 42; v. 20.11.2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 59; BAG v. 20.8.2002 – 9 AZR 750/00, NZA 2003, 861 (863).
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 153
§3
pe,1 oder man vergleicht die Gruppe der Merkmalsträger in der Gesamtgruppe mit der Gruppe der Merkmalsträger in der benachteiligten Gruppe.2 Nach Auffassung des EuGH „besteht die beste Methode zum Vergleich der Statistiken darin, die Gruppe der männlichen mit der der weiblichen Arbeitskräfte daraufhin zu vergleichen, wie hoch in jeder Gruppe der Anteil der von der Ungleichbehandlung Betroffenen ist“.3 Gemeinsam ist allen Methoden, dass es sich um relative und nicht um absolute Standards handelt.4 Mehr verlangt Art. 157 Abs. 1 AEUV nicht.5 Daher genügt es, wenn sich ein signifikanter Unterschied zwischen Merkmalsträgern und anderen Personen auf Grundlage einer dieser Methoden ergibt. Das ist beispielsweise bei Teilzeitbeschäftigung der Fall, wenn sich aus den verfügbaren statistischen Daten ergibt, dass der Prozentsatz der Teilzeitbeschäftigten in der Gruppe der weiblichen Beschäftigten erheblich höher ist als in der Gruppe der männlichen Beschäftigten.6 Zweifelhaft ist, ab welcher Höhe ein signifikanter Unterschied vorliegt. Für die Richtlinie 76/207/EWG verlangte der EuGH, dass die Regelung nur von einem erheblich geringeren Prozentsatz der Frauen erfüllt werden konnte.7 Das Verhältnis von 77,4 % Männer und 68,9 % Frauen sollte nicht mehr genügen.8 Alternativ9 dazu reichte eine geringere Differenz aus, wenn es sich um einen über einen langen Zeitraum hinweg fortbestehenden und relativ konstanten Abstand zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern handelte.10 In der neueren Rechtsprechung zu Art. 157 AEUV geht der EuGH davon aus, dass der Unterschied lediglich „hinreichend groß“ sein muss, „um ein stichhaltiges Indiz“ für die Schlussfolgerung zu bilden, dass die jeweilige Maßnahme de facto einen erheblich höheren Prozentsatz von Frauen als von Männern benachteiligt.11
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Im Anwendungsbereich der Richtlinien stehen dem Diskriminierungsbetroffenen dagegen zwei Möglichkeiten offen: Der statistische Nachweis bleibt eine Möglichkeit zur Feststellung der besonderen Benachteiligung (vgl. Rz. 150 ff.). Daneben können alle anderen tatsächlichen Umstände berücksichtigt werden.12 Das folgt aus ErwGr. 15 Gleichb-RL, wonach mittelbare Diskriminierungen mit allen Mitteln, „einschließlich statistischer Beweise“, festzustellen sind. Abgesehen vom Geschlecht und vom Alter dürften signifikante Statistiken für die übrigen Merkmale kaum verfügbar sein und ihre Erhebung wäre freiheitsrechtlich problematisch.13 An die Stelle einer statistisch nachweisbaren Auswirkung tritt eine aufgrund objektiver Faktoren untermauerte Plausibilitätsprüfung, ob und wie sich das neutrale Kriterium besonders nachteilig auf Merkmalsträger auswirkt.14
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1 Vgl. EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 60, 63. 2 BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361 – Rz. 28; Schiek, Anm. zu AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 185. 3 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06 – Voß, Slg. 2007, I-10573 – Rz. 41. 4 Siehe Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 237 f. 5 Tobler, Indirect Discrimination, 2005, S. 232 f. 6 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06 – Voß, Slg. 2007, I-10573 – Rz. 42. 7 EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 60, 63 f. 8 EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 63 f. 9 Barnard/Hepple, Cambridge Law Journal 59 (2000), 562 (571). 10 EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 61; abl. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 40. 11 EuGH v. 20.11.2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 63. 12 BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947 – Rz. 20; v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361 Rz. 27; a.A. MünchKomm/BGB/Thüsing, § 3 AGG Rz. 28 ff. 13 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 663 f. 14 Schiek/Schiek, AGG, § 3 Rz. 43; Däubler/Bertzbach/Schrader/Schubert, AGG, § 3 Rz. 48.
Grünberger
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§3
Rz. 154
Nichtdiskriminierungsrecht
154
Für die Feststellung der besonderen Benachteiligung in den Richtlinien genügt es daher, wenn die Differenzierung Personen wegen eines verpönten Merkmals typischerweise benachteiligen kann.1 Die neutrale Maßnahme muss „im Wesentlichen“ oder „ganz überwiegend“ die geschützte Kategorie betreffen.2 Darunter fallen alle Voraussetzungen, die von einer Gruppe von Personen leichter zu erfüllen sind, als von geschützten Merkmalsträgern oder bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich besonders zum Nachteil von geschützten Merkmalsträgern auswirken können. Mittelbar diskriminierend sind danach alle Regelungen, die sich ihrem Wesen nach eher auf die geschützten Merkmalsträger, als auf die anderen Personen auswirken können und folglich die Gefahr besteht, dass sie jene besonders benachteiligen.3 Dabei muss nicht festgestellt werden, ob die Maßnahme in der Praxis einen wesentlich größeren Anteil der Merkmalsträger betrifft: „Es genügt die Feststellung, dass die betreffende Vorschrift geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen“.4
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Beispiele: Das in einer Ausschreibung enthaltene Kriterium „deutsche Sprachkenntnisse in Wort und Schrift“ benachteiligt Arbeitnehmer nicht-deutscher und damit anderer ethnischer Herkunft im Vergleich zu deutschen Arbeitnehmern in besonderer Weise.5 Der Hinweis auf „Berufsanfänger“ oder „mit bis zu zweijähriger Berufserfahrung“ ist prima facie eine mittelbare Diskriminierung wegen des Alters, weil die Höchstanforderung typischerweise Arbeitnehmer mit einem höheren Lebensalter von der Bewerbung auf die ausgeschriebenen Arbeitsplätze ausschließt.6 Eine besondere Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer kann darin liegen, dass bei einer verhaltensbedingten außerordentlichen Kündigung die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf bei der Interessenabwägung maßgeblich berücksichtigt werden.7 bb) Keine sachliche Rechtfertigung
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(1) Grundlagen. Bewirkt die Anknüpfung an ein neutrales Differenzierungsmerkmal eine besondere Benachteiligung, liegt nach den Richtlinien keine mittelbare Diskriminierung vor, wenn die Maßnahmen durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel dazu angemessen und erforderlich sind (Art. 2 Abs. 2 Buchst. b AntiRass-RL und Gleichb-RL, 2 Abs. 1 Buchst. b Geschl-RL). Die objektiv gerechtfertigte besondere Benachteiligung beim Einsatz vermeintlich „neutraler“ Differenzierungskriterien ist daher bereits begrifflich keine Diskriminierung.8 Umstritten, aber nicht praxisrelevant, ist die Antwort auf die Frage, ob es sich in der Sache um eine vorgezogene Rechtfertigungsprüfung oder um eine Beschränkung der Zurechnung der mittelbar diskriminierenden Wirkung zu dem Benachteiligenden handelt.9
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Die Struktur der Rechtfertigungsprüfung orientiert sich daran, dass mittelbare Diskriminierungen i.d.R. instrumentale Diskriminierungen sind (vgl. Rz. 104).10 Daher 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
BAG v. 18.8.2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222 – Rz. 29. EuGH v. 23.5.1996 – Rs. C-237/94 – O’Flynn, Slg. 1996, I-2617 – Rz. 18. EuGH v. 23.5.1996 – Rs. C-237/94 – O’Flynn, Slg. 1996, I-2617 – Rz. 20. EuGH v. 23.5.1996 – Rs. C-237/94 – O’Flynn, Slg. 1996, I-2617 – Rz. 21. LAG v. Hamm 17.7.2008 – 16 Sa 544/08, NZA-RR 2009, 13 (15); offengelassen von BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 17; näher Gruber, NZA 2009, 1247 (1248 f.). BAG v. 18.8.2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222 – Rz. 27. BAG v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 – Rz. 26. BAG v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 – Rz. 26. Vertiefend dazu Tobler, Indirect Discrimination, 2005, S. 254 ff., Rebhahn/Kietaibl, Rechtswissenschaft 2010, 373 (377 f.). Zum Folgenden bereits BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 85 ff.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 159
§3
kann die Prüfung anhand einer Zweck-Mittel-Relation vorgenommen werden.1 Die Rechtfertigungsprüfung ist prozedural angelegt.2 Rechtfertigungsgegenstand ist die anscheinend neutrale Maßnahme. Handelt es sich um einen Fall der mittelbaren Entgeltdiskriminierung, ist daher nicht die Höhe des den jeweiligen Vergleichsgruppen gezahlten Entgelts oder die Verwendung der Arbeitnehmer in der einen oder der anderen Gruppe zu rechtfertigen, sondern das unterschiedlich geleistete Entgelt selbst.3 Weil der Normadressat mit seinem Einsatz im Ausgangspunkt rational handelt, ist zu entscheiden, ob der von dem Benachteiligenden oder von Dritten (Gesetzgeber, Tarifvertrags- und Betriebsparteien) gesetzte externe Zweck ein legitimer Differenzierungsgrund ist. Der Einsatz des Differenzierungsgrundes muss geeignet und erforderlich sein, um diesen Zweck erreichen zu können. Die im Mitteleinsatz liegende besondere Benachteiligung muss insgesamt gesehen angemessen sein. Bezugspunkt der Angemessenheit ist das vom Verbot mittelbarer Diskriminierung geschützte Interesse an materieller Gleichbehandlung. Die Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung weist strukturelle Gemeinsamkeiten, aber auch inhaltliche Unterschiede zu den speziellen Rechtfertigungsgründen der Diskriminierung (vgl. Rz. 192 ff.) auf.4 Kann die neutrale Maßnahme bereits tatbestandlich gerechtfertigt werden, erübrigt sich ein Rückgriff auf die speziellen Rechtfertigungsgründe der Richtlinien.5 Liegt in der Anwendung einer Maßnahme zugleich eine unmittelbare Diskriminierung (wegen des Alters) und eine mittelbare Diskriminierung (wegen der Behinderung), ist ein Grund, der den Anforderungen der besonderen Rechtfertigungsgründe für unmittelbare Diskriminierungen (dazu § 4 Rz. 22) genügt, erst recht geeignet, eine mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen.6 Das bedeutet aber keinen Gleichlauf der sonstigen Rechtfertigungsvoraussetzungen.7 Daher sind – wie die Entscheidung des EuGH in der Rs. Odar bestätigt8 – unterschiedliche Ergebnisse zwischen einer unmittelbaren Altersdiskriminierung und einer mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung möglich.9
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(2) Legitimer Zweck. Der Einsatz des neutralen Differenzierungskriteriums muss ein legitimes Ziel verfolgen.10 Das setzt eine rationale Beziehung zwischen der faktischen Benachteiligung als Ergebnis der Anwendung einer neutralen Norm und dem Einsatz dieser Norm zur Erreichung eines externen Regelungszwecks voraus.11 Das mit der neutralen Differenzierung verfolgte Ziel ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zu Art. 157 Abs. 1 AEUV nur rechtmäßig, wenn es auf objektiven Faktoren beruht, die
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1 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 831; insoweit – trotz grundsätzlich kritischer Einstellung zur Möglichkeit einer genuinen Verhältnismäßigkeitsprüfung – auch Friauf/Höfling/ Huster, Art. 3 GG Rz. 75 f., 81. 2 Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 802 ff.; zum prozeduralen Charakter der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Privatrecht s. Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht, 2010, S. 383 f. 3 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 – Kenny u.a. – Rz. 38 f., NZA 2013, 315. 4 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 58. 5 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 66; BAG v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 – Rz. 27. 6 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435. 7 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 86. 8 Siehe EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 64 ff., NZA 2012, 1435. 9 Näher Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (330 ff.). 10 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 32. 11 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 87 ff.
Grünberger
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§3
Rz. 160
Nichtdiskriminierungsrecht
nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.1 Dieselben Kriterien gelten entsprechend auch für die Richtlinien.2 Es muss daher mindestens einen diskriminierungsfreien Zweck geben, der die Benachteiligung tragen kann. Daher scheidet die Rechtfertigung aus, wenn der Normadressat eine für sich genommen „neutrale“ Maßnahme mit einem Ziel erklärt, das seinerseits an ein verpöntes Merkmal anknüpft. 160
Nicht überzeugend ist die Auffassung des BAG, wonach die Kündigung eines Arbeitnehmers, der sich aufgrund seines muslimischen Glaubens nicht mehr in der Lage sieht, mit alkoholischen Getränken im Supermarkt zu hantieren, gem. § 3 Abs. 2 AGG sachlich gerechtfertigt sei.3 Mit der Begründung, der Arbeitnehmer sei wegen seiner Glaubensüberzeugungen subjektiv nicht in der Lage, die vertraglich übernommenen Aufgaben zu verrichten, knüpft der Arbeitgeber unmittelbar an das verpönte Merkmal an. Die mittelbare Diskriminierung muss daher über § 8 AGG gerechtfertigt werden.
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Im Übrigen kann der Verwender des neutralen Kriteriums dessen Einsatz mit allen von der Rechtsordnung anerkannten Gründen rechtfertigen.4 Die in Betracht kommenden Gründe lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Sozialpolitische Gründe, die auch eine unmittelbare Diskriminierung rechtfertigen können.5 Dazu zählen beispielhaft Ziele der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der beruflichen Bildung sowie der Ausgleich struktureller Diskriminierungen (näher zur Rechtfertigung von Altersgrenzen § 4 Rz. 114 ff.). Andere von der Rechtsordnung anerkannte Gründe werden damit nicht ausgeschlossen.6 Haushaltspolitisch begründete Differenzierungen zählen nicht dazu.7 Auf diese Gründe können sich Mitgliedstaaten, Tarifvertragsparteien und Betriebsparteien berufen.8 Der private Arbeitgeber kann sich seinerseits nicht autonom auf diese Kategorie von Gründen stützen.9 Sie müssen ihm insoweit vom Staat oder den Kollektivvertragsparteien10 vorgegeben sein.11
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Für den privaten Arbeitgeber ist die zweite Gruppe sachlicher Gründe besonders wichtig. Dazu zählen alle sonstigen (wirtschaftlichen) Gründe, die einem tatsächlichen und schutzwürdigen Bedürfnis des Benachteiligenden dienen.12 Dazu gehören sämtliche privatautonom bestimmten und grundrechtlich geschützten Ziele des Be-
1 EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 – Jenkins, Slg. 1981, 911 – Rz. 11; v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 30; v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 66; v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 – Wippel, Slg. 2004, I-9483 – Rz. 43 m.w.N. 2 Grundlegend EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 67, NZA 2012, 1435 (zur Gleichb-RL). 3 BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087 – Rz. 45. 4 Siehe BAG v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 – Rz. 27. 5 Grundlegend EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 171/88 – Rinner-Kühn, Slg. 1989, 2743 – Rz. 14; v. 6.12. 2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 64, NZA 2012, 1435. 6 BAG v. 18.8.2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222 – Rz. 31. 7 EuGH v. 24.2.1994 – Rs. C-343/92 – Roks, Slg. 1994, I-571; v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 – Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-42741 – Rz. 59 f.; v. 11.9.2003 – Rs. C-77/02 – Steinicke, Slg. 2003, I-9027 – Rz. 67. 8 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 64, NZA 2012, 1435. 9 A.A. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 60. 10 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 60, NZA 2012, 1435. 11 Vgl. zur Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie Sagan, ZESAR 2009, 505 (507); s. auch EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 65. 12 Grundlegend EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 36; v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 67.
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Diskriminierungstatbestand
Rz. 165
§3
nachteiligenden.1 Zu diesen Gründen zählt der EuGH „verschiedene Kriterien wie die Flexibilität oder die Anpassungsfähigkeit an Arbeitszeiten und -orte, die Berufsausbildung oder die Anzahl der Berufsjahre des Arbeitnehmers, wenn sie zu den Bedürfnissen und Zielen des Unternehmens in Beziehung gesetzt werden“.2 Im Ausgangspunkt fallen alle betrieblichen Notwendigkeiten und Anforderungen an persönliche Fähigkeiten des Arbeitnehmers3 oder die wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderungen, die ihrerseits auch eine unmittelbare Diskriminierung rechtfertigen können,4 darunter. Von der privatautonomen Zwecksetzung macht der EuGH eine praktisch wichtige Ausnahme: Ein Arbeitgeber kann eine Diskriminierung nicht allein damit rechtfertigen, dass „die Ausschaltung einer solchen Diskriminierung mit zusätzlichen Kosten verbunden sei“.5 Beispiele: Es ist ein legitimes Ziel der Entgeltpolitik, die Berufserfahrung zu honorieren, die den Arbeitnehmer befähigt, seine Arbeit besser zu verrichten.6 Weil die Rechtfertigung einer mittelbaren Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts damit unmittelbar an das Lebensalter anknüpft, ist zusätzlich zu prüfen, ob die darin liegende Altersdiskriminierung nach der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie gerechtfertigt werden kann (dazu § 4 Rz. 68 ff.).7 Das Kriterium ausreichender Kenntnisse der deutschen Schriftsprache eines Facharbeiters lässt sich auf einen legitimen Grund stützen. Es ist zwar nicht die Zertifizierungsnorm als solche, welche die Kenntnis der deutschen Schriftsprache als berufliche Anforderung voraussetzt.8 Die ISO-Norm bewirkt nämlich ihrerseits eine besondere Benachteiligung von Personen mit anderen ethnischen Zugehörigkeiten. Entscheidend kommt es auf den Zweck dieser Norm an: Ohne die Lektüre der sich stetig ändernden prozessbegleitenden Dokumente kann der Arbeitnehmer seine Arbeit nicht so ausführen, dass der Arbeitgeber seinen Abnehmern die vollständige Erfüllung ihrer Anforderungen sicherstellen kann.9
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(3) Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die vorgenommene Differenzierung muss zur Erreichung des legitimen Ziels (vgl. Rz. 159) angemessen und erforderlich sein (Art. 2 Abs. 2 Buchst. b AntiRass-RL und Gleichb-RL, 2 Abs. 1 Buchst. b Geschl-RL). Dasselbe gilt für die Entgeltdiskriminierung nach Art. 157 AEUV.10 Notwendig ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der EuGH prüft diese, ausgehend vom Text der Richtlinien, zweistufig. Das lässt sich in eine traditionelle dreistufige Prüfung (Eignung, Erforderlichkeit, Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit i.e.S.) „übersetzen“.11
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(a) Angemessenheit (Eignung). Das Differenzierungskriterium ist angemessen, wenn es geeignet ist, zur Verwirklichung des angestrebten Ziels beizutragen. Das Kriterium ist geeignet, wenn mit der dadurch erreichten Gruppenbildung das angestrebte Ziel tat-
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1 BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 19; v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 – Rz. 28. 2 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 – Enderby, Slg. 1993, I-5535 – Rz. 25; v. 17.10.1989 – Rs. 109/88 – Danfoß, Slg. 1989, 3199 – Rz. 22 ff. 3 BAGE v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 19. 4 BAGE v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 26. 5 EuGH v. 17.6.1998 – Rs. C-243/95 – Hill und Stapleton, Slg. 1998, I-3729 – Rz. 40; v. 20.3. 2003 – Rs. C-187/00 – Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-42741 – Rz. 61. 6 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 35. 7 Dazu EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10 u.a. – Hennings, Slg. 2011, I-7965. 8 So aber BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 20. 9 BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 21. 10 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 179/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 37; v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 32. 11 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 93.
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§3
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Nichtdiskriminierungsrecht
sächlich erreicht werden kann. Es ist also zu fragen, ob Sinn und Zweck der angestrebten Regelung gerade die vorgenommene, besonders belastende Maßnahme verlangen.1 166
Privatautonom gesetzte Gründe müssen „einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet“ sein.2 Dabei wird dem Arbeitgeber kein Einschätzungsspielraum zugebilligt. Behauptet er, dass die Besetzung einer ausgeschriebenen Stelle mit Arbeitnehmern im ersten Berufsjahr der Sicherung der Altersstruktur und der Kostenneutralität dient, müssen diese Gründe vom Arbeitgeber nachgewiesen werden.3 Beispielsweise ist die Anknüpfung der Entlohnung an das Dienstalter im Regelfall geeignet, die größere Berufserfahrung zu erfassen.4 Voraussetzung dafür ist, dass das Dienstalter tatsächlich geeignet ist, das Ziel – Honorierung der aufgrund von Berufserfahrung höheren Produktivität des Arbeitnehmers – zu erreichen.5 Nur wenn der Arbeitgeber ein System zur beruflichen Einstellung verwendet, kommt es nicht auf den individuellen Arbeitnehmer an (vgl. § 4 Rz. 71 f.).6
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Bei sozialpolitischen Maßnahmen wurde den Mitgliedstaaten – Gleiches gilt aufgrund unmittelbarer Richtlinienbindung auch für die Kollektivvertragsparteien7 – in der Vergangenheit ein breiter Ermessensspielraum dahingehend eingeräumt, ob die gewählten Maßnahmen das sozialpolitische Ziel tatsächlich erreichen können.8 Danach genügte es, wenn der Staat vernünftigerweise annehmen kann, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet seien.9 Allgemeine Behauptungen reichen allerdings nicht aus.10 In jüngerer Zeit verschärft der EuGH seine Anforderungen. Danach muss die Maßnahme dem Anliegen tatsächlich gerecht und in kohärenter und systematischer Weise angewandt werden.11 In der Sache kommt es zu einer Annäherung der Rechtfertigungsanforderungen mit den besonderen Rechtfertigungsgründen der Richtlinie.12
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(b) Erforderlichkeit. Die Anknüpfung an das neutrale Differenzierungskriterium und die damit einhergehende besondere Benachteiligung müssen erforderlich sein, um den angestrebten Zweck zu erreichen.13 Erforderlich ist ein Mittel zur Erreichung des vom Benachteiligenden gesetzten Ziels, wenn das Ziel ohne das Mittel nicht erreicht werden kann.14 Kann das Ziel auf eine gleich geeignete Art und Weise erreicht werden, die sich
1 Vgl. BAG v. 12.11.2013 – 9 AZR 484/12, NJOZ 2014, 815 – Rz. 21 f. (zur Frage, ob der Zweck eines Tarifvertrages eine Ungleichbehandlung von schwerbehinderten und nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern rechtfertigt). 2 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 36. 3 Vgl. BAG v. 18.8.2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222 – Rz. 24. 4 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 35. 5 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 38. 6 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 39. 7 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 34, 27, NZA 2012, 1435. 8 EuGH v. 9.2.21999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 Rz. 74; vertiefend Barnard, EU Employement Law, 4. Aufl. 2012, S. 323 ff. 9 EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 77; v. 20.11. 2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 74. 10 EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-167/97 – Seymour-Smith u.a., Slg. 1999, I-623 – Rz. 74 f.; v. 20.3. 2003 – Rs. C-187/00 – Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-42741 – Rz. 58. 11 EuGH v. 20.11.2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 74. 12 Siehe dazu den aussagekräften Verweis auf EuGH v. 18.11.2011 – Rs. C-250/09 u.a., Georgiev, Slg. 2010, I-11869 – Rz. 56 in EuGH v. 20.11.2011 – Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003 – Rz. 74. 13 Vgl. BAG v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, NZA 2011, 1412 – Rz. 30. 14 BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 – Rz. 22.
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§3
nicht oder in geringerem Umfang benachteiligend auswirkt, ist das gewählte Mittel nicht erforderlich.1 Nach traditionellem Verständnis wird auf dieser Stufe lediglich die Mittelauswahl geprüft; eine Interessenabwägung findet danach noch nicht statt.2 In der Entscheidungspraxis des EuGH kommt es dagegen bereits an dieser Stelle zu einer Abwägung der betroffenen Interessen.3 Nach traditionellem Verständnis ist das der Verhältnismäßigkeit i.e.S. („Angemessenheit i.e.S.“) vorbehalten.4 Der Vorteil des dreistufigen Aufbaus liegt darin, dass man die unterschiedlichen Bezugspunkte von Erforderlichkeit und Angemessenheit i.e.S. sichtbar machen kann. Während es bei der Erforderlichkeit um das Verhältnis von Mittel und Zweck geht, wägt man bei der Angemessenheit i.e.S. das Gewicht des mit der Einschränkung verfolgten Schutzguts mit dem eingeschränkten Grundrecht auf der anderen Seite ab.5
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Entscheidend ist, ob der betroffenen Personengruppe die eingetretene Benachteiligung aufgrund des Gewichts des verfolgten Zwecks einerseits und der Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes andererseits noch zugemutet werden darf. Der Einsatz des „neutralen“ Differenzierungskriteriums ist angemessen, wenn der damit verfolgte externe Zweck so bedeutsam ist, dass er die normative Ungleichbehandlung und die damit einhergehenden Verteilungswirkungen rechtfertigen kann.6 Die Differenzierung ist unangemessen, wenn die legitimen Interessen der besonders betroffenen Personen übermäßig beeinträchtigt werden.7 Dabei kommt es auf den Kontext an, in den sich die Regel oder Maßnahme einfügt, und es sind die Nachteile zu berücksichtigen, die sie für die Betroffenen bewirken können.8 Damit werden die soziale Realität der Verteilung von Erwerbschancen im Wirtschaftssystem und das Potential diskriminierender Strukturen zum Gegenstand der Rechtfertigungsprüfung.9 Differenziert beispielsweise ein Sozialplan hinsichtlich der Anspruchsberechtigung und -höhe anhand der Rentenbezugsberechtigung der betroffenen Arbeitnehmer, liegt darin eine unangemessene besondere Benachteiligung Schwerbehinderter, wenn diese früher als nichtbehinderte Arbeitnehmer zum Bezug einer Renge berechtigt sind.10 Anders ist dagegen zu entscheiden, wenn die Abfindungshöhe ausschließlich an das Lebensalter anknüpft.11
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4. Belästigung und sexuelle Belästigung a) Grundlagen und Normzweck Nach Art. 2 Abs. 3 AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie Art. 2 Abs. 1 Buchst. c i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Geschl-RL gilt das Verbot unerwünschter Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einem „verpönten“ Merkmal als Diskriminierung. Die Mitgliedstaaten können den Begriff der Belästigung abweichend definieren, wenn nicht 1 Zur Verankerung in der allg. Rspr. des EuGH vgl. Tobler, Indirect Discriminiation, 2005, S. 241 f. 2 Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht, 2010, S. 319. 3 Exemplarisch EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 65 ff., NZA 2012, 1435. 4 Vgl. Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 3 Rz. 34; Schiek/Schiek, AGG, § 3 Rz. 53; Däubler/Bertzbach/Schrader/Schubert, AGG, § 3 Rz. 60. 5 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 837 ff. 6 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 839; s. auch Friauf/Höfling/Huster, Art. 3 GG Rz. 76. 7 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 70, NZA 2012, 1435. 8 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 65, NZA 2012, 1435. 9 Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (333). 10 EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 65 ff., NZA 2012, 1435. 11 BAG v. 23.4.2013 – 1 AZR 916/11, NZA 2013, 980 – Rz. 32.
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Nichtdiskriminierungsrecht
das Geschlecht das betroffene Merkmal ist (vgl. Art. 2 Abs. 3 AntiRass-RL).1 Die Belästigung darf nicht mit „Mobbing“ gleichgesetzt werden.2 Art. 2 Abs. 1 Buchst. d i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Geschl-RL enthält die sexuelle Belästigung, die als Spezialfall der Belästigung aufgrund des Geschlechts ebenfalls als Diskriminierung gilt. 172
Das europäische Nichtdiskriminierungsrecht konzipiert Belästigungen und sexuelle Belästigung als Diskriminierung und bettet sie in den Kontext des Gleichbehandlungsrechts ein.3 Diese Lösung erklärt sich mit der Herkunft aus dem U.S.-amerikanischen Nichtdiskriminierungsrecht.4 Sie überzeugt, weil sie das mit dem Nichtdiskriminierungsprinzip verfolgte Anliegen verwirklicht (vgl. Rz. 2). Sie greift das soziale Phänomen auf, dass Personen einer (Minderheiten-)Gruppe einer Benachteiligung ausgesetzt sind, von der Personen verschont bleiben, die nicht zu dieser Gruppe gezählt werden.5 Wer beispielsweise wegen seines Geschlechts oder seiner ethnischen Herkunft oder seiner sexuellen Orientierung belästigt wird, dessen Würde wird in gleichheitswidriger Weise verletzt.6
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Der gleichheitsrechtliche Ansatz ist dem deutschen Recht traditionell fremd. Dort erfolgt der Schutz freiheitsrechtlich als Persönlichkeitsrechts- oder Würdeverletzung (vgl. § 1 Abs. 1 BeschSchG).7 Die Lösung der § 3 Abs. 3 und 4 AGG wird daher als „systemwidrig“ angesehen.8 Das Unrecht liege in der Handlung selbst und nicht im Vergleich zu anderen Handlungen.9 Das ist nicht vereinbar mit dem unionsrechtlichen Verständnis. b) Belästigung
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Belästigungen sind „unerwünschte Verhaltensweisen“.10 Damit werden jedes „Verhalten“ (conduct, comportamento, comportement) und alle Möglichkeiten des Verhaltensausdrucks erfasst. Unerheblich ist, ob es sich um einen einmaligen oder um wiederholte Vorgänge handelt.11 Ob ein Verhalten unerwünscht ist, bestimmt sich vom Standpunkt einer verständigen dritten Person,12 die ihrerseits als Merkmalsträger gedacht werden muss.13 Das Belästigungsverbot stellt keinen generellen Verhaltenskodex am Arbeitsplatz auf.14 Erfasst wird nur ein Verhalten, das seine Ursachen in der „Rasse“, der ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, im Alter oder der sexuellen Ausrichtung hat.15 Not1 Siehe EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 60. 2 Näher BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 593/06, NZA 2008, 223 – Rz. 58; v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93 – Rz. 90; ausf. Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 131 ff. 3 Zum Folgenden näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 666 ff. 4 Näher Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 16 ff. 5 Supeme Court v. 9.11.1993 – Harris v. Forklift Systems, Inc. - U.S. 510 (1993), 17 (25) (Ginsburg, J., conc.). 6 Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 57 f. 7 Vertiefend dazu Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 30 ff. und grundl. Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 50 ff. 8 MünchKomm/BGB/Thüsing, § 3 AGG Rz. 52. 9 Thüsing, ZfA 2001, 397 (411). 10 Vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 106 ff. 11 MacKinnon, Femminism Unmodified, 1987, S. 109; Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 73 ff. 12 BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 Rz. 27. 13 Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 89 f. 14 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 110 ff. 15 BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 593/06, NZA 2008, 223 – Rz. 58.
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Rz. 177
§3
wendig ist insofern „ein unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang“ mit dem verpönten Merkmal.1 Die Belästigung muss aber nicht „wegen“ des verpönten Merkmals erfolgen. Die belästigte Person muss nicht selbst Merkmalsträger sein. Eine Arbeitnehmerin wird auch dann wegen eines verpönten Merkmals belästigt, wenn das Verhalten im Zusammenhang mit der Behinderung ihres Kindes steht, für das sie im Wesentlichen die Pflegeleistungen erbringt.2 Unerheblich ist auch, ob der Belästigende weiß, dass die belästigte Person Merkmalsträger ist.3 Die Belästigung muss die Würde ihres Adressaten verletzen. Diesem Tatbestandsmerkmal kommt eine grobe Filterfunktion zu. Damit scheiden lediglich geringfügige Eingriffe aus. Falsch wäre es, denselben Maßstab wie bei einer Persönlichkeitsrechtsverletzung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB anzulegen.4 Praktisch erübrigt sich eine selbständige Prüfung:5 Liegt ein feindliches Umfeld vor, ist die Würdeverletzung indiziert.6
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Eine Belästigung setzt voraus, dass „ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird“ (sog. „feindliches Umfeld“7).8 Das feindliche Umfeld ist hier selbstständiges Tatbestandsmerkmal,9 während es bei der sexuellen Belästigung nur Regelbeispiel ist.10 Notwendig ist eine wertende Gesamtschau aller vergangenen und gegenwärtigen Faktoren.11 „Entscheidend ist, ob ein bestimmtes Verhalten oder ein bestimmter Vorfall das Umfeld kennzeichnet, also für dieses charakteristisch oder typisch ist.“12 Eine Verhaltensweise unterhalb einer bloßen Lästigkeitsschwelle, die sich in einem einzelnen Zwischenfall erschöpft, führt regelmäßig nicht zur Schaffung eines feindlichen Umfeldes.13 In der Regel ist ein Verhalten von gewisser Dauer erforderlich.14 Ob es sich um ein feindliches Umfeld handelt, ist vom Standpunkt eines objektiven Dritten aus zu bewerten, wobei zu unterstellen ist, dass er selbst Merkmalsträger und für die „Zwischentöne“ sozialer Kommunikation sensibilisiert ist.15
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Das unerwünschte Verhalten muss die Würdeverletzung und das feindliche Umfeld entweder bezwecken oder bewirken. Bezweckt ist die Handlung, wenn der Belästigende die Tatbestandsmerkmale vorsätzlich verwirklicht.16 Bewirkt ist der Tatbestand, wenn es zu einer Würdeverletzung und zu einem feindlichen Umfeld
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1 BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 – Rz. 27; v. 22.6.2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226 – Rz. 44. 2 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 58. 3 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 111. 4 Vgl. ErfK/Schlachter AGG, § 3 Rz. 17. 5 Siehe auch BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226 – Rz. 45, wo das Merkmal nicht ausdrücklich geprüft wird. 6 Vgl. Erman/Armbrüster, § 3 AGG Rz. 21 a.E. (unwiderlegliche Vermutung). 7 BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 – Rz. 29. 8 Vertiefend dazu BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 115 ff. 9 Näher dazu BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 Rz. 29 m.w.N.; Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 119 f.; a.A. ErfK/Schlachter, AGG § 3 Rz. 19. 10 Falke/Rust/Eggert-Weyand, AGG, § 3 Rz. 84 f.; Adomeit/Mohr, AGG, § 3 Rz. 233; Schiek/ Schiek, AGG, § 3 Rz. 60. 11 BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 – Rz. 33; v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93 – Rz. 91. 12 BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 – Rz. 32. 13 BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226 – Rz. 45; v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 – Rz. 32. 14 BAG v. 24.9.2009 – 8 AZR 705/08, NZA 2010, 387 – Rz. 32. 15 Näher zum Problem BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 118 f. 16 Zu den Anforderungen im Einzelnen Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 120 ff.
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Rz. 178
Nichtdiskriminierungsrecht
kommt. Gegenteilige Absichten oder Vorstellungen der für dieses Ergebnis aufgrund ihres Verhaltens objektiv verantwortlichen Person spielen keine Rolle.1 Auf ein subjektives Element – insbesondere Vorsatz – kommt es bei dieser Variante nicht an.2 c) Sexuelle Belästigung 178
Die sexuelle Belästigung ist in der Geschlechterrichtlinie als Spezialfall der Belästigung ausgestaltet. Sie ist tatbestandlich enger, weil sie nur unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten adressiert. Sie ist zugleich weiter, weil die Würdeverletzung als solche genügt und das feindliche Umfeld zum Regelbeispiel wird.3 Die Geschl-RL zwingt dazu, die sexuelle Belästigung von der Belästigung im Zusammenhang mit dem Geschlecht zu unterscheiden:4 Ist das Verhalten nicht sexuell bestimmt, steht die Belästigung aber im Zusammenhang mit dem Geschlecht oder der sexuellen Orientierung des Betroffenen, ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. c Geschl-RL einschlägig.
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Das Verhalten ist unerwünscht, wenn es aus Sicht einer verständigen dritten Person als unerwünscht empfunden werden kann.5 Dabei muss der Rechtsanwender vermeiden, an stereotype Vorstellungen von Geschlechtverhalten anzuknüpfen.6 Es muss sich um ein sexuell bestimmtes Verhalten handeln. Was „sexuell“ ist und was nicht, lässt sich nicht ohne Berücksichtigung sozialer Kontexte feststellen.7 Manche Fälle sind eindeutig: Ein Mitarbeiter städtischer Gartenanlagen, der zur weiblichen Urlaubsvertretung, die sich gerade bückt, sagt: „Dich würde ich auch gerne von hinten ficken“, handelt sexuell bestimmt.8 Andere Fälle sind schwieriger einzuordnen: Der „Klaps auf den Po“, der eine sexuell bestimmte körperliche Berührung darstellen kann,9 ist unterschiedlich zu bewerten, je nachdem ob ein Trainer den Fußballspieler damit in die zweite Halbzeit entlässt oder der Arbeitgeber ihn einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin im Büro gibt.10 Die sexuelle Belästigung markiert einen Punkt eines sozialen Kommunikationsvorgangs, an dem die in der Gesellschaft latent vorhandene Sexualisierung die Grenzen des (regelmäßig) in einem Arbeitsverhältnis gerade noch Zumutbaren überschreitet.11 Sobald keine sexuell bestimmte Kommunikation unter Gleichen stattfindet, wird dieses Unrecht vom Tatbestand der sexuellen Belästigung erfasst.12 5. Anweisung zur Diskriminierung
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Die Anweisung zur Diskriminierung einer Person aufgrund eines verpönten Merkmals gilt nach Art. 2 Abs. 4 AntiRass-RL und Gleichb-RL sowie Art. 2 Abs. 2 1 BAG v. 9.6.2011 – 2 AZR 323/10, NZA 2011, 1342 – Rz. 19. 2 BAG v. 9.6.2011 – 2 AZR 323/10, NZA 2011, 1342 – Rz. 19; Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 122 ff.; a.A. Däubler/Bertzbach/Schrader/Schubert, AGG, § 3 Rz. 68. 3 Adomeit/Mohr, AGG, § 3 Rz. 252. 4 Vgl. dazu Clarke, ILJ 35 (2006), 161 (167 ff.); Eggert-Weyand, Belästigung am Arbeitsplatz, 2010, S. 139 ff. 5 Allg. Auffassung, statt aller ErfK/Schlachter, § 3 AGG Rz. 21. 6 Zum Problem BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 123. 7 Vgl. Supreme Court v. 4.3.1998 – Oncale v. Sundowner Offshore Services, Inc. – U.S. 523 (1998), 75 (81 f.). 8 LAG Niedersachsen v. 25.11.2008 – 1 Sa 547/08, NZA-RR 2009, 249 (250 f.); weitere Beispiele bei BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 127. 9 Vgl. LAG Köln v. 7.7.2005 – 7 Sa 508/04, NZA-RR 2006, 237. 10 Vgl. Supreme Court v. 4.3.1998 – Oncale v. Sundowner Offshore Services, Inc. – U.S. 523 (1998), 75 (81). 11 Vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 128 f. 12 Dazu grundlegend MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women, 1979, S. 174 ff.
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Grünberger
Diskriminierungstatbestand
Rz. 183
§3
Buchst. b Geschl-RL als Diskriminierung. Damit wird der Schutz vor einer Benachteiligung in das Vorfeld einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung ausgedehnt.1 Damit stellt das Unionsrecht sicher, dass diese Gefährdung unabhängig vom nationalen Haftungsrecht und nationalen Zurechnungsnormen im Nichtdiskriminierungsrecht erfasst wird. Die Anweisung ist ein eigener verbotener Diskriminierungstatbestand.2 Die Richtlinien haben bewusst einen Begriff gewählt, der im jeweiligen nationalen Recht nicht mit dem der Anstiftung besetzt ist.3 In Übereinstimmung mit dem Normzweck kommt es nach dem Wortlaut der Richtlinien nicht darauf an, ob die eigentliche Benachteiligung auch eingetreten ist.4 Daraus folgt auch, dass der Anweisende die Tat nicht ausführen muss.5 Für die Anweisung genügt es, wenn eine Person einer anderen Instruktionen erteilt und sie aufgrund des rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen oder intellektuellen Machtverhältnisses annehmen darf, dass sie umgesetzt werden.6
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Das unerwünschte sexuell bestimmte Verhalten muss entweder bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Bereits in einem einmaligen Verhalten kann eine Würdeverletzung liegen. Ob das Tatbestandsmerkmal eigenständige Bedeutung erlangen wird, ist zweifelhaft.7 Die entscheidende Weichenstellung ist die sexuell bestimmte Handlung: Je sexualisierter sie ist, desto eher wird man bereit sein, die Verletzung der Würde zu bejahen.
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6. Besondere Erscheinungsformen der Diskriminierung a) Unterstelltes Merkmal Die Diskriminierungskategorien konstruieren Zuschreibungen von Eigenschaften an Personen.8 Im Regelfall basieren diese Zuschreibungen auf sichtbaren Merkmalen, Verhaltensweisen oder statusrechtlichen Eigenschaften der betroffenen Person. Man muss sich dabei aber darüber im Klaren sein, dass nicht die tatsächliche Existenz dieser Merkmale das vom Nichtdiskriminierungsrecht adressierte Problem ist. Es geht immer um die Frage, welche Bedeutung diesem Merkmal in sozialen Zusammenhängen zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung hängt nicht zwingend davon ab, dass das Merkmal auch tatsächlich gegeben ist.9 Nach der verallgemeinerungsfähigen Rechtsprechung des EuGH gelten deshalb die Diskriminierungsverbote der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die jeweils genannten Gründe.10
1 Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085 (1090 f.); MünchKomm/BGB/Thüsing, § 3 Rz. 77. 2 Vgl. Employment Appeal Tribunal v. 28.10.1983 – Showboat Entertainment Centre Ltd. v. Owens – Industrial Case Reports 1984, 65 (zu Sec. 30 Race Relations Act). 3 Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 37. 4 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 136; a.A. Däubler, ZfA 2006, 479 (490 f.). 5 BT-Drucks. 16/1789, 33; Däubler/Bertzbach/Deinert, AGG, § 3 Rz. 90; a.A. Adomeit/Mohr, AGG, § 3 Rz. 266, BeckOK-ArbR/Roloff, § 3 AGG Rz. 34. 6 Vgl. dazu Däubler/Bertzbach/Deinert, AGG, § 3 Rz. 85 m.w.N.; i.E. auch BeckOK-ArbR/Roloff, § 3 AGG Rz. 35; a.A. Kamanabrou, RdA 2006, 321 (326); Rolfs, NJW 2007, 1489 (1492) (rechtliche Anweisungsbefugnis). 7 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 130 f. 8 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 623 ff. 9 Schiek/Schiek, AGG, § 1 Rz. 7. 10 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 38.
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§3
Rz. 184
Nichtdiskriminierungsrecht
b) Dreiecksverhältnisse 184
Im „Normalfall“ knüpft der Normadressat an ein Merkmal einer Person an und behandelt diese Person deshalb ungleich. Daneben kann das Nichtdiskriminierungsrecht auch eine Diskriminierung in Dreiecksverhältnissen erfassen.1 Grundlegend ist die Entscheidung des EuGH in der Rs. Coleman.2 Vorlagegegenstand war die Frage eines englischen Gerichts, ob das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie nur Menschen schützt, die selbst eine Behinderung haben.3 Die Arbeitnehmerin Coleman war nicht Merkmalsträgerin, ihr Kind war allerdings behindert. Das englische Recht setzte damals eine Identität von Merkmalsträger und Adressat der diskriminierenden Maßnahme voraus.4
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Nach der zutreffenden Auffassung des EuGH ist das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie aufgrund des damit verfolgten Zwecks nicht auf Personen beschränkt, die selbst behindert sind. Der für diesen Bereich verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz gilt nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die in ihrem Art. 1 genannten Gründe.5 Eine unmittelbare Diskriminierung setzt demnach nicht voraus, dass jemand wegen seiner Behinderung schlechter behandelt wird als eine andere Person in einer vergleichbaren Lage. Vielmehr genügt es, wenn die Benachteiligung auf eine Behinderung – auch einer dritten Person – zurückgeht.6 Dieses Ergebnis ist bereits aufgrund des Wortlauts der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie auf alle dort genannten Merkmale zu übertragen. Trotz des etwas abweichenden Wortlauts trifft dieses Verständnis auch auf die Antirassismus- und die Geschlechterrichtlinie zu.7
VI. Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen 1. System der Rechtfertigungsgründe und Struktur der Rechtfertigungsprüfung a) Problemstellung 186
Die Frage nach der Rechtfertigung bildet den Kern des Gleichbehandlungsrechts.8 Die begrifflich gegebene Ungleichbehandlung begründet nur prima facie einen Anspruch auf Gleichbehandlung.9 Eine Verpflichtung des Normadressaten zur Gleichbehandlung folgt daraus erst, wenn er die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen kann. Gleichbehandlungspflichten sind damit auch Rechtfertigungsgebote für Ungleichbehandlungen. Diskriminierungsverbote bezeichnen Gründe, mit denen man eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen kann. Das wirft die Frage auf, ob verbotene Diskriminierungen ihrerseits gerechtfertigt werden können. Die Rechtfertigung einer prima facie unerlaubten Diskriminierung ist darin eine Rückausnahme: Sie ermög1 Vertiefend Grünberger, The Principle of Equal Treatment in Triangular Relationships (Working Paper, 2009), http://www.uni-koeln.de/jur-fak/bhgg/personen/gruenberger/Gruenberger_ Triangular_Relations.pdf [Stand: 31.5.2014]. 2 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603. 3 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 27. 4 Siehe Pilgerstorfer/Forshaw, ILJ 37 (2008), 384 (385 f.). 5 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-303/06 – Coleman, Slg. 2008, I-5603 – Rz. 56. 6 Bayreuther, NZA 2008, 986 (987); kritischer Sutschet, EuZA 2009, 245 (249). 7 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 3 AGG Rz. 147 f.; Grünberger, Personale Gleichheit, S. 620 ff. 8 Näher Mahlmann, in: Rudolf/Mahlmann (Hrsg.), Gleichbehandlungsrecht, § 3 Rz. 37 ff.; Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 44 f. 9 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 670 ff., 802 ff.
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Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 190
§3
licht es, die Ungleichbehandlung gerade mit der Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal zu rechtfertigen. b) Prüfungsstruktur Die (unmittelbare) Diskriminierung ist gerechtfertigt, wenn der Diskriminierende die Ungleichbehandlung mit einem legitimen Grund rechtfertigen kann. Der Kreis legitimer Gründe ist in den Richtlinien unterschiedlich festgelegt. Der EuGH vertritt eine enge Auslegung.1 Eine besondere Stellung nimmt das Alter ein (ausführlich § 4 Rz. 14 ff.). Das erklärt sich im Wesentlichen mit der diskursiven Ausgestaltung von Art. 6 Gleichb-RL.2 Der EuGH weist die altersbezogene Verteilung von Gütern (insbesondere Arbeitsplätzen) in der Gesellschaft im Wesentlichen dem politischen Diskurs in den Mitgliedstaaten zu.3 Geht es dagegen um die Sicherung gleicher Chancen beim Marktzutritt, prüft er deutlich strenger. Dann bekommt die Rechtfertigungsprüfung „Biss“.4
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Kann die Differenzierung nicht auf einen ausdrücklichen Rechtfertigungsgrund gestützt werden, scheidet eine Rechtfertigung aus.5 Weil Art. 157 Abs. 1 AEUV keinen ausdrücklichen Rechtfertigungsgrund kennt, ist zweifelhaft, ob eine Rechtfertigung der unmittelbaren Entgeltdiskriminierung möglich ist (vgl. Rz. 198 ff.).
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Weil die Rechtfertigung eine Einschränkung des Grundrechts auf Gleichbehandlung ist (vgl. Rz. 6 ff.), geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Das folgt mittlerweile bereits aus Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC. Ausnahmen dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles (1.) angemessen und (2.) erforderlich ist. Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist (3.) so weit wie möglich mit den Erfordernissen des legitimen Ziels in Einklang zu bringen.6
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In der Entscheidungspraxis des EuGH spielen zwei Punkte eine wichtige Rolle: Der EuGH spannt die Prüfungsanforderungen hinsichtlich der Eignung an, die er i.d.R. bei der Erforderlichkeit prüft.7 Damit wird ein elementarer Rationalitätstest in die Prüfung eingeführt.8 Niemand muss sich eine Ungleichbehandlung gefallen lassen, wenn sie nicht zur Zielerreichung beiträgt. Eine Maßnahme ist nur dann geeignet, das legitime Ziel zu erreichen, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.9 Besonders streng prüft der EuGH bei zeitlich unbegrenzten Ausnahmeregelungen.10 Der zweite wichtige Punkt ist die Grenze benachteiligender Maßnahmen. Sie dürfen nicht über das zur Errei-
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1 Vgl. EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 56. 2 Dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 684 f. 3 Exemplarisch EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 68; Grünberger, EuZA 2011, 171 (184 f.). 4 EuGH v. 2.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 44; v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 52 ff.; vertiefend Grünberger, EuZA 2011, 171 (185); Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (330 f.). 5 EuGH v. 21.7.2005 – Rs. C-207/04 – Vergani, Slg. 2005, I-7453 – Rz. 34; v. 18.11.2010 – Rs. C-356/09 – Kleist, Slg. 2010, I-11939 – Rz. 41 f. 6 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 38; v. 26.10.1999 -Rs. C-273/97 – Sirdar, Slg. 1999, 7403 – Rz. 26; v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 – Kreil, Slg. 2000, I-69 – Rz. 23; v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 – Lommers, Slg. 2002, I-2891 – Rz. 39. 7 Exemplarisch EuGH v. 2.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 53. 8 Zum Begriff Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 141 ff., 309 ff. 9 EuGH v. 2.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 53. 10 EuGH v. 2.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 63; v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Association Belge des Consommateurs Test-Achats u.a., Slg. 2011, I-773 – Rz. 30 f.
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§3
Rz. 191
Nichtdiskriminierungsrecht
chung der angestrebten Ziele Erforderliche hinausgehen und die Interessen der ungleich behandelten Arbeitnehmer übermäßig beeinträchtigen.1 191
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist mittlerweile in Art. 4 AntiRass-RL, Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Gleichb-RL und Art. 14 Abs. 2 Geschl-RL ausdrücklich angeordnet. Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung zu den Richtlinien diese Prüfungsschritte bestätigt und konkretisiert.2 Er gilt als wegen Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC auch für die Rechtfertigungsgründe, in denen er – wie in Art. 2 Abs. 5 und 4 Abs. 2 Gleichb-RL – nicht ausdrücklich genannt wird. c) Rechtfertigungsgründe in den Richtlinien (Überblick)
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Die Richtlinien eröffnen die Möglichkeit einer Rechtfertigung. Die Diskriminierungsverbote der Richtlinien sind daher nur grundsätzliche Anknüpfungsverbote. Sie führen dazu, dass die Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erheblich ansteigen, indem die Kategorie zulässiger Gründe beschränkt und zusätzlich mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgesichert wird.3 Sie basieren auf einem System besonderer und allgemeiner Rechtfertigungsgründe. Die Möglichkeit der objektiven Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung ist dagegen für den Begriff der Diskriminierung konstitutiv (vgl. Rz. 156) und ist daher keine Rechtfertigung i.e.S.
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aa) Besondere Rechtfertigungsgründe. Mit besonderen Rechtfertigungsgründen wird ein bestimmtes Interesse berücksichtigt, das sich unter den jeweils näher spezifizierten Voraussetzungen gegen das Nichtdiskriminierungsverbot durchsetzen kann. Einen besonderen Rechtfertigungsgrund sieht Art. 4 Abs. 2 Gleichb-RL zugunsten von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, vor. Von erheblicher Bedeutung ist schließlich der besondere Rechtfertigungsgrund für Ungleichbehandlungen wegen des Alters in Art. 6 Gleichb-RL (dazu § 4 Rz. 22).
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Einen besonderen Rechtfertigungsgrund4 – und keine Begrenzung des sachlichen Schutzbereichs – enthält Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL (dazu § 4 Rz. 15). Danach können Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind, eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Der Rechtfertigungsgrund ist eng auszulegen.5 Unmittelbarer Adressat des Rechtfertigungsgrundes ist der Staat. Die Mitgliedstaaten können es den Sozialpartnern aufgrund hinreichend genauer Ermächtigungsvorschriften gestatten, entsprechende Maßnahmen auf den in Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL genannten Gebieten zu treffen, die in den Anwendungsbereich von Tarifverträgen fallen.6 Dem einzelnen Arbeitgeber ist keine entsprechende Gestaltungsmacht eingeräumt. Hinsichtlich der Angemessenheit – nach traditionellem Begriffsverständnis würde man von Eignung sprechen (vgl. Rz. 165 ff.) – geht der 1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 73; v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 -Hörnfeldt, Rz. 38, NZA 2012, 785; v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar – Rz. 65, NZA 2012, 1435. 2 Grundlegend EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold; Slg. 2005, I-9981 – Rz. 60 ff.; v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 66 ff.; v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 25 ff. 3 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 672 ff. 4 Grundlegend EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 49. 5 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 56. 6 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 61.
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Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 198
§3
EuGH von einem erheblichen Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten aus.1 Die Regelung ist geeignet, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.2 Insbesondere weitreichende Ausnahmeregelungen verstoßen gegen das Kohärenzgebot und führen dazu, dass eine Differenzierung nicht mehr gerechtfertigt werden kann.3 bb) Allgemeine Rechtfertigungsgründe. Zu den allgemeinen Rechtfertigungsgründen zählen Art. 4 AntiRass-RL, 4 Abs. 1 Gleichb-RL und 14 Abs. 2 Geschl-RL, wonach eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit „Rasse“ und ethnischer Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Ausrichtung oder des Geschlechts steht, keine Diskriminierung ist, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung ist, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.
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Ebenfalls zu den allgemeinen Rechtfertigungsgründen zählen „positive Maßnahmen“. Dabei handelt es sich um „Maßnahmen, die zwar nach ihrer äußeren Erscheinung diskriminierend sind, tatsächlich aber in der sozialen Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten beseitigen oder verringern sollen.“4 Wird ein bestimmtes Merkmal als Entscheidungsfaktor eingesetzt, liegt darin nach dem Verständnis des europäischen Nichtdiskriminierungsrechts eine tatbestandliche Ungleichbehandlung wegen des verpönten Merkmals.5 Dafür enthalten die Art. 5 AntiRass-RL, 7 Abs. 1 Gleichb-RL, 3 Geschl-RL und 5 Richtlinie 2010/41/EU zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, ausdrückliche Rechtfertigungsgründe.
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Für Personen mit Behinderung sieht Art. 7 Abs. 2 Gleichb-RL einen Anspruch auf angemessene Vorkehrungen vor. Angemessene Maßnahmen sind eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Menschen mit Behinderung die gleiche Freiheit ausüben können wie Menschen ohne Behinderung.6 Dabei handelt es sich um keinen Rechtfertigungsgrund, weil das Diskriminierungsverbot insoweit asymmetrisch ausgestaltet ist.7
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d) Art. 157 AEUV Weniger eindeutig kann die Frage beantwortet werden, ob es ein Möglichkeit gibt, eine von Art. 157 Abs. 1 AEUV (und Art. 4 Geschl-RL) erfasste Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung ist für die mittelbare Diskriminierung anerkannt (vgl. Rz. 156 ff.). Gelingt sie, fehlt es bereits am Tatbestand einer Diskriminierung. Art. 157 Abs. 4 AEUV ermöglicht postive Maßnahmen (vgl. Rz. 228 ff.). Umstritten ist, ob sonstige unmittelbare Diskriminierungen rechtfertigungsfähig sind.8 Nach klassischer Auffassung sei Art. 157 Abs. 1 AEUV 1 EuGH v. 2.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 51 f. (zum Gesundheitsschutz). 2 EuGH v. 2.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 53. 3 EuGH v. 2.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 61. 4 EuGH v. 25.10.1988 – Rs. 312/86 – Kommission v. Frankreich, Slg. 1988, 6315 – Rz. 15; v. 30.9.2010 – Rs. C-104/09 – Roca Álvarez, Slg. 2010, I-8661 – Rz. 33. 5 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 707; BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 10. 6 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 61. 7 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 62. 8 Siehe Fredman, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011, S. 196 ff.
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Rz. 199
Nichtdiskriminierungsrecht
ein striktes Anknüpfungsverbot, weshalb eine Rechtfertigung ausscheide.1 Nach anderer Auffassung sei Art 157 Abs. 1 AEUV – wie alle anderen Diskriminierungsverbote des Unionsrechts – einer Rechtfertigung zugänglich.2 199
Die Rechtsprechung des EuGH ist nicht aussagekräftig. Ein möglicher Grenzfall3 ist die Konstellation in der Rs. Brunnhofer, in der eine Arbeitnehmerin bei gleicher kollektivvertraglicher Einstufung für gleiche oder gleichwertige Arbeit weniger verdiente als ein Arbeitnehmer.4 Die Arbeitgeberin rechtfertigte die ungleiche Behandlung mit der Leistungsfähigkeit und dem Erfolg der geleisteten Arbeit der männlichen Kollegen.5 Der EuGH akzeptierte diesen Rechtfertigungsgrund nicht.6 Er sprach die Möglichkeit einer Rechtfertigung einer unmittelbaren Diskriminierung auch in einem Fall an, in dem eine Arbeitnehmerin im Vergleich zu ihrem männlichen Voränger weniger verdiente: Es ließe sich nicht ausschließen, dass die unterschiedliche Entlohnung zweier Arbeitnehmer, die denselben Arbeitsplatz zu unterschiedlichen Zeiten innehaben, mit objektiven Gründen erklären ließe, die nichts mit dem Geschlecht zu tun haben.7
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Gerade dieser Fall zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem objektiven Tatbestand der Diskriminierung und der Rechtfertigung gibt. Plädiert man für ein weites bzw. deskriptives Verständnis der Vergleichbarkeit, muss man Raum für normative Differenzierungen schaffen. Wie die Rechtsprechung zu Art. 157 AEUV zeigt, spielen für den EuGH normative Erwägungen bereits auf der Ebene der Vergleichbarkeit eine Rolle (vgl. Rz. 117). Das ist zwangsläufig, wenn man die Rechtfertigungsmöglichkeit einer unmittelbaren Diskriminierung ausschließt.8 Für die dabei anzustellenden Erwägungen ist der Rechtfertigungsdiskurs als Begründungsprozedur methodisch besser geeignet.9 Daher ist im Grundsatz davon auszugehen, dass unmittelbare Entgeltdiskriminierungen im Ausgangspunkt rechtfertigungsfähig sein können. Zugleich ist einzuräumen, dass eine konkrete Rechtfertigung der unmittelbaren Entgeltdiskriminierung mangels legitimen Grundes in aller Regel ausscheiden wird. 2. Besonderer Freiheitsschutz von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften
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Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 Gleichb-RL ermöglicht es den Mitgliedstaaten zugunsten von Kirchen und anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften einen besonderen Rechtfertigungsgrund für Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person bei beruflichen Tätigkeiten vorzusehen. Wirtschaftliche Tendenzbetriebe fallen nicht darunter.10 Dieser Rechtfertigungsgrund beruht laut ErwGr. 24 Gleichb-RL auf der sog. Amsterdamer Kirchenerklärung, die als Erklärung 1 Classen, JZ 1996, 921 (924); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld, Art. 157 AEUV Rz. 29; Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 252 ff. 2 Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 Rz. 58; Heselhaus/Nowak/Odendahl, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 44 Rz. 58 ff. 3 Zur unterschiedlichen Einordnung des Falles s. Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 157 Rz. 58 (unmittelbare Diskriminierung) und Classen, EuR 2008, 627 (634, Fn. 34) (in der Sache mittelbare Diskriminierung). 4 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961. 5 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 63. 6 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 74 ff. 7 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 127/79 – Macarthys, Slg. 1980, 1275 – Rz. 12. 8 Instruktiv Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 22. 9 Dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 803 f. 10 Falke/Rust/Stein, AGG, § 9 Rz. 98; Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 9 Rz. 23.
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Grünberger
Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 205
§3
Nr. 11 dem Vertrag von Amsterdam beigefügt ist.1 Diese ist bei der Auslegung der Norm zu berücksichtigen.2 Voraussetzung für die Rechtfertigung ist, dass die Religion oder die Weltanschauung des Arbeitnehmers nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation ist. Die Bestimmungen des nationalen Rechts müssen zusätzlich bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln, den verfassungsmäßigen Ordnungen entsprechen und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachten. Zu diesen zählt im Zusammenhang mit Gleichbehandlungsfragen auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.3
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Diskriminierungen aus anderen Gründen werden nicht erfasst. Die geschützten Organisationen können aber von ihren Arbeitnehmern darüber hinaus auch verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten, Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 Gleichb-RL. Zweifelhaft ist, ob man aufgrund dieser Bestimmung eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung rechtfertigen kann.4 Eine Kündigung wegen der Homosexualität eines kirchlichen Mitarbeiters wird in der Regel nicht mehr von Art. 4 Abs. 2 Gleichb-RL gerechtfertigt.5 Der dagegen gerichtete Versuch, zwischen homosexueller Orientierung und „praktizierter Homosexualität“ zu unterscheiden,6 kann schon im Ausgangspunkt nicht überzeugen (vgl. Rz. 87).
203
Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 Gleichb-RL verlangt einen Tätigkeitsbezug der Anforderung,7 bei deren Ermittlung das „Ethos der Organisation“ lediglich zu berücksichtigen ist.
204
§ 9 Abs. 1 AGG weicht deutlich von den Vorgaben der Richtlinie ab.8 Der Kreis der geschützten Arbeitgeber ist zwar etwas enger gefasst.9 Nach dem Wortlaut genügt allerdings eine „gerechtfertigte berufliche Anforderung“, während im Richtlinientext eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ verlangt wird. Keine Grundlage im Wortlaut der Richtlinie findet der Bezug auf das „Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht“, der sich aus dem Verfassungsrecht10 ergibt. Zwar darf der Mitgliedstaat die Anforderungen an die Rechtfertigung und das Loyalitätsgebot auch mit Blick auf das nationale Verfassungsrecht konkretisieren, allerdings nur im Rahmen des von der Richtlinie ermöglichten Spielraums. Daher ist zweifelhaft, ob die darüber hinausgehende Erweiterung der Rechtfer-
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1 Zur primärrechtlichen Fundierung näher v. Hoyningen-Huene, RdA 2002, 65 (69 ff.); Thüsing/ Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (178 ff.). 2 BAG v. 25.4.2013 – 2 AZR 579/12, NZA 2013, 1131 – Rz. 49. 3 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 38; v. 26.10.1999 – Rs. C-273/97 – Sirdar, Slg. 1999, 7403 – Rz. 26; v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 – Kreil, Slg. 2000, I-69 – Rz. 23; i.E. auch Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (170 ff.). 4 Offengelassen von BAG v. 25.4.2013 – 2 AZR 579/12, NZA 2013, 1131 – Rz. 44; bejahend MünchKomm/BGB/Thüsing, § 9 AGG – Rz. 23 f.; verneinend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 677 f. 5 Ausführlich Pallasch, NZA 2013, 1176 (1179 ff.). 6 Exemplarisch MünchKomm/BGB/Thüsing, § 9 AGG Rz. 23. 7 Vertiefend Deinert, EuZA 2009, 332 (334 ff.). 8 Siehe BeckOGK-BGB/Benecke, § 9 AGG Rz. 4. 9 Näher BeckOGK-BGB/Benecke, § 9 AGG Rz. 4. 10 Grundlegend BVerfG v. 4.6.1985 – 2 BvR 1703/83, BVerfGE 70, 138.
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§3
Rz. 206
Nichtdiskriminierungsrecht
tigungsmöglichkeiten in § 9 Abs. 1 AGG unionsrechtskonform ist.1 Notwendig ist eine richtlinienkonforme Auslegung,2 die sich an den folgenden Parametern (vgl. Rz. 206 f.) orientieren muss. 206
Im Kern geht es um die Frage, ob Art. 4 Abs. 2 Gleichb-RL lediglich einen weitgehenden Tendenzschutz enthält oder ob damit dem ausschließlichen Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften Vorrang eingeräumt wird.3 Nur im ersten Fall zwingt die Richtlinie zu abgestuften Rechtfertigungsvoraussetzungen nach Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung.4 Praxisrelevant wird das für solche Tätigkeiten, die objektiv keinen zwingenden religiösen Bezug aufweisen, wie etwa die Tätigkeit als Sozialpädagoge für ein nicht religiöses, von der Stadt finanziertes, aber von der Caritas durchgeführtes Projekt der Erziehungshilfe,5 bei Kindergärtnern, Organisten, Ärzten6 eines kirchlich getragenen Krankenhauses7 und einer muslimischen Putzfrau8. Gegen eine Abstufung spricht Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL, mit dem sich eine bestimmte Religionszugehörigkeit für spezifisch kirchliche Tätigkeiten ohnehin begründen lässt.9 Dafür spricht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.10
207
Daher ist eine kontextabhängige Ausgestaltung der beruflichen Anforderung, ausgehend vom Selbstverständnis der Organisation, aber begrenzt durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip, notwendig. Dafür eignet sich ein Konzept abgestufter Loyalitätspflichten.11 Der EGMR unterscheidet zwischen den Tätigkeiten, die zum eigentlichen Verkündigungsauftrag der Gemeinschaften zählen oder mit denen die Gemeinschaften in besonders hervorgehobener Form nach außen repräsentiert werden, und sonstigen Tätigkeiten.12 Die Kirche darf grundsätzlich von den „Mitarbeitern, die sie mit der Wahrnehmung der Leitungsaufgaben betraut, eine Identifikation mit den Kernpunkten der katholischen Glaubens- und Sittenlehre“ verlangen.13 Allerdings zwingt das spezielle Nichtdiskriminierungsrecht im Verbund mit dem konventionsrechtlich geschützten Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) und den sonstigen Grundrechten des Arbeitnehmers zur Abwägung der ungleich behandelnden Maßnahme auf Rechtfertigungsebene.
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Beispiele: Die Kündigung eines Chefarztes eines katholischen Krankenhauses wegen seiner Wiederverheiratung ist mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 Gleichb-RL konform, weil der Arbeitnehmer nach der Binnenorganisation der Kirche als leitender Mitarbei1 Bejahend Joussen, NZA 2008, 675; Mohr/Fürstenberg, BB 2008, 2122 (2124 ff.); Schnabel, ZfA 2008, 413; Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153; verneinend Deinert, EuZA 2009, 332 (339 f.); Kamanabrou, RdA 2006, 321 (328); ErfK/Schlachter, § 3 AGG Rz. 3. 2 Zu den Maßstäben näher BeckOGK-BGB/Benecke, § 9 AGG Rz. 24 ff. 3 Siehe Schliemann, NZA 2003, 407 (411); weitere Nachweise bei Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (161, Fn. 26). 4 Bejahend Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 9 Rz. 36 ff., verneinend Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (162 ff.). 5 Vgl. BAG v. 25.4.2013 – 2 AZR 579/12, NZA 2013, 1131. 6 Vgl. BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443. 7 Kamanabrou, RdA 2006, 321 (328). 8 Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 9 Rz. 15. 9 Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (163 f.). 10 Vgl. Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 9 Rz. 15; BeckOK-ArbR/Roloff, § 9 AGG Rz. 2; Schiek/ Schmidt, AGG, § 9 Rz. 13; ErfK/Schlachter, § 9 AGG Rz. 3; Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 8 Rz. 38; Palandt/Weidenkaff, § 9 AGG Rz. 3. 11 Zum Begriff Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (199). 12 EGMR v. 23.9.2010 – 425/03 – Obst v. Deutschland, NZA 2011, 277; v. 23.9.2010 – 1620/03 – Schüth v. Deutschland, NZA 2011, 280; v. 3.2.2011 – 18136/02 – Siebenhaar v. Deutschland, NZA 2012, 1999; vertiefend Fahrig/Stenslik, EuZA 2012, 184. 13 BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443 – Rz. 37.
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Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 210
§3
ter gilt.1 Die Wiederverheiratung Geschiedener ist für diese Mitarbeiterkategorie ein schwerer Verstoß gegen zentrale Anforderungen der Glaubens- und Sittenlehre.2 Die Kirche kann von denjenigen Mitarbeitern, die sie mit der Wahrnehmung der Leitungsaufgaben betraut, eine Identifikation mit den Kernpunkten der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verlangen und Verstöße dagegen entsprechend sanktionieren.3 Allerdings begrenzt das Kohärenzgebot das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft. Die Kündigung ist danach nicht erforderlich, wenn die Religionsgemeinschaft die Auffassung vertritt, einer ausnahmslosen Durchsetzung ihrer sittlichen Ansprüche zur Wahrung ihrer Glaubwürdigkeit nicht immer zu bedürfen.4 Zweifelhaft ist dagegen, ob der Kirchenaustritt eines bei der Caritas beschäftigten Sozialpädagogen eine Kündigung rechtfertigen kann. Nach Auffassung des BAG verkörpern die mit der Wahrnehmung erzieherischer Aufgaben betrauten Mitarbeiter auch dann das Ethos der Caritas in besonderem Maße, wenn die religiöse Unterweisung der von ihnen betreuten Kinder nicht Gegenstand ihrer Tätigkeit ist.5 3. Allgemeiner Freiheitsschutz: Berufliche Anforderungen a) Struktur Die Anknüpfung an ein Diskriminierungsmerkmal ist nach Art. 4 AntiRass-RL, 4 Abs. 1 Gleichb-RL und 14 Abs. 2 Geschl-RL gerechtfertigt, wenn drei Voraussetzungen vorliegen: 1. Das betreffende Merkmal ist „aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“. 2. Die Anknüpfung erfolgt, um „einen rechtmäßigen Zweck“ zu verfolgen. 3. Dabei handelt es sich um eine „angemessene Anforderung“. Die dahinter stehende Prüfungsstruktur kann man vereinfachen:6 Auf erster Stufe begrenzt die Norm den Katalog legitimer Gründe. Auf zweiter Stufe ist zu prüfen, ob die vom Arbeitgeber gestellte Anforderung verhältnismäßig ist. Der EuGH geht von einer engen Auslegung der Rechtfertigungsmöglichkeiten aus.7
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Die wichtigste Aussage der Richtlinien besteht darin, dass nicht jeder sachliche Grund genügt. Der Rechtfertigungsgrund adressiert nur den Fall einer Ungleichbehandlung aufgrund eines Merkmals, das für den Arbeitgeber eine entscheidende berufliche Anforderung ist.8 Nach dem Konzept der Richtlinien „muss nicht der Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen.“9 Das verpönte Merkmal ist also ein Stellvertretermerkmal (vgl. Rz. 104). Mit der unmittelbaren Anknüpfung daran will der Arbeitgeber letztlich ein damit im Zusammenhang stehendes Hauptmerkmal „treffen“. Die Norm geht von der Existenz eines bestimmten, extern gesetzten Handlungsziels (Zweck) aus, das
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BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443 – Rz. 27. BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443 – Rz. 36. BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443 – Rz. 37. BAG v. 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443 – Rz. 40 ff. BAG v. 25.4.2013 – 2 AZR 579/12, NZA 2013, 1131 – Rz. 47. BeckOGK-BGB/Benecke, § 8 AGG Rz. 3; Grünberger, Personale Gleichheit, S. 685. EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 36; v. 26.10.1999 – Rs. C-273/97 – Sirdar, Slg. 1999, 7403 – Rz. 23; v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 – Kreil, Slg. 2000, I-69 – Rz. 20 (jeweils zu Art. 2 Abs. 2 RL 76/207/EWG, der Vorgängernorm zu Art. 14 Abs. 2 Geschl-RL). 8 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 685 f. 9 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 35; v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I- 8003 – Rz. 66.
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§3
Rz. 211
Nichtdiskriminierungsrecht
nur mit der Differenzierung zu erreichen ist. Es besteht also eine rationale Beziehung zwischen dem Merkmal und dem Zweck der Ungleichbehandlung. Damit ist der Rechtfertigungsgrund auf instrumentale Diskriminierungen (vgl. Rz. 104) zugeschnitten. Instrumentale Diskriminierungen treten in zwei Varianten auf: Es kann sich entweder um statistische Diskriminierungen handeln (Beispiel: Beschäftigungshöchstgrenzen1) oder um präferenzbedingte Diskriminierungen Dritter, auf die der Arbeitgeber Rücksicht nehmen will.2 211
§ 8 Abs. 1 AGG ist insoweit missverständlich formuliert, weil dieser Zusammenhang zwischen Hauptmerkmal und verpöntem Stellvertretermerkmal nicht sofort sichtbar wird. Obwohl der Wortlaut von § 611a BGB a.F. abweicht, ist damit keine Herabsenkung der Rechtfertigungsanforderungen verbunden.3 Das folgt bereits aus dem unionsrechtlichen Verschlechterungsverbot (vgl. Rz. 239).
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In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung zur mittelbaren Diskriminierung (vgl. Rz. 139) kommt eine allgemeine Rechtfertigung nur in Betracht, wenn sie letztlich auf Faktoren zurückzuführen ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des verpönten Merkmals zu tun haben. Das erklärt auch die erheblichen Schwierigkeiten, Diskriminierungen wegen der Religion oder der sexuellen Orientierung bei Religionsgemeinschaften neben Art. 4 Abs. 2 Gleichb-RL (vgl. Rz. 201 ff.) auf Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL zu stützen.4 b) Voraussetzungen
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aa) Berufliche Anforderung. Ob es sich bei dem Hauptmerkmal um eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung handelt, ergibt sich im Einzelfall aus der Art der auszuübenden Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung. Das jeweilige Anforderungsprofil einer Tätigkeit bestimmt der Arbeitgeber. Grundlage dafür ist sowohl seine grundrechtlich in Art. 16 GRC geschützte Freiheit, den Unternehmensgegenstand als solchen festzulegen, als auch zu bestimmen, welche Arbeiten auf dem zu besetzenden Arbeitsplatz zu erbringen sind.5 Ausgangspunkt der Prüfung ist damit der vom Arbeitgeber gesetzte Unternehmens- und Betriebszweck.
214
Der vom Arbeitgeber verfolgte unternehmerische Zweck muss nach dem klaren Wortlaut der Richtlinien seinerseits rechtmäßig sein.6 Rechtfertigungsfähig sind nur berufliche Anforderungen, die ihrerseits nicht dem Schutzzweck des Diskriminierungsverbots grundlegend widersprechen.7 Die Freiheit der Zwecksetzung darf weder von den privaten Akteuren noch von den Sozialpartnern noch vom Staat dazu verwendet werden, das Gleichbehandlungsgebot auszuhöhlen.8 1 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 (sozialrechtliche Zulassungsgrenze bei Kassenärzten); v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 (Höchstaltersgrenzen für Piloten); v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 (Einstellungsgrenzen für Berufsfeuerwehr). 2 Vgl. EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187. 3 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 34 f. 4 Näher Belling, NZA 2004, 885 (886 f.); Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff, ZfA 2009, 153 (160 ff.). 5 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 Rz. 39. Das BAG stellt auf Art. 12 GG ab, was im Bereich der Umsetzungspflicht nicht lege artis ist. 6 Vgl. BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 51; v. 18.2.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 33. 7 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 687. 8 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 51 (zu Art. 6 Gleichb-RL).
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Grünberger
Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 219
§3
Nicht nur die Zwecksetzung als solche muss ihrerseits rechtmäßig sein, sondern auch die Entscheidung des Arbeitgebers, das verpönte Merkmal als proxy für das Hauptmerkmal einzusetzen.1 Weil die Verfügbarkeit des Bewerbers für den Arbeitgeber eine berufliche Anforderung ist, verfolgt er mit der Nichteinstellung einer schwangeren Bewerberin zwar einen rechtmäßigen Zweck; allerdings darf er von Rechts wegen die Schwangerschaft nicht als Stellvertretermerkmal berücksichtigen.2
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Folgt man der unternehmerischen Rationalität, ist die Nicht-Behinderung eines Arbeitnehmers i.d.R. eine berufliche Anforderung.3 Ein Arbeitgeber, der einen Bewerber nicht einstellt bzw. einem Arbeitnehmer kündigt, weil er ihn wegen seiner Behinderung nicht einsetzen könne, kann sich aber nur dann auf Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL berufen, wenn er diesbezüglich angemessene Vorkehrungen i.S.d. Art. 5 Gleichb-RL i.V.m. Art 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i, Art. 2 UAbs. 4 UN-Behinderteknovention (vgl. Rz. 31)4 getroffen hat und diese nicht zu einer Einsatzmöglichkeit führen. Unterlässt er die gebotenen5 und ihm zumutbaren6 Vorkehrungen und kann er den Arbeitnehmer deshalb nicht einsetzen, ist die Maßnahme nicht gerechtfertigt.7
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Die Anforderung ist wesentlich und entscheidend, wenn die Tätigkeit ohne dieses Merkmal bzw. ohne Fehlen dieses Merkmals entweder gar nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann.8 Entscheidend ist, ob die Arbeiten, die auf dem konkreten Arbeitsplatz zu erbringen sind, das Merkmal erfordern, um die unternehmerischen Zwecke zu erreichen oder ob das Merkmal erforderlich ist, damit durch die von dem Arbeitnehmer erbrachten Arbeiten der unternehmerische Zweck verwirklicht werden kann.9
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Beispiele: Das Geschlecht kann für Beschäftigungsverhältnisse wie die eines Aufsehers in Haftanstalten,10 für bestimmte Tätigkeiten wie die der Polizei bei schweren inneren Unruhen11 oder für den Dienst in speziellen Kampfeinheiten12 eine unabdingbare Voraussetzung sein. Dagegen war der Ausschluss von Frauen aus der Bundeswehr nicht von den betreffenden Beschäftigungen oder den besonderen Bedingungen ihrer Ausübung gerechtfertigt.13
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bb) Verhältnismäßigkeit. Die Anknüpfung an das Stellvertretermerkmal ist verhältnismäßig, wenn die Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.14 Es gibt zwei Bezugspunkte der Prüfung:15 Der vom Arbeitgeber mit der Tätigkeit verfolgte (legitime) unternehmerische
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1 Zur Prüfung der Rechtfertigung instrumenteller Diskriminierungen näher Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008, S. 156 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit, S. 686 f. 2 Vgl. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-32/93 – Webb, Slg. 1994, I-3567 – Rz. 26; v. 4.10.2001 – Rs. C-109/00 – Tele Danmark, Slg. 2001, I-6993 – Rz. 29. 3 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 688. 4 Näher zu den Vorgaben BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 63. 5 Näher BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 65 f. 6 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 68 ff. 7 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 – Rz. 50. 8 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 38; 18.2.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872 – Rz. 26. 9 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 39. 10 EuGH v. 30.6.1988 – Rs. 318/86 – Kommission v. Frankreich, Slg. 1988, 3559 – Rz. 11 ff. 11 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 36 f. 12 EuGH v. 26.10.1999 – Rs. C-273/97 – Sirdar, Slg. 1999, 7403 – Rz. 29 ff. 13 EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 – Kreil, Slg. 2000, I-69 – Rz. 27 f. 14 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 37 ff. 15 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 688 f.
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§3
Rz. 220
Nichtdiskriminierungsrecht
Zweck einerseits und die in der merkmalsbezogenen Diskriminierung liegende Benachteiligung für den Beschäftigten andererseits.1 220
Die Diskriminierung ist nur dann ein geeignetes Mittel, wenn sie einen objektiv nachprüfbaren inhaltlichen Bezug zum Hauptmerkmal aufweist.2 Im Regelfall der statistischen Diskriminierung muss zunächst die Differenzierung nach dem Hauptmerkmal geeignet sein, das Primärziel zu erreichen. Das ist zu bejahen, wenn das Stellvertretermerkmal mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Hauptkriterium schließen lässt (Prognoseeignung).3 Allgemeine Behauptungen genügen dafür nicht.4 Gesetzgeber und Sozialparnter können sich diesbezüglich auf einen Einschätzungsspielraum berufen.5 Bei privaten Arbeitgebern scheidet dieser aus.6 Hier muss – um die Formulierung des EuGH in der Rs. Bilka aufzugreifen – ein wirkliches Bedürfnis bestehen.7 Private Arbeitgeber müssen den statistischen Zusammenhang ausreichend plausibel darlegen und beweisen.
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Beispiele: Die Sicherheit des Flugverkehrs ist ein legitimes Ziel, um die automatische Beendigung der Arbeitsverträge von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres zu rechtfertigen. Das Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten ist bei Piloten eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“.8 Die Gewährleistung von Einsatzbereitschaft und das ordnungsgemäße Funktionieren der Berufsfeuerwehr ist ein rechtmäßiges Ziel des Feuerwehrträgers. Wie bei den Piloten steht die körperliche Eignung angeblich als Hauptmerkmal mit dem Alter als Stellvertretermerkmal im Zusammenhang. Das ist nicht ganz zweifelsfrei (vertiefend zu Altersgrenzen für Einstellung und Ausscheiden § 4 Rz. 63 ff., 114 ff.), weil die Annahme sinkender Leistungsfähigkeit nicht frei von stereotypen Annahmen ist.9 Folgt man dem EuGH, handelt es sich konsequenterweise um eine für die fragliche Berufstätigkeit oder deren Ausübung wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung.10
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Die Differenzierung nach dem Hauptmerkmal ist erforderlich, um das Primärziel zu erreichen, wenn es kein ebenso geeignetes, aber weniger einschneidendes Mittel gibt.11 Kann man das Merkmal dagegen mit einem anderen Stellvertretermerkmal ersetzen, das ebenfalls einen statistischen Bezug zum Hauptmerkmal aufweist, ist die Anknüpfung an das verpönte Merkmal nicht mehr erforderlich. Das wirft erhebliche Probleme bei der Altersdiskriminierung auf (näher § 4 Rz. 114 ff.).
223
Ob die Anforderung angemessen ist, ist vom Standpunkt des Rechts aus zu beurteilen, in das eingegriffen wird. Bei Ausnahmen von einem Individualrecht müssen die Erfordernisse des Gleichbehandlungsgrundsatzes so weit wie möglich mit denen des angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden.12 Erforderlich ist eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit 1 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 Rz. 51. 2 Vgl. Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, 2006, S. 370. 3 Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008, 160 f. 4 Vgl. EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 51 (zu Art. 6 Gleichb-RL). 5 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 688 f. 6 Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008, S. 172 ff.; zurückhaltender Swift, ILJ 35 (2006), 228 (240 ff.). 7 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 36. 8 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 67 f. 9 Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl. 2012, S. 393. 10 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 37 ff. 11 Britz, Einzelfallgerechtigkeit vs. Generalisierung, 2008, S. 162 f. 12 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 65.
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Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 226
§3
der ihn rechtfertigenden Gründe. Die Grenze der Zumutbarkeit für die Benachteiligten muss gewahrt bleiben. Das Differenzierungsziel muss die damit einhergehende Ungleichbehandlung aufwiegen können. Innerhalb der Abwägung ist auch zu fragen, ob das Differenzierungsziel die Ungleichbehandlung im Hinblick auf die tatsächlich bestehende Verschiedenheit zu erklären vermag.1 Der Grad der Ungleichbehandlung darf nicht außer Verhältnis stehen zum Grad der tatsächlichen Unterschiede der Vergleichspersonen.2 Nur wenn das auch im Einzelfall zumutbar ist, ohne dass der Schutz des Nichtdiskriminierungsprinzips entleert wird, darf die Benachteiligung erfolgen. c) Kundenpräferenzen Erhebliche Schwierigkeiten bereiten die Fälle, in denen der Arbeitgeber nicht eigenen Präferenzen, sondern den Präferenzen Dritter folgt.3 Es ist für den Arbeitgeber rational, sich nach den Erwartungen seiner Kunden zu richten.4 Der EuGH war in der Rs. Feryn mit dieser Problematik konfrontiert.5 Der Arbeitgeber hatte seine nach ethnischer Herkunft differenzierende Einstellungspolitik damit verteidigt, dass er den Forderungen seiner Kunden und deren auf stereotypen Annahmen basierenden Sicherheitsbedürfnis nachkomme. Der EuGH hat eine Rechtfertigung nach Art. 4 AntiRass-RL gar nicht angesprochen. Das ist konsequent: Würde man die diskriminierenden Präferenzen Dritter generell als Rechtfertigungsgrund berücksichtigen, wäre die praktische Wirksamkeit des Nichtdiskriminierungsrechts hinfällig. Das Nichtdiskriminierungsprinzip bezweckt gerade eine Veränderung bestehender Verhältnisse, indem es die Auswirkungen entsprechender Vorurteilsstrukturen zurückdrängt.6 Es entsteht ein systemisches Geflecht rationaler Diskriminierung, in dem jeder seine stereotypen Erwartungen von den ebenfalls stereotpyen Erwartungen anderer abhängig macht und dadurch reproduziert.7 Nach hier vertretener Auffassung ist die Berücksichtigung derart diffuser Drittpräferenzen schon nicht rechtmäßig. Der Wunsch, nur mit Mitgliedern der eigenen Gruppe in soziale Interaktion zu treten, kann eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen.
224
Schwieriger zu lösen sind die Fälle, in denen die tatsächlich existierenden oder nur angenommenen Kundenpräferenzen unmittelbare Auswirkungen auf die Art der beruflichen Tätigkeit oder die Bedingungen ihrer Ausübung haben können.8 „Die Verfolgung unternehmerischer Zwecke kann nämlich nicht losgelöst von solchen Beziehungen, z.B. zu Kunden oder Personen, denen gegenüber bestimmte Leistungen zu erbringen sind, betrachtet werden.“9 Eine Möglichkeit, diese Fälle zu lösen, besteht darin, zwei Fallgruppen zu unterscheiden:10
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(1.) Eine zulässige Berücksichtigung liegt vor, wenn die Beachtung der Kundenpräferenzen in dynamischer Hinsicht zur Stärkung des Nichtdiskriminierungsrechts bei-
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1 Vgl. dazu allgemein Kischel, AöR 124 (1999), 175 (192). 2 Siehe Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, 2006, S. 372. 3 Vertiefend Lobinger, EuZA 2009, 365 (372 ff.). 4 Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 690 ff. 5 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187. 6 Siehe Schiek/Schiek, AGG, § 3 Rz. 15; v. Roetteken, AGG, § 8 Rz. 67. 7 Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 21 f. 8 Kamanabrou, RdA 2006, 321 (327); Falke/Rust/Falke, AGG, § 8 Rz. 20 f.; Adomeit/Mohr, AGG, § 8 Rz. 42 ff. 9 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 39. 10 Vertiefend Grünberger, Personale Gleichheit, S. 691 ff.
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§3
Rz. 227
Nichtdiskriminierungsrecht
trägt. Beispielsweise ist die Besetzung der Stelle der Gleichstellungsbeauftragten mit einer Frau eine verhältnismäßige berufliche Anforderung, wenn die Integration von Frauen mit Migrationshintergrund und die Zusammenarbeit mit frauenrelevanten Organisationen einen Schwerpunkt der Tätigkeit bilden.1 Ausschlaggebend ist deren spezifisches Kommunikationsbedürfnis, das von ihrer eigenen Individualität und Gruppenzugehörigkeit sowie den sozialen Kontexten geprägt wird, in die sie gerade wegen ihres Geschlechts und ihrer Religion eingebunden sind.2 Der Arbeitgeber darf aufgrund dieser sozialen Strukturen annehmen, dass muslimische Frauen, Opfer von Frauendiskriminierung und Vertreter frauenspezifischer Organisationen eine Frau als Ansprechpartner bevorzugen, um einen Gegenpol zu den herrschenden männergeprägten Kommunikationsprozessen zu haben. Hier wirkt sich die Ungleichbehandlung wie eine positive Maßnahme aus. Daraus ist die Wertung zu ziehen, dass sie erlaubt ist. Einzuräumen ist, dass auch hier „stereotype Annahmen“ der potentiellen Abnehmerinnen der städtischen Dienstleistungen vorliegen. Man könnte mit guten Gründen argumentieren, dass es der „Stärkung des Nichtdiskriminierungsrechts“ ungleich mehr dienen würde, wenn Frauen auf einen männlichen Gleichstellungsbeauftragten träfen, der sich ihrer Anliegen annimmt. Aus rechtlicher Sicht wäre es danach vorzugswürdig, auf jede Berücksichtigung von Kundenpräferenzen zu verzichten. Darin besteht freilich die Gefahr, dass man damit an der sozialen Wirklichkeit existierender Kommunikationsbedürfnisse vorbeigeht, die zu adressieren im Interesse des Gemeinwohls wichtig ist. 227
(2.) Davon sind stereotype Drittpräferenzen zu unterscheiden, die in ihrer Summe systemische Diskriminierungen am Markt verfestigen. Darin verwirklichen sich die Statuszuschreibungen und Annahmen über Personen, die das Nichtdiskriminierungsrecht bekämpfen möchte. Dieses schützt den Einzelnen vor falschen Zuschreibungen. Beispielhaft dafür ist eine Entscheidung des BAG, wonach die Tätigkeit einer Erzieherin/Sportlehrerin/Sozialpädagogin für ein Gymnasium mit angeschlossenem Mädcheninternat auf Frauen beschränkt werden durfte.3 Die Entscheidung ist ein erschreckendes Sammelsurium von stereotypen Annahmen von Personen:4 Nach dem Vorverständnis des Gerichts führe die Präsenz eines Mannes – ungeachtet der Tatsache, dass er ein ausgebildeter Pädagoge ist – unvermittelt zur Sexualisierung des Internatslebens. Und das nur, weil er ein Mann ist und die anderen junge (!) Mädchen sind, die „teilweise nur mit einem umschlungenen Handtuch bedeckt“5 sind. 4. Positive Maßnahmen
228
Unter positiven Maßnahmen versteht man im europäischen Kontext6 „Maßnahmen, die zwar nach ihrer äußeren Erscheinung diskriminierend sind, tatsächlich aber in der sozialen Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten beseitigen oder verringern sollen“.7 Im U.S.-amerikanischen Kontext überwiegt der Begriff der „affirmative action“.8 1 2 3 4 5 6
BAG v. 18.3.2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872. Grünberger, Personale Gleichheit, S. 692. BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 40 ff. Detaillierte Kritik bei Grünberger, Personale Gleichheit, S. 693 ff. BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1019 – Rz. 41. Zur Begrifflichkeit CEDAW, General Recommendation No. 25, on article 4, paragraph 1, No. 17, http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/recommendations/General%20rec om mendation%2025 %20(English).pdf [Stand: 31.3.2014]; Falke/Rust/Raasch, AGG, § 5 Rz. 4. 7 Grundlegend EuGH v. 25.10.1988 – Rs. 312/86 – Kommission v. Frankreich, Slg. 1988, 6315 – Rz. 15; EuGH v. 30.9.2010 – Rs. C-104/09 – Roca Álvarez, Slg. 2010, I-8661 – Rz. 33. 8 Vergleichend Caruso, 44 Harv.Int.L.J. 331 (2003).
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Rechtfertigungsmöglichkeiten von Diskriminierungen
Rz. 233
§3
Positive Maßnahmen adressieren einige Schwachstellen des auf individuellen Rechtsschutz ausgelegten Diskriminierungsverbots:1 Die Initiative liegt nicht mehr bei den einzelnen Betroffenen, sondern bei den Akteuren, die am besten in der Lage sind, Diskriminierungen zu beseitigen und ihr Entstehen zu verhindern, unabhängig davon, ob sie für deren Existenz verantwortlich sind. Sie werden daher nicht in die Rolle der Rechtsverletzer gedrängt, deren Verhalten sanktionsbewährt ist, sondern gestalten selbst diskriminierungsfreie Räume. Damit wird nicht nur verhindert, dass es zu einzelnen Diskriminierungen kommt. Entscheidend ist, dass diese Akteure das Problem struktureller Diskriminierung angehen können, indem sie institutionelle Entscheidungsprozesse verändern. Davon profitiert nicht nur der Einzelne, sondern jeder potentiell von Diskriminierung betroffene Gruppenangehörige.2
229
Positive Maßnahmen bezwecken „die Sicherstellung der tatsächlichen Wirksamkeit des Gleichheitssatzes, indem sie solche Ungleichheiten zulassen, die zu dessen Verwirklichung erforderlich sind“.3 Mit positiven Maßnahmen werden die in den jeweiligen Teilsystemen der Gesellschaft nach wie vor vorhandenen strukturellen Differenzierungen zwischen Personengruppen adressiert. Darin liegt die dialektische Pointe positiver Maßnahmen: Obwohl das Recht an sich verbietet, an verpönte Merkmale anzuknüpfen, erlaubt es diese Anknüpfung, um die in den sozialen Kontexten nach wie vor bestehende Ungleichbehandlung effektiv zu adressieren.4
230
Eine Reihe von Maßnahmen geht auf spezifische Bedürfnisse bisher benachteiligter Minderheiten ein, ohne zugleich Dritte aufgrund eines verpönten Merkmals ungleich zu behandeln.5 Dazu zählen z.B. die Prozesse, die man unter dem Begriff des Gender Mainstreaming zusammenfasst.6 Zum Problem werden positive Maßnahmen, wenn die Entscheidung des Normadressaten zugunsten eines Merkmalsträgers zwangsläufig zu Lasten eines anderen Merkmalsträgers ausfällt.
231
Das primäre (Art. 157 Abs. 4 AEUV, Art. 23 Abs. 2 GRC) und das sekundäre Unionsrecht (vgl. Rz. 25 ff.) ermöglichen in diesen Fällen die Rechtfertigung der tatbestandlich vorliegenden Diskriminierung.7 Sie basiert auf einem Kompromiss formaler und materialer Konzeptionen des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Eine material konzipierte Gleichheit schließt formale Gleichheit ein, erlaubt aber Abweichungen, die gerade mit dem von ihnen verfolgten Ziel – der Sicherstellung einer tatsächlichen Gleichheit – gerechtfertigt sind.8
232
Art. 2 Abs. 4 RL 76/207/EWG adressierte erstmals das Problem für die Geschlechterungleichbehandlung:9 „Die Richtlinie steht nicht den Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen in den in Art. 1
233
1 Zum Folgenden bereits BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 3. 2 Vertiefend Fredman, ILJ 30 (2001), 145, (163 ff.); Fredman, 12 Maastricht J. Eur. & Comp. L. 369 (2005); Fredman in: Schiek/Chege, From European Union non-discrimination law towards multidimensional equality for Europe, 2009, 72 (79 ff.), Fredman, Discrimination Law, S. 230 f. 3 GA Tesauro v. 6.4.1995 – Rs. C-450/93 – Kalanke, Slg. 1995, I-3051 – Rz. 17. 4 Grünberger, NZA-Beil. 2012, 139 (140). 5 Vgl. Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, S. 424 f. 6 Dazu Kocher, RdA 2002, 167 (172 ff.). 7 EuGH v. 30.9.2010 – Rs. C-104/09 – Roca Álvarez, Slg. 2010, I-8661 – Rz. 26; Calliess/Ruffert/ Krebber, Art. 157 AEUV Rz. 74; Schwarze/Rebhahn, Art. 157 AEUV Rz. 47, 49; i.E. wohl auch Epiney/Abt, Das Recht der Gleichstellung von Mann und Frau in der EU, S. 199; a.A. Falke/ Rust/Raasch, AGG, § 5 Rz. 11 ff.; Schiek/Schiek, AGG, § 5 Rz. 3; Erman/Armbrüster, § 5 AGG Rz. 1 (jeweils tatbestandsausschließend). 8 Vgl. GA Tesauro v. 6.4.1995 – Rs. C-450/93 – Kalanke, Slg. 1995, I-3051 – Rz. 16. 9 Zur Entwicklungsgeschichte Ellis/Watson, EU Anti-Discrimination Law, 2. Aufl., S. 420 ff.
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§3
Rz. 234
Nichtdiskriminierungsrecht
Abs. 1 genannten Bereichen beeinträchtigen, entgegen.“ Der EuGH hat dazu in mehreren Entscheidungen Stellung genommen.1 Sie wurde mit Art. 1 Nr. 2 RL 2002/73/EG neugefasst. Danach können die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben Maßnahmen i.S.d. Art. 157 Abs. 4 AEUV beibehalten oder beschließen. Mittlerweile wurde diese Bestimmung unverändert in Art. 3 Geschl-RL aufgenommen. Trotz des unterschiedlichen Wortlauts hat der EuGH an den zu Art. 2 Abs. 4 RL 76/207/EWG entwickelten Maßstäben festgehalten.2 Dieselben Voraussetzungen gelten auch für Art. 5 AntiRass-RL und 7 Abs. 1 Gleichb-RL.3
VII. Sanktionen 1. Primärrechtliche vs. sekundärrechtliche Diskriminierungsverbote 234
Hinsichtlich der Sanktionen für den Verstoß gegen ein Diskriminierungsverbot ist zwischen den Verstößen gegen primärrechtliche und den Verstößen gegen die Diskriminierungsverbote in den Richtlinien zu unterscheiden.
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Art. 157 AEUV sieht keine Rechtsfolge für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Entgeltgleichheit vor. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist Art. 157 Abs. 1 AEUV im Arbeitsverhältnis unmittelbar anwendbar.4 Daher kann sich der/die Arbeitnehmer/in bei einem Verstoß gegen das Gebot der Entgeltgleichheit vor mitgliedstaatlichen Gerichten unmittelbar darauf berufen.5 Solche Diskriminierungen lassen sich anhand der in der Vorschrift verwendeten Merkmale „gleiche Arbeit“ und „gleiches Entgelt“ feststellen, ohne dass konkretisierende unionsrechtliche oder nationale Maßnahmen erforderlich wären. Das Gericht ist in der Lage, alle Tatsachenfeststellungen zu treffen, die es ihm ermöglichen, zu beurteilen, ob eine Arbeitnehmerin ein geringeres Entgelt erhält als ein Arbeitnehmer, der die gleiche oder eine gleichwertige Arbeit leistet.6 Weil der primärrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ausreichend konkret ist, stützt sich der EuGH daher unmittelbar auf den Grundsatz und nicht auf den konkretisierenden Art. 4 Geschl-RL.7
236
Dagegen haben die Diskriminierungsverbote in den Richtlinien keinen unmittelbaren Horizontaleffekt (vgl. § 1 Rz. 125 ff.).8 Diese können in Arbeitsverhältnissen mit privaten Arbeitgebern folglich nicht mit nationalen Vorschriften kollidieren; Anwendungskonkurrenzen sind insoweit ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des EuGH statuieren die Richtlinien den Grundsatz der Gleichbehandlung aber nicht selbst, sondern schaffen lediglich einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung ver1 EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 – Kalanke, Slg. 1995, I-3051; v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 – Marschall, Slg. 1997, I-6363; v. 28.3.2000 – Rs. C-158/97 – Badeck, Slg. 2000, I-1875; v. 19.3. 2002 – Rs. C-476/99 – Lommers, Slg. 2002, I-2891. 2 EuGH v. 6.7.2000 – Rs. C-407/98 – Abrahamsson u.a., Slg. 2000, I-5539 – Rz. 54 ff.; v. 30.9.2004 – Rs. C-319/03 – Briheche, Slg. 2004, I-8807 – Rz. 29 ff.; v. 30.9.2010 – Rs. C-104/09 – Roca Álvarez, Slg. 2010, I-8661 – Rz. 41; vertiefend Burg, Positive Maßnahmen zwischen Unternehmerfreiheit und Gleichbehandlung, 2009, S. 35 ff. 3 Zur Frage der fehlenden Absicherung im Primärrecht s. BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 5 AGG Rz. 15 ff. 4 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 7 ff. 5 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 40; v. 7.9.2002 – Rs. C-320/00 – Lawrence, Slg. 2002, I-7325 – Rz. 13. 6 EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 – Worringham, Slg. 1981, 767 – Rz. 23. 7 Vgl. dazu Sagan, ZESAR 2011, 412 (414). 8 Grundlegend EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 27.
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Sanktionen
Rz. 239
§3
schiedener Formen der Diskriminierung. Sie „konkretisieren“ einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts bzw. das Unionsgrundrecht auf Nichtdiskriminierung aus Art. 21 Abs. 1 GRC.1 Das Sekundärrecht liefert den inhaltlichen Prüfungsmaßstab und geht als spezielle Regelung dem subsidiären Grundrecht vor (vgl. Rz. 11 ff.). Art. 21 und 23 Grundrechte-Charta verleihen im Anwendungsbereich des Unionsrechts dem Einzelnen ein subjektives Recht, das er als solches geltend machen kann.2 Daraus folgt, dass in den Fällen, in denen das nationale Recht eine nicht richtlinienkonforme Bestimmung zugunsten eines privaten Akteurs enthält, der Vorrang des Unionsgrundrechts dazu führt, die Anwendung dieser nationalen Vorschrift auszuschließen.3 Unklar ist, ob sich die Wirkung des Unionsgrundrechts darin erschöpft. Nach dem Vorbild des Art. 157 Abs. 1 AEUV ist es denkbar, aus dem Verstoß gegen das subjektive Recht auf Nichtdiskriminierung bestimmte unmittelbare Rechtsfolgen abzuleiten: Dazu zählt die Nichtigkeit entgegenstehender Rechtsgeschäfte (vgl. Rz. 248 ff.). Probleme entstehen bei der Frage, ob aus dem Verstoß gegen die grundrechtskonkretisierende Richtlinie auch Beseitigungs- und Schadensersatzansprüche erwachsen.
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Hier wirkt sich der Unterschied zwischen Art. 157 Abs. 1 AEUV und den grundrechtskonkretisierenden Richtlinien aus. Die tatbestandliche Engführung des Art. 157 Abs. 1 AEUV hat Konsequenzen für die Rechtsfolgen. Der Anspruch auf gleiche Behandlung beschränkt sich auf den Anspruch auf gleiches Entgelt. Dagegen sind die vielfältigen Situationen im Anwendungsbereich der Richtlinien differenzierter zu beurteilen. Soweit die Ungleichbehandlung das Entgelt betrifft, steht einem unmittelbar aus den Unionsgrundrechten fließenden Anspruch auf gleiche Behandlung nichts entgegen. In allen anderen Fallgruppen sprechen die besseren Gründe gegen einen unmittelbar in Art. 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 GRC wurzelnden Beseitigungs- und Schadensersatzanspruch. Die Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten insoweit lediglich dazu, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Durchsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte zu gewährleisten. Sofern sie keine detaillierten Rechtsfolgen vorschreiben, können sie daher auch nicht die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das subjektive Recht aus Art. 21 und 23 GRC konkretisieren.
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2. Grundsatz der Mindestanforderungen und Verschlechterungsverbot Die Richtlinien legen lediglich Mindestanforderungen an den Schutz des Gleichbehandlungsanspruchs fest. Die Mitgliedstaaten dürfen zum Schutz der davon Betroffenen strengere Vorschriften beibehalten oder einführen (Art. 6 Abs. 1 AntiRass-RL, 8 Abs. 1 Gleichb-RL, 27 Abs. 1 Geschl-RL). Bestand vor der Verabschiedung der Richtlinie ein höheres Schutzniveau, darf der Mitgliedstaat die Umsetzung der Richtlinie jedoch nicht zum Anlass nehmen, es auf das von der Richtlinie abgedeckte Schutzniveau herabzusenken (Art. 6 Abs. 1 AntiRass-RL, 8 Abs. 1 Gleichb-RL, 27 Abs. 1 Geschl-RL). Das verbietet nach der sehr engen Auslegung des EuGH nicht eine generelle Absenkung des Schutzes, sondern nur solche Maßnahmen, die mit der „Umsetzung“ der Richtlinie zusammenhängen und das allgemeine Niveau des Schutzes der jeweils von der Richtlinie erfassten Diskriminierungsopfer betrifft.4 Daher ist eine im 1 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 74 ff.; v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 20. 2 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – Rz. 47, NZA 2014, 19. 3 Vgl. EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale – Rz. 41, NZA 2014, 19. 4 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 126; v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 44.
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§3
Rz. 240
Nichtdiskriminierungsrecht
Zusammenhang mit der Umsetzung der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie erfolgte Verkürzung einer für das Merkmal Geschlecht bestehenden Ausschlussfrist kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot.1 240
Das Problem stellt sich in Deutschland bei § 15 Abs. 4 AGG für das Merkmal Geschlecht. Der EuGH hat darüber in der Rs. Bulicke nicht entschieden. Im Vergleich mit der Vorgängerregelung in § 611a Abs. 4 BGB a.F. hat sich die Rechtslage für das Merkmal Geschlecht insoweit verschlechtert. Ob das mit dem Verschlechterungsverbot vereinbar ist, ist sehr zweifelhaft.2 Insoweit wäre eine Vorlageentscheidung notwendig. 3. Präventive Maßnahmen
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Das Unionsrecht verfolgt insgesamt ein Konzept positiver Handlungspflichten, um strukturelle Diskriminierung aufgrund gemeinsamer positiver Maßnahmen aller involvierten Beteiligten zu beseitigen und zu verhindern.3 Zu den präventiven Maßnahmen zählen „Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ (Art. 11 Abs. 1 AntiRass-RL, 13 Abs. 1 Gleichb-RL) bzw. den Sozialpartnern (Art. 21 Abs. 1 Geschl-RL) im beschäftigungsrechtlichen Bereich. Allgemein haben die Mitgliedstaaten die Pflicht, den sozialen Dialog mit Nichtregierungsorganisationen zu fördern (Art. 12 AntiRass-RL, 14 Gleichb-RL, 22 Geschl-RL). Konkreter gefasst ist die Pflicht zur Unterrichtung der Betroffenen am Arbeitsplatz (Art. 10 AntiRass-RL, 12, 30 Geschl-RL) und die Pflicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. Sozialpartner, Antidiskriminierungsvereinbarungen zu treffen (Art. 11 Abs. 2 AntiRass-RL, 13 Abs. 2 Gleichb-RL, 21 Abs. 2 Geschl-RL). Dazu führt Art. 21 Abs. 3 Geschl-RL aus, dass Kollektivvertragsparteien und Arbeitgeber verpflichtet werden, die Gleichbehandlung beim Berufszugang und -aufstieg „in geplanter und systematischer Weise zu fördern“.
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Das Konzept präventiver Maßnahmen spielt in der Praxis eine wichtige Rolle. In Deutschland wurde es in § 12 Abs. 1, 2 und 5 AGG und in § 17 Abs. 1 AGG umgesetzt. § 12 Abs. 5 AGG verwirklicht Prävention durch Minimalaufklärung über die Rechte und Pflichten aus dem AGG. § 12 Abs. 1 AGG verpflichtet den Arbeitgeber, seine Beschäftigten vor konkreten Benachteiligungen zu schützen.4 § 12 Abs. 1 AGG konkretisiert die den Arbeitgeber auf Grundlage des Arbeitsvertrages treffenden Schutzpflichten und begründet präventive Organisationspflichten.5 Angesichts der Vielzahl gestalterischer Maßnahmen kommt dem Arbeitgeber dabei ein Einschätzungspielraum zu.6 Dazu zählen beispielsweise die in § 12 Abs. 2 Satz 1 AGG genannten Maßnahmen der Aus- und Fortbildung, insbesondere Schulungen, für die § 12 Abs. 2 Satz 2 AGG einen besonderen Anreiz bereithält.7 Eine andere Möglichkeit besteht in der Einführung von sog. „Ethikrichtlinien“.8
1 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 45 ff. 2 Siehe Falke/Rust/Bücker, AGG, § 15 Rz. 50; Fischinger, NZA 2010, 1048; Schiek/Kocher, AGG, § 15 Rz. 57; Unionsrechtskonformität bejahend Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 15 Rz. 67. 3 Vertiefend Fredman, Discrimination Law, 2. Aufl. 2011, S. 299 ff. 4 Zum Normzweck vgl. BT-Drucks. 16/1780, 37. 5 Göpfert/Sigrist, ZIP 2007, 1710 (1711). 6 Falke/Rust/Falke, AGG, § 12 Rz. 9 ff. 7 Näher BeckOGK-BGB/Benecke, § 12 AGG Rz. 18 ff. 8 Ausführlich Schneider/Sittard, NZA 2007, 654 ff.
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Sanktionen
Rz. 247
§3
§ 17 Abs. 1 AGG begründet Handlungsrechte und -pflichten für Tarifvertragsparteien, Arbeitgeber, Beschäftigte und deren Vertretungen. Dazu zählt beispielsweise der Betriebsrat, dessen Handlungspflichten im Rahmen der ihm gesetzlich eingeräumten Beteiligungsmöglichkeiten von § 75 Abs. 1 BetrVG konkretisiert werden.1 Eine weitere Konkretisierung des Konzepts findet sich in § 83 SGB IX, der besondere Integrationsvereinbarungen zugunsten Schwerbehinderter vorsieht.
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Nach herkömmlicher Auffassung zählt auch die in § 11 AGG vorgesehene Pflicht zur diskriminierungsneutralen Stellenausschreibung2 zu den präventiven Maßnahmen.3 Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der Richtlinien,4 hält eine diskriminierende Stellenanzeige potentielle Bewerber von einer Bewerbung ab. Darin liegt die Verletzung ihres unionsrechtlich gewährten Gleichbehandlungsanspruchs. § 11 AGG ist deshalb die Konkretisierung einer unmittelbar aus § 7 Abs. 1 AGG folgenden Pflicht des Arbeitgebers,5 die über § 15 AGG zu sanktionieren ist.
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Zu den präventiven Maßnahmen zählt auch die Pflicht der Mitgliedstaaten, eine unabhängige Gleichstellungsinstitution zu benennen (Art. 13 AntiRass-RL, 20 GeschlRL).6 Ihr Zweck besteht darin, die mit der Diskriminierung verbundenen Probleme zu analysieren, Lösungen zu prüfen und den potentiell Verletzten konkrete Hilfe anzubieten.7 Dadurch soll der Diskriminierungsschutz effektiviert werden. Vorbild dafür war die U.S. Equal Employment Opportunity Commission (EEOC), wenngleich die in der Richtlinie vorgesehenen Kompetenzen weit hinter denen der EEOC zurückbleiben.8
245
In Deutschland wird diese Pflicht in §§ 25 ff. AGG umgesetzt. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bietet unter www.antidiskriminierungsstelle.de ein umfangreiches Webangebot an, darunter einen Überblick über ausgewählte Entscheidungen deutscher Gerichte und relevanter Entscheidungen des EuGH ab dem Jahr 2000.
246
4. Reaktive Maßnahmen Die Richtlinien unterschieden zwischen der Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und den Sanktionen bei seiner Verletzung. Der Anspruch auf Gleichbehandlung ist der in den Richtlinien geregelte „Primäranspruch“. Die in den Richtlinien nur rudimentär geregelten Sanktionen werden auf mitgliedstaatlicher Ebene von den Sekundäransprüchen umgesetzt.9 1 Schwering, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Aufgabe und Instrument des Betriebsrates, 2010, S. 40 ff., 249 ff.; speziell zu den betriebsverfassungsrechtlichen Handlungsmöglichkeiten Falke/Rust/Bertelsmann, AGG, § 17 Rz. 15 ff. 2 Zu den Anforderungen in der Praxis vgl. Schleusener/Suckow/Voigt/Suckow, AGG, § 11 Rz. 20 ff. 3 BT-Drucks. 16/1780, 36; Falke/Rust/Falke, AGG, § 11 Rz. 1; Schleusener/Suckow/Voigt/Suckow, AGG, § 11 Rz. 1. 4 Vgl. EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 25; v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 36, NZA 2013, 891. 5 Zu vereinfachend Schleusener/Suckow/Voigt/Suckow, AGG, § 11 Rz. 2 („genuin nationales Recht“). 6 Eine entsprechende Pflicht fehlt in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie. Zu den Voraussetzungen s. Schiek/Laskowski, AGG, Vorbem. zu §§ 25 Rz. 1 ff. 7 Vgl. ErwGr. 24 AntiRass-RL. 8 Näher Monen, Verbot der Diskriminierung, 2008, S. 256 ff. 9 Zum Begriff Grünberger, Personale Gleichheit, S. 726 (758).
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§3
Rz. 248
Nichtdiskriminierungsrecht
a) Nichtigkeit diskriminierender Maßnahmen 248
Gegen Art. 157 Abs. 1 AEUV verstoßende Bestimmungen in Gesetzen, Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen oder Arbeitsverträgen dürfen aufgrund des Anwendungsvorrangs des Primärrechts nicht angewendet werden.1
249
Im Anwendungsbereich der Richtlinien müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass alle mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht vereinbaren Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen, Betriebsordnungen und Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für nichtig erklärt werden können (Art. 14 Buchst. b AntiRass-RL, 16 Buchst. b Gleichb-RL, 23 Buchst. b Geschl-RL). Gesetzliche oder tarifvertragliche Regelungen, die eine mit der Richtlinie unvereinbare Diskriminierung enthalten, dürfen nicht angewendet werden.2 Die Nichtigkeit betrifft zwangsläufig nur Rechtsgeschäfte. Die Folgen tatsächlicher Handlungen sind über den Beseitigungsanspruch zu sanktionieren.3
250
Die Richtlinien werden mit § 7 Abs. 2 AGG umgesetzt. Umstritten, aber praktisch nicht relevant ist, ob es wegen des Verbotscharakters von § 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 134 BGB dieser Anordnung bedurft hätte.4 Die Norm erfasst alle Bestimmungen in der arbeitsrechtlichen Normhierarchie unterhalb der Ebene des einfachen Gesetzes.5 Problematisch ist, ob in den Fällen, in denen nur eine Regelung eines umfassenderen Regelwerks diskriminierende Wirkung hat, Gesamt- oder Teilnichtigkeit anzunehmen ist und wie die Lücke zu schließen ist.6 Ist die Ungleichbehandlung Folge eines einheitlichen Regelungskomplexes, beispielsweise eines Stufensystems, ist umstritten, ob man zwischen diskriminierungsfreien und diskriminierenden Teilregelungen unterscheiden kann.7 Unionsrechtlich betrachtet gehören die hier diskutierten Fragen in den Komplex der Beseitigung der Benachteiligung. b) Beseitigung der Auswirkungen ungleicher Maßnahmen
251
Das Unionsrecht trifft keine Aussagen darüber, wie die Folgen einer eingetretenen Diskriminierung zu beseitigen sind. Das Problem stellt sich insbesondere bei einem diskriminierenden Begünstigungsausschluss und bei Vergütungsregelungen.
252
Der EuGH entscheidet zu Art. 157 AEUV in ständiger Rechtsprechung, dass die benachteiligten Personen grundsätzlich einen Anspruch auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Arbeitnehmer haben.8 Die „Anpassung nach oben“ ist er1 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 – Allonby, Slg. 2004, I-873 – Rz. 77; v. 21.7.2007 – verb. Rs. C-231/06 bis C-233/06 – Jonkman u.a., Slg. 2007, 5149 – Rz. 39. 2 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 – Marshall, Slg. 1986, 723 – Rz. 54 ff.; v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 57; v. 27.2.2003 – Rs. C-320/01 – Busch, Slg. 2003, I-2041 – Rz. 49; v. 31.7.2007 – verb. Rs. C-231/06 bis C-233/06 – Jonkman u.a., Slg. 2007, I-5149 – Rz. 39 m.w.N. 3 BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 21 AGG Rz. 23. 4 Näher MünchKomm/BGB/Thüsing, § 7 AGG Rz. 11. 5 Schleusener/Suckow/Voigt/Schleusener, AGG, § 7 Rz. 39; BeckOGK-BGB/Benecke, § 7 AGG Rz. 31 ff. 6 Dazu Kamanabrou, ZfA 2006, 327 (332 ff.); Krebber, EuZA 2009, 201 (209 ff.); BeckOGK-BGB/ Benecke, § 7 AGG Rz. 36 ff. 7 Dazu Kamanabrou, ZfA 2006, 327 (334); Krebber, EuZA 2009, 201 (213); Lingemann/Gotham, NZA 2007, 663 (668); Temming, RdA 2008, 205 (216 f.); Wiedemann, NZA 2007, 950 (953). 8 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 14 f.; v. 27.6.1990 – Rs. C-33/89 – Kowalska, Slg. 1990, I-291 – Rz. 19; v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 – Nimz, Slg. 1991, I-297 – Rz. 18; v. 21.7.2007 – verb. Rs. C-231/06 bis C-233/06 – Jonkman, Slg. 2007, 5149 – Rz. 39; Einzelheiten bei Krebber, EuZA 2009, 201.
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Sanktionen
Rz. 254
§3
forderlich, um das Ziel des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu erreichen,1 die Diskriminierung unverzüglich und vollständig zu beseitigen.2 Die Regelung, die für die nicht diskriminierten Arbeitnehmer gilt, ist nämlich das einzig gültige Bezugssystem, mit dem die Gleichbehandlung sofort verwirklicht werden kann.3 Unerheblich ist, ob die bisherige Benachteiligung auf dem Einzelarbeitsverhältnis, einer Betriebsvereinbarung oder auf Tarifvertrag beruht.4 Für die Zukunft können der Arbeitgeber oder die Kollektivvertragsparteien gestalterische und ihrerseits diskriminierungsfreie Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung treffen.5 Insbesondere dürfen die bisher bestehenden Vergünstigungen der bevorzugten Gruppe oder Individuen eingeschränkt werden.6 Dies darf allerdings nicht schrittweise erfolgen, weil darin ein – wenn auch nur vorübergehender – Fortbestand der Diskriminierung liegt.7 Bei Verstößen gegen das sekundärrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot aus Gründen des Geschlechts sind die nationalen Gerichte verpflichtet, die Diskriminierung auf jede denkbare Weise und insbesondere dadurch auszuschließen, dass sie die begünstigenden Regelungen zugunsten der benachteiligten Gruppe anwenden, ohne die Beseitigung der Diskriminierung durch den Gesetzgeber, die Tarifvertragsparteien oder in anderer Weise abwarten zu müssen.8 Es kommt daher i.d.R. zu einer „Anpassung nach oben“. Dieser Ansatz ist im Grundsatz auf die Antirassismus- und Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie zu übertragen. Der EuGH hat allerdings für das Merkmal entschieden, dass für einen befristeten Übergangszeitraum einige der diskriminierenden Auswirkungen des alten Systems bestehen bleiben können, wenn die Sozialpartner für die bereits in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden Angestellten den Übergang zum neuen System ohne Einkommensverluste gewährleisten wollten.9 Auf diese Flexibilität können sich nur Sozialpartner berufen.10 Nicht restlos geklärt ist, ob diese Flexibilität auch für Diskriminierungen aufgrund anderer Merkmale gilt und ob sie auch auf Art. 157 Abs. 1 AEUV übertragen werden kann.11
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Soweit die nationalen Gerichte verpflichtet sind, diskriminierende Vorschriften des nationalen Rechts nicht mehr anzuwenden,12 ist die Regelung, die für die nicht diskriminierten Arbeitnehmer gilt, auch hier das einzig gültige Bezugssystem, mit dem die Gleichbehandlung sofort verwirklicht werden kann.13 Insgesamt kann man aus
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1 EuGH v. 17.4.1997 – Rs. C-147/95 – Dimossia Epicheirissi Ilektrismo, Slg. 1997, I-2057 – Rz. 42. 2 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-408/92 – Smith u.a. v. Avdel Systems, Slg. 1994, I-4435 – Rz. 25. 3 EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 – Nimz, Slg. 1991, I-297 – Rz. 18; v. 28.9.1994 – Rs. C-2001/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 31. 4 EuGH v. 27.6.1990 – Rs. C-33/89 – Kowalska, Slg. 1990, I-291 – Rz. 19; v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 – Nimz, Slg. 1991, I-297 – Rz. 20. 5 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-408/92 – Smith u.a. v. Avdel Systems, Slg. 1994, I-4435 – Rz. 17; v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 33. 6 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-408/92 – Smith u.a. v. Avdel Systems, Slg. 1994, I-4435 – Rz. 21. 7 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-408/92 – Smith u.a. v. Avdel Systems., Slg. 1994, I-4435 – Rz. 26. 8 EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 – Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 – Rz. 75; v. 18.11.2004 – Rs. C-284/02 – Land Sass, Slg. 2004, I-11143 – Rz. 55; v. 31.7.2007 – verb. Rs. C-231/06 bis C-233/06 – Jonkman u.a., Slg. 2007, I-5149 – Rz. 39 m.w.N. 9 EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 und C-298/10 – Hernnigs und Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 79 ff.; dazu Henssler/Kaiser, RdA 2012, 248 (251 f.). 10 Vgl. EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 und C-298/10 – Hernnigs und Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 92. 11 Wohl bejahend Krebber, JZ 2012, 1078. 12 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 77; v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 51. 13 A.A. Krebber, EuZA 2009, 201 (208 f.).
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§3
Rz. 255
Nichtdiskriminierungsrecht
der Rechtsprechung des EuGH1 einen allgemeinen Rechtsgrundsatz ableiten, wonach der Gleichheitssatz nur dadurch gewahrt werden kann, indem man die Vergünstigungen, die die Mitglieder der begünstigten Gruppe erhalten, auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe erstreckt,2 solange der Normadressat keine abweichende und ihrerseits gleichheitskonforme Regelung getroffen hat. 255
Der beschäftigungsrechtliche Teil des AGG enthält – im Unterschied zu § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG – keine explizite Anspruchsgrundlage für die Beseitigung einer eingetretenen Benachteiligung. Nach einer Auffassung ist § 7 Abs. 2 AGG unionsrechtskonform als Anspruchsgrundlage aufzufassen.3 Überzeugender ist es, aus § 7 Abs. 1 AGG als Rechtsfolge einen gesetzlichen4 Beseitigungsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber abzuleiten.5 Jener darf diskriminierungsfreies Verhalten erwarten und bei sachwidrigen Differenzierungen deren Ausgleich (Beseitigung) und gegebenenfalls Unterlassung fordern.6 Ziel des Anspruchs ist es, die aufgrund der Benachteiligung eingetretene Beeinträchtigung des Rechts auf Gleichbehandlung effektiv zu beseitigen.7 Der Arbeitgeber ist wegen § 12 Abs. 3 und 4 AGG bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen auch dann passivlegitimiert, wenn die Störung des Gleichbehandlungsgrundsatzes von anderen Arbeitnehmern oder Dritten ausgeht.
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Gemeinsame Voraussetzung der Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche ist der Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot, § 7 Abs. 1 AGG. Daher muss eine Benachteiligung nach § 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 3 AGG objektiv vorliegen, die auch nicht nach §§ 5, 8–10 AGG gerechtfertigt ist. Ob der Beseitigungs- oder der Unterlassungsanspruch oder beide kumulativ gegeben sind, hängt davon ab, ob die Benachteiligung bereits eingetreten ist und im Zeitpunkt der Entscheidung noch fortbesteht – dann Beseitigung8 – oder eine zukünftige Beeinträchtigung abgewehrt werden soll – dann Unterlassung. c) Anforderungen an die Sanktionierung
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Art. 15 AntiRass-RL, 17 Gleichb-RL verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung der jeweiligen Richtlinie Sanktionen zu verhängen und alle geeigneten bzw. erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Art. 18 Geschl-RL enthält strengere Anforderungen (vgl. Rz. 262).
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Diese Vorgaben beruhen auf der Erkenntnis, dass wirkliche Chancengleichheit nicht ohne eine geeignete Sanktionsregelung erreicht werden kann.9 Der Zweck der Sank1 Vgl. EuGH v. 31.7.2007 – verb. Rs. C-231/06 bis C-233/06 – Jonkman u.a., Slg. 2007, I-5149 – Rz. 39 m.w.N. 2 GA Kokott v. 6.5.2010 – Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark (Andersen), Slg. 2010, I-9343 – Rz. 85. 3 Schleusener/Suckow/Voigt/Schleusener, AGG, § 7 Rz. 47; vgl. BAG v. 20.8.2002 – 9 AZR 710/00, NZA 2003 510 (512) zur Vorgängerregelung. 4 Anders wohl BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211 – Rz. 44, wo die Ansprüche aus § 15 AGG vertragsrechtlich qualifiziert werden. 5 Mansel, FS Canaris, 2007, Bd. I, S. 799 (812). 6 Wiedemann, NZA 2007, 950 (953). 7 Näher Grünberger, Personale Gleichheit, S. 726. 8 Hey/Kremer, AGG, § 21 Rz. 12 f.; Gaier/Wendtland, AGG, Rz. 191; MünchKomm/BGB/Thüsing, § 21 AGG Rz. 9. 9 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 22; v. 10.4. 1984 – Rs. 79/83 – Harz, Slg. 1984, 1921 – Rz. 22.
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Sanktionen
Rz. 261
§3
tionen besteht darin, die verletzte Gleichheit wiederherzustellen.1 Die Richtlinien übernehmen die vom EuGH in seiner Rechtsprechung zur Richtlinie 76/207/EWG herausgearbeiteten Anforderungen an die mitgliedstaatlichen Sanktionen:2 Sie müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.3 Die Antirassismus- und die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie schreiben – wie zuvor die Richtlinie 76/207/EWG – keine bestimmten Sanktionen vor. Sie überlassen dem Mitgliedstaat die Auswahl unter den Lösungen, die geeignet bzw. erforderlich sind, das Ziel der tatsächlichen Chancengleichheit herzustellen.4 Die Sanktionen müssen einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Richtlinien hergeleiteten Rechte gewährleisten.5 Sie müssen mit dem Gewicht der zu ahndenden Verstöße korrelieren, d.h. einerseits eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleisten,6 andererseits dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.7 Eine rein symbolische Sanktion genügt nicht.8
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Im Ausgangspunkt reicht die Bandbreite von Sanktionen vom Kontrahierungszwang über finanzielle Entschädigungen hin zu Bußgeldern.9 Eine einfache Verwarnung ist i.d.R. nicht ausreichend.10 Eine genaue Analyse der Entscheidungen ergibt allerdings, dass neben der Beseitigung (vgl. Rz. 251 ff.) nur die (Wieder-)Einstellung oder ein Schadensersatz- bzw. Entschädigungsanspruch gleichwertige Alternativen für eine effektive Sanktionierung sind.11 Damit dürfte die Entscheidung eines Mitgliedstaates, den Rechtsverstoß ausschließlich mit Straf- oder Bußgeldvorschriften zu bewehren, nicht unionsrechtskonform sein.12 Das Unionsrecht erlaubt auch Kombinationslösungen. Allerdings ist zu beachten, dass ein schadensersatzrechtliches Element jeweils für sich genommen den dafür geltenden Mindestanforderungen genügen muss (vgl. Rz. 262 f.).13
260
Nach § 15 Abs. 6 AGG begründet der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot keinen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses. Der ausdrückliche Ausschluss dieses Anspruchs ist unionsrechtskonform, wenn eine effektive
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1 EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367 – Rz. 24. 2 Vgl. dazu Benecke/Kern, EuZW 2005, 360 (361 ff.); Kamanabrou, ZfA 2006, 327 (328 ff.). 3 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 23; v. 10.4. 1984 – Rs. 79/83 – Harz, Slg. 1984, 1921 – Rz. 23; v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, I-3941 – Rz. 23; v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367 – Rz. 24; v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 24. 4 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 61, NZA 2013, 891 (zur GleichbRL); v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 37 (zur AntiRass-RL). 5 EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 – Paquay, Slg. 2007, I-8511 – Rz. 45; v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 63, NZA 2013, 891 (zur RL 2000/78/EG). 6 EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367 – Rz. 24; v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 – Paquay, Slg. 2007, I-8511 – Rz. 45. 7 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 63 m.w.N., NZA 2013, 891 (zur Gleichb-RL). 8 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 64, NZA 2013, 891. 9 Grundlegend EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891. 10 Vgl. EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 68 f. m.w.N., NZA 2013, 891. 11 Ausdrücklich EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367 – Rz. 25; vgl. Basedow, ZEuP 2008, 230 (239). 12 Kossak, Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot im allgemeinen Zivilrechtsverkehr, 2009, S. 25 f. 13 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs.14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 23 f.; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz, 2010, S. 59; a.A. Kamanabrou, ZfA 2006, 327 (337 f.), die eine Kombination von jeweils verschuldensabhängigem Bußgeld und Schadensersatz für möglich hält.
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§3
Rz. 262
Nichtdiskriminierungsrecht
Sanktion über einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch sichergestellt ist. Das ist bei richtlinienkonformer Auslegung1 des § 15 Abs. 2 AGG, die unionsrechtlich geboten ist, der Fall (vgl. Rz. 267). Der Ausschluss nach § 15 Abs. 6 AGG wird traditionell mit dem Vorrang der Abschlussfreiheit des Arbeitgebers gegenüber dem Gleichbehandlungsanspruch des Bewerbers begründet.2 Überzeugender ist es, darin eine Vorschrift zum Schutz des eingestellten Bewerbers zu sehen.3 Der Ausschluss des Kontrahierungszwangs gilt nicht „für einen anderen Rechtsgrund“. Das betrifft insbesondere Ansprüche aus Art. 33 Abs. 2 GG und § 81 SGB IX. d) Besonderheiten beim Schadensersatz 262
Für Ungleichbehandlungen aufgrund der „Rasse“ oder ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung ist der Schadensersatz im Ausgangspunkt ein optionales Sanktionselement (vgl. Rz. 259 f.). Bei einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts muss dagegen sichergestellt werden, dass der entstandene Schaden tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird, wobei dies auf eine abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise geschehen muss (Art. 18 Geschl-RL).
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Der Schadensersatz muss in angemessenem Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen.4 Eine symbolische Entschädigung genügt nicht.5 Die finanzielle Wiedergutmachung ist nur dann angemessen, wenn damit die von der diskriminierenden Maßnahme tatsächlich verursachten Nachteile in vollem Umfang ausgeglichen werden können.6 Jeder Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot muss für sich genommen ausreichen, die volle Haftung des Normadressaten zu begründen.7 Insbesondere kommt es nicht auf sein Verschulden an.8 Das Unionsrecht bezweckt damit weder eine „Bestrafung“ des Benachteiligenden noch eine vom Schaden losgelöste Abschreckung, sondern Prävention durch Schadensausgleich.9 Leitlinie dafür ist die volle Kompensation sämtlicher Beeinträchtigungen, die aus der Benachteiligung herrühren, unabhängig davon, ob es sich um materielle oder immaterielle Schäden handelt. Die Modalitäten sind von den Mitgliedstaaten festzulegen.
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Sie können entweder einen einheitlichen Entschädigungsanspruch vorsehen oder zwischen Vermögensschaden und Nichtvermögensschaden trennen.10 Eine einheitliche Entschädigungsregelung muss insgesamt verschuldensunabhängig ausgestaltet sein.11 In der Rs. Draehmpaehl ging es um einen „Entschädigungsanspruch“, der nach deutschem Verständnis dem Ersatz immaterieller Schäden dient. Dahinter steht die Erwä1 Vgl. zu § 611a BGB a.F.: EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 31 ff. 2 Statt vieler MünchKomm/BGB/Thüsing, § 15 AGG Rz. 43. 3 Dazu Grünberger, Personale Gleichheit, S. 728. 4 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 23; v. 10.4. 1984 – Rs. 79/83 – Harz, Slg. 1984, 1921 – Rz. 23; v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 25 ff. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 24; v. 10.4. 1984 – Rs. 79/83 – Harz, Slg. 1984, 1921 – Rz. 24. 6 EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 – Paquay, Slg. 2007, I-8511 – Rz. 46. 7 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, I-3941 – Rz. 25. 8 EuGH – Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, I-3941 – Rz. 22, 24; v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 Rz. 17, 21 f. 9 Stoffels, RdA 2009, 204 (206 f.); Wagner, AcP 206 (2006), 352 (398 ff.). 10 Näher Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085 (1093 f.). 11 EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 19.
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Grünberger
Sanktionen
Rz. 266
§3
gung, der Bewerber hätte die Stelle ohnehin nicht bekommen und daher habe die Benachteiligung lediglich eine immaterielle Schädigung hervorgerufen, die in der Kränkung der Person liege.1 Das ist keine unionsrechtliche Differenzierung.2 Der erlittene Schaden besteht in der Nichtberücksichtigung seiner Bewerbung wegen einer Diskriminierung.3 Dieser „Nichtberücksichtigungsschaden“ ist nicht zwangsläufig ein immaterieller Schaden. Er hat ohne Weiteres auch materielle Komponenten.4 In den Rs. Dekker und Draehmpaehl entschied der EuGH, dass bei einer Sanktion, die sich in „die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers einfügt, jeder Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot für sich genommen ausreichen muss, um die volle Haftung seines Urhebers auszulösen“.5 Es geht also nicht darum, dass eine abschreckende Sanktion etabliert werden müsste. Vielmehr müssen alle vom Mitgliedstaat vorgesehenen Sanktionen jeweils für sich betrachtet wirksam und abschreckend sein. Das sind sie zumindest nur begrenzt, wenn sie verschuldensabhängig sind. Dabei ist nicht maßgeblich, ob das Verschuldenserfordernis praktisch unerheblich ist.6 Die Konzeption des Unionsrechts ist insoweit klar: Entscheidet sich das nationale Recht für eine zivilrechtliche Haftung des Diskriminierenden, haftet dieser bei jedem Verstoß. Das gilt für jede aus der Benachteiligung folgenden Beeinträchtigung.
265
§ 15 Abs. 1 AGG schließt den Ersatz der materiellen Schäden (§§ 249 ff. BGB) aus, wenn der Arbeitgeber „die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat“. Damit wird das Konzept des § 280 Abs. 1 BGB auf das AGG übertragen.7 Obwohl Vorsatz oder Fahrlässigkeit (§ 276 BGB) sowie das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) vermutet wird, ist der Schadensersatzanspruch verschuldensabhängig ausgestaltet. Es ist zweifelhaft, ob sich diese Lösung noch mit den Vorgaben der Richtlinien vereinbaren lässt. Nach Auffassung vieler ist das Verschuldenserfordernis richtlinienwidrig.8 Nach der Gegenauffassung enthalte das AGG bereits eine Reihe verschuldensunabhängiger Ansprüche, mit denen die effektive Sanktionierung von Rechtsverstößen gewährleistet sei. Dazu komme, dass der Benachteiligte nicht das Verschulden des Normadressaten nachweisen müsse, sondern dieser vielmehr Gründe darzulegen und zu beweisen habe, die ein Verschulden ausnahmsweise ausschlössen. Daher sei die Regelung unionsrechtskonform.9 Das kann nicht überzeugen. Es gibt keinen Spielraum, um zwischen materiellen und immateriellen Schäden zu differenzieren. Weil das AGG eine schadensersatzrechtliche Sanktion und eine Entschädigung vorsieht, ist der Spielraum des Mitgliedstaats begrenzt. Das Verschuldenserfordernis in § 15 Abs. 1 AGG ist daher richtlinienwidrig. Weil die Richtlinien insofern ausreichend konkretisiert sind, ist es wegen eines Verstoßes gegen Art. 21 und 23 GRC nicht anzuwenden.10 Insoweit ist eine Vorlage an den EuGH angezeigt.
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Exemplarisch Willemsen/Schweibert, NJW 2006, 2583 (2589). Zum Folgenden Wagner/Potsch JZ 2006, 1085 (1094 f.). EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 31, 34. Siehe EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 5. EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, I-3941 – Rz. 25; v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 18 ff. EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 20. BT-Drucks. 16/1780, 38. Kamanabrou, RdA 2006, 321 (335); Schiek/Kocher, AGG, § 15 Rz. 19; BeckOK-ArbR/Roloff, § 15 AGG Rz. 2 f.; ErfK/Schlachter, § 15 AGG Rz. 5; Stoffels, RdA 2009, 204 (210); Wagner/ Potsch, JZ 2006, 1085 (1091); MünchKomm/BGB/Thüsing, § 15 AGG Rz. 25. Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, § 15 Rz. 15; Hanau, ZIP 2006, 2189 (2201); Wendeling-Schröder/Stein/Stein, AGG, § 15 Rz. 16. ErfK/Schlachter, § 15 AGG Rz. 5.
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§3
Rz. 267
Nichtdiskriminierungsrecht
267
§ 15 Abs. 2 AGG enthält einen Entschädigungsanspruch für immaterielle Schäden. Grundlage dafür ist die in der Diskriminierung liegende Verletzung des Anspruchs auf gleiche Behandlung. Ob darin auch eine Persönlichkeitsrechtsverletzung liegt, ist für die Anwendung der Norm irrelevant.1 Das AGG ist kein Persönlichkeitsschutzgesetz, sondern ein Gleichbehandlungsgesetz.2 § 15 Abs. 2 AGG ist nach Auffassung des BAG eine Rechtsfolgenregelung, für deren Voraussetzungen auf § 15 Abs. 1 AGG zurückzugreifen ist.3 Der Entschädigungsanspruch ist dennoch – aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung4 – verschuldensunabhängig ausgestaltet.5 Der Arbeitgeber schuldet eine angemessene Entschädigung, § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG. Dem Gericht wird hinsichtlich der Höhe der Entschädigung ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, innerhalb dessen es die Besonderheiten jedes einzelnen Falls zu berücksichtigen hat.6 Dabei kommt dem Sanktionszweck der Norm eine wichtige Bedeutung zu. Die Höhe ist auch danach zu bemessen, was zur Erzielung einer abschreckenden Wirkung erforderlich ist. Der Arbeitgeber soll von künftigen Diskriminierungen abgehalten werden, wobei die Entschädigung in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen muss.7
268
Erfolgt die Benachteiligung bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen, ist der Arbeitgeber zur Entschädigung nur verpflichtet, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat, § 15 Abs. 3 AGG. Damit wird die Entschädigung in diesen Konstellationen wieder an ein Verschulden geknüpft. Das ist unionsrechtswidrig.8 Die Frage ist zur Entscheidung dem EuGH vorzulegen.9
269
Die Mitgliedstaaten dürfen zwischen zwei Kategorien von Bewerbern unterscheiden: Bei Bewerbern, die eine Stelle auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätten, weil der eingestellte Bewerber besser qualifiziert war,10 besteht der Schaden in der diskriminierenden Nichtberücksichtigung der Bewerbung. Bewerber, die bei diskriminierungsfreier Auswahl hätten eingestellt werden müssen, erleiden dagegen einen Schaden aufgrund der nicht erfolgten Einstellung.11 Der Mitgliedstaat darf eine Höchstgrenze festlegen, wenn der Bewerber die Stelle auch bei diskriminierungsfreier Berücksichtigung nicht erhalten hätte (Art. 18 Satz 2 Geschl-RL).
270
Davon macht § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG in richtlinienkonformer Weise Gebrauch. Ist ein Entschädigungsanspruch gem. § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG dem Grunde nach gegeben, hat der Arbeitgeber die für ihn günstigere Tatsache zu beweisen, dass der Bewerber bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre und damit die in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG festgelegte Höchstgrenze für die Entschädigung 1 Vertiefend BeckOGK-BGB/Grünberger/Block, § 21 AGG Rz. 70 ff. 2 Grünberger, Personale Gleichheit, S. 554 f.; a.A. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht, 2012, 155 ff. 3 BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667 – Rz. 30. 4 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945 – Rz. 66. 5 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945 – Rz. 61 ff.; v. 18.3.2010 – 8 AZR 1044/08, NZA 2010, 1129 – Rz. 36; v. 22.8.2013 – 8 AZR 563/12, NZA 2014, 82 – Rz. 37. 6 BAG v. 18.3.2010 – 8 AZR 1044/08, NZA 2010, 1129 – Rz. 19, 39, 41. 7 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945 – Rz. 82; v. 18.3.2010 – 8 AZR 1044/08, NZA 2010, 1129 – Rz. 41. 8 Jacobs, RdA 2009, 193 (197 f.); v. Roetteken, NZA-RR 2013, 337 (344); MünchKomm/BGB/ Thüsing, § 15 AGG – Rz. 41; a.A. ArbG Köln v. 28.11.2013 – 15 Ca 3879/13, BeckRS 2013, 7422 – Rz. 60 ff.; Schleusener/Suckow/Voigt/Voigt, AGG, § 15 Rz. 59. 9 Unzutreffend ArbG Köln v. 28.11.2013 – 15 Ca 3879/13, BeckRS 2013, 7422 – Rz. 60 ff. 10 Zur Beweislast des Arbeitgebers EuGH, Urt. v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 36. 11 EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 31 ff.
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Sanktionen
Rz. 273
§3
zum Tragen kommt.1 Die Höchstgrenze gilt nur für die Einstellung. Ob sich die Entschädigungshöhe bei anderen Rechtsverletzungen daran orientieren darf,2 ist fraglich. Ein Automatismus wäre mit den Richtlinien nicht vereinbar. 5. Viktimisierung Die letzte Säule der unionsrechtlichen Vorgaben an die Rechtsdurchsetzung ist der Schutz vor Viktimisierung.3 Wer sich gegen eine Diskriminierung beschwert oder ein Verfahren zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsanspruchs einleitet, ist vor Entlassungen oder anderen Benachteiligungen als Reaktion darauf (retaliation4) zu schützen (Art. 9 AntiRass-RL, 11 Gleichb-RL, 24 Geschl-RL). Darunter fällt beispielsweise die Weigerung des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer ein Zeugnis zu erteilen.5 Der Schutz vor Viktimisierung soll sicherstellen, dass die von einer Diskriminierung betroffenen Personen nicht davor abgeschreckt werden, ihre Rechte zu verfolgen.6
271
Der Schutz vor Viktimisierung beschränkt sich nicht auf den Träger eines verpönten Merkmals. Der Wortlaut der Richtlinienbestimmungen sieht keine Identität von Merkmalsträger und Viktimisierungsopfer vor. Die Richtlinien verzichten auch auf eine Identität der zunächst benachteiligten Person mit der danach gemaßregelten Person. Danach sind die Arbeitnehmer bzw. die vorgesehenen Arbeitnehmervertreter vor Benachteiligungen zu schützen, die als Reaktion auf eine Beschwerde oder Verfahrenseinleitung erfolgen. Vorausgesetzt wird lediglich, dass eine Maßnahme zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes eingeleitet wurde. Jeder, der daran beteiligt ist, ist seinerseits vor benachteiligenden Handlungen zu schützen.
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Das AGG kennt ein Beschwerderecht zugunsten der Benachteiligten (§ 13 Abs. 1 AGG). Der Beschwerdeführer hat ein subjektives Recht darauf, dass sich eine dafür vorzusehende Stelle im Unternehmen mit seiner Beschwerde befasst und ihm die Gründe einer Entscheidung mitteilt (§ 13 Abs. 1 Satz 2 AGG).7 Daneben enthält das AGG mit dem Maßregelungsverbot in § 16 Abs. 1 AGG eine Spezialnorm zum allgemeinen Maßregelungsverbot (§ 612a BGB). Das Recht schützt die Freiheit des Beschäftigten, selbstständig und ohne Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen entscheiden zu können, ob und wie er seine Rechte aus dem AGG ausübt.8 Es verbietet dem Arbeitgeber, an die Rechtsausübung anzuknüpfen.9
273
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BAG v. 19.8.2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412 – Rz. 67, 78. So MünchKomm/BGB/Thüsing, § 15 AGG Rz. 12. Zum Folgenden bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 719 f. Vgl. zur Herkunft aus dem U.S.-Recht: Supreme Court v. 15.12.1969 – Sullivan v. Little Hunting Park, Inc. – U.S. 396 (1969), 229; v. 29.3.2005 – Jackson v. Birmingham Board of Education – U.S. 544 (2005), 167; v. 27.5.2008 – CBOCS West, Inc. v. Humphries – U.S. 553 (2008), 442; vertiefend dazu Brake, Minnesota Law Review 90 (2005), 18. EuGH v. 22.9.1998 – Rs. C-185/97 – Coote, Slg. 1998, I-5199 – Rz. 27. EuGH v. 22.9.1998 – Rs. C-185/97 – Coote, Slg. 1998, I-5199 – Rz. 27. Näher Oetker, NZA 2008, 264. Vgl. BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 116/04, NZA 2005, 1117 (1121) (zu § 612a BGB). BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 116/04, NZA 2005, 1117, 1121 (zu § 612a BGB).
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§3
Rz. 274
Nichtdiskriminierungsrecht
VIII. Rechtsdurchsetzung 1. Individuelle Rechtsdurchsetzung 274
Weil Art. 157 Abs. 1 AEUV im Arbeitsverhältnis unmittelbar anwendbar ist, können sich Arbeitnehmer bei einem Verstoß gegen das Gebot der Entgeltgleichheit vor mitgliedstaatlichen Gerichten unmittelbar auf die Norm berufen.1
275
Für den Fall einer behaupteten Rechtsverletzung des sekundärrechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts muss den Betroffenen der Rechtsweg zu den Gerichten eröffnet oder die Einschaltung der Verwaltungsbehörden ermöglicht werden (Art. 7 Abs. 1 AntiRass-RL, 9 Abs. 1 Gleichb-RL). Bei Benachteiligungen wegen des Geschlechts in Beschäftigung und Beruf ist immer der Rechtsweg vorzusehen (Art. 17 Abs. 1 GeschlRL). Das geht zurück auf die Rechtsprechung des EuGH zur vormaligen Richtlinie 76/207/EWG, wonach die betroffenen Personen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz durch ein Gericht haben.2 Danach trifft die Mitgliedstaaten eine im Primärrecht (Art. 47 Abs. 1 GRC) verankerte Pflicht, sicherzustellen, dass die Einhaltung des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots effektiv richterlich kontrolliert wird.3 Die Mitgliedstaaten können zusätzlich auch ein Schlichtungsverfahren vorsehen.4 Die Mitgliedstaaten haben wirksame Maßnahmen vorzusehen, mit denen die Ziele der Richtlinien erreicht werden und müssen dafür Sorge tragen, dass die Betroffenen die ihnen dadurch verliehenen Rechte auch tatsächlich vor den innerstaatlichen Gerichten geltend machen können.5
276
Das deutsche Recht hat sich im Prinzip für eine individualrechtliche Verfolgung von Verstößen gegen das Nichtdiskriminierungsrecht entschieden. Die Personen, die eine Verletzung des Gleichbehandlungsanspruchs behaupten, haben diese im arbeitsgerichtlichen, zivilverfahrensrechtlichen oder verwaltungsverfahrensrechtlichen Streitverfahren durchzusetzen (vgl. § 24 AGG).
277
Mangels einer einschlägigen Regelung im Unionsrecht ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen, die zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren zu bestimmen, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen.6 Die mitgliedstaatlichen Rechte und Rechtsbehelfe dürfen nicht weniger günstig ausgestaltet sein als bei entsprechenden Klagen des rein innerstaatlichen Rechts (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der Rechte des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. § 1 Rz. 120 ff.).7
1 Grundlegend EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455 – Rz. 40; v. 7.9.2002 – Rs. C-320/00 – Lawrence, Slg. 2002, I-7325 – Rz. 13. 2 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 19. 3 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 19. 4 Zur Umsetzungsproblematik s. Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 186 ff. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 – Rz. 18; v. 15.5. 1986 – Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651 – Rz. 17; v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367 – Rz. 22; v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 24; v. 22.9.1998 – Rs. C-185/97 – Coote, Slg. 1998, I-5199 – Rz. 20. 6 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 25 m.w.N. 7 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 25 m.w.N.; vgl. dazu bereits EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 – Rz. 29.
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Rechtsdurchsetzung
Rz. 280
§3
Die Ansprüche sind unabhängig davon durchsetzbar, ob das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien noch besteht.1 Die Mitgliedstaaten können allerdings Fristen für die Rechtsverfolgung vorsehen.2 Solche Ausschlussfristen unterliegen wie alle formellen und materiellen Verfahrensregelungen unionsrechtlichen Grenzen, insbesondere dem Äquivalenzprinzip3 und dem Effektivitätsgrundsatz.4 Angemessene Ausschlussfristen sind damit grundsätzlich vereinbar, weil sie dem grundlegenden Prinzip der Rechtssicherheit dienen.5 Eine Frist von zwei Monaten hat der EuGH akzeptiert.6 Einzige Voraussetzung ist, dass die Frist erst zum Zeitpunkt beginnt, zu dem der Benachteiligte von der behaupteten Diskriminierung Kenntnis erlangt.7
278
Das deutsche Recht enthält in § 15 Abs. 4 AGG eine Frist zur Geltendmachung der Ansprüche aus § 15 Abs. 1 und 2.8 Das ist eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist.9 Wird die Frist versäumt, ist der Anspruch unbegründet.10 § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG wird ergänzt durch § 61b Abs. 1 ArbGG. Danach kann eine Klage auf Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG – nicht aber auf Schadensersatz gem. § 15 Abs. 1 AGG11 – nur innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine materielle Ausschlussfrist.12 Beide Ausschlussfristen sind nach Auffassung des BAG mit den unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar.13 Allerdings ist § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG im Falle einer Bewerbung oder eines angestrebten beruflichen Aufstiegs unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Frist nicht vor dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Beschäftigte Kenntnis von der Benachteiligung erlangt.14 Der Zeitpunkt des Zugangs der Ablehnung ist daher der frühestmögliche Zeitpunkt des Fristbeginns.15
279
2. Kollektive Rechtsdurchsetzung Das Konzept der individuellen Rechtsverfolgung von Verstößen gegen das Nichtdiskriminierungsrecht hat Schwächen.16 Zur Effektivierung des Rechtsschutzes17 sehen die Richtlinien die Beteiligung von Verbänden am Verfahren vor. Den Mitgliedstaaten 1 Art. 7 Abs. 1 AntiRass-RL, 9 Abs. 1 Gleichb-RL, 17 Abs. 1 Geschl-RL; EuGH v. 22.9.1998 – Rs. C-185/97 – Coote, Slg. 1998, I-5199 – Rz. 24. 2 Art. 7 Abs. 3 AntiRass-RL, 9 Abs. 3 Gleichb-RL, 17 Abs. 3 Geschl-RL. 3 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 26 m.w.N. 4 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 35 m.w.N. 5 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 35 m.w.N. 6 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 39. 7 EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 41. 8 Zum umstrittenten Anwendungsbereich s. ErfK/Schlachter, § 15 AGG – Rz. 18; Jacobs, RdA 2009, 193 (200). 9 BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211 – Rz. 19 m.w.N. 10 Grothe in MünchKomm/BGB, Vor § 194 Rz. 10. 11 Str., wie hier ErfK/Koch, § 61b ArbGG Rz. 2; Schiek/Kocher, AGG, § 15 Rz. 62; a.A. BeckOKArbR/Hamacher, § 61b ArbGG Rz. 6; Jacobs, RdA 2009, 193 (202). 12 BAG v. 26.9.2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258 – Rz. 16. 13 BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211 – Rz. 20 ff.; v. 15.3.2012 – 8 AZR 37/11, NZA 2012, 901 – Rz. 29 ff.; näher Fischinger, Anm. AP Nr. 11 zu § 15 AGG; krit. Rust/EggertWeyand, ZESAR 2011, 186 (191 f.). 14 BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211 – Rz. 24; BAG v. 15.3.2012 – 8 AZR 37/11, NZA 2012, 901 – Rz. 54 ff. 15 BAG v. 15.3.2012 – 8 AZR 37/11, NZA 2012, 901 – Rz. 59. 16 Dazu Röttgen, Zivilrechtlicher Schutz vor Diskriminierung, 2004, S. 213 ff.; Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 192 ff. 17 Vgl. ErwGr. 19 AntiRass-RL, ErwGr. 29 Gleichb-RL, ErwGr. 31 Geschl-RL.
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280
§3
Rz. 281
Nichtdiskriminierungsrecht
wird überlassen, diese Beteiligung auszugestalten. Sie haben lediglich sicherzustellen, dass die Verbände entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und jeweils mit deren Einwilligung zu beteiligen sind. Dafür sind im Wesentlichen vier Wege denkbar: bloße Rechtsberatung und Prozessbegleitung, Prozessvertretung, Prozessstandschaft und die eigentliche Verbandsklage.1 Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung einer Verbandsklage.2 Im Gegenteil: Die zwingend vorgesehene Zustimmung des Verletzten setzt der Einführung einer genuinen Verbandsklage sogar unionsrechtliche Grenzen.3 Die Verbandsklage ist ein besonders adäquates Instrument zur Rechtsdurchsetzung in den Fällen, in denen ein Verband nicht im Namen einer bestimmten beschwerten Person handelt oder sich keine beschwerte Person feststellen lässt.4 281
§ 23 AGG ist eine sehr zurückhaltende Umsetzung des Grundsatzes der kollektiven Rechtsverfolgung.5 § 23 Abs. 1 Satz 1 AGG enthält eine, im Wortlaut an § 4 Abs. 2 UKlaG angelehnte,6 Legaldefinition der „Antidiskriminierungsverbände“.7 Diesen werden bestimmte verfahrensrechtliche Befugnisse eingeräumt, wenn sie eine bestimmte Mindestgröße aufweisen (§ 23 Abs. 1 Satz 2 AGG). Die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 AGG sind im Prozess bei der Frage der Postulationsfähigkeit des beteiligten Verbandes jeweils erneut zu prüfen. Nach § 23 Abs. 2 AGG können die Verbände als Beistand (§ 90 Abs. 1 Satz 1 ZPO) im Individualprozess des Betroffenen auftreten, unabhängig davon, ob ein Anwaltszwang besteht. Weil es sich dabei um eine Spezialregelung handelt, kommt es auf die konkrete Feststellung der Sachdienlichkeit nicht mehr an (vgl. §§ 90 Abs. 1 Satz 3 ZPO, 11 Abs. 6 Satz 3 ArbGG).8 Antidiskriminierungsverbände sind befugt, Rechtsangelegenheiten der Benachteiligten zu besorgen. Sie können außergerichtliche Rechtsdienstleistungen selbstständig erbringen (vgl. § 2 Abs. 1 und § 3 RDG). Darunter fällt jetzt auch die außergerichtliche und gerichtliche Geltendmachung abgetretener Ansprüche.9 Eine gesetzliche Prozessstandschaft der Antidiskriminierungsverbände ist nicht vorgesehen.10 Eine Ausnahme gilt für die in § 63 SGB IX geregelte Prozessstandschaft (§ 20 Abs. 4 AGG). Fraglich ist, ob der Verband als gewillkürter Prozessstandschafter in Betracht kommt.11 Ausgeschlossen ist ein eigenständiges Verbandsklagerecht.12 Eine Ausnahme enthält § 13 BBG für Behindertenverbände. Soweit die Antidiskriminierungsverbände zugleich die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 UKlaG erfüllen, haben sie die Möglichkeit, gegen diskriminierende Geschäftsbedingungen nach § 1 UKlaG vorzugehen.13 Dasselbe gilt für Ansprüche aus § 8 UWG. 1 Raasch, ZESAR 2005, 209 (210); ausführlich Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 198 ff. 2 Schiek, 8 ELJ 290 (299) (2002); vertiefend Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 194 ff.; a.A. Nickel, NJW 2001, 2668 (2171). 3 Dazu Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 225 ff. 4 Grundlegend EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 23 ff. 5 Vgl. Falke/Rust/Micklitz, AGG, § 23 Rz. 7. 6 BT-Drucks. 16/1780, 48. 7 Näher Gaier/Wendtland, AGG, 2006, Rz. 262 ff.; Thüsing/Burg, ZTR 2007, 71 (78 ff.). 8 Schleusener/Suckow/Voigt/Voigt, AGG, § 23 Rz. 13. 9 Schiek/Kocher, AGG, § 23 Rz. 21; Thüsing/Burg, ZTR 2007, 71 (78); a.A. Bauer/Göpfer/Krieger, AGG, § 23 Rz. 17. 10 Krit. dazu Schiek/Kocher, AGG, § 23 Rz. 18. 11 Vertiefend Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 207 ff. 12 Kritisch Raasch, ZESAR 2005, 209 (213 f.); zur Verbandsklagebefugnis ausländischer Verbände s. Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz, 2010, S. 375 ff. 13 Gaier/Wendtland, AGG, 2006, Rz. 278 ff.; Thüsing/Burg, ZTR 2007, 71 (76 f.).
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Grünberger
Rechtsdurchsetzung
Rz. 285
§3
3. Beweislastverteilung a) Grundzüge Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast1 zählt zu den wichtigsten Aufgaben effektiver Nichtdiskriminierungspolitik.2 Das Unionsrecht geht im Grundsatz davon aus, dass derjenige, der sich zur Stützung seines Anspruchs auf Tatsachen beruft, diese zu beweisen hat. Danach muss derjenige, der eine Ungleichbehandlung behauptet, die dafür maßgeblichen Tatsachen darlegen und beweisen, während der Normadressat des Diskriminierungsverbots die Voraussetzungen der allgemeinen Rechtfertigungsgründe bei der unmittelbaren Diskriminierung darlegen und beweisen muss.3 Bei der mittelbaren Diskriminierung muss er die Faktoren der objektiven Rechtfertigung darlegen und beweisen.4
282
Für die Fälle der Entgeltdiskriminierung hat der EuGH entschieden, dass sich die Beweislast „umkehrt“, wenn Arbeitnehmer, die dem ersten Anschein nach diskriminiert sind, sonst kein wirksames Mittel hätten, um die Einhaltung des Grundsatzes des gleichen Entgelts durchzusetzen.5 Eine weitere Beweiserleichterung gibt es in den Fällen, in denen in einem Unternehmen ein undurchschaubares Entlohnungssystem angewandt wird.6 Kann eine Arbeitnehmerin auf der Grundlage einer relativ großen Zahl von Beschäftigten belegen, dass das durchschnittliche Entgelt der Arbeitnehmerinnen niedriger ist als das der Arbeitnehmer, muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass seine Lohnpolitik nicht diskriminierend ist.7
283
Im Übrigen bleibt es dabei, dass die Klägerin darlegen und beweisen muss, „dass die Beklagte ihr ein niedrigeres Entgelt zahlt als ihrem zum Vergleich herangezogenen männlichen Kollegen und dass sie tatsächlich die gleiche oder eine gleichwertige, mit dessen Arbeit vergleichbare Arbeit, verrichtet“.8 Insbesondere muss der Arbeitgeber nicht nachweisen, dass die Tätigkeiten der beiden betroffenen Arbeitnehmer verschieden sind.9 Gelingt der Arbeitnehmerin dieser Nachweis, spricht ein erster Anschein für eine Diskriminierung und es obliegt dann dem Arbeitgeber, zu beweisen, dass nicht gegen den Grundsatz des gleichen Entgelts verstoßen wurde.10
284
Art. 4 Richtlinie 97/80/EG über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts11 kodifizierte diese Rechtsprechung des EuGH.12 Diese Beweiserleichterung ist nahezu wortgleich13 in die Antirassismus-, die Gleichbehandlungsrahmen- und die
285
1 Zu diesem Abschnitt bereits Grünberger, Personale Gleichheit, S. 721 ff. 2 Prütting, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1326; Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 78. 3 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 – Enderby, Slg. 1993, I-5535 – Rz. 13; v. 31.5.1995 – Rs. C-400/93 – Royal Copenhagen, Slg. 1995, I-1275 – Rz. 24; v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 52. 4 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 – Bilka, Slg. 1986, 1607 – Rz. 31; v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 62; v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 31 m.w.N. 5 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 – Enderby, Slg. 1993, I-5535 – Rz. 14; v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 53. 6 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 54. 7 EuGH v. 17.10.1989 – Rs. 109/88 – Danfoß, Slg. 1989, 3199 – Rz. 16; v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 – Enderby, Slg. 1993, I-5535 – Rz. 14. 8 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 58. 9 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 59. 10 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 60. 11 ABl. Nr. L 14 v. 20.1.1998, S. 6. 12 EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-196/02 – Nikoloudi, Slg. 2005, I-1789 – Rz. 68 f. 13 EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 – Meister, Slg. 2012, I-0000 – Rz. 35, NZA 2012, 493.
Grünberger
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213
§3
Rz. 286
Nichtdiskriminierungsrecht
Geschlechterrichtlinie übernommen worden: Die Personen, die eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes behaupten, müssen „Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen“. Gelingt ihnen das, obliegt es dem beklagten Normadressaten, „zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat“ (Art. 8 Abs. 1 AntiRass-RL, 10 Abs. 1 Gleichb-RL, 19 Abs. 1 Geschl-RL).1 b) Beweislastverteilung 286
Die angeblich verletzte Person muss den Tatbestand einer Diskriminierung nicht vollumfänglich nachweisen. Gelingt es ihr, dem Gericht einen „glaubhaften Anschein einer Diskriminierung“ (ErwGr. 21 AntiRass-RL) zu vermitteln, muss der Normadressat den gesamten Diskriminierungstatbestand positiv widerlegen.2 Die Richtlinien zwingen nicht zur vollen Beweislastumkehr.3 Sie verlangen aber eine erhebliche Herabsenkung des Beweismaßes zugunsten des potentiell Verletzten.
287
Es genügt den verfahrensrechtlichen Anforderungen, wenn es dem Verletzten gelingt, die Diskriminierung aufgrund eines verpönten Merkmals „glaubhaft“ zu machen.4 Dabei handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff.5 Glaubhaft gemacht sind die Tatsachen, wenn daraus eine überwiegende Wahrscheinlichkeit folgt, dass eine Diskriminierung vorliegt.6 Dafür genügt es, wenn nach allgemeiner Lebenserfahrung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verknüpfung von Benachteiligung und verpöntem Merkmal besteht.7 Es obliegt aber dem nationalen Gericht, die Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten zu bewerten.8 Gelingt dem Kläger keine Glaubhaftmachung, erlaubt das Unionsrecht, dass die Klage abgewiesen wird. Gelingt ihm hingegen dieser erste Prüfungsschritt, zwingt es im zweiten Schritt zur Verlagerung der Beweislast auf den Normadressaten.9 Erst dann kommt es zu einer echten Beweislastumkehr zu Ungunsten des Normadressaten.10
288
§ 22 AGG dient der Umsetzung dieser Vorgaben. Die Norm modifiziert die allgemeinen Regeln zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast11 erheblich. Danach muss eine Partei – der klagende Verletzte – Indizien darlegen und beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines verpönten Merkmals vermuten lassen. Gelingt ihr das, kehrt sich die Beweislast um und die andere Partei – der beklagte Normadressat – muss beweisen, dass kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1 AGG) vorgelegen hat. Um den Zweck der Norm besser sichtbar zu machen, müsste man den nicht geglückten Wortlaut umformulieren: „Wenn im 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg. 2011, I-6813 – Rz. 30. Schlachter, RdA 1998, 321 (323). Schlachter, RdA 1998, 321 (324). EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg.2011, I-6813 – Rz. 30; v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 – Meister, Slg. 2012, I-0000 – Rz. 36, NZA 2012, 493. Schlachter, RdA 1998, 321 (324); vgl. EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 43, NZA 2013, 89. Schlachter, RdA 1998, 321 (324); ausf. Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 109 ff. Vgl. BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 670/08, NZA 2010, 383 – Rz. 19. EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg.2011, I-6813 – Rz. 31. EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept, Rz. 42, NZA 2013, 89; Schlachter, RdA 1998, 321 (324). Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 136 ff. Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 90 f.
214
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Grünberger
Rechtsdurchsetzung
Rz. 291
§3
Streitfall die eine Partei Tatsachen darlegt, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen,“1 trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß vorgelegen hat. § 22 AGG bewirkt also auf erster Stufe eine partielle Herabsenkung des Beweismaßes zugunsten des (vermeintlichen) Diskriminierungsopfers und erst auf zweiter Stufe eine Umkehr der Beweislast.2 Die Benachteiligung als solche muss das vermeintliche Opfer einer Diskriminierung darlegen und beweisen. Die Modifikation bezieht sich damit ausschließlich auf die Kausalität des in § 1 AGG genannten Grundes für die Benachteiligung.3 Der Darlegungslast ist Genüge getan, wenn die vorgetragenen – und zu beweisenden (!)4 – Tatsachen aus objektiver Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass die Benachteiligung wegen dieses Merkmals erfolgt ist.5 Mit anderen Worten: Die erforderlichen Indizien müssen die Kausalität eines in § 1 AGG genannten Grundes für die Benachteiligung wahrscheinlicher machen als das Fehlen dieser Kausalität.6 Nicht erforderlich ist, dass der betreffende Grund das ausschließliche Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist. Ausreichend ist vielmehr, dass das verpönte Merkmal Bestandteil eines Motivbündels ist, welches die Entscheidung beeinflusst hat.7
289
Gelingt ihm dieser abgestufte Nachweis, muss der Normadressat den vollen Hauptbeweis führen, dass das verpönte Merkmal keine Rolle bei seiner Entscheidung spielte.8 Er muss beispielsweise Tatsachen vortragen und gegebenenfalls beweisen, aus denen sich ergibt, dass es ausschließlich andere als verpönte Gründe waren, die zu der weniger günstigen Behandlung führten.9 Ihn trifft insoweit die subjektive und objektive Beweislast.10 Der Normadressat ist bereits nach allgemeinen Regeln für die sachliche Rechtfertigung der mittelbaren Diskriminierung11 und für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen darlegungs- und beweispflichtig.
290
c) Einzelheiten Die Tatsache, dass der Adressat einer benachteiligenden Maßnahme Merkmalsträger ist, ist für sich genommen kein ausreichendes Indiz für die Umkehrung der Beweislast.12 Dafür genügt auch nicht allein der Umstand, dass eine Bewerberin, die alle in der Ausschreibung genannten Voraussetzungen erfüllt, nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird.13 Als Vermutungstatsachen kommen dagegen private 1 Vgl. Prütting, FS 50 Jahre BAG, 2004, 1311 (1317). 2 Näher BAG v. 5.2.2004 – 8 AZR 112/03, NZA 2004, 540 (543) (zur Vorgängernorm in § 611a BGB a.F.); 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 48; Prütting, FS 50 Jahre BAG, 2004, 1311 (1315 f.); ErfK/Schlachter, § 22 AGG Rz. 2. 3 BAG v. 24.1.2013 – 8 AZR 429/11, NZA 2013, 498 – Rz. 39 ff.; v. 27.1.2011 – 8 AZR 580/09, NZA 2011, 737 – Rz. 29; v. 19.8.2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412; Annuß, BB 2006, 1629 (1635); BeckOGK-BGB/Benecke, § 22 AGG – Rz. 14 ff.; Grobys, NZA 2006, 898 (900); Schiek/Kocher, AGG, § 22 Rz. 10; ErfK/Schlachter, § 22 AGG Rz. 2. 4 BeckOGK-BGB/Benecke, § 22 AGG Rz. 26, 47. 5 BAG v. 24.1.2013 – 8 AZR 429/11, NZA 2013, 498 – Rz. 39. 6 BeckOGK-BGB/Benecke, § 22 AGG Rz. 22. 7 BAG v. 24.1.2013 – 8 AZR 429/11, NZA 2013, 498 – Rz. 38. 8 Prütting, FS 50 Jahre BAG, 2004, 1311 (1318 f.). 9 BAG v. 17.8.2010 – 9 AZR 839/08, NZA 2011, 153 Rz. 45 m.w.N. 10 Gaier/Wendtland, AGG, 2006, Rz. 180; näher BeckOGK-BGB/Benecke, § 22 AGG Rz. 49 f. 11 Prütting, FS 50 Jahre BAG, 2004, 1311 (1319); Grobys, NZA 2006, 898 (899); a.A. Bauer/Göpfer/Kriegert, AGG, § 22 Rz. 6 ff. 12 BAG v. 22.10.2009 – 8 AZR 642/08, NZA 2010, 280 – Rz. 28 f. 13 BAG v. 20.5.2010 – 8 AZR 287/08, NZA 2010, 1006 – Rz. 20.
Grünberger
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215
291
§3
Rz. 292
Nichtdiskriminierungsrecht
oder öffentliche Äußerungen des Arbeitgebers in Betracht.1 Das gilt auch für Personen, die zwar nicht vertretungsbefugt sind, aber deren Äußerung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit oder der betroffenen Kreise dem Arbeitgeber zugerechnet werden.2 Das ist etwa der Fall, wenn aus dem Aufsichtsrat einer städtischen Gesellschaft durchsickert, dass man den Vertrag mit dem 62 Jahre alten medizinischen Geschäftsführer nicht verlängern konnte, ohne die für städtische Mitarbeiter geltende Altersgrenze von 65 Jahren zu verletzen.3 Klassiker sind die diskriminierende Stellenausschreibung4 und Fragen nach Diskriminierungsmerkmalen.5 292
Im Übrigen zwingt der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz, auf alle vom nationalen (Verfahrens-)Recht vorgesehenen Beweiserleichterungen zurückzugreifen.6 Darunter fallen auch aussagekräftige Statistiken.7 Deren Bedeutung wird in der problematischen Rechtsprechung des BAG nicht hinreichend gewürdigt.8
293
Weil der Bewerber keinen Einblick in den Entscheidungsprozess hat, dürfte es ihm in vielen Fällen nicht gelingen, ausreichende Tatsachen für eine Diskriminierung vorzutragen. Die Richtlinien sehen insoweit auch keinen Auskunftsanspruch vor.9 Verweigert der Beklagte allerdings jeden Zugang zur Information, hat das nationale Gericht dieses Verhalten bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.10
294
Dafür eignen sich im deutschen Recht die Grundsätze der sekundären Behauptungslast:11 Erteilt der Arbeitgeber die gewünschte Auskunft nicht, liegt darin ein relevantes, wenn auch nicht allein entscheidendes Indiz für die Beweislastumkehr.12 Dasselbe gilt, wenn der Arbeitgeber bei der Auskunftserteilung Gründe angibt, die im Widerspruch zu seinem sonstigen Verhalten stehen oder gegebene, aber wechselnde Begründungen für eine getroffene Maßnahme.13
1 BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 257/07, NZA 2008, 1351 – Rz. 25; v. 10.7.2008 – Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187 – Rz. 25. 2 EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 – Asociat˛ia Accept – Rz. 49 ff., NZA 2013, 891. 3 BGH 23.4.2012 – II ZR 163/10, NZA 2012, 797 – Rz. 28 ff. 4 BAG v. 5.2.2004 – 8 AZR 112/03, NZA 2004, 540 (543). 5 BAG v. 7.12.2009 – 8 AZR 670/08, NZA 2010, 383 – Rz. 27. 6 Vgl. EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg. 2011, I-6813 – Rz. 36. 7 EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 – Meister – Rz. 43, NZA 2012, 493; Grobys, NZA 2006, 898 (902). 8 BAG v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93 – Rz. 70 ff.; v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 36 ff.; dazu BeckOGK-BGB/Benecke, § 22 AGG Rz. 28; vertiefende Kritik bei Wenckebach, KJ 2011, 370. 9 EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg. 2011, I-6813 – Rz. 34, 38; v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 – Meister – Rz. 39 f., NZA 2012, 493. 10 EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 – Kelly, Slg. 2011, I-6813 – Rz. 39; v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 – Meister – Rz. 44 ff., NZA 2012, 493; vertiefend Hanau, EuZA 2013, 105; Picker, EuZA 2012, 257; Schmidt, ZESAR 2012, 217. 11 Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht?, 2004, S. 159 ff. 12 BAG v. 20.5.2010 – 8 AZR 287/08, NZA 2010, 1006 – Rz. 31. 13 BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345 – Rz. 49 f.
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Grünberger
§4 Verbot der Altersdiskriminierung
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .
Rz. 1
II. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1. Rechtsquellen a) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . 5 b) Sekundärrecht, insbesondere die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 c) Nationales Recht: AGG . . . . . . 11 d) Verhältnis der Rechtsquellen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Neuralgischer Punkt: Maßstäbe für die Rechtfertigung der Benachteiligung wegen Alters . . . . . . . . . . a) Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL . . . . . b) Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL . . . . . c) Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL . . . . . d) Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL . . . . . e) Die deutsche Umsetzung . . . . . f) Art. 7 Gleichb-RL . . . . . . . . . .
14 15 17 22 43 47 56
3. Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . 58 III. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . 59 1. Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses a) Ausschreibung . . . . . . . . . . . . 60 b) Einstellungshöchstaltersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Rz. 2. Durchführung des Arbeitsverhältnisses a) Die Kriterien Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit und Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Vergütungs- und Urlaubsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3. Beendigung des Arbeitsverhältnisses a) Gesetzliche Kündigungsfristen . . b) Tariflicher Ausschluss der ordentlichen Kündbarkeit . . . . . . c) Betriebsbedingte Kündigung aa) Sozialauswahl . . . . . . . . . bb) Altersgruppen . . . . . . . . . d) Abfindungen und Rentenbezug .
75 78 85 90 96
4. Sozialpläne . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5. Altersgrenzen a) Allgemeine Altersgrenze . . . . . . 114 b) Allgemeine Altersgrenzen im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . 122 c) Besondere Altersgrenze . . . . . . . 126 6. Betriebliche Altersversorgung . . . a) Unverfallbarkeitsalter . . . . . . b) Altersgrenzen für die Mitgliedschaft in Versorgungswerken . . c) Ratierliche Berechnung . . . . . d) Altersabstandsklauseln . . . . . . e) Spätehenklauseln . . . . . . . . . f) Nach dem Alter gestaffelte Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 130 . 133 . . . .
137 141 144 145
. 148
IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Schrifttum: Monografien, Kommentare, Handbücher: Bauer/Göpfert/Krieger, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 3. Aufl. 2011 (zit.: Bauer/Göpfert/Krieger); Blomeyer/Rolfs/Otto, Betriebsrentengesetz, 5. Aufl. 2010 (zit.: Blomeyer/Rolfs/Otto/Bearbeiter); Boerner, Altersgrenzen für die Beendigung von Arbeitsverhältnissen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, 1992; Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, 2005; Buse, Die Unkündbarkeit im Arbeitsrecht, 2009; Bütefisch, Die Sozialauswahl, 2000; Däubler/ Bertzbach (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 3. Aufl. 2013 (zit.: Däubler/Bertzbach/Bearbeiter); Groß, Die Rechtfertigung einer Altersdiskriminierung auf der Grundlage der Richtlinie 2000/78/EG, 2010; v. Hoyningen-Huene/Linck/Krause, Kündigungsschutzgesetz, 15. Aufl. 2013 (zit.: v. Hoyningen-Huene/Linck/Krause/Bearbeiter); Kaiser, Tarifverträge und Altersdiskriminierungsschutz, 2012; v. Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2008; Meinel/Heyn/Herms, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2. Aufl. 2010 (zit.: Meinel/Heyn/Herms); Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2004; OECD (Hrsg.), Alterung und Beschäftigungspolitik, 2005; Polloczek, Altersdiskriminierung im Lichte des Europarechts, 2007; Senne, Auswirkungen
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§4
Verbot der Altersdiskriminierung
des europäischen Verbots der Altersdiskriminierung auf das deutsche Arbeitsrecht, 2006; Temming, Altersdiskriminierung im Altersleben, 2008; Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz; 2. Aufl. 2013; Uckermann/Fuhrmanns/Ostermayer/Doetsch (Hrsg.), Das Recht der betrieblichen Altersversorgung, 2014 (zit.: Uckermann/Fuhrmanns/Ostermayer/Doetsch/Bearbeiter); Waltermann, Berufsfreiheit im Alter, 1989; Waltermann, Altersdiskriminierung, ZfA 2006, 305. Aufsätze, Anmerkungen: Adomeit/Mohr, Geltung des AGG für die betriebliche Altersversorgung, ZfA 2008, 449; Adomeit/Mohr, Rechtsgrundlagen und Reichweite des Schutzes vor diskriminierenden Kündigungen, NJW 2009, 2255; Bauer/v. Medem, Altersgrenzen zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen – Was geht, was geht nicht?, NZA 2012, 945; Benecke, Altersgruppen und Punktetabellen bei der Sozialauswahl – Neue BAG-Rechtsprechung zu Kündigungsschutz und Europarecht, AuR 2009, 326; Boecken, Wie sollte der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand rechtlich gestaltet werden?, Gutachten für 62. Deutschen Juristentag, 1998; Bröhl, Aktuelle Rechtsprechung des BAG zur Sozialauswahl, BB 2006, 1050; Brors, Wann ist eine Altersdiskriminierung nach der Rechtsprechung des EuGH gerechtfertigt?, RdA 2012, 346; Gaul/Koehler, Kücükdeveci: Der Beginn der Jagd auf Entschädigung?, BB 2010, 503; Gaul/Niklas, Keine Altersdiskriminierung durch Sozialauswahl mit Altersgruppen, NZA-RR 2009, 457; Gitter/Boerner, Anmerkung zum Urteil des BAG v. 11.6.1997 – 7 AZR 186/96, AP Nr. 7 zu § 41 SGB VI; Grünberger/ Sagan, Diskriminierende Sozialpläne, EuZA 2013, 324; Guth, Rechtsprechung zu Streitfragen des TVöD, PersR 2009, 352; v. Hoff, Anmerkung zum Urteil des ArbG Frankfurt/M. vom 14.3.2007 – 6 Ca 7405/06, BB 2007, 1739; v. Hoff, Differenzierungen nach dem Alter bei der Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 KSchG: Namensliste, Punkteschema und Altersgruppenbildung, SAE 2009, 293; Joussen, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 19.1.2010 – Kücükdeveci, ZESAR 2010, 185; Kamanabrou, Die arbeitsrechtlichen Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, RdA 2006, 321; Kamanabrou, Vereinbarkeit von Pensionsgrenzen mit Europarecht, EuZA 2008, 251; Kocher, Neujustierung des Verhältnisses zwischen EuGH und nationalen ArbG – oder ein Ausrutscher?, RdA 2008, 238; Kleinebrink, Gestaltung von Abfindungsleistungen in Sozialplänen, FA 2010, 66; Kohte, Alternde Arbeitswelt – Folgen für das Arbeits- und Sozialrecht, AnwBl. 2008, 575; Kossens, Anmerkung zum Urteil des LAG Köln vom 12.2.2009 – 7 Sa 1132/08, jurisPR-ArbR 40/2009 Anm. 5; Lingemann, Diskriminierung in Entgeltsystemen – Ende der Anpassung nach oben?, NZA 2014, 827; Lingemann/Beck, Auswahlrichtlinie, Namensliste, Altersgruppenbildung und Altersdiskriminierung, NZA 2009, 577; Linsenmaier, Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, RdA 2003, Sonderbeilage Heft 5, 22; Löwisch, Kollektivverträge und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, DB 2006, 1729; v. Medem, Europarechtswidrigkeit des § 622 II 2 BGB?, NZA 2009, 1072; Meenan, Age Equality After The Employment Directive, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2003, 9; Mohr, Altersdifferenzierungen im Sozialplan nach deutschem und europäischem Recht, RdA 2010, 44; Nettesheim, Diskriminierungsschutz ohne Benachteiligung?, EuZW 2013, 48; Preis, Die „Reform“ des Kündigungsschutzrechts, DB 2004, 70; Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht, NZA 2006, 401; Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG (Teil I), ZESAR 2007, 249; Preis, Diskriminierungsschutz zwischen EuGH und AGG (Teil II), ZESAR 2007, 308; Preis, Welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich zur Anpassung der Rechtsstellung und zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer?, Gutachten für den 67. Deutschen Juristentag, 2008; Preis, Altersdiskriminierung im Betriebsrentenrecht, BetrAV 2010, 513; Preis, Schlangenlinien in der Rechtsprechung des EuGH zur Altersdiskriminierung, NZA 2010, 1323; Preis/Sagan, Der GmbH-Geschäftsführer in der arbeits- und diskriminierungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, BGH und BAG, ZGR 2013, 26; Preis/Temming, Der EuGH, das BVerfG und der Gesetzgeber – Lehren aus Mangold II, NZA 2010, 185; Rengier, Betriebliche Altersversorgung und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, NZA 2006, 1251; Rieble, Betriebliche vs. tarifliche Unkündbarkeit, NZA 2003, 1243; Rieble, Alternde Arbeitswelt – Welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich zur Anpassung der Rechtsstellung und zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer?, JZ 2008, 811; Rixen, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 12.1.2010 – Peter-
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sen, ZESAR 2010, 249; Röbke, Anmerkung zu den Urteilen des EuGH vom 12.1.2010 – Petersen und Wolf, EuZW 2010, 145; Rolfs, „Für die betriebliche Altersversorgung gilt das Betriebsrentengesetz“ – Über das schwierige Verhältnis von AGG und BetrAVG, NZA 2008, 553; Rolfs, Anmerkung zum Urteil des BAG v. 12.2.2013 – 3 AZR 100/11, NJW 2013, 2544; Sagan, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 5.3.2009 – Age Concern England, ZESAR 2009, 506; Rolfs/Witschen, Arbeits- und sozialrechtliche Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer, JURA 2008, 641; Sagan, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum Recht der Gleichbehandlung und des Betriebsübergangs, ZESAR 2011, 412; Schiefer, Anmerkung zum Urteil des BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, DB 2009, 733; Schiek, Gleichbehandlungsrichtlinien der EU – Umsetzung im deutschen Arbeitsrecht, NZA 2004, 873; Schlachter, Das Arbeitsrecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, ZESAR 2006, 391; Schmidt/Senne, Das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und seine Bedeutung für das deutsche Arbeitsrecht, RdA 2002, 80; Schmitz-Scholemann/Brune, Die Rechtsprechung des BAG zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – Eine Zwischenbilanz, RdA 2011, 129; Sprenger, Zulässigkeit sozialpolitisch motivierter Ungleichbehandlungen mit unmittelbarem Altersbezug, EuZA 2009, 355; Steinmeyer, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die betriebliche Altersversorgung, ZfA 2007, 27; Temming, Für einen Paradigmenwechsel in der Sozialplanrechtsprechung, RdA 2008, 205; Temming, Anmerkung zum Urteil des BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, EzA § 14 TzBfG Nr. 49; Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverträge von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, 205; Thüsing, Der Fortschritt des Diskriminierungsschutzes im Europäischen Arbeitsrecht, ZfA 2001, 397; Ulber, Grenzen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen wegen des Alters, EuZA 2014, 202; Waas, Zur Bewertung von Altersgrenzen nach europäischem Recht, EuZW 2007, 359; Waltermann, Alternde Arbeitswelt – Welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich?, NJW 2008, 2529; Wiedemann/Thüsing, Der Schutz älterer Arbeitnehmer und die Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG, NZA 2002, 1234; Willemsen, Sinn und Grenzen des gesetzlichen Sozialplans, RdA 2013, 166; Willemsen/ Schweibert, Schutz der Beschäftigten im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, NJW 2006, 2583; Wulfers/Hecht, Altersdiskriminierung durch Tarifbestimmungen – Eine Analyse des TVöD und TV-L, ZTR 2007, 475; Zange, Diskriminierung bei Berechnung einer Sozialplanabfindung, NZA 2013, 601; Zwanziger, Tarifliche Unkündbarkeit und Sozialauswahl, DB 2000, 2166.
I. Einleitung* Das Alter ist ein traditioneller Anknüpfungspunkt für diverse Schutzregelungen und Abgrenzungstatbestände im Arbeitsrecht. Erst die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Gleichb-RL)1 hat über zaghafte politische Ansätze hinaus ein Problembewusstsein dafür geschaffen, dass altersspezifische Regelungen nicht nur Schutz, sondern auch Diskriminierung, respektive Benachteiligung bedeuten können. Dabei zeichnet sich seit dem Jahre 2000 ein Paradigmenwechsel ab. Was der vorsorgende Sozialstaat ursprünglich als Segen spendete, sei es die Verbesserung der Rechtsstellung Älterer oder der frühzeitige „sozialverträgliche“ Ausstieg aus dem Arbeitsverhältnis, wurde zum Fluch: In Ansehung der früh absehbaren demographisch bedingten Alterung der Gesellschaft musste in nahezu allen europäischen Ländern die Diskussion um die Verlängerung, wenn nicht gar Abschaffung der Altersgrenzen geführt werden. Frühverrentungen wurden für die Sozialsysteme finanziell nicht mehr tragbar. Aber auch für breite Schichten der Gesellschaft führten zu kurze Erwerbszeiten zu einer nicht mehr auskömmlichen Alterssicherung. Das Gebot der * Ich danke Herrn Wiss. Mit. Marc Reuter für die Mitarbeit an diesem Beitrag. 1 ABl. EG Nr. L 303 v. 2.12.2000, S. 16.
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Zeit ist daher die Lebensarbeitszeitverlängerung bei steigender Lebenserwartung. Das setzt eine möglichst frühzeitige Arbeitsaufnahme voraus. Damit schließt sich der Kreis zur Thematik der Altersdiskriminierung: Sowohl junge als auch ältere Menschen dürfen nicht wegen ihres Alters diskriminierend vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Innerhalb des Arbeitsverhältnisses darf eine Differenzierung nach dem Alter, ohne dass ein berechtigtes verhältnismäßiges Ziel angestrebt wird, nicht erfolgen. Im Falle der ungerechtfertigten Differenzierung droht Ungemach: Diskriminierte Beschäftigte können die Vorteile der günstiger gestellten älteren oder jüngeren Arbeitnehmer verlangen. 2
Die juristische Entwicklung der Thematik ist brisant. Noch bis Ende des letzten Jahrhunderts wurde praktisch jede Altersdifferenzierung akzeptiert, gleichgültig ob sie auf Vertrag, Kollektivvertrag oder auf Gesetz beruhte. Ein Paukenschlag war dann das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Mangold vom 22.11.2005,1 das das Verbot der Altersdiskriminierung im Wege der Rechtsfortbildung als ungeschriebenen allgemeinen Grundsatz des damaligen Gemeinschaftsrechts im Vorgriff auf den Vertrag von Lissabon entwickelte (vgl. § 1 Rz. 24 f.). Seit dessen Inkrafttreten am 1.12. 2009 ist das Verbot der Altersdiskriminierung in Art. 21 Abs. 1 GRC niedergelegt (vgl. § 2 Rz. 73).
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Seither erfolgt die Rechtsentwicklung nicht ohne Widersprüchlichkeiten und Brüche. In kürzester Zeit musste juristisches Neuland betreten werden. Im Unterschied zum europäischen Recht kennt das deutsche Verfassungsrecht (vgl. insbesondere Art. 3 Abs. 3 GG) kein spezifisches Verbot der Altersdiskriminierung. Die deutsche Rechtsprechung ist sogar nicht einmal auf die Idee gekommen, Altersgrenzen am Maßstab des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes zu prüfen. In Rede stand ausschließlich die Diskussion um die Berufsausübungs- und Wahlfreiheit nach Art. 12 GG.2 Bis zum heutigen Tage tradieren die nationalen Obergerichte weithin noch die herkömmlichen Ergebnisse und gestatten Altersdifferenzierungen, insbesondere Altersgrenzen. Doch eine zwar wechselhafte, aber im Ganzen verschärfte Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des EuGH hat auch schon manche überkommene Altersabgrenzung zu Fall gebracht. Juristisch erklärbar ist die schwankende Kontrollintensität in der Art und Weise der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
II. Grundlagen 4
Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ist altersneutral. Geschützt werden Menschen, gleichgültig wie jung oder alt sie sind. Jedes Lebensalter ist Anknüpfungspunkt des Diskriminierungstatbestandes. Kurzum: „Jung und Alt“ sind geschützt.3 Man kann daraus schließen, dass der europäische Gesetzgeber prinzipiell den Menschen nicht nach seinem Alter beurteilt sehen möchte, auch wenn der Schutz älterer Menschen im Vordergrund der mit dem Verbot der Altersdiskriminierung verfolgten Ziele steht.4 Das Alter ist eine lineare Eigenschaft, da jeder ein bestimmtes Alter aufweist, welches sich auf einer horizontalen nach Lebensjahren eingeteilten Skala ent1 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345. 2 S. etwa BAG v. 6.3.1986 – 2 AZR 262/85, AP Nr. Nr. 1 zu § 620 BGB Altersgrenzen; v. 25.2. 1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715. 3 Zum Schutz junger Arbeitnehmer: EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010 I-365 – Rz. 21 = NZA 2010, 85. 4 BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 – Rz. 27 ff.
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Grundlagen
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wickelt. Es ist im Gegensatz zu den anderen Diskriminierungsmerkmalen ambivalent und relativ.1 Aus diesem Grunde kann nicht immer von einer „weniger günstige(n) Behandlung“ ausgegangen werden, wenn ein Arbeitnehmer objektiv anders als ein älterer oder jüngerer Arbeitnehmer behandelt wird.2 Vielmehr muss die Benachteiligung bei einer Ungleichbehandlung wegen des Alters gesondert festgestellt werden. 1. Rechtsquellen a) Primärrecht Das Verbot der Altersdiskriminierung ist seit Dezember 2009 ausdrücklich in Art. 21 Abs. 1 GRC normiert, vgl. auch Art. 6 Abs. 1 EUV. Bereits zuvor hatte der EuGH das Verbot der Altersdiskriminierung als „allgemeinen Grundsatz des [Union]srechts“ angesehen, der „seinen Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat“.3 Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC sind die Organe und Einrichtungen der Union stets, die Mitgliedstaaten hingegen ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union an Art. 21 Abs. 1 GRC gebunden. Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, die hiergegen verstoßen, sind, soweit sie nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden können, unanwendbar (vgl. § 2 Rz. 28).
5
b) Sekundärrecht, insbesondere die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie Die besondere Reichweite des Verbots der Altersdiskriminierung wird über den Transmissionsriemen der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie bewirkt. Denn keine Norm der Mitgliedstaaten darf gegen die dort geregelten Diskriminierungsverbote verstoßen, die sich gem. Art. 1 Gleichb-RL auf die Merkmale Religion oder Weltanschauung, Behinderung, sexuelle Orientierung und Alter beziehen. Der Geltungsbereich der Richtlinie umfasst dabei gem. Art. 3 Abs. 1 Gleichb-RL „alle Personen“ in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit (Buchst. a), den Zugang zur Berufsausbildung, Weiterbildung und Umschulung (Buchst. b), die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Entgelts (Buchst. c) sowie die Mitwirkung in einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisation derselben Berufsgruppe (Buchst. d).
6
Laut dem 13. Erwägungsgrund findet die Richtlinie keine Anwendung auf Sozialsysteme, deren Leistungen nicht Arbeitsentgelt gleichgestellt sind, wobei „Entgelt“ i.S.d. heutigen Art. 157 AEUV definiert wird (vgl. § 3 Rz. 36 ff.). Nach Art. 157 Abs. 2 AEUV umfasst der Begriff „alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gewährten Vergütungen, vorausgesetzt, dass sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses gewährt“4.
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Im 14. Erwägungsgrund heißt es, dass die Richtlinie nicht die „einzelstaatlichen Bestimmungen über die Festsetzung der Altersgrenzen für den Eintritt in den Ruhestand“ berühre. Dazu hat der EuGH klargestellt, dass die Richtlinie lediglich nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten tangiere, das Alter für den Eintritt in den (rentenrechtlichen) Ruhestand zu bestimmen. Ihr Anwendungsbereich umfasse dagegen
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1 BAG v. 25.2.2010 – 6 AZR 911/08, NZA 2010, 561 – Rz. 20. 2 So auch Nettesheim, EuZW 2013, 48 (49 f.). 3 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 74 f. = NZA 2005, 1345; dazu Preis, NZA 2006, 401. 4 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 26.
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durchaus nationale Regelungen, nach denen das Arbeitsverhältnis endet, wenn das festgesetzte Ruhestandsalter erreicht wird.1 9
Die Diskriminierungsverbote wirken viel breiter als irgendeine andere spezielle Richtlinie. Gemäß Art. 2 Abs. 1 Gleichb-RL darf es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 Gleichb-RL genannten Gründe geben, die Mitgliedstaaten haben nach dieser Maßgabe also eine diskriminierungsfreie Arbeitsrechtsordnung einzurichten. Und so geschieht es, dass auch Normen, die bislang zum festen Bestand der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten gehören, für unanwendbar erklärt werden können.
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Bezüglich der Richtlinie besteht in der Praxis der Rechtsprechung eine Wechselwirkung mit dem primären Unionsrecht. Der EuGH hat einerseits das in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie normierte Verbot mehrfach lediglich als Konkretisierung des primärrechtlichen Grundsatzes (ungeschrieben i.S.d. Art. 6 Abs. 3 EUV oder geschrieben i.S.d. Art. 21 Abs. 1 GRC) angesehen.2 Vor dieser Normierung schien es so zu sein, dass der primärrechtliche Grundsatz auch durch die sekundärrechtlichen Vorgaben geprägt werde. Ein Verstoß gegen die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie präjudizierte nach der Rechtsprechung des EuGH zugleich einen Verstoß auf der Ebene des Primärrechts,3 womit das Gericht der Richtlinie bereits vor Ende ihrer Umsetzungsfrist Geltung verschaffte.4 c) Nationales Recht: AGG
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In Deutschland wurde auf der Basis der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie das Verbot der Altersdiskriminierung durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 18.8.20065 umgesetzt. Freilich atmet das Gesetz im Bereich der Altersdiskriminierung den Geist, möglichst alles beim Alten zu lassen.6 Der Gesetzgeber hat es zunächst versäumt, das einfache Gesetzesrecht auf mögliche unmittelbar oder mittelbar diskriminierende Rechtsnormen hin zu durchforsten, obwohl Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 16 Gleichb-RL dies nahelegen. Zum anderen versucht der nationale Gesetzgeber, wie die speziellen Rechtfertigungsgründe für Altersdiskriminierungen zeigen (§ 10 Satz 3 AGG), den status quo in allen altersdifferenzierenden Regelungen des deutschen Arbeitsrechts festzuschreiben. So kommt es, dass § 10 Satz 3 Nr. 1, 2, 3, 5 und 6 AGG all jene überkommenen Regelungen zu rechtfertigen versucht, die diskriminierungsrechtlich besonders problematisch sind, wie z.B. die Vereinbarung einer allgemeinen Altersgrenze oder altersdifferenzierende Sozialplanansprüche. Vielfach bedarf es daher Anstößen aus der Rechtsprechung des EuGH, ungerechtfertigte Altersdifferenzierungen zu verwerfen.
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Mit § 75 Abs. 1 BetrVG hat der Gesetzgeber für Betriebsvereinbarungen ein weiteres Verbot der Altersdiskriminierung geregelt, das ebenfalls unionsrechtskonform 1 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 44 = NZA 2007, 1219; v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 25 = NZA 2009, 305. 2 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 21 = NZA 2010, 85; v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 38 = NZA 2011, 1039; v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 19. 3 Dazu ausf. Preis/Temming, NZA 2010, 185. 4 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 70 ff. = NZA 2005, 1345. 5 BGBl. I, 1897. 6 Zur Kritik vgl. Preis, ZESAR 2007, 249; Preis, ZESAR 2007, 308; Schlachter, ZESAR 2006, 391 (396).
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Grundlagen
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auszulegen ist. Auf nationaler Ebene ist die Norm spezieller als das AGG. Freilich versperren weder das BetrVG noch das AGG die Möglichkeit, auf die Konkretisierungen des AGG zurückzugreifen. Das BAG sieht das Verhältnis so, dass der Gesetzgeber die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote in § 75 Abs. 1 BetrVG übernommen hat. Da allerdings das AGG sehr viel spezifischere Regelungen enthält als § 75 Abs. 1 BetrVG, ist die Norm des § 75 BetrVG wegen ihres Standortes spezieller, in ihren Tatbestandsvoraussetzungen indes allgemeiner als das AGG. Das AGG als gleichrangige Rechtsnorm ist daher gewissermaßen in § 75 BetrVG „hineinzulesen“. Jedenfalls kann die unterschiedliche Behandlung der Betriebsangehörigen aus einem in § 1 AGG genannten Grund nur unter den im AGG normierten Voraussetzungen zulässig sein. Sind diese erfüllt, ist zugleich auch der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz i.S.d. § 75 Abs. 1 BetrVG gewahrt.1 d) Verhältnis der Rechtsquellen zueinander Gab es bis zum Jahre 2000 keine verbindliche Rechtsquelle für das Verbot der Altersdiskriminierung, so steht die Rechtswissenschaft nunmehr vor einem „Zuviel“ an Rechtsnormen. Das Unionsrecht genießt Vorrang vor dem Recht der Nationalstaaten. Es führt im Kollisionsfalle und fehlender Möglichkeit zur unionsrechtskonformen Auslegung zur Unanwendbarkeit der nationalen Norm, wie der Fall Kücükdeveci zu § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB gezeigt hat (vgl. Rz. 75 ff.).2
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2. Neuralgischer Punkt: Maßstäbe für die Rechtfertigung der Benachteiligung wegen Alters Sowohl mittelbare als auch unmittelbare Altersdiskriminierungen können gerechtfertigt sein.3 Entscheidende Rechtsquelle dafür ist die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, die mehrere Rechtfertigungstatbestände beinhaltet. Schon nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Gleichb-RL können mittelbare Altersdiskriminierungen gerechtfertigt sein, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
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a) Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL Für staatliche unmittelbare Benachteiligungen wegen des Alters kann Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL relevant werden. Nach dieser Vorschrift berührt die Richtlinie nicht die im „einzelstaatlichen Recht“ vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Der EuGH versteht diese Vorschrift nicht als sachliche Schutzbereichsbestimmung, sondern als Rechtfertigungstatbestand, anhand dessen nationale Regelungen zu prüfen sind. Das hat das Urteil Petersen gezeigt, das die Zulässigkeit der mittlerweile aufgehobenen Altersgrenze 68 für Vertragsärzte in der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 95 Abs. 7 Satz 3 SGB V a.F. betraf.4 Der EuGH maß die gesetzliche Alters1 2 3 4
BAG v. 23.3.2010 – 1 AZR 832/08, NZA 2010, 774. EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 = NZA 2010, 85. S.a. Preis/Temming, NZA 2010, 185 (194). EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 = EuZW 2010, 139 mit Anm. Röbke; Rixen, ZESAR 2010, 249.
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Verbot der Altersdiskriminierung
grenze 68 an Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL.1 Dabei erkannte der Gerichtshof als Ziel der Altersgrenze den Gesundheitsschutz i.S.d. Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL an,2 obwohl selbst die deutsche Bundesregierung im Verfahren geltend gemacht hatte, dass mit ihr die Überversorgung bei den Vertragszahnärzten und die Ausgaben im Gesundheitssystem begrenzt werden sollten.3 16
Als Ausnahme vom Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung ist Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL nach dem EuGH eng auszulegen.4 Vertieft wurde dieser Aspekt in der Entscheidung Prigge5. In diesem Fall ging es um die Rechtfertigung einer tarifvertraglich festgesetzten Altersgrenze für Piloten, für die geltend gemacht wurde, diese seien aus Gründen der Flugsicherheit erforderlich. Der Fall warf zunächst die Frage auf, ob kollektivvertragliche Regelungen überhaupt im Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL liegen, da diese sich nur auf Maßnahmen bezieht, die im „einzelstaatlichen Recht“ vorgesehen sind. Der EuGH betont in diesem Zusammenhang die Unterschiede zum Wortlaut der weiteren Rechtfertigungstatbestände Art. 4 Abs. 1 (vgl. Rz. 17 ff.) und Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL (vgl. Rz. 22 ff.), die keine Einschränkung auf Maßnahmen des „einzelstaatlichen Rechts“ enthalten.6 Weiter verweist der Gerichtshof darauf, dass Sozialpartner keine öffentlich-rechtlichen Einrichtungen seien.7 Sie setzen somit kein einzelstaatliches Recht. Allerdings gesteht es der EuGH den Mitgliedstaaten zu, die Sozialpartner zu ermächtigen, Maßnahmen i.S.v. Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL zu treffen.8 Solange sie auf einer hinreichend genauen Ermächtigungsgrundlage beruhen, können somit auch kollektivvertragliche Regelungen Ausnahmen vom Verbot der Altersdiskriminierung gem. Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL statuieren. Weitere Voraussetzung – wie für Maßnahmen des einzelstaatlichen Rechts – ist jedoch, dass sie zum Schutz der genannten Rechtsgüter notwendig sind. Daran scheiterte etwa im Fall Prigge die Altersgrenze, denn der Vergleich mit internationalen und nationalen Regelungen zeigte dem EuGH zufolge, dass eine Beschränkung der Flugtätigkeit ausreiche und ein striktes Verbot nicht notwendig i.S.v. Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL sei.9 Im Fall Petersen bemängelte der EuGH dagegen die fehlende Kohärenz der Regelung, weil die Altersgrenze nur für die Vertragsärzte und nicht für die außerhalb des Vertragszahnarztsystems praktizierenden Ärzte galt. Daher seien die Patienten nicht ausreichend geschützt und im Hinblick auf das Ziel des Gesundheitsschutzes Widersprüche festzustellen.10 Das ist natürlich insofern kein Wunder, als die Altersgrenze – wie oben gesehen – den Gesundheitsschutz gar nicht zum Ziel hatte. Somit hätte die Altersgrenze schon an dieser Stelle scheitern müssen.11 Das Urteil zeigt aber, wie wichtig dem EuGH die innere Kohärenz einer altersdiskriminierende Regelung ist12 und dass es bei einer möglichen Rechtfertigung – nicht nur 1 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 50 ff. = EuZW 2010, 139. 2 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 5 = EuZW 2010, 139; krit. Röbke, EuZW 2010, 145 (146). 3 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 41 = EuZW 2010, 139. 4 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 60 = EuZW 2010, 139. 5 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 = NZA 2011, 1039; hierzu Temming, EuZA 2012, 205. 6 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 59 = NZA 2011, 1039. 7 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 60 = NZA 2011, 1039. 8 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 61 = NZA 2011, 1039. 9 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 63 = NZA 2011, 1039. 10 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 – Rz. 61 f. = EuZW 2010, 139. 11 Röbke, EuZW 2010, 145 (146). 12 Krit. dazu Nettesheim, EuZW 2013, 48 (50), der bemängelt, dass sich das Verbot der Altersdiskriminierung so zu einem „Gebot politisch und ökonomisch vernünftiger Rechtsetzung“ gewandelt habe.
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Grundlagen
Rz. 20 § 4
im Rahmen des Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL – entscheidend darauf ankommt, das Ziel der Regelung richtig zu identifizieren, weil daran die Kohärenz gemessen wird. b) Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL vorsehen, „dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss also nicht der Diskriminierungsgrund i.S.d. Art. 1 Gleichb-RL selbst – etwa das Alter – eine wesentliche berufliche Anforderung sein, sondern ein Merkmal, das mit diesem Grund zusammenhängt.1 Es ist also zunächst zu prüfen, ob die Diskriminierung an einem solchen Merkmal anknüpft. Bei Diskriminierungen aufgrund des Alters kann ein solches Merkmal etwa die körperliche Leistungsfähigkeit sein, die mit steigendem Alter abnimmt. Somit hängt das Merkmal mit dem Grund der Diskriminierung zusammen. Dabei reicht ein statistischer bzw. wissenschaftlich nachweisbarer Zusammenhang aus, es muss nicht konkret nachgewiesen werden, dass etwa ein bestimmter Arbeitnehmer, der eine Altersgrenze erreicht hat, tatsächlich auch körperlich weniger leistungsfähig ist.
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Weiter ist zu prüfen, ob das Merkmal aufgrund der Art der Tätigkeit oder ihrer Ausübung eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt“. Das bedeutet nicht, dass das Merkmal zwingende Voraussetzung dafür sein muss, die Tätigkeit überhaupt ausüben zu können. So genügt es dem EuGH, wenn offensichtlich ist, dass „beträchtliche Konsequenzen“2 entstehen können, wenn jemand die Tätigkeit ausübt, bei dem das Merkmal nicht oder nur teilweise vorliegt.
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Außerdem muss es sich um einen rechtmäßigen Zweck handeln, zu dem die Anforderung besteht. Für eine Altersdiskriminierung akzeptiert hat der EuGH etwa die Funktionsfähigkeit der Berufsfeuerwehr3 und die Sicherheit des Luftverkehrs4.
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Entscheidender Prüfungspunkt ist die Angemessenheits- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung. Ausgehend von Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL ist das Tatbestandsmerkmal der „angemessenen Anforderung“ der richtige Anknüpfungspunkt. Der Wortlaut legt allerdings nahe, dass die berufliche Anforderung selbst, also etwa eine gewisse körperliche Konstitution und Leistungsfähigkeit, angemessen sein muss. Der EuGH versteht das Tatbestandsmerkmal aber offenbar anders, wenn er in der Sache Prigge prüft, „ob die Sozialpartner, indem sie beschlossen haben, dass ab dem Alter von 60 Jahren die Verkehrspiloten nicht mehr über die körperlichen Fähigkeiten zur Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit verfügen, eine angemessene Anforderung auf-
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1 So auch der EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 35 = EuZW 2010, 142; v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 66 = NZA 2011, 1039; anders Kaiser, Tarifverträge und Altersdiskriminierungsschutz, S. 65 f.; Polloczek, Altersdiskriminierung im Lichte des Europarechts, S. 95. 2 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 67 = NZA 2011, 1039. 3 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 37 ff. = EuZW 2010, 142, unter besonderem Hinweis auf ErwGr. 18 Gleichb-RL, in dem es heißt, dass Notfalldiensten nicht zur Auflage gemacht werden darf, Personen zu beschäftigen, die nicht den Anforderungen ihrer Aufgaben entsprechen; zust. Röbke, EuZW 2010, 145 (145). 4 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 68 f. = NZA 2011, 1039.
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§4
Rz. 21
Verbot der Altersdiskriminierung
gestellt haben“1. Der EuGH misst also die Altersgrenze und somit die altersdiskriminierende Regelung selbst an Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL, obwohl eigentlich die körperliche Leistungsfähigkeit die berufliche Anforderung ist, die gem. Art. 4 Abs. 1 a.E. Gleichb-RL angemessen sein muss. Daraus lässt sich ableiten, dass der EuGH die Angemessenheitsprüfung des Art. 4 Abs. 1 a.E. Gleichb-RL auch auf die diskriminierende Regelung, die die berufliche Anforderung umsetzt, erstreckt. 21
Weiter ist zu prüfen, ob die altersdifferenzierende Regelung verhältnismäßig, also geeignet und erforderlich ist.2 Dabei verweist der EuGH auf den 23. Erwägungsgrund, wonach eine unterschiedliche Behandlung in Fällen wie denen des Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL nur unter „sehr begrenzten Bedingungen“ gerechtfertigt sein kann.3 Außerdem sei Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL als Ausnahmetatbestand vom Verbot der Altersdiskriminierung eng auszulegen (allgemein zu diesem Prinzip des EuGH vgl. § 1 Rz. 94).4 Bei der eigentlichen Angemessenheitsprüfung finden die Interessen der betroffenen Arbeitnehmer sehr wenig Beachtung. Vielmehr überprüft der EuGH die altersdiskriminierenden Regelungen darauf, ob sie stichhaltig begründet und konsequent umgesetzt sind.5 c) Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL
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Für Altersdiskriminierungen normiert Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL einen speziellen Rechtfertigungstatbestand. Danach können die Mitgliedstaaten ungeachtet des Art. 2 Abs. 2 Gleichb-RL vorsehen, „dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind“. Auf der Basis der hier verankerten Verhältnismäßigkeitsprüfung können viele Altersdifferenzierungen im Arbeitsleben für sachlich angemessen erklärt werden (s. hierzu ErwGr. 25 Gleichb-RL). Deshalb konzentriert sich die die Wirkkraft des Verbots der Altersdiskriminierung auf der Rechtfertigungsebene.
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Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL ist auch begrenzt durch Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Nr. i Gleichb-RL, der Voraussetzungen aufstellt, unter denen eine Benachteiligung wegen eines der in Art. 1 Gleichb-RL aufgeführten Merkmale keine mittelbare Diskriminierung darstellt. Sind diese Voraussetzungen in einem Fall der Benachteiligung wegen des Alters erfüllt, ist Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL nicht mehr anzuwenden, da die Ungleichbehandlung schon gem. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b keine Diskriminierung darstellt.6
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Bei einer möglichen Rechtfertigung gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL ist zunächst zu prüfen, ob mit der Ungleichbehandlung ein legitimes Ziel i.S.d. Vorschrift verfolgt wird. Legitim sind demnach „insbesondere“ Ziele aus den Bereichen Beschäftigungs1 2 3 4 5
EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 70 = NZA 2011, 1039. Vgl. EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 42 = EuZW 2010, 142. EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 71 = NZA 2011, 1039. EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 72 = NZA 2011, 1039. So etwa in den Fällen EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 42 ff. = EuZW 2010, 142 und v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 73 ff. = NZA 2011, 1039. 6 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 66 = NZA 2009, 305.
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Grundlagen
Rz. 26 § 4
politik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung. Unklar ist, ob diese Aufzählung abschließend ist oder auch Ziele aus anderen Bereichen „legitim“ i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL sein können. Für ein solch weites Verständnis spricht vor allem das Wort „insbesondere“, das nach herkömmlicher Lesart eine nicht abschließende Aufzählung kennzeichnet.1 Auch der EuGH sieht Aufzählung in Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL als „nicht erschöpfend“ an.2 Geklärt ist, dass rein private bzw. unternehmerische Interessen des Arbeitgebers nicht darunter fallen.3 Das hatte der EuGH schon in der Entscheidung Age Concern England festgestellt: „Diese Ziele [= Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung] unterscheiden sich insoweit, als sie im Allgemeininteresse stehen, von rein individuellen Beweggründen, die der Situation des Arbeitgebers eigen sind, wie Kostenreduzierung oder Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, ohne dass allerdings ausgeschlossen werden kann, dass eine nationale Rechtsvorschrift bei der Verfolgung der genannten rechtmäßigen Ziele den Arbeitgebern einen gewissen Grad an Flexibilität einräumt“4. Daraus folgt auch, dass ein allein privaten Interessen dienendes Ziel durch gesetzliche Normierung alleine nicht zum legitimen Ziel i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL wird.5 Die Frage, ob ein Ziel legitim ist, entscheidet sich nach seinem Inhalt, nicht nach seiner Rechtsgrundlage. Wie die Entscheidung Prigge zeigt, sind aber auch andere Ziele, die im Allgemeininteresse stehen – wie in diesem Fall die Flugsicherheit – nicht legitim i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL.6
25
Nach der Rechtsprechung des EuGH können legitim ausschließlich „sozialpolitische Ziele wie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung“7 bzw. Ziele „im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik“8 sein. Entscheidend ist für diese Rechtsprechung, dass nach dem EuGH Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL – wie jeder andere Rechtfertigungstatbestand auch – als Ausnahme vom Grundsatz des Verbots von Altersdiskriminierungen eng auszulegen ist (vgl. § 1 Rz. 94). Auch nach den aufgezählten Beispielen liegt es nahe, dass darüber hinaus nur Ziele zugelassen sind, die aus verwandten Bereichen stammen. Ob diesem Topos der „sozialpolitischen Ziele“ nach der Rechtsprechung des EuGH ein Anwendungsbereich zukommt, der über die Bereiche Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung hinausgeht, ist allerdings fraglich. Zu konstatieren ist außerdem, dass der EuGH die „Wahrung des Besitzstands einer Personengruppe“ als „zwingender Grund des All-
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1 S. nur Polloczek, Altersdiskriminierung im Lichte des Europarechts, S. 97. 2 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 80 = NZA 2011, 1039. 3 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 – Rz. 26; Kaiser, Tarifverträge und Altersdiskriminierungsschutz, S. 71; Groß, Die Rechtfertigung einer Altersdiskriminierung, S. 70; Thüsing, ZfA 2001, 397 (409); a.A. noch BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945 – Rz. 54; Waltermann, ZfA 2006, 305 (315); wohl auch Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rz. 419; zweifelnd Linsenmaier, RdA 2003, Sonderbeilage Heft 5, 22 (26); zurückhaltend Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945 (949 f.), nach denen Arbeitgeberinteressen häufig parallel liefen zu sozialpolitischen Interessen, was aber nichts daran ändert, dass Arbeitgeberinteressen alleine kein legitimes Ziel sein können. 4 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 46 = NZA 2009, 305; außerdem v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 – Rz. 52 = NVwZ 2011, 1249; s.a. Sprenger, EuZA 2009, 355. 5 So aber Brors, RdA 2012, 346 (347). 6 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 82 = NZA 2011, 1039. 7 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 46 = NZA 2009, 305; v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 81 = NZA 2011, 1039. 8 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 60; 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 50.
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§4
Rz. 27
Verbot der Altersdiskriminierung
gemeininteresses“ ebenfalls als legitimes Ziel i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL anerkennt.1 27
Die nationale Regelung, die die Ungleichbehandlung wegen des Alters verursacht, muss das Ziel, das sie verfolgt, nicht ausdrücklich angeben. In diesem Fall müssen aber „andere – aus dem allgemeinen Kontext der betreffenden Maßnahme abgeleitete – Anhaltspunkte die Feststellung des hinter dieser Maßnahme stehenden Ziels ermöglichen“2.
28
Unklar ist die Funktion, die der Unterabs. 2 des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL im Zusammenhang mit den legitimen Zielen des Unterabs. 1 hat.3 So werden in Buchst. a bis Buchst. c Beispiele für mögliche Ungleichbehandlungen aufgeführt, wobei nicht deutlich wird, ob diesen speziellen Ungleichbehandlungen Bedeutung für die Rechtfertigungsprüfung zukommt oder ob sie nur deklaratorischer Natur sind.
29
Buchst. a umfasst einen sehr weiten Kreis von möglichen Ungleichbehandlungen, etwa durch „Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung“ oder besonderen „Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“. Dabei sollen diese Bedingungen die „berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten“ fördern oder deren Schutz sicherstellen. Buchst. b nennt Ungleichbehandlungen, die ohne besondere Zielsetzung durch Mindestanforderungen an Alter, Berufserfahrung oder Dienstalter für den Zugang zu Beschäftigung oder damit verbunden Vorteile entstehen. Buchst. c wiederrum bezieht sich speziell auf Höchstaltersgrenzen für die Einstellung wegen „spezifischen Ausbildungsanforderungen“ oder „der Notwendigkeit einer angemessen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand“.
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Somit normiert Buchst. b keine speziellen Rechtfertigungsanforderungen, sondern nennt lediglich Beispiele für Ungleichbehandlungen wegen des Alters.4 Er ist somit überflüssig. Dasselbe gilt jedenfalls für das Merkmal der „spezifischen Ausbildungsanforderungen“ in Buchst. c.5 Die „angemessene Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand“ kann dagegen zur Sicherung eines ausreichenden Alterseinkommens als konkretes legitimes Ziel angesehen werden.6
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Ebenso konkretisiert Buchst. a die „legitimen Ziele“ i.S.d. Unterabs. 17 und ist die insofern speziellere Norm.8
1 EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. C-298/10 – Hennigs/Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 90 = NZA 2011, 1100; v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/ u. C-541/12 – Specht u.a., NZA 2014, 831 – Rz. 64, m. Anm. Lingemann, NZA 2014, 827. 2 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 57 = NZA 2007, 1219; v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 45 = NZA 2009, 305. 3 Vgl. dazu auch Temming, Altersdiskriminierung im Altersleben, S. 507 f. 4 Linsenmaier, RdA 2003, Sonderbeilage Heft 5, 22 (26 f.); Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 (88); Senne, Auswirkungen des europäischen Verbots der Altersdiskriminierung auf das deutsche Arbeitsrecht, S. 196. 5 A.A. Linsenmaier, RdA 2003, Sonderbeilage Heft 5, 22 (26 f.); Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 (88). 6 Vgl. Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 (88). 7 Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 (85); für den gleichlautenden § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG Kamanabrou, RdA 2006, 321 (330); a.A. Groß, Die Rechtfertigung einer Altersdiskriminierung auf der Grundlage der Richtlinie 2000/78/EG, S. 71. 8 Vgl. Brors, RdA 2012, 346, 349, die den Begriff „Regelbeispiel“ benutzt und sich damit zwar auf „Abs. 1c)“ bezieht, aber wohl Buchst. a meint.
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Grundlagen
Rz. 33 § 4
Der EuGH spricht davon, dass in UAbs. 2 „mehrere Beispiele von Ungleichbehandlungen aufgeführt [werden], die die in [UAbs.] 1 genannten Merkmale aufweisen“1 oder dass die Ungleichbehandlungen nach UAbs. 2 „grundsätzlich als […] durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt anzusehen sind“2. Damit ist aber nicht gemeint – was der Wortlaut der Entscheidungen nahelegt –, dass Ungleichbehandlungen, die unter UAbs. 2 fallen, auf jeden Fall gem. UAbs. 1 gerechtfertigt sind. Vielmehr ist unter den „in [UAbs.] 1 genannten Merkmale[n]“ nur „objektiv und angemessen“ und das „legitime[…] Ziel“ zu verstehen.3 Die eigentliche Angemessenheit und Erforderlichkeit gem. UAbs. 1 müssen auch bei Ungleichbehandlungen, die unter UAbs. 2 fallen, geprüft werden.4 Das gebieten auch die primärrechtlichen Vorgaben der Art. 21 Abs. 1, 52 Abs. 1 Satz 2 GrC. Zumindest aber das legitime Ziel i.S.d. UAbs. 1 ist für den EuGH offensichtlich durch UAbs. 2 indiziert.5
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Nach dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Gleichb-RL können weiter nur solche Ungleichbehandlungen gerechtfertigt werden, die „objektiv und angemessen“ sind. Zu diesem Tatbestandsmerkmal gibt es sowohl sprachlich als auch inhaltlich einige Verwirrung. So fällt zunächst auf, dass sich diese Wendung in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Nr. i Gleichb-RL nicht wiederfindet, obwohl dieser allgemeine Rechtfertigungstatbestand einer mittelbaren Diskriminierung genauso aufgebaut ist. Ein weiterer sprachlicher Unterschied ist, dass in Art. 2 Abs. 2 Buchtst. b Nr. i Gleichb-RL von einem „rechtmäßigen“, in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Gleichb-RL von einem „legitimen Ziel“ die Rede ist. Damit stellt sich die Frage, ob damit rechtlich unterschiedliche Maßstäbe ausgedrückt werden sollen, wofür der unterschiedliche Wortlaut nach deutscher Auslegungsmethodik durchaus spricht. Für eine Wortlautauslegung im europäischen Recht muss man sich auch die anderen Sprachfassungen anschauen, wobei die Vorschriften Unionsrecht „im Lichte aller Sprachfassungen einheitlich ausgelegt […] werden müssen“6 (vgl. § 1 Rz. 85 ff.). Bei der englischen als auch der französischen Fassung ist der sprachliche Unterschied zwischen Art. 2 Abs. 2 Buchst. b und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Gleichb-RL wesentlich kleiner. So muss dort das Ziel der Ungleichbehandlung in beiden Normen „legitimate“ bzw. „légitime“ sein, was sich im Deutschen sowohl mit „rechtmäßig“ als auch mit „legitim“ übersetzen lässt. Daher ist dieser sprachlichen Differenzierung in der deutschen Fassung keine Bedeutung beizumessen. Wie im Deutschen besteht aber auch innerhalb der englischen und der französischen Fassung ein sprachlicher Unterschied zwischen Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Nr. i und Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL: So müssen die Ungleichbehandlungen gem. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Nr. i Gleichb-RL lediglich „objectively justified“ bzw. „objectivement justifié“, gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL aber „objectively and reasonably justified“ bzw. „objectivement et raisonnablement justifié“ sein.7 Danach lässt sich festhalten, dass der zusätzlichen Abweichung in der deutschen Fassung zwischen „sachlich gerechtfertigt“ und „objektiv und angemessen“8 offenbar keine rechtliche Bedeu-
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1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 38 = NZA 2010, 1167. 2 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 61 = NZA 2009, 305. 3 Vgl. auch EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 52 f. 4 S. nur EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 32 ff. = NZA 2010, 1341; Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 (85); Thüsing, ZfA 2001, 397 (409). 5 Vgl. EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325 – Rz. 42 = NZA 2009, 891; 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 31 = NZA 2010, 1341. 6 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 42. 7 Hervorhebungen diesseits. 8 Hervorhebungen diesseits.
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§4
Rz. 34
Verbot der Altersdiskriminierung
tung zukommt und beide Ausdrücke „objectively“ bzw. „objectivement“ entsprechen. Somit bleibt die Frage übrig, ob das zusätzliche Tatbestandsmerkmal des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL, wonach die Ungleichbehandlung „angemessen“ oder „reasonably justified“ bzw. „raisonnablement justifié“ sein muss, einen anderen Prüfungsmaßstab als den des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Nr. i Gleichb-RL begründen soll. Dies ist angesichts der weiteren Voraussetzungen, die Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL verlangt, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, zu bezweifeln. Es lässt sich schwerlich ein Fall konstruieren, in dem eine „objektive“ Ungleichbehandlung, die einem „legitime[n] Ziel“ dient und „zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“ ist, nicht auch „angemessen“ ist. So hat auch der EuGH in der Sache Age Concern England argumentiert.1 Dem Umstand, dass dieses Wort nur in Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL enthalten ist, sei somit keine besondere Bedeutung beizumessen.2 34
Der entscheidende und gleichzeitig unförmige Prüfstein des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL für eine Ungleichbehandlung wegen des Alters ist die Voraussetzung der Angemessenheit und Erforderlichkeit. Bei diesem Kriterium betont der EuGH wiederholt den weiten Ermessenspielraum, den die Mitgliedstaaten haben, wenn sie Mittel auswählen, mit denen sie ihre legitimen Ziele erreichen wollen.3
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Unter dem Begriffspaar „angemessen und erforderlich“ prüft der EuGH auch die Geeignetheit der Maßnahme, wobei er sich damit zufrieden gibt, wenn sie „nicht offensichtlich ungeeignet“ ist.4 Dieser Maßstab entspricht der Vorstellung, dass die Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Wahl nicht nur der Ziele, sondern auch der geeigneten Maßnahmen haben.
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Die entscheidende Prüfung entfaltet sich dann beim Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit. Hier nimmt der EuGH – zumindest nach eigener Aussage – eine Abwägung zwischen den Interessen der von der Ungleichbehandlung betroffenen Arbeitnehmer und dem Interesse der Mitgliedstaaten, seine (legitimen) Ziele zu erreichen, vor.
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Insgesamt hat der EuGH bisher keine einheitliche Linie bei der Prüfungsintensität gefunden. Legendär und exemplarisch sind die unterschiedlichen Maßstäbe in den Rechtssachen Mangold5 und Palacios de la Villa6. Bereits im Mangold-Urteil hielt der EuGH alle Obersätze vor, die nahezu beliebig eine strenge und auch eine weniger strenge Linie ermöglichen. Einerseits sollen zwar die Mitgliedstaaten einen weiten Ermessenspielraum bei der Ausgestaltung altersdifferenzierender Regelungen genießen.7 Andererseits erklärte der EuGH dennoch die schrankenlose Befristungsmöglichkeit älterer Arbeitnehmer für unanwendbar, da sie über das hinausgehe, was zur Erreichung des verfolgten Ziels angemessen und erforderlich sei.8 Hingegen hielt er in 1 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 65 = NZA 2009, 305. 2 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 65 = NZA 2009, 305; polemische Kritik bei Schmitz-Scholemann/Brune, RdA 2011, 129 (130). 3 S. nur EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 63 = NZA 2005, 1345; 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 68 = NZA 2007, 1219; 18.6.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325 – Rz. 45 = NZA 2009, 891. 4 S. nur EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 35 = NZA 2010, 1341. 5 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345; zur Rezeption in Deutschland Kaiser, Tarifverträge und Altersdiskriminierungsschutz, S. 38 ff. 6 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 = NZA 2007, 1219. 7 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 63 = NZA 2005, 1345. 8 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 65 = NZA 2005, 1345.
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Grundlagen
Rz. 39 § 4
dem Urteil Palacios de la Villa eine tarifliche allgemeine Altersgrenze von 65 Jahren für angemessen und erforderlich, weil die Annahme, damit das Ziel, Vollbeschäftigung mit einem besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu fördern, „nicht unvernünftig“ erscheine.1 Die fragwürdigen volkswirtschaftlichen Annahmen, die den legitimen Zielen von allgemeinen Altersgrenzen zugrunde liegen sollen, übernahm er unkritisch und billigte so, dass ältere Arbeitnehmer zwangsweise aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden. Der EuGH betont in Palacios de la Villa stark den Spielraum der Mitgliedstaaten: „Es ist somit Sache der zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten, einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen widerstreitenden Interessen zu finden.“2 Die Entscheidungen sind in Bezug auf die richterliche Kontrolldichte widersprüchlich.3 Die am meisten wegen des Alters diskriminierende Klausel im Arbeitsrecht – eine allgemeine Altersgrenze4 – ist unionsrechtskonform, selbst wenn der Arbeitnehmer durch eine Regelaltersrente nicht angemessen abgesichert ist. Die Möglichkeit, unbegrenzt befristete Arbeitsverhältnisse mit Arbeitnehmern, die 52 Jahre oder älter sind, abzuschließen, diskriminierte dagegen unverhältnismäßig wegen des Lebensalters. Es gelang nicht, darzulegen, dass trotz signifikanter Korrelation die Festlegung der Altersgrenze 52 Jahre als solche unabhängig von anderen Erwägungen im Zusammenhang mit der Struktur des jeweiligen Arbeitsmarktes und der persönlichen Situation des oder der Betroffenen zur Erreichung des Zieles der beruflichen Eingliederung arbeitsloser älterer Arbeitnehmer objektiv erforderlich war.5 Das passt nicht zusammen: Mit dem in der Entscheidung Palacios de la Villa angewandten Willkürmaßstab wäre die schrankenlose Erlaubnis befristeter Arbeitsverhältnisse gerechtfertigt gewesen. Mit der im Mangold-Urteil angewandten strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung wären allgemeine Altersgrenzen nicht erforderlich gewesen, weil zumindest flexible Altersgrenzen in Betracht kommen.6
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Seither verfährt der EuGH in „Schlangenlinien“7. Er legt an die Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen des Alters changierende Maßstäbe an und macht die jeweilige Prüfungsdichte von der konkret in Rede stehenden Sachfrage abhängig. Allergisch reagiert der EuGH auf innere Widersprüche. Dann wird die Legitimität des Ziels der jeweils altersdifferenzierenden Maßnahme kritisch hinterfragt und auf ihre Kohärenz kontrolliert.8 Auch wenn der arbeitsrechtliche Schutz zu Lasten bestimmter Arbeitnehmergruppen abgesenkt wird, werden altersdifferenzierende Vorschriften besonders streng geprüft.9 Dagegen scheint der EuGH bei homogenen Altersgrenzen, die als generelles Prinzip gelten, den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten besonders großzügig anerkennen zu wollen.10 In der Rechtssache Age Concern England allerdings
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1 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 72 = NZA 2007, 1219; Anm. Kocher, RdA 2008, 238 und Kamanabrou, EuZA 2008, 251. 2 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 – Rz. 71 = NZA 2007, 1219. 3 Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, S. 506. 4 Ebenso Meenan, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2003, 9 (15) und Waas, EuZW 2007, 359. 5 Vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 64 = NZA 2005, 1345. 6 Preis, NZA 2010, 1323 (1327). 7 Vgl. Preis, NZA 2010, 1323. 8 EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325 – Rz. 46 ff. = NZA 2009, 891; v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 41 ff. = NZA 2010, 1341; v. 19.1. 2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 39 ff. = NZA 2010, 85. 9 Näher Preis, NZA 2010, 1323. 10 Vgl. Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945 (945).
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§4
Rz. 40
Verbot der Altersdiskriminierung
führte der EuGH trotz Billigung allgemeiner Altersgrenzen aus, dass das Verbot der Altersdiskriminierung nicht ausgehöhlt werden dürfe und allgemeine Behauptungen über die Geeignetheit einer Maßnahme nicht genügten.1 40
Somit lässt sich festhalten, dass sich wenig festhalten lässt. Einen verlässlichen Prüfungsmaßstab für Angemessenheit und Erforderlichkeit i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL gibt die Rechtsprechung des EuGH nicht her. Einzig die innere Kohärenz einer Regelung, die zu einer Ungleichbehandlung wegen des Alters führt, kann als wiederkehrendes (Ausschluss-)Kriterium einer möglichen Rechtfertigung angesehen werden; wobei selbst darauf kein Verlass ist, wie die Entscheidung Odar zeigt (vgl. Rz. 110 ff.).
41
Immer zu bedenken ist außerdem das Mantra des EuGH: Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL ist wie alle Rechtfertigungstatbestände als Ausnahme vom (primärrechtlichen) Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung eng auszulegen.2
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Die Frage bei aller berechtigten Kritik am EuGH ist aber, ob eine stringente Dogmatik angesichts der Abwägung, die nun mal den Kern einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bildet, überhaupt möglich ist und in Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL nicht ohnehin eher eine Einzelfallprüfung angelegt ist. Nichtsdestotrotz trägt der Gerichtshof mit seiner wechselnden Prüfungsintensität zur Rechtsunsicherheit bei. So bleibt nur, die einzelnen Ausprägungen, in denen Ungleichbehandlungen wegen des Alters im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses typischerweise vorkommen, und die EuGH-Rechtsprechung zu untersuchen und so differenziertere Muster herauszubilden (vgl. Rz. 59 ff.). d) Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL
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Diese noch speziellere Norm ermöglicht es den Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass bestimmte Altersgrenzen in „betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit“ etwa für den Bezug von Altersrente oder Leistungen bei Berufsunfähigkeit keine Diskriminierungen wegen des Alters darstellen.
44
Nach seinem bekannten Diktum legt der EuGH auch diese Vorschrift als Ausnahmeregel zum Verbot der Altersdiskriminierung eng aus.3
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So hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Vorschrift nicht für alle betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit gilt, sondern nur für die ausdrücklich aufgeführten, die gerade die Risiken von Alter und Invalidität abdecken.4 Auch findet die Vorschrift nicht auf alle altersdifferenzierenden Regelungen dieser Systeme Anwendung, sondern ebenfalls nur auf die in Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL ausdrücklich genannten.5 Die Norm eröffnet eben keinen weiten Spielraum für jegliche Altersgrenzen in einem betrieblichen System der sozialen Sicherheit.6 Das gilt offensichtlich auch für Rege1 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 51 = NZA 2009, 305; Anm. Sagan, ZESAR 2009, 506. 2 Ulber, EuZA 2014, 202 (207). 3 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 46; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 41; Ulber, EuZA 2014, 202 (207). 4 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 48; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 43; Ulber, EuZA 2014, 202 (208). 5 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 52. 6 So aber BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, DB 2013, 1973 – Rz. 17 a.E.; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 31 a.E.
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Grundlagen
Rz. 47 § 4
lungen, die weniger stark wegen des Alters differenzieren als die genannten Altersgrenzen.1 Erfasst sind neben diesen Altersgrenzen, die Voraussetzung für den Bezug der Leistungen sind, somit nur noch Alterskriterien für versicherungsmathematische Methoden, nicht etwa die nach Alter gestaffelte Höhe der Beiträge zu einem – von Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL grundsätzlich erfassten – System der betrieblichen Altersversorgung.2 Eine solche Staffelung kann höchstens nach Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL gerechtfertigt werden.3 In der spärlichen Rechtsprechung des EuGH zu Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL ist bisher offen geblieben, ob über den Wortlaut der Vorschrift hinaus eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vergleichbar mit der des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL zu erfolgen hat.4 Angesichts des primärrechtlichen Verbotes der Altersdiskriminierung gem. Art. 21 Abs. 1 GRC ist das mit Rücksicht auf den Grundsatz des Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC unabhängig von Gesetzgebungsgeschichte und Systematik der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie5 zu bejahen.6 Andernfalls stellte Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL in seinem – wie gesehen allerdings sehr engen – Anwendungsbereich eine Erlaubnisnorm für Altersdiskriminierungen dar, die die aufgeführten Altersgrenzen zulässt, ohne dass sie einem legitimen Ziel dienen, erforderlich und angemessen sein müssen. Das ließe sich nur schwer mit Art. 21 Abs. 1, 52 Abs. 1 Satz 2 GRC in Einklang bringen.7
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e) Die deutsche Umsetzung In der Rechtfertigungsnorm des § 10 AGG hat der deutsche Gesetzgeber alle speziellen Ausnahmetatbestände zusammengefasst, die die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie für Ungleichbehandlungen wegen des Alters vorsieht. Er verzichtet somit bewusst darauf, einzelne altersdiskriminierende Regelungen im Arbeitsrecht den unionsrechtlichen Vorgaben anzupassen.8 Allerdings hat der deutsche Gesetzgeber die Grundsätze der Richtlinie gerade nicht umgesetzt,9 sondern lediglich abgeschrieben.10 Das sollte nach Ansicht der damaligen Bundesregierung eine flexible Handhabung ermöglichen,11 zeugt aber eher von mangelndem Gestaltungswillen und mangelndem rechtstechnischen Verständnis. An § 10 AGG sind nur einzel- und kollektivvertragliche Vereinbarungen zu messen.12 Auf einfache Bundesgesetze, findet dagegen die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie direkte Anwendung, da sie mit dem AGG auf derselben Rechtsquellenebene stehen. 1 Vgl. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 52; s. auch Ulber, EuZA 2014, 202 (208 f.). 2 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 49 ff. 3 Vgl. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 55 ff. 4 Dagegen Kamanabrou, RdA 2006, 321 (332); Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 (85); Senne, Auswirkungen des europäischen Verbots der Altersdiskriminierung auf das deutsche Arbeitsrecht, S. 165; Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, S. 280. 5 Vgl. dazu GA Kokott v. 7.2.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 46 ff. 6 Preis, BetrAV 2010, 513 (514). 7 Zweifelnd auch GA Kokott v. 7.2.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 50. 8 Däubler/Bertzbach/Brors, § 10 Rz. 4; für eine „spezifische Umsetzung“ auch Schiek, NZA 2004, 873 (878). 9 So aber BT-Drucks. 16/1780, 36. 10 Kritisch auch Däubler/Bertzbach/Brors, § 10 Rz. 2. 11 BT-Drucks. 16/1780, 36. 12 Vgl. BT-Drucks. 16/1780, 36; Temming, Altersdiskriminierung im Altersleben, S. 12 f.
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§4 48
Rz. 48
Verbot der Altersdiskriminierung
§ 10 Satz 1 und 2 AGG entspricht weitgehend Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Gleichb-RL. So ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters nur zulässig, wenn sie einem legitimen Ziel dient. An diesem Tatbestandsmerkmal entfaltet sich die ganze Problematik, die der Gesetzgeber ausgelöst hat, indem er einfach den Richtlinientext übernommen hat. Nach der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL in der Rechtsprechung des EuGH können nämlich nur sozialpolitische Ziele legitim sein (vgl. Rz. 26). Der nationale Gesetzgeber darf nach der Richtlinie also nur dann Ausnahmen vom Verbot der Altersdiskriminierung zulassen, wenn er damit ein sozialpolitisches Ziel verfolgt. Das setzt aber voraus, dass einzelne Ausnahmetatbestände vorhanden sind oder geschaffen werden, bei denen das Ziel überprüft werden kann. Stattdessen hat aber der deutsche Gesetzgeber die unionsrechtliche „Generalklausel“1 in § 10 Satz 1 und 2 AGG übernommen. Einzel- oder kollektivvertragliche Abreden, die eine Ungleichbehandlung wegen des Alters beinhalten, müssen somit gem. § 10 Satz 1 AGG einem legitimen Ziel dienen. Legitim können nach der Gesetzesbegründung auch Ziele sein, „die über die Situation eines einzelnen Unternehmens oder einer Branche hinausgehen und von allgemeinem Interesse sind“2. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber auch private Ziele zulassen wollte. Nun könnte man annehmen, dass dies Art. 6 Gleichb-RL widerspricht, nach dem in der Auslegung durch den EuGH nur sozialpolitische Ziele legitim sein können. Aber wie soll ein privater Arbeitgeber etwa mit der Gestaltung seiner Arbeitsverträge sozialpolitische Ziele oder Gemeinwohlziele verfolgen?3 Er mag im Einzelfall altruistische Ziele haben, sein Wirkungskreis ist aber doch auf seinen Betrieb oder sein Unternehmen beschränkt. In dieser Auslegung könnte keine altersdifferenzierende Regelung nach § 10 Satz 1 und 2 AGG gerechtfertigt werden; die Norm hätte keinen Anwendungsbereich. Diese Auslegung kann somit schwerlich richtig sein und sie wird von der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie auch gar nicht vorgeschrieben.4 Es ist nicht die Aufgabe privater Arbeitgeber, Gemeinwohlziele zu verfolgen, das ist Sache des Staates, vor allem des Gesetzgebers. Dieser muss entscheiden, welche Verhaltensweisen er zulässt, um diese Ziele zu erreichen, was der deutsche Gesetzgeber aber nicht getan hat. In der Begründung zum Entwurf des AGG heißt es dazu nur, die Legitimität des Ziels sei unter Berücksichtigung der fachlich-beruflichen Zusammenhänge aus Sicht des Arbeitgebers oder der Tarifvertragsparteien zu beurteilen.5 Das ist keine Eingrenzung. Der deutsche Gesetzgeber hat offensichtlich verkannt oder ignoriert, dass sich die Voraussetzungen in Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL ausschließlich an ihn selbst richten6 und eine Generalklausel wie § 10 Satz 1 und 2 AGG keine zulässige Umsetzung des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL ist,7 weil sie ja gerade keine erkennbaren sozialpolitischen Ziele verfolgt, wie Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL aber verlangt.8 Das bedeutet auch, dass die Rechtsprechung des EuGH zu den zulässigen Zielen im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL nicht direkt auf § 10 Satz 1 AGG übertragen werden 1 2 3 4 5 6 7
BT-Drucks. 16/1780, 36. BT-Drucks. 16/1780, 36. Krit. Däubler/Bertzbach/Brors, § 10 Rz. 15. Sagan, ZESAR 2009, 506 (507). BT-Drucks. 16/1780, 36. So – vor der Einführung des AGG – auch Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, 1234 (1237). Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, 1234 (1238); Senne, Auswirkungen des europäischen Verbots der Altersdiskriminierung auf das deutsche Arbeitsrecht, S. 190, wiederum bereits vor Einführung des AGG; kritisch auch Kamanabrou, RdA 2006, 321 (330), die im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL jedoch auch private Ziele als zulässig ansieht, die der Gesetzgeber nicht definieren könne; zweifelnd Löwisch, DB 2006, 1729 (1730). 8 Zweifelnd auch Bauer/Göpfert/Krieger, § 10 Rz. 11.
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Grundlagen
Rz. 51 § 4
kann. Gerade das war aber wohl Absicht des Gesetzgebers. Aus Angst, sich mit einzelnen Tatbeständen, die die Richtlinie tatsächlich umsetzen, vor dem EuGH die Finger zu verbrennen, wollte er mit dem geringstmöglichen Aufwand die größtmögliche Richtlinienkonformität erreichen. Das Gegenteil ist ihm gelungen. Die deutsche Gesetzeslage widerspricht somit den Vorgaben der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, insbesondere Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL. Eine behelfsmäßige Lösung für den Rechtsanwender kann folgende hypothetische Überlegung sein, die bei der Prüfung einer Ungleichbehandlung wegen des Alters anzustellen ist: Würde eine einfachgesetzliche Norm, die allgemein individual- oder kollektivvertragliche Ungleichbehandlungen wegen des Alters wie die zu prüfende erlaubt, einem legitimen – also sozialpolitischen – Ziel i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL dienen? Das wäre für die ArbG ein Weg, trotz des unzulänglichen § 10 Satz 1 und 2 AGG eine einigermaßen europarechtskonforme Rechtslage herzustellen. Das große Problem dabei ist, dass so die Gerichte die Arbeit des Gesetzgebers übernehmen, wofür auch nur ihm die Kompetenz zusteht. Allerdings ließe sich diese extensive richterliche Rechtsfortbildung damit legitimieren, dass der Gesetzgeber ja offensichtlich den Spielraum, in dem Art. 6 Gleichb-RL Altersdiskriminierungen zulässt, voll ausschöpfen wollte. So wie § 10 Satz 1 und 2 AGG verfasst sind, überlässt es der Gesetzgeber bewusst den Gerichten, die unbestimmten Rechtsbegriffe auszugestalten. Zudem trifft die Pflicht zur Richtlinienumsetzung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV auch die nationalen Gerichte in Form der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (s. dazu vgl. § 1 Rz. 143 ff.).
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Dies machen die ArbG auch, allerdings anders als im vorgeschlagenen Sinne. Insbesondere beim legitimen Ziel i.S.d. § 10 Satz 1 AGG verfolgt das BAG keine einheitliche Rechtsprechung. Teilweise akzeptiert es entsprechend der Gesetzesbegründung auch betriebs- und unternehmensbezogene Interessen, wobei es sich nicht um gesetzlich anerkannte Interessen handeln müsse.1 Teilweise definiert das Gericht das legitime Ziel gem. § 10 Satz 1 AGG aber auch im Gleichklang mit der EuGH-Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL als sozialpolitisches Ziel, das die Tarifvertragsparteien verfolgen müssten.2
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§ 10 Satz 3 AGG übernimmt die Regelungstechnik des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Gleichb-RL (vgl. Rz. 28 ff.). Dabei entsprechen Nr. 1 bis 3 wörtlich Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a bis c Gleichb-RL. Auch hier stellt sich die Frage, welche Funktion die Aufzählung in § 10 Satz 3 AGG hat; der Gesetzverfasser bezeichnet sie als „Regelbeispiele“3. Nach hier vertretener Ansicht normiert nur Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a Gleichb-RL ein spezielles legitimes Ziel.4 Allerdings steht der Gesetzesanwender hier vor demselben Problem wie bei der Generalklausel des § 10 Satz 1 und 2 AGG. Auch bei den „Regelbeispielen“ hat der Gesetzgeber eine Norm aus der Richtlinie kopiert, die sich tatsächlich an ihn selbst richtet. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a Gleichb-RL verlangt nicht, dass der private Arbeitgeber die berufliche Eingliederung von Jugendlichen oder älteren Beschäftigten und Personen mit Fürsorgepflichten fördern muss, wenn er nach dem Alter differenziert. Vielmehr soll der nationale Gesetzgeber Regelungen erlassen können, die Al-
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1 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07, NZA 2009, 945 – Rz. 53; v. 24.1.2013 – 8 AZR 429/11, NZA 2013, 498 – Rz. 45. 2 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 46. 3 BT-Drucks. 16/1780, 36, zumindest bezogen auf die Nr. 1 bis 4; s. auch Bauer/Göpfert/Krieger, § 10 Rz. 3, 11. 4 So auch BT-Drucks. 16/1780, 36; Kamanabrou, RdA 2006, 321 (330), die jedoch auch Nr. 3 als Konkretisierung ansieht.
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§4
Rz. 52
Verbot der Altersdiskriminierung
tersdifferenzierungen zulassen, solange er damit die berufliche Eingliederung fördert. 52
§ 10 Satz 3 Nr. 4 AGG entspricht Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL (vgl. Rz. 43 ff.). Diese Norm wiederum ist so konkret ausgestaltet, dass es zur Umsetzung genügt, sie wörtlich zu übernehmen. Allerdings heißt es in der Gesetzesbegründung, dass Altersgrenzen, insbesondere bei der betrieblichen Altersversorgung, regelmäßig keine Altersdiskriminierung darstellten.1 Auch das BAG geht davon aus, dass Altersgrenzen in den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit unionsrechtlich „in der Regel“ zulässig sind.2 Diese Auslegung widerspricht der engen Rechtsprechung des EuGH zu Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL (vgl. Rz. 44 f.). Somit sind ausschließlich die ausdrücklich genannten Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder Leistungen bei Invalidität zulässig. Nach zustimmungswürdiger Auslegung durch das BAG verlangt der deutsche Gesetzgeber, indem er den Tatbestand des Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL in § 10 Satz 3 AGG integriert hat, dass die altersdifferenzierende Regelung nach § 10 Satz 3 Nr. 4 auch nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG angemessen und erforderlich sein muss.3 Das gilt unabhängig davon, ob das bei Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL auch der Fall ist (vgl. Rz. 46).
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§ 10 AGG Satz 3 Nr. 5 und 6 AGG sind Erfindungen des deutschen Gesetzgebers. Hier hat er den Umsetzungsauftrag ernst genommen und eigene Rechtfertigungstatbestände für Altersdifferenzierungen geschaffen, die sich an Art. 6 Gleichb-RL messen lassen.
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§ 10 Satz 3 Nr. 5 AGG erlaubt Vereinbarungen, nach denen Beschäftigungsverhältnisse ohne Kündigung enden, sobald der Arbeitnehmer rentenberechtigt ist. Nach Aussage der Bundesregierung in der Sache Rosenbladt soll damit einem langjährigen politischen und sozialen Konsens Rechnung getragen werden, der auf der Arbeitsteilung der Generationen beruhe. Regelungen wie § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG kämen jüngeren Arbeitnehmern zu Gute, indem sie deren berufliche Integration erleichterten.4 Der EuGH ist dieser Argumentation weitgehend gefolgt (vgl. Rz. 119 f.). Die von der Bundesregierung angeführten Ziele des § 10 Abs. 5 AGG seien legitim i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL.5 § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG stehen somit keine europarechtlichen Bedenken entgegen.6
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§ 10 Satz 3 Nr. 6 AGG erlaubt es, Leistungen in Sozialplänen auch anhand des Lebensalters zu berechnen bzw. ältere Arbeitnehmer von solchen Leistungen auszuschließen, wenn sie rentenberechtigt und somit wirtschaftlich abgesichert sind (zu Sozialplänen vgl. Rz. 99 ff.). f) Art. 7 Gleichb-RL
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Nach Art. 7 Gleichb-RL hindert der Gleichbehandlungsgrundsatz die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezi1 BT-Drucks. 16/1780, 36. 2 BAG v. 17.9.2013 – 3 AZR 686/11, NZA 2014, 33 – Rz. 20; v. 12.11.2013 – 3 AZR 356/12, NZA 2014, 848 – Rz. 24; v. 18.3.2014 – 3 AZR 69/12, NZA 2014, 606 – Rz. 22. 3 BAG v. 17.9.2013 – 3 AZR 686/11, NZA 2014, 33 Rz. 21; v. 12.11.2013 – 3 AZR 356/12, NZA 2014, 848 Rz. 25. 4 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 43 = NZA 2010, 1167. 5 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 45 = NZA 2010, 1167; dazu auch Brors, RdA 2012, 346 (348). 6 So auch Bauer/Göpfert/Krieger, § 10 – Rz. 39; Däubler/Bertzbach/Brors, § 10 Rz. 92; a.A. Waltermann, ZfA 2006, 305 (324).
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Grundlagen
Rz. 58 § 4
fische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen u.a. wegen des Alters verhindert oder ausgeglichen werden. Diese Vorschrift ermöglicht positive Maßnahmen im Hinblick auf alle verbotenen Differenzierungen und entspricht inhaltlich Art. 157 Abs. 4 AEUV. Positive Maßnahmen in Bezug auf das Lebensalter lassen sich jedoch auch mit Hilfe des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a Gleichb-RL rechtfertigen („Förderung bzw. Schutz von Arbeitnehmern“). Allerdings ist zu beachten, dass die Begünstigung der einen Altersgruppe immer eine unmittelbare Diskriminierung der anderen Altersgruppe darstellt, die von der Begünstigung ausgeschlossen ist. Rechtmäßig können solche Maßnahmen nur sein, wenn sie den Anforderungen der Art. 4 oder 6 Gleichb-RL genügen.
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3. Prüfungsschema Altersdiskriminierung nach der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG: I.
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Anwendungsbereich der Gleichb-RL 1. Persönlicher Anwendungsbereich: unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff (vgl. § 1 Rz. 110 ff.; § 3 Rz. 33 ff.) 2. Sachlicher Anwendungsbereich: Art. 3 Gleichb-RL (vgl. Rz. 6) a) Eröffnung des Anwendungsbereichs aa) Zugang zur Erwerbstätigkeit bb) Zugang zu Berufsausbildung, beruflicher Weiterbildung und Umschulung cc) Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen oder dd) Mitgliedschaft oder Mitwirkung in einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisation b) Ausnahme: Sozialsysteme, die kein Entgelt i.S.d. Art. 157 Abs. 2 AEUV erbringen (vgl. Rz. 7)
II. Diskriminierung wegen des Alters: Art. 2 Gleichb-RL 1. Unmittelbare Diskriminierung (vgl. § 3 Rz. 107 ff.) oder 2. Mittelbare Diskriminierung a) Dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren b) Benachteiligung von Personen eines bestimmten Alters und c) Keine Rechtfertigung (vgl. Rz. 15 f.) 3. Belästigung (vgl. § 3 Rz. 171 ff.) 4. Anweisung zur Diskriminierung (vgl. § 3 Rz. 180 ff.) III. Rechtfertigung 1. Betriebliche Altersversorgung: Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL – Sachlicher Anwendungsbereich (vgl. Rz. 43 f.) – Altersgrenzen für Mitgliedschaft oder Rentenbezug (vgl. Rz. 45) – Verhältnismäßigkeit; str. (vgl. Rz. 46) 2. Besonderer Rechtfertigungsgrund für Altersdiskriminierungen: Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL – Legitimes, d.h. sozialpolitisches Ziel (vgl. Rz. 24 ff.) Preis
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§4
Rz. 59
Verbot der Altersdiskriminierung
– Geeignetheit: Ggf. weiter Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten und Sozialpartner (vgl. Rz. 35) – Erforderlichkeit, insb. innere Kohärenz (vgl. Rz. 36 ff.) – Verhältnismäßigkeit (vgl. Rz. 37 ff.) 3. Berufliche Anforderungen: Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL – Wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung (vgl. Rz. 17 ff.) – Verhältnismäßigkeit (vgl. Rz. 20 ff.) 4. Öffentliche Sicherheit und Ordnung: Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL – Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zur Kriminalitätsprävention, zum Gesundheitsschutz oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (vgl. Rz. 15 ff.) 5. Positive Maßnahmen: Art. 7 Gleichb-RL (vgl. § 3 Rz. 228 ff.)
III. Anwendungsbereich 59
Die Auswirkungen des unionsrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung betreffen das gesamte Arbeitsverhältnis, von der Anbahnung bis zur Beendigung. Das Unionsrecht kommt dabei entweder mittelbar zur Anwendung, insbesondere über die nationalrechtlichen Normen, die die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie umsetzen1 und die richtlinienkonform auszulegen sind. Nur ausnahmsweise – etwa bei altersdiskriminierenden – Gesetzen ist unmittelbar auf das primäre Unionsrecht zurückzugreifen. Im Übrigen spricht freilich auch das BAG von einem „schon vor seiner Konkretisierung durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie im primären Unionsrecht verankerten Verbot der Diskriminierung wegen des Alters“2. 1. Anbahnung und Begründung des Arbeitsverhältnisses a) Ausschreibung
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Erst seit Inkrafttreten des AGG entfaltet das Diskriminierungsverbot bei der Anbahnung von Arbeitsverhältnissen Wirkung. Altersbezogene Ausschreibungen sind für den Arbeitgeber gefährlich geworden, obwohl sie aus den Stellenausschreibungen noch nicht verschwunden sind. Viele Stellenanzeigen knüpfen (ebenfalls) an die Berufserfahrung an. Gemäß § 11 AGG darf ein Arbeitsplatz nicht unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG ausgeschrieben werden.
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Nennt die Stellenausschreibung ein konkretes Alter oder eine Altersspanne, liegt gem. § 3 Abs. 1 AGG eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters vor, die zu rechtfertigen ist (Arbeitgeber sucht „junge Bewerber“3). Unbedachte Äußerungen im Kontext eines Bewerbungsverfahrens, die auf eine Altersdiskriminierung schließen lassen, bilden Indizien, die eine Altersdiskriminierung nach § 22 AGG vermuten lassen und zu einer Beweislastumkehr führen.4 1 2 3 4
Im deutschen Recht vor allem das AGG. BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, NZA 2012, 866. Vgl. BAG v. 19.8.2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412. BGH v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, NZA 2012, 797 (Verweigerung der Verlängerung des Dienstvertrages eines 61-jährigen GmbH-Geschäftsführers mit den Worten: „Wir brauchen jemanden, der die Kliniken auch langfristig in den Wind stellen kann.“); dazu ausf. Preis/Sagan, ZGR 2013, 26 (59 ff.).
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Anwendungsbereich
Rz. 63 § 4
Ebenfalls benachteiligend und grundsätzlich unzulässig sind Stellenausschreibungen, die mittelbar diskriminierende Merkmale enthalten. So kann die Anforderung „1. Berufsjahr“ eine Benachteiligung wegen des Alters darstellen,1 ebenso wie das Kriterium „Hochschulabsolventen“ und „Berufsanfänger“2 im Zusammenspiel mit der Bezeichnung „Young Professionells“3 (sic!). Mittelbar diskriminierend können auch Merkmale wie „null bis zwei Jahre Berufserfahrung“4, „Mitglied eines jungen und motivierten Teams“5 oder „Hochschulabschluss […], der nicht länger als 1 Jahr zurück liegt“6 sein. Dies gilt jedoch nur insoweit, als das Alter für die zu besetzende Stelle nicht entscheidend ist oder die unterschiedliche Behandlung nicht objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Gemäß § 8 Abs. 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn es wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. In aller Regel ist nicht erkennbar, dass entsprechende Altersdifferenzierungen gerechtfertigt sein können und zwar auch nicht nach der etwas schwächeren Rechtfertigungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 AGG. Das BAG erkennt allerdings im Anschluss an die EuGH-Rechtsprechung zu Altersgrenzen die Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur als „legitimes Ziel“ i.S.d. § 10 Satz 1 AGG prinzipiell an, hat aber offen gelassen, ob das auch für die Einstellung ausschließlich junger Arbeitnehmer gelten kann.7 Die benachteiligende Stellenausschreibung als solche zieht als solche keine unmittelbaren Sanktionen nach sich, insbesondere folgt daraus kein Einstellungsanspruch (§ 15 Abs. 6 AGG). Allerdings begründet sie die Vermutung eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot. Sie ist ausreichendes Indiz i.S.d. § 22 AGG.8 Die Anknüpfung an die Berufserfahrung lässt sich daher eher rechtfertigen. Nach Ansicht des BAG handelt es sich allenfalls um eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters gem. §§ 3 Abs. 2, 1 AGG.9 Personal- und Nachwuchsplanung oder die Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur können als legitime Gründe im Rahmen des § 3 Abs. 2 AGG angesehen werden.
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b) Einstellungshöchstaltersgrenzen Im Arbeitsrecht sind Einstellungshöchstaltersgrenzen wenig verbreitet, ganz anders dagegen im Beamtenrecht. Der EuGH bestätigte eine solche im Fall Wolf. Jener Herr Wolf hatte sich um eine Einstellung in den mittleren feuerwehrtechnischen Dienst einer deutschen Stadt beworben und wäre zum Einstellungszeitpunkt 31 Jahre alt gewesen. Die Stadt lehnte die Einstellung mit dem Hinweis auf die in einer entsprechenden Verordnung des Bundeslandes festgelegte Einstellungshöchstaltersgrenze von 30 Jahren ab. Der Gerichtshof würdigte die Einsatzbereitschaft und das ordnungsgemäße Funktionieren der Berufsfeuerwehr, die die deutsche Bundesregierung als 1 BAG v. 18.8.2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222. 2 LAG Köln 23.1.2013 – 3 Sa 686/12 (Nichtzulassungsbeschwerde verworfen unter 8 AZN 466/13). 3 BAG v. 24.1.2013 – 8 AZR 429/11, NZA 2013, 498 – Rz. 41. 4 LAG Köln 20.11.2013 – 5 Sa 317/13; ähnl. auch LAG Berlin-Bdb. v. 31.10.2013 – 21 Sa 1380/13 (Revision eingelegt unter 8 AZR 477/14). 5 LAG Schl.-Holst. v. 29.10.2013 – 1 Sa 142/13; ähnl. auch LAG München 13.11.2012 – 7 Sa 105/12, BB 2013, 570; LAG Berlin-Bdb. v. 8.8.2013 – 26 Sa 1083/13. 6 LAG Hessen 18.3.2013 – 7 Sa 1257/12 (Revision eingelegt unter 8 AZR 848/13). 7 BAG v. 24.1.2013 – 8 AZR 429/11, NZA 2013, 498 – Rz. 49 f. 8 BAG v. 19.8.2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412 – Rz. 57 ff. 9 BAG v. 18.8.2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222 – Rz. 25.
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§4
Rz. 64
Verbot der Altersdiskriminierung
Zwecke der Höchstgrenze angegeben hatte, als rechtmäßig i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL.1 Der EuGH bezieht sich dabei auf ErwGr. 18 Gleichb-RL, wonach es Notfalldiensten wie der Feuerwehr nicht zur Auflage gemacht werden dürfe, Personen einzustellen, die nicht den jeweiligen Anforderungen entsprechen, um die ihnen übertragenen Aufgaben zu erfüllen.2 Weiter folgt das Gericht der Bundesregierung, die dargelegt hatte, dass eine besondere körperliche Eignung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung der Berufsfeuerwehr sei und diese Eignung mit zunehmendem Alter abnehme.3 Bei der Angemessenheit prüfte der EuGH tatsächlich nur die Erforderlichkeit der 30-Jahres-Grenze. Dabei legte er das von der Bundesregierung mit wissenschaftlichen Daten unterfütterte Vorbringen zugrunde, wonach Feuerwehrleute ab einem Alter von 45 bis 50 Jahren die körperlichen Anforderungen nicht mehr erfüllen und andere Aufgaben übernehmen. Demnach könne ein Beamter, der mit maximal 30 Jahren eingestellt wird, die körperlich anspruchsvollen Aufgaben doppelt so lange ausführen, wie ein mit 40 Jahren eingestellter Beamter.4 Damit ist die Einstellungsgrenze für den EuGH erforderlich, angemessen und die Altersdiskriminierung somit gerechtfertigt gem. Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL.5 64
Das BVerwG geht bislang über die Problematik nonchalant hinweg und erklärt die höchst problematische, und nur mit dem Alimentationsprinzip bzw. dem Interesse des Dienstherrn an einem ausgewogenen Verhältnis von Lebensdienstzeit und Ruhestandszeit zu rechtfertigende Einstellungsgrenze von 40 Jahren für beamtete Lehrer für europarechtlich zulässig.6 Die Selbstsicherheit des BVerwG ist bemerkenswert. Bei dieser Entscheidung liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nahe (vgl. § 13 Rz. 63 ff.).
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Bemerkenswerte arbeitsrechtliche Entscheidungen waren hingegen die in zwei Sonderbereichen des Arbeitsrechts eingezogenen starren Höchstaltersgrenzen für die Einstellung von Piloten bei der Lufthansa und von wissenschaftlichen Mitarbeitern an der Universität Bonn.
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In dem Lufthansa-Fall7 entschied das BAG, dass eine tarifvertragliche Betriebsnorm, die für ein Luftfahrtunternehmen das Höchstalter für die Einstellung von in anderen Luftfahrtunternehmen ausgebildeten Piloten auf 32 Jahre und 364 Tage festlegt, in unverhältnismäßiger Weise die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Freiheit der Berufswahl älterer Arbeitsplatzbewerber verletzt. Bemerkenswert ist, dass der 7. Senat die mit der Altersgrenze verbundene Gruppenbildung wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und gegen das Verbot der Altersdiskriminierung nach Maßgabe des §§ 1, 3, und 7 Abs. 1 AGG verwarf. Es sei nicht erkennbar, dass die Tarifvertragsparteien mit der Höchstaltersgrenze legitime Ziele i.S.v. § 10 Satz 1 AGG verfolgt hätten. In der Sache war diese sachwidrige Höchstaltersgrenze wohl eher dadurch motiviert, sich unliebsame Konkurrenz von bei anderen Unternehmen ausgebildeten Flugzeugführern fernzuhalten. 1 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 39 = EuZW 2010, 142; das vorlegende Gericht hatte seine Vorlagefrage dagegen auf Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL bezogen. 2 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 38 = EuZW 2010, 142. 3 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 40 f. = EuZW 2010, 142; dagegen argumentiert GA Mengozzi, dass solche Anforderungen bei einer örtlichen spanischen Polizei nicht bestünden und daher ein Einstellungshöchstalter von 30 Jahren nicht zulässig sei, GA Mengozzi v. 17.7.2014 – Rs. C-416/13 – Pérez – Rz. 17 ff. 4 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 43 = EuZW 2010, 142. 5 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010 – I-1 – Rz. 44 f. = EuZW 2010, 142; zust. Röbke, EuZW 2010, 145 (145). 6 BVerwG v. 26.3.2012 – 2 B 26/11. 7 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751.
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Rz. 70 § 4
Unzulässige unmittelbare Benachteiligungen wegen des Alters stellen auch Einstellungshöchstaltersgrenzen im Universitätsbereich dar, mit deren Hilfe das hochschulpolitische Ziel verfolgt werden soll, das Erstberufungsalter für Professoren und Professorinnen herabzusetzen. Danach darf eine Universität zu Recht nicht die Weiterbeschäftigung bzw. Befristung eines Arbeitsvertrages nach dem WissZeitVG bzw. TzBfG verweigern, nur weil der Nachwuchswissenschaftler bzw. die Nachwuchswissenschaftlerin das 40. Lebensjahr erreicht hat – noch dazu, wenn die Nachwuchsqualifikation nicht für den eigenen Bedarf erfolgt, weil sog. Hausberufungen grundsätzlich nicht vorgenommen werden.1 Das BAG hat zu Recht in dieser altersdiskriminierenden Befristungsregelung einen Verstoß gegen § 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG gesehen und die Universität zur unbefristeten Weiterbeschäftigung des Wissenschaftlers verurteilt.2 Die Ziele, die die Universität verfolgt habe, seien allesamt keine Ziele, die nach Maßgabe des § 10 AGG legitim seien.
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2. Durchführung des Arbeitsverhältnisses a) Die Kriterien Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit und Lebensalter Verbreitet ist die Anknüpfung arbeitsrechtlicher Regelungen an die Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit. Derartige begünstigende Senioritätsregeln bevorzugen ältere Arbeitnehmer. Spiegelbildlich wirken sie sich gegenüber jüngeren Arbeitnehmern benachteiligend aus. Wird an das Lebensalter angeknüpft, liegt eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters vor. Ist Grundlage die Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit, kann eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters gegeben sein. Denn höheres Lebensalter und längere Betriebszugehörigkeit korrelieren miteinander.3
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Die Honorierung der Dauer der Betriebszugehörigkeit ist zunächst Ausdruck der bislang erbrachten Treue des Arbeitnehmers zum Betrieb.4 Die Honorierung der Betriebstreue kann vergangenheitsbezogen erfolgen; der Arbeitgeber kann aber auch mit der Honorierung der Betriebszugehörigkeit einen Anreiz geben wollen, dem Betrieb länger anzugehören.
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Erwünschte Nebenfolge einer längeren Betriebszugehörigkeit für den Arbeitgeber ist oftmals, dass sich die anfänglichen Einstellungs- und Einarbeitungskosten amortisieren und der Arbeitnehmer zunehmende Erfahrung sammelt. Mit der Betriebszugehörigkeit wird in diesem Fall also die höhere Berufserfahrung des Arbeitnehmers im Allgemeinen und Besonderen honoriert.5 Die Bemessung des Entgelts nach der Betriebszugehörigkeit ist daher nicht zu beanstanden, wenn und soweit sie „den Arbeitnehmer befähigt, seine Arbeit besser zu verrichten“.6
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1 LAG Köln 12.2.2009 – 7 Sa 1132/08, ZTR 2009, 596; mit Anm. Kossens, jurisPR-ArbR 40/2009 Anm. 5. 2 BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 524/09, NZA 2011, 970. 3 OECD, Alterung und Beschäftigungspolitik, 2005, S. 61 (Abb. 2.11). 4 Erstmals EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-196/02 – Nikoloudi, Slg. 2005, I-1789 – Rz. 63 = NZA 2005, 807. 5 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2007, I-9583 – Rz. 34 ff. = NJW 2007, 47; v. 10.3.2005 – Rs. C-196/02 – Nikoloudi, Slg. 2005, I-1789 – Rz. 55 = NZA 2005, 807; v. 2.10.1997 – Rs. C-1/95 – Gerster, Slg. 1997, I-5253 – Rz. 39 = NZA 1997, 1277; v. 2.10.1997 – Rs. C-100/95 – Kording, Slg. 1997, I-5289 – Rz. 23 = NZA 1997, 1221; v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 – Nimz, Slg. 1991, I-297 – Rz. 14 = NVwZ 1991, 461; v. 17.10.1989 – Rs. 109/88 – Danfoss, Slg. 1989, 3199 – Rz. 22 f. = NZA 1990, 772. 6 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2006, I-9583 – Rz. 35 = NZA 2006, 1205; 18.6. 2009 – Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325 – Rz. 47 = NZA 2009, 891; vgl. auch v. 9.6.2014
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§4
Rz. 71
Verbot der Altersdiskriminierung
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Dass Arbeitgeber das Kriterium der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit als Instrument der abstrakten Generalisierung grundsätzlich verwenden dürfen, hatte der EuGH in ständiger Rechtsprechung auf dem Feld der Geschlechterdiskriminierung anerkannt. Bei beiden Gesichtspunkten handelt es sich um legitime unternehmerische Ziele. In seiner Entscheidung Cadman hat er darin grundsätzlich auch keine mittelbare Diskriminierung gegenüber Frauen gesehen,1 obwohl Frauen bei gleichem Lebensalter eine durchschnittlich geringere Dauer der Betriebszugehörigkeit aufweisen.
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Die Verwendung der Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit entbindet den Arbeitgeber gleichwohl nicht von einer grundsätzlichen Rechtfertigungspflicht. Der EuGH dürfte so zu verstehen sein, dass sich der Arbeitgeber auf den hinter der Honorierung der Berufserfahrung stehenden Erfahrungssatz berufen kann. Der EuGH räumt dem Arbeitnehmer aber die Möglichkeit ein, bei ernsthaften Zweifeln die hinter der abstrakten Generalisierung stehende Vermutung zu widerlegen.2 Wenn ihm oder ihr dies gelingt, muss der Arbeitgeber seinerseits nun überzeugenden Beweis erbringen. Was die Honorierung bzw. Bewertung der Berufserfahrung angeht, kommt es also auf den Einzelfall und damit die einzelne Tätigkeit an. Knüpft allerdings die Eingruppierung von Beamten bei ihrer Einstellung alleine an das Lebensalter an, liegt hierin eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters, die auch nicht gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL gerechtfertigt ist. Die Regelung geht laut EuGH über das hinaus, was erforderlich ist, um das legitime Ziel – die Honorierung der Berufserfahrung – zu erreichen.3 Bemerkenswert ist, dass der EuGH gleichzeitig eine Übergangsregelung, die das aufgrund der diskriminierenden Eingruppierung festgelegte Grundgehalt der Beamten als Maßstab nahm, als nach Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL gerechtfertigt ansah.4 Als Rechtfertigung reichte alleine das Argument aus, dass ansonsten mehr als 65 000 Einzelfälle hätten überprüft werden müssen. Deswegen sei der nationale Gesetzgeber mit der (diskriminierenden!) Übergangsregelung nicht über das Erforderliche hinausgegangen.5 b) Vergütungs- und Urlaubsregelungen
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Der EuGH hat altersdifferenzierende Regelungen der Entgeltgestaltung als diskriminierend erachtet, sofern diesen Abstufungen ein sachgerechtes Ziel fehlt.6 Unzulässig sind danach sog. Altersstaffeln in Tarifverträgen, die den Lohn der Arbeitnehmer von ihrem Alter abhängig machen, weil sie eine unmittelbar auf dem Kriterium des Alters beruhende Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a Gleichb-RL seien.7
1 2 3
4 5 6 7
– verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 u. C-541/12 – Specht u.a., NZA 2014, 831 – Rz. 48. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2007, I-9583 – Rz. 36 ff. = NJW 2007, 47. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman, Slg. 2007, I-9583 – Rz. 40 = NJW 2007, 47. EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/ u. C-541/12 – Specht u.a., NZA 2014, 831 – Rz. 51. Der EuGH weist aber darauf hin, dass dennoch nicht zwangsläufig eine rückwirkende „Anpassung nach oben“ erfolgen müsse, Rz. 108; dazu auch Lingemann, NZA 2014, 827. EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/ u. C-541/12 – Specht u.a., NZA 2014, 831 – Rz. 53 ff.; dazu auch Lingemann, NZA 2014, 827 (828). EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/ u. C-541/12 – Specht u.a., NZA 2014, 831 – Rz. 85. EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. C-298/10 – Hennigs/Mai, Slg. 2011, I-7965 = NZA 2011, 1100. EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. C-298/10 – Hennigs/Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 59 = NZA 2011, 1100.
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Rz. 76 § 4
Das Ziel, durch die höhere Entlohnung eine längere Berufserfahrung zu honorieren, sieht der EuGH zwar als legitim an.1 Allerdings dürfe zur Erreichung dieses Ziels nicht alleine an das Lebensalter angeknüpft werden, da mit einem höheren Lebensalter zwar regelmäßig, aber nicht zwangsläufig eine längere Berufserfahrung verbunden sei.2 Während die Altersstaffelungen hinsichtlich der Vergütung weitgehend der Vergangenheit angehören, sind altersdifferenzierende Urlaubsregelungen noch immer verbreitet. Das BAG hat entsprechend der Rechtsprechung des EuGH Regelungen von Urlaubsansprüchen für Arbeitnehmer, die nach Altersstufen differenzieren, für diskriminierend erachtet, wenn der Abstufung kein sachliches Ziel zu Grund liegt.3 Außerdem wird die relativ junge Norm des § 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD, wonach Beschäftigte nach der Vollendung ihres 40. Lebensjahres in jedem Kalenderjahr Anspruch auf 30 Arbeitstage Urlaub haben, während der Urlaubsanspruch bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres nur 26 Arbeitstage und bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres nur 29 Arbeitstage beträgt, vom BAG als unmittelbare, nicht gerechtfertigte Diskriminierung wegen des Alters eingeordnet. Das BAG begründet im Einzelnen, dass die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in § 26 TVöD weder den Schutz der Gesundheit bezweckten noch einem gesteigerten Erholungsbedürfnis älterer Beschäftigter Rechnung tragen wollten. Bei einer Anknüpfung an die Gruppe der über 50- oder über 60-jährigen Beschäftigten wäre möglicherweise ein altersbedingt gesteigertes Erholungsbedürfnis eher nachvollziehbar gewesen. Die praktisch wichtigste Frage, ob als Rechtsfolge der Anspruch auf „Anpassung nach oben“ greift, hat die Rechtsprechung ebenfalls bejaht. Für die Vergangenheit bleibt auch bei tarifvertraglichen Regelungen kein anderer Weg als die Gleichbehandlung „nach oben“, um den Gleichheitsverstoß zu beseitigen.4
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3. Beendigung des Arbeitsverhältnisses a) Gesetzliche Kündigungsfristen Nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB wurden bei der Berechnung der Länge der Kündigungsfristen in Deutschland Zeiten nicht berücksichtigt, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen.5
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Historisch leitet sich § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB aus den beiden Fassungen bis zum 30.6.1990 bzw. 14.10.1993 und § 2 Abs. 1 Satz 3 AngKSchG i.d.F. bis zum 14.10. 1993 ab.6 Gesetzgeberisches Anliegen des vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. (1990), der für Arbeiter und Arbeiterinnen noch das 35. Lebensjahr und nicht wie im AngKSchG das 25. Lebensjahr vorsah, war die als notwendig hervorgehobene Mobilität der Arbeiter bzw. Arbeiterinnen; ein Argument, welches das BVerfG unter Berücksichtigung des oben beschriebenen
76
1 EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. C-298/10 – Hennigs/Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 72 = NZA 2011, 1100. 2 EuGH v. 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 u. C-298/10 – Hennigs/Mai, Slg. 2011, I-7965 – Rz. 76 f. = NZA 2011, 1100. 3 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803; vgl. schon BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 481/09, NZA-RR 2012, 100. 4 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803. 5 Zur Übertragung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auf tarifliche Kündigungsfristen, vgl. BAG v. 12.11.1998 – 2 AZR 80/89, NZA 1999, 489 (490). 6 S.a. BVerfG v. 16.11.1982 – 1 BvL 16/75 u. 36/79, DB 1983, 450; BAG v. 16.1.1992 – 2 AZR 657/87, NZA 1992, 591; Art. 2 des Gesetzes v. 26.6.1990, BGBl. I, 1206; Kündigungsfristengesetz v. 7.10.1993, BGBl. I 1993, 1668.
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§4
Rz. 77
Verbot der Altersdiskriminierung
einheitlichen Schutzzwecks der Kündigungsfristen nicht akzeptierte.1 Ein aktuelles gesetzgeberisches Argument für die Nichtberücksichtigung von Zeiten der Beschäftigung vor dem 25. Lebensjahr ist nicht ersichtlich; die Gesetzesmaterialien zur Ursprungsfassung erwähnen den Schutz älterer Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit.2 77
Der EuGH hat diese sinnlos differenzierende Norm in der Rechtssache Kücükdeveci vom 19.1.2010 für europarechtswidrig erklärt.3 § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB stellt danach eine unmittelbare Altersdiskriminierung i.S.d. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie dar, die nicht gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL zu rechtfertigen ist. Das vom EuGH im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL als rechtmäßig anerkannte Ziel der Entlastung des Arbeitgebers kann zu Recht dadurch nicht auf verhältnismäßige Weise verfolgt werden. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist bereits keine geeignete Maßnahme. Denn die Regelung trifft auch diejenigen, die über 25 Jahre alt sind und die behauptete Flexibilität nicht mehr aufweisen. Unabhängig davon werden zudem junge Arbeitnehmer untereinander ungleich behandelt. Im Ergebnis, so der EuGH, würden nämlich diejenigen jungen Menschen härter getroffen, die ohne oder nach nur kurzer Berufsausbildung früh eine Arbeitstätigkeit aufnehmen. Hingegen würden diejenigen keine Nachteile erleiden, die nach einer langen Ausbildung später einen Beruf ergriffen. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist infolge der Entscheidung Kücükdeveci unanwendbar und darf zur Berechnung gesetzlicher bzw. tariflicher Kündigungsfristen nicht mehr herangezogen werden. Der Entscheidung ist vorbehaltlos zuzustimmen. Das BAG hat sie umgesetzt.4 Das Urteil des EuGH wirkt sich auch auf im Zeitpunkt seiner Verkündung bereits beendete Arbeitsverhältnisse bzw. anhängige Kündigungsschutzverfahren aus. Das gilt im Grundsatz für Sachverhalte ab dem 2.12.2006 (vgl. Art. 18 Gleichb-RL).5 Auch § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB, nach dem sich die Kündigungsfrist sich mit zunehmender Dauer der Betriebszugehörigkeit verlängert, benachteiligt nach dem Alter, allerdings mittelbar. Das BAG hält die Regelung jedoch für gerechtfertigt gem. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Nr. i Gleichb-RL, weil sie betriebstreuen, typischerweise älteren Arbeitnehmern verbesserten Kündigungsschutz gewähre.6 Die konkrete Staffelung sei auch angemessen und erforderlich. b) Tariflicher Ausschluss der ordentlichen Kündbarkeit
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Über verlängerte Kündigungsfristen für ältere Arbeitnehmer hinaus sehen Tarifverträge Unkündbarkeitsklauseln vor,7 die die ordentliche Kündigung meistens durch eine Kombination von Lebensalter und Dauer der Betriebszugehörigkeit ausschließen. Solche Klauseln bewirken, dass der Arbeitgeber grundsätzlich nur noch nach Maßgabe des § 626 BGB aus wichtigem Grund kündigen kann.
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Die extremste Form der Unkündbarkeit ist in § 4.4 mehrerer Manteltarifverträge der Metallindustrie (MTV) vereinbart; an dieser Klausel scheiden sich seit Jahren 1 BVerfG v. 16.11.1982 – 1 BvL 16/75 u. 36/79, DB 1983, 450 (451). 2 RArbBl. 1926, Nr. 28, S. 488; dieser Aspekt wird in BT-Drucks. 12/4907, 6, BT-Drucks. 12/4902, 7 und BT-Drucks. 12/5228 aber nicht mehr aufgegriffen. 3 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 = NZA 2010, 85. 4 Vgl. BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 714/08, NZA 2011, 343; a.A. v. Medem, NZA 2009, 1072. 5 Dazu Preis/Temming, NZA 2010, 185 (188 ff.); s.a. Gaul/Koehler, BB 2010, 503; Joussen, ZESAR 2010, 185. 6 BAG v. 18.9.2014 – 6 AZR 636/13. 7 Zur Geschichte des tariflichen Alterskündigungsschutzes vgl. Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, S. 9 ff.; Buse, Die Unkündbarkeit im Arbeitsrecht.
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Rz. 82 § 4
die Geister.1 Der Ausschluss der ordentlichen Kündigung setzt hier ab dem 53. Lebensjahr bei drei Jahren Betriebszugehörigkeit ein. Diese Klausel benachteiligt Arbeitnehmer unter 53 Jahren gem. §§ 3 Abs. 1, 1 AGG unmittelbar wegen des Lebensalters2 und benachteiligt sie zudem wegen des Abstellens auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit möglicherweise mittelbar gem. §§ 3 Abs. 2, 1 AGG. Die durch die Betriebszugehörigkeit hervorgerufene Belastung ist aber relativ mild, weil nur drei Jahre verlangt werden. Dieser Effekt wird durch das vorausgesetzte Lebensalter überlagert. Im Rahmen der Rechtfertigung ist jedes Merkmal getrennt zu betrachten, vgl. auch § 4 AGG. Die durch das Abstellen auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit verursachte Benachteiligung kann gem. § 3 Abs. 2 AGG mit der Honorierung der Betriebstreue gerechtfertigt werden. Sie ist ein rechtmäßiges Ziel i.S. dieser Vorschrift. In Zusammenschau mit dem Lebensalter ist erkennbar, dass die Tarifvertragsparteien auf die ältere Stammbelegschaft sowie mobile ältere Arbeitnehmer zielen, weil eine dreijährige Betriebszugehörigkeit auch bei mehrmaligem Arbeitgeberwechsel erlangt werden kann. Dass die Tarifvertragsparteien diese beiden Zielgruppen im Visier haben, begegnet für sich gesehen keinen Bedenken. Die Honorierung der Betriebstreue mit einer tariflichen Unkündbarkeit ist insgesamt betrachtet auch verhältnismäßig. Hat man nur die geringe Dauer der Betriebszugehörigkeit im Blick, ist dieses Geschenk für den Arbeitgeber natürlich ein teures; als Korrelat dagegen wirkt aber das relativ hohe Lebensalter.
80
Für die durch die Anknüpfung an das Lebensalter bewirkte unmittelbare Diskriminierung scheidet das legitime Ziel der Honorierung der Betriebstreue aus. Andere legitime Ziele außer dem Schutz bzw. Förderung älterer Arbeitnehmer ab dem 53. Lebensjahr gem. § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG sind nicht ersichtlich. Die tarifliche Unkündbarkeitsklausel müsste als positive Maßnahme verhältnismäßig sein. Sie ist sicherlich geeignet, ältere Arbeitnehmer über 53 Jahren zu schützen. Versteht man unter Förderung auch berufliche Eingliederungsmaßnahmen und darunter wiederum Maßnahmen, die Arbeitnehmer im Beruf halten, ist die Unkündbarkeitsklausel auch unter diesem Gesichtspunkt geeignet. Freilich könnte die Rechtfertigung der Unkündbarkeitsklausel an ihrer mangelnden Erforderlichkeit scheitern. Denn mittels der Anknüpfung an ein konkretes Lebensalter kann kein altersspezifisches Bedürfnis korrekt abgebildet werden. Das betrifft sowohl gesundheitliche Aspekte als auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere ist ein höheres Lebensalter auch nicht kausal für ein höheres Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit.3 Schließlich spricht gegen die Erforderlichkeit dieser Klausel, dass Arbeitnehmer unter 53 Jahren mit denselben Problemen keine Chance auf Unkündbarkeit im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung haben.
81
Das BAG hat die Wirkungen der tariflichen Unkündbarkeit im MTV kritisiert, aber nicht verworfen.4 Das Ziel, ältere Arbeitnehmer, die geringere Chancen auf eine neue Arbeitsstelle hätten als Jüngere, vor einer Entlassung zu schützen, sei ein sozialpolitisches Ziel und somit legitim i.S.d. § 10 Satz 1 AGG i.V.m. Art. 6
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1 Bütefisch, Die Sozialauswahl, S. 149; APS/Kiel, § 1 KSchG Rz. 704 ff. (m.w.N.), insb. Rz. 706; Rieble, NZA 2003, 1243. 2 Ebenso BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 41 f. 3 S.a. Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, S. 530 bis 536, insbesondere mit Ausführungen zu den möglichen Rechtsfolgen. 4 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120 – Rz. 31 f.; v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 41 ff.
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§4
Rz. 83
Verbot der Altersdiskriminierung
Abs. 1 Gleichb-RL.1 § 4.4 MTV sei grundsätzlich auch angemessen und erforderlich.2 Sie könne aber zu Ergebnissen führen, die die gesetzliche Wertung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG auf den Kopf stellten, so etwa wenn ein 53-jähriger seit drei Jahren beschäftigter Arbeitnehmer ohne Unterhaltspflichten auf Grund der tarifvertraglichen Regelung aus der Sozialauswahl ausscheiden soll, während ein 52-jähriger seit 35 Jahren im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer mit mehrfachen Unterhaltspflichten zur Kündigung anstehe.3 Das BAG will in solchen „(Extrem-)Fällen“ prüfen, die Tarifnorm im Hinblick auf das Verbot der Altersdiskriminierung unionsrechtskonform einzuschränken bzw. für den Einzelfall durch einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand innerhalb der Tarifnorm anzupassen.4 Die Unkündbarkeitsvereinbarungen fänden dort ihre Grenze, wo sie zu einer grob fehlerhaften Sozialauswahl führen würden.5 In diesem Fall spricht das BAG dem § 4.4 MTV sogar ab, ein „legitimes Ziel“ i.S.d. § 10 Satz 1 AGG zu verfolgen.6 Das überzeugt nicht, schließlich ändert sich durch die extremen Folgen, die die Klausel im Einzelfall haben kann, ja nicht das mit ihr verfolgte Ziel, das das BAG gerade als „legitim“ anerkennt. Vielmehr müsste das BAG die Angemessenheit verneinen. 83
Im öffentlichen Dienst gewähren § 34 Abs. 2 und 3 TVöD bzw. TVL Unkündbarkeit ab dem 40. Lebensjahr, wenn der Arbeitnehmer davor bzw. danach Zeiten von 15 Jahren Betriebszugehörigkeit bei einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber aufweisen kann. Diese Regelungen führen in der Regel nicht zu Extremfällen, obwohl im Einzelfall schwer zu rechtfertigen ist, wenn eine 39-jährige Alleinerziehende mit z.B. drei Kindern ihren Arbeitsplatz nur deshalb verliert, weil ein 40-Jähriger vergleichbarer lediger Arbeitnehmer soeben ordentlich unkündbar geworden ist.
84
Die vielfach geforderte Verwerfung entsprechender Unkündbarkeitsvereinbarungen gem. § 7 Abs. 2 AGG i.V.m. § 134 BGB7 hat die Rechtsprechung also bislang nicht vollzogen. Man wird auf einen vom BAG skizzierten Extremfall warten müssen, der möglicherweise zu einem Vorabentscheidungsverfahren führt, wozu das BAG bisher keine Veranlassung sah. c) Betriebsbedingte Kündigung aa) Sozialauswahl
85
Die Tendenz, den EuGH nicht mit allen Fragen der Altersdiskriminierung und Altersprivilegierung zu befassen, zeigt sich insbesondere an den besonders praxisrelevanten Fragen der Sozialauswahl, obwohl der mehrfache Altersbezug dieser Normen nach einer unionsrechtlichen Klärung ruft.
86
In § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG sind die beiden sozialen Gesichtspunkte Lebensalter sowie Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit relevant. Das Krite1 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 46 f. 2 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 46 ff. 3 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120 – Rz. 31; ähnl. v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 49. 4 Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, § 19; Bröhl, BB 2006, 1050; Zwanziger, DB 2000, 2166; a.A. APS/Kiel, § 1 KSchG Rz. 705 f., der § 4.4 MTV insgesamt für unwirksam erachtet. 5 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120 – Rz. 31. 6 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208 – Rz. 49. 7 In Bezug auf die Unionsrechtswidrigkeit ebenso Bauer/Göpfert/Krieger, § 10 Rz. 50; Willemsen/Schweibert, NJW 2006, 2583 (2587); Wulfers/Hecht, ZTR 2007, 475 (479 f.) m.w.N.; a.A. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rz. 450 u.a. speziell in Bezug auf § 34 TVöD; kritisch auch Guth, PersR 2009, 352 (354).
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Rz. 89 § 4
rium der Dauer der Betriebszugehörigkeit kann eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters gem. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Gleichb-RL auslösen. Allerdings dient es einem gem. Art. 2 Abs. 2 Buchts. b Nr. i Gleichb-RL rechtmäßigen Ziel, indem es die Betriebstreue honoriert. Die Sozialauswahl stellt mit dieser Funktion auch eine verhältnismäßige Maßnahme dar. Sie ist geeignet, zwischen den vergleichbaren Arbeitnehmern auf Grundlage der erbrachten Betriebstreue und damit auf Grundlage des Prinzips des Vertrauensschutzes eine auf bestandsschutzrechtlichen Maßgaben fußende Unterscheidung zu produzieren. Die Sozialauswahl ist in dieser Form auch erforderlich und angemessen, weil es für den Gesichtspunkt der Betriebstreue kein weniger einschneidendes, gleich geeignetes Kriterium gibt. Eine auf der Dauer der Betriebszugehörigkeit basierende Sozialauswahl verstößt deshalb nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung.1 Hingegen kann die durch den sozialen Gesichtspunkt des Lebensalters bewirkte unmittelbare Benachteiligung in der Sozialauswahl nicht mit dem legitimen Ziel der Honorierung der Betriebstreue oder der Berufserfahrung gerechtfertigt werden. Außer als positive Maßnahme zum Schutz bzw. der Förderung von älteren Arbeitnehmern gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a Gleichb-RL (vgl. § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG) scheiden andere legitime Ziele aus.
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Fraglich ist, ob das Lebensalter als sozialer Gesichtspunkt i.R.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG auch verhältnismäßig ist. Losgelöst von der konkreten Anwendung des Lebensalters in der Praxis ist die Sozialauswahl abstrakt geeignet, die Gruppe der älteren Arbeitnehmer zu schützen bzw. zu fördern. Es ist zweifelhaft, ob geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die Vermittlungsfähigkeit von Arbeitnehmern und damit auch die Langzeitarbeitslosigkeit allein vom Lebensalter im Sinne einer Kausalität abhängen. Unterzieht man § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, verstößt die auf das Lebensalter bezogene Sozialauswahl gegen das primärrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung. Der Grund dafür liegt vor allem in der allzu groben Typisierung der Arbeitsmarkt- und Vermittlungschancen allein mit Hilfe des Lebensalters. Zudem gibt es mildere, aber gleich geeignete Mittel, das (Langzeit-)Arbeitslosigkeitsrisiko von älteren Arbeitnehmern zu verringern. Folgt man dieser Ansicht, wäre das Alter als sozialer Gesichtspunkt i.R.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG unanwendbar.
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Das BAG hält dagegen das Lebensalter gemessen am Maßstab des Verbots der Altersdiskriminierung für unionsrechtskonform.2 Insbesondere hat es die Typisierung der schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit Hilfe des sozialen Gesichtspunktes des Lebensalters akzeptiert. Jede mögliche Aussage über Chancen müsse sich naturgemäß an Wahrscheinlichkeiten orientieren, die ihrerseits nicht ohne Berücksichtigung von Erfahrungswerten beurteilt werden könnten. Wenn also, was unstrittig sei, ein Erfahrungswert dahin bestehe, dass mit steigendem Lebensalter die Vermittlungschance generell zu sinken pflege, so könne dieser Umstand auch bei strikt individueller Bewertung von Arbeitsmarktchancen nicht außer Betracht bleiben.3 Vergleichbares betrifft die bisherige Praxis, bei Auswahlrichtlinien
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1 Ebenso BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 58. 2 BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361; v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 48 ff.; größtenteils zustimmend Adomeit/Mohr, NJW 2009, 2255; Gaul/Niklas, NZA-RR 2009, 457; v. Hoff, SAE 2009, 293; Lingemann/Beck, NZA 2009, 577; Schiefer, DB 2009, 733; kritischer Benecke, AuR 2009, 326; s.a. v. Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, S. 537 f., 543. 3 BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361 – Rz. 46; ebenso v. 6.9.2007 – 2 AZR 387/06, NZA 2008, 405 – Rz. 19; ähnl. v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 56.
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§4
Rz. 90
Verbot der Altersdiskriminierung
und Namenslisten nach § 95 BetrVG bzw. § 1 Abs. 5 KSchG das Lebensalter als Auswahlkriterium durchgehend linear zu berücksichtigen – auch dies hat der 2. Senat des BAG bestätigt.1 bb) Altersgruppen 90
Da es für die Praxis mangels anderweitiger Vorgaben bis auf weiteres bei einer tendenziell ältere Arbeitnehmer begünstigenden Sozialauswahl bleibt, kommt den „berechtigten betrieblichen Interessen“ gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG weiterhin große Bedeutung zu. Was die strukturellen Sachgründe anbelangt, verstößt die Sicherung einer ausgewogenen Altersstruktur nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung. Das hat das BAG in mehreren Entscheidungen zu Recht bestätigt.2 Als Grund für die generelle Unbedenklichkeitsbescheinigung der Altersgruppenbildung lässt sich anführen, dass i.R.d. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG die getrennt für mehrere Altersgruppen durchzuführenden Sozialauswahlen den massiven Einfluss des Lebensalters i.R.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG innerhalb der jeweiligen Altersgruppen wirksam zurückdrängen.
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Zweifel bestehen allerdings unter Berücksichtigung der EuGH-Entscheidungen Age Concern England und Prigge, und zwar vor dem Hintergrund der deutlich eingegrenzten legitimen Differenzierungsziele. Diese sind nach jüngst konkretisierter Sicht ausschließlich „sozialpolitische Ziele“ sowie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung (vgl. Rz. 26). Das BAG hat sich in einer jüngeren Entscheidung vor dem Hintergrund der geschärften Anforderungen damit schwer getan, zu begründen, dass die Fragestellung nicht dem EuGH vorzulegen sei, obwohl die Problematik alles andere als eindeutig ist.3 Diese Entscheidung balanciert auf der Grenze zum Verfassungsverstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. § 13 Rz. 63 ff.).
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Das BAG führt im Leitsatz aus, dass die gesetzliche Vorgabe in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG, das Lebensalter als eines von mehreren Kriterien bei der Sozialauswahl zu berücksichtigen, und die durch § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG eröffnete Möglichkeit, die Auswahl zum Zweck der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur innerhalb von Altersgruppen vorzunehmen, nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie verstoßen. Das BAG zieht die Sätze 1 und 2 des § 1 Abs. 3 KSchG zu einem einheitlich zu bewertenden Komplex zusammen, und versucht auf diesem Wege der Fokussierung auf die Altersgruppen die Schärfe zu nehmen. Das BAG erkennt, dass § 1 Abs. 3 Satz 1 zu „einer Bevorzugung älterer und unmittelbaren Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer“4 führt. Ein wenig vernebelt wird der Effekt des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Das BAG meint, durch die ermöglichte Bildung von Altersgruppen werde die „andernfalls linear ansteigende Gewichtung des Lebensalters unterbrochen und zugunsten jüngerer Arbeitnehmer relativiert“5. In concreto kann die Altersgruppenbildung allerdings zu einer Kündigung eines sozial schützenswerten Arbeitnehmers führen, der lediglich das Pech hat, zu den jüngsten einer – weitgehend frei – gebildeten Altersgruppe zu gehören. 1 BAG v. 5.11.2009 – 2 AZR 676/08, NZA 2010, 457. 2 BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361 – Rz. 53 ff. m.w.N.; v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, NZA 2008, 103 – Rz. 44 ff.; ebenso v. Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, S. 564 f.; a.A. LAG Hamm 11.11.2009 – 2 Sa 992/09, NZA-RR 2010, 410. 3 BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044. 4 BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 48. 5 BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 48.
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Rz. 95 § 4
Das BAG meint, diese Fragen ohne Vorabentscheidungsersuchen nach § 267 Abs. 3 AEUV entscheiden zu können, weil das maßgebliche Verständnis von Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL durch die jüngere Rechtsprechung EuGH geklärt sei.1 Eine solche Klärung ist schnell behauptet. Zweifel daran kommen auf, weil sich der EuGH zu dem – höchst umstrittenen – Spannungsfeld von Diskriminierungs- und Kündigungsschutz nach deutschem Recht überhaupt noch nie geäußert hat. Zu behaupten, die maßgeblichen Fragen seien geklärt, ist daher forsch. Der 2. Senat des BAG gibt sich mit der Begründung indes ersichtlich Mühe und betont die ausschließliche Rechtmäßigkeit „sozialpolitischer Ziele“, die im Allgemeininteresse stünden und sich so unterschieden „von Zielen, die im Eigeninteresse des Arbeitgebers liegen, wie Kostenreduzierung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“. Das BAG betont, dass es der EuGH nicht ausgeschlossen habe, dass eine nationale Vorschrift bei der Verfolgung der genannten sozialpolitischen Ziele den Arbeitgebern einen gewissen Grad an Flexibilität einräumt.2 Problematisch ist jedoch, ob insbesondere § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG legitimen Zielen dient, weil hiermit ausweislich des Normtextes „berechtigte betriebliche Interessen“ verfolgt werden. Das BAG interpretiert dieses, jedenfalls auch und besonders im Arbeitgeberinteresse liegende Ziel als „sozialpolitisches Ziel“. Die Regelung sei „eingebettet in das Gesamtkonzept der Sozialauswahl“3. „Das Ziel, ältere Arbeitnehmer zu schützen, und das Ziel, die Eingliederung jüngerer Arbeitnehmer in das Erwerbsleben sicherzustellen, werden so zu einem angemessenen Ausgleich gebracht.“4 Dies diene der sozialpolitisch erwünschten Generationengerechtigkeit und der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung. Die Altersgruppenbildung sei deshalb ein angemessenes und erforderliches Mittel, um im Zusammenhang mit Entlassungen eine ausgewogene Altersstruktur zu erhalten. Ein milderes Mittel, den Schutz älterer Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit und schützenswerte Interessen jüngerer Arbeitnehmer an Teilhabe am Berufsleben in wirtschaftlich prekären Situationen in einen angemessen Ausgleich zu bringen, sei bei der gebotenen typisierenden Betrachtung nicht ersichtlich.
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Es bleibt die Frage, ob der EuGH nicht dennoch anzurufen gewesen wäre. Denn es kommt darauf an, ob das BAG vertretbarerweise von einem „acte clair“ ausgehen durfte.5 Daran bestehen schon angesichts dessen vernünftige Zweifel, wie umstritten der Materie im deutschen Schrifttum und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ist.
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Die Frage des legitimen Ziels stellt sich auch im Hinblick auf § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 InsO, demzufolge eine Sozialauswahl bei einem Interessenausgleich mit Namensliste zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat nicht grob fehlerhaft ist, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen werden soll. Dem BAG nach verstoßen die Vorschrift und die mit ihr verbundene Möglichkeit, eine ausgewogene Personalstruktur durch die Bildung von Altersgruppen erst zu schaffen nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung.6 Sie diene dem Ziel, ein insolventes Unternehmen zu sanieren, wodurch wenigstens vorübergehend Arbeitsplätze erhalten würden. Dies liege nicht nur im Inte-
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1 BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 48. 2 EuGH v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 – Rz. 52 = NVwZ 2011, 1249; v. 5.3.2009 – Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569 – Rz. 46 = NZA 2009, 305. 3 BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 63. 4 BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044 – Rz. 63. 5 BVerfG v. 29.5.2012 – 1 BvR 3201/11, NZA 2013, 164. 6 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 – Rz. 23 f.
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§4
Rz. 96
Verbot der Altersdiskriminierung
resse des Arbeitgebers, sondern auch der Belegschaft und der Allgemeinheit.1 Der konkrete Interessenausgleich und die Altersgruppenbildung müssten aber gem. § 10 Satz 2 AGG angemessen und erforderlich sein.2 Erneut hat das BAG eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verneint, da den nationalen Gerichten die Feststellung obliege, ob das Ziel, das eine Regelung verfolgt, „legitim“ gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL sei.3 d) Abfindungen und Rentenbezug 96
Ungleichbehandlungen wegen des Alters können auch bei Abfindungs- bzw. Freistellungsregelungen entstehen. Das geschieht etwa, wenn eine Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich gezahlt wird, allerdings nicht für Arbeitnehmer ab einem gewissen Alter, in dem sie berechtigt sind, eine Rente zu beziehen. So lag der Fall in der Sache Andersen4, in der ein dänisches Gesetz vorsah, dass Arbeitnehmern bei ihrer Entlassung eine Abfindung zu zahlen sei, wenn sie eine bestimmte Zeit beschäftigt waren. Diese Abfindung wurde nicht gezahlt, wenn der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Entlassung entweder eine staatliche oder eine betriebliche Rente beziehen konnte, zu der er eine gewisse Zeit Beiträge geleistet hatte. Einen ähnlichen Sachverhalt hatte der EuGH in der Sache Dansk Jurist- og Økonomforbund5 zu entscheiden. Nach dem dänischen Beamtengesetz erhielten Beamte, deren Stelle wegfiel, drei Jahre lang ein Freistellungsgehalt. Dieses sollte die Zeit überbrücken, bis sie eine neue Stelle gefunden hatten und in dieser Zeit mussten die Beamten zur Verfügung stehen und konnten angebotene Stellen nur unter bestimmten Voraussetzungen ablehnen. Dieses Freistellungsgehalt wurde aber Beamten nicht gezahlt, die zum Zeitpunkt der Entlassung 65 Jahre oder älter waren. Die Altersgrenze korrespondiert mit der zum Bezug einer Rente: Beamte konnten sowohl die spezielle Beamtenpension als auch eine allgemeine Altersrente ab Vollendung des 65. Lebensjahres beziehen. Allerdings konnten für beide Renten auch nach diesem möglichen Bezugsalter noch weiter Anwartschaften erworben werden, um das spätere Rentenniveau anzuheben. Bei der speziellen Beamtenpension konnte man die zusätzlichen Ansprüche sogar in der Zeit erwerben, in der der Beamte grundsätzlich Anspruch auf Freistellungsgehalt gehabt hätte, es wegen der Altersgrenze von 65 Jahren aber nicht gezahlt wurde. Die obligatorische Altersgrenze für Beamte betrug im Übrigen 70 Jahre. Das Freistellungsgehalt sollte sicherstellen, dass Beamte, deren Stelle wegfiel, sich nicht auf den normalen Arbeitsmarkt begeben, sondern dem Staat weiterhin zur Verfügung stehen, falls sie wieder gebraucht werden. Die Altersgrenze wiederum sollte verhindern, dass Beamte, die in Rente gehen können, das Freistellungsgehalt missbrauchen, in dem dieses solange beziehen, bis sie auf eine neue Stelle versetzt werden sollen, die sie auch annehmen müssten und sie dann stattdessen in Rente gehen.6 Außerdem sollte das Freistellungsgehalt nur solchen Beamten zugutekommen, die es tatsächlich benötigen und nicht durch eine Rente abgesichert sind. Dieses Argument war auch im Fall Andersen für den Ausschluss der Abfindung zentral.7 1 2 3 4 5
BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 – Rz. 27. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 – Rz. 32. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 – Rz. 28. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 = NZA 2010, 1341. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401; dazu ausführlich Ulber, EuZA 2014, 202. 6 Vgl. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 57. 7 Vgl. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 27 = NZA 2010, 1341.
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Beide Fälle haben gemein, dass Arbeitnehmer bzw. Beamte die Abfindung bzw. das Freistellungsgehalt nur deswegen nicht erhielten, weil sie eine Rente beziehen konnten. Es kam aber nicht darauf an, dass sie nach der Entlassung auch tatsächlich in Rente gingen. Auch wer also weiter arbeiten wollte, erhielt keine Unterstützung, um die Zeit bis zur nächsten Stelle zu überbrücken. Genau dafür waren aber Abfindung bzw. Freistellungsgehalt aber da. Diese Regelungen konnten somit Arbeitnehmer bzw. Beamte dazu zwingen, „eine niedrigere Altersrente anzunehmen als die, die sie beanspruchen könnten, wenn sie bis in ein höheres Alter berufstätig blieben“1. Die Regelungen waren somit nicht erforderlich, vielmehr hätten sie den Ausschluss der Abfindung bzw. des Freistellungsgehalts an den tatsächlichen Renteneintritt koppeln müssen, nicht nur an die Möglichkeit. Gleichzeitig verlangt der EuGH aber keine Einzelfallprüfung.2
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Der EuGH billigt somit grundsätzlich eine Regelung, die Abfindungen für Arbeitnehmer ausschließt, die eine Rente beziehen. Das muss aber auch feststehen, etwa in dem der Ausschluss ab dem Alter eingreift, zu dem ein obligatorischer Renteneintritt festgeschrieben ist. Andernfalls werden Arbeitnehmer faktisch gezwungen, eine niedrigere Rente zu beziehen als möglich. Zusätzlich wird ihr vom EuGH postuliertes Recht, zu arbeiten eingeschränkt.3
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4. Sozialpläne Sozialpläne gem. §§ 112, 112a BetrVG sollen die Folgen von Betriebsänderungen i.S.d. § 111 BetrVG finanziell abfedern. Dabei kommt betrieblichen Sozialplanansprüchen nach der ständigen Rechtsprechung des BAG lediglich ein zukunftsbezogener Überbrückungscharakter zu. Entschädigungscharakter könnten sie nur insoweit aufweisen, als vergangenheitsbezogene Nachteile noch in der Zukunft fortwirken.4 Diese Sozialplanrechtsprechung wurde in Zeiten massiver Frühverrentungspraxis vor dem Hintergrund der Externalisierung betrieblicher Restrukturierungskosten durch sozialversicherungsrechtliche Abfederungen entwickelt.
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Diese Sichtweise ist widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass die Höhe von Sozialplanleistungen nach den typischen Vereinbarungen von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängt und vor allem jüngeren Arbeitnehmern im Ergebnis somit echte Abfindungen aus Sozialplänen zufließen, ältere Arbeitnehmer sich hingegen wegen ihrer Rentennähe oder Rentenberechtigung mit deutlich geringeren Überbrückungszahlungen zufrieden geben müssen. Dadurch wird ihr erdienter Bestandsschutz verzerrt wiedergegeben, ja sogar teilweise entwertet.
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Diese soeben aufgezeigten Widersprüche werden dadurch verstärkt, dass gesetzliche Abfindungen – z.B. nach §§ 1a, 9, 10 KSchG oder § 113 BetrVG – im Großen und Ganzen ebenfalls nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit berechnet werden. Da gesetzliche Abfindungen an die Stelle des kündigungsrechtlichen Bestandsschutzes treten.5 wird ihnen aber zu Recht maßgeblich eine Entschädigungsfunk-
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1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 46 = NZA 2010, 1341; v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 68. 2 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, NVwZ 2013, 1401 – Rz. 70. 3 Worauf der EuGH aber nur in Andersen verweist, s. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 45 = NZA 2010, 1341. 4 BAG v. 30.9.2008 – 1 AZR 684/07, NZA 2009, 386; v. 11.11.2008 – 1 AZR 475/07, NZA 2009, 210; v. 26.5.2009 – 1 AZR 198/08, NZA 2009, 849; zur darauf aufbauenden Gestaltung von Sozialplänen, vgl. bspw. Kleinebrink, FA 2010, 66. 5 BAG v. 29.1.1981 – 2 AZR 1055/78, NJW 1981, 1118; Preis, DB 2004, 70 (78).
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tion zuerkannt.1 Sie stellen nämlich den vermögensrechtlichen Ersatz für die Aufgabe des sozialen Besitzstandes (nämlich den Arbeitsplatz als solchen) dar. 102
Typische Berechnungsformeln für Sozialplanleistungen sind beispielsweise: – die Faustformel: Abfindungshöhe = ein halbes Bruttomonatsgehalt pro Beschäftigungsjahr, – die Divisorformel: Abfindungshöhe = [Lebensalter × Betriebszugehörigkeit × Bruttomonatsgehalt] × Divisor, – oder die einfache Abfindungsformel: Abfindungshöhe = Betriebszugehörigkeit × Bruttomonatsgehalt × Faktor.
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Die Sozialplanleistungen für ältere Arbeitnehmer, die zu den rentennahen Jahrgängen gehören oder regelaltersrentenberechtigt sind, werden in der Regel sodann durch Höchstbetragsklauseln wieder begrenzt. Dies geschieht, sobald – ggf. durch zeitliche Überbrückung mit Hilfe von Arbeitslosengeld I – die Möglichkeit eines vorzeitigen Rentenbezugs nach den Vorschriften des SGB VI besteht. Teilweise sehen Sozialpläne sogar den kompletten Ausschluss von Sozialplanleistungen vor.
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Der Charakter von Sozialplanleistungen ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Diskussion; von ihm hängt ihre weitere Rechtmäßigkeitskontrolle ab. Entgegen der Rechtsprechung des BAG sprechen die besseren Argumente dafür, Sozialplanleistungen einen Abfindungscharakter nicht abzusprechen. Die Sozialpartner haben es in der Hand, Sozialplanleistungen als Überbrückungs- und/oder Abfindungsleistung zu widmen.2 Aus der Doppelfunktion des Sozialplans folgt zugleich eine „Zwei-Töpfe-Theorie“ bzw. eine „Trennungstheorie“. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sie im Hinblick auf den einschlägigen Charakter der Sozialplanleistungen jeweils sachgerechte Kriterien verwenden. Geht es um Entschädigungen, sind vergangenheitsbezogene Kriterien zu benutzen; geht es um die Ausgestaltung von Überbrückungsleistungen, haben die Sozialpartner zukunftsbezogene Aspekte heranzuziehen.
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Der EuGH hat sich zur Frage, ob Sozialpläne Überbrückungs- oder Entschädigungsfunktion haben, bisher nicht eindeutig geäußert.
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Die vom BAG bestätigte Sozialplanrechtsprechung3 begegnet unionsrechtlichen Zweifeln, die der EuGH am Maßstab des Kohärenzgebots korrigieren könnte. Prüfungsmaßstab ist § 75 Abs. 1 BetrVG, wobei zur Rechtfertigung auf § 10 Satz 3 Nr. 2, 3, 6 bzw. § 10 Satz 1 und 2 AGG (je nach Charakter der Sozialplanleistung) bzw. aus Sicht des EuGH Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL zurückgegriffen werden kann. Der Widerspruch ist gleich ein doppelter: Zum einen enthält das BAG rentennahen Arbeitnehmern echte Abfindungsleistungen vor, wohingegen jüngeren Arbeitnehmern diese auf Grundlage der Dauer der Betriebs- bzw. Unternehmenszugehörigkeit gewährt werden, obwohl Sozialplanleistungen i.S.d. § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG insgesamt nur ein zukunftsgerichteter Überbrückungscharakter zukommen soll. Zum anderen lässt es das BAG genügen, dass Sozialplanleistungen für jüngere Arbeitnehmer pauschal, für rentennahe Arbeitnehmer jedoch konkret berechnet werden können. Warum ein konkre1 BAG v. 15.2.1973 – 2 AZR 16/72, DB 1973, 1559; v. 9.11.1994 – 4 AZR 433/88, NZA 1989, 270; ErfK/Kiel, § 10 KSchG Rz. 5; v. Hoyningen-Huene/Linck/Krause/Linck, § 10 Rz. 4. 2 Ausf. Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, S. 272 ff.; Temming, RdA 2008, 205; dagegen Mohr, RdA 2010, 44. 3 BAG v. 30.9.2008 – 1 AZR 684/07, NZA 2009, 386; v. 11.11.2008 – 1 AZR 475/07, NZA 2009, 210; v. 26.5.2009 – 1 AZR 198/08, NZA 2009, 849; v. 26.3.2013 – 1 AZR 857/11, DB 2013, 1792; s.a. Roth, EWiR 2009, 167.
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ter Überbrückungsbedarf auch bei jüngeren Arbeitnehmern nicht festgestellt werden muss, erschließt sich nicht sofort. Zweifel an der Rechtsprechung des BAG werden genährt durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Andersen1. In dieser Entscheidung ging es um die Frage, ob es zulässig ist, dass ein Arbeitgeber bei der Kündigung des Dienstverhältnisses eines Beschäftigten, der 12, 15 oder 18 Jahre lang ununterbrochen in demselben Betrieb beschäftigt war, im Fall der Entlassung eine Abfindung i.H.v. einem, zwei oder drei Monatsgehältern zahlen muss, diese Abfindung aber nicht zu zahlen ist, wenn der Beschäftigte bei seiner Entlassung die Möglichkeit hat, eine Altersrente aus einem Rentensystem zu beziehen, zu dem der Arbeitgeber Beiträge geleistet hat.
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Der EuGH meint, die Entlassungsabfindung allein für diejenigen Arbeitnehmer vorzusehen, die zum Zeitpunkt ihrer Entlassung keine Altersrente beziehen können, sei zwar im Hinblick auf das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, Arbeitnehmer stärker zu schützen, deren Übergang in eine andere Beschäftigung sich aufgrund der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit als schwierig darstellt, nicht unvernünftig. Der EuGH problematisiert jedoch, dass alle Arbeitnehmer, die einem Rentensystem vor Vollendung ihres 50. Lebensjahrs beigetreten sind, den Anspruch auf Entlassungsabfindung verlieren. Die in Rede stehende Maßnahme laufe darauf hinaus, entlassenen Arbeitnehmern, die auf dem Arbeitsmarkt bleiben wollen, diese Abfindung allein aus dem Grund vorzuenthalten, dass sie u.a. aufgrund ihres Alters eine solche Rente in Anspruch nehmen können. Eine solche Maßnahme erschwere Arbeitnehmern, die bereits eine Altersrente beziehen können, die weitere Ausübung ihres Rechts zu arbeiten, weil sie beim Übergang in ein neues Beschäftigungsverhältnis – im Gegensatz zu anderen Arbeitnehmern mit gleich langer Betriebszugehörigkeit – keine Entlassungsabfindung erhalten. Außerdem verwehre die Regelung einer ganzen, durch das Kriterium des Alters definierten Kategorie von Arbeitnehmern, vorübergehend auf die Zahlung einer Altersrente durch ihren Arbeitgeber zugunsten der Gewährung der Entlassungsabfindung zu verzichten, die dazu bestimmt ist, ihnen zu helfen, eine neue Stelle zu finden. Sie können somit diese Arbeitnehmer zwingen, eine niedrigere Altersrente anzunehmen, als wenn sie bis in ein höheres Alter berufstätig blieben, was für sie einen auf lange Sicht erheblichen Einkommensverlust nach sich zöge.
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Kurz und knapp folgert der EuGH aus diesen Erwägungen, dass die entscheidende Vorschrift des dänischen Gesetzes „zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der berechtigten Interessen der Arbeitnehmer führt, die sich in dieser Situation befinden, und damit über das hinausgeht, was zur Verwirklichung der mit dieser Vorschrift verfolgten sozialpolitischen Ziele erforderlich ist“2. Er folgt damit den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott, die zugleich für die deutsche Sozialplanpraxis bedeutende Anmerkungen gemacht hat.3 Das BAG hat, obwohl es
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1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 = NZA 2010, 1341. 2 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9371 – Rz. 47 = NZA 2010, 1341, Hervorhebungen diesseits. 3 GA Kokott v. 6.5.2010 – Rs. C-499/08 – Andersen, Slg. 2010, I-9343 – Rz. 87, 89: „Der Umstand, dass § 2a Abs. 1 [Funktionærlov] die Zahlung der Entlassungsabfindung an eine langjährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit knüpft, könnte darauf hindeuten, dass der Sinn und Zweck dieser Abfindung nicht ausschließlich in der finanziellen Unterstützung des Übergangs in ein neues Beschäftigungsverhältnis liegt. Vielmehr könnte mit einer solchen Entlassungsabfindung – zumindest teilweise – auch die Betriebstreue des Arbeitnehmers honoriert werden. […] Sollte die Regelung des § 2a [Funktionærlov] zumindest teilweise der Belohnung für langjährige Betriebstreue dienen, so wäre dies ein zusätzlicher zwingender Grund, die Entlassungsabfindung Arbeitnehmern nicht allein deshalb vorzuenthalten, weil sie bereits einen Rentenanspruch haben. Denn für die Belohnung vergangener Betriebstreue macht es keinerlei
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Gelegenheit gehabt hätte,1 die relevanten Fragestellungen nicht dem EuGH vorgelegt.2 110
Ganz im Gegensatz zum ArbG München, das mutig und begrüßenswert ein Vorabentscheidungsverfahren auf den Weg gebracht hat.3 Daraufhin hat der EuGH in der Rechtssache Odar eine Abfindungsregelung in einem Sozialplan für rechtmäßig erklärt, die ebenfalls ältere Arbeitnehmer benachteiligte.4 In dem Sozialplan waren gestaffelte Abfindungen vereinbart, die die Arbeitnehmer bei einer betriebsbedingten Kündigung oder einvernehmlichen Aufhebung des Arbeitsvertrags erhalten sollten. Die Höhe der Standard-Abfindung ergab sich dabei nach der einfachen Abfindungsformel (vgl. Rz. 102), mit der Abfindungen von Arbeitnehmern bis zum 54. Lebensjahr berechnet wurden. Für ältere Arbeitnehmer wurde daneben eine andere Formel zum Vergleich herangezogen, die die Anzahl der Monate bis zum frühestmöglichen Renteneintritt berücksichtigte und nach der die Abfindung niedriger wurde, je kürzer diese Zeit war. Der Sozialplan schrieb vor, dass für Arbeitnehmer, die älter sind als 54 Jahre, die Höhe der Abfindung mit beiden Formeln berechnet werden soll und dann die niedrigere Summe maßgeblich ist, wobei in jeden Fall mindestens die Hälfte der Standard-Summe gezahlt werden musste. Der Kläger Odar war zum Beendigungszeitpunkt 59 Jahre alt, 30 Jahre bei dem Unternehmen beschäftigt und erhielt die Hälfte der Standard-Abfindung. Der EuGH befand, dass darin zwar eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung vorlag. Allerdings seien die damit verfolgten Ziele – jüngeren Arbeitnehmern bis zur Widereingliederung finanzielle Hilfe zu leisten, die ältere aufgrund der Rentennähe nicht in gleichem Maße brauchen – geeignet, eine Ungleichbehandlung gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL zu rechtfertigen.5 Bezüglich der Erforderlichkeit betont der EuGH erneut, dass die Mitgliedstaaten bzw. die jeweiligen Sozialpartner einen weiten Ermessensspielraum hätten.6 Im Folgenden differenziert das Gericht nicht präzise zwischen Erforderlichkeit und Angemessenheit und urteilt knapp, dass die Regelung angesichts des Ziels, die begrenzten Mittel für den Sozialplan je nach wirtschaftlicher Absicherung etwa durch Rentennähe zu verteilen, „nicht unangemessen erscheint“.7 Bezüglich der Erforderlichkeit problematisiert der EuGH zwar, dass bei der Berechnung der Abfindung das frühestmögliche Rentenalter herangezogen wurde, bei dem der Arbeitnehmer Renteneinbußen hinnehmen müsste. Auch das akzeptieren die Richter mit dem erneut knappen Hinweis, dass auch die älteren Arbeitnehmer mindestens die Hälfte der Standard-Abfindung erhielten.8 Außerdem sei der Sozialplan die Vereinbarung von Arbeitnehmerund Arbeitgebervertretern, die dadurch ihr Grundrecht auf Kollektivvereinbarungen nach Art. 28 GRC wahrgenommen hätten.9 Somit betont der EuGH mehrmals den
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Unterschied, ob ein Arbeitnehmer zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Betrieb eine Altersrente beziehen kann oder nicht.“ Etwa in dem Verfahren BAG v. 23.3.2010 – 1 AZR 832/08, NZA 2010, 774. Kritisch dazu Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (329). ArbG München 17.2.2011 – 22 Ca 8260/10, LAGE AGG § 10 Nr. 4a. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435; Besprechung von Willemsen, RdA 2013, 166. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 43 ff. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 47. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 48, Hervorhebung diesseits. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435, – Rz. 50 ff.; allerdings sah es der EuGH als ungerechtfertigte Diskriminierung wegen einer Behinderung an, dass Schwerbehinderte aufgrund ihres geringeren frühestmöglichen Renteneintrittsalter auf jeden Fall eine niedrigere Abfindung erhielten als nicht behinderte Altersgenossen, EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 67 ff. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 53.
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Gestaltungs- und Ermessenspielraum, den die Mitgliedstaaten und ebenso die Sozialpartner bei der Vereinbarung von altersdifferenzierenden Regelungen haben, insbesondere hinsichtlich der Erforderlichkeit. Aber auch bei der Angemessenheit nimmt der EuGH die gerichtliche Kontrolle stark zurück, solange eine Vereinbarung nicht offensichtlich unangemessen ist. Obwohl der Gerichtshof die Rs. Andersen bei der Frage der Rechtfertigung nicht erwähnt, scheint ein Vergleich angebracht. Hatte der EuGH da noch das mögliche Interesse auch älterer Arbeitnehmer betont, auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, obwohl sie in Rente gehen könnten, spielt dieses Argument bei der Sache Odar gar keine Rolle. Das überrascht, betraf die niedrigere Abfindungshöhe doch gerade Arbeitnehmer wie Herrn Odar, der zum Zeitpunkt der Abfindungszahlung noch gar nicht in Rente gehen konnte. Somit kann man durchaus der Auffassung sein, dass die deutlich niedrigere Abfindung für Arbeitnehmer ab 54 Jahren das vom EuGH bei Andersen bemühte Recht dieser Arbeitnehmer, zu arbeiten, beeinträchtigt.1 Der entscheidende Unterschied zwischen den Fällen Andersen und Odar scheint für den EuGH zu sein, dass Letzterer zumindest die Hälfte der Standard-Summe erhielt, während Herr Andersen gänzlich leer ausging. Die Klageabweisung im Fall Odar mag außerdem durch die Höhe der Abfindung erleichtert worden sein:2 So erhielt Herr Odar trotz der Kürzung ca. 308.000 E.3 Das bleibt aber eine Spekulation, da der EuGH sich bei Odar eben nicht mit den in Andersen entwickelten Argumenten auseinandersetzt oder die Fälle abgrenzt.
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Was die bereits oben angesprochene Funktion von Sozialplänen angeht, hat sich der EuGH auch in der Sache Odar nicht ausdrücklich dazu verhalten, ob Sozialpläne Entschädigungs- oder Überbrückungsfunktion haben. Zwar ist es richtig, dass das Gericht die „Gewährung eines Ausgleichs für die Zukunft“ als geeignetes Ziel i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL angesehen hat, um eine Altersdiskriminierung zu rechtfertigen.4 Daraus ein „europarechtlich geforderte[s] Bekenntnis zum Zukunftsbezug und zur (reinen) Überbrückungsfunktion“5 abzuleiten, geht aber zu weit. Die „europarechtlichen Weihen“6 haben wohl eher die Betriebsparteien bekommen, denen der EuGH bei der Vereinbarung von Sozialplänen einen weiten Spielraum zugesteht. Es ist nicht gesagt, dass es innerhalb dieses europarechtlichen Spielraums nicht auch erlaubt ist, einen Sozialplan mit einem stärkeren Entschädigungs- bzw. Abfindungscharakter zu vereinbaren. Es kommt dabei darauf an, das jeweilige Ziel kohärent und mit geeigneten und erforderlichen Mittel umzusetzen.7 Eine solche Kohärenz kann man bei Berechnungsmethoden wie der im Fall Odar, bei denen sich die Abfindungshöhe alleine aus vergangenheitsbezogenen Kriterien wie Lebensalter und Betriebszugehörigkeit ergibt, bezweifeln, wenn der Sozialplan Überbrückungsfunktion haben soll.8 Der EuGH geht in seinem Urteil auf diese Inkonsistenz des entsprechenden Sozialplans nicht ein. Ein Grund dafür könnte sein, dass im Fall Odar – im Gegensatz zu Andersen – auf jeden Fall die Hälfte der Standard-Summe gezahlt wurde,9 wobei die Frage offen bleibt, auf welcher dogmatischen Stufe die Abfindungshöhe entschei-
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A.A. Zange, NZA 2013, 601 (602). Ähnl. Grünberger/Sagan, EuZA 2013, 324 (330). EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 19. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435 – Rz. 42 f. Willemsen, RdA 2013, 166 (169). Willemsen, RdA 2013, 166 (167). Vgl. Willemsen, RdA 2013, 166 (169 f.). Preis/Temming, NZA 2010, 185 (197 f.); kritisch auch Grünberger/Sagan EuZA 2013, 324 (331); a.A. Willemsen, RdA 2013, 166 (170). 9 Grünberger/Sagan EuZA 2013, 324 (331 f.).
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dendes Kriterium sein soll. Ein anderer Grund könnte sein, dass für den EuGH die Funktion des Sozialplans und somit auch dessen kohärente Umsetzung nicht entscheidend sind. 113
Das BAG hält ein Vorabentscheidungsersuchen weiterhin für überflüssig und sieht sich durch die Entscheidung Odar in seiner Rechtsprechung bestätigt.1 Ob Letzteres so ausdrücklich richtig ist, kann dahingestellt bleiben, denn jedenfalls eröffnet der EuGH mit seiner Rechtsprechung einen weiten Spielraum. Aber auch die Rechtsprechung des BAG ist insofern widersprüchlich, als sie einerseits den Abfindungen in Sozialplänen ausdrücklich eine zukunftsbezogene Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion zuerkennt,2 aber die herkömmliche Berechnungsmethode u.a. anhand der Kriterien Alter und Betriebszugehörigkeit nicht beanstandet. Gleichzeitig wiederum erlaubt das Gericht, die dadurch erzielten Unterschiede in der Abfindungshöhe durch eine Kürzung für rentennahe Jahrgänge zu korrigieren.3 5. Altersgrenzen a) Allgemeine Altersgrenze
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Der EuGH hat die allgemeinen Altersgrenzen großzügig anerkannt und hält daran konsequent fest.4 Eine solche Altersgrenze diene insbesondere der generationengerechten Verteilung vorhandener Arbeitsplätze und damit der „Arbeitsteilung zwischen den Generationen“. Das soll sogar dann gelten, wenn ein Arbeitnehmer im Einzelfall infolge der altersbedingten Beendigung seines Arbeitsverhältnisses auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen ist.5
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In Deutschland ist das 65. Lebensjahr seit fast 100 Jahren die Regelaltersgrenze. Da sie gem. § 235 SGB VI nach und nach auf das 67. Lebensjahr angehoben wird (vgl. § 35 SGB VI), werden zukünftige Klauselformulierungen dahin gehen, nicht mehr an ein konkretes Renteneintrittsalter, sondern allgemein an die jeweilige Regelaltersgrenze anzuknüpfen. Die ständige Rechtsprechung des BAG begreift die Altersgrenze als Sachgrund für eine Befristung und zwar nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 TzBfG (ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund)6 und hält konsequent an der Zulässigkeit allgemeiner Altersgrenzen fest, seien sie in einem Tarifvertrag7 oder in einer Betriebsvereinbarung8 vereinbart. Das BAG sieht die Altersgrenzen gem. § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG und mit Verweis auf den EuGH als rechtfertigt an, wenn der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Altersrente beanspruchen kann.9
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Dass es sich bei der allgemeinen Altersgrenze um eine Sachgrundbefristung i.S.d. § 14 Abs. 1 TzBfG handelt, ist deshalb wichtig, weil § 14 TzBfG bis auf § 14 Abs. 2 1 BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921 – Rz. 37 f.; v. 26.3.2013 – 1 AZR 857/11, DB 2013, 1792 – Rz. 29. 2 BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921 – Rz. 33. 3 BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921 – Rz. 33. 4 EuGH v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 u. C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 = NZA 2011, 29; v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 = NVwZ 2011, 1249. 5 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 43 = NZA 2010, 1167; abl. Sagan, ZESAR 2011, 412 (418). 6 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, NZA 2006, 37 m.w.N.; s.a. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 56 ff. 7 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586. 8 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916. 9 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 – Rz. 42 ff.
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Rz. 118
§4
Satz 3 und 4 TzBfG einseitig zwingend ist. Das heißt, weder die Tarifvertragsparteien noch der Arbeitgeber dürfen von § 14 TzBfG zuungunsten des Arbeitnehmers abweichen.1 Daraus folgt: Kann die allgemeine Altersgrenze nicht als Sachgrund i.S.d. § 14 Abs. 1 TzBfG begriffen werden, so ist eine Befristung des Arbeitsvertrages auf die Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. das Erreichen der Regelaltersgrenze nach der geltenden Rechtslage gar nicht möglich, weil die übrigen sachgrundlosen Befristungsmöglichkeiten in § 14 Abs. 2, 2a und 3 TzBfG nicht einschlägig sind und auch besondere Befristungsregelungen i.S.d. § 23 TzBfG in anderen speziellen Gesetzen eine solche nicht vorsehen. Die allgemeine Altersgrenze ist seit Jahrzehnten umstritten.2 Unabhängig vom Verbot der Altersdiskriminierung lassen sich gegen sie sowohl verfassungsrechtliche Argumente3 als auch dogmatische Gesichtspunkte anführen, die mit der Konzeption eines Sachgrunds i.R.d. § 14 Abs. 1 TzBfG zusammenhängen.4 Zwischenzeitlich erschien es so, dass der EuGH nach Maßgabe der Entscheidung Palacios de la Villa5 nur deshalb bereit war, die spanische tarifliche allgemeine Altersgrenze zu rechtfertigen, weil sie die Härten mit einer relativ hohen Mindestrente absicherte. Insbesondere dieser Umstand führte zur Angemessenheit der unmittelbaren Altersdiskriminierung i.S.d. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie. In diese Richtung weist ebenfalls eine Äußerung des am Palacios de la Villa-Urteil beteiligten Präsidenten des EuGH, Skouris, in einem Zeitungsinterview: „Altersgrenzen für das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben sind ebenso vernünftige wie notwendige Regelungen, die allerdings in angemessener Weise ausgestaltet sein müssen. Wie der Gerichtshof im Fall Palacios de la Villa dargelegt hat, kann das bedeuten, dass der Arbeitnehmer bei Erreichung der Altersgrenze eine volle Pension zu bekommen hat.“6 Im konkreten Fall hatte Herr Palacios de la Villa die Höchstzahl von 35 Beitragsjahren für die spanische Rentenversicherung erreicht. Seine Altersrente dürfte etwas über 2.000 E betragen, was der Höchstrente entspricht.7
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Trotz dieser Hinweise wurde das EuGH-Urteil Palacios de la Villa vom BAG so verstanden, dass es nicht auf die konkrete Rentenhöhe ankomme.8 Vielmehr solle die bloße Möglichkeit des Altersrentenbezugs ausreichen. Zudem wurde nicht geprüft, ob die für eine Altersgrenze angegebenen legitimen Rechtfertigungsgründe im konkreten Fall überhaupt vorliegen. Es liege ein sog. acte clair vor, so dass der EuGH nicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV angerufen werden müsse: „Danach ist auch nach [Union]srecht die Höhe der dem Arbeitnehmer bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zustehenden Altersversorgung ohne Bedeutung. Maßgeblich ist nur, dass die von der Altersgrenze betroffenen Arbeitnehmer bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis eine beitragsbezogene Altersrente beanspruchen können, deren Höhe sich nach den in den Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften richtet […]. Hinsichtlich der Berücksichtigung der individuellen Altersversorgung der Klägerin geht der Senat
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1 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 – Rz. 27. 2 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, S. 304 ff. 3 Bspw. Boecken, DJT-Gutachten, 1998, S. 32 ff., 42 ff., 50; Boerner, Altersgrenzen für die Beendigung von Arbeitsverhältnissen, S. 136, 201 f., 274; Waltermann, Berufsfreiheit im Alter, S. 122 ff. 4 Gitter/Boerner, Anm. AP Nr. 7 zu § 41 SGB VI; Temming, Anm. zu EzA § 14 TzBfG Nr. 49. 5 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05 – Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531 = NZA 2007, 1219. 6 FAZ v. 28.7.2008, S. 4. 7 Temming, Anm. zu EzA § 14 TzBfG Nr. 49. 8 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302.
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§4
Rz. 119
Verbot der Altersdiskriminierung
aus den oben dargestellten Gründen davon aus, dass das gefundene Ergebnis keinem vernünftigen Zweifel unterliegen kann.“1 119
Der EuGH ist dann letztlich in dem Verfahren Rosenbladt auf diese Linie eingeschwenkt.2 Die entscheidende Frage dieses Falles war nach allgemeiner Auffassung,3 ob die Regelaltersgrenze (hier in einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag) auch bei ersichtlich völlig unzureichender Alterssicherung zu rechtfertigen ist. Bemerkenswert hebt der EuGH das Interesse des deutschen Gesetzgebers hervor, traditionelle Altersgrenzen nicht in Frage zu stellen, die „seit Jahrzehnten unabhängig von den sozialen und demografischen Gegebenheiten sowie der Arbeitsmarktlage weithin angewandt worden seien“4. Der EuGH würdigt das Vorbringen der deutschen Regierung, dass die Zulässigkeit von Klauseln über die „automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters […], die auch in etlichen Mitgliedstaaten anerkannt sei, Ausdruck eines in Deutschland seit vielen Jahren bestehenden politischen und sozialen Konsenses sei. Dieser Konsens beruhe vor allem auf dem Gedanken einer Arbeitsteilung zwischen den Generationen. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses dieser Beschäftigten komme unmittelbar den jüngeren Arbeitnehmern zugute, indem sie ihre vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit schwierige berufliche Integration begünstige. Die Rechte der älteren Arbeitnehmer genössen zudem angemessenen Schutz. Die meisten von ihnen wollten nämlich nach Erreichen des Rentenalters nicht länger arbeiten, da ihnen nach dem Verlust ihres Arbeitsentgelts die Rente einen Einkommensersatz biete. Für die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses spreche zudem, dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten nicht unter Führung des Nachweises kündigen müssten, dass diese nicht länger arbeitsfähig seien, was für Menschen fortgeschrittenen Alters demütigend sein könne“5. Diese Erwägungen der Bundesregierung macht sich der EuGH unter Hinweis auf die Entscheidung Palacios de la Villa zu Eigen.6 Daher seien die Ziele, „wie die deutsche Regierung sie angeführt hat, grundsätzlich als solche anzusehen, die eine Ungleichbehandlung wegen des Alters wie die in § 10 Nr. 5 AGG vorgesehene i.S.v. Art. 6 Abs. 1 [GleichbRL] als ‚objektiv und angemessen‘ erscheinen lassen und ‚im Rahmen des nationalen Rechts‘ rechtfertigen“7.
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Vergleichbar großzügig ist die Prüfung der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Regelung. Apodiktisch wird behauptet, dass Altersgrenzen auf das allgemeine Rentenalter „grundsätzlich nicht als eine übermäßige Beeinträchtigung der berechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmer angesehen werden“ können.8 Pauschal stellt der EuGH darauf ab, dass die Altersgrenzenregelung auch den Umstand berücksichtige, dass den Betroffenen am Ende ihrer beruflichen Laufbahn ein finanzieller Ausgleich durch einen Einkommensersatz in Gestalt einer Altersrente zugutekommt.9 Von ihrer „Angemessenheit“ ist keine Rede mehr. Die ersichtlich unzureichende Altersrente unterhalb des steuerfinanzierten Sozialhilfeniveaus wird nicht thematisiert. Der EuGH verweist nur darauf, dass die Betroffenen nicht dazu gezwungen würden, ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Sie könnten erwerbstätig bleiben und sich 1 2 3 4 5 6 7 8 9
BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302 – Rz. 44, 53. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 = NZA 2010, 1167. Siehe nur GA Bot v. 2.9.2010 – verb. Rs. C-250/09 u. C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 42 = NZA 2010, 1167; krit. Nettesheim, EuZW 2013, 48 (49). EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 43 = NZA 2010, 1167. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 44 = NZA 2010, 1167. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 45 = NZA 2010, 1167. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 47 = NZA 2010, 1167. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 48 = NZA 2010, 1167.
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Anwendungsbereich
Rz. 122
§4
eine andere Beschäftigung suchen.1 Völlig außer Acht lässt das Gericht dabei, wie schwierig es für ältere Arbeitnehmer sein kann, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Der EuGH schließt sich somit im Ergebnis der Rechtsprechung an, welche allein die abstrakte Möglichkeit, eine angemessene Altersrente zu erlangen, als Rechtfertigung für ausreichend hält.2 Im Ergebnis erachtet der EuGH diese Gesichtspunkte als „nicht unvernünftig“3 und stellt an die Rechtfertigung allgemeiner Altersgrenzen somit keine hohen Anforderungen.4 Diese Rechtsprechung hat der EuGH in der Rs. Hörnfeldt bestätigt.5 Dort hat er auch der allgemeinen Altersgrenze 67 den europarechtlichen Segen gegeben und ausdrücklich im Tenor hervorgehoben, dass die Höhe der Rente, die ein Einzelner beanspruchen können wird, deren Rechtfertigung nicht entgegensteht. Im konkreten Fall hat Herr Hörnfeldt – wegen seiner unsteten Erwerbsbiografie – lediglich Anspruch auf eine monatliche Rente i.H.v. 5.847 SEK (= 682,75 E).6 Gegenstand der Überprüfung war das schwedische Recht, das eine ausdrückliche arbeitsrechtliche Altersgrenze 67 enthält. Der Streit im Vorabentscheidungsersuchen drehte sich ausschließlich um die Frage, ob es für die Rechtfertigung der allgemeinen Altersgrenze auf die konkrete Höhe der Altersrente des betroffenen Arbeitnehmers ankommt. Trotz der diskriminierenden Wirkung bestätigt der EuGH seine Linie, dem Gesetzgeber und den Tarifparteien einen großen Ermessensspielraum bei der Einführung einer allgemeinen Altersgrenze einzuräumen,7 und erklärt die Altersgrenze für rechtmäßig.8 Der EuGH tröstet sich selbst über dieses Resultat hinweg, indem er – wie in der Entscheidung Rosenbladt – hervorhebt, dass eine entsprechende Altersgrenze den älteren Arbeitnehmer nicht endgültig vom Arbeitsmarkt verdränge.9 Auch der bisherige Arbeitgeber könne den Arbeitnehmer freiwillig – etwa befristet – über das Rentenalter hinaus weiterbeschäftigen.10 Somit würden ebenso wie im Fall Rosenbladt, in dem sogar sowohl das Rentenalter als auch die Rentenhöhe niedriger waren, die berechtigten Interessen der Arbeitnehmer nicht übermäßig beeinträchtigt.11
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b) Allgemeine Altersgrenzen im öffentlichen Dienst Die gleiche Linie verfolgte der EuGH bei allgemeinen Altersgrenzen im öffentlichen Dienst. In der Rechtssache Georgiev akzeptierte der EuGH eine Altersgrenze von 68 Jahren für Professoren.12 Dabei sei es ein legitimes Ziel der Altersgrenze, Professorenstellen gleichmäßig auf die verschiedenen Generationen zu verteilen und Stellen jüngeren Personen anzubieten.13 Hinsichtlich der Angemessenheit und Erforderlich1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 75 = NZA 2010, 1167. 2 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; krit. Anm. Temming, EzA TzBfG § 14 Nr. 49. 3 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391 – Rz. 51 = NZA 2010, 1167. 4 Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945 (946 f.); Brors, RdA 2012, 346 (349). 5 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785. 6 Zum Vergleich: Frau Rosenbladt bezog lediglich eine gesetzliche Rente i.H.v. 253,19 E. 7 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785, – Rz. 32. 8 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785, – Rz. 47; zust. Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945 (947). 9 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785, – Rz. 40. 10 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785, – Rz. 41; krit. Nettesheim, EuZW 2013, 48 (49). 11 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785 – Rz. 45. 12 EuGH v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 u. C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 = NZA 2011, 29. 13 EuGH v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 u. C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 – Rz. 54 = NZA 2011, 29.
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§4
Rz. 123
Verbot der Altersdiskriminierung
keit orientierte sich der EuGH an der Sache Petersen und wies auf die begrenzte Anzahl von Professorenstellen hin. Daher könne eine Altersgrenze angemessen sein, um die Beschäftigungsziele zu erreichen.1 Auch hier weist der Gerichtshof aber darauf hin, dass die entsprechende Regelung kohärent und systematisch sein müsse.2 123
Auch in der Rechtssache Fuchs/Köhler3 hat der EuGH eine Altersgrenze – in diesem Fall für Staatsanwälte – gebilligt. Die gesetzliche Altersgrenze 65 sei mit der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie vereinbar, „sofern dieses Gesetz zum Ziel hat, eine ausgewogene Altersstruktur zu schaffen, um die Einstellung und die Beförderung von jüngeren Berufsangehörigen zu begünstigen, die Personalplanung zu optimieren und damit Rechtsstreitigkeiten über die Fähigkeit des Beschäftigten, seine Tätigkeit über ein bestimmtes Alter hinaus auszuüben, vorzubeugen, und es die Erreichung dieses Ziels mit angemessenem und erforderlichen Mitteln ermöglicht“4. Bei der Wahl dieser Mittel verweist der EuGH auf den bekannten weiten Ermessensspielraum, wobei das Diskriminierungsverbot – „im Licht des in [Art. 15 Abs. 1 GRC] anerkannten Rechts, zu arbeiten“ – nicht ausgehöhlt werden dürfe.5 Dieser (Leer?-)Formel genügt dem Gerichtshof zufolge anscheinend aber schon, dass die betreffenden Staatsanwälte ja außerhalb des Staatsdienstes ohne Altersbeschränkung weiterarbeiten könnten.6
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So bleibt festzuhalten, dass nach dem EuGH das Ziel, eine ausgewogene Verteilung von Stellen zwischen den Generationen zu schaffen, allgemeine Altersgrenzen für Beamte rechtfertigen können. Angemessenheit und Erforderlichkeit prüft der EuGH in diesem Zusammenhang fast gar nicht und begnügt sich damit, den weiten Ermessenspielraum zu betonen. Dieser wäre wohl nur im abwegigen Fall eines generellen Arbeitsverbots überschritten.
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Insoweit besteht auch keine Kollision zur nationalen Rechtsprechung.7 c) Besondere Altersgrenze
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In einer merkwürdigen Diskrepanz hierzu stehen Begründung und Ergebnisse der EuGH-Rechtsprechung bei besonderen Altersgrenzen, die das Arbeitsverhältnis vor dem Erreichen der allgemeinen Regelaltersgrenze beenden sollen. Der EuGH entschied – im Gegensatz zum BAG –8, dass trotz der besonderen physischen und psychischen Anforderungen für Cockpit-Personal die Flugsicherheit kein legitimes Ziel i.S.v. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL darstelle, um eine tarifvertragliche Altersgrenze zu rechtfertigen, und dieser Aspekt vielmehr von Art. 2 Abs. 5 Gleichb-RL erfasst werde. Eine auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festgelegte Altersgrenze erachtete der 1 EuGH v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 u. C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 – Rz. 52 = NZA 2011, 29. 2 EuGH v. 18.11.2010 – verb. Rs. C-250/09 u. C-268/09 – Georgiev, Slg. 2010, I-11869 – Rz. 56 = NZA 2011, 29. 3 EuGH v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 = NVwZ 2011, 1249. 4 EuGH v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 – Rz. 75 = NVwZ 2011, 1249. 5 EuGH v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 – Rz. 61 f. = NVwZ 2011, 1249. 6 EuGH v. 21.7.2011 – verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 – Fuchs/Köhler, Slg. 2011, I-6919 – Rz. 67 = NVwZ 2011, 1249. 7 Zu Beamten etwa BVerwG v. 6.12.2011 – 2 B 85/11, NVwZ 2012, 1052. 8 BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715; v. 11.3.1998 – 7 AZR 700/96, NZA 1998, 716.
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Anwendungsbereich
Rz. 129
§4
EuGH für unzulässig.1 Alle vorgezogenen Altersgrenzen im Bereich der Luftfahrt sind danach zu verwerfen.2 Der entscheidende Punkt dieser Rechtsprechung ist, dass im Vergleich zwischen dem öffentlich-rechtlichen Lizenzrecht, das zum Gefahrenabwehrrecht gehört (vgl. nur § 29 Abs. 1 LuftVG), und dem Arbeitsrecht die tarifvertragliche besondere Altersgrenze rigider ist als ihr öffentlich-rechtliches Pendant. Trotz der involvierten Rechtsgüter ist das widersprüchlich, insbesondere weil die tarifvertragliche Altersgrenze nicht flächendeckend gilt. Es gibt also Piloten, die bis zum Alter von 65 Jahren fliegen, und Piloten, die mit 60 Jahren ausscheiden, obwohl die Begründung zur Rechtfertigung jeweils dieselbe ist. Der EuGH prüft inkohärente Altersgrenzen besonders streng.
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Die besondere tarifliche Altersgrenze von 60 Jahren ist für die Piloten und Pilotinnen der Lufthansa in § 19 Abs. 1 Satz 1 MTV Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa niedergelegt. Sie stellt gem. §§ 3 Abs. 1, 1 AGG eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters dar. In Anlehnung an die Entscheidung Petersen3 hat der EuGH diese Altersgrenzen an den strengen Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL gemessen.4 Verneint hat der EuGH die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL, da die besondere Altersgrenze nicht aus den sozialpolitischen Gründen der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes oder der beruflichen Bildung zu rechtfertigen ist (allg. zu den legitimen Zielen des Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL vgl. Rz. 26 ff.).5
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Die Entscheidung des EuGH der Rechtssache Prigge hat in der nationalen Rechtsprechung bereits massive Auswirkungen gezeitigt. Das BVerwG fühlte sich in Ansehung der altersgrenzenfreundlichen Rechtsprechung auf der sicheren Seite, und erklärte die Altersgrenze von 71 Jahren für einen öffentlich vereidigten Sachverständigen (hier für die Sachgebiete „EDV im Rechnungswesen und Datenschutz“ sowie „EDV in der Hotellerie“) aus Gründen der Sicherheit des öffentlichen Rechtsverkehrs für wirksam.6 Das BVerfG verwarf diese Entscheidung des BVerwG mit bemerkenswerten Rügen.7 Das BVerwG habe den Grundsatz des gesetzlichen Richters verletzt, weil es diese Frage nicht dem EuGH vorgelegt habe. Zwar habe die EuGH-Entscheidung Prigge, seit der klar sei, dass Altersgrenzen gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL nur noch aus sozialpolitischen Zielen heraus zu rechtfertigen seien, zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerwG noch nicht vorgelegen.8 Es könne aber auch dahinstehen, ob die Vorlagefrage vom EuGH bereits beantwortet gewesen sei. Denn selbst wenn dem so gewesen sei, „dann jedenfalls nicht in dem vom BVerwG angenommenen Sinne, sondern im Gegenteil […]“.9 Von dieser
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1 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 = NZA 2011, 1039; näher hierzu Temming, EuZA 2012, 205. 2 S. die umsetzenden Entscheidungen zu Flugingenieuren: BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 904/08; zu Cockpitpersonal: v. 18.1.2012 – 7 AZR 211/09, NZA 2012, 691 und v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, NZA 2012, 866; zu Pilot: v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575. 3 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 = EuZW 2010, 139. 4 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 65 ff. = NZA 2011, 1039. 5 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 – Prigge, Slg. 2011, I-8003 – Rz. 80 ff. = NZA 2011, 1039; a.A. ArbG Frankfurt v. 14.3.2007 – 6 Ca 7405/06, BB 2007, 1736, das die besondere Altersgrenzen an § 10 AGG und damit indirekt an Art. 6 Gleichb-RL prüft, es hätte auch § 8 Abs. 1 AGG und damit indirekt Art. 4 Abs. 1 Gleichb-RL heranziehen können; vgl. statt aller die Nachweise bei v. Hoff, BB 2007, 1739. 6 BVerwG v. 26.1.2011 – 8 C 46/09, NVwZ 2011, 569. 7 BVerfG v. 24.10.2011 – 1 BvR 1103/11, NZA 2012, 202. 8 BVerfG v. 24.10.2011 – 1 BvR 1103/11, NZA 2012, 202 (203 f.). 9 BVerfG v. 24.10.2011 – 1 BvR 1103/11, NZA 2012, 202 (204).
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§4
Rz. 130
Verbot der Altersdiskriminierung
höchstrichterlichen Rüge eingeschüchtert hat das BVerwG nicht – wie es richtig gewesen wäre – den EuGH um Vorabentscheidung angerufen, sondern wiederum selbst entschieden; diesmal mit umgekehrtem Ergebnis.1 6. Betriebliche Altersversorgung 130
Das Recht der betrieblichen Altersversorgung fällt in den Anwendungsbereich der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie. So sind schon die Beiträge, die der Arbeitgeber während des Arbeitsverhältnisses zum Aufbau einer späteren Betriebsrente des Arbeitnehmers abführt, (Arbeits-)„Entgelt“ i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Buchst. c Gleichb-RL i.V.m. Art. 157 Abs. 2 AEUV (vgl. Rz. 7).2 Dasselbe gilt, wenn der Arbeitnehmer selbst Beiträge aus seinem Arbeitsentgelt abführt und die so aufgebaute spätere Betriebsrente vom Arbeitgeber zugesagt wird.3 Auch die später ausgezahlte Rente fällt unter den Begriff des Entgelts. Der EuGH stellt dabei entscheidend darauf ab, ob das Ruhegehalt nur auf Grund des Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitgeber ausgezahlt wird.4 Dass die Betriebsrente ausschließlich privat finanziert ist, ist das entscheidende Abgrenzungskriterium zur staatlichen Rente,5 auf die die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie gem. Art. 3 Abs. 3 Gleichb-RL keine Anwendung findet.
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Neben den allgemeinen Rechtfertigungsnormen kommt bei Ungleichbehandlungen wegen des Alters im Rahmen eines Systems zur betrieblichen Altersversorgung die spezielle Norm des Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL in Betracht (vgl. Rz. 43 ff.). Sie ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und erlaubt daher – wie ausdrücklich aufgeführt – Altersgrenzen nur, soweit diese Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Betriebsrenten sind, wobei für verschiedene Gruppen von Beschäftigten verschiedene Altersgrenzen festgesetzt werden können. Außerdem sind Alterskriterien für versicherungsmathematische Berechnungen zulässig.
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Auch im Betriebsrentenrecht zeigt sich, wie inkonsequent der deutsche Gesetzgeber die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie umgesetzt hat. Obwohl er ursprünglich erkannte, dass die Auswirkungen des europarechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung auf die betriebliche Altersversorgung einer sorgfältigen Prüfung bedürfen und es erforderlich machen können, das Betriebsrentengesetz zu novellieren,6 ist es nicht dazu gekommen. Stattdessen heißt es in § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG lediglich, dass für die betriebliche Altersversorgung das Betriebsrentengesetz gilt. Der Wortlaut der Norm und die Gesetzesbegründung7 deuten darauf hin, dass die betriebliche Altersversorgung nicht vom AGG erfasst werden soll,8 was allerdings unionsrechtswidrig wäre.9 Das widerspräche außerdem § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG, der Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL entspricht und einen besonderen Rechtfertigungsgrund für Altersdiskriminierungen bei der betrieblichen Altersversorgung enthält, und die Anwendung des AGG auf Betriebsrenten mithin voraussetzt. Das BAG hat daher zu Recht entschieden, dass das AGG auf die betriebliche Al1 2 3 4 5 6 7 8 9
BVerwG v. 1.2.2012 – 8 C 24/11, NJW 2012, 1008. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 25 ff. S. dazu im deutschen Recht § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG. EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 46 = NZA 2008, 459, für die Hinterbliebenenrente. Vgl. EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 – Rz. 50 = NZA 2008, 459. BT-Drucks. 15/5717, 36. BT-Drucks. 16/1780, 32. A.A. BAG v. 11.12.2007 – 3 AZR 349/06, NZA 2008, 532 – Rz. 24. Steinmeyer, ZfA 2007, 27 (32); Däubler/Bertzbach/Schrader/Schubert, § 2 Rz. 141; vgl. a. Meinel/Heyn/Herms, § 2 Rz. 56; MünchKomm/BGB/Thüsing, § 10 AGG Rz. 27.
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Anwendungsbereich
Rz. 134
§4
tersversorgung Anwendung findet.1 § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG ist daher gegenstandslos2 und das nationalrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung nach den §§ 1 und 7 Abs. 1 und 2 AGG Prüfungsmaßstab für tarifliche, betriebliche3 und arbeitsvertragliche Versorgungszusagen. Freilich sind diese gesetzlichen Bestimmungen ihrerseits europarechtskonform auszulegen, so dass die unionsrechtlichen Vorgaben auch insoweit von entscheidender Bedeutung sind. a) Unverfallbarkeitsalter Eine wichtige Regelung im deutschen Betriebsrentenrecht, die nach dem Alter differenziert und die das BAG für rechtmäßig befunden hat,4 ist das Mindestalter, ab dem eine Versorgungszusage gem. §§ 1b, 30f BetrAVG unverfallbar ist. Diese Vorschriften, nach denen die Beendigung des 25. (§ 1b Abs. 1 Satz 1 BetrAVG), 35. (§ 30f Abs. 1 Satz 1 BetrAVG) bzw. 30. (§ 30f Abs. 1 Satz 1 a.E. BetrAVG) Lebensalters Mindestvoraussetzung für die Unverfallbarkeit ist, stellen eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters gem. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a i.V.m. Art. 1 Gleichb-RL dar.5
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Das Unverfallbarkeitsalter fällt auch nicht unter Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL (vgl. Rz. 43 ff.), das Systeme der betrieblichen Altersversorgung grundsätzlich erfasst. Entgegen dem BAG6 ist Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL nach dem EuGH sehr eng auszulegen7 und erlaubt, wie ausdrücklich genannt, Altersgrenzen nur, wenn diese Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einem System der betrieblichen Altersversorgung oder den Bezug der Betriebsrente sind. Die Grenzen für die Unverfallbarkeit sind nach der gebotenen engen Auslegung keine Altersgrenzen für die Mitgliedschaft in einem System der betrieblichen Altersversorgung.8 Sie legen fest, bis wann ein Arbeitnehmer seine bereits erworbenen Anwartschaften für eine Betriebsrente – in dessen System er also bereits Mitglied war – auch bei einem Wechsel des Arbeitgebers behält. Somit sind sie keine generellen Altersgrenzen, bis zu oder ab denen ein Arbeitnehmer Mitglied in einem solchen System werden kann. Plastisch gesprochen, erfasst Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL nur die Altersgrenzen am Anfang (Voraussetzung zur Mitgliedschaft) oder am Ende (Voraussetzung für den Bezug der Rente), nicht aber die, die dazwischen liegen. Das hat der EuGH in der Sache Kristensen/Experian9 für nach dem Alter gestaffelte Beiträge entschieden
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1 BAG v. 11.12.2007 – 3 AZR 349/06, NZA 2008, 532 – Rz. 22. 2 Abw. BAG v. 11.12.2007 – 3 AZR 249/06, NZA 2008, 532 – Rz. 25 („Kollisionsregel“ zwischen AGG und BetrAVG). 3 Für die Betriebspartner gilt zudem das Diskriminierungsverbot des § 75 Abs. 1 BetrVG, das aber jedenfalls in seinen Tatbestandsvoraussetzungen allgemeiner ist. Zum Verhältnis vgl. Rz. 12. 4 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, DB 2013, 1973; 15.10.2013 – 3 AZR 10/12; für Vereinbarkeit mit der Gleichb-RL auch Meinel/Heyn/Herms, § 10 Rz. 64. 5 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, DB 2013, 1973 – Rz. 16; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 30. 6 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, DB 2013, 1973 – Rz. 17; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 31, zu diesen Zeitpunkten lag freilich das Urteil EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 noch nicht vor. 7 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 46 ff. 8 A.A. BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, DB 2013, 1973 – Rz. 18; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12 – Rz. 32. 9 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuzW 2013, 951; dazu ausführlich Ulber, EuZA 2014, 202.
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Rz. 135
Verbot der Altersdiskriminierung
und das gilt auch für die Unverfallbarkeitsgrenzen des BetrAVG.1 Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL gilt demnach auch nicht für Regelungen, die eine vermeintlich schwächere Diskriminierung auslösen als die aufgeführten Altersgrenzen für Mitgliedschaft und Bezug der Leistungen.2 Ein solcher Erst-Recht-Schluss auf die Zulässigkeit der Unverfallbarkeitsgrenzen ist somit entgegen einer weitverbreiteten Meinung3 unzulässig.4 135
Das BAG hält die Altersgrenzen für die Unverfallbarkeit aber auch gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL für gerechtfertigt.5 Das Mindestalter für eine Unverfallbarkeit diene der Förderung der betrieblichen Altersversorgung und somit einem legitimen sozialpolitischen Ziel, indem dem Arbeitgeber möglicherweise abschreckender Verwaltungsaufwand erspart bleibe.6 Dazu sei die Altersgrenze auch ein angemessenes und erforderliches Mittel. Das begegnet erheblichen Zweifeln. So ist nicht ausgemacht, dass der Mehraufwand, den der Arbeitgeber hätte, wenn er auch kleinere Anwartschaften über Jahrzehnte „verwalten“ müsste, ihn tatsächlich davon abhalten würde, ein System der betrieblichen Altersversorgung einzurichten. Schließlich muss der Arbeitgeber bzw. der Versorgungsträger alle Anwartschaften über einen längeren Zeitraum verwalten,7 der zusätzliche Aufwand für kleine Anwartschaften, die sich zudem nicht mehr durch ständige Beiträge verändern, scheint demgegenüber nicht sehr ins Gewicht zu fallen. Dazu hätte das BAG jedenfalls die Tatsachen besser feststellen können. Es ist also unklar, ob die Altersgrenze zur Unverfallbarkeit überhaupt geeignet ist, die betriebliche Altersversorgung zu fördern. Wenn dem nicht so wäre, würde die Altersgrenze nur dem Arbeitgeber – wenn auch geringen – Mehraufwand ersparen und ein solches nicht im Allgemeininteresse liegende Ziel ist nicht legitim i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL (vgl. Rz. 25).8 Aber selbst, wenn diese Voraussetzung erfüllt wäre, bleiben Zweifel hinsichtlich der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Unverfallbarkeits-Altersgrenzen. Wie das BAG selbst einräumt,9 verhindern nämlich bereits die gesetzlichen Unverfallbarkeitsfristen, dass kleine Ansprüche entstehen. Außerdem können geringe Anwartschaften gem. § 3 BetrAVG durch eine Einmalzahlung abgefunden werden. Angesichts der vom EuGH auch im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL in ständiger Rechtsprechung praktizierten engen Auslegung und seiner strengen Prüfung des Erforderlichkeitskriteriums erscheint es daher nicht fernliegend, dass der Gesetzgeber mit den Altersgrenzen zur Unverfallbarkeit über das hinaus gegangen ist, was erforderlich ist, um die betriebliche Altersversorgung zu fördern.10
1 A.A. in Bezug auf den gleichlautenden § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG Bauer/Göpfert/Krieger, § 10 Rz. 37. 2 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian, EuZW 2013, 951 – Rz. 52. 3 Blomeyer/Rolfs/Otto/Rolfs, § 1b BetrAVG Rz. 71b m.w.N.; Rolfs, NZA 2008, 553, 555; Adomeit/Mohr, ZfA 2008, 449 (464). 4 Ulber, EuZA 2014, 202 (209 f.). 5 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, NZA 2014, 547 – Rz. 26; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 37 a.E. 6 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, NZA 2014, 547 – Rz. 22; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 35. 7 Vgl. Ulber, EuZA 2014, 202 (216). 8 S. auch Preis, BetrAV 2010, 513 (514). 9 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, NZA 2014, 547 – Rz. 23; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 36. 10 Vgl. schon Preis, BetrAV 2010, 513 (514); zustimmend Uckermann/Fuhrmanns/Ostermayer/ Doetsch/Axler, § 1b BetrAVG Rz. 15; zweifelnd auch Ulber, EuZA 2014, 202 (215 f.).
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Anwendungsbereich
Rz. 139
§4
Dessen ungeachtet hätte das BAG gem. Art. 276 Abs. 3 AEUV den EuGH anrufen sollen. Denn entgegen dem BAG1 bestanden in dem Fall wie gesehen durchaus Fragen zur Auslegung des Unionsrechts, die jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht geklärt waren. Das gilt vor allem für Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL, wie die Entscheidung Kristensen/Experian dann ja gezeigt hat. Allerdings beruft sich das BAG darauf, dass die Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Gleichb-RL nicht entscheidungserheblich sei, da die Altersgrenzen zur Unverfallbarkeit sowieso nach Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL gerechtfertigt seien.2 Letzteres ist aber eben sehr zweifelhaft und wäre ebenfalls durch den EuGH zu klären gewesen.3
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b) Altersgrenzen für die Mitgliedschaft in Versorgungswerken Bei Mindestaltersgrenzen für die Mitgliedschaft in einem System der betrieblichen Altersversorgung mangelt es an einem legitimen Ziel, wenn die Betriebsrente arbeitnehmerfinanziert ist. Das geht insbesondere aus der gesetzlichen Wertung in den §§ 1a, 1b Abs. 5 BetrAVG hervor, die für den Anspruch auf Entgeltumwandlung und dessen Unverfallbarkeit gerade kein Mindestalter vorsehen.4 Bei arbeitgeberfinanzierten Versorgungen soll dies anders sein, weil der Arbeitgeber ein Interesse daran habe, die Betriebstreue jüngerer Arbeitnehmer nicht mit einer Versorgungsanwartschaft zu honorieren.5 Dieses Argument ist selbst altersdiskriminierend.6 Auch das Ziel, die Kleinstanwartschaften zu vermeiden, kann die Mindestaltersgrenzen nicht rechtfertigen (vgl. Rz. 135).
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Bei Höchstaltersgrenzen besteht nach allgemeiner Ansicht jedenfalls bei beitragsorientierten Versorgungssystemen, bei denen die Leistung aufgrund versicherungsmathematischer Berechnungen ermittelt werden kann, kein zulässiger Grund für eine Unterscheidung aufgrund des Alters.7 Aber auch bei leistungsorientierten Versorgungen ist eine Altershöchstgrenze nicht erforderlich, denn die Tatsache, dass ältere Arbeitnehmer ihre Anwartschaft nur über einen kurzen Zeitraum finanzieren können, kann ausgeglichen werden, indem das Versorgungsniveau ausgeglichen wird. Der vollständige Ausschluss älterer Arbeitnehmer aus dem Versorgungswerk ist somit nicht erforderlich.8
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Das sah das BAG bei Versorgungszusagen mit einer faktischen9 bzw. ausdrücklichen10 Höchstaltersgrenze von 50 Jahren anders. Zwar betonte das BAG, dass eine Höchstaltersgrenze bzw. eine Mindestbetriebszugehörigkeit trotz speziellen Tatbestands des § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG gem. § 10 Satz 2 AGG angemessen sein müsse.11 Dafür sollte es aber ausreichen, dass die Zeit nach der Altersgrenze bis zum Renteneintrittsalter, in denen die Arbeitnehmer keine Anwartschaften erwer-
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1 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, NZA 2014, 547 – Rz. 27; v. 15.10.2013 – 3 AZR 10/12, NZA-RR 2014, 87 – Rz. 38. 2 BAG v. 28.5.2013 – 3 AZR 635/11, NZA 2014, 547 – Rz. 32. 3 Vgl. Ulber, EuZA 2014, 202 (216). 4 Adomeit/Mohr, ZfA 2008, 449 (466); Preis, BetrAV 2010, 513 (514); Rolfs, NZA 2008, 553 (556). 5 Rolfs, NZA 2008, 553 (556). 6 Preis, BetrAV 2010, 513 (514). 7 Adomeit/Mohr, ZfA 2008, 449 (466). 8 Preis, BetrAV 2010, 513 (514); abw. Rengier, NZA 2006, 1251 (1255); Rolfs, NZA 2008, 553 (556). 9 BAG v. 12.2.2013 – 3 AZR 100/11, NJW 2013, 2540, m. Anm. Rolfs. 10 BAG v. 12.11.2013 – 3 AZR 356/12, NZA 2014, 848. 11 BAG v. 12.2.2013 – 3 AZR 100/11, NJW 2013, 2540 – Rz. 30; v. 7.9.2013 – 3 AZR 686/11, NZA 2014, 33 – Rz. 21; v. 12.11.2013 – 3 AZR 356/12, juris – Rz. 25.
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Verbot der Altersdiskriminierung
ben können, angesichts von 40 Jahren Erwerbsleben nicht so sehr ins Gewicht falle.1 Demgegenüber überwiege der Spielraum, den der Arbeitgeber bei der Zusage ursprünglich freiwilliger Leistungen habe.2 140
Später entschied das BAG genau entgegengesetzt und erachtete eine Höchstaltersgrenze von 55 Jahren in Versorgungszusagen wegen Altersdiskriminierung für unwirksam.3 Eine solche Altersgrenze sei nicht gem. § 10 Satz 1 und 2, Satz 3 Nr. 4 AGG gerechtfertigt, da sie nicht angemessen sei. In Verbindung mit einer zehnjährigen Wartezeit führe sie dazu, dass während eines beträchtlichen Teils eines Erwerbslebens keine Anwartschaften mehr aufgebaut werden könnten.4 In Ansehung dieser Rechtsprechungsentwicklung ist dringend zu raten, auf Höchstaltersgrenzen bei Versorgungszusagen künftig zu verzichten. c) Ratierliche Berechnung
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Eine ebenfalls auf das Alter abstellende Regelung ist die ratierliche Berechnung der Höhe einer unverfallbaren Anwartschaft aus einer leistungsorientierten Direktzusage nach dem sog. m/n-tel Prinzip gem. § 2 Abs. 1 BetrAVG. Der Umfang, in dem die Versorgungszusage nach dieser Vorschrift gekürzt wird, hängt davon ab, in welchem Lebensalter des Arbeitnehmers die Versorgungszusage bestanden hat. Tritt der Versorgungsfall etwa mit der Vollendung des 65. Lebensjahres ein, erhält ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis vom 25. bis zum 35. Lebensjahr bestanden hat, 10/40 des Vollanspruchs; ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis vom 45. bis zum 55. Lebensjahr bestand, erhält hingegen 10/20. Ob eine Benachteiligung wegen des Alters vorliegt, entscheidet sich danach, ob die Höhe der Anwartschaft aufgrund des Lebensalters vermindert wird. Das wiederum hängt von der jeweiligen Versorgungszusage ab. Macht eine Versorgungszusage die Höhe der Leistung allein von der Betriebszugehörigkeit abhängig und sieht für jedes Dienstjahr einen festen Betrag vor, erwerben alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrem Lebensalter gleich hohe Anwartschaften. Der höhere Kürzungsfaktor, der bei jüngeren Arbeitnehmern gem. § 2 Abs. 1 BetrAVG zur Anwendung kommt, wird aufgrund des höheren Vollanspruchs ausgeglichen, der ihnen bei einer hypothetischen Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen der Altersgrenze zugestanden hätte.5
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Anders liegen die Dinge, wenn die Versorgungszusage mit einer Höchstbegrenzung anrechnungsfähiger Dienstjahre kombiniert wird. Soweit keine abweichende Vereinbarung getroffen wurde, ist § 2 Abs. 1 BetrAVG nach der Rechtsprechung des BAG bei einer vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch dann anzuwenden, wenn ein Arbeitnehmer bei seinem vorzeitigen Ausscheiden bereits eine Anwartschaft mit dem Höchstbetrag erworben hat. In dieser Konstellation führt § 2 Abs. 1 BetrAVG dazu, dass der Umfang der Kürzung davon abhängt, in welchem Lebensalter der Arbeitnehmer die Anwartschaft erworben hat.
1 BAG v. 12.2.2013 NZA 2014, 848 – 2 BAG v. 12.2.2013 NZA 2014, 848 – 3 BAG v. 18.3.2014 4 BAG v. 18.3.2014 5 BAG v. 19.7.2011
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– 3 Rz. – 3 Rz. – 3 – 3 – 3
AZR 100/11, NJW 2013, 2540 – Rz. 33; v. 12.11.2013 – 3 AZR 356/12, 29; v. 18.3.2014 – 3 AZR 69/12, NZA 2014, 606 – Rz. 24. AZR 100/11, NJW 2013, 2540 – Rz. 31; v. 12.11.2013 – 3 AZR 356/12, 28; zust. Rolfs, NJW 2013, 2544. AZR 69/12, NZA 2014, 606. AZR 69/12, NZA 2014, 606 – Rz. 27. AZR 434/09, NZA 2012, 155 – Rz. 33; Preis, BetrAV 2010, 513 (515).
Anwendungsbereich
Rz. 144
§4
Der Rechtsprechung zufolge knüpft § 2 Abs. 1 BetrAVG an das „allgemein akzeptierte Verständnis der betrieblichen Altersversorgung“ an.1 Demnach werde die betriebliche Altersversorgung als Gegenleistung für die gesamte Betriebszugehörigkeit bis zum Erreichen der festen Altersgrenze angesehen.2 § 2 Abs. 1 BetrAVG diene so der Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung, was ein legitimes Ziel i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL sei.3 Somit stellt das BAG auf eine Betriebstreue während des gesamten Arbeitslebens ab, die aber – wie es selbst einräumt –4 schon länger nicht mehr der Regelfall ist. Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass § 2 Abs. 1 BetrAVG ein legitimes Ziel verfolgt und tatsächlich geeignet ist, dieses zu fördern, ist die Regelung jedenfalls nicht erforderlich, wenn sie in Verbindung mit einer Begrenzung der anrechnungsfähigen Dienstzeit steht. Wenn nämlich die Betriebstreue honoriert werden soll, ist es nicht erforderlich, das Alter des Arbeitnehmers in die Berechnung der Leistung miteinzubeziehen und so jüngere Beschäftigte zu benachteiligen. Vielmehr reicht es aus, alleine an die Betriebszugehörigkeit anzuknüpfen. Darüber hinaus kommt die m/n-tel Kürzung nach § 2 Abs. 1 BetrAVG nicht nur in dem Fall zur Anwendung, dass der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis kündigt, sondern auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis ohne Zutun des Arbeitnehmers aufgrund einer arbeitgeberseitigen Kündigung beendet wird. Der Behauptung, dass ein jüngerer Arbeitnehmer auch in diesem Fall die Betriebstreue stärker verletze als ein älterer, mangelt es daher bereits an der inneren Kohärenz, die der EuGH für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen Alters voraussetzt.5
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d) Altersabstandsklauseln Altersabstandsklauseln,6 die Leistungen der Hinterbliebenenvorsorge ab einer bestimmten Altersdifferenz zwischen den Eheleuten ausschließen, benachteiligen Arbeitnehmer unmittelbar aufgrund ihres Alters.7 Das lässt sich nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass ein jüngerer Ehepartner für sich selbst aufkommen kann.8 Denn darin liegt kein anerkanntes Ziel, das für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung notwendig ist. Lediglich die finanzielle Belastung, die mit der Versorgung junger Ehepartner verbunden ist, vermag die Einschränkung von Versorgungsleistungen unter dem Gesichtspunkt der finanziellen Stabilität des betrieblichen Versorgungssystems zu rechtfertigen, da hieran ein allgemeines Interesse besteht.9 Dennoch ist der vollständige Ausschluss betrieblicher Rentenleistungen aus diesem Grund weder angemessen noch erforderlich, weil es Klauseln gibt, die einerseits das legitime Interesse an einer zeitlichen Begrenzung der finanziellen Belastungen berücksichtigen, sich aber andererseits gegenüber dem überlebenden Partner milder auswirken.10 Eine entsprechende Klausel sollte auch 1 BAG v. 11.12.2012 – 3 AZR 634/10, NZA 2013, 564 – Rz. 36. 2 BAG v. 11.12.2012 – 3 AZR 634/10, NZA 2013, 564 – Rz. 36; v. 19.7.2011 – 3 AZR 434/09, NZA 2012, 155 – Rz. 43. 3 BAG v. 11.12.2012 – 3 AZR 634/10, NZA 2013, 564 – Rz. 36; v. 19.7.2011 – 3 AZR 434/09, NZA 2012, 155 – Rz. 45. 4 BAG v. 11.12.2012 – 3 AZR 634/10, NZA 2013, 564 – Rz. 37; v. 19.7.2011 – 3 AZR 434/09, NZA 2012, 155 – Rz. 47. 5 Preis, BetrAV 2010, 513 (515). 6 Hierzu Preis/Temming, NZA 2008, 1209 (1215 f.). 7 S. schon Preis, BetrAV 2010, 513 (515); a.A. MünchKomm/BGB/Thüsing, § 10 AGG Rz. 59. 8 S. schon Preis, BetrAV 2010, 513 (515); a.A. Adomeit/Mohr, ZfA 2008, 449 (467). 9 Preis, BetrAV 2010, 513 (515). 10 GA Sharpston v. 22.5.2008 – Rs. C-427/06 – Bartsch, Slg. 2008, I-7245 – Rz. 121.
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Rz. 145
Verbot der Altersdiskriminierung
dem Umstand Rechnung tragen, dass sowohl der EuGH als auch das BVerfG Differenzierungen zwischen Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern im Bereich der Hinterbliebenenversorgung für unzulässig erachten.1 Sie könnte daher wie folgt lauten:2 Ist der überlebende Ehe- oder Lebenspartner eines Mitarbeiters, der nach dem Erwerb einer unverfallbareren Versorgungsanwartschaft verstorben ist, mindestens 15 Jahre jünger als dieser Mitarbeiter, ruht der Anspruch auf [Hinterbliebenenversorgung] nach seiner erstmaligen Entstehung für einen Zeitraum, der dem in vollen Monaten berechneten Altersunterschied zwischen dem Mitarbeiter und dessen Ehe- oder Lebenspartner abzgl. von 180 Monaten entspricht. e) Spätehenklauseln 145
Bei sog. Spätehenklauseln werden Leistungen der Hinterbliebenenversorgung ausgeschlossen, wenn die Ehe nach einem bestimmten Höchstalter des Arbeitnehmers oder nach dem Eintritt des Versorgungsfalls geschlossen wurde. Dabei wird auf das Lebensalter des Arbeitnehmers im Zeitpunkt des Eheschlusses abgestellt und dieser mithin unmittelbar aufgrund seines Alters benachteiligt.3 Das BAG sieht jedenfalls in dem Teil der Spätehenklausel, nach dem eine Hinterbliebenenversorgung ausgeschlossen sein soll, wenn die Ehe zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, zu dem der Arbeitnehmer bereits Leistungen erhielt, lediglich eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters.4 Dem ist jedenfalls dann nicht zuzustimmen, wenn es sich um eine Alters- und nicht um eine Invalidenrente handelt. Denn auch wenn der Ausschluss der Hinterbliebenenversorgung nicht ausdrücklich an ein bestimmtes Alter gekoppelt ist, ist doch der Beginn der Leistungserbringung als Anknüpfungspunkt unmittelbar mit einer Altersgrenze verbunden. Somit liegt auch darin eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters. Dagegen zu Recht nimmt das BAG lediglich eine mittelbare Benachteiligung wegen des Alters i.S.d. § 3 Abs. 2 AGG an, wenn eine Hinterbliebenenversorgung für den Fall ausgeschlossen wird, in dem die Ehe nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschlossen wird.5 Das Tatbestandsmerkmal der „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ knüpft nicht unmittelbar an das Alter an, da es auch andere Gründe gibt, aus denen das Arbeitsverhältnis enden kann.
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Ausgehend von seinem Verständnis rechtfertigt das BAG Spätehenklauseln mit dem Argument, der Arbeitgeber könne frei bestimmen, für welche Versorgungsfälle er Leistungen zusage und wie hoch die Leistungen sein sollen.6
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Nach hier vertretener Ansicht können Spätehenklauseln, die ausdrücklich an das Alter bzw. den Beginn des Leistungsbezugs anknüpfen nur nach Maßgabe des § 10 AGG gerechtfertigt werden.7 Wie Altersabstandsklauseln lassen sich Spätehenklausel grundsätzlich mit dem Ziel rechtfertigen, die finanziellen Lasten des Arbeit1 EuGH v. 1.4.2008 – Rs. C-267/06 – Maruko, Slg. 2008, I-1757 = NZA 2008, 459; BVerfG v. 7.7. 2009 – 1 BvR 1164/07, NJW 2010, 1439; Preis, BetrAV 2010, 513 (515); Blomeyer/Rolfs/Otto/ Rolfs, Anh § 1 Rz. 209; jetzt auch MünchKomm/BGB/Thüsing, § 10 AGG Rz. 58. 2 Vgl. bereits Preis/Temming, NZA 2008, 1209, 1216; Preis, BetrAV 2010, 513 (515 f.). 3 Abw. LAG BW v. 12.11.2009 – 11 Sa 41/09, BetrAV 2010, 292 – Rz. 36. 4 BAG v. 15.10.2013 – 3 AZR 707/11, juris – Rz. 36; v. 15.10.2013 – 3 AZR 294/11, juris – Rz. 28. 5 BAG v. 20.4.2010 – 3 AZR 509/08, NZA 2011, 1092 – Rz. 65. 6 BAG v. 15.10.2013 – 3 AZR 294/11, juris – Rz. 31 f.; v. 15.10.2013 – 3 AZR 653/11, NZA 2014, 308 – Rz. 37; v. 15.10.2013 – 3 AZR 707/11, juris – Rz. 39 f. 7 Vgl. schon Preis, BetrAV 2010, 513 (516).
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Fazit
Rz. 149
§4
gebers bzw. Versorgungsträgers zu begrenzen, um die Stabilität des betrieblichen Versorgungssystems zu sichern. Allerdings ist nicht jede „späte Ehe“ eine Versorgungsehe, die einen Ausschluss aller Hinterbliebenenleistungen rechtfertigt.1 Vielmehr kann das versicherungsmathematische Risiko, das mit Spätehen verbunden ist, – ebenso wie bei Altersabstandsklauseln – durch ein zeitweiliges Ruhen der Hinterbliebenenversorgung kompensiert werden. Eine entsprechende Klausel könnte wie folgt lauten:2 Geht der Arbeitnehmer nach Vollendung des 60. Lebensjahres [nach Eintritt des Versorgungsfalles] eine Ehe oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft ein, ruht der Anspruch auf [Hinterbliebenenversorgung] nach seiner erstmaligen Entstehung für die Dauer von 60 Monaten. f) Nach dem Alter gestaffelte Beiträge Eine Staffelung der Beiträge in einem System der betrieblichen Altersversorgung in dem Sinne, dass die Beiträge mit dem Lebensalter des Arbeitnehmers steigen, kann nach dem EuGH gem. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL grundsätzlich zulässig sein.3 So sind etwa die damit verfolgten Ziele, älteren Arbeitnehmern zu ermöglichen, auch in kürzerer Zeit eine angemessene Altersversorgung aufzubauen und jüngere Arbeitnehmer bereits in die betriebliche Altersversorgung zu integrieren, ihnen aber einen größeren Teil ihres Gehalts zu belassen, legitim i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL.4 Nach dem bereits im Urteil Palacios de la Villa etablierten Maßstab ist die Staffelung der Beiträge für den EuGH darüber hinaus „nicht unvernünftig“ und somit grundsätzlich geeignet i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Gleichb-RL, um die Ziele zu erreichen.5 Die Frage, ob die Staffelung im Einzelfall auch kohärent und systematisch umgesetzt und dazu erforderlich und angemessen ist, überlässt der EuGH allerdings dem nationalen Gericht.6 Dieses soll den Fall dabei aus Sicht des betroffenen Arbeitnehmers beurteilen und die Vor- und Nachteile, die sich aus dem System der betrieblichen Altersversorgung für den Arbeitnehmer ergeben, gegeneinander abwägen.7
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IV. Fazit Das Verbot der Altersdiskriminierung hat eine sprunghafte Karriere hinter sich und ist weiter in Bewegung. Mit dem Paukenschlag der Mangold-Entscheidung wurde das Verbot zu dem Diskussionspunkt im deutschen Arbeitsrecht, das vielfache Differenzierungen nach Lebensalter und Seniorität enthielt und enthält. Erratisch bahnt sich das Verbot einen Weg, changierend zwischen strenger und weniger strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das BAG verhält sich abwartend konservativ; der Gesetzgeber verweigert sich, Rechtsklarheit zu schaffen. Das deutsche Arbeitsrecht wird hier und da am Maßstab des Kohärenzgebotes einer Prüfung unterzogen. 1 Preis, BetrAV 2010, 513 (516); wohl auch Adomeit/Mohr, ZfA 2008, 449 (467). 2 Preis, BetrAV 2010, 513 (516). 3 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian – Rz. 69 = EuZW 2013, 951; s. dazu auch Ulber, EuZA 2014, 202 (211 f.). 4 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian – Rz. 62 = EuZW 2013, 951. 5 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian – Rz. 66 = EuZW 2013, 951. 6 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian – Rz. 68 = EuZW 2013, 951. 7 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 – Kristensen/Experian – Rz. 68 = EuZW 2013, 951; Ulber, EuZA 2014, 202 (212).
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§4
Rz. 150
Verbot der Altersdiskriminierung
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Gesetzgeber und Rechtsprechung werden sich darauf einstellen müssen, weitere Korrekturen im Arbeitsrecht vorzunehmen. Größtenteils dürfte dieser Druck vom Unionsrecht und damit vom EuGH ausgehen. Ein neuerer Beschluss des BVerfG zur Stärkung des Individualrechtsschutzes im Falle des Unterlassens der Vorlageverpflichtung gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV deutet mittelbar darauf hin, dass auch die Karlsruher Richter diese Rollen- und Aufgabenzuweisung auf dem Gebiet der Altersdiskriminierung wollen.1 Allerdings ist es äußerst fraglich, ob es dabei insgesamt zu einer harmonischen, in sich schlüssigen Neujustierung des Arbeitsrechts kommt. Die vergangenen Jahrzehnte und insbesondere die letzten Jahre haben gezeigt, dass der Gesetzgeber auf dem Gebiet des Arbeitsrechts nahezu reformunfähig ist. Der im deutschen Einigungsvertrag niedergelegte Auftrag, das Arbeitsvertragsrecht zu kodifizieren, ist bislang unerfüllt.
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Der Versuch, Fragen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts im Hinblick auf die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer nachhaltig und zukunftsgerichtet zu denken,2 und den Gesetzgeber zu notwendigen Korrekturen zu bewegen, ist bislang ungehört verhallt.
1 BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439; Anm. Temming, ZESAR 2010, 277. 2 Preis, DJT-Gutachten, 2008; dazu Kohte, AnwBl. 2008, 575; Waltermann, NJW 2008, 2529; Rolfs/Witschen, JURA 2008, 641; Rieble, JZ 2008, 811.
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§5 Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
I. Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . .
Rz. 1
1. Dogmatik der Dienstleistungsfreiheit a) Anwendungsbereich . . . . . . . . 2 b) Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . 13 c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . 18 2. Verhältnis zu anderen Normen des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Verhältnis der Dienstleistungsfreiheit zum Sekundärrecht . . . . . . . 31 4. Sozialversicherungsrechtliche Implikationen der Entsendung . . . . . 34 5. Entsendung und Arbeitserlaubnisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 6. Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . 44 II. Entsendung und Arbeitskollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Grundsatz der freien Rechtswahl . . 50 2. Objektive Anknüpfung . . . . . . . . 51 3. Eingriffsrecht . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Die Entsenderichtlinie als Eingriffsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Sonstige Eingriffsnormen im deutschen Recht . . . . . . . . . . . 60 III. Entsenderichtlinie 1. Einleitung a) Zweck der Entsenderichtlinie . . b) Die Entsenderichtlinie als kollisionsrechtliche Regelung . . . . . c) Historische Entwicklung . . . . . d) Richtlinie 2014/67/EU zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 1 und 2 Ents-RL . . . . . . . . . . a) Unternehmen mit Sitz in der EU (Art. 1 Abs. 1 Ents-RL) . . . . . . . b) Vorliegen einer Entsendesituation (Art. 1 Abs. 3 Ents-RL) . . . . . . . c) Vorübergehender Charakter der Entsendung (Art. 2 Abs. 1 EntsRL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 64 69 75 78 80
Rz. d) Ausnahmen (Art. 1 Abs. 2 EntsRL) und nicht erfasste Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 e) Unternehmen mit Sitz in Drittstaaten (Art. 1 Abs. 4 Ents-RL) . . 103 3. Art. 3 Ents-RL a) Der harte Kern von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erstreckung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder allgemeinverbindliche Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Arbeitszeit- und urlaubsrechtliche Regelungen (Buchst. a und b) . . . . . . . . cc) Sozialkassen . . . . . . . . . . dd) Mindestlohnsätze (Buchst. c) (1) Zum Begriff „Mindestlohnsätze“ . . . . . . . . . (2) Vergleich des Entgelts im Herkunftsstaat mit dem fälligen Mindestlohn im Aufnahmestaat . . . . . . (3) Öffentliche Auftragsvergabe . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen (Abs. 2 bis 5) . . . . . c) Günstigkeitsprinzip (Abs. 7 Unterabs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeinverbindliche Tarifverträge (Abs. 8) . . . . . . . . . . . . . e) Leiharbeit (Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d und Abs. 9) . . . . . . . . f) Erstreckung weiterer Arbeitsbedingungen aus dem Bereich der öffentlichen Ordnung (Abs. 10 1. Spiegelstrich) . . . . . . . . . . .
104
109 114 116 118
129 141 146 152 156 164
168
4. Art. 4 Ents-RL . . . . . . . . . . . . . . 173
86
5. Art. 5 Ents-RL . . . . . . . . . . . . . a) Nationale Kontrollmaßnahmen b) Sanktionen . . . . . . . . . . . . . c) Gesamtschuldnerische Haftung
. . . .
179 181 190 193
94
6. Art. 6 Ents-RL . . . . . . . . . . . . . . 199
Schrifttum: Barnard, Posting matters, Arbeidsrett 2014, 1; Bayreuther, Arbeitsrecht im Richtlinienvorschlag zur konzerninternen Versendung von Drittstaatsangehörigen (ICT-Richt-
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§5
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
linie), ZESAR 2012, 405; Bayreuther, Inländerdiskriminierung bei Tariftreueerklärungen im Vergaberecht, EuZW 2009, 102; Bayreuther, Mindestlohnwirksame Leistungen im Geltungsbereich des Entsenderechts, EuZA 2014, 189; Bayreuther, Tariftreue vor dem Aus, Konsequenzen der Rüffert-Entscheidung des EuGH für die Tariflandschaft, NZA 2008, 626; Brors, Europäische Rahmenbedingungen für den neuen Mindestlohn und seine Ausnahmen, NZA 2014, 938; Brors, „vorübergehend“, AuR 2013, 108; Cremers/Donders, Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU, 2005; Csaki/Freundt, Europarechtskonformität von vergabegesetzlichen Mindestlöhnen, KommJur 2012, 246; von Danwitz, Die Rechtsprechung des EuGH zum Entsenderecht, Bausteine für eine Wirtschafts- und Sozialverfassung der EU, EuZW 2002, 237; Däubler, Der vergaberechtliche Mindestlohn im Fadenkreuz des EuGH – Auf dem Weg zu Rüffert II?, NZA 2014, 694; Däubler, Die Entsende-Richtlinie und ihre Umsetzung in das deutsche Recht, EuZW 1997, 613; Däubler (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012 (zit.: Däubler/Bearbeiter); Däubler/Zimmer (Hrsg.), Arbeitsvölkerrecht, FS für Klaus Lörcher; Davies, Posted Workers: Single Market Or Protection of National Labour Law Systems?, CLM Rev. 1997, 571; Deinert, Neues Internationales Arbeitsvertragsrecht, RdA 2009, 144; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013; Eichenhofer, Veränderungen in der EU-Koordinierung der sozialen Sicherheit, ZESAR 2013, 439; Evju, Die Zukunft der Tarifautonomie und das nordische Modell, EuZA 2010, 48; Evju, Introducing: Cross-Border Services, Posting of Workers, and Multilevel Governance, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies Research Paper Series No. 2013-29; Franzen, Grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung – Überlegungen aus Anlass der Herstellung vollständiger Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1.5. 2011, EuZA 2011, 451; Franzen, Die Lohnwucherrechtsprechung des BAG als Eingriffsnorm i.S.v. Art. 9 Rom I-VO bzw. § 2 Nr. 1 AEntG?, ZESAR 2011, 101; Fuchs, Die Beschränkung des Arbeitsmarktzugangs für Angehörige aus den EU-8-Staaten, ZESAR 2007, 97; Glaser/ Kahl, Zur Europarechtskonformität kombinierter Tariftreue- und Mindestlohnklauseln in Landesvergabegesetzen, ZHR 2013, 643; Hantel, Der Schutz arbeitsrechtlicher Mindeststandards bei einem grenzüberschreitenden Arbeitnehmereinsatz innerhalb der EU, ZESAR 2014, 261; van Hoek/Houwerzijl, Comparative study on the legal aspects of the posting of workers in the framework of the provision of services in the European Union, 2011; van Hoek/Houwerzijl, Complementary study on the legal aspects of the posting of workers in the framework of the provision of services in the European Union, 2011; Houwerzijl, Der Kommissionsvorschlag für eine Durchsetzungsrichtlinie vor dem Hintergrund strategischer Umgehung nationaler Mindestlöhne, AuR 2013, 342; Houwerzijl, Liability in subcontracting processes in the European construction sector, 2008; Huber (Hrsg.), AufenthG, 2. Aufl. 2014 (zit.: Huber/Bearbeiter); Jorens/Peters/Houwerzijl, Study on the protection of workers’ rights in subcontracting processes in the European Union, 2012; Klaus, Die rechtlichen Rahmenbedingungen für kurzfristige Entsendungen ins Bundesgebiet, ZAR 2014, 148; Koberski/Asshoff/Eustrup/ Winkler, Arbeitnehmerentsendegesetz, 2011; Koberski/Schierle, Balance zwischen Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerschutz gewahrt? RdA 2008, 233; Köbele/Cremers, Europäische Union: Arbeitnehmerentsendung im Baugewerbe, 1994; Körner, Mindestlohnanforderungen im internationalen Arbeitsrecht, NZA 2007, 425; Lind, The Danish law on the posting of workers, University of Oslo Formula Working Paper No. 24, 2010; Lorenz, ArbeitnehmerEntsendegesetz, Gesetzestext und Materialien, 1996; Lüttringhaus, Die „engere Verbindung“ im europäischen und internationalen Arbeitsrecht, EuZW 2013, 821; Magnus, Die Rom I-Verordnung, IPRax 2010, 27; Maier, Unterbietung des Mindestlohns durch Tarifverträge, NZA 2009, 351; Muller, Information provided on the posting of workers, 2010; Piffl-Pavelec, Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit (Richtlinien-Entwurf), DRdA 1995, 292; Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, 2006; Röbke, Sozialstandards bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in Berlin und Brandenburg, LKV 2011, 337; Rödl, Bezifferte Mindestlohnvorgaben im Vergaberecht, EuZW 2011, 292 ff.; Rödl, Europarechtliche Rahmenbedingungen für eine Reform des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, WSI Mitteilungen 2012, 517; Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, 2010; Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, 2008; Schlegel, Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-8 seit Mai 2011, AuR 2011, 384; Schneider-Sievers, Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Unternehmen – der nationale Blickwinkel, RdA 2012, 277; Scholz/Becker (Hrsg.), Die Auswirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten, 2009; Schubert, Gutachterliche Stellungnahme zu
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Dienstleistungsfreiheit
Rz. 2
§5
den Aktivitäten der EU-Kommission bezüglich der Urteile des Europäischen Gerichtshofes zum Verhältnis sozialer Grundrechte und Binnenmarktfreiheiten, 2012; Steiff/André, Konsequenzen aus dem EuGH-Urteil zur Tariftreue, NZBau 2008, 364; Thüsing, ArbeitnehmerEntsendegesetz, 2010; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2011; Thüsing/Granetzny, Noch einmal: Was folgt aus Rüffert, NZA 2009, 183; Thym, Umfang nationaler Kontrollmöglichkeiten bei der Arbeitnehmerentsendung, NZA 2006, 713; Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, 2012; Wank/Börgmann, Die Einbeziehung ausländischer Arbeitnehmer in das deutsche Urlaubskassenverfahren, NZA 2001, 177; Wiesehügel/Sahl, Die Sozialkassen der Bauwirtschaft und die Entsendung innerhalb der Europäischen Union, 1998; Wittjen, Tariftreue am Ende?, ZfBR 2009, 30.
I. Dienstleistungsfreiheit Die Genese der Entsenderichtlinie 96/71/EG1 (Ents-RL) steht in engem Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EuGH zur Dienstleistungsfreiheit. Deshalb ist vor der detaillierten Beschäftigung mit der Richtlinie 96/71/EG zunächst deren primärrechtlicher Hintergrund auszuleuchten. Die Dienstleistungsfreiheit bildet in gewisser Weise den Rahmen, innerhalb dessen der EU-Gesetzgeber zur Ausgestaltung der Arbeitnehmerentsendung befugt ist (vgl. Rz. 33). Die Dienstleistungsfreiheit, die in den Art. 56 ff. AEUV geregelt ist, ist eines der Fundamente der grenzüberschreitenden Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes der Union (s. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EUV i.V.m. Art. 26 Abs. 2 AEUV).2 Ziel ist es, den grenzüberschreitenden Freiverkehr des Produktes „Dienstleistung“ sicherzustellen.3 Die Dogmatik der Dienstleistungsfreiheit ist durch die Rechtsprechung des EuGH, wie auch bei den anderen Grundfreiheiten, stark ausdifferenziert. Die Prüfungssystematik folgt dem bekannten Schema: Anwendungsbereich, Beeinträchtigung und Rechtfertigung.
1
1. Dogmatik der Dienstleistungsfreiheit a) Anwendungsbereich Der sachliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit umfasst nach der Legaldefinition in Art. 57 Abs. 1 AEUV Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht anderen Freizügigkeitsvorschriften unterfallen. Dies verdeutlicht den Charakter der Dienstleistungsfreiheit als Auffangfreizügigkeit, die insbesondere Handlungen erfasst, die nicht schon von der Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit geschützt sind.4 Richtig erschließen lässt sich der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit jedoch erst durch eine Zusammenschau der beiden Teilregelungen der Art. 56 und 57 AEUV.5 Zu beachten sind dabei auch die über Art. 62 AEUV in Bezug genommenen Regelungen zur Niederlassungsfreiheit. Voraussetzung für die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs ist nicht zuletzt das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts.6
1 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. Nr. L 18 v. 21.1.1997, S. 1). 2 Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 1. 3 Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 1. 4 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 56. 5 Calliess/Ruffert-Kluth, Art. 57 Rz. 5. 6 EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 – Walrave, Slg. 1974, 1405 – Rz. 4/10.
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Rz. 3
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
3
Die Dienstleistungsfreiheit ist hierbei nicht auf den Begriff des Dienstes i.S.d. § 611 BGB reduziert. Erfasst werden vielmehr auch Bauleistungen (vgl. Art. 57 Abs. 2 AEUV).1 Geschützt durch Art. 56 AEUV ist damit insbesondere auch das Recht von Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat der Union zu erbringen. Zu diesem Zweck können Unternehmen, etwa im Rahmen eines Werkvertrags, ihre eigenen Mitarbeiter vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat entsenden, um dort Arbeiten auszuführen, die zur Erbringung der Dienstleistungen erforderlich sind.2
4
Der Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) ist nach dem EuGH bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern zur Erbringung von Dienstleistungen hingegen nicht eröffnet.3 Zur Begründung verweist der Gerichtshof darauf, dass – nur vorübergehend – entsandte Arbeitnehmer keinen Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates beanspruchen, sondern typischerweise nach der Erbringung ihrer Tätigkeit in den Herkunftsstaat zurückkehren. Diese These wird von Teilen der Literatur in Frage gestellt. Zum einen lasse sich bezweifeln, dass auch eine lang andauernde Entsendung über ein Jahr hinaus (z.B. Bau einer Brücke) keine Integration in den Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates bewirken solle, zum anderen sei anerkannt, dass auch nur kurz andauernde Arbeitsverhältnisse vom Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit erfasst seien.4 Deshalb wird dafür plädiert, die entsandten Arbeitnehmer in den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit aufzunehmen.5 Dies kann erhebliche rechtliche Konsequenzen mit sich bringen.6 Beim EuGH konnte sich diese Ansicht bislang nicht durchsetzen. In räumlicher Hinsicht wurde die Dienstleistungsfreiheit im Zuge der EU-Osterweiterung im Kontext der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern durch Sonderregelungen im Übergangsrecht der Beitrittsverträge7 eingeschränkt.8 Derartige Übergangsregelungen gab es schon in früheren Beitrittsverträgen im Rahmen der EUSüderweiterung9. Hierdurch soll eine schwere Beeinträchtigung der nationalen Arbeitsmärkte verhindert werden.
5
6
Betroffen von den Übergangsregelungen der Beitrittsverträge ist zunächst die Arbeitnehmerfreizügigkeit10. Insoweit sehen die Übergangsregelungen vor, dass die Altmit1 EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417. 2 EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417; KOM (2012), 131 endg., S. 2; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 57; zu den Werkvertragsübereinkommen: Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 133 ff. 3 EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417 – Rz. 15; v. 9.8.1994 – Rs. C-43/93 – Vander Elst, Slg. 1994, I-3803 – Rz. 21; Franzen, EuZA 2011, 451 (454); zu Recht kritisch: Schlachter/Ohler/Schlachter, EUDL-RL, Art. 19 Rz. 7. 4 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 118. 5 Ausf. Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 115 ff.; dieser Ansatz wird aktuell durch die Entscheidung des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte vom 3.7.2013, Beschwerde Nr. 85/2012, LO und TCO gegen Schweden unterstützt, in der sich der Ausschuss für eine rechtliche Gleichstellung von Entsandten und Wanderarbeitnehmern ausspricht (Rz. 134). 6 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 124. 7 Vertrag vom 25.4.2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union (ABl. Nr. L 157 v. 21.6.2005, S. 11) und Vertrag vom 9.12.2011 über den Beitritt der Republik Kroatien zur Europäischen Union (ABl. Nr. L 112 v. 24.4.2012, S. 7). 8 Schneider-Sievers, RdA 2012, 277. 9 Fuchs, ZESAR 2007, 97 (98 f.). 10 Ausf. Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 141 ff.
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Dienstleistungsfreiheit
Rz. 8
§5
gliedstaaten die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Verhältnis zu den Beitrittsländern in drei Phasen – dem sog. 2+3+2-Modell1 – höchstens jedoch sieben Jahre beschränken dürfen. Die Beschränkung der Dienstleistungserbringung durch entsandte Arbeitnehmer ist als Annex zur Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ebenfalls auf das 2+3+2-Modell und damit auf maximal sieben Jahre begrenzt. Außerdem dürfen gegenüber Kroatien lediglich Deutschland und Österreich entsprechende Beschränkungen in bestimmten Sektoren vornehmen.2 In Deutschland sind das folgende Branchen: Baugewerbe3 einschließlich verwandter Wirtschaftszeige, Reinigung von Gebäuden, Inventar und Verkehrsmitteln sowie Innendekorateure (diese Bereiche richten sich nach den NACE-Codes der Verordnung (EWG) Nr. 3037/90). Soweit Deutschland und Österreich von dieser Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch gemacht haben, ist die Entsendung von Arbeitnehmern nur eingeschränkt möglich. Insbesondere besteht insoweit die Möglichkeit, Arbeitsmarktbeschränkungen gegenüber Staatsangehörigen der Beitrittsstaaten aufrechtzuerhalten (vgl. Rz. 38 ff.). Gleichzeitig wird durch das Übergangsrecht verboten, den Status Quo der Beschränkungen zu verschlechtern (Stillstandsklausel).4 Zudem verpflichteten die Übergangsregelungen die Altmitgliedstaaten, bei der Entscheidung über die Zulassung zum nationalen Arbeitsmarkt Arbeitnehmern aus den Beitrittsstaaten vor Drittstaatsangehörigen den Vorrang einzuräumen (Unionspräferenzklausel).5
7
Die Übergangsregelungen sind für die 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten6 bereits am 1.5.2011 ausgelaufen.7 Für Bulgarien und Rumänien liefen sie am 31.12.2013 aus.8 Für Kroatien gelten die Einschränkungen höchstens bis zum bis zum 30.6.2020 fort.9 Von diesen Übergangsregelungen ist allerdings nur die Dienstleistungserbringung durch entsandte Arbeitnehmer in den genannten Branchen betroffen.10 Uneingeschränkt möglich ist hingegen die Erbringung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen ohne den Einsatz von Arbeitnehmern, insbesondere durch sog. Soloselbständige.11 Für die anderen Grundfreiheiten des Unionsrechts wie etwa die Niederlassungsfreiheit oder die Warenverkehrsfreiheit gibt es keine Übergangsregelungen. Die Abgrenzung bereitet in der Praxis häufig Probleme und kann, soweit keine rechtmäßige Entsendung vorliegt, erhebliche rechtliche Konsequenzen mit sich bringen.
8
1 Ausf. Huber/Brinkmann, § 13 AufenthG Rz. 5 ff.; ErfK/Wißmann, AEUV, Art. 45 Rz. 18. 2 Abschnitt 2, Ziffer 12 des Anhangs V der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. Nr. L 112 v. 24.4.2012, S. 67). 3 Eine unionsrechtliche Definition des Begriffs Baugewerbe findet sich im Anhang der Entsenderichtlinie. 4 Fuchs, ZESAR 2007, 97 (100). 5 Fuchs, ZESAR 2007, 97 (100). 6 Dazu gehören: Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen Slowenien und die Slowakei. Im Verhältnis zu Malta und Zypern wurden keine Übergangsvorschriften erlassen, vgl. Fuchs, ZESAR 2007, 97 (99). 7 Schlegel, AuR 2011, 384. 8 Vgl. Annex VI und Annex II des Protokolls über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union (ABl. Nr. L 157 v. 21.6.2005, S. 29). 9 Ausführliche Informationen zu Kroatien: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1067& langId=de. 10 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 143. 11 Schneider-Sievers, RdA 2012, 277.
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Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
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Etwas undurchsichtig ist die Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit in Fällen der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerüberlassung. Auch hier geht der EuGH davon aus, dass es sich bei der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerüberlassung durch Leiharbeitsunternehmen um einen Anwendungsfall der Dienstleistungsfreiheit handelt.1 Ein Befund, der im Einklang mit Art. 1 Abs. 3 Buchst. c Ents-RL steht, der explizit die grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung als einen der von der Richtlinie erfassten Fälle aufführt. Fraglich ist allerdings, ob sich die überlassenen Arbeitnehmer parallel auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können.2 In diesem Zusammenhang hatte der EuGH erst kürzlich in einem Fall mit Bezug zu den Niederlanden zu entscheiden, ob die grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung dahingehend von den niederländischen Übergangsregelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit erfasst wird, dass die im niederländischen Recht festgelegte Arbeitserlaubnispflicht für die Leiharbeitnehmer aus Polen weiterhin anwendbar ist.3 Dies bejaht der Gerichtshof in Anlehnung an seine ältere Rechtsprechung Rush Portuguesa4 mit dem Argument, die Arbeitnehmerüberlassung sei eine Dienstleistung besonderer Art, die gerade darin bestehe, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates Arbeitnehmer zuzuführen. Deshalb sei auch die Anwendung der für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbarten Übergangsregelungen auf diese Dienstleistung geboten.5 Wegen der praktischen Erga-omnes-Wirkung von EuGH-Urteilen ist diese Entscheidung auch für Deutschland relevant (vgl. § 13 Rz. 114 ff.). In der Konsequenz bedeutet dies, dass Mitgliedstaaten die grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung einschränken können, solange sie Übergangsregelungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit anwenden.6 Dies gilt unabhängig von der Beschränkung der Dienstleistungserbringung durch entsandte Arbeitnehmer in bestimmten Branchen. Zugleich kann man der Entscheidung entnehmen, dass sich überlassene Arbeitnehmer selbst unmittelbar auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können, sofern diese nicht durch Übergangsvorschriften eingeschränkt ist.7
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In Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit setzt die Niederlassungsfreiheit eine „feste Einrichtung“ in dem anderen Mitgliedstaat sowie eine dauerhafte Beteiligung am Wirtschaftsleben dieses Staates voraus.8 Deshalb ist diese bei nur vorübergehenden Tätigkeiten auf dem Territorium des Aufnahmestaates regelmäßig nicht betroffen.
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Die Dienstleistungsfreiheit in Art. 56 AEUV gewährt ebenso wie andere Grundfreiheiten den daraus Berechtigten ein subjektives Recht, das in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten kann.9 Gewährt werden die (aktive) Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer und die passive Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungsempfänger.10 Inhaber der aktiven Dienstleistungsfreiheit sind neben den von Art. 56 AEUV berechtigten natürlichen Personen gem. Art. 62 i.V.m. 54 AEUV 1 EuGH v. 17.12.1981 – Rs. 279/80 – Webb, Slg. 1981, 3305 – Rz. 10; v. 10.2.2011 – Rs. C-307/09 – Vicoplus, Slg. 2011, I-453 – Rz. 30. 2 Ausf. Franzen EuZA 2011, 451. 3 EuGH v. 10.2.2011 – Rs. C-307/09 – Vicoplus, Slg. 2011, I-453. 4 EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417. 5 EuGH v. 10.2.2011 – Rs. C-307/09 – Vicoplus, Slg. 2011, I-453 – Rz. 30. 6 Huber/Brinkmann, AufenthG, § 13 Rz. 9. 7 EuGH v. 10.2.2011 – Rs. C-307/09 – Vicoplus, Slg. 2011, I-453 – Rz. 28 ff.; so auch Franzen, EuZA 2011, 451 (455). 8 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-221/89 – Factortame, Slg. 1991, I-3905 – Rz. 20; v. 17.6.1997 – Rs. C-70/95 – Sodemare, Slg. 1997, I-3395 – Rz. 24. 9 EuGH v. 17.12.1981 – Rs. 279/80 – Webb, Slg. 1981, 3305 – Rz. 13. 10 EuGH v. 31.1.1984 – Rs. 286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377; Calliess/Ruffert/Kluth, Art. 57 AEUV Rz. 5; Streinz/Müller-Graff Art. 56 AEUV Rz. 45.
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Dienstleistungsfreiheit
Rz. 14 § 5
auch Gesellschaften mit der in Art. 54 AEUV bezeichneten Unionsverknüpfung. Unter Umständen können Drittstaatsangehörige aus der Dienstleistungsfreiheit eines Dritten begünstigt sein.1 Das gilt etwa für Arbeitnehmer, die durch ein Unternehmen aus einem EU-Mitgliedstaat entsandt werden (vgl. Rz. 41 und 188). Diese Arbeitnehmer können aus der Dienstleistungsfreiheit des entsendenden Unternehmens ihre eigene „Annex-Freizügigkeit“ ableiten.2 Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Arbeitnehmer ordnungsgemäß und dauerhaft im Herkunftsstaat beschäftigt ist.3 Wobei das Erfordernis der dauerhaften Beschäftigung im Herkunftsland durch die Rechtsprechung des EuGH zunehmend relativiert wurde.4 Zentraler Adressat der Dienstleistungsfreiheit sind die Mitgliedstaaten. Ungerechtfertigte Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehres sowohl durch die Aufnahme- wie auch durch die Herkunftsstaaten sind nach Art. 56 ff. AEUV verboten. Auch die Organe der EU sind an die Dienstleistungsfreiheit gebunden.5 Allerdings gelten hier spezielle Grundsätze (vgl. Rz. 33). Entgegen dem Wortlaut und dem historischen Zweck der Dienstleistungsfreiheit sind auch Private an die Dienstleistungsfreiheit gebunden.6
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b) Beeinträchtigung Die Dienstleistungsfreiheit verbietet verschiedene Arten von Beeinträchtigungen. Verboten sind Diskriminierungen jeglicher Art. Das gilt zunächst für unmittelbare Diskriminierungen, die sich aus einer Schlechterbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder aus anderen ähnlich wirkenden Unterscheidungsmerkmalen ergeben.7 Typischerweise handelt es sich um Zulassungsmodalitäten, Ausübungsmodalitäten bzw. Umfeldregelungen.8
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Eine unmittelbare Diskriminierung sah der EuGH etwa in § 1 Abs. 4 AEntG a.F.9 In der Vorschrift war geregelt, dass alle von einem außerhalb Deutschlands ansässigen Arbeitgeber nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer als ein Betrieb gelten, obwohl für in Deutschland ansässige Arbeitgeber ein abweichender Betriebsbegriff galt. Im Ergebnis wurden daher ausländischen (Misch-)Betriebe schneller von den Sozialkassentarifverträgen des Baugewerbes erfasst. Die in Deutschland ansässigen Mischbetriebe wurden hingegen nur dann von den Sozialkassentarifverträgen des Baugewerbes erfasst, wenn die Arbeitszeit der in diesem Sektor beschäftigten Arbeitnehmer gegenüber der Arbeitszeit der in einem anderen Sektor beschäftigten Arbeitnehmer überwog.10 Da keiner der im Primärrecht vorgesehenen Rechtfertigungsgründe eingriff, musste die Regelung unangewendet bleiben. Sie wurde mittlerweile aufgehoben.
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Schwarze/Holoubeck, Art. 56, 57 AEUV Rz. 62. ErfK/Schlachter, § 1 AEntG Rz. 4; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 9 Rz. 6. EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-43/93 – Vander Elst, Slg. 1994, I-3803 = EuZW 1994, 600. EuGH v. 19.1.2006 – Rs. C-244/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-885 = NZA 2006, 199 ff.; ausf. Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 171 ff. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 131; Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 63. Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 63; kritisch: Canaris, in: Bauer/Czybulka u.a., Umwelt, Wirtschaft und Recht, S. 29 ff.; Däubler/Heuschmid, Arbeitskampfrecht, § 11 Rz. 94 ff. Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 71. Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 75. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001 I-7831 – Rz. 76 ff. Vgl. Koberski u.a., § 6 Rz. 4 ff.
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§5
Rz. 15
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Erfasst sind überdies auch mittelbare Diskriminierungen. Hierbei handelt es sich um Maßnahmen, die nicht an die Staatsangehörigkeit selbst, sondern an andere Merkmale anknüpfen, die aber typischerweise Angehörige aus anderen Mitgliedstaaten nicht erfüllen können.1
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Eine mittelbare Diskriminierung sah der EuGH etwa darin, dass ein inländischer Arbeitgeber den durch einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag festgesetzten Mindestlohn durch den Abschluss eines Firmentarifvertrags unterschreiten kann, während dies einem Arbeitgeber, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, nicht möglich ist (vgl. Rz. 158).2 Diese Problematik wurde zwischenzeitlich durch § 8 Abs. 2 AEntG behoben.3
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Darüber hinaus verbürgt die Dienstleistungsfreiheit in Art. 56 ff. AEUV ein Beschränkungsverbot.4 Danach sind Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit verboten, sofern sie geeignet sind, den zwischenstaatlichen Freiverkehr unmittelbar oder mittelbar, aktuell oder potentiell zu behindern.5 Dieses weite Verständnis der Grundfreiheiten durch den EuGH hat zu erheblichen Auswirkungen auf das Recht der Mitgliedstaaten geführt.6 Eine Beschränkung kann schon gegeben sein, wenn die Entsendung von Arbeitnehmern durch ein in der Union ansässiges Unternehmen im Aufnahmestaat von einer behördlichen Erlaubnis abhängig gemacht wird.7 Die Abgrenzung des Beschränkungsverbotes von der mittelbaren Diskriminierung ist oft nicht einfach, im Hinblick auf die Rechtfertigungsmöglichkeiten jedoch auch ohne Belang.8 c) Rechtfertigung
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Wie bereits angedeutet, können Beeinträchtigungen der Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich gerechtfertigt werden. Das gilt zunächst für unmittelbare Diskriminierungen. Zur Legitimation einer Maßnahme kann in diesem Kontext allerdings, soweit die Bereichsausnahme des Art. 62 i.V.m. Art. 51 AEUV (Ausübung öffentlicher Gewalt) nicht eingreift, lediglich auf den restriktiv ausgelegten9 Ordre-public-Vorbehalt des Art. 62 AEUV i.V.m. Art. 52 AEUV zurückgegriffen werden.10 Der Vorwurf der unmittelbaren Diskriminierung ist insbesondere dann ausgeräumt, wenn nicht explizit an die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird. Zum Teil geht der EuGH auch davon aus, dass eine Ungleichbehandlung von ausländischen und inländischen Dienstleistungserbringern bereits dann gerechtfertigt werden kann, wenn die Ungleichbehand-
1 Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 77. 2 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 – Portugaia Construcoes, Slg. 2002, I-787. 3 Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 107; Däubler/Lakies, TVG, Anhang 2 zu § 5, § 8 AEntG Rz. 12. 4 EuGH v. 3.12.1974 – Rs. 33/74 – van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 – Rz. 10; EuGH v. 24.3.1994 – Rs. C-275/92 – Schindler, Slg. 1994, I-1039 – Rz. 53; Däubler/Lakies TVG, Anhang 2 zu § 5 TVG Rz. 53. 5 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 60 m.w.N. aus der Rspr.; Streinz/MüllerGraff, Art. 56 AEUV Rz. 85 ff. 6 Kritisch zur extensiven EuGH-Rechtsprechung: Däubler/Heuschmid, Arbeitskampfrecht, § 11 Rz. 67 ff. und 136. 7 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 60 m.w.N. aus der Rspr. 8 Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 84. 9 Schwarze/Holoubeck, EU-Kommentar, Art. 62 AEUV Rz. 1 ff. 10 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095 – Rz. 86; ErfK/Schlachter, § 1 AEntG Rz. 9; Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 99.
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Dienstleistungsfreiheit
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lung auf objektiven Unterschieden beruht.1 Sofern derartige Unterschiede vorliegen, muss eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen werden.2 Die Frage der unmittelbaren Diskriminierung spielte im Verhältnis zum deutschen AEntG in der Vergangenheit bereits eine Rolle. So sah die EU-Kommission in der Vorschrift des § 3 Abs. 2 AEntG a.F., nach der ausländische Leiharbeitsunternehmen den zuständigen Behörden nicht nur die Überlassung eines Arbeitnehmers an einen Entleiher, sondern auch den Wechsel eines Arbeitnehmers von einem Einsatzort zum anderen melden sollten, während inländischen Leiharbeitsunternehmen dieser Verpflichtung nicht unterlagen, eine unzulässige Diskriminierung der EU-ausländischen Leiharbeitsunternehmen.3 Eine Rechtfertigung nach Art. 46 Abs. 1 EG (heute: Art. 52 Abs. 1 AEUV) schloss der EuGH aus, so dass ein Verstoß gegen Art. 49 EG (heute: Art. 56 AEUV) zu bejahen war. Im Rahmen des ersten Änderungsgesetztes zum AEntG wurde die Meldepflicht auf den Entleiher übertragen. An der Unionsrechtskonformität der Regelungen bestehen heute keine Zweifel mehr.4
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Mittelbare Diskriminierungen und Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit können großzügiger gerechtfertigt werden.5 Die Rechtfertigung erfolgt unter Rückgriff auf die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses.6 Beeinträchtigungen sind allerdings nur zulässig, sofern sie geeignet und erforderlich sind. Auf eine eigenständige Prüfung der Angemessenheit verzichtet der EuGH in der Regel und überlässt die abschließende Beurteilung meist den Gerichten der Mitgliedstaaten.7
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Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung bislang eine Reihe von Interessen als zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls anerkannt.8 Ein abschließender Katalog derartiger Allgemeininteressen besteht allerdings nicht. Ein zwingender Grund des Allgemeininteresses, dem eine Beschränkung der Dienstleitungsfreiheit grundsätzlich dienen kann, ist der Arbeitnehmerschutz.9 Zulässig nach dem Unionsrecht ist es deshalb insbesondere – wie in der Entsenderichtlinie vorgesehen – die nationalen Mindestlohnregelungen des Aufnahmemitgliedstaates auf die entsandten Arbeitnehmer zu erstrecken (vgl. Rz. 104 ff.).10 Nicht ausreichend für eine Rechtfertigung sind hingegen Ziele rein wirtschaftlicher Art, wie der Schutz inländischer Unternehmen.11
21
1 EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 – Kommission/Belgien, EuZW 2013, 234 – Rz. 48; v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 63, 64 und 73. 2 EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 – Kommission/Belgien, EuZW 2013, 234 – Rz. 49. 3 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095. 4 Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 113; Däubler/Lakies, TVG Anhang 2 zu § 5, § 3 AEntG Rz. 5. 5 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 99. 6 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-76/90 Säger – Slg. 1991, I-4221 – Rz. 15. 7 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 114. 8 Ausf. Schwarze/Holoubeck, EU-Kommentar, Art. 56, 57 AEUV – Rz. 112 ff. 9 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001 I-7831 – Rz. 39 ff.; v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999 I-8453 – Rz. 61; ErfK/Schlachter, § 1 AEntG Rz. 7; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 64 m.w.N. 10 EuGH v. 3.2.1982 – Rs. 62/81 – Seco, Slg. 1982, 223 – Rz. 14; v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98 – Mazzeloni, Slg. 2001, I-2189 Rz. 28 f.; v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 – Portugaia Construcoes, Slg. 2002, I-787 – Rz. 21. 11 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 64 m.w.N.
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Rz. 22
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
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Diese Problematik spielte in verschiedenen die Bundesrepublik betreffenden Verfahren eine Rolle. In dem Verfahren Finalarte war insoweit insbesondere thematisiert worden, dass die Gesetzbegründung des AEntG u.a. auf den Schutz der inländischen Bauwirtschaft hingewiesen hat. Der EuGH reagierte gelassen. Die Absicht des Gesetzgebers stelle nur einen Anhaltspunkt für die Zielsetzung des Gesetzes dar, sei aber nicht ausschlaggebend. Entscheidend sei vielmehr, ob die in Rede stehende Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer fördere. Dies sei dann der Fall, wenn die entsandten Arbeitnehmer in ihrem Heimatland keinen vergleichbaren Schutz genießen und ihnen damit durch die zu überprüfenden Bestimmungen des Aufnahmestaates ein tatsächlicher Vorteil verschafft wird, der deutlich zu ihrem sozialen Schutz beiträgt.1 Das streitgegenständliche deutsche Urlaubskassenverfahren lasse solche Vorteile erkennen.2 Nicht zu beanstanden sei in diesem Zusammenhang, dass die nationale Regelung einen Urlaubsanspruch vorsieht, der über den durch die Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG harmonisierten Anspruch hinausging, weil es sich hierbei lediglich um eine Mindestharmonisierung handle.3 Letztendlich sei es allerdings Sache des vorlegenden Gerichts, die Vorteilhaftigkeit zu überprüfen. Diesen Begründungsstrang griff der EuGH erneut in der Entscheidung Portugaia Construcoes auf.4 Seit dieser Entscheidung kann daher von einer gefestigten Rechtsprechung im Bereich der Entsendebestimmungen ausgegangen werden.5
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In der neueren Rechtsprechung scheint der Gerichtshof etwas großzügiger zu werden. So hat er etwa in der Entscheidung Wolff & Müller6 etwa neben dem Schutz der entsandten Arbeitnehmer auch den Schutz eines fairen Wettbewerbs als zwingenden Grund des Allgemeininteresses anerkannt.7 Neuerdings wurde auch der Schutz der Arbeitnehmer des Aufnahmemitgliedstaates gegen etwaiges Sozialdumping und die Bekämpfung der Schwarzarbeit anerkannt.8 Vor dem Hintergrund des Art. 151 AEUV eine nur konsequente Entwicklung. Klargestellt ist zudem, dass es keinen Widerspruch zwischen dem Ziel des Schutzes eines fairen Wettbewerbs auf der einen Seite und dem Arbeitnehmerschutz auf der anderen Seite gibt.9 Nach nicht unumstrittener Rechtsprechung des EuGH10 kann schließlich auch der Schutz von Grundrechten ein legitimes Ziel darstellen.11
24
Im Rahmen der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses prüft der EuGH bisweilen auch die Einhaltung des Doppelbelastungsverbotes.12 Danach dürfen die relevanten Interessen nicht schon durch Vorschriften geschützt sein, denen der Dienstleis1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 42. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 43. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 57. EuGH v. 24.1.2002 -Rs. C-164/99 – Portugaia Construcoes, Slg. 2002, I-787 – Rz. 23 ff. Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 107. EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 – Rz. 41 = NZA 2004, 1211. ErfK/Schlachter, AEntG, § 1 Rz. 7. EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 Rz. 103 und 113; v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 – Kommission/Belgien, EuZW 2013, 234 – Rz. 45; v. 15.6.2006 – Rs. C-255/04 – Kommission/Frankreich, Slg. 2006, I-5251 – Rz. 46, 52. EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 – Rz. 42 = NZA 2004, 1211. EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767. Vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 67 f. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999 I-8453 – Rz. 34 und 35; v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 – Kommission/Belgien, EuZW 2013, 234 – Rz. 44; Schlachter/Ohler/Schlachter, EUDL-RL, Art. 19 Rz. 34.
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Heuschmid/Schierle
Dienstleistungsfreiheit
Rz. 27 § 5
tungserbringer im Herkunftsstaat unterliegt. Das gilt etwa für bereits vorgenommene Kontrollen und Überprüfungen sowie Wiederholungen von bereits im Herkunftsstaat erfüllten gleichwertigen Voraussetzungen.1 Kein Verstoß gegen das Doppelbelastungsverbot ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn das Schutzniveau des Herkunftsstaates hinter dem des Aufnahmestaates zurück bleibt.2 Im Ergebnis läuft dies auf einen Günstigkeitsvergleich hinaus.3 Geht man von der deutschen Dogmatik der Verhältnismäßigkeitsprüfung aus, ist das Doppelbelastungsverbot im Rahmen der Erforderlichkeit zu prüfen.4 In einem Vertragsverletzungsverfahren machte die EU-Kommission etwa geltend, dass das deutsche Urlaubskassenverfahren eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit darstelle, weil ausländische Unternehmen selbst dann am Verfahren teilnehmen müssten, wenn ihre Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften des Niederlassungsstaates einen im Wesentlichen vergleichbaren Schutz genießen würden.5 Im Ergebnis wies der EuGH die Vorwürfe der Kommission zurück und segnete damit die deutsche Rechtslage samt der dazu ergangenen Rechtsprechung ab.6 Diesem Problem ist der Gesetzgeber mit § 5 Nr. 3 AEntG (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 AEntG a.F.) begegnet. Hierdurch wird sichergestellt, dass ausländische Arbeitgeber nicht gleichzeitig zur Zahlung von Urlaubskassenbeiträgen an Einrichtungen im Staat ihres Sitzes herangezogen werden. Auf dieser Basis wurden verschiedene Freistellungsabkommen mit ausländischen Urlaubskassen abgeschlossen (vgl. Rz. 116 f.).7
25
Im Rahmen der Geeignetheit kommt es darauf an, dass eine Maßnahme das geltend gemachte Allgemeininteresse, tatsächlich fördert. Hierbei verbleibt den Mitgliedstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum.8 In der Praxis dürfte eine Rechtfertigung nicht nur wegen des weiten Beurteilungsspielraums, sondern auch wegen der großzügigen Verfahrensweise des EuGH selten scheitern.
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In der Praxis relevanter war die Frage der Erforderlichkeit. Diese ist zu bejahen, wenn die in Rede stehende Maßnahme für die Belastung des Dienstleistungsverkehrs das mildeste Mittel darstellt (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).9 Soweit die Beschränkung durch das Recht des Aufnahmemitgliedstaats herrührt, sind die Belastungen, die dem Arbeitgeber dadurch in Form von Kosten und Verwaltungsaufwand entstehen, abzuwägen gegen den zusätzlichen Schutz, der den Arbeitnehmern zugutekommt.10 Gerechtfertigt sind Kontrollen grundsätzlich, wenn dies zur Gewährleistung des Arbeitnehmerschutzes erforderlich ist und die zur Erreichung dieses Zwecks erforderlichen Kontrollen nicht schon auf der Grundlage von Unterlagen vorgenommen werden können, die nach den Vorschriften des Herkunftsstaates zu führen sind (ausführ-
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1 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 100. 2 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001 I-7831. 3 Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 103 f. 4 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 100. 5 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095. 6 Ausf. Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 115 f. 7 Koberski u.a., § 5 Rz. 77 ff. 8 Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 110 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 9 Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 111. 10 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001 I-7831 – Rz. 50.
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§5
Rz. 28
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
lich zu nationalen Kontrollmaßnahmen vgl. Rz. 181 ff.).1 Grundsätzlich wendet der EuGH bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen großzügigeren Maßstab an.2 28
Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik hat der EuGH im Hinblick auf § 2 AEntG a.F. (heute § 18 AEntG) festgestellt, dass die Verpflichtung eines ausländischen Arbeitgebers, bestimmte Unterlagen (vgl. Rz. 185) für die Dauer der Beschäftigung im Inland in deutscher Sprache bereitzuhalten, nicht gegen das Unionsrecht verstößt.3 Denn die Übersetzung der Unterlagen in die Sprache des Landes, in dem die Dienstleistung erbracht werde, ermöglicht wirksame Kontrollen, die dem Schutz der entsandten Arbeitnehmer dienen.4 2. Verhältnis zu anderen Normen des Primärrechts
29
Neben dem Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten stellt sich auch die Frage, wie sich die Dienstleistungsfreiheit zu den allgemeinen Freizügigkeitsregelungen im AEUV verhält. Das gilt in erster Linie für Art. 18 AEUV. In diesem Verhältnis ist Art. 56 AEUV hinsichtlich des Verbotes offener Schlechterstellungen lex specialis, da Art. 18 AEUV nur „unbeschadet besonderer Bestimmungen“ der Verträge gilt.5
30
Ähnliches gilt im Verhältnis zu der in Art. 21 AEUV spezifisch gewährleisteten unionsrechtlichen Freizügigkeit. Diese findet nur insoweit Anwendung, als eine Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich von Art. 56 AEUV fällt. Bei der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 56 AEUV erübrigt sich daher eine gesonderte Prüfung des Art. 21 AEUV.6 3. Verhältnis der Dienstleistungsfreiheit zum Sekundärrecht
31
Eine wichtige Frage für die Auslegung der Entsenderichtlinie stellt deren Verhältnis zur Dienstleistungsfreiheit dar. Dahinter steht die Frage, ob Maßnahmen der Mitgliedstaaten lediglich anhand der Entsenderichtlinie oder zugleich auch anhand der Grundfreiheiten überprüft werden müssen. Besonders virulent wird diese Frage, wenn das Sekundärrecht zu einer mitgliedstaatlichen Maßnahme verpflichtet, die die Dienstleistungsfreiheit ausgestaltet bzw. je nach Sichtweise einschränkt, wie dies bei der Entsenderichtlinie der Fall ist.
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Dogmatisch überzeugend wäre es auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit anzuwenden.7 Dort geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass alle Maßnahmen in diesem Bereich ausschließlich anhand der Richtlinie zu beurteilen sind, wenn es sich um eine abschließende Richtlinienregelung handelt.8 Die sachlich einschlägige Richtlinienregelung genießt insoweit als spezieller Rechtssatz Vorrang und verdrängt 1 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/89 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831; v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999 I-8453. 2 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff, Art. 57 AEUV Rz. 148. 3 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095 – Rz. 63 ff.; Koberski u.a, § 18 Rz. 2 ff.; Thüsing/Reufels, § 18 AEntG Rz. 8; Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 111 f. 4 EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095 – Rz. 71. 5 Streinz/Müller-Graf, Art. 56 AEUV Rz. 76. 6 Streinz/Müller-Graf, Art. 56 AEUV Rz. 134. 7 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 176 f.; ähnlich: Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 3 Rz. 55. 8 EuGH v. 8.11.1979 – Rs. 251/78 – Denkavit, Slg. 1979, 3369 – Rz. 14; v. 11.7.1996 – Rs. C-427/93 – Bristol-Myers Squibb, Slg. 1996, I-3457 – Rz. 25 f.; Preis/Temming, Die Urlaubs-
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Dienstleistungsfreiheit
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damit die potentiell eingreifende Grundfreiheit.1 Handelt es sich dagegen lediglich um einen Mindestregelung, sind zusätzliche mitgliedstaatliche Vorschriften möglich, die allerdings im Einklang mit dem Primärrecht stehen müssen.2 Bei der primärrechtlichen Prüfung sind dann die sekundärrechtlichen Wertungen zu berücksichtigen. Je weiter dort der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten reicht, desto geringer ist die primärrechtliche Kontrolldichte. Ob es sich im Einzelfall um eine harmonisierende Regelung oder lediglich um einen Mindeststandard handelt, ist für die betroffene Unionsregelung jeweils im Einzelfall aus deren Formulierung, Zwecksetzung und Regelungskontext zu beurteilen.3 Im Bereich der Entsenderichtlinie finden sich sowohl harmonisierende Regelungen als auch Mindestregelungen.4 Vor diesem Hintergrund ist es deshalb nicht weiter verwunderlich, dass der EuGH die Entsenderichtlinie bisweilen „im Lichte“ der Dienstleistungsfreiheit auslegt.5 Jedoch wurde der soeben referierte Ansatz des EuGH aus der Warenverkehrsfreiheit im Bereich der Dienstleistungsfreiheit bislang nicht konsequent umgesetzt. Insbesondere bei den unbestimmten Rechtsbegriffen der Entsenderichtlinie dürften aber erhebliche Umsetzungsspielräume der Mitgliedstaaten bestehen.6 Problematisch erscheint insbesondere die Auslegung der Entsenderichtlinie in den Urteilen Laval und Rüffert, wonach die Erstreckung von über dem Mindestniveau liegender Arbeitsbedingungen nicht möglich sei.7 Hier dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, da beide Entscheidungen vor dem Hintergrund der spezifischen Fallkonstellationen zu sehen sind.8 Voraussetzung einer Berücksichtigung der Entsenderichtlinie bei der Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen ist selbstredend, dass diese ihrerseits mit der Dienstleistungsfreiheit im Einklang steht. Vor dem Hintergrund, dass die Grundfreiheiten auch die Union verpflichten, ist die EU bei ihrer Rechtsetzung an die Grundfreiheiten gebunden.9 Gleichwohl ist man sich in der Literatur weitgehend einig, dass die Prüfung von Sekundärrecht durch den EuGH anhand von anderen Kriterien zu erfolgen habe, als die Prüfung von Maßnahmen, die in den Verantwortungsbereich des autonomem mitgliedstaatlichen Gesetzgebers fallen und freiheitsbeschränkend wirken.10 Der Grund hierfür liegt darin, dass bei der Überprüfung von Sekundärrecht der komplexe Entstehungsprozess von abgeleitetem Unionsrecht einen zurückhaltenden Kontrollmaßstab abnötigt.11 Zudem ist auch die Einhaltung des Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts (vgl. § 1 Rz. 82) zwischen Legislative und Judikative auf eu-
1 2 3 4 5 6 7
8 9 10 11
und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 177; Glaser/Kahl, ZHR 2013, 643 (648). Glaser/Kahl, ZHR 2013, 643 (648). Glaser/Kahl, ZHR 2013, 643 (649). Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 101. Glaser/Kahl, ZHR 2013, 643 (650). EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989; Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV Rz. 63; vgl. dazu Heuschmid, Mitentscheidung durch Arbeitnehmer – ein europäisches Grundrecht?, S. 104. Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 177, mit Verwies auf EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 = NZA 2004, 1211. EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989; kritisch: Zwanziger, DB 2008, 294; Kocher, AuR 2008, 13; Wißmann, AuR 2009, 149; Nagel, AuR 2009, 155; Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 216 ff. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 72. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 131; Streinz/Müller-Graf, Art. 56 AEUV Rz. 63. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 132; Rödl, EuZW 2011, 292 (295). Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 133.
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Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
ropäischer Ebene zu beachten.1 Im Ergebnis verfügen die Gesetzgebungsorgane der Union deshalb bei ihrer Rechtsetzung über einen weiteren Ermessenspielraum als die Mitgliedstaaten.2 Anders gesagt, die Prüfungsintensität ist beim Sekundärrecht geringer als beim autonomen mitgliedstaatlichen Recht. So lässt sich auch erklären, dass der EuGH bisher nur äußerst selten sekundärrechtliche Maßnahmen an den Grundfreiheiten hat scheitern lassen.3 Das gilt auch für die Entsenderichtlinie, die der EuGH in seiner Rechtsprechung in der Vergangenheit implizit abgesegnet hat.4 4. Sozialversicherungsrechtliche Implikationen der Entsendung 34
Weder die Dienstleistungsfreiheit noch die Entsenderichtlinie enthalten Regelungen hinsichtlich der Sozialversicherungspflicht der entsandten Arbeitnehmer. Rechtsgrundlage für diese Frage ist die Verordnung (EG) Nr. 883/045 (SozialversicherungsVO), die am 1.5.2010 in Kraft getreten ist und die Verordnung Nr. 1408/71 (EWG) weitgehend abgelöst hat.6 Hierbei handelt es sich um die zentrale Rechtsquelle des koordinierenden EU-Sozialrechts. Dadurch soll das internationale Sozialrecht der Mitgliedstaaten dahingehend vereinheitlicht werden, dass auf die von der Verordnung erfassten Personen stets nur das Sozialversicherungsrecht eines Mitgliedstaates anwendbar ist.7 Zugleich soll sichergestellt werden, dass der wandernde Arbeitnehmer keine Nachteile in seiner sozialen Sicherung erleidet.8
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Der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung ist weit gehalten und erfasst Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind (Art. 2 Sozialversicherungs-VO). Darüber hinaus sind auch Staatenlose und Flüchtlinge einbezogen sowie Familienangehörige und Hinterbliebene, unabhängig von der Staatsangehörigkeit (Art. 2 Abs. 2 Sozialversicherungs-VO).
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In sachlicher Hinsicht gilt die Verordnung gem. Art. 3 Sozialversicherungs-VO für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der Sozialversicherung abdecken: Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen und Familienleistungen.
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Nach der Grundregel in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a Sozialversicherungs-VO gelten die Regelungen des Staates, in dem die Arbeitnehmer ihre Beschäftigung ausüben (Beschäftigungslandprinzip, lex loci laboris). Von dieser Grundregel enthält Art. 12 Abs. 1 Sozialversicherungs-VO eine Ausnahme für den Fall der Entsendung von Arbeitnehmern. Danach gelten für Entsendungen für die Dauer von bis zu 24 Monaten weiterhin die sozialrechtlichen Vorschriften des Herkunftsstaates. Hierdurch werden Entsendungen vereinfacht. Denn ohne die Regelung müsste das betroffene Unternehmen seine Mitarbeiter bei einer nur zeitlich begrenzten Tätigkeit im Sozialversiche1 Dies gelingt nicht immer: Heuschmid, Mitentscheidung durch Arbeitnehmer – ein europäisches Grundrecht?, S. 104. 2 EuGH, 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff& Müller, Slg. 2004, I-9553 = NZA 2004, 1211; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Art. 45 AEUV Rz. 135; Rödl, EuZW 2011, 292 (295); Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 75. 3 Heuschmid, Mitentscheidung durch Arbeitnehmer – ein europäisches Grundrecht?, S. 104. 4 Bayreuther, NZA 2008, 626 f.; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 70. 5 VO (EG) Nr. 883/2004 (ABl. Nr. L 166 v. 30.4.2004, S. 1). 6 Die Verordnung Nr. 1408/71 (EWG) gilt heute nur noch im Hinblick auf Dänemark und das Vereinigte Königreich. Eichenhofer, ZESAR 2013, 439. 7 Schlegel, AuR 2011, 384 (385); Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichkasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 68. 8 Koberski u.a., § 2 Rz. 15.
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Dienstleistungsfreiheit
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rungssystem eines anderen Mitgliedstaates anmelden, was einen unverhältnismäßigen Mehraufwand gegenüber der Fortgeltung der Vorschriften des Herkunftsstaates bedeuten würde.1 Im Regelfall bleiben entsandte Arbeitnehmer daher den sozialrechtlichen Systemen ihrer Herkunftsstaaten unterworfen. Die Sozialversicherungsbeiträge sind deshalb an den zuständigen Träger im Herkunftsstaat des entsendenden Unternehmens zu leisten. Das Unternehmen muss im Aufnahmestaat eine Bescheinigung für die Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers vorlegen (sog. A 1 – Bescheinigung, früher E-101).2 Durch die Ausstellung dieser Bescheinigung erklärt der Heimatstaat mit Wirkung für den Sozialversicherungsträger des Aufnahmemitgliedstaates verbindlich, dass die eigenen Sozialversicherungssysteme auch während der Entsendung maßgeblich bleiben.3 Bei Vorlage dieser Bescheinigung wird das Entsendeunternehmen also für seine entsandten Arbeitnehmer nicht beitragspflichtig zu den Sozialversicherungssystemen des Aufnahmemitgliedstaates.4 Diese Fortgeltung der Sozialversicherungspflicht im Herkunftsstaat kann sich ökonomisch als Lohnnebenkostenvorteil auswirken, wenn die Sozialabgaben im Herkunftsstaat – was nicht selten der Fall sein dürfte – niedriger sind als im Aufnahmestaat.5 Soweit der Dienstleistungserbringer seine gesamte Tätigkeit auf das Gebiet des Aufnahmestaates ausrichtet, ohne im Herkunftsstaat eine nennenswerte Geschäftstätigkeit auszuüben, findet Art. 12 Sozialversicherungs-VO keine Anwendung. Vielmehr ist in diesem Fall das Sozialversicherungsrecht des Aufnahmestaates anzuwenden.6 Abgesehen davon finden die Vorschriften des Aufnahmestaates Anwendung, wenn die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 1 Sozialversicherungs-VO nicht erfüllt sind. Das ist der Fall, wenn der 24-Monats-Zeitraum überschritten wird oder wenn ein Arbeitnehmer einen anderen Arbeitnehmer ablöst (Verbot der Kettenentsendung7). Letzteres soll verhindern, dass Entsendeunternehmen durch wiederholte Entsendung verschiedener Arbeitnehmer auf dieselbe Position dauerhafte Aufträge erfüllen, ohne dem Sozialversicherungsrecht des Zielstaates zu unterfallen.8 5. Entsendung und Arbeitserlaubnisrecht Im Folgenden wird dargelegt, welche Anforderungen des Arbeitserlaubnisrechts bei Entsendungen nach Deutschland zu beachten sind:
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Für (Alt-)EU-Bürger sind aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit Beschränkungen des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt unzulässig. Auf Grund der Dienstleistungsfreiheit können Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten Arbeitnehmer ohne arbeitsgenehmigungsrechtliche Einschränkungen zur Verrichtung von Werkverträgen vorübergehend ins Inland entsenden.
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Anders sieht die Situation im Hinblick auf die Entsendung von Arbeitnehmern aus Neumitgliedstaaten aus, die noch den Übergangsregelungen unterliegen (seit 1.1.
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1 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 70. 2 Koberski u.a., § 2 Rz. 17. 3 EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-202/97 – Fritzwilliam, Slg. 2000, I-883; Schlachter/Ohler/Schlachter, EUDL-RL, Art. 19 Rz. 6. 4 Schlachter/Ohler/Schlachter, EUDL-RL, Art. 19 Rz. 6. 5 Schlegel, AuR 2011, 384; Däubler/Lakies, TVG, Anhang 2 zu § 5 TVG, § 1 AEntG Rz. 22; Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 70. 6 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-404/98 – Plum, Slg. 2000, I-9379. 7 Eichenhofer, ZESAR 2013, 439. 8 Koberski u.a., § 2 Rz. 18; Eichenhofer, ZESAR 2013, 439.
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Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
2014 nur noch Kroatien, vgl. Rz. 8). Zwar benötigen die Staatsangehörigen der Neumitgliedstaaten aufgrund der Unionsbürgerschaft für die Einreise in die Bundesrepublik kein Visum und für den Aufenthalt auch keinen Aufenthaltstitel i.S.d. FreizügG/EU bzw. AufenthG.1 Allerdings wird ihnen gegenüber in den Branchen, in denen die Dienstleistungsfreiheit beschränkt ist (vgl. Rz. 7), das deutsche Arbeitsgenehmigungsrecht (für Drittstaatenangehörige) weiterhin aufrechterhalten. Grundsätzlich dürfen Staatsangehörige der neuen Mitgliedstaaten nach § 13 FreizügG/EU i.V.m. § 284 Abs. 1 SGB III eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn eine Arbeitsgenehmigung-EU2 vorliegt.3 Diese ist nach § 284 Abs. 4 SGB III grundsätzlich zu versagen, soweit es sich um eine Beschäftigung handelt, die keine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt. Ausnahmen in Form einer Arbeitserlaubnis-EU4 sind nur aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung oder von Werkvertragsübereinkommen5 zulässig (§ 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 Abs. 2 bis 4 und 6 AufenthG6), wobei in der Entsendepraxis die Werkvertragsübereinkommen7 die größte Relevanz haben.8 Nach den Werkvertragsübereinkommen, die eine Ausnahme von dem grundsätzlich seit 1973 geltenden Anwerbestopp für Drittstaatenangehörige darstellen9, ist der Einsatz der ausländischen Arbeitnehmer durch Kontingente zahlenmäßig begrenzt. Seit dem Beitritt haben die Abkommen im Kontext der Beitrittsstaaten nur noch Gültigkeit in den durch die Übergangsregelungen beschränkten Branchen. Die bislang bestehenden Kontingente wurden entsprechend angepasst.10 Das Verfahren zur Erteilung der Arbeitserlaubnis-EU im Zusammenhang mit den Werkvertragsübereinkommen ist zweigeteilt. Zum einen wird dem Arbeitgeber auf der Basis der bilateralen Werkvertragsübereinkommen von der Bundesagentur für Arbeit ein Zusicherungsbescheid ausgestellt. Der Zusicherungsbescheid ist Voraussetzung dafür, dass der Entsendeunternehmer Arbeitnehmer im Rahmen von Werkverträgen ins Inland senden darf. Zum anderen ist für jeden Arbeitnehmer eine besondere Arbeitserlaubnis-EU auf der Basis von § 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 Abs. 2 bis 4 und 6 AufenthG notwendig. Außerhalb der eingeschränkten Branchen ist eine Arbeitserlaubnis-EU nicht notwendig. Soweit die Übergangsvorschriften weggefallen sind, ist insbesondere § 39 Abs. 2 AufenthG nicht mehr anwendbar.11 41
Auf der Basis von Werkvertragsübereinkommen entsandte Arbeitnehmer aus Drittstaaten benötigen weiterhin einen Aufenthaltstitel (§§ 4, 18 AufenthG). Da bei einer Zulassung ausländischer Arbeitnehmer zu einer Beschäftigung die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik zu berücksichtigen sind, kann ein Aufenthaltstitel, der zur Ausübung einer Beschäftigung berechtigt, gem. 1 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 145. 2 Zur Begrifflichkeit: Schaub/Koch, § 27 Rz. 9. 3 Huber/Brinkmann § 13, AufenthG Rz. 9; Schaub/Koch, § 27 Rz. 9. 4 Die Erteilung einer Arbeitsberechtigung-EU an entsandte Arbeitnehmer ist aufgrund von § 12a Abs. 1 Satz 2 ArGV ausgeschlossen. 5 Ausführlich zu den Werkvertragsübereinkommen: Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 133 ff. 6 Huber/Brinkmann, § 13 AufenthG Rz. 9. 7 Vgl. die wichtigsten Werkvertragsübereinkommen: Bulgarien, BGBl. II 1991, 863 (geändert durch BGBl. II 1995, 90); Rumänien, BGBl. II 1991, 666 (geändert durch BGBl. II 1991, 822); Kroatien, BGBl. II 2003, 8. 8 Schneider-Sievers, RdA 2012, 277; Fuchs, ZESAR 2007, 97 (101). 9 Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 126 f. 10 Huber/Brinkmann, AufenthG § 13 Rz. 25. 11 Schneider-Sievers, RdA 2012, 277.
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Dienstleistungsfreiheit
Rz. 44 § 5
§ 18 Abs. 2 AufenthG nur nach Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erteilt werden, es sei denn, es greifen Sondervorschriften ein (z.B. aufgrund einer RechtsVO nach § 42 AufenthG). Die Entsendesituation führt in diesem Kontext zu keiner grundsätzlich anderen Bewertung.1 Die Erteilung der Arbeitserlaubnis-EU richtet sich auch hier nach § 284 SGB III i.V.m. § 39 AufenthG. Im Fall der Entsendung von drittstaatenangehörigen Arbeitnehmern durch Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat benötigen diese ein sog. „Vander Elst“-Visum (vgl. Rz. 11 und 188). Das Visum kann nach § 21 Beschäftigungsverordnung (BeschV) ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erteilt werden.2 Für türkische Staatsangehörige gelten Sonderregelungen.3 Auch die grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung, die i.S.d. Rechtsprechung des EuGH eine Dienstleistung darstellt, ist in Deutschland im Zusammenhang mit den Übergangsregelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt (vgl. Rz. 9). Für Staatsangehörige, die unter das Regime der Übergangsregelungen fallen, gilt die Einschränkung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV) fort. Sie können keine Arbeitserlaubnis erhalten, um als Leiharbeitnehmer tätig zu werden.4 Zulässig ist hingegen ein vorgeschalteter Verleih im Herkunftsstaat. Soweit keine Übergangsregelungen bestehen, kann eine grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung durchgeführt werden. Allerdings bedarf der ausländische Verleiher einer inländischen Verleiherlaubnis nach § 1 AÜG. Diese Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit hatte der EuGH vor längerer Zeit in der Entscheidung Webb zugelassen.5
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Eine Sonderregelung gilt für die Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe. Nach § 1b Satz 1 AÜG ist der Verleih von Arbeitnehmern dort weitgehend verboten. Diese Vorschrift gilt auch für den grenzüberschreitenden Verleih von baugewerblichen Arbeitnehmern nach Deutschland. Eine Ausnahmereglung besteht in § 1b Satz 3 AÜG. Demzufolge kann auch nach dem Wegfall der Übergangsvorschriften eine grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung ins Baugewerbe grundsätzlich nicht stattfinden.
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6. Dienstleistungsrichtlinie Eine sekundärrechtliche Konkretisierung der Dienstleistungsfreiheit findet sich in der Dienstleitungsrichtlinie 2006/123/EG (DL-RL).6 Der politische Prozess, der zur Dienstleitungsrichtlinie führte, war sehr umstritten. Zunächst war geplant, das Herkunftslandsprinzip in der Richtlinie festzuschreiben, also den Grundsatz, dass der Dienstleitungserbringer in anderen Mitgliedstaaten nach den Vorschriften seines Herkunftsstaates tätig und von den dortigen Behörden beaufsichtigt wird (vgl. Rz. 72).7 Wegen der mangelnden Praktikabilität und massiven Kontroversen wurde dieser Vorschlag niemals verabschiedet. Der Widerstand gegen die Dienstleistungsrichtlinie basierte insbesondere auch auf arbeitsmarktpolitischen Überlegungen. Insoweit wurde 1 Schlachter/Ohler/Schlachter, EUDL-RL, Art. 19 Rz. 37. 2 Ausführlich zu den aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland: Klaus, ZAR 2014, 148. 3 Schaub/Koch, § 27 Rz. 26. 4 Huber/Brinkmann, AufenthG § 13 Rz. 13. 5 EuGH v. 17.12.1981 – Rs. 279/80 – Webb, Slg. 1981, 3305 (vierter Tenor). 6 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. Nr. L 376 v. 27.12.2006, S. 36). 7 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 146 f.
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§5
Rz. 45
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
befürchtet, das Herkunftslandsprinzip könne einem Lohndumping Vorschub leisten, sei es im Rahmen der Dienstleistungserbringung durch entsandte Arbeitnehmer als auch im Zuge einer Umgehung des Arbeitsrechts durch scheinselbständige Dienstleistungserbringer.1 Man einigte sich stattdessen auf die heute gültige, deutlich abgeschwächte Version der Richtlinie. 45
In der nun vorliegenden Version der Dienstleitungsrichtlinie sind zunächst verfahrensrechtliche Vorschriften vorgesehen, die auf eine Vereinfachung von Verwaltungsvorschriften für grenzüberschreitende Dienstleistungen abzielen (Art. 5–8 DL-RL). Zudem enthält die Richtlinie auch Regelungen über die Niederlassungsfreiheit (Art. 9–15 DL-RL). Schließlich enthält die Richtlinie Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit selbst (Art. 16 – 21 DL-RL). Im Gegensatz zum Entwurf ist die Überwachungszuständigkeit nicht mehr zwischen Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaat verteilt, sondern sinnvollerweise allein dem Aufnahmemitgliedstaat anvertraut (Art. 31 Abs. 1 DL-RL).2
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Die Dienstleistungsrichtlinie enthält verschiedene Regelungen in Bezug auf das Arbeitsrecht und die Frage der Entsendung. Nach Art. 1 Abs. 6 DL-RL berührt die Richtlinie generell nicht das Arbeitsrecht. Weiterhin ordnet Art. 3 Abs. 1 Buchst. a DL-RL den Vorrang der Regelungen der Entsenderichtlinie an.3 Zudem ist die grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung vom Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen. Schließlich bestimmt Art. 17 Nr. 2 DL-RL, dass Art. 16 DL-RL als Zentralregelung zur Dienstleistungsfreiheit auf Angelegenheiten der Arbeitnehmerentsendung keine Anwendung findet.
II. Entsendung und Arbeitskollisionsrecht 47
Welches Recht auf einen Arbeitsvertrag in einer grenzüberschreitenden Konstellation angewandt wird, ist eine Frage des internationalen Arbeitsrechts bzw. des Arbeitskollisionsrechts als Teil des Internationalen Privatrechts. Gerade bei Entsendungen von Arbeitnehmern stellt sich diese Frage in besonderem Maße. Bis vor kurzem wurde das Arbeitskollisionsrecht durch das EGBGB kodifiziert, das wiederum auf dem Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (EVÜ)4 beruhte. Seit dem 17.12.2009 sind diese Bestimmungen durch die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 593/20085 (Rom I-Verordnung) abgelöst worden, die gem. Art. 28 Rom I-VO jedoch nur Arbeitsverhältnisse erfasst, die ab diesem Datum zustande gekommen sind. Für Altverträge gilt weiterhin das EGBGB/EVÜ, das sich allerdings nicht wesentlich von der Rom I-Verordnung unterscheidet.6 Soweit keine Änderungen eingetreten sind – bzw. explizit abweichende Entscheidungen des EuGH vorliegen – kann zur Auslegung auf die bisherige Rechtsprechung zum EGBGB/EVÜ zurückgegriffen werden.7 Zweifelsfragen sind im Wege der Vorabentscheidung dem EuGH zu unterbreiten (vgl. § 13 Rz. 24 ff.).8 1 2 3 4 5 6 7
Körner, NZA 2007, 233 (234 f). Schlachter/Ohler/Schlachter, vor Art. 19 Rz. 1. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 57. Schaub/Linck, § 7 Rz. 4. ABl. Nr. L 177 v. 4.7.2008, S. 6 ff. HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB, Rz. 5; Schaub/Linck, § 7 Rz. 6. Früher waren primär nationale Gerichte mit der Auslegung des EGBGB/EVÜ befasst, der EuGH hat erst 2004 die Auslegungskompetenz zur Auslegung des EVÜ erhalten, ausf.: Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 2 Rz. 17 f. 8 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 2 Rz. 17.
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Entsendung und Arbeitskollisionsrecht
Rz. 50 § 5
Anwendbar ist die Rom I-Verordnung auf vertragliche Schuldverhältnisse, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Die arbeitsrechtlichen Regelungen finden sich in Art. 8 Rom I-VO, ergänzt durch Art. 9 Rom I-VO. Über den EUKreis hinaus gilt die Rom I-Verordnung als sog. allseitige Kollisionsnormen auch im Verhältnis zu Drittstaaten (Art. 2 Rom I-VO).1
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Die Vorschrift des Art. 8 Rom I-VO ist lediglich auf „individuelle Arbeitsverträge“ anwendbar, Kollektivverträge sind damit ausgeschlossen.2 Erfasst werden auch nichtige, aber nicht in Vollzug gesetzte Arbeitsverhältnisse.3 Der Begriff des Arbeitsverhältnisses aus der Rom I-Verordnung entspricht im Wesentlichen dem in Deutschland bekannten Stand. Entscheidend für den Anwendungsbereich des Art. 8 Rom I-VO ist die Kennzeichnung als Arbeitsvertrag mit einem Arbeitnehmer, also ein Vertragsverhältnis, in dem weisungsabhängige Arbeit gegen Vergütung über einen bestimmten Zeitraum erbracht wird.4 Grundsätzlich ist der Arbeitnehmerbegriff hierbei im Hinblick auf die spezifischen Schutzinteressen weit auszulegen.5
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1. Grundsatz der freien Rechtswahl Ausgangspunkt für die Bestimmung des Arbeitsvertragsstatuts ist der Grundsatz der freien Rechtswahl (Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO). Die Rechtswahl kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Kommt es zur Rechtswahl, ist zu beachten, dass diese durch das kollisionsrechtliche Günstigkeitsprinzip eingeschränkt ist. Danach darf die Rechtswahl nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm aufgrund der zwingenden (internen) Arbeitnehmerschutzvorschriften des objektiv berufenen Rechts gewährt wird (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO, sog. objektive Anknüpfung; vgl. Rz. 51 ff.).6 Diese zwingenden (internen) Arbeitnehmerschutzvorschriften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Arbeitnehmer als unterlegene Vertragspartei schützen wollen.7 Dabei ist der zwingende Charakter der Vorschriften nach den Grundsätzen derjenigen Rechtsordnung zu beurteilen, der sie angehören.8 Nach herrschender Meinung ist der Günstigkeitsvergleich als Sachgruppenvergleich durchzuführen.9 Die objektive Anknüpfung in der Rom I-Verordnung, wie im Übrigen auch im EVÜ, spielt damit in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zum einen ist sie Anknüpfungsregelung in Ermangelung einer Rechtswahl, zum anderen ist sie Ausgangspunkt des Günstigkeitsvergleichs, wenn eine Rechtswahl getroffen worden ist.10 Im Ergebnis bleibt das Vertragsstatut das gewählte Recht. Dieses wird jedoch partiell durch das günstigere objektiv angeknüpfte Recht überlagert, so dass es im Ergebnis zu einem Mischrecht kommt.11 Unbeschränkt ist die Rechtswahl damit 1 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 1; HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 4. 2 HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 12; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 11. 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 11. 4 HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 13 m.w.N.; Däubler/Lakies, TVG, Anhang 2 zu § 5 TVG, § 1 AEntG Rz. 27. 5 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 4 Rz. 23 ff. 6 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 53. 7 Martiny in MünchKomm/BGB, Art. 8 Rom I-VO Rz. 34. 8 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 54. 9 Schaub/Linck, § 7 Rz. 12; Martiny in MünchKomm/BGB, Art. 8 Rom I-VO Rz. 40; ErfK/ Schlachter, Rom I-VO Rz. 17; HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 13; a.A. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 59. 10 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 68. 11 Schaub/Linck, § 7 Rz. 12; Schlachter, NZA 2000, 57; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 62.
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§5
Rz. 51
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
nur möglich, soweit das Recht gewählt wurde, das auch nach objektiver Anknüpfung zum Zuge käme. In der Praxis ist daher zunächst das Vertragsstatut aufgrund der objektiven Anknüpfung zu bestimmen, um zu klären, ob davon durch Rechtswahl abgewichen wurde. Sofern dies geschehen ist, ist weiter zu prüfen, ob die zwingenden Bestimmungen des objektiv angeknüpften Rechts davon betroffen sind.1 Soweit die Vorschriften nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO günstiger sind, wird das gewählte Recht verdrängt.2 Das objektiv anzuknüpfende Recht gilt an dessen Stelle. 2. Objektive Anknüpfung 51
Sofern die Arbeitsvertragsparteien, wie in der Praxis üblich, keine Rechtswahl getroffen haben, kommt es allein auf die objektive Anknüpfung nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO an.3 Die beiden Grundregeln in den Abs. 2 und 3 des Art. 8 Rom I-VO sind als sich gegenseitig ausschließende Alternativen konzipiert.4 Die Anknüpfung nach Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO kann nur im Ausnahmefall eingreifen.5
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Nach der sog. Arbeitsortanknüpfung unterliegen Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse zunächst dem Recht des Staates, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung seines Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO. Hierzu hat der EuGH erst kürzlich – noch in einem Altfall zum EVÜ aber schon im Hinblick auf die Rom I-Verordnung – entschieden,6 den Tatbestand der Arbeitsortanknüpfung aus Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten weit auszulegen.7 Zu beachten sei hierbei insbesondere, dass es auf den sozialen Kontext ankomme, in den der Arbeitnehmer eingegliedert ist.8 Deshalb komme es auf den Ort an, an dem der Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit tatsächlich ausübt und, in Ermangelung eines Mittelpunkts der Tätigkeit, auf den Ort, an dem er den größten Teil seiner Arbeit ausübt.9 Unproblematisch ist dies der Staat, in dem mehr als die Hälfte der Arbeitszeit verbracht wird.10 Da der Anknüpfungspunkt nach dem Regelungsziel nicht der Arbeitsort, sondern der Arbeitsstaat ist, spielt es keine Rolle, wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung gewöhnlich an verschiedenen Orten in demselben Staat erbringt.11 In der Praxis kommt es auch immer wieder vor, dass nur der Anfangs- und Endpunkt von Reisen in einem Land liegen. Auch diese Fälle werden jetzt explizit von Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO erfasst („von dem aus“).12 Für die Beurteilung des gewöhnlichen Arbeitsortes ist eine vorübergehende Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat unerheblich, Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom I-VO. Bei dieser Bestimmung handelt es sich lediglich um eine Klarstellung, nach der – vorbehaltlich anderer Vor1 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 49. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 22. 3 Däubler/Lakies, TVG, Anhang 2 zu § 5 TVG, § 1 AEntG Rz. 29; ausf. dazu: Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 85 ff. 4 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 16. 5 Lüttringhaus, EuZW 2013, 821. 6 EuGH v. 15.3.2011 – Rs. C-29/10 – Koelzsch, Slg. 2011, I-1595 – Rz. 46. 7 EuGH v. 15.3.2011 – Rs. C-29/10 – Koelzsch, Slg. 2011, I-1595 – Rz. 42. 8 EuGH v. 15.3.2011 – Rs. C-29/10 – Koelzsch, Slg. 2011, I-1595 – Rz. 42. 9 EuGH v. 15.3.2011 – Rs. C-29/10 – Koelzsch, Slg. 2011, I-1595 – Rz. 45; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 87. 10 EuGH v. 9.1.1997, NZA 1997, 225. 11 BAG AP Nr. 31 zu Internationales Privatrecht – Arbeitsrecht; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 88. 12 EuGH v. 15.3.2011 Rs. C-29/10 – Koelzsch, Slg. 2011, I-1595; EuGH v. 15.12.2011 – Rs. C-384/10 – Voogsgeerd, Slg. 2011, I-13275 = ZIP, 2012, 143, noch zu Art. 6 EVÜ; Deinert, RdA 2009, 145; HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 16.
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Entsendung und Arbeitskollisionsrecht
Rz. 54 § 5
schriften – bei vorübergehender Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat kein Statutenwechsel stattfindet.1 Bei bestimmten Arbeitsformen stellen sich Sonderfragen.2 Soweit die Arbeitsortanknüpfung nicht eingreift, kann sich das anzuwendende Arbeitsvertragsstatut aus der Niederlassungsanknüpfung ergeben, also aus dem Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat; Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO. Im Verhältnis zur Arbeitsortanknüpfung gilt die Niederlassungsanknüpfung nur subsidiär.3 Der Anwendungsbereich der Niederlassungsanknüpfung ist aufgrund der Tatsache reduziert, dass die Arbeitsortanknüpfung auch eingreift, wenn die Arbeit regelmäßig von einem bestimmten Arbeitsort ausgeführt wird.4 Noch nicht abschließend geklärt ist, was unter einstellender Niederlassung i.S.v. Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO zu verstehen ist.5 Zu einem EVÜ-Altfall, wohl aber auch schon mit Blick auf die Rom I-Verordnung und vor dem Hintergrund der weiten Auslegung der Arbeitsortanknüpfung, hat der EuGH kürzlich entscheiden, dass die einstellende Niederlassung nicht diejenige sei, die den Arbeitnehmer tatsächlich beschäftigt, sondern diejenige, in der die Einstellung vorgenommen wurde.6 Dies widerspricht der bisherigen Herangehensweise in verschiedenen Mitgliedstaaten, wo auf die organisatorische Einbindung des Arbeitnehmers abtgestellt wurde, um ein Forum-shopping durch die Arbeitgeberseite zu verhindern.7 Aus Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten wird man auf den Ort abstellen müssen, wo der Betrieb liegt, in den der Arbeitnehmer nach Vertragsschluss zunächst eingebunden war.8
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Ausnahmsweise kann das anwendbare Recht nach der sog. Ausweichklausel bestimmt werden, die eingreift, wenn zu dem Recht eines anderen Staats eine „engere Verbindung“ besteht; Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO).9 Hierbei handelt es sich nicht um eine Auffangregelung mit einer dritten objektiven Anknüpfung, sondern um eine Vorschrift, die ein von den Grundanknüpfungen abweichendes Ergebnis ermöglicht.10 Die nach dem Wortlaut geforderte Gesamtheit der Umstände muss nach allgemeiner Auffassung gegenüber der Regelanknüpfung deutlich überwiegen. Dabei kommt es nicht auf die Quantität der Umstände, sondern vielmehr auf deren Qualität an.11 Im Ergebnis kann über die Ausweichklausel auch das Recht des gewöhnlichen Arbeitsortes ausgeschaltet werden.12 Bei der Auslegung sind selbstverständlich Arbeitnehmerschutzgesichtspunkte zu beachten. Die Letztentscheidung hat der EuGH aktuell im Urteil Schlecker den nationalen Gerichten überlassen.13 Deshalb können die bislang von Literatur und Rechtsprechung entwickelten Kriterien weiterhin heran-
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1 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 110. 2 Hierzu näher HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 18 ff.; ausf. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 152 ff. 3 EuGH v. 15.3.2011 – Rs. C-29/10 – Koelzsch, Slg. 2011, I-1595 Rz. 43; v. 15.12.2011 – Rs. C-384/10 – Voogsgeerd, Slg. 2011, I-13275 = ZIP, 2012, 143; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 119; Lüttringhaus, EuZW 2013, 821. 4 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 120. 5 HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 24. 6 EuGH v. 15.12.2011 – Rs. C-384/10 – Voogsgeerd, Slg. 2011, I-13275 = ZIP 2012, 143; kritisch: Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 122. 7 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 122. 8 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 122; so wohl auch: ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 16. 9 HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 25, vgl. BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, NZA 1993, 743. 10 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 126. 11 Lüttringhaus, EuZW 2013, 821. 12 EuGH v. 12.9.2013 – Rs. C-64/12 – Schlecker, EuZW 2013, 825. 13 EuGH v. 12.9.2013 – Rs. C-64/12 – Schlecker, EuZW 2013, 825 (Tenor).
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Rz. 55
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
gezogen werden. Hierzu gehören etwa die Staatsangehörigkeit der Parteien, die Vertragssprache oder die Währung, in der der Lohn zu zahlen ist.1 3. Eingriffsrecht 55
Das Arbeitsrecht kennt, genau wie auch andere Rechtsgebiete, Vorschriften, die auch dann anzuwenden sind, wenn an sich ein ausländisches Vertragsstatut nach den Regelungen des internationalen Privatrechts berufen ist. Diese Durchbrechung des Arbeitsvertragsstatuts kann durch die Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen erreicht werden.2 Die Eingriffsnormen haben dann sowohl Vorrang gegenüber dem gewählten Recht als auch gegenüber Bestimmungen, die nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO objektiv anzuknüpfen wären.3
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Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO enthält eine Legaldefinition des Begriffs „Eingriffsnorm“. Danach handelt es sich um zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung des auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Diese Legaldefinition ist auf das französische Konzept der lois de police zurückzuführen, welches der EuGH bereits in der Entscheidung Arblade4 und später in der Entscheidung Kommission/Luxemburg5 verwandt hatte.
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Für die Praxis ist die Frage besonders relevant, ob das bisherige Konzept der Rechtsprechung zu den Eingriffsnormen von EGBGB/EVÜ vor dem Hintergrund der soeben referierten neu eingeführten Legaldefinition in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO aufrechterhalten werden kann.6 Danach war bislang maßgebend, dass eine Vorschrift nicht nur die „privaten“ Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zum Ausgleich bringt, sondern dass sie darüber hinaus „öffentliche Gemeinwohlinteressen“ realisieren will.7 Für die Bejahung dieser Frage spricht jedenfalls, dass es kaum Widersprüche zwischen der bisherigen deutschen Dogmatik zu EGBGB/EVÜ und der neuen Legaldefinition in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO gibt.8 a) Die Entsenderichtlinie als Eingriffsrecht
58
Der kollisionsrechtliche Gehalt der Entsenderichtlinie war lange Zeit umstritten.9 Mit der Einführung der Rom I-Verordnung dürfte sich dieser Streit erledigt haben. Art. 3 Abs. 1 Ents-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Erstreckung eines harten Kerns an Arbeitsbedingungen (vgl. Rz. 104 ff.).10 Die Erstreckung erfolgt, indem die 1 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 16; HK-ArbR/Däubler, ROM I VO/EGBGB Rz. 25; Kritisch zu den aktuell vom EuGH besonders gewichteten Kriterien Recht der betrieblichen Altersvorsorge, Steuerecht und Sozialversicherungsrecht: Lüttringhaus, EuZW 2013, 821. 2 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 21. 3 Schaub/Linck, § 7 Rz. 18; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 41. 4 EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999, I-8453. 5 EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommison/Luxemburg Slg. 2008, I-4323. 6 Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 25. 7 Zur Rechtslage unter Geltung des EVÜ: Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 14. 8 Franzen, ZESAR 2011, 101 (105); Magnus, IPRax 2010, 27 (41); Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 25. 9 Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, S. 74 ff. 10 KOM (2012), 131 endg., S. 3.
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Entsendung und Arbeitskollisionsrecht
Rz. 61 § 5
Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass, unabhängig vom eigentlich zur Anwendung kommenden Arbeitsvertragsstatut, den in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandten Arbeitnehmern ein harter Kern an Arbeitsbedingungen garantiert wird. Anders ausgedrückt, die Mitgliedstaaten sind durch die Entsenderichtlinie verpflichtet, entsprechende Bestimmungen des nationalen Rechts als Eingriffsrecht auszugestalten.1 Kollisionsrechtlich handelt es sich bei den in Art. 3 Abs. 1 Ents-RL aufgeführten Arbeitsbedingungen demzufolge um eine Konkretisierung des in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO verwendeten Begriffs der Eingriffsnormen.2 Dementsprechend ist die Entsenderichtlinie vorrangiges Kollisionsrecht i.S.d. Art. 23 Rom I-VO.3 Damit stellt sich die Frage, welche Konsequenzen das über die Entsenderichtlinie erstreckte Eingriffsrecht i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO auf das Arbeitsvertragsstatut der entsandten Arbeitnehmer hat. Grundsätzlich würden Arbeitnehmer, die vorübergehend nach Deutschland entsandt sind, wegen der Anknüpfung an das Recht des gewöhnlichen Arbeitsortes dem Arbeitsrecht des Herkunftsstaates unterstellt bleiben (vgl. auch Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom I-VO).4 Durch die Entsenderichtlinie kommt es hier zu einem abweichenden Ergebnis. Das eigentlich berufene Arbeitsvertragsstatut wird bei den in Art. 3 Abs. 1 Ents-RL aufgeführten Arbeitsbedingungen verdrängt.5 Soweit also die Entsenderichtlinie bzw. in der Bundesrepublik das AEntG eingreift, wird das unter Art. 8 Rom I-VO gewonnene Ergebnis modifiziert.6 Der Charakter der im AEntG aufgeführten Arbeitsbedingungen als Eingriffsrecht wird explizit in § 2 AEntG festgehalten. Effektiv entsteht ein Mischrecht aus ursprünglichem Arbeitsvertragsstatut und Eingriffsrecht.
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b) Sonstige Eingriffsnormen im deutschen Recht
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Neben den in der Entsenderichtlinie aufgeführten Arbeitsbedingungen gibt es noch weitere Eingriffsnormen im deutschen Recht. Grundsätzlich ist der Erlass von Eingriffsnormen Sache des jeweiligen Mitgliedstaats.7 Hierbei sind jedoch die Grenzen der Grundfreiheiten zu beachten. Selbstredend können nicht alle zwingenden Vorschriften des Arbeitsrechts dem Eingriffsrecht zugeordnet werden, da ansonsten die Regelung der Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO leerliefe.8
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Zu den Eingriffsnormen im deutschen Recht zählen nach der bisherigen Rechtsprechung: Beschäftigungspflicht für schwerbehinderte Menschen (§ 71 SGB IX), Entgeltfortzahlung (§ 3 EFZG), Anspruch auf Zuschuss zum Mutterschaftsgeld (§ 14 MuSchG), Massenentlassungsrecht (§ 17 KSchG), Zustimmungserfordernis für die Kündigung eines schwer behinderten Menschen (§ 85 SGB IX).9 Keine Eingriffsnormen sind hingegen: arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz, Entlohnungsvorschriften, Urlaubsgeld, Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleiches, Teilzeitanspruch gem. § 8 TzBfG, § 613a BGB, Befristungsrecht, allgemeiner Kündigungsschutz nach dem KSchG.10
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Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 59. Vgl. dazu: ErwGr. 34 Rom I-VO. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 76; ErfK/Schlachter, § 1 AEntG Rz. 5. ErfK/Schlachter, § 1 AEntG Rz. 4; Däubler/Lakies, TVG, Anhang 2 zu § 5 TVG, § 1 AEntG Rz. 30; Schneider-Sievers, RdA 2012, 277; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 9 Rz. 99. Schlachter/Ohler/Schlachter, EUDL-RL, Art. 19 Rz. 4. Schneider-Sievers, RdA 2012, 277. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 26. Schaub/Linck, § 7 Rz. 16. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 48. Deinert, Internationales Arbeitsrecht, § 10 Rz. 49.
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Rz. 62
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
III. Entsenderichtlinie 1. Einleitung a) Zweck der Entsenderichtlinie 62
Die Entsenderichtlinie vereinfacht die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Binnenmarkt und sichert einen angemessenen Schutz von vorübergehend entsandten Arbeitnehmern im Aufnahmestaat. Zu diesem Zweck koordiniert die Richtlinie die kollisionsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten und definiert insoweit einen harten Kern von zwingenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die im Aufnahmestaat anzuwenden sind.
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Damit sorgt sie für fairen Wettbewerb zwischen allen Dienstleistungserbringern und verhindert eine Abwärtsspirale bei den Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer im Aufnahmestaat. Dies ist geboten vor dem Hintergrund, dass die Union einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, verpflichtet ist (Art. 3 Abs. 3 EUV). Bei der Errichtung des Binnenmarktes ist die Union ihren sozialen Zielen verpflichtet, insbesondere die Beschäftigung zu fördern und die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen (Art. 151 Abs. 1 AEUV). Wettbewerb im Binnenmarkt auf Kosten von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ist mit diesen Zielen nicht vereinbar. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass die Entsenderichtlinie ihre Rechtsgrundlage1 in Art. 53 Abs. 1 i.V.m. Art. 62 AEUV hat, die zur Dienstleistungsfreiheit gehören (vgl. § 1 Rz. 91 ff.). b) Die Entsenderichtlinie als kollisionsrechtliche Regelung
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Die Entsenderichtlinie widmet sich ausweislich ihres Erwägungsgrunds 6 den Problemen hinsichtlich des auf ein Arbeitsverhältnis anwendbaren Rechts. Die Frage, nach welchem Recht sich die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten richten, ist grundsätzlich in der Rom I-Verordnung geregelt, die u.a. auch eine Rechtswahl der Parteien ermöglicht (vgl. Rz. 50). Nach Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO darf die Rechtswahl der Parteien nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das nach Abs. 2 mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre (vgl. Rz. 51 ff.).
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Nach Art. 9 Rom I-VO können Mitgliedstaaten zudem die zwingenden Bestimmungen ihres Rechts als Eingriffsnormen (vgl. Rz. 55 ff.) deklarieren und ihnen damit unabhängig von dem ansonsten anwendbaren Recht Wirkung verleihen. Es muss sich dabei um zwingende Vorschriften handeln, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe der Rom I-VO auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Dies gilt insbesondere für das zwingende Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer vorübergehend entsandt wird (ErwGr. 9 und 10 Ents-RL).
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Überdies hindert das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre Gesetze oder die von den Sozialpartnern abgeschlossenen Tarifverträge auf sämtliche 1 Die Richtlinie 96/71/EG wurde bei ihrer Verabschiedung auf Art. 57 Abs. 2 und Art. 66 EG gestützt. Die Rechtsgrundlage wurde durch den AEUV inhaltlich nicht verändert. Zur Vereinbarkeit mit dem damals geltenden EG-Vertrag: Däubler, EuZW 1997, 613.
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Entsenderichtlinie
Rz. 71 § 5
Personen anzuwenden, die – auch nur vorübergehend – in ihrem Hoheitsgebiet beschäftigt werden, selbst wenn ihr Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist (ErwGr. 12 Ents-RL). Ziel der Entsenderichtlinie ist es daher, die Gesetze der Mitgliedstaaten zu koordinieren, um einen Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schulz festzulegen, das entsandten Arbeitnehmern auch für den Zeitraum der Entsendung im Aufnahmestaat zu gewähren ist (ErwGr. 13 Ents-RL).
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Die Entsenderichtlinie stellt somit vorrangig eine kollisionsrechtliche Regelung im Bereich der nationalen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen dar (vgl. Rz. 58 f.). Art. 3 Abs. 1 Ents-RL bestimmt abweichend von Art. 8 Rom I-VO, dass wenn und soweit der jeweilige Aufnahmestaat, in den der Arbeitnehmer entsandt ist, materiellrechtlich entsprechende nationale arbeitsrechtliche Vorschriften vorsieht, diese unabhängig vom Vertragsstatut Anwendung finden. Die Richtlinie legt damit fest, welches Recht zur Anwendung kommt, sie bestimmt jedoch nicht den Inhalt des anzuwendenden Rechts. Der Inhalt der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in den Mitgliedstaaten wird nicht harmonisiert.
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c) Historische Entwicklung Die Initiative der Europäischen Kommission für die Entsenderichtlinie entstand im Kontext der Bestrebungen von Kommissionspräsident Jaques Delors zur Vollendung des Binnenmarktes. Um Bedenken hinsichtlich negativer sozialer Konsequenzen des Binnenmarktes zu begegnen, wurde das Europäische Sozialmodell weiterentwickelt und gestärkt. Im Jahr 1989 veröffentlichte die Kommission ein Aktionsprogramm1 zur Umsetzung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte vom 9.12.1989. Dort wurden die Arbeitsbedingungen von entsandten Arbeitnehmern als spezifisches Problem identifiziert, dem mit einer Initiative begegnet werden sollte.
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Am 1.8.1991 legte die Kommission den Vorschlag für eine Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen vor.2 Der geänderte Vorschlag3 vom 15.6.1993 berücksichtigte die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses. Nach schwierigen Verhandlungen im Rat wurde die Entsenderichtlinie schließlich am 16.12.1996 mit qualifizierter Mehrheit, gegen die Stimme des Vereinigten Königreiches und bei Enthaltung Portugals, verabschiedet.
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Die Richtlinie war innerhalb von drei Jahren von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen. Wie in Art. 8 Ents-RL vorgesehen, wurde die Anwendung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten durch die Kommission überprüft.4 Die Kommission hat dem Rat keine Änderungen an der Richtlinie vorgeschlagen. Nach der EU-
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1 KOM (1989), 568 endg. 2 KOM (1991), 230 endg. Zur Entstehung der Richtlinie u.a. Evju, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies Research Paper Series No. 2013–29, S. 6 ff.; Lorenz, Arbeitnehmer-Entsendegesetz, Gesetzestext und Materialien, S. 9 und Köbele/Cremers, Europäische Union: Arbeitnehmerentsendung im Baugewerbe, S. 13. 3 KOM (1993), 225 endg. 4 Report from the Commission services on the implementation of Directive 96/71/EC of the European Parliament and of the Council of 16 December 1996 concerning the posting of workers in the framework of the provision of services, January 2003. Zur Umsetzung in den Mitgliedstaaten auch Cremers/Donders, Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU.
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Rz. 72
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
Osterweiterung wurde auch die Umsetzung der Richtlinie in den neuen Mitgliedstaaten untersucht.1 72
Der Vorschlag für die Dienstleistungsrichtlinie2 (vgl. Rz. 44 ff.) im Jahr 2004 ließ den Streit über die Zulässigkeit nationaler Kontrollmaßnahmen bezüglich der Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen entsandter Arbeitnehmer eskalieren, der zu diesem Zeitpunkt bereits Gegenstand zahlreicher EuGH-Verfahren gewesen war. In der geänderten Fassung des Richtlinienvorschlages3 vom 4.4.2006 verzichtete die Kommission auf die besonders umstrittenen Art. 24 und 25, mit denen nationale Kontrollmaßnahmen im Aufnahmestaat stark beschränkt werden sollten.4
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Stattdessen legte die Kommission noch im selben Jahr Leitlinien für die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungserbringung5 vor, die neben der Zulässigkeit nationaler Kontrollmaßnahmen fortbestehende Defizite bei der Verwaltungszusammenarbeit und beim Zugang zu Informationen behandelten. In einer weiteren Mitteilung6 berichtete die Kommission 2007 über das Ergebnis einer umfassenden Analyse der Lage in den Mitgliedstaaten. Mit einer Empfehlung7 und der Formalisierung einer Expertengruppe8 wurde im Jahr 2008 die Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit in den Vordergrund gerückt.
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Dieser Prozess wurde ab Ende des Jahres 2007 durch die Diskussion um die EuGHUrteile Viking, Laval, Rüffert und Kommission/Luxemburg9 überlagert. Nun standen zwei ganz andere Fragen im Vordergrund. Wie ist die richtige Balance zwischen dem Streikrecht und den wirtschaftlichen Freiheiten? Und wie ist Art. 3 Ents-RL – also der materielle Kern der Richtlinie – richtig auszulegen?10 In Folge der politischen Diskussion erkannte Kommissionspräsident Barroso Handlungsbedarf und kündigte im Jahr 2009 einen Vorschlag zum Entsenderecht an. Im Jahr 2010 griff auch der Bericht von Prof. Mario Monti zum Binnenmarkt11 die Diskussion um die Urteile auf und 1 Implementation Report Directive 96/71/EC concerning posting of workers in the framework of the provision of services – New Member States, July 2007. 2 KOM(2004) 2 endg./2. 3 KOM(2006) 160 endg. 4 Zur gleichzeitigen Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH zu den nationalen Kontrollmaßnahmen: Thym, NZA 2006, 713. 5 KOM (2006), 159 endg. 6 KOM (2007), 304 endg. 7 Empfehlung der Kommission vom 3.4.2008 zur Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. C 85 v. 4.4.2008, S. 1. 8 Beschluss der Kommission vom 19.12.2008 zur Einsetzung des Expertenausschusses für die Entsendung von Arbeitnehmern 2009/17/EG, ABl. Nr. L 8 v. 13.1.2009, S. 26. 9 EuGH v. 11.12.2007 – International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779; v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989; v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-4323. 10 SWD(2012) 63 final; ETUC, Revision of the Posting Workers Directive: Eight proposals for improvement, 2010; Barnard, Arbeidsrett 2014, 7; GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 25-39, allerdings fraglich, ob die von GA Wahl in Rz. 32 formulierte These, der EuGH hätte mit dem Laval-Urteil die Balance der Richtlinie zu Gunsten der Dienstleistungsfreiheit verschoben, vom EuGH so geteilt wird. GA Wahl möchte daraus insbesondere eine äußerst restriktive Lesart des Begriffs „Mindestlöhne“ in Art. 3 Abs. 1 Ents-RL ableiten. 11 Mario Monti, A new strategy for the single market, At the service of Europe’s economy and society, Report to the President of the European Commission José Manuel Barroso, 9.9.2010; verfügbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/strategy/docs/monti_report_final_10_05_ 2010_en.pdf.
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Rz. 77 § 5
Entsenderichtlinie
empfahl zu handeln. Die Diskussion habe das Potential, insbesondere die Gewerkschaftsbewegung vom Binnenmarktprojekt zu entfremden. d) Richtlinie 2014/67/EU zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie Am 21.3.2012 legte die Kommission ein Entsendepaket vor, zu der ein Vorschlag für eine Richtlinie1 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und ein Vorschlag für eine Verordnung2 über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit gehörten.
75
Die sog. Monti II-Verordnung sollte klarstellen, dass das Streikrecht und die Dienstleistungsfreiheit gleichrangig sind, um der Sorge zu begegnen, dass im Binnenmarkt die wirtschaftlichen Freiheiten das Streikrecht aushebeln könnten.3 Der Vorschlag für die Monti II-Verordnung wurde nach heftiger Kritik der Sozialpartner und einer Subsidiaritätsrüge nationaler Parlamente4 gemäß Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum AEUV von der Kommission zurückgezogen.
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Die Durchsetzungsrichtlinie5 soll die Anwendung der Entsenderichtlinie in der Praxis verbessern, da die Kommission davon ausgeht, dass die anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Aufnahmestaat von Entsendeunternehmen oft nicht eingehalten werden. Zur Durchsetzungsrichtlinie einigte sich der Rat am 9.12.2013 nach intensiven und kontroversen Diskussionen auf eine allgemeine Ausrichtung.6 Der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments beschloss bereits am 20.6.2013 ein Verhandlungsmandat7 für den informellen Trilog mit dem Rat und der Kommission. Die Durchsetzungsrichtlinie wurde am 15.5.2014 verabschiedet. Sie ist bis zum 18.6.2016 in nationales Recht umzusetzen. Die wichtigsten Bestimmungen der Durchsetzungsrichtlinie werden an den entspre-
77
1 KOM (2012), 131 endg. Zum Richtlinienentwurf Houwerzijl, AuR 2013, 342; Schubert, Gutachterliche Stellungnahme zu den Aktivitäten der EU-Kommission bezüglich der Urteile des Europäischen Gerichtshofes zum Verhältnis sozialer Grundrechte und Binnenmarktfreiheiten, S. 42 ff. 2 KOM (2012), 130 endg. 3 Pressemittelung der Kommission vom 21.3.2012, IP/12/267. 4 Gemäß Art. 5 EUV i.V.m. Protokoll Nr. 2 zum AEUV können nationale Parlamente innerhalb von acht Wochen nach Vorlage eines Rechtssetzungsvorschlages durch die Kommission eine begründete Stellungnahme abgeben, wenn Sie den Vorschlag für nicht vereinbar mit dem Subsidiaritätsprinzip halten. In diesem Fall haben folgende Parlamente bzw. Parlamentskammern eine begründete Stellungnahme abgeben: Folketing (Dänemark, 2 Stimmen), Riksdag (Schweden, 2 Stimmen), Chambre des Députés (Luxemburg, 2 Stimmen), Eduskunta (Finland, 2 Stimmen), Sejm (Polen, 1 Stimme), Assembleia da Republica (Portugal, 2 Stimmen), Sénat (Frankreich, 1 Stimme), Saeima (Lettland, 2 Stimmen), Chambre des représentants (Belgien, 1 Stimme), House of Commons (Vereinigtes Königreich, 1 Stimme), Kamra Tad-Deputati (Malta, 2 Stimmen) und Tweede Kamer (Niederlande, 1 Stimme), insgesamt 19 Stimmen. Das nötige Quorum von 18 Stimmen von 54 Stimmen wurde damit erstmalig in diesem Verfahren erreicht. 5 Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMIVerordnung“) (ABl. Nr. L 159 v. 28.5.2014, S. 11). 6 Ratsdokument Nr. 17611/13. 7 Europäisches Parlament A7-0249/2013.
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§5
Rz. 78
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
chen Stellen dieser Kommentierung erwähnt (vgl. Rz. 85, 100, 178, 189, 192 und 195 ff.). Mit der Durchsetzungsrichtlinie ist allerdings die politische Diskussion um die Entsenderichtlinie keineswegs beendet. Die politischen Leitlinien des Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission Juncker sehen eine gezielte Überprüfung der Entsenderichtlinie vor, um sicherzustellen, dass Sozialdumping in der Europäischen Union keinen Platz hat. In der EU solle gleiche Arbeit am gleichen Ort gleich vergütet werden.1 Um letzteres zu erreichen, müsste die Entsenderichtlinie grundlegend verändert werden. 2. Art. 1 und 2 Ents-RL 78
Art. 1 Ents-RL regelt den Anwendungsbereich der Richtlinie. Art. 2 Abs. 1 Ents-RL definiert den Begriff des entsandten Arbeitnehmers. Der Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie lässt sich nur im Zusammenwirken der beiden Normen bestimmen. Wichtige Merkmale der Entsendung sind das Vorliegen einer echten Verbindung zwischen dem Entsendeunternehmen und dem Mitgliedstaat der Niederlassung (vgl. Rz. 80 ff.), das Vorliegen einer Entsendesituation (vgl. Rz. 86 ff.) und der vorübergehende Charakter der Entsendung (vgl. Rz. 94 ff.).
79
Über die Mitgliedstaaten der EU hinaus findet die Richtlinie auch Anwendung auf die Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)2 Norwegen, Island und Liechtenstein sowie auf Grund des bilateralen Freizügigkeitsabkommens3 auf die Schweiz. a) Unternehmen mit Sitz in der EU (Art. 1 Abs. 1 Ents-RL)
80
Die Entsenderichtlinie findet Anwendung auf Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der EU, die Arbeitnehmer im Rahmen der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates entsenden. Das Entsendeunternehmen muss in einem Mitgliedstaat niedergelassen sein. Die Entsenderichtlinie stellt an dieses Merkmal keine besonderen Anforderungen. Nach dem reinen Wortlaut würde daher irgendein Sitz in irgendeinem Mitgliedstaat ausreichen, um die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 Ents-RL zu erfüllen. Aus systematischen Gründen ist jedoch eine Niederlassung in dem Mitgliedstaat vorauszusetzen, aus dem die Entsendung erfolgt. Denn gem. Art. 2 Abs. 1 Ents-RL muss ein entsandter Arbeitnehmer normalerweise im Herkunftsstaat beim entsendenden Arbeitgeber arbeiten. Daher muss sowohl der entsandte Arbeitnehmer als auch das Entsendeunternehmen eine Verbindung zum Herkunftsstaat aufweisen.
81
Welche Anforderungen an die Verbindung zwischen Entsendeunternehmen und Niederlassungsmitgliedstaat zu stellen sind, ist nicht abschließend geklärt. Im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit hat der EuGH festgestellt, dass der Niederlassungsbegriff im Sinne des AEUV die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in diesem Staat auf unbestimmte Zeit implizie1 Jean-Claude Juncker, Ein neuer Start für Europa: Meine Agenda für Jobs, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel, Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission, 15.7.2014. 2 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. Nr. L 1 v. 3.1.1994, S. 3. 3 Art. 22 Abs. 2 Anhang I des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21.6.1999. Es gilt allerdings die Besonderheit, dass die EuGH Rechtsprechung nach Abschluss des Abkommens von der Schweiz bei der Auslegung der Richtlinie nicht berücksichtigt werden muss, vgl. Art. 16.
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Entsenderichtlinie
Rz. 85 § 5
re. Daher setze die Niederlassungsfreiheit eine tatsächliche Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem voraus.1 In diesem Zusammenhang hat der EuGH auch darauf hingewiesen, dass sich eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit mit Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken rechtfertigen lässt, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet würde.2 Entsprechendes dürfte auch für rein künstliche Firmenkonstrukte gelten, die darauf gerichtet sind, arbeits- oder sozialrechtliche Bestimmungen im Aufnahmestaat zu umgehen. Insoweit dürften die Mitgliedstaaten jedenfalls die Möglichkeit haben, Maßnahmen gegen entsprechenden Missbrauch oder die Umgehung entsenderechtlicher Regelungen zu ergreifen und dazu auch die Dienstleistungsfreiheit zu beschränken. Das gilt insbesondere für den Umgang mit sog. Briefkastenfirmen.3
82
Die europäischen Sozialpartner sind sich in einer gemeinsamen Analyse einig, dass der Missbrauch von Briefkastenfirmen, die ihre künstliche Struktur allein dazu nutzen die arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen im Aufnahmestaat zu umgehen, eines der aktuellen Probleme bei der Umsetzung der Entsenderichtlinie darstellt.4 Zumindest solchen Briefkastenfirmen dürfte es an der nötigen Verbindung zum Niederlassungsstaat fehlen.
83
Das Sozialversicherungsrecht (vgl. Rz. 34 ff.) ist an dieser Stelle eindeutiger. Die Anforderungen an ein Entsendeunternehmen werden genauer definiert. Demnach muss ein Unternehmen gewöhnlich substantielle Aktivitäten im Niederlassungsstaat aufweisen, um Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat entsenden zu können.5 Auch eine Entsendung i.S.v. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom I-VO setzt eine reguläre wirtschaftliche Tätigkeit des Arbeitgebers im Entsendestaat voraus.6 Denn ansonsten kann der Arbeitnehmer dort nicht gewöhnlich seine Arbeit verrichten. Beide Reglungen sind ein Indiz dafür, dass auch im Rahmen der Entsenderichtlinie Entsendeunternehmen eine wirtschaftliche Tätigkeit im Herkunftsstaat aufweisen müssen.
84
Daran knüpft auch die Durchsetzungsrichtlinie an, um Missbrauch und Umgehung der entsenderechtlichen Bestimmungen im Aufnahmestaat, insbesondere durch Briefkastenfirmen, zu bekämpfen. Die zuständigen nationalen Kontrollbehörden sollen künftig bei der Anwendung und Durchsetzung der Entsenderichtlinie prüfen, ob ein Unternehmen eine ausreichende Verbindung zum Niederlassungsstaat hat. Dazu sind insbesondere wesentliche Tätigkeiten im Niederlassungsstaat erforderlich, die über internes Management und/oder Verwaltungstätigkeiten hinausgehen. Um das zu ermitteln, wird eine Reihe von möglichen Kriterien aufgezählt, die im Rahmen einer Gesamtbeurteilung des Sachverhalts berücksichtigt werden sollen.
85
1 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes – Slg. 2006, I-7995 – Rz. 54. 2 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes – Slg. 2006, I-7995 – Rz. 55. 3 Einige Mitgliedstaaten verfügen über Regelungen, die Entsendungen durch Briefkastenfirmen verhindern sollen, vgl. van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 45 f. 4 ETUC, Business Europe, Report on joint work of the European social partners on the ECJ rulings in the Viking, Laval, Rüffert and Luxembourg cases, 19.3.2010, http://etuc.org/a/7110. 5 Art. 12 Verordnung (EG) 883/2004 i.V.m. Art. 14 Abs. 2 Verordnung (EG) 987/2009 und Entscheidung A2. 6 van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 45.
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§5
Rz. 86
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
b) Vorliegen einer Entsendesituation (Art. 1 Abs. 3 Ents-RL) 86
Die Richtlinie nennt drei Entsendesituationen, von denen eine für die Eröffnung des Anwendungsbereichs vorliegen muss. Die Tatbestände sind weit formuliert und tragen dem Bemühen Rechnung, möglichst alle relevanten Konstellationen zu erfassen.
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Die „Rush Portuguesa“-Situation1 (Buchst. a): Unternehmen entsenden einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.
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In dieser Konstellation handelt es sich typischerweise um Werkverträge, die zwischen einem Unternehmen und einem Dienstleistungsempfänger geschlossen werden. Ob es sich bei dem Dienstleistungsempfänger um eine Privatperson, ein Unternehmen oder einen öffentlichen Auftraggeber handelt ist unerheblich. Unerheblich ist auch, ob der Arbeitnehmer von einem Generalunternehmer oder einem Unterauftragnehmer entsandt wird.
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Innerbetriebliche Entsendung bzw. Entsendung innerhalb der Unternehmensgruppe (Buchst. b): Unternehmen entsenden einen Arbeitnehmer in eine Niederlassung oder ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.
90
Der Tatbestand der innerbetriebliche Entsendung bzw. der Entsendung innerhalb der Unternehmensgruppe hat anders als die Entsendung im Rahmen der Werkverträge oder von Leiharbeitnehmern in Praxis bislang eher wenige Schwierigkeiten bereitet. Der Tatbestand wurde daher auch mit der Begründung im die Richtlinie aufgenommen, dass dadurch eine Umgehung der arbeitsrechtlichen Mindeststandards durch solche Konstellationen vermieden werden sollte.2
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Die „Seco“-Situation3 (Buchst. c): Unternehmen entsenden als Leiharbeitsunternehmen oder als einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellendes Unternehmen einen Arbeitnehmer in ein verwendendes Unternehmen, das seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder dort seine Tätigkeit ausübt, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen oder dem einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.
92
Die Leiharbeit war zur Zeit der Verabschiedung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten völlig unterschiedlich geregelt. In einigen Mitgliedstaaten war Leiharbeit vollständig verboten, während es in anderen kaum Beschränkungen gab und auch Nicht-Leiharbeitsunternehmen anderen Unternehmen Arbeitskräfte überlassen konnten. Der erste Halbsatz ist daher bewusst weit formuliert. Auf der anderen Seite sollte die Richtlinie keinerlei Auswirkungen auf die existierenden nationalen Regelungen zur Leiharbeit haben.4 Mit der Richtlinie geht daher keine Erlaubnis einher, Leiharbeit1 Der Richtlinienvorschlag, KOM (1991), 230 endg. spricht in Anlehnung an EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417, von der „Rush Portuguesa“-Situation. 2 KOM (1991), 230 endg. 3 Der Richtlinienvorschlag, KOM (1991), 230 endg. spricht in Anlehnung an EuGH v. 3.2.1982 – verb. Rs. C-62/81 und C-63/81 – Seco, Slg. 1982, 223, von der „Seco“-Situation. 4 Erwägungsgrund 19 und Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 1 Abs. 3 Buchst. c bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1.
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Rz. 97 § 5
Entsenderichtlinie
nehmer in einen anderen Mitgliedstaat entsenden zu können, wenn die Leiharbeit dort Beschränkungen unterliegt. Die drei Situationen haben als gemeinsames Merkmal, dass Unternehmen eigene Arbeitnehmer vorübergehend in einen anderen als den Mitgliedstaat entsenden, dessen Recht das Arbeitsverhältnis unterliegt. Der Arbeitnehmerbegriff richtet sich gem. Art. 2 Abs. 2 Ents-RL nach dem nationalen Recht des Aufnahmestaates. Für die Dauer der Entsendung muss ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entsendeunternehmen und dem Arbeitnehmer bestehen.
93
c) Vorübergehender Charakter der Entsendung (Art. 2 Abs. 1 Ents-RL) Die Richtlinie definiert einen entsandten Arbeitnehmer gem. Art. 2 Abs. 1 Ents-RL als Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung in einem anderen Hoheitsgebiet als demjenigen erbringt, in dem er normalerweise arbeitet. Die Entsendung muss daher von vorübergehendem Charakter sein. Sie muss von vorne herein auf einen begrenzten Zeitraum angelegt sein und nicht auf Dauer. Die Richtlinie definiert diesen begrenzten Zeitraum nicht näher. Was eine „vorübergehende“ Entsendung ist, muss daher durch Auslegung nach Sinn und Zweck der Entsenderichtlinie im Einzelfall ermittelt werden.1 Die Ziele Arbeitnehmerschutz und Vereinfachung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung sind dabei zu berücksichtigen.
94
Nach der Rechtsprechung des EuGH sind bei der Feststellung des vorübergehenden Charakters der Tätigkeit einer Person, die Dienstleistungen im Aufnahmestaat erbringt, nicht nur die Dauer der Leistung, sondern auch ihre Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr oder Kontinuität zu berücksichtigen. Das Unionsrecht enthält allerdings keine Vorschriften, die eine abstrakte Bestimmung der Dauer oder Häufigkeit ermöglichen, ab der die Erbringung einer Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr als eine Dienstleistung im Sinne des Vertrages angesehen werden kann.2 Auf der anderen Seite fällt eine auf Dauer oder jedenfalls ohne absehbare zeitliche Beschränkung ausgeübte Tätigkeit nicht unter die Dienstleistungsfreiheit.3
95
Anders als im Arbeitsrecht gilt im Sozialversicherungsrecht4 eine eher großzügige zeitliche Grenze für die Entsendung von regelmäßig zwei Jahren (vgl. Rz. 34 ff.). Für die arbeitsrechtliche Entsenderichtlinie wurde bewusst auf die Festlegung einer starren Grenze verzichtet, um ausreichende Flexibilität im Einzelfall zu gewährleisten. Auch bei der Entsendung gem. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom I-VO ist das Merkmal „vorübergehend“ nicht genau definiert. Erwägungsgrund 36 gibt lediglich den Hinweis, die Erbringung der Arbeitsleistung in einem anderen Staat als vorübergehend gelten sollte, wenn von dem Arbeitnehmer erwartet wird, dass er nach seinem Arbeitseinsatz im Ausland seine Arbeit im Herkunftsstaat wieder aufnimmt.
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Auch der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 („Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet“) deutet darauf hin, dass der entsandte Arbeitnehmer bereits vor der Entsendung im Herkunftsstaat beschäftigt
97
1 Vgl. in diesem Sinne zur Auslegung des Begriffs „vorübergehend“ in Art. 1 Abs. 1 Leiharb-RL, Brors, AuR 2013, 108. 2 EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-215/01 – Schnitzer, Slg. 2003, I-14847 – Rz. 28, 31; v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165 – Rz. 39. 3 EuGH v. 7.9.2004 – Rs. C-456/02 – Trojani, Slg. 2004, I-7573 – Rz. 28. 4 Art. 12 Abs. 1 Verordnung (EG) 883/2004.
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§5
Rz. 98
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
sein muss und auch beabsichtigt ist, dass der Arbeitnehmer seine Tätigkeit nach Rückkehr dort fortsetzt. Aus dem Wortlaut ergibt sich nicht direkt, dass der Arbeitnehmer beim Entsendeunternehmen im Herkunftsstaat beschäftigt sein muss. Dafür spricht allerdings der Zusammenhang mit Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO. Denn dort knüpft die Entsendung an den Arbeitsvertrag an, der zwischen Entsendeunternehmen und entsandtem Arbeitnehmer besteht. 98
Ob die unmittelbare Entsendung eines Arbeitnehmers nach seiner Einstellung noch in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, ist daher zweifelhaft und bislang nicht abschließend geklärt. Sofern eine Weiterbeschäftigung nach der Entsendung im Herkunftsstaat geplant ist und kein Missbrauch vorliegt, spricht viel dafür von einer Entsendung und damit von der Anwendbarkeit der Richtlinie auszugehen.1 Erfolgt die Einstellung eines Arbeitnehmers jedoch nur für die Dauer der Entsendung, dürfte die Richtlinie nicht anwendbar sein. Das anwendbare Recht auf das Arbeitsverhältnis bestimmt sich dann nach den Regeln der Rom I-Verordnung. Die objektive Anknüpfung (vgl. Rz. 51 ff.) dürfte in diesen Fällen zur Anwendung des Rechts des Aufnahmestaates führen. Im Übrigen ist auch denkbar, dass solche Arbeitnehmer Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates suchen und dort beschäftigt sind, so dass ihnen hinsichtlich der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gem. Art. 7 Verordnung (EWG) Nr. 1612/682 Gleichbehandlung mit inländischen Arbeitnehmern zusteht.
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Die Tatsache, dass die Bestimmungen über die Begründung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses sowie Informations- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer nicht zu den zwingenden Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen im Aufnahmestaat gehören und dies mit dem vorübergehenden Charakter der Entsendung begründet wird, spricht dafür das Merkmal „vorübergehend“ vor dem Hintergrund des Ziels des Arbeitnehmerschutzes nicht zu weit auszulegen.
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Auch die Durchsetzungsrichtlinie unternimmt in Art. 4 Abs. 3 nicht den Versuch, eine zeitliche Obergrenze für die Dauer der Entsendung einzuführen. Vielmehr werden Kriterien vorgeschlagen, die den Vollzugsbehörden der Mitgliedstaaten in der Praxis helfen sollen zu bestimmen, ob der Charakter der Entsendung im Einzelfall noch vorübergehend ist oder nicht. Dabei kann berücksichtigt werden, ob die Arbeit für einen begrenzten Zeitraum in einem anderen Mitgliedstaat verrichtet wird; an welchem Datum die Entsendung beginnt; ob die Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat erfolgt als denjenigen, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Tätigkeit üblicherweise gemäß Rom I-Verordnung ausübt; ob der entsandte Arbeitnehmer nach Erledigung der Arbeit oder nach Erbringung der Dienstleistungen, für die er entsandt wurde, wieder in den Mitgliedstaat zurückkehrt, aus dem er entsandt wurde, oder dies von ihm erwartet wird; die Art der Tätigkeiten; ob Reise, Verpflegung und Unterbringung von dem Arbeitgeber, der den Arbeitnehmer entsendet, bereit1 Vorbeschäftigungszeiten im Herkunftsstaat im Zusammenhang mit der Entsendung von Drittstaatsangehörigen von 6 bzw. 12 Monaten hat der EuGH als unvereinbar mit Art. 56 AEUV angesehen. EuGH v. 21.10.2004 – Rs. C-445/03 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2004, I-10191; v. 21.9.2006 – Rs. C-168/04 – Kommission/Österreich, Slg. 2006, I-9041; v. 19.1.2006 – Rs. C-244/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-885. Vgl. ferner auch Art. 14 Abs. 1 der sozialversicherungsrechtlichen Verordnung (EG) Nr. 987/2009, der eine Einstellung im Hinblick auf die Entsendung erlaubt, vorausgesetzt die betreffende Person unterliegt unmittelbar vor Beginn ihrer Beschäftigung bereits den sozialversicherungsrechtlichen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, bei dem sie eingestellt wird, seinen Sitz hat. 2 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 257 v. 19.10.1968, S. 2.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 103
§5
gestellt oder die Kosten von ihm erstattet werden; vorangegangene Zeiträume, in denen die Stelle von demselben oder einem anderen (entsandten) Arbeitnehmer besetzt wurde. Diese Kriterien liefern allerdings nur Anhaltspunkte und müssen weder kumulativ vorliegen noch sind sie abschießend zu verstehen. d) Ausnahmen (Art. 1 Abs. 2 Ents-RL) und nicht erfasste Sachverhalte Vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausdrücklich ausgenommen sind Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine (Art. 1 Abs. 2). Durch die in Art. 1 i.V.m. Art. 2 genannten Voraussetzungen scheiden darüber hinaus weitere Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich aus. So sind Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst nicht von der Richtlinie erfasst, da sie nicht von Unternehmen beschäftigt werden. Nicht erfasst von Art. 1 Abs. 3 Buchst. a sind regelmäßig Geschäftsreisende, die sich lediglich z.B. für die Vertragsanbahnung in den anderen Mitgliedstaat begeben und daher nicht „im Rahmen eines Vertrages“ entsandt sind. Ebenso Arbeitnehmer, die normalerweise im Hoheitsgebiet zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten tätig sind und zum fahrenden oder fliegenden Personal eines Unternehmen gehören, das im eigenen Namen internationale Personen- oder Güterbeförderungen auf dem Schienen-, Land-, Luft- oder Wasserweg durchführt.1 So können beispielsweise Angestellte von Ryanair, die in Marseille stationiert sind, nicht von Irland nach Frankreich entsandt werden.2 Gleiches gilt für Arbeitnehmer, die zum nicht ortsgebundenen Personal eines Presse-, Rundfunk- oder Fernsehunternehmens oder eines Unternehmens für kulturelle Veranstaltungen gehören, das im eigenen Namen vorübergehend seine Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates ausübt.3
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Grundsätzlich anwendbar ist die Richtlinie jedoch auf Kabotage-Dienstleistungen. Anders als bei den oben genannten klassischen grenzüberschreitenden Personenoder Güterbeförderungen werden bei Kabotage Fahrten zwischen zwei oder mehreren Zielen im Aufnahmestaat durchgeführt.
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e) Unternehmen mit Sitz in Drittstaaten (Art. 1 Abs. 4 Ents-RL) Die Entsenderichtlinie findet zwar keine unmittelbare Anwendung auf Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat. Gemäß Art. 1 Abs. 4 Ents-RL darf solchen Unternehmen allerdings keine günstigere Behandlung zuteilwerden als Unternehmen mit Sitz in der EU. Deshalb sind die Mindestschutzbedingungen der Entsenderichtlinie gleichzeitig auch Mindestschutzbedingungen für entsandte Arbeitnehmer aus Drittstaaten.4 Für die unternehmensinterne Entsendung von Drittstaatsangehörigen, die von einem Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat in eine Niederlassung in einem Mitgliedstaat entsandt werden, gilt Richtlinie 2014/66/EU.5 Für diese Arbeitnehmer 1 Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 1 Abs. 3 Buchst. a bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1. 2 Antwort der Kommission vom 15.11.2010 auf die schriftliche Frage des EP-Abgeordneten Bennahmias, P-8653/2010. 3 Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 1 Abs. 3 Buchst. a bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1. 4 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 6 Rz. 10; Piffl-Pavelec, DRdA 1995, 292; SWD(2012) 63 final, S. 10. 5 Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers (ABl. L 157 vom 27.5.2014, S. 1). Zu den arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Richtlinienvorschlages: Bayreuther, ZESAR 2012, 405.
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§5
Rz. 104
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
gelten gem. Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2014/66/EU mindestens die in Art. 3 Ents-RL vorgesehenen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. 3. Art. 3 Ents-RL a) Der harte Kern von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (Abs. 1) 104
Art. 3 Abs. 1 Ents-RL definiert einen „harten Kern“1 von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die im Aufnahmestaat unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anzuwendende Recht (vgl. Rz. 50 ff.) anzuwenden sind. Der Inhalt der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in den Mitgliedstaaten wird durch die Entsenderichtlinie nicht harmonisiert. Vielmehr werden die kollisionsrechtlichen Reglungen der Mitgliedstaaten koordiniert und die anwendbaren zwingenden Bestimmungen im Aufnahmestaat festgelegt (vgl. Rz. 58 f.).
105
Zum „harten Kern“ gehören gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis g Ents-RL: – Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten; – bezahlter Mindestjahresurlaub; – Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme; – Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen; – Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz; – Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen; – Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen.
106
Unter den zwingenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sind die Mindestlohnsätze, die arbeitszeit- und urlaubsrechtlichen Reglungen sowie die Bestimmungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz2 von besonderer praktischer Bedeutung.
107
Nicht zu den zwingenden anwendbaren Bestimmungen gehören insbesondere Vorschriften über die Begründung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses sowie Informations- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer. Nach der Begründung des Kommissionsvorschlages sollten diese Bestimmungen aufgrund des vorübergehenden Charakters der Entsendung nicht durch die Richtlinie berührt werden.3
108
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Ents-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung von Mindestlöhnen, soweit solche nicht existieren.4 Ebenso wenig verpflichtet Art. 3 Ents-RL die Mitgliedstaaten dazu, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen bezüglich ihres Inhalts und ihres Anwendungsbereichs auszudehnen.5 1 ErwGr. 14 Ents-RL spricht von einem „harten Kern“ klar definierter Schutzbestimmungen, der vom Dienstleistungserbringer unabhängig von der Dauer der Entsendung des Arbeitnehmers einzuhalten ist. 2 Vgl. dazu van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 78 ff. und van Hoek/Houwerzijl, Complementary study, S. 135 ff. 3 KOM (1991), 230 endg. 4 Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 3 bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1. 5 Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 3 bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 113
§5
aa) Erstreckung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder allgemeinverbindliche Tarifverträge. Bei der Erstreckung des „harten Kerns“ von Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen differenziert die Entsenderichtlinie zwischen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die festgelegt sind durch:
109
– Rechts- oder Verwaltungsvorschriften (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1, 1. Spiegelstrich Ents-RL) oder – für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche i.S.d. Art. 3 Abs. 8 Ents-RL (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1, 2. Spiegelstrich Ents-RL).1 Es handelt sich dabei um Eingriffsnormen i.S.v. Art. 9 Rom I-VO (vgl. Rz. 55 ff.). Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften festgelegt werden, sind zwingend auch auf entsandte Arbeitnehmer anzuwenden.
110
In Deutschland wird Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1, 1. Spiegelstrich Ents-RL durch § 2 AEntG umgesetzt, der die in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen über die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL genannten Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen auf entsandte Arbeitnehmer erstreckt.2 Dazu gehören insbesondere auch der allgemeine Mindestlohn gem. § 1 MiLoG und die Lohnuntergrenze gem. § 3a AÜG als Mindestlohn für die Leiharbeit.
111
Werden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche i.S.d. Art. 3 Abs. 8 Ents-RL festgelegt, sind sie nur zwingend auf entsandte Arbeitnehmer anzuwenden, sofern sie Bauarbeiten betreffen, die der Errichtung, der Instandsetzung, der Instandhaltung, dem Umbau oder dem Abriss von Bauwerken dienen.3 Für alle anderen Tätigkeiten steht es den Mitgliedstaaten frei, ob sie die durch allgemeinverbindliche Tarifverträge festgelegten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf entsandte Arbeitnehmer erstrecken oder nicht (Art. 3 Abs. 10, 2. Spiegelstrich).
112
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1, 2. Spiegelstrich Ents-RL wird durch §§ 3, 4 Nr. 1, 5 und 8 AEntG umgesetzt, die allgemeinverbindliche tarifvertragliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen aus dem Katalog des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL für die Baubranche auf entsandte Arbeitnehmer erstrecken. Dabei werden gem. § 5 Nr. 3 AEntG ausdrücklich auch die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch Sozialkassen erfasst (insbesondere das Urlaubskassenverfahren der Bauwirtschaft). Mit § 4 Nr. 2 bis 8 AEntG hat der deutsche Gesetzgeber von der durch Art. 3 Abs. 10, 2. Spiegelstrich Ents-RL eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, die durch allgemeinverbindliche Tarifverträge festgelegten Ar-
113
1 Hantel, ZESAR 2014, 261 (316 f.), geht zu Unrecht davon aus, dass für die Überprüfung von Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen, die durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge festgelegt wurden, im Bereich des Baugewerbes ein anderer Maßstab gilt als in anderen Branchen. 2 Zu den anwendbaren Einzelvorschriften in Deutschland vgl. Koberski u.a., § 2 Rz. 12. 3 Vgl. Anhang zur Richtlinie. Als von dieser Definition umfasste Tätigkeiten werden beispielhaft aufgeführt: Aushub, Erdarbeiten, Bauarbeiten im engeren Sinne, Errichtung und Abbau von Fertigbauelementen, Einrichtung oder Ausstattung, Umbau, Renovierung, Reparatur, Abbauarbeiten, Abbrucharbeiten, Wartung, Instandhaltung (Maler- und Reinigungsarbeiten) und Sanierung. Die Definition entspricht der Definition von Bauleistungen gem. § 101 Abs. 2 Satz 2 SGB III.
Heuschmid/Schierle
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§5
Rz. 114
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
beits- und Beschäftigungsbedingungen in anderen Brachen1 auf entsandte Arbeitnehmer zu erstrecken. Ob die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages in einer der in das AEntG aufgenommenen Branchen aus einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung gem. § 5 TVG oder einer Rechtsverordnung gem. § 7 AEntG folgt, ist aus Sicht der Entsenderichtlinie unerheblich. International zwingende Wirkung im Sinne des Internationalen Privatrechts (vgl. Rz. 55 ff.) erhalten die Normen allgemeinverbindlicher Tarifverträge bzw. durch Rechtsverordnung erstreckter tarifvertraglicher Regelungen durch § 3 AEntG.2 114
bb) Arbeitszeit- und urlaubsrechtliche Regelungen (Buchst. a und b). Höchstarbeitszeiten, Mindestruhezeiten und der bezahlte Mindestjahresurlaub sind Teil der zwingenden Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen im Aufnahmestaat. Die Einbeziehung dieser Vorschriften ist erforderlich, um das Ziel des fairen Wettbewerbes im Aufnahmestaat zu gewährleisten. Denn arbeitszeit- und urlaubsrechtliche Bestimmungen haben maßgeblichen Einfluss auf die Arbeitskosten. Trotz der gemeinsamen Mindeststandards der Arbeitszeitrichtlinie existieren nach wie vor erhebliche Unterschiede in den Mitgliedstaaten.3
115
Das Schutzniveau der Entsenderichtlinie ist nicht auf die Mindeststandards der Arbeitszeitrichtlinie begrenzt.4 Die Begriffe Höchstarbeitszeiten, Mindestruhezeiten und bezahlter Mindestjahresurlaub sind weit auszulegen.5 Zum bezahlten Mindestjahresurlaub gehören etwa Urlaubsdauer, Urlaubsentgelt, Urlaubsgeld, Urlaubsabgeltungs- und Entschädigungsansprüche sowie Beiträge zu Urlaubskassen (vgl. Rz. 116 ff.).6 Die arbeitszeit- oder urlaubsrechtlichen Regelungen im Aufnahmestaat kommen allerdings nur zur Anwendung, wenn die Bestimmungen insgesamt günstiger sind als im Herkunftsstaat (vgl. Rz. 152 ff.).
116
cc) Sozialkassen. Beiträge zu Sozialkassen und ihre Leistungen gehören zu den zwingenden Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen.7 Die Sozialkassen dürfen nicht mit der Sozialversicherung (vgl. Rz. 37 ff.) verwechselt werden. Unter den Sozialkassen sind die Urlaubskassen von besonderer praktischer Bedeutung.8 Sie machen einen signifikanten Anteil der sozialen Absicherung der Arbeitnehmer im Baugewerbe aus.9 Die Sozialkassen sind nicht ausdrücklich im Richtlinientext erwähnt. Bei Verabschiedung der Richtlinie haben dazu allerdings Rat und Kommission gemeinsam erklärt, dass un1 Derzeit Gebäudereinigung, Briefdienstleistungen, Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken, Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst und Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem Zweiten oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch. Darüber hinaus werden auch in der Pflegebrache die Mindestentgeltsätze, die Dauer des Erholungsurlaubs, das Urlaubsentgelt und ein zusätzliches Urlaubsgeld nach §§ 10–13 AEntG erstreckt. Für die Arbeitsbedingungen im Gewerbe des grenzüberschreitenden Straßentransports von Euro-Bargeld stellt § 13a AEntG die Verordnung (EU) Nr. 1214/2011 über den gewerbsmäßig grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen den Mitgliedstaaten des Euroraums einer Rechtsverordnung nach § 7 AEntG gleich. 2 Koberski u.a., § 3 Rz. 65. 3 van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 72 f.; SWD(2010) 1611 final, Detailed report on the implementation by Member States of Directive 2003/88/EC concerning certain aspects of the organisation of working time. 4 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. 49/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 59. 5 van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 72. 6 Koberski u.a., § 5 Rz. 26 ff. 7 A.A. offenbar Hantel, ZESAR 2014, 261 (317). 8 Zur Vereinbarkeit des deutschen Urlaubskassenverfahrens mit höherrangigem Recht: Wank/ Börgmann, NZA 2001, 177. 9 Koberski u.a., § 5 Rz. 35 ff.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 119
§5
ter die Buchstaben b und c auch die Beitrage zu den tarifvertraglich oder gesetzlich geregelten einzelstaatlichen Sozialkassen und die Leistungen dieser Sozialkassen fielen, sofern diese nicht zum Bereich der sozialen Sicherheit gehörten.1 Der EuGH hat die Verpflichtung der Arbeitgeber, Beiträge zu Sozialkassen zu bezahlen, als mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar gebilligt.2 Sozialkassen existieren in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz. Die Beiträge zu Sozialkassen im Aufnahmestaate müssen den Arbeitnehmern einen tatsächlichen Vorteil bringen, der zu ihrem sozialen Schutz beiträgt. Soweit Sozialkassen einen materiell- und verfahrensrechtlich vergleichbaren Schutz im Herkunftsstaat garantieren, dürfen Arbeitgeber im Aufnahmestaat nicht doppelt mit Beiträgen belastet werden (vgl. Rz. 24).3 Dazu werden in der Praxis bilaterale Abkommen zwischen den Sozialkassen geschlossen.4
117
dd) Mindestlohnsätze (Buchst. c) (1) Zum Begriff „Mindestlohnsätze“. Die Richtlinie definiert den Begriff „Mindestlohnsätze“ nicht selbst, sondern verweist auf nationales Recht. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Ents-RL wird er durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird. Aus welchen Bestandteilen sich der Mindestlohn zusammensetzt richtet sich daher nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaates.5 Damit kann sich der Begriff der Mindestlohnsätze in den Mitgliedstaaten erheblich unterscheiden.6 Damit trägt die Entsenderichtlinie u.a. auch der Tatsache Rechnung, dass die Union für das Arbeitsentgelt, und damit insbesondere auch für den Mindestlohn, gem. Art. 153 Abs. 5 AEUV gerade keine Regelungszuständigkeit besitzt.
118
In Deutschland liegt die Regelungskompetenz für Löhne wegen des verfassungsrechtlich verbürgten Systems der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) grundsätzlich bei den Tarifparteien. Aufgrund des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns gilt in Deutschland ab dem 1.1.2015 ein Mindestlohn von 8,50 Euro je Zeitstunde.7 Die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsverordnun-
119
1 Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b und c bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1. 2 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. 49/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 53. Dazu auch von Danwitz, EuZW 2002, 237. 3 EuGH v. 28.3.1996. – Rs. C-272/94 – Guiot, Slg. 1996, I-1905 – Rz. 22; v. 25.10.2001 – Rs. 49/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 53; ausführlich zur Rechtssache Guiot Wiesehügel/ Sahl/Lorenz, Die Sozialkassen der Bauwirtschaft und die Entsendung innerhalb der Europäischen Union, S. 46. 4 Die deutsche Urlaubskasse der Bauwirtschaft (ULAK) hat derzeit bilaterale Abkommen mit vergleichbaren Urlaubskassen in Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien und Österreich. Bei den Kassen in den Niederlanden und der Schweiz fehlt es derzeit an der Vergleichbarkeit. Vgl. dazu ausführlich Koberski u.a., § 5 Rz. 77 ff. 5 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht – Rz. 37. Besprechung des Urteils einschließlich der Auswirkungen auf Deutschland: Bayreuther, EuZA 2014, 189. Für eine Einschränkung der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten: GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 66-76. 6 Eine Übersicht findet sich bei van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 62 ff. 7 Zu den Ausnahmen und Übergangsvorschriften vgl. §§ 22 und 24 MiLoG. Brors, NZA 2014, 938 (941), hält die Ausnahme von Beschäftigten von unter 18 Jahren für einen Verstoß gegen das europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung.
Heuschmid/Schierle
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§5
Rz. 120
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
gen gehen den Regelungen des Mindestlohngesetzes vor, soweit die Höhe der auf ihrer Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne die Höhe des Mindestlohns nicht unterschreitet. 120
Der Begriff „Mindestlohnsätze“ umfasst schon nach seinem Wortlaut mehrere Mindestlöhne. Die Mitgliedstaaten können daher nicht nur den untersten einheitlichen Mindestlohn auf entsandte Arbeitnehmer erstecken, sondern auch ganze Lohngitter, die beispielsweise in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen vereinbart wurden.1 Auch können neben einem allgemeinen Mindestlohn branchenspezifische Mindestlöhne angewandt werden.2 Dabei ist allerdings zu beachten, dass für den Dienstleistungserbringer erkennbar sein muss, welcher Mindestlohn im Einzelfall einschlägig ist.
121
Für die Einordnung in Mindestlohngruppen3 ist das Recht des Aufnahmestaates maßgeblich. Wird in einem Staat ein Mindestlohn durch eine tarifvertragliche Regelung festgelegt, so lassen sich die in diesem Tarifvertrag vorgesehenen Lohnregelungen nicht trennen von den Voraussetzungen für diesen Lohnanspruch, seine Höhe und seine Zusammensetzung. Derartige Voraussetzungen werden in tarifvertraglich geregelten Lohnfindungssystemen üblicherweise in eigenen ergänzenden Regelwerken über Lohngruppeneinteilungen näher bestimmt; diese enthalten z.B. Definitionen für Anwendungsvoraussetzungen (wie z.B. bestimmte Qualifikationen, Berufserfahrung etc.). Erst aus der Kombination dieser beiden Regelwerke ergibt sich der Mindestlohnanspruch in seiner konkreten Höhe. Diese die eigentlichen Lohntarifverträge ergänzenden Regelwerke stehen daher in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit den eigentlichen Lohnregelungen und haben damit als integraler Bestandteil der nationalen Lohnregelung Anteil am international zwingenden Charakter der tarifvertraglichen Mindestlohnregelung selbst. Die Lohngruppeneinteilungsregelungen des Herkunftsstaates, die sich zwangsläufig auf ein völlig anderes nationales Tarifregelwerk dieses Herkunftsstaates beziehen, lassen sich sowohl unter rechtlichen als auch unter betriebspraktischen Gesichtspunkten nicht anwenden auf einen tariflichen Mindestlohnanspruch des Aufnahmestaates.
122
Nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c können die Mitgliedstaaten Überstundensätze als Bestandteil des Mindestlohns definieren.4 Dagegen gehören Beiträge für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme nicht zum Begriff Mindestlohnsätze.5
1 Dazu ausführlich Koberski u.a., § 5 Rz. 3 ff. mit weiteren Nachweisen (teilweise auch ablehnend); zustimmend auch van Hoek/Houwerzijl, Comparative study, S. 62 f. mit einer Darstellung der Praxis in den Mitgliedstaaten und Rödl, WSI Mitteilungen 2012, 517 mit einer Analyse der EuGH-Urteile Kommission/Luxemburg und Rüffert. Für lediglich eine unterste Mindestlohngrenze plädiert GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 79-83. Kritisch auch Bayreuther, EuZA 2014, 189 (193), der allerdings die im deutschen Baugewebe übliche Differenzierung nach Ost und West sowie qualifiziert und nicht qualifiziert zulassen möchte. 2 Bereits in Finalarte hat der EuGH entschieden, dass die urlaubsrechtlichen Regelungen des Bautarifvertrages neben den gesetzliche Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes Anwendung finden. Nichts anderes kann für die mindestlohnrechtlichen Regelungen gelten. 3 Dem EuGH liegt derzeit in der Rs. C-396/13 die Frage zur Entscheidung vor, ob für die Zuordnung von entsandten Arbeitnehmern zu Lohngruppen die Lohngruppeneinteilung im Herkunftsstaat oder die Vorgaben des Aufnahmestaates maßgeblich sind (Vorlagefragen 6.2 und 6.3). 4 Ausführlich zu den Überstundensätzen im Sinne vom § 5 Nr. 1 AEntG Koberski u.a., § 5 Rz. 21 ff. 5 Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c am Ende.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 126
§5
Die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Begriffs Mindestlohnsätze im nationalen Recht ist nicht unbegrenzt. Sie ist durch die Dienstleistungsfreiheit begrenzt.1 Nach der Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofes2 können Leistungen für Übernachtung, Verpflegung und Reisekosten nicht unter den Begriff Mindestlohnsätze gefasst werden.3 Ebenso sind Leistungen bei Krankheit nicht vom Begriff des Mindestlohns umfasst.4 Dagegen kann der Aufnahmestaat eine Zulage für die vorübergehende Abwesenheit von zu Hause unter bestimmten Voraussetzungen als Teil des Mindestlohns definieren.5
123
Eine automatische Indexierung der Mindestlohnsätze ist mit der Entsenderichtlinie vereinbar.6 Auf der anderen Seite kann eine automatische Anpassung anderer Löhne als der Mindestlöhne an die Lebenshaltungskosten im Aufnahmestaat nicht von Entsendeunternehmen verlangt werden.7
124
Auch zivilrechtliche Fälligkeitsregelungen fallen als Bestandteil des Begriffs „Mindestlohnsätze“ in die Regelungsautonomie der Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Ents-RL. Als Teil des arbeitsrechtlichen Anspruchs auf Zahlung des Mindestlohns bestimmen sie sich – ebenso wie die Höhe und Bestandteile des Mindestlohns – nach den nationalen Vorschriften und/oder Gepflogenheiten. Werden Mindestlohnsätze in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen festgelegt, können auch die Parteien des jeweiligen Tarifvertrages, über die konkrete Ausgestaltung einer Fälligkeitsregelung flexibel entscheiden. Dies ergibt sich bereits aus der Natur des Arbeitsverhältnisses als einem Dauerschuldverhältnis, bei dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber die einzelnen Leistungen immer von Neuem wiederkehrend erbringen und austauschen. Dabei tritt der Arbeitnehmer regelmäßig und immer wieder mit seiner Arbeitsleistung in Vorleistung. Der Arbeitgeber erfüllt seine Verpflichtung zur Lohnzahlung hingegen typischerweise nicht synchron, sondern im Nachhinein für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum. Ohne grundsätzliche Fälligkeitsregelung bestünde gerade für entsandte Arbeitnehmer die Gefahr, dass das Gegenseitigkeitsverhältnis einseitig zum Nachteil des Arbeitnehmers verändert würde.
125
Entsandte Arbeitnehmer wären zwar während der Entsendung zur Arbeitsleistung verpflichtet. Umgekehrt würden sie aber noch nicht den Mindestlohn des Aufnahmestaates hierfür erhalten. Auch könnten sie nicht von der durch die Entsenderichtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machen, ihren Lohnanspruch auch im Aufnah-
126
1 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht – Rz. 37. 2 Die Auslegung von Unionsrecht unterliegt letztlich dem EuGH (vgl. Art. 111 EWR-Abkommen). Allerdings sind sowohl der EFTA-Gerichtshof als auch der EuGH einer möglichst einheitlichen Auslegung des EWR-Abkommens und der unionsrechtlicher Bestimmungen, die in ihrem wesentlichen Gehalt in das Abkommen übernommen wurden, verpflichtet (vgl. Art. 105 EWR-Abkommen). 3 EFTA Gerichtshof v. 8.4.2013 – E-2/11 – STX Norway Offshore – Rz. 97. Eine ähnliche Frage liegt derzeit auch dem EuGH in der Rs. C-396/13 zur Entscheidung vor (Vorlagefrage 6.4). Ausführlich zur Rechtssache STX Norway Offshore: Barnard, Arbeidsrett 2014,1 (8ff.). 4 EFTA Gerichtshof v. 8.4.2013 – E-2/11 – STX Norway Offshore – Rz. 47. Das gilt zumindest, wenn wie in diesem Fall der vollständige Lohn des Beschäftigten weiterzubezahlen ist, der oberhalb des Mindestlohns liegt. 5 EFTA Gerichtshof v. 8.4.2013 – E-2/11 – STX Norway Offshore – Rz. 88. Eine ähnliche Frage liegt derzeit auch dem EuGH in der Rs. C-396/13 zur Entscheidung vor (Vorlagefrage 6.1 zu pauschalen Zulagen für die vorübergehende Abwesenheit vom Einstellungsort und zur Entschädigung für tägliche Fahrtzeiten). Zwar grundsätzlich zustimmend, in den Voraussetzungen aber sehr eng: GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 90–109. 6 EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 45. 7 EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 47.
Heuschmid/Schierle
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309
§5
Rz. 127
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
mestaat gerichtlich geltend zu machen, weil sie mangels Fälligkeit noch keinen einklagbaren Anspruch auf Zahlung gegenüber dem Arbeitgeber hätten. Eine Fälligkeitsregelung trägt deshalb dazu bei, eines der zentralen Ziele der Entsenderichtlinie überhaupt zu erfüllen, nämlich ein Mindestmaß an Schutz für entsandte Arbeitnehmer zu gewährleisten, wozu insbesondere die tatsächliche Auszahlung des Mindestlohns gehört. Nur wenn der Arbeitnehmer in absehbarer Zeit nach Erbringung der Arbeitsleistung auch tatsächlich über seinen Lohn verfügen kann, ist er in der Lage, davon seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Fehlen dagegen Regelungen zur Fälligkeit, kann sich die Auszahlung des dem Arbeitnehmer zustehenden Lohns erheblich verzögern und dem Arbeitnehmer würde der mit der Entsenderichtlinie bezweckte Schutz entzogen. Zudem ist eine effektive staatliche Kontrolle der Einhaltung von Mindestarbeitsbedingungen ohne Fälligkeitsregelung praktisch unmöglich. Auch dies würde dazu führen, dass entsandten Arbeitnehmern der mit der Entsenderichtlinie bezweckte Schutz entzogen würde. 127
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Ents-RL umfasst auch die mit dem Mindestlohnanspruch untrennbar verbundenen Modalitäten. Dazu zählen insbesondere die Regelungen über Abtretung1 oder Aufrechnung. Denn die sachrechtliche Vereinbarung über die Abtretung einer Forderung kann keinem anderen Recht unterliegen als die zugrunde liegende Forderung selbst. Anderenfalls würde die Möglichkeit eines Gläubigerwechsels und damit die Verkehrsfähigkeit einer Forderung erheblich eingeschränkt, da der neue Gläubiger immer überprüfen müsste, ob nicht ggf. aus einer anderen Rechtsordnung ein Abtretungsverbot greift. Dies würde die Rechtssicherheit im europäischen Rechtsraum erheblich beeinträchtigen.
128
Dieses Ergebnis entspricht auch der Wertung der maßgeblichen Vorschriften der Rom I-Verordnung (insbesondere Art. 12, 14 und 17), die allerdings aufgrund der Sonderanknüpfung nach Art. 9 Rom I-VO in Verbindung mit den Eingriffsnormen der Entsenderichtlinie nicht anwendbar sind. Die Regelungen der der Entsenderichtlinie gehen als Spezialregelung vor. Gleichwohl zeigt Art. 14 Abs. 2 Rom I-VO, dass auch der EU-Gesetzgeber die Gefahr einer Beeinträchtigung der Rechtssicherheit bei der Frage der Abtretbarkeit von Forderungen berücksichtigt hat. Nach Art. 14 Abs. 2 Rom I-VO bestimmt das Recht, dem die konkrete Forderung unterliegt, auch ihre Übertragbarkeit. Im Gegensatz zu anderen Vorschriften der Rom I-Verordnung wird bei Art. 14 Abs. 2 Rom I-VO ebenso wie bei der Frage der Aufrechnung nach Art. 17 Rom I-VO gerade nicht auf den Vertrag als Ganzes abgestellt, sondern auf die konkrete Forderung. Diese Unterscheidung ist deshalb erforderlich, weil bereits aufgrund der kollisionsrechtlichen Regelungen der Rom I-Verordnung selbst eine konkrete Forderung einem anderen Recht unterliegen kann, als der übrige Vertrag. Mit der Anknüpfung an die konkrete Forderung wird richtigerweise klargestellt, dass für die Frage der Abtretung einer Forderung das Recht Anwendung findet, dem die Forderung selbst unterliegt, auch wenn dieses Recht ggf. vom auf den übrigen Vertrag anwendbaren Recht abweicht. Damit haben auch die für die Abwicklung des Anspruchs maßgeblichen Regelungen Teil an der kollisionsrechtlichen Wirkung von Art. 3 Ents-RL und damit an der Wirkung als Eingriffsnorm i.S.d. Art. 9 Rom I-VO.2 1 Dem EuGH liegt derzeit in der Rs. C-396/13 die Frage zur Entscheidung vor, ob ein Abtretungsverbot für Lohnforderungen im Herkunftsstaat im Aufnahmestaat unangewendet bleiben muss, wenn dort die Übertragung einer Lohnforderung auf eine Gewerkschaft zugelassen ist (Vorlagefrage 2). 2 GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 57, kommt für die Abtretung unter Anwendung von Art. 14 Abs. 2 Rom I-VO in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Ents-RL zum selben Ergebnis.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 132
§5
(2) Vergleich des Entgelts im Herkunftsstaat mit dem fälligen Mindestlohn im Aufnahmestaat. Ausgangspunkt für die Bestimmung des Mindestlohnanspruchs des Arbeitnehmers im Aufnahmestaat ist der dort festgelegte Begriff der Mindestlohnsätze. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist daran anschließend die Frage, wie der Mindestlohnsatz im Aufnahmestaat mit dem Lohn, den der Arbeitgeber mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten dem entsandten Arbeitnehmer tatsächlich zahlt, zu vergleichen ist. Es geht um die Frage, ob der Mindestlohnanspruch des entsandten Arbeitnehmers durch eine Zahlung des Arbeitgebers erfüllt wurde und welche Bestandteile dabei anzurechnen sind. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Zulagen und Zuschläge ein Mitgliedstaat als Bestandteile des Mindestlohns berücksichtigen muss, wenn er prüft, ob der Mindestlohnanspruch des entsandten Arbeitnehmers erfüllt wurde.
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Die Entsenderichtlinie regelt die Frage der Anrechnung von Vergütungsbestandteilen auf den Mindestlohn nicht. Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 Ents-RL enthält lediglich eine Spezialregelung zur Behandlung von Entsendezulagen. Diese sind auf den Mindestlohn anzurechnen, allerdings nur soweit sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z.B. Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt werden.1 Ausgangpunkt für die Frage der Anrechnung ist daher ebenso wie bei der Definition des Begriffs Mindestlohnsätze das nationale Recht bzw. die einschlägigen Praktiken des Aufnahmestaates. Durch Auslegung ist zu ermitteln, welche Vergütungsbestandteile Teil der gesetzlichen oder tarifvertraglichen Mindestlohnvorgaben sind.
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Auch der EuGH2 hat keine umfassenden Vorgaben für die Anrechnung von Vergütungsbestandteilen gemacht. Der EuGH hat lediglich festgestellt, dass diejenigen Zulagen und Zuschläge, die nicht durch die Rechtsvorschriften oder die Praktiken des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird, als Bestandteile des Mindestlohns definiert werden und die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, jedenfalls nicht aufgrund der Entsenderichtlinie als Bestandteile des Mindestlohns betrachtet werden können. Zur Begründung führte der Gerichtshof aus, es sei völlig normal, dass der Arbeitnehmer, der auf Verlangen des Arbeitgebers ein Mehr an Arbeit oder Arbeitsstunden unter besonderen Bedingungen leistet, einen Ausgleich für diese zusätzliche Leistung erhält, ohne dass dieser bei der Berechnung des Mindestlohns berücksichtigt wird. Die Qualitätsprämien sowie Schmutz-, Erschwernis- oder Gefahrenzulagen, brauchten daher nicht auf die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gewährung des Mindestlohns angerechnet zu werden.3
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Der EuGH hat damit das gemeinsame Grundverständnis der Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei einem Arbeitsverhältnis um ein Austauschverhältnis handelt, bei dem die Leistungen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Dabei erbringt der Arbeitgeber mit seiner Zahlung die Gegenleistung für die Arbeit des Arbeitnehmers. Die Zahlung erfolgt also, um die Leistung des Arbeitnehmers zu vergüten. Da der Arbeitgeber den Lohn (nur) bezahlt,
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1 GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 110-114, spricht sich dafür aus, bereitgestellte Unterkunft und Essensgutscheine zu behandeln wie eine Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z.B. Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten. Solche Leistungen dürfen demnach nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden. 2 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 – Kommission/Deutschland, Slg. 2005, I-2733; bestätigt durch EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht. 3 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 – Kommission/Deutschland, Slg. 2005, I-2733 – Rz. 40; v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht – Rz. 38 f.
Heuschmid/Schierle
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311
§5
Rz. 133
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
um die Arbeitsleistung zu erhalten und gleichzeitig der Arbeitnehmer (nur) arbeitet, um die Bezahlung zu erhalten, beinhaltet der Begriff „Mindestlohnsätze“ damit das – auch unionsrechtliche – Grundverständnis, dass sich die Leistungen von Arbeitnehmer (Arbeitsleistung) und Arbeitgeber (Bezahlung) gegenseitig bedingen und in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen (Synallagma). 133
Aus diesem Verständnis des Begriffs Mindestlohnsätze im Sinne der Entsenderichtlinie folgt, dass Zahlungen des Arbeitgebers, die innerhalb des bestehenden Synallagma erfolgen, dieses also nicht verändern, anzurechnen sind auf die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung des Mindestlohns. Umgekehrt sind Leistungen, die das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verändern, nicht anzurechnen auf die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Mindestlohn zu zahlen.
134
Wird ein Mindestlohnsatz in einem Tarifvertrag festgelegt, ist für die Bestimmung des Synallagmas der Wille der Tarifvertragsparteien maßgeblich, der durch Auslegung zu ermitteln ist. Das Austauschverhältnis, das durch die dafür zuständigen Tarifvertragsparteien ausgehandelt wurde, darf nicht durch Eingriffe Dritter gestört werden. Die Tarifvertragsparteien bestimmen in dem Tarifvertrag die Höhe der Mindestentgeltsätze (Lohn pro Arbeitsstunde), die der Arbeitgeber zu zahlen hat und definieren damit im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie die Gegenleistung für die vom Arbeitnehmer zu erbringende Arbeitsleistung. Gleichzeitig bestimmen die Tarifvertragsparteien im jeweiligen Mindestlohntarifvertrag jedenfalls „mittelbar“, welche Arbeitsleistungen mit dem Mindestentgeltsatz abgegolten werden sollen. Sie definieren damit die Gegenleistung für die vom Arbeitgeber zu zahlenden Mindestentgeltsätze sowie gleichzeitig das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung.
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Verlangt ein Arbeitgeber über die Normalleistung hinaus von einem Arbeitnehmer, dass er bei seiner Arbeit besondere Erschwernisse auf sich nimmt, wie z.B. Überstunden, Nachtarbeit oder Arbeit unter besonderen Gefahren oder Schwierigkeiten, so ist diese zusätzliche Leistung nicht durch das tarifvertragliche Grundgehalt abgegolten, sondern muss zusätzlich entlohnt werden. Eine Störung des Austauschverhältnisses liegt dabei nicht nur dann vor, wenn die Relation zwischen Entgelt und Arbeitszeit verändert wird, sondern auch dann, wenn die Relation zwischen Entgelt und der Art geleisteten Arbeit verändert wird.
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Vom Arbeitnehmer darf also nicht verlangt werden, für dasselbe Geld mehr oder unter erschwerten Umständen zu arbeiten. Konsequenterweise dürfen dann auch nicht Zulagen und Zuschläge, die ihrer Zweckbestimmung nach den Gegenwert für ein Mehr an Arbeit darstellen, als Erfüllung des Mindestlohns gewertet werden.
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Die Auslegung der Entsenderichtlinie durch den EuGH bindet auch bei Inlandsfällen, soweit nationale und grenzüberschreitende Sachverhalte durch den Gesetzgeber gleich behandelt werden.1 Der Formel des EuGH2 wonach Zulagen und Zuschläge, die im Zielmitgliedstaat nicht als Bestandteile des Mindestlohns gelten und die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, nicht als Bestandteile des Mindestlohns betrachtet werden, entspricht die Rechtsprechung des BAG zur funktionalen Gleichwertigkeit.3 Bei der Anrechnung von Leistungen auf tariflich begründete 1 Brors, NZA 2014, 938. 2 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 – Kommission/Deutschland, Slg. 2005, I-2733 – Rz. 40; v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht – Rz. 38 f. 3 BAG v. 30.3.2004 – 1 AZR 85/03 – Rz. 45 f.
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Entsenderichtlinie
Rz. 141
§5
Forderungen sei darauf abzustellen, ob die vom Arbeitgeber erbrachte Leistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung des Arbeitnehmers entgelten solle, die mit der tariflich begründeten Zahlung zu vergüten sei. Daher sei mit dem erkennbaren Zweck des tariflichen Mindestlohns, den der Arbeitnehmer als unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit begehre, der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers, die dieser aufgrund anderer individual oder kollektivrechtlicher Regelungen erbracht habe, gegenüberzustellen. Bestehe demnach eine funktionale Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Leistungen, sei die erbrachte Leistung auf den zu erfüllenden Anspruch anzurechnen.1 Das BAG prüft daher, welche „Normaltätigkeit“ der tarifvertragliche Mindestlohn nach dem Willen der Tarifvertragsparteien entlohnen soll bzw. welche Tätigkeiten der Mindestlohn gerade nicht entlohnen soll, z.B. weil gesonderte Zulagen vorgesehen sind. Je nachdem sind Zahlungen des Arbeitgebers auf den Mindestlohn anzurechnen oder nicht.2 Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des EuGH davon auszugehen, dass ein 13. oder 14. Monatsgehalt als Bestandteil des Mindestlohns zu berücksichtigen ist, sofern es während der Entsendung des Arbeitnehmers regelmäßig, anteilig, tatsächlich und unwiderruflich gezahlt und dem Arbeitnehmer zum vorgesehenen Fälligkeitsdatum zur Verfügung gestellt wird.3 Diese Kriterien gelten auch für andere Sonderzahlungen wie z.B. Jubiläumsprämien, Ergebnisbeteiligungen oder Weihnachtsgeld.4
138
Tarifvertraglich vereinbarte pauschale Zahlungen, die die Anwendung einer neuen Lohntabelle antizipieren sollen und damit eine Lohnerhöhung als Gegenleistung für die Arbeit darstellt, sind als Bestandteil des Mindestlohns zu berücksichtigen.5 Vermögenswirksame Leistungen sind regelmäßig nicht auf den Mindestlohn anzurechnen.6 Sie dienen der Vermögensbildung beim Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum und unterscheiden sich daher vom Lohn im eigentlichen Sinne.
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Beim Vergleich des anzuwendenden Mindestlohnsatzes und dem tatsächlich gezahlten Lohn ist auf den Bruttolohn abzustellen.7 Für den Fall, dass der Mindestlohn im Aufnahmestaat oder das Entgelt, das nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Arbeitsrecht zu zahlen wäre, nicht pro Arbeitsstunde festgelegt ist, sind beim Vergleich die Relation zwischen Arbeitsentgelt und Anzahl der zu leistenden Arbeitsstunden sowie alle sonstigen Faktoren zu berücksichtigen.8
140
(3) Öffentliche Auftragsvergabe. Mindestlohnvorgaben bei der Ausschreibung öffentlicher Aufträge sind grundsätzlich möglich. Art. 26 Richtlinie 2004/18/EG9 sieht ausdrücklich vor, dass soziale Aspekte bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen berück-
141
1 BAG v. 18.4.2012 – 4 AZR 139/10 – Rz. 28. 2 BAG v. 18.4.2012 – 4 AZR 139/10 – Rz. 31; Zur Anrechenbarkeit von Spätschichtzuschlägen und der Nichtanrechenbarkeit von Zulagen für Nachtarbeit und vermögenswirksamen Leistungen in der Abfallwirtschaft: BAG v. 16.4.2014 – 4 AZR 802/11. 3 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 – Kommission/Deutschland, Slg. 2005, I-2733 – Rz. 31. 4 Koberski u.a., § 5 Rz. 16. 5 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht – Rz. 42. 6 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 – Isbir, noch nicht veröffentlicht – Rz. 44. 7 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 – Kommission/Deutschland, Slg. 2005, I-2733 – Rz. 29. 8 Erklärung des Rates und der Kommission zu Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Abs. 7 bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1. 9 Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. Nr. L 134 v. 30.4.2004, S. 114.
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§5
Rz. 142
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
sichtigt werden können. Allerdings sind dabei die Anforderungen der Entsenderichtlinie zu berücksichtigen.1 Bei der öffentlichen Auftragsvergabe kann die Einhaltung von Mindestlöhnen gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c Ents-RL verlangt werden, die sich aus Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder allgemeinverbindlichen Tarifverträgen i.S.d. Art. 3 Abs. 8 Ents-RL ergeben.2 Das dürfte auch bezifferte Mindestlohnvorgaben in Vergabegesetzen einschließen.3 Bei der öffentlichen Auftragsvergabe im Verkehrsbereich sind Tariftreueklauseln weiterhin möglich. Es gelten die besonderen Bestimmungen der Verordnung (EG) 1370/2007.4 142
Das Thema Lohnvorgaben bei der öffentlichen Auftragsvergabe ist in der Entsenderichtlinie nicht erwähnt. Es bekam durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Rüffert5 große Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit bezieht sich zumindest in der europäischen Diskussion weniger auf die Folgen für das deutsche Vergaberecht, sondern auf die Unsicherheit, die das Urteil im Hinblick auf die Vereinbarkeit des ILO-Übereinkommens Nr. 946 mit der Entsenderichtlinie hervorgerufen hat.7
143
Das Urteil betraf zwar nicht das ILO-Übereinkommen Nr. 94, denn Deutschland hatte das Abkommen nicht ratifiziert, allerdings zielen die niedersächsische Tariftreueregelung, die der EuGH für unvereinbar mit der Entsenderichtlinie hielt, und Art. 2 des ILO-Übereinkommens Nr. 94 durchaus in die gleiche Richtung.8 Im Kern geht es um die Frage, welchen Charakter Tarifverträge haben müssen, deren Einhaltung im Rahmen von öffentlichen Aufträgen verlangt wird. Während sich Art. 3 Abs. 8 Unterabs. 1 Ents-RL auf allgemeinverbindliche Tarifverträge bezieht, die von „allen“ Unternehmen in einem Gebiet einzuhalten sind, verlangt Art. 2 Abs. 1 ILOÜbereinkommen Nr. 94 die Anwendung von Tarifverträgen, die für „wesentliche Teile“ der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem bestimmten Gebiet gelten. Die Anforderungen die sich aus dem ILO-Übereinkommen Nr. 94 ergeben, könnten daher im Einzelfall höher sein, als es die Entsenderichtlinie erlaubt.9 Das hängt allerdings maß1 EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 18. Wittjen, ZfBR 2009, 30, sieht dagegen die Richtlinie 2004/18/EG als Spezialregelung zur Entsenderichtlinie an. 2 Zu den Gestaltungsmöglichkeiten des nationalen Gesetzgebers s. u.a.: Koberski/Schierle, RdA 2008, 233; Steiff/André, NZBau 2008, 364; in der Auslegung der Rüffert-Entscheidung zu eng: Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183; Bayreuther, NZA 2008, 626. 3 Ein entsprechendes Vorabentscheidungsersuchen des OLG Koblenz (Beschl. v. 19.2.2013 – 1 Verg 8/13) zu § 3 Abs. 1 LTTG liegt derzeit dem EuGH – Rs. C-114/14 – RegioPost, zur Entscheidung vor. Zustimmend Rödel, EuZW 2011, 292; ablehnend Csaki/Freundt, KommJur 2012, 246. In einem Verfahren, das keinen Bezug zur Entsenderichtlinie aufweist, hat der EuGH entschieden, dass die bezifferte Mindestlohnvorgabe des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 TVgG NRW nicht auf Nachunternehmer anwendbar ist, die eine Dienstleistung ausschließlich im Herkunftsstaat erbringen, EuGH v. 18.9.2014 – Rs. C-549/13 – Bundesdruckerei GmbH gegen Stadt Dortmund, noch nicht veröffentlicht. Zu § 4 Abs. 3 TVgG NRW s. auch Glaser/Kahl, ZHR 2013, 643; zu beiden Verfahren ausführlich: Däubler, NZA 2014, 694. 4 Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rate, ABl. Nr. L 315 v. 3.12.2007, S. 1. Dazu Bayreuther, EuZW 2009, 102 und Röbke, LKV 2011, 337. 5 EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989. 6 Übereinkommen über die Arbeitsklauseln in den von Behörden abgeschlossenen Verträgen, 1949. Die folgenden EU-Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen ratifiziert: Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Niederlande, Spanien und Italien. 7 SWD(2012) 63 final, S. 37 f. 8 Grundsätzlich berücksichtigt der EuGH ILO-Normen bei der Auslegung von EU-Recht, vgl. dazu Heuschmid/Klebe, Arbeitsvölkerrecht, S. 336, 341 ff. 9 Däubler, NZA 2014, 694 (699ff), kommt mit guten Argumenten zum Ergebnis, dass sich aus dem ILO-Übereinkommen Nr. 94 ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Inhalts ableiten lässt,
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Entsenderichtlinie
Rz. 147
§5
geblich vom jeweiligen nationalen Tarifvertragssystem ab. Eine generelle Unvereinbarkeit von ILO-Übereinkommen Nr. 94 mit der Entsenderichtlinie lässt sich aus dem Rüffert-Urteil nicht ableiten.1 Dennoch hat das Urteil bei einer großen Anzahl von Mitgliedstaaten für ernste Irritationen gesorgt. Denn bei Verabschiedung der Entsenderichtlinie hatten immerhin acht von damals fünfzehn Mitgliedstaaten das ILO-Übereinkommen Nr. 94 ratifiziert. Deutschland hatte das Abkommen zwar nicht ratifiziert, einzelne Bundesländer hatten aber zu diesem Zeitpunkt entsprechende Landesvergabegesetze, einschließlich Tariftreueregelungen. Das Verhältnis von Entsenderichtlinie zum ILO-Übereinkommen Nr. 94 und zum Vergaberecht war deshalb Gegenstand der Verhandlungen über die Entsenderichtlinie. Insbesondere wurde die ursprünglich vorgesehene obligatorische Schwellenfrist von drei Monaten aus dem Richtlinien-Entwurf gestrichen. Die betroffenen Mitgliedstaaten hielten damit ihre Vergabegesetze und ihre Verpflichtungen aus dem ILO-Übereinkommen Nr. 94 für mit der Entsenderichtlinie vereinbar.
144
Bis zu den Urteilen Laval und Rüffert2 wurde die Richtlinie überwiegend dahingehend interpretiert, dass der Aufnahmestaat günstigere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf entsandte Arbeitnehmer erstrecken durfte, soweit dies mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar war. In diesem Sinne interpretiert auch Generalanwalt Bot in der Rechtssache Rüffert Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 1 Ents-RL; ein verstärkter nationaler Schutz sei demnach zulässig.3 Zwar bezieht sich Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 1 Ents-RL zunächst auf günstigere Arbeitsbedingungen des entsandten Arbeitnehmers im Herkunftsstaat. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass dadurch ein verstärkter nationaler Schutz ausgeschlossen sein sollte. Insofern muss sich der EuGH den vielfach erhobenen Vorwurf gefallen lassen, die Rechtsposition entsandter Arbeitnehmer verschlechtert zu haben. (vgl. Rz. 152 ff.)
145
b) Ausnahmen (Abs. 2 bis 5) Art. 3 Abs. 2 bis 5 Ents-RL sehen Ausnahmen von der Anwendung bestimmter zwingender Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vor. Die Ausnahmen betreffen die arbeitszeit- und urlaubsrechtlichen Regelungen sowie die Bestimmungen über Mindestlohnsätze.
146
Die einzige verbindliche Ausnahme findet sich in Art. 3 Abs. 2 Ents-RL. Danach finden die Reglungen im Aufnahmestaat über bezahlten Mindesturlaub und Mindest-
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dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei öffentlichen Aufträgen Löhne und Arbeitsbedingungen vorzuschreiben, die nicht schlechter sind als die vergleichbarer Arbeitnehmer im Inland. Dann hätte das Sekundarrecht diesem allgemeinen Rechtsgrundsatz Rechnung zu tragen. 1 Im Ergebnis so wohl auch Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 268. Die Europäische Kommission hat keinen der betroffenen Mitgliedstaaten zur Kündigung des Abkommens aufgerufen, im Gegenteil: Im Juli 2008 – also nach dem Rüffert-Urteil – hat die Kommission die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen alle von der ILO als „up-to-date“ eingestuften Übereinkommen zu ratifizieren, COM(2008)412 final. Dazu gehört auch das Übereinkommen Nr. 94. Würde jedoch die Unvereinbarkeit des Übereinkommens mit EU-Recht durch den EuGH ausdrücklich festgestellt, könnten die Mitgliedstaaten gem. Art. 351 AEUV verpflichtet sein, das Übereinkommen unter Einhaltung der Kündigungsfrist zu kündigen. Vgl. dazu auch EuGH v. 1.2.2005 – Rs. C-203/03, Kommission/Österreich, Slg. 2005, I-935 – Rz. 57–65, bezüglich ILOÜbereinkommen Nr. 45. 2 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989. 3 GA Bot v. 20.9.2007 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 94.
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Rz. 148
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
lohnsätze keine Anwendung bei Erstmontage- und/oder Einbauarbeiten, die Bestandteil eines Liefervertrags sind, für die Inbetriebnahme der gelieferten Güter unerlässlich sind und von Facharbeitern und/oder angelernten Arbeitern des Lieferunternehmens ausgeführt werden, wenn die Dauer der Entsendung acht Tage nicht übersteigt. 148
Die Ausnahmen der Abs. 3 bis 5 sind optional ausgestaltet, das heißt, die Mitgliedstaaten können die Ausnahmen vorsehen, müssen es aber nicht.1 Abs. 3 erlaubt es von der Erstreckung der Mindestlohnsätze abzusehen, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt und es sich nicht um die Entsendung von Leiharbeitnehmern handelt.
149
Gemäß Abs. 4 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass durch allgemeinverbindlichen Tarifvertrag von den Mindestlohnsätzen abgewichen werden kann, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt und es sich nicht um die Entsendung von Leiharbeitnehmern handelt. In diesem Zusammenhang können die Mitgliedstaaten auch eine Rückausnahme durch allgemeinverbindlichen Tarifvertrag von der Nichterstreckung nach Abs. 3 vorsehen.
150
Die Mitgliedstaaten können außerdem gem. Abs. 5 von der Erstreckung der Mindestlohnsätze und des bezahlten Mindestjahresurlaubes absehen, wenn der Umfang der zu verrichtenden Arbeiten gering ist und es sich nicht um die Entsendung von Leiharbeitnehmern handelt. In diesem Fall muss der jeweilige Aufnahmestaat festlegen, was unter Arbeiten von geringem Umfang zu verstehen ist.
151
Deutschland hat von den optionalen Ausnahmen in den Abs. 3 bis 5 keinen Gebrauch gemacht. c) Günstigkeitsprinzip (Abs. 7 Unterabs. 1)
152
Gemäß Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 1 Ents-RL steht Art. 3 Abs. 1 bis 6 der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen. Die Vorschrift bezieht sich nach der Rechtsprechung des EuGH in den Urteilen Laval und Rüffert2 ausschließlich auf günstigere Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Herkunftsstaat, auf die auch Erwägungsgrund 17 verweist, nicht jedoch auf günstigere Bedingungen im Aufnahmestaat. Art. 3 Abs. 7 Ents-RL lasse sich nicht dahin auslegen, dass er es einem Aufnahmemitgliedstaat erlaube, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz hinausgehen. Für die in ihrem Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a bis g Ents-RL genannten Aspekte sehe nämlich die Entsenderichtlinie ausdrücklich den Grad an Schutz vor, den der Aufnahmemitgliedstaat in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen zugunsten der von diesen in sein Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern abzuverlangen berechtigt sei.
1 Die Mitgliedstaaten haben von dieser Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht, vgl. dazu Report from the Commission services on the implementation of Directive 96/71/EC of the European Parliament and of the Council of 16 December 1996 concerning the posting of workers in the framework of the provision of services, 2003, und zu den neuen Mitgliedstaaten Implementation Report Directive 96/71/EC concerning posting of workers in the framework of the provision of services, 2006, beide verfügbar unter: http://ec.europa.eu/social/posted-workers. 2 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 – Rz. 80; v. 3.4.2008 – Rs. 346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 33.
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Entsenderichtlinie
Rz. 156
§5
Ferner liefe eine derartige Auslegung darauf hinaus, der genannten Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen.1 Der EuGH geht davon aus, dass Art. 3 Ents-RL das Schutzniveau entsandter Arbeitnehmer abschließend koordiniert. Ein verstärkter nationaler Schutz im Aufnahmestaat ist nur in den Grenzen von Art. 3 Abs. 10 Ents-RL zulässig (vgl. Rz. 168 ff.).
153
Diese Auslegung des Günstigkeitsprinzips durch den EuGH ist umstritten und hat viel Kritik hervorgerufen.2 Die Generalanwälte Mengozzi und Bot hatten in ihren Schlussanträgen eine gegenteilige Auffassung vertreten. Demnach habe die Vorschrift zwei Aspekte. Zum einen bedeute sie, dass der zwingende Charakter der im Staat der Leistungserbringung geltenden Schutzbestimmungen hinter der Anwendung der in dem Staat geltenden Vorschriften zurücktreten könne, in dem der Leistungserbringer niedergelassen sei, sofern diese Vorschriften für die entsandten Arbeitnehmer günstigere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vorsehe. Zum anderen könnten die Aufnahmestaaten aufgrund des Art. 3 Abs. 7 Ents-RL in den Bereichen des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie auch das Sozialschutzniveau verbessern, das sie den auf ihrem Hoheitsgebiet tätigen Arbeitnehmern garantieren wollten und das sie damit auf die in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmer anwenden könnten. Die Bestimmung erlaube somit grundsätzlich einen verstärkten nationalen Schutz, der jedoch die Grenzen von Art. 56 AEUV zu beachten habe.3
154
In der hitzig geführten Diskussion um die Auslegung von Art. 3 Abs. 7 wird immer wieder behauptet, der EuGH hätte aus einer Mindestschutz- eine Höchstschutzrichtlinie gemacht. Das stimmt zum Teil, führt aber auch in die Irre. Denn das Schutzniveau entsandter Arbeitnehmer wurde und wird nach wie vor maßgeblich durch die von den Mitgliedstaaten gem. Art. 3 Abs. 1 und Abs. 8 Ents-RL festgelegten Arbeits- und Beschäftigungsbestimmungen bestimmt. Die Auslegung des Günstigkeitsprinzips durch den EuGH hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, ein hohes Mindestschutzniveau vorzusehen. Sozialpolitisch problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass einige Mitgliedstaaten z.B. keine Mindestlohnvorgaben machen, die auf entsandte Arbeitnehmer erstreckt werden könnten.4 Trotzdem haben die Urteile negative Auswirkungen auf den Arbeitnehmerschutz im Vergaberecht und problematische Auswirkungen auf das dänische und schwedische Tarifvertragssystem.5
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d) Allgemeinverbindliche Tarifverträge (Abs. 8) Die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a bis g Ents-RL genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen können „durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche i.S.d. Abs. 8“ festgelegt werden. Art. 3 Abs. 8 Ents-RL definiert, was unter „für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen oder Schiedssprüchen“ zu verstehen ist.
1 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 – Rz. 80; v. 3.4.2008 – Rs. 346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 33. 2 Ausführlich Velikova, Arbeitnehmerentsendung und Kollektivvertragssystem, S. 216 ff.; SWD(2012) 63 final, S. 14 f. und 37 f. 3 GA Bot v. 20.9.2007 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 82–84. In diesem Sinne auch Scholz/Becker/Kokott, Die Auswirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten, S. 25. 4 Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise die Diskussion um die Arbeitsbedingungen entsandter Arbeitnehmer in der deutschen Fleischindustrie. 5 Evju, EuZA 2010, 48 (60).
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§5
Rz. 157
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
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Für Mitgliedstaaten wie Deutschland, die über ein System zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen und Schiedssprüchen verfügen, ist ausschließlich Art. 3 Abs. 8 Unterabs. 1 Ents-RL anzuwenden.1 Die Unterabs. 2 und 3 finden nur Anwendung auf Mitgliedstaaten, die nicht über ein solches System verfügen, wie z.B. Dänemark oder Schweden.
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Nach Unterabs. 1 sind „für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen oder Schiedssprüchen“ solche Tarifverträge oder Schiedssprüche, die von allen in den jeweiligen geographischen Bereich2 fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind. Der EuGH legt besonderes Augenmerk darauf, dass tatsächlich „alle“ Unternehmen erfasst sind und ausländische Dienstleistungserbringer nicht schlechter behandelt werden.3 Öffnungsklauseln, die eine Abweichung nach unten vom allgemeinverbindlichen Tarifvertrag zulassen, schließen die Anwendbarkeit auf entsandte Arbeitnehmer demnach aus. Das gilt zumindest, wenn ausländische Dienstleistungserbringer nicht gleichermaßen von solchen Öffnungsklauseln profitieren können.4
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Nach Unterabs. 2 können Mitgliedstaaten, die über kein System zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verfügen, Tarifverträge oder Schiedssprüche zugrunde legen, die für alle in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam sind. Alternativ oder kumulativ können sie Tarifverträge zugrunde legen, die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen. In beiden Fällen setzt die Anwendung eine Gleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Unternehmen voraus.5
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Gleichbehandlung in diesem Sinne wird in Unterabs. 3 definiert und liegt vor, wenn für die inländischen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, am betreffenden Ort oder in der betreffenden Sparte dieselben Arbeits- und Beschäftigungen i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 gelten wie für die Entsendeunternehmen und diese Anforderungen ihnen gegenüber mit derselben Wirkung durchgesetzt werden können.
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Die Anwendung von Tarifverträgen gem. Unterabs. 2 erfordert nach der Rechtsprechung des EuGH eine entsprechende Entscheidung des Mitgliedstaates.6 Dies leitet der EuGH aus dem Wortlaut von Unterabs. 2 ab, in dem es heißt „so können die Mitgliedstaaten auch beschließen“. Erforderlich ist demnach wohl eine Festlegung auf die Anwendung von Unterabs. 2 in gesetzlichen oder Verwaltungsvorschriften. 1 EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 27. 2 Zur Erstreckung regionaler Tarifverträge: Rödl, WSI Mitteilungen 2012, 517. 3 In EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 – Portugaia, Slg. 2002, I-787, erklärte der EuGH einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für nicht auf entsandte Arbeitnehmer anwendbar, weil er eine Öffnungsklausel für Firmentarifverträge enthalte, die es erlaube die Vorgaben des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages zu unterschreiten. Der entschiedene Sachverhalt war allerdings rein hypothetischer Natur. GA Wahl v. 18.9.2014 – Rs. C-396/13 – Sähköalojen ammattiliitto, noch nicht veröffentlicht – Rz. 60-65. Auch in EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 – Rüffert, Slg. 2008, I-1989 – Rz. 39, störte sich der EuGH daran, dass der streitige Tarifvertrag nur für einen Teil der Bautätigkeit anwendbar war. 4 Zum selben Ergebnis kommt wohl Maier, NZA 2009, 351. 5 Zur Abschwächung des ursprünglichen Richtlinienentwurfes der Kommission und des entfallenen „erga omnes“-Erfordernisses: Davies, CLM Rev. 1997, 571 (580). 6 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 – Rz. 66.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 165
§5
Im Hinblick auf das bis zur Laval-Entscheidung in Schweden praktizierte Modell, die Lohnsätze von entsandten Arbeitnehmern in Tarifverhandlungen im Einzelfall festzulegen, hat der EuGH ausgeführt, dass ein Mitgliedstaat, in dem Mindestlohnsätze nicht auf eine in Art. 3 Abs. 1 und 8 Ents-RL vorgesehene Weise bestimmt werden, nicht berechtigt sei, nach dieser Richtlinie den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen im Rahmen einer länderübergreifenden Dienstleistungserbringung abzuverlangen, von Fall zu Fall am Arbeitsort unter Berücksichtigung der Qualifikation und der Aufgaben der betroffenen Arbeitnehmer Verhandlungen zu führen, damit diese Unternehmen Kenntnis von den Löhnen erhielten, die sie an ihre entsandten Arbeitnehmer werden zahlen müssten.1 Damit ist auch angesprochen, dass für Entsendeunternehmen klar erkennbar sein muss, welche Arbeitsbedingungen im Aufnahmestaat einzuhalten sind.
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Die Rechtsprechung des EuGH2 zu Art. 3 Abs. 8 Ents-RL kam insbesondere für Dänemark und Schweden überraschend und erforderte Änderungen an den nationalen Gesetzen und Praktiken.3 Überraschend insofern, als insbesondere das dänische Modell bei den Richtlinienverhandlungen bekannt war und auf Grund der in den Richtlinienverhandlungen gefundenen Formulierungen unverändert beibehalten werden sollte.4 Diese Annahme durchkreuzte der EuGH elf Jahre später.
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e) Leiharbeit (Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d und Abs. 9) Vorgaben zur Leiharbeit finden sich in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d und Abs. 9 Ents-RL sowie in Erwägungsgrund 19, der ausführt, dass die Richtlinie weder die Verpflichtung zur rechtlichen Anerkennung der Existenz von Leiharbeitsunternehmen beinhalte, noch hindere sie die Mitgliedstaaten, ihre Rechtsvorschriften über das Zurverfügungstellen von Arbeitskräften und über Leiharbeitsunternehmen auf Unternehmen anzuwenden, die nicht in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassen, dort aber im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen tätig seien.
164
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d Ents-RL nennt die Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen als Teil der anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Aufnahmestaat. Das systematische Verhältnis zu Art. 3 Abs. 9 Ents-RL ist nicht ganz eindeutig. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d Ents-RL schließt inzwischen die Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie sowie in Deutschland des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein. Neben den anwendbaren Arbeitsbedingungen umfasst die Vorschrift auch mögliche Restriktionen. Demnach können Mitgliedstaaten, die für die Überlassung von Arbeitskräften bzw. Leiharbeit eine Erlaubnispflicht vorsehen, auch auf Entsendeleiharbeitsunternehmen anwenden. Darauf bezieht sich auch Erwägungsgrund 19. In diesem Zusammenhang sieht Art. 4 Leiharb-RL inzwischen vor, dass die Mitgliedstaaten ihre Einschränkungen und Verbote der Leiharbeit überprüfen. Das Ergebnis der Überprüfung war der Kommission bis zum 5.12.2011 mitzuteilen. Beschränkungen sind nur aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt, wozu insbesondere der Schutz der Leiharbeitnehmer, die Erfordernisse von Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz
165
1 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767 – Rz. 71. 2 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767. 3 Ausführlich zu Dänemark Lind, Formula Working Paper No. 24 (2010), S. 12 ff. Kritisch zu den schwedischen Änderungen: Entscheidung des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte vom 3.7.2013, Beschwerde Nr. 85/2012, LO und TCO gegen Schweden. 4 Evju, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies Research Paper Series No. 2013–29, S. 33 f. weißt in diesem Zusammenhang auf die Entstehungsgeschichte und die Streichung des Erfordernisses einer „Erga omnes“-Wirkung der Tarifverträge hin.
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§5
Rz. 166
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
oder die Notwendigkeit, das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes zu gewährleisten und eventuellen Missbrauch zu verhüten, gehören. 166
Die Lohnuntergrenze gem. § 3a AÜG ist als Mindestlohn für die Leiharbeit auch auf nach Deutschland entsandte Leiharbeitnehmer anzuwenden. Das ergibt sich aus § 2 AEntG, der die in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen über die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf entsandte Arbeitnehmer erstreckt (vgl. Rz. 111).
167
Art. 3 Abs. 9 Ents-RL bezieht sich auf das Schutzniveau entsandter Leiharbeitnehmer. Demnach können Mitgliedstaaten von entsendenden Leiharbeitsunternehmen verlangen, dass sie ihren entsandten Leiharbeitnehmern die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die im Aufnahmestaat für Leiharbeitnehmer gelten. Die Vorschrift wurde insbesondere auf deutschen Wunsch in die Richtlinie eingefügt, um die für Leiharbeitnehmer ungünstigen Abweichungsmöglichkeiten abzusichern – lange vor Verabschiedung der Leiharbeitsrichtlinie. Die Vorschrift ermöglicht aber auch die Erstreckung eines höheren Schutzniveaus als das Mindestschutzniveau nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL, z.B. gleiche Entlohnung wie die Beschäftigten des Entleihers („equal pay“). Außerdem können auch weitere Arbeitsbedingungen über Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL hinaus erstreckt werden, soweit dies mit Art. 56 AEUV vereinbar ist. Art. 3 Abs. 9 Ents-RL ist für die Mitgliedstaaten lediglich optional und enthält keine Verpflichtung. Inzwischen macht Art. 5 Leiharb-RL Mindestvorgaben für die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern in den Mitgliedstaaten, die auch für entsandte Leiharbeitnehmer gelten. Art. 3 Abs. 9 Ents-RL dürfte daher in der Praxis keine Rolle mehr spielen und hat lediglich noch klarstellende Funktion. f) Erstreckung weiterer Arbeitsbedingungen aus dem Bereich der öffentlichen Ordnung (Abs. 10 1. Spiegelstrich)
168
Gemäß Art. 3 Abs. 10 1. Spiegelstrich Ents-RL können die Mitgliedstaaten andere als die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf entsandte Arbeitnehmer erstrecken, wenn es sich um Vorschriften aus dem Bereich der öffentlichen Ordnung handelt, die Vorschriften für inländische und ausländische Unternehmen in gleicher Weise gelten und sie mit Art. 56 AEUV vereinbar sind.
169
Die Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des EuGH eng auszulegen. Grundsätzlich sind die anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Ents-RL wohl nahezu abschließend aufgezählt. Art. 3 Abs. 10 1. Spiegelstrich ist als Ausnahme von diesem Grundsatz eng auszulegen.1
170
Die Tragweite der Ausnahme kann von den Mitgliedstaaten nicht einseitig bestimmt werden. Vielmehr sind die Anforderungen hoch. Die Qualifizierung von nationalen Vorschriften durch einen Mitgliedstaat als Polizei- und Sicherheitsgesetze (vgl. Rz. 55) zielt auf die Vorschriften ab, deren Einhaltung als so entscheidend für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation des betreffen1 EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 31. Diese Auslegung durch den EuGH dürfte im Widerspruch zur Intention der Mitgliedstaaten stehen, die über diese Vorschrift die Erstreckung weiterer zwingender Arbeitsbedingungen im Sinne des internationalen Privatrechts ermöglichen wollten, vgl. dazu Piffl-Pavelec, DRdA 1997, 292 (295). Auch Davies, CLM Rev. 1997, 571 (583), weist auf den weiten Spielraum hin, den Art. 3 Abs. 10 den Mitgliedstaaten eröffnet.
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Entsenderichtlinie
Rz. 174
§5
den Mitgliedstaats angesehen wird, dass ihre Beachtung für alle Personen, die sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befinden, und für jedes dort lokalisierte Rechtsverhältnis vorgeschrieben wird.1 Der EuGH hat festgestellt, dass eine Erstreckung aufgrund von Art. 3 Abs. 10 Ents-RL für folgende Regelungen nicht in Frage kommt: Bestimmungen über den schriftlichen Arbeitsvertrag,2 die automatische Indexierung der Entlohnung, soweit es sich nicht um Mindestlöhne handelt,3 Regelungen über Teilzeit und Befristung4 und die Regelungen über Tarifverträge, wie z.B. ihr Zustandekommen und ihre Durchführung.5
171
Zu Art. 3 Abs. 10 Ents-RL haben der Rat und die Kommission bei der Verabschiedung der Richtlinie erklärt, dass unter den Worten ‚Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung‘ die verbindlichen Vorschriften zu verstehen seien, von denen nicht abgewichen werden dürfe und die nach ihrer Art und ihrem Ziel den zwingenden Erfordernissen des öffentlichen Interesses gerecht würden. Diese Vorschriften könnten insbesondere das Verbot der Zwangsarbeit oder die Beteiligung der Behörden an der Überwachung der Einhaltung der Rechtsvorschriften über die Arbeitsbedingungen umfassen.6
172
4. Art. 4 Ents-RL Art. 4 Ents-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Verwaltungszusammenarbeit. Dazu benennen die Mitgliedstaaten zuständige Stellen, sog. Verbindungsbüros.7 Es handelt sich insbesondere um die für die Überwachung der in Art. 3 Ents-RL genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zuständigen Behörden. Die Verbindungsbüros haben zwei Hauptaufgaben. Zum einen machen sie die anwendbaren Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen gem. Art. 3 Ents-RL bekannt. Zum anderen beantworten sie Anfragen der Verbindungsbüros anderer Mitgliedstaaten, um die ordnungsgemäße Anwendung der Richtlinie zu gewährleisten und Verstöße aufzuklären.
173
Die Richtlinie macht keine Vorgaben, wie die anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bekannt zu machen sind. Regelmäßig wurden in dieser Hinsicht von Seiten der Kommission Defizite beklagt.8 Nach einer Empfehlung der Kommission aus dem Jahr 20089 sollen die Mitgliedstaaten insbesondere nicht nur allgemein auf das Arbeitsrecht verweisen, sondern die anwendbaren Bestimmungen klar benennen. Das gilt insbesondere für Arbeitsbedingungen, die sich aus Tarifverträgen ergeben. Außerdem sollen die Informationen auch in andere Sprachen übersetzt und über das Internet zugänglich gemacht werden. Inzwischen verfügen alle Mitgliedstaaten
174
1 2 3 4 5 6 7
EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 29. EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 44. EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 55. EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 61. EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-04323 – Rz. 68. Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1. Die Verbindungsbüros der Mitgliedstaaten sind auf der Website der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration veröffentlicht: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=726 &langId=en. 8 SWD(2012) 63 final, S. 28. 9 Empfehlung der Kommission vom 3.4.2008 zur Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. C 85 v. 4.4.2008, S. 1.
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§5
Rz. 175
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über eine nationale Website1, allerdings besteht auch bei diesen noch Verbesserungsbedarf.2 Die Sozialpartner der Bauwirtschaft stellen für ihren Sektor umfangreiche Informationen zur Verfügung.3 175
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Rahmen der Richtlinie zusammen zu arbeiten ist umfassend. Die Behörden der Mitgliedstaaten beantworten begründete Anfragen anderer Verbindungsbüros. An die Begründung sind dabei keine besonderen Anforderungen zu stellen. In Art. 4 Abs. 2 Ents-RL wird beispielhaft auf Fragen verwiesen, die das länderübergreifende Zurverfügungstellen von Arbeitnehmern betreffen, einschließlich offenkundiger Verstöße oder Fälle von Verdacht auf unzulässige länderübergreifende Tätigkeiten. Außerdem wird die Zusammenarbeit bei der Anwendung von Art. 3 Abs. 10 Ents-RL genannt, also Arbeitsbedingungen die sich aus allgemeinverbindlichen Tarifverträgen außerhalb des Bausektors sowie aus Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung handelt.
176
Um die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu vereinfachen und zu intensivieren4, führen die Kommission und die Mitgliedstaaten derzeit ein Pilotprojekt zur Nutzung einer spezifischen Anwendung des Binnenmarkt-Informationssystems (IMI)5 für den Bereich der Arbeitnehmerentsendung durch.6 Damit haben die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, direkt auf elektronischem Weg miteinander zu kommunizieren. In den ersten Monaten des Pilotprojekts hat der Informationsaustausch zwischen den Behörden stark zugenommen.7 Durch entsprechende Anfragen soll z.B. kurzfristig geklärt werden können, ob ein Entsendeunternehmen im Herkunftsstaat tatsächlich niedergelassen ist.
177
In Deutschland sind gem. § 16 AEntG die Behörden der Zollverwaltung für die Prüfung der Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen zuständig. § 20 Abs. 2 AEntG ermächtigt sie zur Verwaltungszusammenarbeit mit den zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten.
178
Die Durchsetzungsrichtlinie soll die bestehenden Defizite im Bereich der Verwaltungszusammenarbeit beheben. Dazu macht der Richtlinienvorschlag in den Art. 5 bis 8 detaillierte Vorgaben zu Informationspflichten und zu Grundsätzen der Verwal1 Die Seiten sind auf der Website der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration verlinkt: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId= 726&langId=de. Dort ist außerdem zu jedem Mitgliedstaat ein Informationsblatt in deutscher, englischer und französischer Sprache verfügbar. Informationen zu Deutschland für Arbeitgeber: http://www.zoll.de/DE/Unterneh men/Arbeit/Arbeitgeber-mit-Sitz-außerhalb-Deutschlands/arbeitgeber-mit-sitz-außerhalb-deut schlands_node.html und für Arbeitnehmer: http://www.zoll.de/DE/Privatpersonen/Arbeit/Ar beitnehmer/Mindestarbeitsbedingungen/mindestarbeitsbedingungen_node.html. 2 Muller, Information provided on the posting of workers, 2010, verfügbar unter: http://ec.euro pa.eu/social/main.jsp?catId= 471&langId=de. 3 http://www.posting-workers.eu/. 4 Eine Umfrage bei den Mitgliedstaaten im Jahr 2007 ergab, dass nur eine sehr geringe Zahl von Anfragen bei den Behörden anderer Mitgliedstaaten gestellt wurden, vgl. KOM (2007), 304 endg., S. 10. 5 Laut Kommission ist IMI eine sichere Online-Anwendung, die es nationalen, regionalen und lokalen Behörden ermöglicht, schnell und einfach mit Verwaltungen im Ausland zu kommunizieren. http://ec.europa.eu/internal_market/imi-net/about_de.html. 6 Das Pilotprojekt stützt sich auf die Schlussfolgerungen des Rates vom 7.3.2011 zur Weiterentwicklung eines elektronischen Austauschsystems zur Erleichterung der Verwaltungszusammenarbeit im Rahmen der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, Ratsdokument Nr. 7395/11. Vgl. auch bereits die Empfehlung der Kommission vom 3.4.2008 zur Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. C 85 v. 4.4.2008, S. 1. 7 SWD (2012), 63 final PARTIE II, Annex 4.
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Entsenderichtlinie
Rz. 178
§5
tungszusammenarbeit. Art. 21 in Verbindung mit der IMI-Verordnung1 schafft außerdem die Rechtsgrundlage für die dauerhafte Nutzung des Binnenmarkt-Informationssystems. Liste der nationalen Verbindungsbüros Belgien SPF Emploi, Travail et Concertation sociale Direction générale des Relations individuelles du Travail Division de la réglementation des relations individuelles du travail Rue Ernest Blérot 1, 1070 Bruxelles Tel.: 02/233 48 22 oder 02/233 47 71 Fax: 02/233 48 21 E-Mail: [email protected] Bulgarien General Labour Inspectorate – Executive Agency (GLI EA), 3, Dondukov Blvd., Sofia 1000 Tel-/Fax: 00359 02 9874717 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Dänemark The National Labour Market Authority Holmens Kanal 20, 1060 Copenhagen K Tel.: +45 35 28 81 00 Fax: + 45 35 36 24 11 E-Mail: [email protected] Website: www.ams.dk Deutschland Bundesfinanzdirektion West Abteilung Zentrale Facheinheit Wörthstraße 1–3, 50668 Köln Tel.: +49-221 222550 Fax: 49-221 22255-3981 E-Mail: [email protected] Website: www.zoll.de Estland Labour Inspectorate Annely Lind, Specialist-Lawyer of Legal Department 29 Gonsiori Str, 15022 Tallinn Tel.: + 372 6269423 Fax: + 372 6269404 E-Mail: [email protected] Website: www.ti.ee Finnland Ministry of Social Affairs and Health PO Box 33, 00023 Government 1 Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems und zur Aufhebung der Entscheidung 2008/49/EG der Kommission („IMI-Verordnung“).
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§5
Rz. 178
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
Tel.: +358 – 9 –16001 Fax: +358 – 9 – 160 74126 E-Mail: [email protected] Frankreich Direction générale du travail Bureau RT1 39-43, quai André Citroën 75739 Paris cedex 15 Tel.: + 33/1 44 38 23 10 Fax: + 33/1 44 38 29 76 E-Mail: [email protected] Website: www.travail.gouv.fr Griechenland Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit Generaldirektion für Beschäftigung Direktion für Arbeitsbedingungen Abteilung für Einzelverträge Tel.: (+30-210) 529 52 03 Fax: (+30-210) 529 51 86 Website: www.ypakp.gr Irland Department of Enterprise, Trade and Employment Employment Rights Information Section Yvonne Keogh Davitt House 65A Adelaide Road, Dublin 2 Tel.: 6313029 Fax: 6313329 E-Mail: [email protected] Website: www.entemp.ie Italien Ministero del Lavoro e Politiche Sociali Direzione Generale del Mercato del Lavoro dott. Luigi Ielo Via Fornovo 8 00192 Roma Tel.: +39 06 36755007 E-Mail: [email protected] Lettland Staatliche Beschäftigungsagentur 38, Kr. Valdemara Str. Riga, LV1010 Tel.: +371 67021706 Fax: +371 67021806 E-Mail: [email protected] Litauen Staatliche Arbeitsaufsichtsbehörde Algirdo 19 03607 Vilnius-06 324
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Rz. 178
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Tel.: +37052650193 Fax: 37052139751 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Website: www.vdi.lt Luxemburg Inspection du Travail et des mines 3, rue des Primeurs L-2361 Strassen Postanschrift: B.P.27 L-2010 Luxemburg Tel.: +352 478 6288 Fax: +352 29 11 94 6288 E-Mail: [email protected] Website: www.itm.lu Malta Department of Industrial and Employment Relations 121, Melita Street Valletta, CMR 02 Tel.: +356 2122 2068 Fax: +356 2124 3177 E-Mail: [email protected] Niederlande Ministerium für Soziales und Beschäftigung Postfach 90801 2509 LV Den Haag Tel.: +31 (0) 800-9051 E-Mail: [email protected] Österreich Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz Sektion VII, Favoritenstraße 7, A-1040 Wien Mag. Gerda Ercher, Mag. Claudia Lukowitsch; Tel.: 0043/1/71100/6203 oder 6275, Fax: 0043/1/71100 2190 Website: www.bmask.gv.at Polen Hauptarbeitsaufsichtsbehörde 38/42 Krucza St. 00-926 Warszawa Tel.: (+48 22) 661 81 11 Fax: (+48 22) 625 47 70; 628 41 13 E-Mail: [email protected] Website: www.pip.gov.pl Portugal Autoridade para as Condições do Trabalho Avenida Casal Ribeiro, n. 18-A 1000-092 Lisbon Tel.: (351) 21 330 8700 Fax: (351) 21 330 8706, Website: www.act.gov.pt Heuschmid/Schierle
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Rz. 178
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
Rumänien Arbeitsaufsicht Matei Voievod Straße Nr. 14 2. Stadtbezirk, Bukarest Tel.: 004021 3027030 oder 3027054 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Website: www.inspectmun.ro Schweden Arbetsmiljöverket (schwedisches Zentralamt für das Arbeitsumfeld) SE-112 79 Stockholm Schweden Tel.: +46 87309000 Fax: +46 87301967 E-Mail: [email protected] Website: www.posting.se Website: www.av.se/teman/utstationering/ Slowakei Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie der Slowakischen Republik Sˇpitálska 4 – 6 816 43 Bratislava Slowakische Republik Tel.: +421 – 2 – 5975 1111 E-Mail: [email protected] Website: www.safework.gov.sk Slowenien Ministerium für Arbeit, Familie und Soziales, Kotnikova 5, 1000 Ljubljana, Slowenien, Tel.: + 386 1 369 77 00 E-Mail: [email protected]; Website: www.mddsz.gov.si Spanien Dirección General de Inspección de Trabajo y Seguridad Social Subdirección General de Organización y Asistencia Técnica C/. Agustín de Bethencourt, 4 28003 Madrid Tel.: (+34) 91.363.11.63 Fax: (+34) 91.363.6.78/(+34) 91.363.6.82 Tschechische Republik Ministry of Labour and Social Affairs of the Czech Republic Na Porˇícˇním právu 1/376, 128 01 Prague 2 Tel.: +420 221 921 111 Fax: +420-224 918 391 oder +420-221 922 664 E-Mail: [email protected] Website: www.mpsv.cz Ungarn Országos Munkabiztonsági és Munkaügyi Fo˝felügyelo˝ség Nationale Arbeitsaufsichtsbehörde Margit krt. 85. 326
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Entsenderichtlinie
Rz. 181
§5
H-1024 Budapest Tel.: +36-1-346-9400 Fax: +36-1-346-9415 E-Mail: [email protected] Website: www.ommf.gov.hu Vereinigtes Königreich Department of Trade and Industry 1 Victoria Street London SW1H 0ET Tel.: 0207 215 5000 E-Mail: [email protected] Zypern Director Department of Labour, Ministry of Labour and Social Insurance 9, Klimentos street, 1480 Nicosia Tel.: +357 22400802 Fax: +357 22400809 E-Mail: [email protected] Website: www.mlsi.gov.cy 5. Art. 5 Ents-RL Nach Art. 5 Ents-RL sehen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung der Richtlinie vor. Insbesondere stellen sie sicher, dass den entsandten Arbeitnehmern und/oder ihren Vertretern geeignete Verfahren für die Durchsetzung der Mindestarbeitsbedingungen zur Verfügung stehen. Damit sind zwei Aspekte angesprochen. Einerseits staatliche Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle der Einhaltung der anwendbaren Arbeitsbedingungen, wie z.B. eine Meldepflicht oder Inspektionen vor Ort. Andererseits kommen privatrechtliche Verfahren und Mechanismen in Betracht, die es den entsandten Arbeitnehmern ermöglichen oder erleichtern, ihre Ansprüche durchzusetzen.
179
Abgesehen von der Gerichtsstandsklausel in Art. 6 Ents-RL beschreibt die Richtlinie die Maßnahmen bzw. Verfahren nicht näher. Die Mitgliedstaaten verfügen daher über ein weites Ermessen bei der Auswahl der geeigneten Maßnahmen und der Einrichtung von geeigneten Verfahren. Allerdings müssen sie dabei die Dienstleistungsfreiheit beachten.1 Einigkeit bestand bei Verabschiedung der Richtlinie darüber, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, zusätzliche Behörden für die Überwachung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vorzusehen.2
180
a) Nationale Kontrollmaßnahmen Art. 5 und Art. 4 Abs. 2 Ents-RL implizieren zumindest, dass die Behörden der Mitgliedstaaten die Einhaltung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Richtlinie überwachen und kontrollieren können. Die Zulässigkeit einer Reihe solcher nationalen Kontrollmaßnahmen war mehrfach Streitpunkt zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten und Gegenstand gerichtlicher Überprüfung durch den EuGH. Für viele Mitgliedstaaten sind die Kontrollmaßnahmen ein äußerst sensibles Thema, 1 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 – Rz. 30. 2 Erklärung des Rates und der Kommission zu den Art. 4 und 5 bei Annahme der Richtlinie, Ratsdokument Nr. 9916/96 ADD 1.
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§5
Rz. 182
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das Kernelemente ihres Sozialmodells berührt.1 Die Maßnahmen sind in den jeweiligen nationalen Kontext eingebettet, teilweise werden auch die Sozialpartner mit Kontrollaufgaben betraut. Auch das Europäische Parlament hat nachdrücklich auf die Wichtigkeit effizienter Kontrollmaßnahmen hingewiesen.2 182
Der EuGH misst nationale Kontrollmaßnahmen auch seit dem Inkrafttreten der Richtlinie unmittelbar an der Dienstleistungsfreiheit (vgl. Rz. 18 ff.), da die Richtlinie keine ausdrücklichen Vorgaben zu Kontrollen macht. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH kann insbesondere der Schutz der Arbeitnehmer nationale Kontrollmaßnahmen rechtfertigen, die erforderlich sind, um die Einhaltung der anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Aufnahmestaat sicherzustellen.3 Doppelbelastungen von Unternehmen im Niederlassungs- und Aufnahmestaat sind zu vermeiden. Insofern ist auch von Bedeutung, welche Informationen die Kontrollbehörden im Aufnahmestaat im Wege der Verwaltungszusammenarbeit von den Behörden des Niederlassungsstaates erlangen können, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Kontrollen beeinträchtigt wird.4
183
Bei den Entscheidungen des EuGH handelt es sich um Einzelfallentscheidungen, die im Kontext der nationalen Kontrollsysteme gesehen werden müssen. Die Gesetzgebung und Praxis der Mitgliedstaaten unterscheidet sich in diesem Bereich erheblich. Deshalb lassen sich die getroffenen Aussagen nicht immer verallgemeinern. Teilweise sind nur bestimmte Aspekte einer Maßnahme unverhältnismäßig, während sie in anderer Form durchaus zulässig sein kann.
184
Das Erfordernis einer einfachen Erklärung über die Entsendung von Arbeitnehmern vor Beginn der Entsendung ist mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar.5 Eine solche Erklärung soll die Behörden des Aufnahmestaates in die Lage versetzen, seine Kontrollen effektiv zu organisieren. Sie erlaubt es, die Einhaltung der Arbeitsbedingungen während der Entsendung zu kontrollieren und Betrugsfälle zu verhindern.6 Eilige Dienstleistungen dürfen nicht durch Fristen behindert werden, ggf. muss eine Erklärung unmittelbar vor Beginn der Entsendung genügen. Dagegen kann die Einholung einer Erlaubnis vor der Entsendung nicht verlangt werden. Ein Anmeldeerfordernis ist auch unzulässig, wenn es den Charakter eines Genehmigungsverfahrens hat. Das ist z.B. der Fall, wenn der Beginn der Entsendung erst nach Erteilung einer Registrierungsbestätigung erfolgen darf, die innerhalb von fünf Werktagen erteilt wird.7
185
Die Mitgliedstaaten können das Bereithalten von bestimmten Dokumenten vor Ort im Aufnahmestaat verlangen, um den Behörden die Kontrolle der Einhaltung der anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu ermöglichen. Ausdrücklich gebilligt hat der EuGH in diesem Zusammenhang den Arbeitsvertrag, die Lohn1 KOM (2007), 304 endg., S. 6. 2 Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Anwendung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern (2006/2038(INI)) vom 26.10.2006 – Rz. 29 ff. 3 EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999, I-8453 – Rz. 38. 4 EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999, I-8453 – Rz. 61. 5 EuGH v. 7.10.2010 – Rs. C-515/08 – Santos Palhota, Slg. 2010, I-9133 – Rz. 51 (m.w.N.). Der EuGH sieht in der einfachen Erklärung ein (zulässiges) milderes Mittel, während eine Kontrolle vor der Entsendung unverhältnismäßig ist. Auch eine Meldepflicht für Selbständige, die sich zur Dienstleistungserbringung in einen anderen Mitgliedstaat begeben, scheint der EuGH grundsätzlich für zulässig zu halten, wenn die zur Durchsetzung der sozial- und steuerrechtlichen Verpflichtungen der betroffenen Personen notwendig ist, EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 – Kommission/Belgien, noch nicht veröffentlicht. Die konkrete sehr umfangreichen Meldeverpflichtung für Selbständig im belgischen Limosa-System hielt der EuGH jedoch für unverhältnismäßig – Rz. 54 f. 6 EuGH v. 7.10.2010 – Rs. C-515/08 – Santos Palhota, Slg. 2010, I-9133 – Rz. 53–54. 7 EuGH v. 7.10.2010 – Rs. C-515/08 – Santos Palhota, Slg. 2010, I-9133 – Rz. 61.
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Entsenderichtlinie
Rz. 188
§5
abrechnungen, die Arbeitszeitaufzeichnungen und die Lohnzahlungsnachweise.1 Für diese Dokumente kann außerdem eine Übersetzung in die Sprache des Aufnahmemitgliedstaates verlangt werden, da die Behörden vor Ort die Dokumente ansonsten nicht prüfen können.2 Das Bereithalten der Dokumente kann frühestens ab dem Beginn der Entsendung3 und maximal bis zum Abschluss der Erbringung der Werk- oder Dienstleitung im Aufnahmestaat verlangt werden.4 Darüber hinaus kann gefordert werden, dass die Dokumente nach Ende der Werk- oder Dienstleistung an die Behörden des Aufnahmestaates übersandt werden.5 Unverhältnismäßig wäre zu verlangen, dass die Unterlagen nach Ende der Entsendung bei einem Bevollmächtigten im Aufnahmestaat aufbewahrt werden müssen.6 Während der Erbringung der Werk- oder Dienstleistung kann auch die Benennung eines entsandten Arbeitnehmers als Ansprechpartner für die Behörden verlangt werden.7 Bei Maßnahmen, die in Richtung Niederlassungserfordernis deuten, ist die Rechtsprechung des EuGH restriktiv. So sah der EuGH das Erfordernis für ein Leiharbeitsunternehmen, seinen Sitz oder eine Zweigniederlassung im Aufnahmestaat zu haben, praktisch als die Negation der Dienstleistungsfreiheit an.8 Ausländische Dienstleistungserbringer können auch nicht dazu verpflichtet werden, im Aufnahmestaat zu wohnen, dort über eine Zustellungsanschrift bei einem zugelassenen Bevollmächtigten zu verfügen oder eine natürliche Person mit Wohnsitz im Aufnahmestaat zu benennen.9
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Die in Deutschland angewandten Kontrollmaßnahmen, insbesondere §§ 17 bis 19 AntG, wurden in Vertragsverletzungsverfahren vom EuGH überprüft.10 Ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht kann daher als gesichert gelten. Gemäß § 16 AEntG die Behörden der Zollverwaltung für die Prüfung der Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen zuständig.
187
In Bezug auf Drittstaatsangehörige11, die regulär12 bei einem Unternehmen in der EU beschäftigt sind, und von diesem im Rahmen einer Dienstleistungserbringung ent-
188
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
12
EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095 – Rz. 66. EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095 – Rz. 71. EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-4323 – Rz. 95. EuGH v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095 – Rz. 66. EuGH v. 7.10.2010 – Rs. C-515/08 – Santos Palhota, Slg. 2010, I-9133 – Rz. 61. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999, I-8453 – Rz. 77; EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-4323 – Rz. 93. EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2008, I-4323 – Rz. 91. EuGH v. 7.2.2002 – Kommission/Italien – Rs. C-279/00, Slg. 2002, I-1425 – Rz. 18; v. 16.6. 2010 – Rs. C-298/09 – RANI Slovakia, Slg. 2010, I-81. EuGH v. 6.3.2003 – Rs. C-478/01 – Kommission/Luxemburg, 2003, I-2351 – Rz. 19; v. 23.11. 1999 – Rs. C-369/96 – Arblade, Slg. 1999, I-8453 – Rz. 77. EuGH v. 19.1.2006 – Rs. C-244/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-885; v. 18.7.2007 – Rs. C-490/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6095. Die Mitgliedstaaten konnten sich bisher nicht auf gemeinsame Vorschriften zur Entsendung von Drittstaatsangehörigen verständigen. Die Kommission hatte dazu bereits im Jahr 1999 einen Richtlinienvorschlag KOM (1999), 3 endg, ABl. C 67 v. 10.3.1999, S. 12, und im Jahr 2000 einen geänderten Richtlinienvorschlag KOM (2000), 271 endg, ABl. C 311E v. 31.10.2000, S. 187, vorgelegt. Der Vorschlag wurde später zurückgezogen: KOM (2004) 542 endg./2 v. 1.10.2004. Auch der Vorschlag für die Dienstleistungsrichtlinie, KOM (2006), 160 endg., enthielt in Art. 25 Vorgaben zur Entsendung von Drittstaatsangehörigen, die aus dem Entwurf gestrichen wurden. Der EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-43/93 – Vander Elst, Slg. 1994, I-3803 – Rz. 26, hatte von einer „ordnungsgemäßen und dauerhaften“ Beschäftigung im Niederlassungsstaat gesprochen, später jedoch präzisiert, dass daraus nicht die Bedingung eines Wohnsitzes oder einer Beschäftigung von bestimmter Dauer abgeleitet werden kann, EuGH v. 19.1.2006 – Rs. C-244/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-885 – Rz. 55.
Heuschmid/Schierle
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329
§5
Rz. 189
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
sandt werden, dürfen die Mitgliedstaaten wohl keine zusätzlichen Bedingungen oder Verwaltungsformalitäten vorsehen.1 Dies gilt grundsätzlich unbeschadet der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen2 sowie der Möglichkeit zu kontrollieren, ob die Entsendung von Drittstaatsangehörigen nicht für andere Zwecke als zur Dienstleistungserbringung missbraucht wird, beispielsweise dazu Arbeitnehmer im Aufnahmestaat zu vermitteln oder Dritten zu überlassen.3 Entsandte Drittstaatsangehörige benötigen keine zusätzliche Arbeitserlaubnis im Aufnahmestaat (vgl. Rz. 38 ff.).4 Das gilt auch für Leiharbeitnehmer.5 Die Entsendung kann nicht unter die Bedingung der Erteilung einer Entsendebestätigung, die den Charakter eines Erlaubnisverfahrens hat, gestellt werden.6 Auch das Visumsverfahren darf nicht zu einer vorausgehenden Kontrolle von arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen genutzt werden.7 Vorbeschäftigungszeiten im Herkunftsstaat von 6 oder 12 Monaten8 können ebenso wenig verlangt werden wie ein unbefristeter Arbeitsvertrag im Niederlassungsstaat.9 Ebenso verstößt das Erfordernis einer Bankbürgschaft, die ggf. die Kosten der Rückführung des Arbeitnehmers decken soll, gegen die Dienstleistungsfreiheit.10 189
Die Durchsetzungsrichtlinie regelt in Art. 9 die zulässigen nationalen Kontrollmaßnahmen. Gem. Abs. 1 Unterabs. 1 sind grundsätzlich alle Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen zulässig, die notwendig sind, um die Einhaltung der Pflichten aus der Durchsetzungsrichtlinie und der Entsenderichtlinie zu gewährleisten, vorausgesetzt, dass sie im Einklang mit dem Unionsrecht gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Abs. 1 Unterabs. 2 zählt die Kontrollmaßnahmen auf, die insbesondere zulässig sind. Die Liste orientiert sich grob an der bisher ergangenen Rechtsprechung. Demnach können die Mitgliedstaaten eine einfache Erklärung, das Bereithalten von bestimmten Dokumenten einschließlich entsprechender Übersetzungen sowie die Benennung von Ansprechpersonen für die Behörden und die Sozialpartner vorsehen. Bei der Aufzählung handelt es sich – anders als im Richtlinienentwurf – um eine sog. offene Liste. Das heißt, dass die zulässigen Kontrollmaßnahmen nicht abschließend aufgezählt sind. Gem. Abs. 2 können die Mitgliedstaaten weitere Kontrollmaßnahmen vorschreiben, falls sich angesichts einer Sachlage oder neuer Entwicklungen abzeichnet, dass die bestehenden Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen nicht ausreichend oder effizient genug sind. Auch diese Kontrollmaßnahmen müssen gerechtfertigt und verhältnismäßig sein.
1 KOM (2006), 159 endg., S. 8. 2 Allerdings macht der EuGH auch hier gewissen Einschränkungen. Eine Regelung des österreichischen Rechts, die die nachträgliche Legalisierung des Aufenthalts eines entsandten drittstaatsangehörigen Arbeitnehmers ausschließt und somit den Arbeitnehmer der Gefahr der Abschiebung aussetzt, ist mit der Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar. Die Visapflicht wird aber nicht in Frage gestellt. EuGH 21.9.2006 – Rs. C-168/04 – Kommission/Österreich, Slg. 2006, I-9041 – Rz. 59–68. 3 EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 – Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417 – Rz. 17; v. 21.10.2004 – Rs. C-445/03 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2004, I-10191 – Rz. 39. 4 EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-43/93 – Vander Elst, Slg. 1994, I-3803. 5 EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-91/13 – Essent Energie Productie BV, noch nicht veröffentlicht. 6 EuGH v. 21.9.2006 – Rs. C-168/04 – Kommission/Österreich, Slg. 2006, I-9041 – Rz. 53. 7 EuGH v. 19.1.2006 – Rs. C-244/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-885 – Rz. 41. 8 EuGH v. 21.10.2004 – Rs. C-445/03 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2004, I-10191 – Rz. 32; v. 19.1.2006 – Rs. C-244/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-885 – Rz. 63; EuGH v. 21.9. 2006 – Rs. C-168/04 – Kommission/Österreich, Slg. 2006, I-9041 – Rz. 50. 9 EuGH v. 21.9.2006 – Rs. C-168/04 – Kommission/Österreich, Slg. 2006, I-9041 – Rz. 50. 10 EuGH v. 21.10.2004 – Rs. C-445/03 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2004, I-10191 – Rz. 47.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 194
§5
b) Sanktionen Wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen können Teil der Maßnahmen nach Art. 5 sein. Alle Mitgliedstaaten sehen straf- und/oder verwaltungsrechtliche Sanktionen bei Verstößen gegen bestimmte entsenderechtlichen Bestimmungen vor, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß.1
190
In Deutschland enthält § 23 AEntG Bußgeldvorschriften, § 21 AEntG sieht den Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge vor.
191
Ein praktisches Problem im Zusammenhang mit Sanktionen ist ihre grenzüberschreitende Durchsetzung.2 Auch der Rahmenbeschluss 2005/214/JI vom 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen3 hat hier nur unzureichend Abhilfe geschaffen. Denn je nach Sanktionssystem der beteiligten Mitgliedstaaten ist der Rahmenbeschluss nicht anwendbar.4 Deshalb wird durch Kapitel 6 der Durchsetzungsrichtlinie ein Rechtsrahmen für die grenzüberschreitende Durchsetzung von finanziellen Verwaltungssanktionen und Geldbußen geschaffen.
192
c) Gesamtschuldnerische Haftung Eine gesamtschuldnerische Haftung des Arbeitgebers und seines Auftraggebers, ggf. auch der gesamten Auftraggeberkette, ist eine geeignete Maßnahme i.S.v. Art. 5, um die Einhaltung der anwendbaren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sicherzustellen. Acht Mitgliedstaaten sowie der EWR-Mitgliedstaat Norwegen verfügen derzeit über entsprechende Regelungen. Die Haftungssysteme unterscheiden sich allerdings in Umfang und Reichweite erheblich.5 Bei der Ausgestaltung der Haftungsregelungen müssen die Mitgliedstaaten die Dienstleistungsfreiheit beachten.6
193
Der EuGH hat in der Rechtssache Wolff & Müller7 die Generalunternehmerhaftung gem. § 14 AEntG (damals § 1a AEntG) überprüft und sie für mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar gehalten. Dabei stellt der EuGH insbesondere darauf ab, dass die Haftungsregelung für den entsandten Arbeitnehmer einen tatsächlichen
194
1 Umsetzungsberichte der Kommission zur Richtlinie 96/71/EG von Januar 2003 (alte Mitgliedstaaten) und Juli 2007 (neue Mitgliedstaaten), http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId= 471. Nach Einschätzung der Kommission sind diese bisher jedoch nicht ausreichend, SWD(2012) 63 final, S. 29. Das hat die Kommission allerdings nicht veranlasst in Art. 17 des Entwurfs für die Durchsetzungsrichtlinie Vorgaben für Sanktionen bei Verstößen gegen die Richtlinie 96/71/EG vorzusehen. 2 KOM (2007), 304 endg., S. 11. 3 ABl. Nr. L 76 v. 22.3.2005, S. 16. 4 Dazu ausführlich der Abschlussbericht des von der Kommission finanzierten Projektes CIBELES (Convergence of Inspectorates Building a European-Level Enforcement System), S. 154 ff., http://www.empleo.gob.es/itss/web/Sala_de_comunicaciones/Noticias/Archivo_Noticias/2011 /11/20111122_not_web_port.html. 5 Jorens/Peters/Houwerzijl, Study on the protection of workers’ rights in subcontracting processes in the European Union, 2012, http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId= 471; Houwerzijl, Liability in subcontracting processes in the European construction sector, Eurofound, 2008, http://www.eurofound.europa.eu/publications/htmlfiles/ef0894.htm. 6 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 Rz. 34. In v. 9.11.2006 – Rs. C-433/04 – Kommission/Belgien, Slg. 2006, I-10653 – Rz. 37, hielt der EuGH eine gesamtschuldnerische Haftung in Bezug auf Steuern für unverhältnismäßig. Die Regelung diente allerdings nicht dem Arbeitnehmerschutz. 7 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553.
Heuschmid/Schierle
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§5
Rz. 195
Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung
Vorteil darstellt, da er neben dem Arbeitgeber einen zweiten Schuldner zur Durchsetzung seines Mindestlohnanspruchs erhält.1 195
Die Durchsetzungsrichtlinie enthält in Art. 12 eine Regelung zur gesamtschuldnerischen Haftung.2 Die Regelung soll es entsandten Arbeitnehmern erleichtern, insbesondere ihren Mindestlohnanspruch durchzusetzen. Bereits der Kommissionsvorschlag trug der Tatsache Rechnung, dass bisher nur wenige Mitgliedstaaten über entsprechende Regelungen verfügen, die zudem sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Deshalb war der Vorschlag für die Haftungsregelung in Reichweite und Umfang beschränkt und gleichzeitig äußerst flexibel ausgestaltet. Der Endfassung von Art. 12 ist ihr Kompromisscharakter noch deutlicher anzusehen.3 Art. 12 Abs. 2 sieht zwingend die Haftung des Auftraggebers für die Mindestnettolöhne und Sozialkassenbeiträge (vgl. Rz. 116) der entsandten Arbeitnehmer seines direkten Unterauftragnehmers in der Bauwirtschaft vor, soweit diese Ansprüche im Zusammenhang mit dem Auftrag erworben wurden. Abweichend von Abs. 2 können die Mitgliedstaaten allerdings gem. Abs. 6 andere angemessene Durchsetzungsmaßnahmen ergreifen, die es im Rahmen direkter Unteraufträge ermöglichen, wirksame und verhältnismäßige Sanktionen gegen den Auftragnehmer zu verhängen, um Betrug und Missbrauch in Situationen, in denen Arbeitnehmer Schwierigkeiten haben, ihre Rechte durchzusetzen, zu bekämpfen. Optional können die Mitgliedstaaten gem. Abs. 4 auch strengere Haftungsregelungen vorsehen, insbesondere was den Haftungsmaßstab, die Einbeziehung der gesamten Auftraggeberkette sowie die Ausdehnung auf andere Branchen angeht.4 Außerdem können die Mitgliedstaaten gem. Abs. 5 optional vorsehen, dass ein Auftragnehmer, der seinen im nationalen Recht festgelegten Sorgfaltspflichten nachgekommen ist, nicht haftbar gemacht wird.
196
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob eine gesamtschuldnerische Haftung nur für entsandte Arbeitnehmer eingeführt werden kann. Denn haftet ein Auftraggeber nicht bei Beauftragung eines inländischen Dienstleistungserbringers, könnte das Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten benachteiligen. Die bestehenden nationalen Haftungssysteme gelten unterschiedslos für entsandte und im Inland beschäftigte Arbeitnehmer. Im Rahmen der Durchsetzungsrichtlinie können allerdings auf Grund der Rechtsgrundlage lediglich Regelungen für entsandte
1 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 – Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 – Rz. 40. 2 Eine Regelungen für eine gesamtschuldnerische Haftung bei der Vergabe von Unteraufträgen gibt es außerdem in der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.6.2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, ABl. Nr. L 168 v. 30.6.2009, S. 24. Außerdem enthält die Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.2.2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer, ABl. Nr. L 94 v. 28.3. 2014, S. 375, in Art. 17 Abs. 3 eine optionale Regelung zur gesamtschuldnerischen Haftung bei der Vergabe von Unteraufträgen. 3 Das Europäische Parlament sprach sich in seinem Verhandlungsmandat für den Trilog für eine deutlich umfassendere und strengere Haftungsregelung aus, vgl. Bericht des Beschäftigungsausschusses A7-0249/2013. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss betonte in seiner Stellungnahme zum Richtlinienentwurf die Wichtigkeit der Regelung zur gesamtschuldnerischen Haftung und empfahlt denjenigen Mitgliedstaaten, die über kein solches System verfügen, ein solches System nach Absprache mit den Sozialpartnern einzuführen (Punkt 4.10), ABl. C 351 v. 15.11.2012, S. 61. 4 Die Öffnungsklausel war bereits im Richtlinienentwurf der Kommission enthalten. In der Begründung wird ausgeführt, dass Mitgliedstaaten weitergehende Systeme der gesamtschuldnerischen oder der Kettenhaftung beibehalten oder einführen können, KOM(2012) 131 endg., S. 22.
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Heuschmid/Schierle
Entsenderichtlinie
Rz. 200
§5
Arbeitnehmer getroffen werden. Eine allgemeine arbeitsrechtliche Regelung für eine gesamtschuldnerische Haftung ist auf dieser Rechtsgrundlage nicht möglich. Die Begründung zum Richtlinienvorschlag der Kommission1 verweist auf die Rechtssache Finalarte.2 Dort hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die unterschiedliche Behandlung von ausländischen und inländischen Unternehmen durch objektive Unterschiede gerechtfertigt sein kann und nicht unbedingt eine gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßende Diskriminierung darstellt.3 Hinsichtlich der Beurteilung der Erforderlichkeit einer solchen Regelung verfügt der EU-Gesetzgeber über einen weiten Ermessenspielraum (vgl. Rz. 33). Die Einführung der gesamtschuldnerischen Haftung auf EU-Ebene für entsandte Arbeitnehmer ist daher zulässig.
197
Für Deutschland ergibt sich durch Art. 12 der Durchsetzungsrichtlinie kein Änderungsbedarf an § 14 AEntG.
198
6. Art. 6 Ents-RL Art. 6 verpflichtet die Mitgliedstaaten, entsandten Arbeitnehmern die Möglichkeit einzuräumen die Mindestarbeitsbedingungen der Richtlinie im Aufnahmestaat einzuklagen. Dies berührt allerdings nicht die Möglichkeit gemäß den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel I-Verordnung)4 in einem anderen Mitgliedstaat Klage zu erheben, insbesondere im Herkunftsstaat.
199
Die Gerichtsstandsregelung ist in Deutschland durch § 15 AEntG umgesetzt. Entsandte Arbeitnehmer können damit die ihnen nach dem AEntG zustehenden Arbeitsbedingungen auch gegen ihren ausländischen Arbeitgeber oder – soweit die Haftung nach § 14 AEntG greift – gegen dessen Auftraggeber vor deutschen ArbG einklagen. Die Klagemöglichkeit besteht auch für die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, wie die Urlaubskasse der Bauwirtschaft.
200
1 2 3 4
KOM (2012), 131 endg., S. 22. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. 49/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. 49/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831 – Rz. 65. ABl. Nr. L 12 v. 16.1.2001, S. 1.
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§6 Arbeitszeit
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .
Rz. 1
Rz. 3. Keine Regelung der Vergütung . . . 93
1. Zweck der Richtlinie . . . . . . . . .
2
2. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . a) 1. Phase: Begrenzung von Sozialkostenwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . b) 2. Phase: Arbeitsmarktpolitische Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . c) 3. Phase: Gesundheitsschutz . . . d) RL 93/104/EG . . . . . . . . . . . . e) Richtlinie 2000/34/EG . . . . . . . f) Richtlinie 2003/88/EG . . . . . . . g) Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . .
4
IV. Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit . . . . . . . . . 94
5 7 11 15 21 25 27
3. Umsetzung in Deutschland . . . . . 30 4. Rechtsquellen des Europäischen Arbeitszeitrechts . . . . . . . . . . a) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . b) Primärrecht aa) Art. 153 Abs. 1 Buchst. a AEUV . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 31 Abs. 2 GRC . . . . cc) Art. 151 AEUV . . . . . . . c) Sekundärrecht . . . . . . . . . .
. . 31 . . 32 . . . .
. . . .
37 38 42 43
II. Ermächtigungsgrundlage für die Arbeitszeitrichtlinie . . . . . . . . . . . . 44 III. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . 50 1. Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie a) Sachlicher Anwendungsbereich . b) Persönlicher Anwendungsbereich c) Ausnahmen und Einschränkungen aa) Arbeitszeit für Seeleute . . . bb) Einschränkungen nach Art. 14, 17–21 ArbZ-RL . . . 2. Verhältnis zu anderen Rechtsgrundlagen (Art. 14 ArbZ-RL) . . . . . . . . a) Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . b) Mobile Arbeitnehmer . . . . . . . . aa) Straßenverkehr . . . . . . . . . bb) Flugpersonal . . . . . . . . . . cc) Personal im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr . . c) Mutterschutzrichtlinie . . . . . . . d) Jugendarbeitsschutzrichtlinie . . . e) Arbeitsschutzrahmenrichtlinie . .
334
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Ulber
52 58 60 67 69 70 71 74 81 83 84 87 92
1. Arbeitszeitbegriff der Arbeitszeitrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitszeitbegriff als autonomer Begriff des Unionsrechts . . . . . b) Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriffsbildung des EuGH . bb) Bewertung . . . . . . . . . . . cc) Folgen der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . c) Sonderproblem: Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft . . . . . . . . . . . aa) Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst . . . . . . . (1) Anwesenheit am Arbeitsplatz . . . . . . . . . (2) Inaktive Zeiten . . . . . bb) Rufbereitschaft . . . . . . . . d) Grenzfälle . . . . . . . . . . . . . .
. 97 . 98 . 102 . 104 . 107 . 113 . 116 . 119 . . . .
122 129 134 138
2. Ruhezeitbegriff . . . . . . . . . . . . . 140 3. Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tägliche Arbeitszeit und tägliche Ruhezeiten . . . . . . . . . . . . . . b) Wöchentliche Höchstarbeitszeit und wöchentliche Ruhepausen aa) Wöchentliche Höchstarbeitszeit . . . . . . . . . . . . bb) Unmittelbare Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wöchentliche Ruhezeit . . . c) Bezugszeiträume für die Ruhezeiten und die wöchentliche Höchstarbeitszeit . . . . . . . . . . aa) Durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit . . . . bb) Tägliche Mindestruhezeit . . cc) Wöchentliche Ruhezeit . . .
147 148
159 163 166 169 170 175 176
V. Ruhepausen . . . . . . . . . . . . . . . 178 VI. Nachtarbeit und Schichtarbeit . . . 183 1. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . 186 2. Nachtarbeit a) Tägliche Höchstarbeitszeit . . . . 192
§6
Arbeitszeit Rz. b) Ausgleichszeiträume . . . . . . . . 195 c) Weitere Schutzvorschriften . . . . 201 3. Schichtarbeit . . . . . . . . . . . . . . 219 VII. Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Auslegungsgrundsätze des EuGH für die Art. 17 ff. ArbZ-RL . . . . . . 222 2. Systematik der Abweichungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 17 ArbZ-RL . . . . . . . . . . . . 225 a) Art. 17 Abs. 1 ArbZ-RL . . . . . . 226 b) Art. 17 Abs. 2 und 3 ArbZ-RL, besondere Dienste und Tätigkeiten aa) Vorbemerkungen . . . . . . . 231 bb) Abweichungsinstrument (Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL) . . 233 cc) Gewährung eines Ausgleichs (Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL) . . 236 (1) Begriff der gleichwertigen Ausgleichsruhezeit 237 (2) Länge und Lage der Ausgleichsruhezeiten . . . . 240 dd) Tätigkeitsfelder . . . . . . . . 244 (1) Räumliche Entfernung zum Arbeitsplatz . . . . 245 (2) Sach- und Personenschutz . . . . . . . . . . . 246 (3) Tätigkeiten, bei denen die Kontinuität der Dienstleistung oder Produktion gewährleistet sein muss . . . . . . . . . 247 (4) Sonstige Fallgruppen; Daseinsvorsorge . . . . . 248 ee) Umfang der Abweichungen 253 (1) Wöchentliche Höchstarbeitszeit . . . . . . . . . 254 (2) Bezugszeiträume (Art. 19 ArbZ-RL) . . . . 256 (3) Tägliche Ruhezeit . . . . 261 (4) Ruhepausen . . . . . . . . 263
Rz. (5) Nachtarbeit . . . . . . . . 264 c) Art. 17 Abs. 2 und 4 ArbZ-RL: Schichtarbeit und über den Tag verteilte Tätigkeiten . . . . . . . . 265 d) Art. 17 Abs. 2 i.V.m. Art. 17 Abs. 5 ArbZ-RL . . . . . . . . . . . 266 4. Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 18 ArbZ-RL . . . . . . . . . . . . a) Anwendbarkeit von Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL . . . . . . . . . b) Verhältnis von Art. 18 ArbZ-RL zu Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL . . . . c) Abweichungsinstrument: Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grenzen der Abweichungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 22 ArbZ-RL . . . . . . . . . . . . a) Verstoß von Art. 22 ArbZ-RL gegen Art. 31 Abs. 2 GRC . . . . b) Abweichungsinstrument: Staatliche Regelung . . . . . . . . . . . c) Einwilligungserfordernis . . . . . d) Benachteiligungsverbot . . . . . . e) Verwaltungsvorschriften (Art. 22 Abs. 1 Buchst. c–e ArbZ-RL) . . . . . . . . . . . . . . . f) Einhaltung der allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes . . . . . g) Umfang der Abweichungsbefugnis: Art. 6 ArbZ-RL . . . . . . . .
267 268 271 273 281 285 286 288 297 304 310 314 321
VIII. Ausstrahlungswirkung der Arbeitszeitrichtlinie 1. Sanktionen bei Verstößen gegen die Arbeitszeitrichtlinie . . . . . . . . . 326 2. Allgemeines Benachteiligungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 IX. Reformvorhaben . . . . . . . . . . . . 338 X. Umsetzungsdefizite in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Schrifttum: Anzinger, Das Bereithalten zur Arbeit am Beispiel des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, FS Wißmann (2005), 3; Buschmann, Internationales Arbeitszeitrecht, FS Etzel (2011), 103; Buschmann, Europäisches Arbeitszeitrecht, FS Düwell (2011), S. 34; Buschmann/ Ulber J., Arbeitszeitgesetz, 7. Aufl. 2011; Junker, Brennpunkte des Arbeitszeitgesetzes, ZfA 1998, 105; Hahn/Pfeiffer/Schubert, Arbeitszeitrecht, 2013; Kohte, Tarifdispositives Arbeitszeitrecht – zwischen respektierter Tarifautonomie und eingeschränktem Gestaltungsspielraum, FS Bepler, 287; Körner, Arbeitszeit und Bereitschaftsdienst, NJW 2003, 3606; Maul-Sartori, Das neue Seearbeitsrecht, NZA 2013, 821; Preis/Ulber D., Fußtritte für das deutsche Arbeitszeitrecht?, ZESAR 2011, 147; Schäffer/Kapljic, Richtlinie zur Durchführung der Sozial-
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§6
Rz. 1
Arbeitszeit
partnervereinbarung über das Seearbeitsübereinkommen, ZESAR 2009, 170; Schlachter, Richtlinienkonforme Rechtsfindung – ein neues Stadium im Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und den nationalen Gerichten, Besprechung des Urteils EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01, RdA 2005, 115; Schliemann, Allzeit bereit, NZA 2004, 513; Schliemann, Bereitschaftsdienst im EG-Recht, NZA 2006, 1009; Schliemann, ArbZG, 2. Aufl. 2013; Schlottfeldt, Novellierung der EU-Arbeitszeitrichtlinie – Perspektiven des deutschen Arbeitszeitrechts, ZESAR 2009, 492; Schunder, EuGH: Ärztlicher Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit Anmerkung zu EuGH 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Landeshauptstadt Kiel/Norbert Jaeger, EuZW 2003, 663; Stärker, Kommentar zur EU-Arbeitszeitrichtlinie, 2006; Ulber, D., Die Vereinbarkeit der Neuregelungen des Arbeitszeitgesetzes mit dem Europarecht und dem Grundgesetz, AuR 2005, 70; Wank, Anm. zu EuGH 3.10.2000 EAS RL 93/104/EWG Art. 2 Nr. 1; Wank, Anm. zu BAG v. 23.6.2010 Arbeitszeit einer Werksfeuerwehr – Bereitschaftsdienst – opt out – Nichtvorlage an den EuGH, AuR 2011, 175; Weyand/Kröll, Halbherziger EG-Richtlinien-Vorschlag zur Arbeitszeitgestaltung, AiB 1991, 357
I. Einleitung 1
Die Regulierung der Arbeitszeit durch das Unionsrecht ist ein unübersichtliches politisches und juristisches Minenfeld. Der deutsche Gesetzgeber läuft auf diesem Feld streckenweise orientierungslos umher – mit absehbaren Konsequenzen. Die Kommission versucht seit langem den Sprengsatz zu entschärfen. Sie wird dabei allerdings konsequent von Parlament, Sozialpartnern und insbesondere den Mitgliedstaaten behindert. Die gegenwärtige Fassung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG (nachfolgend: ArbZ-RL) ist hoch komplex und durch eine Flut von Ausnahme- und Abweichungsregelungen geprägt. Hinzu kommen sektorale Sonderregelungen für einzelne Wirtschaftszweige. All das verursacht Unklarheiten. Gleichwohl hat die Arbeitszeitrichtlinie eine einfache Leitlinie. Sie sucht innerhalb eines flexiblen Rahmens Mindestschutzvorschriften für Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Der Grundkonflikt, den ihr stark am Gesundheitsschutz orientiertes Leitbild verursacht, wenn es auf rein wirtschaftliche Erwägungen der Mitgliedstaaten prallt, ist bereits in ihrem 4. Erwägungsgrund angelegt. Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen. 1. Zweck der Richtlinie
2
Kernziel der Arbeitszeitrichtlinie ist, die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer durch Mindestvorschriften für die Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten. Um diese Ziele zu verwirklichen, gewährleistet die Arbeitszeitrichtlinie tägliche und wöchentliche Mindestruhezeiten und eine durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit, sowie maximale Nachtarbeitszeiten.
3
Für den EuGH ist dabei nicht die formale Einhaltung der Vorgaben der AbZ-RL maßgeblich, sondern, ob diese in einer Weise Anwendung finden, die den Zielen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes hinreichend Rechnung tragen. 2. Entstehungsgeschichte
4
Supranationale Regelungen zur Arbeitszeit haben eine lange Tradition. Gerade im Arbeitszeitrecht erweist sich die Regulierung auf der Ebene des Unionsrechts als konsequente Fortführung vorgefundener völkerrechtlicher Vereinbarungen. Damit gibt es 336
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Rz. 9
§6
bereits seit jeher einen groben gemeinsamen Rahmen für die Gestaltung der Arbeitszeit. a) 1. Phase: Begrenzung von Sozialkostenwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten Als weitgehend wirkungslose Vorschrift1 „der ersten Stunde“ wurde bereits im EWGVertrag 1957 (vgl. § 1 Rz. 1) in Art. 120 der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Ordnungen bezahlter Freizeit festgelegt. Die Vorschrift sollte von Anfang an den Sozialkostenwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten einschränken.2 Problematisch ist, dass die Vorschrift trotz der verschiedenen Erweiterungsrunden unverändert geblieben ist (heute: Art. 158 AEUV). Geht man davon aus, dass eine Gleichwertigkeit nicht (mehr) besteht, dann ist die Vorschrift nicht (mehr) sinnvoll anzuwenden.3 Mehr spricht dafür, die Norm als Verpflichtung der Union zu sehen, eine Angleichung der Ordnungen über die bezahlte Freizeit mindestens an das Niveau der ursprünglichen Mitgliedstaaten anzustreben und Sozialkostenwettbewerb in diesem Bereich entgegen zu treten.
5
Arbeitszeitrechtliche Regelungen enthält erstmals die VO (EWG) Nr. 543/69 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr aus dem Jahr 1969. Sie wird als der erste sozialpolitische Rechtsakt der Gemeinschaft überhaupt angesehen.4 Durch die Regelung sollten die Lenkzeiten im Güter- und Personentransport beschränkt und einheitliche Mindestpausenregelungen geschaffen werden (vgl. Rz. 74).
6
b) 2. Phase: Arbeitsmarktpolitische Zielsetzung Zu Überlegungen zur Regulierung der Arbeitszeit kam es im Zusammenhang mit dem Sozialpolitischen Aktionsprogramm 1974 (Grundl. Rz. 5). Eine Empfehlung vom 22.7.1975 sah vor, dass die Mitgliedstaaten spätestens bis zum 31.12.1978 den Grundsatz der 40-Stunden-Woche und des vierwöchigen bezahlten Urlaubs einführen.5
7
Am 18.12.1979 nahm der Rat die Entschließung über die Anpassung der Arbeitszeit an.6 Nach dieser sollten Überstunden und die jährlichen Arbeitsvolumen unter Begrenzung der Auswirkungen auf die Arbeitskosten zurückgeführt werden. Damit sollten Entlassungen verhindert und Neueinstellungen gefördert werden. Die Kommission und die Sozialpartner konnten keine Einigung über einen gemeinsamen Standpunkt erzielen.
8
In der Folge wurde durch den Rat – vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen – politischer Druck auf die Kommission ausgeübt, Maßnahmen zur Verringerung der Arbeitszeit zu ergreifen.7 Die Kommission legte daraufhin ein entsprechendes Memorandum vor, in dem sie allerdings die Rolle der Sozialpartner stark betonte.8 Das Europäische Parlament forderte daraufhin den Ministerrat auf, eine Empfehlung zur Reduzierung der Arbeitszeit auszusprechen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.9
9
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 158 AEUV Rz. 1. Krebber, JZ 2008, 53 (56). Streinz/Eichenhofer, Art. 158 AEUV Rz. 2. EAS/Balze, B 3100 Rz. 4. Empfehlung des Rats v. 22.7.1975, ABl. Nr. L 199/32 v. 30.7.1995; Barnard, EU Employment Law, Chapter 12, S. 534; Lörcher, AuR 1994, 489. ABl. C 2/1 v. 4.1.1980. Entschließung des Rats v. 12.7.1982 über eine Gemeinschaftsaktion zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, ABl. C 186/2 unter 10.; Weyand/Kröll, AiB 1991, 357 (358). KOM (1982) 809 endg.; vgl. dazu Weyand/Kröll, AiB 1991, 357 (358). ABl. C 135/33 ff. v. 24.5.1983.
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§6 10
Rz. 10
Arbeitszeit
Am 23.9.1983 legte die Kommission dem Rat einen Entwurf für eine Empfehlung zur Verkürzung und Neugestaltung der Arbeitszeit vor.1 Diese sah die Reduzierung von Überstunden und Arbeitszeit als zentrale Elemente einer europäischen Beschäftigungspolitik an. Das Vereinigte Königreich legte am 7.6.1984 sein Veto gegen die (unverbindliche) Empfehlung ein, so dass diese scheiterte.2 Die destruktive Haltung des Vereinigten Königreichs verhindert bis heute eine moderne und sachgerechte Ausgestaltung der europäischen Arbeitszeitpolitik (vgl. § 1 Rz. 6).3 Dies liegt daran, dass im angelsächsischen Raum die Einsicht fehlt, dass die Regulierung der Arbeitszeit dem Gesundheitsschutz dient. Es fällt dort erkennbar schwer zu akzeptieren, dass es sich beim Arbeitszeitrecht in erster Linie um öffentliches Gefahrenabwehrrecht handelt4 und damit eine Disposition des Arbeitnehmers über den gesetzlichen Schutzstandard nicht möglich ist.5 Auch die Sozialpartner konnten sich im weiteren Verlauf nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt verständigen.6 c) 3. Phase: Gesundheitsschutz
11
Grundlegend veränderte sich der Stillstand erst durch den mit der Einheitlichen Europäischen Akte vom 28.2.1986 eingefügten Art. 118a EWGV, die Verabschiedung der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer7 und das zu ihrer Umsetzung von der Kommission ergriffene Aktionsprogramm8 (§ 1 Rz. 9).
12
Durch die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte9 und Art. 118a EGV kam es zu einer Veränderung der Zielsetzung der Regulierung der Arbeitszeit auf Unionsebene. Durch Art. 118a EGV wurde es möglich, Richtlinien zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu erlassen. Ziel der Vorschrift war und ist es, Möglichkeiten zu schaffen, die Staaten durch gemeinsame Mindeststandards in diesem Sektor daran zu hindern, sich durch Sozialdumping Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.10 Die Blockadehaltung des Vereinigten Königreichs konnte nunmehr wegen der in diesem Bereich möglichen Mehrheitsentscheidung durchbrochen werden.11 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ging die Kommission nun dazu über, die politischen Vorhaben im Arbeitszeitrecht nicht mehr auf die Beschäftigungsförderung durch Arbeitszeitreduzierung, sondern auf den Gesundheitsschutz zu stützen.
13
Nach Nr. 7 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte muss die Verwirklichung des Binnenmarktes zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer führen. Dieser Prozess soll durch eine Angleichung dieser Bedingungen auf dem Wege des Fortschritts erfolgen. Die gilt insbesondere für die Bereiche Arbeitszeit und der Arbeitszeitgestaltung. Nach Nr. 8 hat jeder Arbeitnehmer Anspruch auf eine wöchentliche Ruhezeit. Nach Nr. 19 der Charta der Sozialen Grundrechte muss jeder Arbeitnehmer in seiner Arbeitsumwelt zufriedenstellende Bedingungen für Gesundheitsschutz vorfinden. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
ABl. EG Nr. C 290/4 v. 26.10.1983. EAS/Balze, B 3100 Rz. 5; Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 61. Vgl. zur Haltung Großbritanniens auch Davies, EU Labor Law, Chapter 7, S. 200. Vgl. dazu Barnard, EU Employment Law, S. 533 f. Vgl. dazu Barnard, EU Employment Law, S. 538 f. Weyand/Kröll, AiB 1991, 357 (358). Vgl. dazu Streinz/Eichenhofer, Art. 151 AEUV Rz. 14. KOM (1989), 568 = BR-Drucks. 717/89. Dazu Barnard, EU Employment Law, S. 534. Streinz/Eichenhofer Art. 153 AEUV Rz. 6. Davis, EU Labour Law, Chapter 7, S. 200 f.
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Rz. 18 § 6
Die Gemeinschaftscharta ist, weil Art. 151 AEUV auf sie verweist, als Auslegungshilfe für die Arbeitszeitrichtlinie geeignet.1 Dies gilt insbesondere, weil die Erwägungsgründe der RL 93/104/EG sie ausdrücklich in Bezug nehmen (vgl. auch Rz. 11).2 Die Frage nach ihrer Bedeutung im Übrigen stellt sich daher für die Arbeitszeitrichtlinie nicht (vgl. § 1 Rz. 9).
14
d) RL 93/104/EG Bereits im Aktionsprogramm zur Umsetzung der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte wurde die Schaffung einer Arbeitszeitrichtlinie angeregt.3 Das entsprach den Forderungen des Europäischen Parlaments.4 Die Kommission legte daraufhin am 3.8.1990 einen Vorschlag für eine Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vor.5 Dieser beschränkte sich nach seinem 17. Erwägungsgrund auf die wesentlichen Elemente der Arbeitszeitgestaltung, die unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer und der Sicherheit am Arbeitsplatz als besonders wichtig erachtet wurden.
15
Der Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßte das Vorhaben grundsätzlich, forderte in seiner Stellungnahme vom 13.12.1990 aber diverse Änderungen des ursprünglichen Entwurfes.6 Auch die Anhörung des Europäischen Parlaments führte zu vielfältigen Änderungswünschen.7 Der Kommissionsentwurf wurde als unzureichend für den Gesundheitsschutz angesehen. Im Entwurf fehlten Regelungen zur regelmäßigen Wochenarbeitszeit und zur wöchentlichen Mindestruhezeit. Die Regulierung der Nachtarbeit wurde als unzureichend empfunden. Eine Regelung zur Wochenendarbeit, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und weiterer sozialpolitischer Maßnahmen wurde gefordert. Außerdem sollten die Grundsätze der ILO für die Arbeitszeitgestaltung in die Erwägungsgründe aufgenommen werden.
16
Am 23.4.1991 wurde der geänderte Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung durch die Kommission vorgelegt.8 Dieser setzte einen Teil der Änderungswünsche durch eine Ausweitung der Vorschriften über die Mindestruhezeiten und die Nachtarbeit um. Die Erwägungsgründe wurden angepasst und betonten den Gesundheitsschutz stärker. Gleichwohl weigerte sich die Kommission eine wöchentliche Höchstarbeitszeit vorzusehen. In der Arbeitszeitrichtlinie ist bis heute ein ruhezeitbezogenes Grundmodell erhalten geblieben.9
17
Es dauerte von diesem Entwurf bis zum Erlass der Arbeitszeitrichtlinie noch zwei Jahre. Die Diskussion um die Arbeitszeitrichtlinie war von Kritik der Arbeitgeberverbände10 und Großbritanniens geprägt.11 Die Mitgliedstaaten wollten gleichwohl unbedingt eine einvernehmliche Lösung erreichen. Man wollte auf einen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit verzichten.12 Das Vorhaben scheiterte. Großbritannien ent-
18
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
EuGH v. 9.9.2003 – C 151-02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 47; Heinze, ZfA 1992, 331 (336). Vgl. Erwägungsgründe der RL 93/194/EG v. 23.11.1993, ABl. Nr. L 307 v. 13.12.1993, S. 18. KOM (1989), 568 (= BR-Drucks. 771/89). Entschließung v. 15.3.1989, ABl. C 96 61, 65, 66. ABl. C 254/4 v. 9.10.1990. ABl. C 60/26 v. 8.3.1991. ABl. C 72/86 ff. v. 18.3.1991. ABl. C 124/8 v. 14.5.1991. Buschmann, FS Düwell (2011), 34 (36). EuZW 1993, 589. EAS/Balze, B 3100 Rz. 43; Balze, EuZW 1994, 205. EAS/Balze, B 3100 Rz. 43.
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§6
Rz. 19
Arbeitszeit
hielt sich bei der Abstimmung über die Arbeitszeitrichtlinie1. Hintergrund war, dass Großbritannien nach wie vor der Auffassung war, die Arbeitszeitrichtlinie diene nicht dem Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer.2 Diese Auffassung war wohl der ursprünglich beschäftigungspolitischen Zielsetzung der Arbeitszeitrichtlinie (vgl. Rz. 7 ff.) geschuldet. 19
Am 23.11.1993 wurde die Richtlinie 93/104/EG erlassen.3 Die Richtlinie 93/104/EG änderte den Kommissionsentwurf in mehrerer Hinsicht ab. Insbesondere wurden die Gesundheitsschutzvorschriften gegenüber dem veränderten Kommissionsvorschlag ausgeweitet. So wurden Vorschriften über die Ruhepausen neu aufgenommen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit geregelt. Gleichzeitig wurden aber die Abweichungsmöglichkeiten (vgl. Rz. 221 ff.) ausgeweitet.4 Insbesondere wurde der Besonderheit Rechnung getragen, dass das Vereinigte Königreich ein Opt-out für die wöchentliche Höchstarbeitszeit wünschte, es aber dort an einer funktionsfähigen Tarifautonomie im kontinentaleuropäischen Sinne fehlt. Daher wurde das Opt-out für Abweichungen durch den Gesetzgeber ausgestaltet, nicht aber für die Tarifvertragsparteien. Darüber hinaus wurde in Art. 1 Abs. 3 RL 93/104/EG eine Bereichsausnahme für den Verkehrs- und Fischereisektor sowie für Ärzte in der Ausbildung implementiert.
20
Wegen seiner grundsätzlichen Zweifel daran, dass Arbeitszeitschutz Gesundheitsschutz bedeutet, erhob das Vereinigte Königreich Nichtigkeitsklage wegen Überschreitung der Kompetenzen der Union bei Erlass der Arbeitszeitrichtlinie. Diese blieb erfolglos. Der EuGH hielt lediglich das Verbot der Sonntagsarbeit für nicht ausreichend begründet (vgl. Rz. 44 ff.).5 e) Richtlinie 2000/34/EG
21
Im weiteren Verlauf gelang es nicht, für alle von der Richtlinie 93/104/EG ausgenommenen Arbeitnehmer eigenständige Richtlinien zur Arbeitszeit zu erlassen. Vor diesem Hintergrund entschloss sich die Kommission vorzuschlagen, die Arbeitszeitrichtlinie zu ändern.6 Die Bereichsausnahmen sollten ebenso gestrichen werden, wie das Verbot der Sonntagsarbeit.
22
Die Richtlinie 93/104/EG wurde durch die Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.6.2000 zur Änderung der Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung hinsichtlich der Sektoren und Tätigkeitsbereiche, die von jener Richtlinie ausgeschlossen sind,7 geändert. Diese stimmte weitgehend mit dem Kommissionsvorschlag überein.
23
Die Richtlinie 2000/34/EG hob die Bereichsausnahmen für fast alle von Art. 1 Abs. 3 RL 93/104/EG ausgenommenen Personengruppen auf. Lediglich die Seearbeitnehmer bleiben ausgenommen. Für sie gilt die Richtlinie 1999/63/EG.8
24
Die Arbeitszeitrichtlinie wurde um eine Begriffsbestimmung für „ausreichende Ruhezeiten“ erweitert (Art. 2 Nr. 9 ArbZ-RL, Rz. 140 ff.). 1 2 3 4 5 6 7 8
Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 14 Rz. 5. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 14 Rz. 5. ABl. Nr. L 397/18 v. 13.12.1993. Krit. Lörcher, AuR 1994, 49 (50). EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755. ABl. C 43/1 v. 17.2.1999. ABl. Nr. L 195/41 v. 1.8.2000. ABl. Nr. L 167/33 v. 2.7.1999.
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Einleitung
Rz. 30 § 6
f) Richtlinie 2003/88/EG1 Dadurch dass die Richtlinie 93/104/EG nicht aufgehoben wurde, sondern die Änderungsvorschriften lediglich in der Richtlinie 2000/34/EG verankert wurden, wurde die Arbeitszeitrichtlinie sehr unübersichtlich, weil beide Texte nebeneinander gelesen werden mussten. Vor dem Hintergrund der erschwerten Lesbarkeit und der Unübersichtlichkeit der Richtlinie entschloss sich die Kommission, eine konsolidierte Richtlinienfassung vorzulegen. Dies geschah mit der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie), die die Regelungen zusammenfasst. Dabei wurden die Artikel der Arbeitszeitrichtlinie neu durchnummeriert. Eine Entsprechungstabelle im Anhang der Arbeitszeitrichtlinie gibt den Standort der alten Vorschriften in der Neufassung an.
25
Obwohl Text und Erwägungsgründe der Richtlinie 93/104/EG modifiziert wurden, ist die Richtlinie nach der Rechtsprechung des EuGH als unverändert anzusehen.2 Dementsprechend ergeben sich keine Abweichungen von der Rechtsprechung zur Richtlinie 93/104/EG. Die älteren Entscheidungen behalten ihre volle Aussagekraft. Beide Richtlinien können daher unterschiedslos auf Fälle angewandt werden, die sich sowohl auf den Zeitraum vor, als auch den Zeitraum nach Inkrafttreten der Arbeitszeitrichtlinie am 2.8.2004 (Art. 28 ArbZ-RL) beziehen.3
26
g) Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH verfolgt in seiner Rechtsprechung zur Arbeitszeitrichtlinie seit jeher eine konsequent an den Zielen des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer orientierte Linie.
27
Nach der Rechtsprechung des EuGH handelt es sich bei der in Art. 6 Buchst. b geregelten Höchstarbeitszeit um „eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Union, die jedem Arbeitnehmer als ein zum Schutz seiner Sicherheit und Gesundheit bestimmter Mindestanspruch zu gute kommen muss“.4 Der EuGH misst dieser Vorschrift eine hohe Bedeutung zu. Diese präformiert die gesamte Auslegung und Anwendung der Vorschriften in der Arbeitszeitrichtlinie, die die Höchstarbeitszeit und die Mindestruhezeiten betreffen. Der EuGH steht jeglicher Beschränkung der Schutzvorschriften und jeglicher Anwendung von Ausnahmevorschriften daher kritisch gegenüber. Im Zweifelsfall wird von ihm immer die extensive Interpretation der Schutzvorschriften und die restriktive Interpretation von Ausnahmetatbeständen gewählt. Jede Interpretation der Arbeitszeitrichtlinie muss sich daran orientieren.
28
Für die Zukunft ist dem EuGH aufgrund der Grundrechtecharta nunmehr zumindest theoretisch die Option eröffnet einzelne Richtlinieninhalte über den Umweg des Primärrechts durchzusetzen (vgl. § 2 Rz. 14).
29
3. Umsetzung in Deutschland Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. a RL 93/104/EG lief die Umsetzungsfrist für die Arbeitszeitrichtlinie am 23.11.1996 ab. Die Umsetzung in Deutschland erfolgte durch das 1 Vom 4.11.2003 ABl. Nr. L 299/9 v. 18.11.2003. 2 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 32; Schliemann, NZA 2004, 513 (514); Schliemann, NZA 2006, 1009. 3 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 32. 4 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 33; v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 49; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 100.
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§6
Rz. 31
Arbeitszeit
Arbeitszeitrechtsgesetz vom 6.6.19941, durch das die seit 1938 unveränderte AZO abgelöst wurde.2 Die Umsetzung verstieß von Anfang an gegen wesentliche Richtlinienvorschriften. Daran haben die Veränderungen zum 1.1.2004 durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt nur eingeschränkt etwas geändert (vgl. Rz. 345).3 Die Richtlinie 2003/88/EG sah selbst keine weitere Umsetzungsfrist vor. Lediglich für die Ärzte in der Ausbildung wurde in Art. 17 Abs. 5 ArbZ-RL eine befristete Abweichungsmöglichkeit von Art. 6 ArbZ-RL vorgesehen. Diese ist nach Art. 17 Abs. 5 UAbs. 2 am 1.8.2009 abgelaufen. 4. Rechtsquellen des Europäischen Arbeitszeitrechts 31
Auf der Ebene des Völkerrechts und des Unionsrechts gibt es eine Vielzahl von Rechtsquellen für das Arbeitszeitrecht. Für das Verständnis, aber auch die Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie haben diese in zunehmendem Maße Bedeutung erlangt. Alle diese Vorschriften sind in der Rechtsprechung des EuGH und den Anträgen der Generalanwälte wiederzufinden.4 a) Völkerrecht
32
Arbeitszeitrechtliche Vorgaben finden sich in Art. 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Danach hat jeder Mensch das Recht auf Erholung und Freizeit und eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit.
33
Von besonderer Bedeutung für die Arbeitszeitrichtlinie sind die ILO-Abkommen zur Arbeitszeit. Der 6. Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie lautet: „Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen, dies betrifft auch die für die Nachtarbeit geltenden Grundsätze.“ Der EuGH leitet aus diesem Erwägungsgrund ab, dass die ILO-Abkommen bei der Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie berücksichtigt werden müssen.5 Dies ist deswegen von Brisanz, weil eine Vielzahl von ILO-Abkommen zur Arbeitszeit nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert sind. Auf dem Umweg über die Arbeitszeitrichtlinie kommen sie nun doch zumindest mittelbar zur Anwendung(zur Entstehungsgeschichte vgl. Rz. 16).6
34
Maßgebliche ILO-Übereinkommen7 sind: – Übereinkommen Nr. 1 (1919): Übereinkommen über die Begrenzung der Arbeitszeit in gewerblichen Betrieben auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich.8 1 2 3 4 5 6 7 8
BGBl. 1994-I, 1170. Vgl. dazu Buschmann/Ulber, ArbZG, Einl. Rz. 13. BGBl. I 2003, 3002. EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 KHS, Slg. 2011, I-11757 = NZA 2011, 1333 (1335); GA Saggio v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 1999, I-7868; Buschmann, FS Etzel, 103 (105). EuGH v. 22.11.2011 – C 214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 = NZA 2011, 1333 (1335); Buschmann, FS Etzel (2011), 103 (108). EuGH v. 22.11.2011 – C 214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 = NZA 2011, 1333 (1335); Buschmann FS Etzel (2011), 103 (108). Allesamt im Internet verfügbar über die Homepage der ILO. www.ilo.org unter „Labour Standards“ findet sich eine Suchmaschine; vgl. dazu auch Buschmann, FS Etzel, 103 (107); Buschmann, FS Düwell (2011), 24 (40), jeweils mit umfassenderer Darstellung. Sog. „Washingtoner Übereinkommen über die Arbeitszeit“ v. 29.10.1919, in Kraft getreten am 13.6.1921.
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Einleitung
Rz. 39 § 6
– Übereinkommen Nr. 14 (1921): Übereinkommen über den wöchentlichen Ruhetag in gewerblichen Betrieben.1 – Übereinkommen Nr. 30 (1930): Übereinkommen über die Regelung der Arbeitszeit im Handel und in Büros.2 – Übereinkommen Nr. 47 (1935): Übereinkommen über die Verkürzung der Arbeitszeit auf vierzig Stunden wöchentlich.3 – Übereinkommen Nr. 171 (1990): Übereinkommen über Nachtarbeit.4 Alle diese Vorschriften sind als Auslegungshilfe für die Arbeitszeitrichtlinie heranzuziehen.5 Problematisch ist allerdings, dass die Arbeitszeitrichtlinie hinter einigen ILO-Normen zurückbleibt.6 Wie der EuGH mit diesem Problem umgehen wird, bleibt abzuwarten.
35
Der Gesundheitsbegriff der Arbeitszeitrichtlinie ist anhand der Satzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auszulegen.7 Danach ist Gesundheit ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.
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b) Primärrecht aa) Art. 153 Abs. 1 Buchst. a AEUV. Art. 153 Abs. 1 Buchst. a AEUV ermächtigt die Union durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer zu erlassen. Auf diese Grundlage hat die Union auch den Erlass der Arbeitszeitrichtlinie gestützt (vgl. zu den Einzelheiten Rz. 11 ff. und 44 ff.).
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bb) Art. 31 Abs. 2 GRC. In Art. 31 Abs. 2 GRC wird jedem Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten gewährleistet. Im engen Zusammenhang hiermit steht die Gewährleistung in Art. 31 Abs. 1 GRC die u.a. ein Recht auf „gesunde“ Arbeitsbedingungen gewährleistet. Die Vorschrift ist ein echtes Grundrecht und kein bloßer Grundsatz i.S.d. Art. 52 Abs. 5 GRC.8
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Aufgrund der Anordnung in Art. 51 Abs. 1 GRC sind die Gewährleistungen nach Art. 31 GRC sowohl von der Union, als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten, wenn diese Unionsrecht „durchführen“ (vgl. § 2 Rz. 8 ff.). Das bedeutet, dass Erlass oder die Änderung von arbeitszeitrechtlichen Regelungen der Union vom EuGH auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 31 Abs. 2 der GRC kontrolliert werden können (vgl. Rz. 286).9 Da allerdings die Entstehungsgeschichte der Norm nahelegt, dass diese maßgeblich unter Berücksichtigung der Arbeitszeitrichtlinie entwickelt wurde, stellt sich die Frage, ob sie überhaupt einen diese übersteigenden Gewährleistungsgehalt hat.10 Jedenfalls dürfte aber umgekehrt ein Teil der Regelungen der ArbZ-RL aufgrund der Grundrechtecharta
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1 In Kraft getreten am 19.6.1923. 2 In Kraft getreten am 29.8.1933; von besonderem Interesse ist die in Art. 2 dieses Abkommens gegebene Definition der Arbeitszeit. 3 In Kraft getreten am 23.6.1957. 4 In Kraft getreten am 4.1.1995. 5 Buschmann, FS Düwell, 24 (40 f.). 6 Buschmann, FS Etzel, 103 (107). 7 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 93; v. 2.11.1996 – Rs. C-84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 15. 8 Meyer/Rudolf, Art. 31 GRC Rz. 12; im Grundsatz auch Jarass, Art. 31 GRC Rz. 2. 9 Buschmann, FS Düwell, 24 (37); Jarass, Art. 31 GRC Rz. 4. 10 Meyer/Rudolf, Art. 31 GRC Rz. 20; EAS/Balze B 3100 Rz. 16, Fn. 42.
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§6
Rz. 40
Arbeitszeit
nunmehr auf die Primärrechtsebene hochgezont worden sein.1 Daraus wird teilweise ein absolutes Rückschrittsverbot für den Unionsgesetzgeber abgeleitet.2 40
Die GRC ist jedenfalls bei der Anwendung und Auslegung arbeitszeitrechtlicher Vorschriften des Unionsrechts zu beachten.3 Schließlich sind nach Art 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRC auch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EU-Richtlinien mit arbeitszeitrechtlichen Bezug an die GRC gebunden.4 Dies gilt auch dann, wenn die Mitgliedstaaten von Ausnahmevorschriften Gebrauch machen.5 Die GRC führt dazu, dass eine restriktive Auslegung dieser Ausnahmevorschriften und eine extensive Auslegung der Schutzvorschriften der Arbeitszeitrichtlinie geboten sind.6 Denn nur so kann dem Zweck des Grundrechts hinreichend Rechnung getragen werden. Gleichzeitig werden die Mitgliedstaaten noch stärker als bislang daran gehindert, dass materielle Schutzniveau der Arbeitszeitrichtlinie auszuhöhlen oder zu umgehen.
41
Da sich die Bundesrepublik bei der Schaffung arbeitszeitrechtlicher Vorschriften aber auch im Anwendungsbereich des Unionsrechts befindet (zum Anwendungsbereich der GRC vgl. § 2 Rz. 8 ff.), kann auch die GRC zu ihrer Kontrolle herangezogen werden.7 Die Ausnahmevorschriften nach § 7 Abs. 2a ArbZG, aber auch die Regelungen zur Nachtarbeit in § 6 Abs. 1 ArbZG halten einer Kontrolle im Lichte des Art. 31 Abs. 2 der GRC nicht stand, weil insbesondere die letztere Norm keinen oder zumindest keinen subsumtionsfähigen Mindestschutz beinhalten (vgl. Rz. 216, 293). Dies vereitelt die Wahrnehmung der grundrechtlich geschützten Rechte aus Art. 31 Abs. 2 GRC, weil die Umsetzungsnormen das Niveau des Mindestschutzes nicht erkennen lassen. Damit ist insoweit ein Spielraum eröffnet, die nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen. Da die Auswirkungen von Art. 31 Abs. 2 GRC auf das nationale Arbeitsrecht bislang nicht Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH waren, ist damit bei Umsetzungsdefiziten die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens unumgänglich (vgl. Rz. 287). Das gilt auch bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten, weil die GRC auch hier gilt.
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cc) Art. 151 AEUV. Insbesondere für die Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie ist Art. 151 AEUV von Bedeutung, der die Union und die Mitgliedstaaten auf die Verfolgung der in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und in der ESC festgelegten Ziele verpflichtet (vgl. auch Rz. 13). Bereits für Art. 117 des EWGV hatte der EuGH angenommen, dass dieser zur Auslegung des Unionsrechts herangezogen werden kann.8 Dies gilt ebenso für die dort in Bezug genommene ESC9 und die Charta 1 Buschmann, FS Düwell, 24 (38). 2 Meyer/Rudolf, Art. 31 GRC Rz. 20. 3 EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-155/10 – Williams, Slg. 2011, I-8409 – Rz. 18; v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 = NZA 2011, 1333 – Rz. 31; Davis, EU Labour Law, Chapter 7 S. 202; Hahn/Pfeiffer/Schubert/Schubert, ArbZR, Einl. Rz. 29. 4 EuGH v. 12.12.1996 – Rs. C-74/95 – X, Slg. 1996, I-6609 – Rz. 25; v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 – Promusicae – Rz. 68; Jarass, Art. 51 GRC Rz. 19, Art. 31 Rz. 3. 5 EuGH (Große Kammer) v. 27.6.2006 – Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769; Streinz/Streinz/Michel,Art. 51 GRC Rz. 7. 6 A.A. EAS/Balze, B 3100 Rz. 16. 7 Buschmann, FS Düwell, 24 (38 f.). 8 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. C-43/75 – Defrenne, Slg. 1976, 455 (473) – Rz. 15; v. 29.9.1987 – Rs. C-126/86 – Giménez Zaera, Slg. 1987, 3697 – Rz. 17; Grabitz/Hilf/Langenfeld/Benecke, Art. 151 AEUV Rz. 31; für die Arbeitszeitrichtlinie auch EuGH v. 9.9.2003 – C 151-02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 47. 9 EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-115/06 – Kiiski, Slg. 2007, I-7643 – Rz. 48; Buschmann, FS Düwell, 24 (40); vgl. dazu auch mit umfassenden weiteren Nachweisen zur EuGH-Rspr. Krebber, RdA 2009, 224 (227).
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Ermächtigungsgrundlage für die Arbeitszeitrichtlinie
Rz. 46 § 6
der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer.1 Diese sind bei der Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie zu berücksichtigen.2 c) Sekundärrecht Neben der Arbeitszeitrichtlinie gibt es noch mehrere weitere Rechtsakte des Sekundärrechts mit arbeitszeitrechtlichen Bezügen. Die einschlägigen Richtlinien sind Spezialregelungen, die die Arbeitszeitlichtlinie (teilweise) verdrängen (vgl. Rz. 60 ff.).
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II. Ermächtigungsgrundlage für die Arbeitszeitrichtlinie Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Arbeitszeitrichtlinie sind die Art. 153 Abs. 1 Buchst. a und b AEUV (vgl. § 1 Rz. 53 ff.). Diese ermächtigen die Union, Richtlinien zur Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt, zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer sowie zur Regelung der Arbeitsbedingungen zu erlassen, und zwar ohne dass diese Regelungen auf bestimmte Arbeitnehmergruppen beschränkt oder eingegrenzt werden müssten.3
44
Ob die Regelung der Arbeitszeit diese Anforderungen erfüllt, war anfangs streitig. Insbesondere in Großbritannien hatte die arbeitsmarktpolitische Motivation der 1. und 2. Phase der Versuche eine Arbeitszeitrichtlinie zu schaffen, tiefgreifende Vorbehalte ausgelöst (vgl. Rz. 5 ff.). Vor diesem Hintergrund erhob das Vereinigte Königreich unmittelbar nach Erlass der Richtlinie 93/104/EG Nichtigkeitsklage gegen die Arbeitszeitrichtlinie nach dem heutigen Art. 263 AEUV. Art. 153 AEUV (Art. 118a EWGV) sei keine geeignete Kompetenzgrundlage, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei verletzt, das Ermessen missbraucht und wesentliche Formvorschriften verletzt worden. Der EuGH wies alle Bedenken zurück. Nur für die Regelung der Sonntagsarbeit bot Art. 153 Abs. 1 AEUV keine hinreichende Grundlage (vgl. dazu Rz. 48).4
45
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist Art. 153 Abs. 1 Buchst. a und b AEUV eine eigenständige Kompetenzgrundlage für arbeitszeitrechtliche Regelungen, die dem Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer dienen.5 Die Vorschrift sei nicht restriktiv6, sondern weit auszulegen.7 Der Begriff Mindestvorschriften bedeutet lediglich, dass die Mitgliedstaaten über das Schutzniveau der Richtlinie hinausgehen können und limitiert den Handlungsspielraum der Union nicht (vgl. § 1 Rz. 53). Dementsprechend sind die Begriffe Arbeitsumwelt, Gesundheit und Sicherheit weit auszulegen und nicht auf körperliche Gefahren am Arbeitsplatz beschränkt.8 Gesundheit i.S.d. AEUV und damit auch i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie legt der EuGH entsprechend der Präambel der Satzung der WHO aus (vgl. Rz. 36). Danach ist Gesundheit nicht lediglich das Freisein von Krankheit oder körperlichen Gebre-
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1 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 40; Grabitz/Hilf/Langenfeld/Benecke, Art. 151 AEUV Rz. 36; vgl. i.Ü. Krebber, RdA 2009, 224 (226) mit umfassenden weiteren Nachweisen aus der EuGH-Rspr. in Fn. 18. 2 Hahn/Pfeiffer/Schubert/Schubert, ArbZR, Einl. Rz. 39 f. 3 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 18 ff. 4 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 37. 5 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 12. 6 So hatte das Vereinigte Königreich unter Verweis auf Art. 100, 100a EWGV argumentiert. 7 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 15; vgl. dazu Callies, EuZW 1996, 757. 8 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 15.
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§6
Rz. 47
Arbeitszeit
chen, sondern ein „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“.1 47
Der EuGH billigte der Union eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage zu, ob eine Maßnahme dem Gesundheitsschutz dient. Sie ist nicht auf Regelungen beschränkt, die auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen basieren.2 Vor diesem Hintergrund verletzt die Arbeitszeitrichtlinie auch nicht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.3 Art. 153 Abs. 1 AEUV gibt der Union die Möglichkeit, ein hohes Schutzniveau ohne Berücksichtigung des gegenwärtigen Standes der Schutzgesetzgebung in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Dass die Arbeitszeitrichtlinie auch beschäftigungspolitische Auswirkungen haben kann, nimmt ihr nicht das Kernziel des Gesundheitsschutzes.4 Damit sind solche Reflexe auch zukünftiger arbeitszeitrechtlicher Regelungen der Union unschädlich.
48
Lediglich für den in Art. 5 Abs. 2 RL 93/104/EG geregelten arbeitsfreien Sonntag bestand keine Kompetenzgrundlage in Art. 153 Abs. 1 Buchst. a und b AEUV (Art. 118a EWGV). Dies hat der EuGH damit begründet, der Rat habe nicht dargetan, warum der Sonntag als wöchentlicher Ruhetag in engerem Zusammenhang mit der Gesundheit stehen solle als ein anderer Wochentag.
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Nach Art. 153 Abs. 5 AEUV hat die Union keine Kompetenz, unmittelbare Regelungen für das Arbeitsentgelt zu treffen. Mittelbare Effekte der Arbeitszeitrichtlinie sind gleichwohl zulässig (vgl. Rz. 93).
III. Anwendungsbereich 50
Die Bestimmung des Anwendungsbereichs der Arbeitszeitrichtlinie ist aufgrund der Verflechtungen zwischen verschiedenen europäischen Richtlinien mit Regelungen zur Arbeitszeit schwierig. Zunächst gilt allgemein die Arbeitsschutzrahmen-RL 89/391/EG (Art. 2 Abs. 4 ArbZ-RL i.V.m. ErwGr. 3 ArbZ-RL). Zusätzlich gelten die über diese hinaus gehenden Schutzvorschriften der Arbeitszeitrichtlinie (Art. 2 Abs. 4 ArbZ-RL).
51
Diese wiederum gelten dann nicht, wenn andere Gemeinschaftsinstrumente spezifischere Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung für bestimmte Beschäftigungen oder berufliche Tätigkeiten enthalten (Art. 14 ArbZ-RL, vgl. Rz. 69 ff.). Schließlich fallen nach wie vor einzelne Berufsgruppen aus dem Anwendungsbereich völlig heraus. Dies gilt insbesondere für Personen, die Seeleute gemäß der Definition der Richtlinie 89/391/EWG (Art. 2 Abs. 3 ArbZ-RL, vgl. Rz. 60 ff.) sind. Für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern sind die Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie zwar grundsätzlich anwendbar. Allerdings wird der, durch den weiten Anwendungsbereich sehr umfassend angelegte Schutz, den die Richtlinie vermittelt, durch vielfältige bereichsspezifische Ausnahmevorschriften wieder eingeschränkt (vgl. Art. 20 bis 21 ArbZ-RL). Die Komplexität dieser Struktur wird noch dadurch erhöht, dass die Arbeitszeitrichtlinie teilweise auf Begriffsbestimmungen der Richtlinie 89/391/EWG zurückgreift.
1 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 93. 2 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 39 unter Verweis auf Nrn. 165 bis 167 der Schlussanträge des Generalanwalts. 3 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 57 ff. 4 EuGH v. 12.11.1996 – C 84/94 – Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755 – Rz. 30.
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Anwendungsbereich
Rz. 54 § 6
1. Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie a) Sachlicher Anwendungsbereich Die Arbeitszeitrichtlinie gilt für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche i.S.d. Art. 2 RL 89/391/EWG (Art. 1 Abs. 3 ArbZ-RL). Der Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie bestimmt sich damit dynamisch nach dem Anwendungsbereich der Arbeitsschutzrahmen-RL.1 Dieser ist in Art. 2 Abs. 1 89/391/EWG geregelt und ist weit zu verstehen.2 Dies ergibt sich aus Wortlaut, Systematik3 und Sinn und Zweck der Richtlinie.4 Einschränkungen für bestimmte Tätigkeitsbereiche und Arbeitnehmergruppen ergeben sich nach Maßgabe der Art. 14, 17, 18 ArbZ-RL. Soweit einzelne Arbeitnehmergruppen von ihrer Anwendung ganz oder teilweise ausgeschlossen werden sollen, regelt die Arbeitszeitrichtlinie das ausdrücklich (Art. 1 Abs. 3 UAbs. 2 ArbZ-RL). Das spricht dafür, dass im Übrigen alle Arbeitnehmer erfasst sein sollen.
52
Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 RL 89/391/EWG findet die Richtlinie keine Anwendung, soweit dem Besonderheiten bestimmter spezifischer Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, z.B. bei den Streitkräften oder der Polizei oder bei bestimmten spezifischen Tätigkeiten bei den Katastrophenschutzdiensten, zwingend entgegen stehen. Diese Ausnahmevorschrift ist eng auszulegen.5 Die Ausnahmen dienen alleine dem Zweck, das ordnungsgemäße Funktionieren der dort genannten Dienste in Ausnahmesituationen zu sichern, die von besonderer Schwere und besonderem Ausmaß sind und für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Ordnung unerlässlich sind.6
53
Die Richtlinie nimmt nicht die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 RL 89/391/EWG genannten Dienste als solche vom Anwendungsbereich der Richtlinie aus, sondern lediglich spezifische Tätigkeiten bei diesen Diensten, deren Besonderheiten der Anwendung der Richtlinie entgegen stehen.7 Das ergibt sich ohne weiteres aus dem Wortlaut der Richtlinie 89/391/EWG und stimmt mit ihrem Sinn und Zweck überein. Ein Mit-
54
1 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 38; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 48; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 30 f. 2 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 19; v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 21; v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 42; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 52; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 34. 3 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 21; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 62; v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 – Rz. 45. 4 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I- 9961 – Rz. 22; v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 42; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 52. 5 St. Rspr. EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 19; v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isére, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 24; v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 42; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 52; v. 3.7.2001 – Rs. C-241/99 – CIG, Slg. 2001, I-5139 – Rz. 29; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 35; VGH BW v. 17.6.2013 – 4 S 169/13, n.v. 6 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 19; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/08 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 44; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 55. 7 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 43 ff.; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 53; VGH BW v. 17.6. 2013 – 4 S 169/13, n.v.
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Rz. 55
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gliedstaat kann also nicht solche Dienste insgesamt, sondern nur einen Teil der Tätigkeiten innerhalb dieser Dienste, ausnehmen. Dabei gelten strenge Maßstäbe. Die Richtlinie lässt nur solche Ausnahmen zu, die auf das beschränkt sind, was zur Wahrung der Interessen, die zu schützen den Mitgliedstaaten erlaubt ist, unbedingt erforderlich ist.1 55
Im Ergebnis können Ausnahmen nur für Katastrophenfälle vorgesehen werden.2 Solche liegen nur dann vor, wenn eine Situation von besonderer Schwere und besonderem Ausmaß vorliegt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Arbeitszeitplanung für Rettungsteams nicht (mehr) möglich ist.3 Es ist auch nicht ausreichend, dass der konkrete Arbeitsanfall etwa bei Feuerwehr4 oder Rettungsdiensten nicht planbar ist.5 Denn gleichwohl sind die unter gewöhnlichen Umständen notwendigen personellen Ressourcen, einschließlich der Arbeitszeiten planbar.6 Selbst wenn ein Katastrophenfall vorliegt, haben die Mitgliedstaaten die unter den Umständen größtmögliche Sicherheit und den größtmöglichen Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten.7
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Soweit also die nur theoretische Möglichkeit einer ungefähren Prognose über den Arbeitsanfall und damit zumindest die theoretische Möglichkeit einer Dienstplanung vorliegt, ist der Anwendungsbereich der Richtlinie 89/391/EWG eröffnet. Konsequenterweise hat der EuGH daher weder den Rettungsdienst8 oder das Pflegepersonal9 noch die Feuerwehr10 von der Anwendung der Richtlinie ausgenommen.11 Diese Rechtsprechung wird bestätigt durch Art. 17 Abs. 3 Buchst. c iii) ArbZ-RL, der sowohl für die Ambulanz-, als auch die Feuerwehr- sowie die Katastrophenschutzdienste Ausnahmen zulässt. Dies wäre sinnlos, wenn die Arbeitszeitrichtlinie diese Dienste nicht erfassen würde.12 Ausnahmen und Einschränkungen des materiellen Schutzniveaus steht die Arbeitszeitrichtlinie aber nicht grundsätzlich entgegen, was z.B. Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL zeigt (Rz. 244 ff.).
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Die Leitlinie, den Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie weit und etwaige Ausnahmen von ihm eng auszulegen, erstreckt der EuGH auf alle Abweichungsmög-
1 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 24; v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 45; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 54. 2 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 53 f.; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 56. 3 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 55. 4 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/08 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 44. 5 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 57. 6 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 46; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 57. 7 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 56. 8 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835. 9 EuGH v. 3.7.2001 – Rs. C241/99 – CIG, Slg. 2001, 5139 – Rz. 27 ff. 10 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 –, Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 48 ff.; BVerwG v. 29.9.2011 – 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (644). 11 Vgl. dazu auch BVerwG v. 26.7.2012 – 7 B 62/11, NVwZ-RR 2012, 972 (974). 12 EuGH v. 14.7.2005 – Rs. C-52/04 – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, Slg. 2005, I-7111 – Rz. 60; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 71; v. 3.7.2001 – Rs. C-241/99 – CIG, Slg. 2001, I-5139 – Rz. 31; BVerwG v. 26.7.2012 – 7 B 62/11, NVwZ-RR 2012, 972 (974).
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Anwendungsbereich
Rz. 59 § 6
lichkeiten und Ausnahmevorschriften. Das hat Auswirkungen auf die Auslegung der Art. 17-22 ArbZ-RL.1 b) Persönlicher Anwendungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie ist nur durch den Ausschluss der Seeleute (Art. 2 Abs. 3 Satz 2) negativ definiert (vgl. Rz. 60 ff.). Der EuGH sieht den Arbeitnehmerbegriff der Arbeitszeitrichtlinie als einen autonomen Begriff des Unionsrechts an, der nicht eng auszulegen ist.2 Der EuGH übernimmt dabei die Begriffsdefinition, die er zu Art. 45 AEUV in ständiger Rechtsprechung entwickelt hat (vgl. § 1 Rz. 107 ff.).3 Die Arbeitszeitrichtlinie verweist nicht dynamisch auf die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten.4 Arbeitnehmer i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie ist, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt5 und damit Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.6 Damit spielt es keine Rolle, ob ein Arbeitnehmer nach einzelstaatlichen Rechtsvorschriften als Arbeiter, Angestellter oder Beamter angesehen wird.7 Ebenso wenig von Bedeutung ist, ob es sich um einen befristet oder unbefristet beschäftigten Arbeitnehmer handelt.8 Auch Saisonarbeitnehmer fallen unter den Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie.9 Die Arbeitszeitrichtlinie gilt auch hinsichtlich ihres Schutzumfangs unterschiedslos für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte,10 ermöglicht aber wegen der Ausgleichszeiträume nach Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL einen Zuwachs an Flexibilität bei den Einsatzmöglichkeiten, je geringer die vertragliche wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt wird (vgl. Rz. 44 ff.).
58
Ob eine Person Arbeitnehmer i.S.d. Definition des EuGH ist, ist von den nationalen Gerichten zu prüfen. Diese haben dabei eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles anhand objektiver Kriterien vorzunehmen.11 Der Kontrollmaßstab ist unionsrechtlich vorgegeben, nicht aber das Ergebnis. Insoweit ist auch eine Vorlage zum EuGH nicht erforderlich.
59
1 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 58; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89. 2 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 21; v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isére, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 28. 3 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 21; unter Verweis auf EuGH v. 3.7.1986 – Rs. C-66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, I-2121 – Rz. 16, 17; v. 23.3.2004, – Rs. C-138/02 – Collins, Slg. 2004, I-2703 – Rz. 26; v. 7.9.2004 – Rs. C-456/02 – Trojani, Slg. 2004, I-7573 – Rz. 15. 4 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isére, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 28. 5 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 21. 6 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 21; EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isére, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 28. 7 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-518/09 – May, Slg. 2011, I-2761 – Rz. 24 f. 8 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isére, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 31; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 – Rz. 46. 9 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 32. 10 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 – Wippel, Slg. 2004, I-9483 – Rz. 48. 11 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isére, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 29.
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§6
Rz. 60
Arbeitszeit
c) Ausnahmen und Einschränkungen 60
aa) Arbeitszeit für Seeleute. Die Richtlinie 1999/63/EG1 regelt die Arbeitszeit für Seeleute. Die Arbeitszeitrichtlinie ist auf diese nach Art. 1 Abs. 3 Satz 2 ArbZ-RL nicht anwendbar. Die Richtlinie 1999/63/EG basiert auf einer Vereinbarung der Sozialpartner und ist aufgrund eines Ratsbeschlusses nach Art. 155 Abs. 2 AEUV erlassen worden (vgl. § 1 Rz. 71 ff.). Sie ist zuletzt durch die Richtlinie 2009/13/EG2 geändert worden.3
61
Diese Änderung der Richtlinie über die Arbeitszeit von Seeleuten basierte im Wesentlichen auf dem Seearbeitsübereinkommen der ILO.4 Dieses fasst die seit 1920 schrittweise verabschiedeten Empfehlungen und Übereinkommen der ILO zum Seearbeitsrecht zusammen.5 Es kann auf Basis von Art. 1 der Ermächtigung des Rates vom 7.6. 2007 (2007/431/EG) von den Mitgliedstaaten der Union ratifiziert werden.6 Die Richtlinie 2009/13/EG tritt nach Art. 7 RL 2009/13/EG gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Seearbeitsübereinkommens 2006 in Kraft. Dieses ist am 20.8.2013 in Kraft getreten7 und von der Bundesrepublik ratifiziert worden. Die Mitgliedstaaten haben ab diesem Zeitpunkt 12 Monate Zeit für die Umsetzung (Art. 5 Abs. 1 RL 2009/13/EG).
62
Die Richtlinie 2009/13/EG ist in Deutschland durch das Seearbeitsgesetz (SeeArbG) umgesetzt worden, das am 1.8.2013 in Kraft getreten ist.8
63
Die durch die Richtlinie 2009/13/EG geänderte Richtlinie 1999/63/EG gilt nach dem 10. Erwägungsgrund und § 1 Nr. 1 Satz 1 der Sozialpartnervereinbarung im Anhang der Richtlinie 1999/63/EG für Seeleute auf allen seegehenden Schiffen, gleich ob in öffentlichem oder privatem Eigentum, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingetragen sind und die gewöhnlich in der gewerblichen Seeschifffahrt verwendet werden. Ist ein Schiff in zwei Staaten eingetragen, so gilt es als im Hoheitsgebiet des Staates eingetragen, dessen Flagge es führt (§ 1 Nr. 1 Satz 2 Anhang RL 1999/63/EG). Die Vorschriften der Richtlinie sind im Lichte des ILO-Seearbeitsübereinkommens auszulegen (vgl. Rz. 61).9
64
Der Begriff Seeleute ist umfassend zu verstehen. Es werden alle Personen erfasst, die in irgendeiner Eigenschaft an Bord eines Schiffes beschäftigt oder angeheuert sind (§ 2 c) Anhang RL 1999/63/EG). Notwendig ist, dass die Tätigkeit an Bord stattfindet. Wird die Tätigkeit prinzipiell an Land und nur teilweise oder nur zeitweise an Bord ausgeführt oder liegt sie außerhalb des gewöhnlichen Betriebs des Schiffes, so können Ausnahmen bestehen. Ob solche einschlägig sind, richtet sich nach der Entschließung der 94. (Seeschifffahrts-)Tagung der Allgemeinen Konferenz der Internationalen 1 RL 1999/63/EG v. 21.6.1999 zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (European Community Shipowners’ Association ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (Federation of Transport Workers’ Unions in the European Union FST) getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten, ABl. Nr. L 167 v. 2.7.1999. 2 RL 2009/13/EG v. 16.2.2009 zur Durchführung der Vereinbarung zwischen dem Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) über das Seearbeitsübereinkommen 2006 und zur Änderung der Richtlinie 1999/63/EG, ABl. Nr. L 124/30 v. 20.5.2009. 3 Ausf. Schäffer/Kapljic, ZESAR 2009, 170. 4 Vgl. dazu Maul-Sartori, NZA 2013, 821 (822). 5 Vgl. dazu Schäffer/Kapljic ZESAR 2009, 170. 6 ABl. Nr. L 161/63 v. 22.6.2007; zum Hintergrund Schäffer/Kapljic ZESAR 2009, 170 (171). 7 Detaillierte Informationen hierzu unter http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labourconvention/lang–en/index.htm. 8 Vom 20.4.2013, BGBl. I 2013, 868. 9 Vgl. dazu auch Schäffer/Kapljic, ZESAR 2009, 170.
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Anwendungsbereich
Rz. 70 § 6
Arbeitsorganisation über Hinweise zu Berufsgruppen1 (§ 1 Nr. 3 Satz 2 Anhang RL 1999/63/EG; Übereinkommen zwischen ECSA und ETF über das Seearbeitsübereinkommen 2006, Begriffsbestimmungen und Geltungsbereich Nr. 32). In Deutschland ist diese Begriffsbestimmung durch § 3 Abs. 1 SeeArbG umgesetzt.3 Für Arbeitnehmer auf Offshore-Anlagen gelten Sonderregelungen nach Art. 20 Abs. 3 ArbZ-RL.
65
Die arbeitszeitrechtlichen Regelungen für Seeleute finden sich in den §§ 42 ff. SeeArbG. Zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs; vgl. § 18 Abs. 3 ArbZG, § 3 SeeArbG, insbesondere die Abgrenzung zur Tätigkeit „auf“ und „an“ Offshore-Anlagen in § 3 Abs. 3 Nr. 7 ArbZG.4
66
bb) Einschränkungen nach Art. 14, 17–21 ArbZ-RL Die Arbeitszeitrichtlinie erfasst nach ihrer Änderung durch die Richtlinie 2000/34/EG (vgl. oben Rz. 21 ff.) grundsätzlich alle Tätigkeitsbereiche. Ihr Verhältnis zu anderen unionsrechtlichen Regelungen zur Arbeitszeit ist dementsprechend seitdem mitgeregelt. Dies hatte Folgen in Form einer Ausweitung der – ohnehin schon umfangreichen – Ausnahmetatbestände in den Art. 17 ff. ArbZ-RL. Diese sehen Abweichungsmöglichkeiten von einer, mehreren oder allen Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie zu Höchstarbeitszeit, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit und Ausgleichszeiträumen für bestimmte Tätigkeitsbereiche vor (vgl. Rz. 221 ff.).
67
Unanwendbar sind die zentralen Schutznormen zur Arbeitszeit nach Art. 20 ArbZ-RL für mobile Arbeitnehmer und Tätigkeiten auf Off-shore-Anlagen (vgl. Rz. 71 ff.) und nach Art. 21 ArbZ-RL für Arbeitnehmer an Bord von seegehenden Fischereifahrzeugen.
68
2. Verhältnis zu anderen Rechtsgrundlagen (Art. 14 ArbZ-RL) Die Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie gelten subsidiär gegenüber spezielleren unionsrechtlichen Regelungen zur Arbeitszeit (Art. 14 ArbZ-RL). Dies betrifft Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen und Regelungen für bestimmte Tätigkeiten unabhängig davon, in welchem Beruf diese ausgeübt werden.
69
a) Subsidiaritätsprinzip Während die Seeleute insgesamt vom Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie ausgenommen sind (vgl. Rz. 60 ff.), regelt Art. 14 ArbZ-RL lediglich das Verhältnis zu spezielleren Normen. Die Arbeitszeitrichtlinie bleibt subsidiär anwendbar. Einzelne Vorschriften können aber verdrängt sein. Dies ist für jede Regelung einzeln zu prüfen. Nur weil in einer anderen Rechtsgrundlage eine spezielle Regelung zur Höchstarbeitszeit existiert, bedeutet das nicht, dass damit die Regelungen der Arbeitszeitrichtlinie über die Bezugszeiträume (Art. 16 ArbZ-RL) suspendiert wären. Nur soweit die Regelungen zu einer denklogischen Inkompatibilität führen, greift Art. 14 ArbZ-RL. In diesem Umfang gelten dann allein die spezielleren Regelungen ungeachtet der Frage, ob sie ein höheres oder niedrigeres Schutzniveau beinhalten.5 1 Annex Maritime Labour Convention, 2006 Information on occupational groups, http://www. ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/WCMS_088130/lang–en/index.htm. 2 Abgedruckt im Anhang der RL 2009/13/EG. 3 Maul-Sartori, NZA 2013, 821 (822). 4 Vgl. dazu Maul-Sartori, NZA 2013, 821 (823). 5 EAS/Balze, B 3100 Rz. 61.
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70
§6
Rz. 71
Arbeitszeit
b) Mobile Arbeitnehmer 71
Mobile Arbeitnehmer sind von den zentralen Schutzvorschriften der Arbeitszeitrichtlinie nicht aber von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen (Art. 20 Abs. 1 ArbZRL). Der Begriff des mobilen Arbeitnehmers ergibt sich aus Art. 2 Nr. 7 ArbZ-RL. Danach ist jeder Arbeitnehmer, der als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals im Dienst eines Unternehmens beschäftigt ist, das Personen oder Güter im Straßenoder Luftverkehr oder in der Binnenschifffahrt befördert. Da Art. 20 Abs. 1 ArbZ-RL eine Ausnahmevorschrift darstellt, ist er eng auszulegen.1 Nur wenn der Hauptweck der Tätigkeit im Transportsektor liegt, handelt es sich um einen mobilen Arbeitnehmer. Nur weil Rettungsassistenten, deren Haupttätigkeit darin besteht, Erste Hilfe zu leisten, während ihrer Tätigkeit auch Personen transportieren, macht sie dies nicht zu mobilen Arbeitnehmern.2
72
Allerdings gelten für mobile Arbeitnehmer spezielle Richtlinien, in denen Sonderregelungen vorgesehen sind. Diese bestehen im Bereich des Straßenverkehrs (Rz. 74 ff.) und für das fliegende Personal (Rz. 81 ff.).
73
Für die Binnenschifffahrt gilt das ArbZG, soweit nicht die Binnenschiffsuntersuchungsordnung3 Sonderregelungen für die Mindestruhezeiten vorsieht (§ 21 ArbZG).4 Daneben bestehen – gegenüber dem ArbZG vorrangige5 – internationale Verträge. Bedeutsam ist hier das Abkommen über die Arbeitsbedingungen der Rheinschiffer zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz.6
74
aa) Straßenverkehr. Die Regulierung der Arbeitszeit im Straßenverkehrssektor besteht bereits seit über 40 Jahren (vgl. oben Rz. 6). Wegen der Offensichtlichkeit der Gesundheitsgefahren, die übermüdete Lkw-Fahrer für sich, vor allem aber für Dritte, verursachen, bestand hier von Anfang an die Einsicht in die Notwendigkeit einer Regulierung. Als Kompetenzgrundlage für den Erlass von Regelungen dient hier vor allem Art. 91 AEUV.7
75
Die Regelungen zur Arbeitszeit im Straßenverkehr finden sich verteilt auf die VO (EG) Nr. 561/20068 und VO (EWG) Nr. 3821/859 und die Richtlinie 2006/22/EG10 so1 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 67, noch zu Art. 1 Abs. 3 RL 93/104. 2 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 70. 3 Verordnung über die Schiffssicherheit in der Binnenschifffahrt v. 6.12.2008 (BGBl. I 2008, 2450). 4 MüArbR/Anzinger, § 303 Rz. 13. 5 Neumann/Biebl, ArbZG, § 21 Rz. 1. 6 Abkommen über die Arbeitsbedingungen der Rheinschiffer v. 21.5.1954, BGBl. II 1957, 217. Der Bundestag hat dem Abkommen durch Gesetz v. 28.4.1957 – in Kraft am 8.5.1957 – zugestimmt (BGBl. II 1957, 216), vgl. dazu MüArbR/Anzinger, § 303 Rz. 13. 7 Vgl. dazu Buschmann, FS Düwell, 24 (42). 8 VO (EG) Nr. 561/2006 v. 15.3.2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates, ABl. Nr. L 102/1 v. 11.4.2006. 9 VO (EWG) Nr. 3821/85 v. 20.12.1985, ABl. Nr. L 370/8 v. 31.12.1985, zuletzt geändert durch die VO (EG) Nr. 561/2006. 10 RL 2006/22/EG v. 15.3.2006 über Mindestbedingungen für die Durchführung der Verordnungen (EWG) Nr. 3820/85 und (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraftverkehr sowie zur Aufhebung der Richtlinie 88/599/EWG des Rates, ABl. Nr. L 102/35 v. 11.4.2006.
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Anwendungsbereich
Rz. 78 § 6
wie die Richtlinie 2002/15/EG1. Die VO (EWG) Nr. 3821/85 und die Richtlinie 2006/22/EG regulieren die Kontrolleinrichtungen zur Überprüfung der Lenk- und Pausenzeiten. Im Bereich des Straßenverkehrs sieht die Richtlinie 2002/15/EG in Verbindung mit der VO (EG) Nr. 561/2006 Sonderregelungen für die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports vor. Dabei ist zu beachten, dass die beiden Rechtsakte ein sich ergänzendes Schutzkonzept verfolgen. Die VO (EG) Nr. 561/2006 regelt die Lenkzeiten, Fahrunterbrechungen und Ruhezeiten der Fahrer, die Richtlinie 2002/15/EG regelt die Arbeitszeit des Fahrpersonals. Die VO (EG) Nr. 561/2006 bezweckt, Missbrauchs- und Umgehungsmöglichkeiten, die nach der Vorgängerverordnung (EWG) Nr. 3820/85 bestanden, zu beseitigen (ErwGr. 16 VO (EG) Nr. 561/2006). Soweit keine spezielleren Regelungen gelten, bleibt nach Art. 14 ArbZ-RL die Arbeitszeitrichtlinie subsidiär anwendbar.2 Soweit der Anwendungsbereich nach Art. 2–4 der VO (EG) Nr. 561/2006 eröffnet ist, hat sie gegenüber der Richtlinie Vorrang (Art. 1 Abs. 4 RL 2002/15/EG3). Teilweise sind die VO (EG) Nr. 561/2006 und die Richtlinie 2002/15/EG aber auch miteinander verschränkt. So sieht die Art. 6 VO (EG) Nr. 561/2006 vor, dass die wöchentliche Lenkzeit 56 Stunden nicht überschreiten darf, ordnet aber zusätzlich an, dass daneben auch die in der Richtlinie 2002/15/EG festgelegte wöchentliche Höchstarbeitszeit nicht überschritten werden darf. Diese wiederum beträgt nach Art. 4 Buchst. a RL 2002/15/EG grundsätzlich 48 Stunden wöchentlich. Sie kann aber auf bis zu 60 Stunden ausgedehnt werden, wenn in einem Zeitraum von 4 Monaten der Wochendurchschnitt 48 Stunden nicht übersteigt (Art. 4 Buchst. b RL 2002/15/EG). Aufgrund der kumulierten Anwendbarkeit dieser Regelungen kann es daher dazu kommen, dass ein Fahrer zwar noch lenken, aber nicht mehr arbeiten darf oder dass er zwar noch arbeiten, aber nicht mehr lenken darf.
76
Die höchstzulässigen Lenkzeiten können auch nach deutschem Recht die höchstzulässige Arbeitszeit nicht erweitern.4
77
Das gesamte Regelungsgefüge wird bei Fahrten, die teilweise außerhalb des Geltungsbereichs der VO (EG) Nr. 561/2006 (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b)5 liegen, dadurch verkompliziert, dass für diese das Europäische Übereinkommen über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR) gilt (Art. 2 Abs. 3 VO (EG) Nr. 561/2006).6 Das AETR-Übereinkommen ist Teil des Unionsrechts. Der EuGH ist für seine Auslegung zuständig.7 Sollte eine Fahrt teilweise in einem Staat stattfinden, der der Union nicht angehört und der dem AETR nicht beigetreten ist, so findet für die Teilstrecke auf Unionsgebiet die VO (EG) Nr. 561/2006 Anwendung.8 Schließlich finden für mobile Arbeitnehmer, soweit die Richtlinie 2002/15/EG und die VO (EG) Nr. 561/2002 nicht gelten, die Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie Anwendung (Art 14 ArbZ-RL und Art. 20 Abs. 1 ArbZ-RL), soweit nicht
78
1 RL 2002/15/EG v. 11.3.2002 zur Regelung der Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben, ABl. Nr. L 80/25 v. 23.3.2002. 2 EAS/Balze, B 3100 Rz. 81. 3 Der noch auf die VO (EG) Nr. 3820/85 verweist, die in der VO (EG) Nr. 561/2002 aufgegangen ist. 4 LAG SH 31.5.2005, NZA-RR 2005, 458 (459); a.A. Dzida, NZA 2007, 120 (123). 5 Die Mitgliedstaaten, die Schweiz und die Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, Norwegen, Island, Lichtenstein, vgl. dazu Streinz/Nettesheim/Duvigneau, Art. 207 AEUV Rz. 76. 6 Vgl. dazu Anzinger/Koberski, ArbZG, § 21a Rz. 22 ff. 7 EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-439/01 – Cipra und Kvasnicka, Slg. 2003, I-745 – Rz. 23 ff. 8 EuGH v. 2.6.1994 – Rs. C-313/92 – Van Swieten, Slg. 1994, I-2177 – Rz. 21.
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§6
Rz. 79
Arbeitszeit
die durch Art. 20 Abs. 1 ArbZ-RL ausgenommenen Art. 3, 4, 5 und 8 ArbZ-RL einschlägig sind. Die Art. 9–12 ArbZ-RL, die besondere Regelungen zum Schutz von Nachtarbeitnehmern beinhalten, bleiben daher anwendbar.1 79
Seit dem 23.3.2009 fallen unter die Richtlinie 2002/15/EG auch selbständige Fahrer (Art. 2 Abs. 1). Zum Erlass dieser Regelung hatte die Union mit Art. 91 AEUV eine hinreichende Kompetenzgrundlage.2
80
In Deutschland sind die Vorschriften der Richtlinie 2002/15/EG durch den verspätet3 erlassenen § 21a ArbZG umgesetzt. Vorrangig sind die Mindestvorgaben der VO (EG) Nr. 561/2002 zu beachten, soweit diese anwendbar ist und die gleichen Regelungsgegenstände betrifft (§ 21a Abs. 1 Satz 2 ArbZG).4 Ergänzend gelten das FahrPersG und die FahrPersVO.5 Darüber hinaus kann je nach Fahrstrecke das AETR gelten. Welche Vorschriften anwendbar sind, richtet sich u.a. nach dem Start oder Zielort der Fahrt, der Art des Verkehrs und der Länge der Fahrten.6 Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden. Dazu ist auf die Literatur zum Fahrpersonalrecht und die einschlägigen Kommentierungen zu § 21a ArbZG zu verweisen.7
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bb) Flugpersonal. Für das fliegende Personal der Zivilluftfahrt gilt die Richtlinie 2000/79/EG.8 Die Richtlinie führt die von der Vereinigung Europäischer Fluggesellschaften (AEA), der Europäischen Transportarbeiter-Föderation(ETF), der EuropeanCockpit Association (ECA), der European Regions Airline Association (ERA) und der International Air Carrier Association (IACA) geschlossene Europäische Vereinbarung über die Arbeitszeitorganisation für das fliegende Personal der Zivilluftfahrt9 durch.
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Die Richtlinie 2000/79/EG ist in Deutschland durch § 20 ArbZG i.V.m. der 2. Durchführungsverordnung zur Betriebsordnung für Luftfahrtgeräte (2. DVLuftBO) umgesetzt. Grundsätzlich finden die Vorschriften des ArbZG auch auf Arbeitnehmer in der Luftfahrt Anwendung. Ausgenommen sind lediglich die Besatzungsmitglieder von Luftfahrzeugen, für deren Arbeits- und Ruhezeiten die 2. DVLuftBO gilt.10
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cc) Personal im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr11. Für das Personal im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr gelten Sonderregelungen. Diese basieren auf einer Sozialpartnervereinbarung zwischen der Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (CER) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF).12 Diese sieht für bestimmte 1 Stärker, Arbeitszeitrichtlinie, Art. 20 Rz. 2. 2 EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-184/02 und C-223/02 – Spanien und Finnland/Parlament und Rat, Slg. 2004, I-7789. 3 Die RL 2002/15/EG hätte bis zum 23.3.2005 umgesetzt werden müssen. § 21a ArbZG trat am 1.9.2006 in Kraft. 4 Vgl. dazu Buschmann/Ulber J., § 21a ArbZG Rz. 2 ff. 5 Buschmann/Ulber J., § 21a ArbZG Rz. 4. 6 Vgl. dazu Heimlich/Hamm/Grun/Fütterer, Fahrpersonalrecht, Erster Teil A., D.; Anzinger/ Koberski, ArbZG, § 21a Rz. 23. 7 Vgl. weiterführend und vertiefend Heimlich/Hamm/Grun/Fütterer, Fahrpersonalrecht, 3. Aufl. 2010; Andresen/Winkler, Fahrpersonalgesetz und Sozialvorschriften für Kraftfahrer, 4. Aufl. 2011; Rang, Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr, 18. Aufl. 2008; Buschmann/ Ulber J., § 21a ArbZG; Anzinger/Koberski, ArbZG, § 21a insb. Rz. 22 ff. 8 RL 2000/79/EG v. 27.11.2000, ABl. Nr. L 302/57 v. 1.12.2000. 9 Im Anhang der RL 2000/79/EG, Abl. Nr. L 302/50 v. 1.12.2000. 10 Vgl. dazu Anzinger/Koberski, ArbZG, § 21 Rz. 3 ff.; Buschmann/Ulber J., § 20 ArbZG Rz. 2 ff. 11 ABl. Nr. L Nr. 195(15) v. 27.7.2005 und ABl. Nr. L 195(18) v. 27.7.2005. 12 ABl. Nr. L 195(18) v. 27.7.2005.
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Anwendungsbereich
Rz. 86 § 6
grenzüberschreitende Eisenbahnverkehre besondere Regelungen der Ruhezeiten und Pausen vor. Insbesondere werden sog. „Auswärtige Ruhezeiten“ geregelt, die nicht am Wohnort erfolgen. c) Mutterschutzrichtlinie Art. 7 RL 92/85/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz1 enthält besondere Schutzregelungen zur Nachtarbeit. Danach haben die Mitgliedstaaten vorzusehen, dass schwangere Arbeitnehmerinnen während der Schwangerschaft und nach der Entbindung nicht zur Nachtarbeit verpflichtet werden (Art. 7 Abs. 1 RL 92/85/EWG)
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Zur Umsetzung dieser Pflicht haben die Mitgliedstaaten Möglichkeiten vorzusehen, nach denen eine Umsetzung auf einen Arbeitsplatz mit Tagarbeit oder, sofern eine solche Umsetzung technisch oder sachlich nicht möglich ist oder aus gebührend nachgewiesenen Gründen unzumutbar ist, eine Beurlaubung oder Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs (Art. 7 Abs. 2 Buchst. a und b RL 92/85/EWG) erfolgt. Art. 7 Abs. 2 Buchst. a und b RL 92/85/EWG sind nicht so zu verstehen, dass sie alleine zugunsten des Arbeitgebers die Folgen des Art. 7 Abs. 1 RL 92/85/EWG abmildern sollen. Vielmehr schaffen sie eine Pflicht der Mitgliedstaaten, zugunsten der schwangeren Arbeitnehmerin einen Anspruch auf Umsetzung vorzusehen, soweit dies dem Arbeitgeber möglich und nicht unzumutbar ist. Dies ergibt sich aus einer Parallelwertung der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 5 RL 92/85/EWG. Dieser verpflichtet den Arbeitgeber zunächst, den Arbeitsplatz umzugestalten, wenn dies nicht möglich ist, die schwangere Arbeitnehmerin umzusetzen und nur dann, wenn dies nicht möglich ist, darf er sie beurlauben. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist diese Stufenfolge zwingend.2 Dies gilt auch für Art. 7 RL 92/85/EWG. Der Wortlaut der Norm und der Sinn und Zweck der Richtlinie, schwangere Arbeitnehmerinnen vor Diskriminierungen zu schützen, gebieten, dass ihr allgemeiner Beschäftigungsanspruch durch die Umsetzung der Richtlinie nicht eingeschränkt wird.
85
In der Praxis bedeutet dies nicht nur, dass der Arbeitgeber befugt ist, die schwangere Arbeitnehmerin auf einen Tagesarbeitsplatz umzusetzen, bevor diese beurlaubt wird.3 Eine solche Befugnis wird in Deutschland allgemein anerkannt und aus § 11 Abs. 1 S. 2 MuSchG hergeleitet. Die Richtlinie 92/85/EWG ist aber auch umgekehrt zu verstehen. Auch die schwangere Arbeitnehmerin kann beanspruchen, umgesetzt zu werden, bevor auf das Mittel der Beurlaubung zurückgegriffen wird.4 Dementsprechend ist der allgemeine Beschäftigungsanspruch der Arbeitnehmerin auf eine Umsetzung auf einen Tagarbeitsplatz gerichtet, wenn dadurch die Beurlaubung vermieden werden kann. Diese im Schrifttum befürwortete Sichtweise5 ist daher unionsrechtlich geboten. Das hat zur Folge, dass das Umsetzungsrecht des Arbeitgebers und der Umsetzungsanspruch der schwangeren Arbeitnehmerin weitgehend parallel laufen. Lediglich dann, wenn dem Arbeitgeber die
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1 ABl. Nr. L 348/1 v. 28.11.1992; dazu ausführlich Nebe, Betrieblicher Mutterschutz ohne Diskriminierungen, 2006. 2 EuGH v. 1.7.2010 – Rs. C-194/08 – Grassmayr, Slg. 2010, I-6281 – Rz. 59. 3 BAG v. 15.11.2000, NZA 2991, 386; Buchner/Becker, MuSchG, vor §§ 3-8 Rz. 27 ff.; ErfK/ Schlachter, § 3 MuSchG Rz. 3. 4 EuGH v. 1.7.2010 – Rs. C-471/08 – Parviainen, Slg. 2010, I-6533 – Rz. 32; v. 1.7.2010 – Rs. C-194/08 – Grassmayr, Slg. 2010, I-6281 – Rz. 59; ErfK/Schlachter, § 3 MuSchG Rz. 3. 5 Buchner/Becker, MuSchG vor §§ 3–8 Rz. 40.
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§6
Rz. 87
Arbeitszeit
Umsetzung theoretisch möglich aber praktisch unzumutbar ist oder dies umgekehrt für die Arbeitnehmerin gilt, können Umsetzungsbefugnis und Umsetzungsanspruch auseinander fallen.1 d) Jugendarbeitsschutzrichtlinie 87
Die Richtlinie 94/33/EG über den Jugendarbeitsschutz2 enthält in Art. 8 bis 12 Sonderregelungen zur Arbeitszeit (Art. 8 RL 94/33/EG), ein grundsätzliches Nachtarbeitsverbot (Art. 9 RL 94/33/EG), zu Ruhezeiten und Jahresruhezeiten (Art. 10 und 11 RL 94/33/EG) sowie zu den Pausen (Art. 12 RL 94/33/EG). Die Regelungen differenzieren zwischen grundsätzlich verbotener Kinderarbeit (Art. 4 Abs. 1 RL 94/33/EG) und eingeschränkt erlaubter Jugendarbeit. Die Richtlinie differenziert bei der Höchstarbeitszeit zwischen Kindern und Jugendlichen. Bei der Abgrenzung der Begriffe kommt der Frage, ob die betroffene Person nicht mehr der Vollzeitschulpflicht unterliegt, eine entscheidende Bedeutung zu. Wer dieser unterliegt und unter 18 Jahre alt ist, ist Kind i.S.d. Richtlinie 94/33/EG.
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Die tägliche Höchstarbeitszeit kann für nicht mehr vollzeitschulpflichtige Kinder in der Ausbildung und Jugendliche maximal 40 Stunden wöchentlich betragen (Art. 8 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 RL 94/33/EG). Besteht noch eine Vollzeitschulpflicht, differenziert die Richtlinie zwischen Tätigkeiten während (maximal 2 Stunden pro Tag und 12 Stunden pro Woche) und außerhalb der Unterrichtszeit (maximal 7 Stunden pro Tag und 35 Stunden pro Woche, wenn die Ferien mindestens eine Woche betragen).
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Nachtarbeit ist für Kinder durch die Richtlinie verboten (Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und c RL 94/33/EG). Für Jugendliche gilt das grundsätzlich für einen Zeitraum von 8 Stunden, der zwischen 22:00 und 6:00 Uhr oder zwischen 23:00 und 7:00 Uhr liegen kann. Ausnahmen für besondere Tätigkeitsbereiche sind möglich (Art. 9 Abs. 1 und 2 RL 94/33/EG).
90
Nach Art. 10 RL 94/33/EG haben die Mitgliedstaaten für Kinder mindestens 14 aufeinander folgende Stunden Ruhezeit pro 24-Stunden-Zeitraum vorzusehen. Bei Jugendlichen ist die Ruhezeit auf mindestens 12 aufeinander folgende Stunden reduziert. Auch hier gibt es eng umgrenzte Ausnahmen für bestimmte Tätigkeiten.
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Die Richtlinie 94/33/EG ist in Deutschland durch das Jugendarbeitsschutzgesetz, insbesondere die §§ 8 ff. JArbSchG umgesetzt worden. e) Arbeitsschutzrahmenrichtlinie
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Kein Konkurrenz-, aber ein wechselseitiges Ergänzungsverhältnis mit Blick auf den Gesundheitsschutz, haben die Arbeitsschutzrahmen-RL 89/391/EG und die Arbeitszeitrichtlinie. 3. Keine Regelung der Vergütung
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Die Arbeitszeitrichtlinie zielt auf die Gewährleistung des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer. Sie betrifft damit die Dimension des Arbeitszeitrechts als öffentliches Gefahrenabwehrrecht. Nicht geregelt wird durch die Arbeits1 Wohl weitergehend Buchner/Becker, MuSchG vor §§ 3–8 Rz. 40. 2 RL 94/33/EG v. 22.6.1994 Abl. Nr. L 216/12 v. 20.8.1994; vgl. dazu Lörcher, AuR 1994, 360.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 96 § 6
zeitrichtlinie die Vergütung.1 Vergütungsansprüche können regelmäßig nicht auf eine Verletzung der Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie gestützt werden.2 Dementsprechend ergibt sich aus der Arbeitszeitrichtlinie auch keine Regelung der Vergütung von Bereitschaftsdiensten.3 Dass die Arbeitszeitrichtlinie mittelbare Auswirkungen auf das Arbeitsentgelt haben kann, ist unproblematisch und mit Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar (vgl. § 1 Rz. 60 ff.). Im Zusammenhang mit dem allgemeinen und dem speziellen Benachteiligungsverbot nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. b ArbZ-RL kann das Entgelt aber von Bedeutung sein (vgl. Rz. 336).
IV. Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit Für das Verständnis der Vorschriften über die Arbeitszeit und die Ruhezeiten ist von zentraler Bedeutung, dass sich die Arbeitszeitrichtlinie alleine auf die arbeitsschutzrechtliche Dimension der Arbeitszeit bezieht. Die Arbeitszeitrichtlinie beinhaltet aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte ein komplexes Regelungsgeflecht aus auf tägliche und wöchentliche Bezugszeiträume ausgerichteten Mindestruhezeiten. Da sich die Kommission zunächst geweigert hatte, auch die Höchstarbeitszeit in der Arbeitszeitrichtlinie zu regeln (vgl. Rz. 17), basiert diese in erster Linie auf einem Konzept, dass Mindestruhezeiten vorsieht. Der 5. Erwägungsgrund deutet dies noch an. Dieser sieht die Gewährleistung des Gesundheitsschutzes vorrangig durch Ruhezeiten vor und erwähnt die wöchentliche Höchstarbeitszeit eher als Annexregelung. Gleichwohl sieht der EuGH in der in Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL verankerten wöchentlichen Höchstarbeitszeit, ebenso wie in den Vorschriften über die Mindestruhezeiten, „eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Union, die jedem Arbeitnehmer als ein zum Schutz seiner Sicherheit und Gesundheit bestimmter Mindestanspruch zu gute kommen muss.“4
94
Die Arbeitszeitrichtlinie sieht Mindestruhezeiten von 11 zusammenhängenden Stunden pro 24 Stundenzeitraum (Art. 3 ArbZ-RL, vgl. Rz. 148 ff.), einen zusätzliche wöchentliche Mindestruhezeit von 24 Stunden (Art. 5 ArbZ-RL, vgl. Rz. 166 ff.) und grundsätzlich durchschnittlich 48 Stunden Arbeitszeit pro Woche (Art. 6 RL 2003/88/EG, vgl. Rz. 159 ff.) innerhalb eines Bezugszeitraums (Art. 16 ArbZ-RL, vgl. Rz. 169 ff.) vor. Daraus ergibt sich bei gleichmäßiger Verteilung der Arbeitszeit eine 6-Tage-Woche mit 8 Stunden täglicher Arbeitszeit und mindestens 11 Stunden zusammenhängender Ruhezeit pro 24 Stundenzeitraum. Diese Grundkonzeption ist durch vielfältige Flexibilisierungsmöglichkeiten durchbrochen. Abweichungen können innerhalb von Bezugszeiträumen ausgeglichen werden, so dass ein hochgradig flexibler Rahmen besteht.
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Die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Mindestruhezeiten und die wöchentliche Höchstarbeitszeit ist teilweise eingeschränkt. Nach Art. 20 ArbZ-RL gilt für mobile Arbeitnehmer und Tätigkeiten auf Off-Shore-Anlagen lediglich Art. 6 ArbZ-RL, nicht aber die Art. 3 (tägliche Ruhezeit), 4 (Ruhepausen), 5 (wöchentliche Ruhezeit)
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1 EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v., juris (Ls.); v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 38. 2 BAG v. 16.5.2013 – 6 AZR 619/11, ZTR 2013, 441; v. 17.12.2009 – 6 AZR 729/08, NZA-RR 2010, 440; v. 24.9.2009 – 10 AZR 770/07, NZA 2009, 272. 3 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 39. 4 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 33; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 33; v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 36; v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 49; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 100.
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§6
Rz. 97
Arbeitszeit
und 8 ArbZ-RL (Nachtarbeit). Für Arbeitnehmer auf seegehenden Fischereifahrzeugen gilt darüber hinaus auch Art. 6 ArbZ-RL nicht (vgl. Rz. 68). 1. Arbeitszeitbegriff der Arbeitszeitrichtlinie 97
Nach Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL ist Arbeitszeit jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Im Gegensatz dazu ist Ruhezeit i.S.d. Art. 2 Nr. 2 ArbZ-RL jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit. Nach der Rechtsprechung des EuGH stehen beide Begriffe in einem strengen Alternativitätsverhältnis.1 a) Arbeitszeitbegriff als autonomer Begriff des Unionsrechts
98
Der Arbeitszeitbegriff der Richtlinie ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts.2 Das ergibt sich ohne weiteres aus der Entstehungsgeschichte des Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL, die vom EuGH allerdings nicht bemüht wird.
99
Der Verweis auf die nationalen Gepflogenheiten kann nicht als dynamischer Verweis auf das nationale Recht verstanden werden. Würde die Arbeitszeitrichtlinie zulassen, dass die Nationalstaaten selbst definieren was Arbeitszeit ist, könnten diese ihr Mindestschutzniveau aushebeln. Sowohl der Zweck der Gewährleistung von Gesundheitsschutz und Sicherheit der Arbeitnehmer als auch die Vereinheitlichungsfunktion der Richtlinie könnten nicht mehr gewahrt werden.3 Art. 1 Abs. 1 ARbZ-RL spricht ebenfalls für diese Sichtweise. Mindestvorschriften kann die Arbeitszeitrichtlinie nur beinhalten, wenn die Mitgliedstaaten keine Definitionshoheit über den Anknüpfungspunkt „Arbeitszeit“ haben. Schließlich sehen die Art. 17 ff. ArbZ-RL keine Abweichungsbefugnisse für Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL vor.4
100
Die Mitgliedstaaten sind daher nicht befugt, die Reichweite der Regeln, die an den Arbeitszeitbegriff anknüpfen, selbst festzulegen. So dürfen die Mitgliedstaaten die Einhaltung der Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit nach Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL nicht begrenzen, indem sie den Anspruch der Arbeitnehmer auf ihre Einhaltung „irgendwelchen Bedingungen oder Beschränkungen unterwerfen.“5
101
Der Arbeitszeitbegriff ist nur im Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie verbindlich. Außerhalb ihres Anwendungsbereichs steht sie abweichenden Begriffsbildungen etwa im nationalen Betriebsverfassungsrecht oder in Entgeltregelungen in Tarifverträgen nicht entgegen.6
1 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 42; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 48; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 47. 2 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 44 f.; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 58; a.A. Hergenröder, RdA 2001, 346. 3 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 44 f.; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 59; Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 2 Rz. 2. 4 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 81 f. 5 St. Rspr. EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 34; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, 9849 – Rz. 52; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 99; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 59. 6 BAG v. 14.11.2006 – 1 ABR 5/06, NZA 2007, 458.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 106
§6
b) Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL Der Arbeitszeitbegriff der Arbeitszeitrichtlinie ist vom Wortlaut her nicht eindeutig. Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL lautet: „Arbeitszeit ist jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer […] arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.“
102
Die Arbeitszeitrichtlinie beinhaltet keine Abweichungsmöglichkeiten vom Arbeitszeitbegriff.1 Art. 2 ArbZ-RL wird in den Art. 17 ff. ArbZ-RL nicht genannt. Abweichungsmöglichkeiten bestehen lediglich hinsichtlich der Länge der Höchstarbeitszeit, der Ruhezeit, der Ruhepausen, der Nachtarbeit und der Ausgleichszeiträume, nicht aber hinsichtlich deren Bezugspunkt, dem Arbeitszeitbegriff.2 Bei Verstößen ist Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL unmittelbar anzuwenden.3
103
aa) Begriffsbildung des EuGH. Der EuGH hat seiner Rechtsprechung von Anfang an ein extensives Verständnis des Arbeitszeitbegriffs und der Fallgruppen in Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL zugrunde gelegt. Die SIMAP-Entscheidung legt den Grundstein hierfür.4 Die dort entwickelte Linie hat der EuGH im Grundsatz stets weiterverfolgt und lediglich feiner ausdifferenziert.5 Bei der Auslegung der Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie ist zu beachten, dass der EuGH aufgrund der Erwägungsgründe und der Ziele der Arbeitszeitrichtlinie dem Gesundheitsschutz den Vorrang vor ökonomischen Erwägungen einräumt.6
104
Der Wortlaut des Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG verbindet die Bestandteile „dem Arbeitgeber zur Verfügung steht“ sowie „seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“ zwar mit dem Wort „und“, aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich aber, dass damit im Ergebnis keine über die Anforderung „am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen“ hinaus gehenden Anforderungen verbunden sind.
105
Die Frage, ob die Kriterien kumulativ vorliegen müssen oder nicht,7 ist für den EuGH nur von eingeschränkter Bedeutung, da er die Merkmale in seiner Rechtsprechung eher fließend ineinander übergehend und sehr großzügig betrachtet.8 Er leitet aus der vertraglichen Verpflichtung, am Arbeitsplatz zur Verfügung zu stehen, ohnehin die Aufgabe des Arbeitnehmers ab, eben dies zu tun und damit durch das zur Verfügung stehen seine Tätigkeit auszuüben. Damit ist bei Bereitschaftsdienst die Erfüllung der Verpflichtung am Arbeitsplatz zur Verfügung zu stehen gleichzeitig Wahrnehmung der Aufgaben des Arbeitnehmers i.S.d. Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL.9 Für den EuGH ist es völlig selbstverständlich, dass derjenige, der am Arbeitsplatz zur Verfügung steht, damit zugleich seine Tätigkeit ausübt.10 Der EuGH prüft also formal alle drei Bestandteile des Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL, behandelt sie aber faktisch als Beispiele eines einheitlichen Arbeitszeitbegriffs, dem das am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen als zentrales Merkmal zugrunde liegt.
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 81. EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 82. Schunder EuZW 2003, 662 (663). EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 48. EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 42 f.; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 93; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 71, 75. EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 66 f. Vgl. dazu Buschmann, FS Düwell, 24 (46); Barnard, EU Employment Law, S. 547. Barnard, EU Employment Law, S. 547. EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 63. EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 48.
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§6
Rz. 107
Arbeitszeit
107
bb) Bewertung. Die Begriffsbildung des EuGH ist angesichts Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Richtlinie überzeugend. Der erste Entwurf der Kommission (Rz. 10) hatte noch vorgesehen, dass Arbeitszeit die „gesetzlich, durch TV, BV oder Einzelarbeitsvertrag festgelegte Zeitspanne ist, in der ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber am Arbeitsplatz zur Verfügung steht.“1 An dieser Formulierung hatte die Kommission bis zu ihrem letzten Vorschlag festgehalten.2 Das Parlament hingegen wünschte eine Änderung dahingehend, dass die Überschrift der Vorschrift „effektive Arbeitszeit“ lauten sollte.3 Der Rat nahm den Änderungswunsch des Parlaments nicht an. Begründet wurde dies mit einer zwischenzeitlich vorgenommenen„Umstrukturierung des Textes“.4 Inhaltlich wurde § 2 Nr. 1 ArbZ-RL um die Elemente „arbeitet“ und „seine Tätigkeit ausübt“ ergänzt. Offenbar war der Rat der Auffassung, dass der Regelungsgehalt der Norm sich hierdurch gegenüber dem Kommissionsentwurf nicht veränderte, sondern er lediglich umformuliert wurde. Ansonsten wäre nicht lediglich von einer „Umstrukturierung“ die Rede. Dies lässt zwei Schlussfolgerungen zu. Entweder die neu hinzugetretenen Merkmale „arbeitet“ und „und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“ haben lediglich eine Klarstellungsfunktion.5 Oder der Rat sieht sie als synonyme Formulierungen für „am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen“ an. Jedenfalls lässt die Entstehungsgeschichte, soweit sie dokumentiert ist, keine Interpretation zu, nach der durch die Formulierung der Arbeitszeitbegriff gegenüber dem Kommissionsentwurf materiell verändert werden sollte. Das Gleiche gilt für die Formulierung „gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten“, die lediglich bedeutet, dass die Arbeitszeitrichtlinie nicht reguliert, wie der Anspruch des Arbeitgebers auf die geschuldete Arbeitsleistung im nationalen Recht entsteht, sondern dies voraussetzt.6
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Nach Art. 2 ILO-Übereinkommen Nr. 30 ist der Arbeitszeitbegriff exakt so definiert, wie ihn der EuGH begreift: „Als Arbeitszeit gilt die Zeit, während der die Arbeitnehmer zur Verfügung des Arbeitgebers stehen; sie umfasst nicht die Ruhepausen, während der die Arbeitnehmer nicht zur Verfügung des Arbeitgebers stehen.“ Nach ErwGr. 6 ArbZ-RL und der Rechtsprechung des EuGH sind die Abkommen der ILO bei der Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie zu berücksichtigen (vgl. Rz. 33). Dementsprechend ist die Rechtsprechung des EuGH auch deshalb nachvollziehbar, weil sie sich an das ILO-Kriterium „zur Verfügung stehen“ hält.7
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Für die Begriffsbestimmung des EuGH sprechen Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie, den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Diese Ziele würden verfehlt, wenn die persönliche Anwesenheit am Arbeitsplatz nicht als Arbeitszeit zählen würde.8 Denn das hätte zur Konsequenz, dass die tägli-
1 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vorgelegt am 3.8.1990, ABl. C 254/4 (5). 2 Änderung des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung v. 23.4.1991, ABl. C 124/8. 3 Entschließung v. 20.2.1991, ABl. C Nr. 72/86. 4 Gemeinsamer Standpunkt des Rates v. 30.6.1993 im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, 7253/2/93 RV 2 ADD1 v. 2.7.1993 und 7253/2/93 REV 2 (d) v. 1.7.1993. 5 So etwa GA Ruiz-Jarabo v. 8.4.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8393 – Rz. 28. 6 Ähnlich Wank, Anm. zu EuGH v. 3.10.2000 EAS RL 93/104/EWG Art. 2 Nr. 1, S. 44. 7 Ebenso GA Saggio v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7968 – Rz. 34; Buschmann, FS Düwell, 24 (46). 8 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 50; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 49.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 114
§6
chen Ruhezeiten verkürzt werden könnten.1 In der Gewährleistung dieser Ruhezeiten liegt aber der Kern des Schutzkonzepts der Richtlinie (Rz. 17, 140 ff.). Die Rechtsprechung des EuGH wird auch durch Art. 1 Abs. 1 ArbZ-RL sowie den 4., 5., und 11. Erwägungsgrund bestätigt. Der EuGH hat sich in der Rechtssache Jaeger daher auch auf die Erwägungsgründe der Arbeitszeitrichtlinie gestützt, um den Gesundheitsschutz als Leitlinie der Begriffsauslegung in den Vordergrund zu stellen.2
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Der EuGH hat seine Rechtsprechung zur weiten Auslegung des Arbeitszeitbegriffs auch auf Nr. 19 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer gestützt (vgl. Rz. 14, 42). Diese verlangt, dass die Arbeitnehmer in ihrer Arbeitsumwelt zufriedenstellende Bedingungen für Gesundheitsschutz und Sicherheit vorfinden müssen. Aus Sicht des EuGH spricht das dafür, bereits bei einer persönlichen Anwesenheit am Arbeitsplatz davon auszugehen, dass es sich um Arbeitszeit i.S.d. Richtlinie handelt.3
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Dass einige Mitgliedstaaten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland, geltend gemacht hatten, der durch die Arbeitszeitrichtlinie gewährleistete Gesundheitsschutz sei ihnen mit Blick auf ihre Gesundheitssysteme zu teuer, hat den EuGH unbeeindruckt gelassen, weil der Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Arbeitnehmer ausweislich des ErwGr. 4 ArbZ-RL Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet werden dürfen.4
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cc) Folgen der Rechtsprechung des EuGH. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ausreichend, dass ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber am Arbeitsplatz zur Verfügung steht und dadurch seine Aufgaben wahrnimmt. Damit Arbeitszeit vorliegt ist es nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit ununterbrochen ausübt.5 Nach der EuGH-Rechtsprechung kann das Tätigkeit ausüben auch darin bestehen, sich am Arbeitsplatz aufzuhalten und für die Arbeit zur Verfügung zu stehen.6 Auch „Phasen der Untätigkeit“7, die sich aus der Art der Dienste ergeben, können damit zur Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie zählen.8 Die Arbeitszeitrichtlinie differenziert nicht nach der Intensität der vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeit.9 Das betrifft etwa die Arbeitsbereitschaft (vgl. Rz. 117).
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Kann der Arbeitnehmer hingegen seinen Aufenthaltsort frei bestimmen und eigenen Interessen nachgehen, ist dies grundsätzlich keine Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer erreichbar sein muss, um gegebenenfalls zur Arbeitstätigkeit angefordert zu werden.10 Dies gilt nicht, wenn sich der Arbeitnehmer zwar außerhalb der Arbeitsstätte aufhalten kann, er aber nicht frei sei-
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1 GA Saggio v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7968 – Rz. 35, in Bezug genommen durch EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 49. 2 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 45 unter Verweis auf ErwGr. 1, 4, 7 und 8 RL 93/104/EG. 3 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 47. 4 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 –, Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 67. 5 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 42 f.; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 93; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 71, 75; BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084). 6 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 93; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 71, 75; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 –, SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 48. 7 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 –, Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 94. 8 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 56 f. 9 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 43. 10 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 51; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 48.
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§6
Rz. 115
Arbeitszeit
nen Aufenthaltsort bestimmen kann oder in seinem Freizeitverhalten zu stark gesteuert wird.1 Die konkrete Ausgestaltung des Dienstes ist dabei maßgeblich. Dabei sind auch faktische Umstände, die mit dem Arbeitsverhältnis in Zusammenhang stehen, zu berücksichtigen, wie etwa Haftungsregelungen oder Berufskodizes (vgl. Rz. 124). 115
Aufgrund von Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL unterscheidet die Arbeitszeitrichtlinie nicht zwischen Arbeitszeit und Überstunden. Diese sind zusammenzurechnen und ergeben insgesamt die Arbeitszeit.2 c) Sonderproblem: Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft
116
Die Bedeutung des weiten Arbeitszeitbegriffs des EuGH hat sich insbesondere an der Problematik der Einordnung von Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit gezeigt. Nach deutschem Recht ist zu unterscheiden zwischen:3
117
– Arbeitsbereitschaft: Der Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer an seiner Arbeitsstelle anwesend ist und sich dort dafür bereithält, seine Arbeit aufzunehmen, jedoch im Übrigen keine Arbeit leistet.4 – Bereitschaftsdienst: Die Zeitspanne, während derer der Arbeitnehmer, ohne dass er unmittelbar am Arbeitsplatz anwesend sein müsste, sich für Zwecke des Betriebs an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufzuhalten hat, damit er erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit sofort oder zeitnah aufnehmen kann.5 – Rufbereitschaft: Der Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich in der eigenen Wohnung oder an einem anderen, dem Arbeitgeber anzuzeigenden Ort aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufnehmen zu können.6 118
Da die Arbeitszeitrichtlinie die Begrifflichkeiten Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft nicht kennt, geht es alleine darum, ob Tätigkeiten, die in Form eines solchen Dienstes erbracht werden, Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie sind.
119
aa) Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst. Den Arbeitszeitbegriff der Arbeitszeitrichtlinie hat der EuGH vor allem in Entscheidungen zum Bereitschaftsdienst entwickelt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH handelt es sich bei Bereitschaftsdienst um Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL. Diese Rechtsprechung wird vom EuGH seit den Verfahren SIMAP7 und Jaeger8 in ständiger Rechtsprechung fortgeführt.9 Nach Auffassung des EuGH gab es bereits aufgrund der SIMAP-Entscheidung keinen Raum für vernünftige Zweifel an dieser Auslegung.10 Damit lag ab dem 1.1.2001 offen1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v. juris (Ls.). EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 51. Vgl. dazu Anzinger, FS Wißmann (2005), 3 (5 ff.). BAG v. 28.1.1981 – 4 AZR 892/78, DB 1981, 1195. St. Rspr. BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742 (745) m.w.N.; Buschmann/Ulber J., § 2 ArbZG Rz. 17. Der EuGH hat vor allem den Bereitschaftsdienst in Form persönlicher Anwesenheit am Arbeitsplatz im Blick, vgl. dazu Schliemann, NZA 2004, 513 (515). BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 102/10, NZA 2012, 91 (93). EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963. EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389. EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 55; v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 46; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 93. EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 54, 55, 57; BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (973); ebenso Schunder, EuZW 2003, 662.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 123
§6
sichtlicher Verstoß gegen die Arbeitszeitrichtlinie vor, soweit im nationalen Recht Bereitschaftsdienst nicht zur Arbeitszeit gezählt wurde.1 Da es sich bereits bei Bereitschaftsdienst um Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL handelt, gilt dies erst recht für die Arbeitsbereitschaft.2
120
Bei der Arbeitsbereitschaft handelte es sich nach deutschem Recht schon immer um Arbeitszeit. Allerdings sind die für diese Dienstform im ArbZG vorgesehenen Abweichungsbefugnisse von der Höchstarbeitszeit und den Mindestruhezeiten nicht mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar (vgl. Rz. 272, 291, 324).
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(1) Anwesenheit am Arbeitsplatz. Nach Ansicht des EuGH erfüllt der Bereitschaftsdienst das Merkmal „persönliche Anwesenheit am Arbeitsplatz“.3 Die Verpflichtung, sich an einem Ort zur Verfügung des Arbeitgebers zu halten, um nötigenfalls sofort Leistungen zu erbringen, ist nach seiner Sicht bereits die Wahrnehmung von Aufgaben für den Arbeitgeber (Rz. 104 ff.).4 Daher ist der Bereitschaftsdienst insgesamt Arbeitszeit. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer während des Dienstes keine einzige Sekunde arbeitet.5 Ausreichend ist bereits, dass der Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrages oder der sonstigen Umstände tatsächlich oder faktisch gezwungen ist, sich am Arbeitsplatz aufzuhalten.6 Der EuGH betont besonders, dass die ständige Anwesenheit am Arbeitsplatz für den Arbeitnehmer keinen vergleichbaren Erholungswert aufweist, wie die Rufbereitschaft, weil er sich außerhalb seines familiären und sozialen Umfeldes aufhalten muss.7 Hier spielt eine entscheidende Rolle, dass der EuGH den Gesundheitsbegriff der WHO übernimmt. Dieser sieht Gesundheit als Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen (vgl. oben Rz. 36).8 Bei diesem Gesundheitsbegriff wird auch die Beeinträchtigung des sozialen Wohlbefindens durch Abwesenheit von Familie und Freunden einbezogen. Gleichzeitig wird dem geringeren Erholungswert, der „nicht sozial nutzbarer“ Freizeit innewohnt Rechnung getragen.9 Grenzfälle können immer dann entstehen, wenn Anwesenheitspflichten bestehen, die nicht mit der Pflicht zur Diensterbringung kombiniert sind.10
122
Diese Rechtsprechung hat der EuGH zum Bereitschaftsdienst entwickelt, bei dem der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber an der Arbeitsstelle zur Verfügung stand und nicht zu der – nach deutschem Recht ebenfalls als Bereitschaftsdienst zu qualifizierenden Form des Bereitschaftsdienstes (s. oben Rz. 117) – bei der sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort außerhalb der Arbeitsstelle aufhält. Gleichwohl greift es angesichts der Rechtssache Grigore11 zu kurz, daraus
123
1 BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (973). 2 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 94. 3 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 52; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 53. 4 EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v. juris (Ls.); v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 48; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 49, 63. 5 EAS/Balze, B 3100 Rz. 100. 6 BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084). 7 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 65. 8 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 93. 9 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 65. 10 Gleichwohl unionsrechtswidrig gelöst wurde der atypische Fall VGH BW 17.6.2014 – 4 S 169/13, n.v. 11 EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v. juris (Ls.).
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§6
Rz. 124
Arbeitszeit
zu folgern, sobald ein Arbeitnehmer sich nicht mehr an der Arbeitsstelle bereithalten müsse, liege keine Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie vor.1 124
In der Rs. Grigore hat der EuGH entschieden, dass der Arbeitszeitbegriff der Richtlinie erfüllt sein kann, wenn ein Förster für Schäden in seinem Revier unabhängig davon haftet, ob diese während oder außerhalb seiner Arbeitszeit entstehen. Es liege dann Arbeitszeit vor, wenn die Haftungsregelung seine körperliche Anwesenheit im Revier voraussetzt oder faktisch dazu führt, dass der Förster sich dort permanent aufhält.2 Es ist nicht möglich darauf zu verweisen, im Arbeitsvertrag sei keine Arbeitsverpflichtung vorgesehen. Die Arbeitszeit ist anhand tatsächlicher Kriterien zu bestimmen.3
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„Häusliche Alarmbereitschaft“, die von Dienstleitern von Feuerwehren geleistet wird, ist demnach Arbeitszeit.4 Diese müssen sich zwar nicht an der Arbeitsstelle aufhalten, dürfen sich aber faktisch nur in einem engen Umkreis um die Dienststelle aufhalten und müssen dabei stets ihr Dienstfahrzeug mit sich führen. Damit ist der private Freiraum in einer Weise eingeschränkt, der diese Dienste insgesamt zur Arbeitszeit macht. Diese Sichtweise könnte sich auch für sog. mobile soziale Dienste etwa im Altenpflegebereich auswirken. Auch hier bestehen im Abendund Nachtzeitraum vergleichbare Regelungen. Hingegen hat das OVG Berlin die Überführung von Dienstfahrzeugen im Rahmen von Dienstreisen nicht als Arbeitszeit angesehen.5
126
Alleine deshalb, weil eine Dienstwohnung am Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird, gilt nicht die gesamte Zeit, die in dieser Wohnung verbracht wird, als Arbeitszeit. Besteht außerhalb der Arbeitszeit keine Verpflichtung, sich innerhalb der Wohnung aufzuhalten und sich zur Verfügung des Arbeitgebers zu halten, so ist dies keine Arbeitszeit.6
127
Dass aufgrund moderner Kommunikationsmittel die Abgrenzungsprobleme zwischen Arbeit und Freizeit immer größer werden, ist ein Problem, über das der EuGH bislang nicht zu entscheiden hatte.7 Ob er an seiner Rechtsprechung zur Abgrenzung von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft (vgl. Rz. 134) angesichts veränderter Formen der Arbeit insbesondere mit Smartphones und Tablets festhalten wird, erscheint nicht unzweifelhaft.
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Fraglich ist, ob der EuGH in Zukunft bereits dann, wenn ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, sein Diensthandy mit sich zu führen und dieses nicht abschalten darf, rund um die Uhr Arbeitszeit annehmen wird. Hier auf den Grad der Beanspruchung abzustellen,8 dürfte unionsrechtlich nicht möglich sein. Angesichts der Rechtsprechung des EuGH zur Effektivität von Ruhezeiten (vgl. Rz. 141 ff.) ist es schwierig anzunehmen, das Entgegennehmen eines Anrufes oder das Verfassen einer E-Mail sei keine Unterbrechung der Ruhezeit.9 Im Übrigen dürfte der EuGH 1 So noch vor diesen Entscheidungen Schliemann, NZA 2004, 513 (515). 2 EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v. juris (Ls.); das dürfte auf den Fall VGH BW 17.6.2014 – 4 S 169/13, n.v. übertragbar sein und dieser daher unionsrechtswidrig entschieden worden sein. 3 Thüsing, ZESAR 2010, 373 (374). 4 VGH BW v. 26.6.2013 – 4 S 94/12, n.v. Rz. 18 ff. 5 OVG Berlin v. 4.12.2009 – 6 N. 2.08, NVwZ-RR 2010, 279. 6 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 65. 7 Vgl. dazu Falder, NZA 2010, 1150. 8 So Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2012, 178 (179). 9 Falder, NZA 2010, 1150 (1152f); zum Problem ausf. HWK/Gäntgen, § 5 ArbZG Rz. 2.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 132
§6
der Freiwilligkeit der Entgegenahme eines Anrufs oder des Lesens von E-Mails keinerlei Relevanz zukommen lassen. Dies stünde in diametralem Widerspruch zur Rechtsprechung in der Rs. Grigore1. Insofern sind Arbeitgeber mit derartigen Diensthandysystemen dringend gehalten strikte Abschaltanweisungen auszusprechen und den Nachweis über deren Vollzug sicherzustellen, weil ansonsten die Unterbrechung der Ruhezeiten zu permanenten Verstößen gegen das Arbeitszeitrecht führen wird. Der deutsche Gesetzgeber sollte die Frage dringend regeln, um hier Rechtssicherheit für die Praxis zu schaffen. (2) Inaktive Zeiten. Ob es innerhalb des Bereitschaftsdienstes zu inaktiven Zeiten kommt ist für die Einordnung als Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie nicht von Bedeutung.2 Auch die Intensität der geleisteten Arbeit ist kein Faktor, der bei der Abgrenzung von Arbeitszeit oder Ruhezeit zu berücksichtigen ist.3
129
Es spielt keine Rolle, ob der Arbeitnehmer während des Dienstes schlafen kann oder nicht.4 Wenn der Arbeitgeber einen Ruheraum zur Verfügung stellt, ändert dies nichts an der Einordnung als Arbeitszeit.5 Entscheidend ist alleine, dass der Arbeitnehmer jederzeit zur Arbeitsleistung herangezogen werden kann.6
130
Arbeitsmedizinisch betrachtet ist die Rechtsprechung des EuGH, die sich nicht auf die Frage konzentriert, ob während der Dienste geschlafen werden kann, überzeugend. Auch durch kurze Unterbrechungen des Schlafrhythmus kann dessen Erholungswert komplett beseitigt werden.7 Im Übrigen führt das Aufwachen aus dem Tiefschlaf verbunden mit sofortiger Arbeit zu einer extrem erhöhten Fehleranfälligkeit.8 Insofern ist es konsequent, diese Zeit nicht als Ruhezeit anzusehen.9 Dies gilt umso mehr als typischerweise Bereitschaftsdienste dort geleistet werden, wo der konkrete Arbeitsanfall nicht im Voraus geplant werden kann und von den Umständen im Einzelfall abhängig ist.10 Im Übrigen wäre anderenfalls zu klären, wann und wie lange geschlafen werden kann und ab welchem Grad der Inanspruchnahme bzw. welcher Anzahl an Unterbrechungen des Schlafs Arbeitszeit vorliegt. Das ist kaum justiziabel, bei einer Vielzahl von Diensten kaum prognostizierbar und für die Kontrollbehörden kaum nachvollziehbar. Insofern ist die Rechtsprechung des EuGH, auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Umgehungsmöglichkeiten, positiv zu sehen.
131
Die Auswirkungen der Rechtsprechung des EUGH zu Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft waren erheblich. Denn bis zur Entscheidung in der Rs. Jaeger11 galt in Deutschland Bereitschaftsdienst nur insoweit als Arbeitszeit, wie der Ar-
132
1 EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v. juris (Ls.). 2 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 47; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 60 f.; BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084); das last VGH BW 17.6.2014 – 4 S 169/13, n.v. außer Acht. 3 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 46. 4 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 55, 60. 5 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 64. 6 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 57. 7 European Agency for Safety and Health at Work, Expert forecast on emerging psychosocial risks related to occupational safety and health, 2007; vgl. zu den gesundheitlichen Folgen auch: Habich, Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrats, 13 ff.; Ulber D., Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 517 ff. 8 Zu Selbstverletzungen von Ärzten durch Nadelstiche vgl. Ayas/Barger/Cade/Hashimoto/Rosner/Cronin/Speizer/Czeisler, JAMA 296 (2006), 1055 ff.; vgl. hierzu auch die RL 2010/32/EU. 9 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 65. 10 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 61. 11 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389.
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§6
Rz. 133
Arbeitszeit
beitnehmer während dieser Dienste zur Erbringung der Arbeitsleistung herangezogen wurde.1 Aus den §§ 5 Abs. 3 und 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ArbZG a.F. ergab sich aber, dass es sich bei Bereitschaftsdient um Ruhezeit handelte, die nur während der Zeiträume der aktiven Inanspruchnahme durch Arbeitszeit unterbrochen wurde. Gleichzeitig ermöglicht die Vergütungsstruktur in den deutschen Kliniken es, durch das Ableisten von Bereitschaftsdiensten das Einkommen erheblich zu steigern. Da es sich bei Ärzten um die Berufsgruppe mit der höchsten Entgeltpräferenz handelt und die Kliniken durch die ausgeweiteten Dienstzeiten Personal einsparen konnten, ergab sich eine problematische Tendenz zur Kommerzialisierung der Gesundheit der Arbeitnehmer und der Gefährdung der Patienten.2 Dies führt zu einer Gesamtgemengelage, bei der keine der Tarifvertragsparteien und erst Recht nicht der Gesetzgeber ein wirtschaftliches Interesse an gesundheitsverträglichen Arbeitszeiten im Krankenhauswesen hatte. Konsequenz waren aus arbeitsmedizinischer Sicht groteske Dienstzeiten von über 30 Stunden. 133
Zwar war bereits vor der SIMAP-Entscheidung3 darauf hingewiesen worden, dass diese Rechtslage mit der Arbeitszeitrichtlinie unvereinbar war und auch nach der SIMAP-Entscheidung offensichtlich, dass das deutsche Begriffsverständnis unionsrechtswidrig war.4 Eine unionsrechtskonforme Auslegung der §§ 5 Abs. 3, 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG a.F. war aber nach Auffassung des BAG nicht möglich.5 Eine Vorlage zum EuGH lehnte das BAG wegen der eindeutig unionsrechtswidrigen Rechtslage ab.6 Gleichwohl hat der Gesetzgeber es auch nach dieser Entscheidung nicht für nötig befunden, einen „weichen Übergang“ zu einem unionsrechtskonformen Zustand zu organisieren. Das änderte sich erst, nachdem der EuGH selbst die Gelegenheit bekam die deutsche Rechtslage in der Rechtssache Jaeger für unionsrechtswidrig zu erklären. Einen Tag nach der Jaeger-Entscheidung des EuGH wurde der Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes in den deutschen Bundestag eingebracht.7 Man hatte also das Verfahren bis zum letzten möglichen Zeitpunkt ausgesessen und den entsprechenden Gesetzentwurf bereits in der Schublade.8 Durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt wurden die §§ 5 Abs. 3 und 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 2 Nr. 1 ArbZG geändert, so dass Bereitschaftsdienst nunmehr als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes anzusehen ist.9 Gleichzeitig wurden die Abweichungsmöglichkeiten hinsichtlich der Höchstarbeitszeit, der Mindestruhezeiten und der Länge der Nachtarbeit verändert, so dass der Bereitschaftsdienst nunmehr zwar als Arbeitszeit gilt, dafür aber mehr gearbeitet werden darf als vorher (vgl. unter Rz. 242, 258, 272). Es entspricht dem Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit der Richtlinie, dass versucht wurde, die bestehenden unionsrechtswidrigen Regelungen mit § 25 ArbZG noch bis zum 31.12.2006 aufrecht zu erhalten. Das BAG hat die Regelung mit einer unionsrechtskonformen Auslegung so eingeschränkt, dass dieses Ergebnis vermieden wurde.10 1 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742, sah auch keine Möglichkeit zur europarechtskonformen Auslegung. 2 Vgl. dazu Leopold, WzS 2013, 116. 3 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 –, SIMAP, Slg. 2000, I-7963. 4 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742 (745). 5 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742 (745). 6 BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742 (745 f.). 7 Schliemann, NZA 2004, 514 (515); vgl. auch BT-Drucks. 15/1587. 8 Buschmann, AuR 2004, 1 (4); Schliemann, NZA 2004, 514 (515); Schunder, EuZW 2003, 662 (663). 9 Vgl. dazu Buschmann, AuR 2004, 1. 10 BAG v. 24.1.2006 – 1 ABR 6/05, NZA 2006, 862.
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Ulber
Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 139
§6
bb) Rufbereitschaft. Rufbereitschaft zählt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht als Arbeitszeit.1 Hier wird lediglich die Zeit der tatsächlichen Inanspruchnahme als Arbeitszeit gewertet.2 Der Arbeitnehmer stehe hier zwar dem Arbeitgeber in dem Sinne zur Verfügung, dass er ständig erreichbar sei. Entscheidend sei aber, dass der Arbeitnehmer nicht zur Anwesenheit am Arbeitsplatz verpflichtet sei, sondern freier über seine eigene Zeit verfügen und seinen Interessen nachgehen kann.3 Daher seien die Einschränkungen geringer, weil der Arbeitnehmer sich nicht außerhalb seines sozialen und familiären Umfeldes aufhalten müsse.4 Der EuGH berücksichtigt allerdings auch, wie weit der Arbeitnehmer außerhalb des Arbeitsplatzes faktisch an Vorgaben für sein Freizeitverhalten gebunden bleibt. Demnach kann alleine deshalb, weil sich der Arbeitnehmer außerhalb der Arbeitsstätte aufhält, nicht automatisch geschlossen werden, es handele sich nicht um Arbeitszeit (vgl. Rz. 122 ff.).
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Aus der Arbeitszeitrichtlinie ergibt sich nicht unmittelbar, ab welchem Zeitpunkt bei Rufbereitschaft Arbeitszeit vorliegt. Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie legen nahe, dass in dem Moment, in dem der Arbeitnehmer nicht mehr frei über seinen Aufenthaltsort verfügen kann oder (z.B. telefonisch) seine Tätigkeit aufnimmt, Arbeitszeit vorliegt. Diese Zeitspanne dürfte bis zu dem Zeitpunkt reichen, in dem der Zustand der freien Verfügbarkeit der eigenen Zeit wieder hergestellt ist.
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Dies könnte insbesondere Auswirkungen auf den Zeitpunkt des Beginns und des Endes der Rufbereitschaft im deutschen Recht haben. Die Frage, wie die Fahrzeiten zur Arbeitsstätte und die Rückfahrten von der Arbeitsstätte bei Rufbereitschaft zu bewerten sind, müsste daher wohl dem EuGH nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV vorgelegt werden.
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Zur Ableistung von Rufbereitschaft und der nach Art. 3 Abs. 1 ArbZ-RL erforderlichen Gewährung einer Mindestruhezeit von 11 Stunden im Anschluss an die Arbeit vgl. Rz. 153.
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d) Grenzfälle Fraglich ist, ob Umkleide- und Wegezeiten Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie sind. Soweit der Arbeitnehmer sich an der Dienststelle umkleidet, dürfte dies Arbeitszeit i.S.d.. Rechtsprechung des EuGH sein, weil der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber räumlich zur Verfügung steht und dort Tätigkeiten ausführt, die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit stehen.5 Auch beim Bereitschaftsdienst spielt es keine Rolle, ob der Arbeitnehmer in einem Ruheraum oder am Arbeitsplatz ist. Das Gleiche dürfte für Umkleideräume gelten.
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Unionsrechtswidrig ist die das Fahrpersonal betreffende Regelung des § 21a Abs. 3 Nr. 1 ArbZG, soweit er entgegen Art. 3 Buchst. a RL 2002/15/EG dazu führen soll, dass Beladezeiten nicht als Arbeitszeit gelten.6 Auch Art. 3 Buchst. b RL 2002/15/EG rechtfertigt die Norm nicht.
139
1 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 51; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 50. 2 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 52. 3 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 50. 4 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 65. 5 A.A. EAS/Balze, B 3100 Rz. 103. 6 Anzinger/Koberski, ArbZG, § 21a Rz. 16; Buschmann/Ulber J., ArbZG, § 21a Rz. 13; a.A. Didier, NZA 2007, 120 (121).
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§6
Rz. 140
Arbeitszeit
2. Ruhezeitbegriff 140
Ruhezeit ist nach Art. 2 Nr. 2 ArbZ-RL jede Zeitspanne, die nicht Arbeitszeit ist. Die Ruhezeit ist von der Ruhepause (vgl. Rz. 178) zu unterscheiden, die die Arbeit lediglich unterbricht.
141
Die Ruhezeiten haben eine entscheidende Steuerungsfunktion für den Gesundheitsschutz. Die Arbeitszeitrichtlinie verfolgt in erster Linie das Konzept, den Gesundheitsschutz durch „angemessene Ruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr –“ (ErwGr. 5 ArbZ-RL) zu gewährleisten. Abweichungen von den Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie müssen stets zu „gleichwertigen Ruhezeiten“ führen (vgl. Rz. 237 ff.). Dass dies reflexartig zu einer Beschränkung der Höchstarbeitszeit in den jeweiligen Bezugszeiträumen führt, ist von der Arbeitszeitrichtlinie intendiert.
142
Ruhezeiten sind nach der Rechtsprechung des EuGH Zeiträume, während der der Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber keiner Verpflichtung unterliegt, die ihn daran hindern kann, frei und ohne Unterbrechung seinen eigenen Interessen nachzugehen, um die Auswirkungen der Arbeit auf seine Sicherheit und Gesundheit zu neutralisieren.1 Der Arbeitnehmer muss sich aus seiner Arbeitsumgebung zurückziehen können, um sich zu entspannen und sich von der mit der Wahrnehmung seiner Aufgaben verbundenen Ermüdung zu erholen.2
143
Ausreichend sind die Ruhezeiten nur dann, wenn sie dem Arbeitnehmer regelmäßige, ausreichend lange und kontinuierliche Ruhezeiten gewähren. Dies soll verhindern, dass Arbeitnehmer wegen Übermüdung oder einem unregelmäßigen Arbeitsrhythmus sich selbst oder ihre Kollegen verletzen, und dafür sorgen, dass sie weder kurz- noch langfristig ihre Gesundheit schädigen (ErwGr. 9 ArbZ-RL). Die Ruhezeiten müssen effektiv sein und dem Arbeitnehmer nicht nur die Möglichkeit zur Erholung von der geleisteten Arbeit geben, sondern auch präventiv wirken, indem sie der Beeinträchtigung der Gesundheit und Sicherheit durch kumulierte Arbeitsperioden entgegen wirken.3 Die Dauer der Ruhezeit ist in Zeiteinheiten anzugeben.4
144
In der Rechtsprechung des EuGH hat die Durchsetzung des Gesundheitsschutzes durch die Gewährung von Mindestruhezeiten ein besonders großes Gewicht. Die Mindestruhezeiten werden als „besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union“5 angesehen. Die Zulässigkeit von Einschränkungen der Ruhezeiten wird durch den EuGH auf streng reglementierte Ausnahmefälle beschränkt.6
145
Die Mitgliedstaaten unterliegen bei der Gewährung der Ruhezeiten nach den Art. 3 und 5 ArbZ-RL einer materiellen Erfolgspflicht, hinsichtlich der Gewährleistung des Rechts auf Ruhezeiten.7 Sie dürfen bei der Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie die Zielsetzung der Ruhezeit nicht außer Acht lassen. Die formale Einhaltung der ge1 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 50. 2 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 95. 3 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 37; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 92; v. 7.9.2006 – Rs. C-484/04 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-7471 – Rz. 41. 4 EAS/Balze, B 3100 Rz. 111. 5 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 36; v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 49; v. 7.9.2006 – Rs. C-484/04 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-7471 – Rz. 38. 6 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 37; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 92. 7 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-484/04 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-7471 – Rz. 37.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 151
§6
währten Abweichungsmöglichkeiten ist daher für die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht notwendig, aber nicht ausreichend. Sollte der EuGH diese materielle Prüfmöglichkeit ernst nehmen, könnte ein Teil der Abweichungsbefugnisse in § 7 ArbZG1 unionsrechtswidrig sein (vgl. auch Rz. 200, 252, 278).2
146
3. Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeit Die Regulierung der Arbeitszeit erfolgt durch die Arbeitszeitrichtlinie auf zwei Wegen. Primär sichert die Arbeitszeitrichtlinie tägliche und wöchentliche Mindestruhezeiten. Ergänzend dazu wird eine durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt. Nach Art. 2 Abs. 2 der Nachweis-RL (Art. 2 Abs. 2 Buchst. i RL 91/533/EG) sind die Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber über die normale Tagesoder Wochenarbeitszeit des Arbeitnehmers dem Arbeitnehmer in Kenntnis zu setzen.3 Für Nachtarbeitnehmer gibt es weitere Schutzvorschriften (Rz. 183 ff.).
147
a) Tägliche Arbeitszeit und tägliche Ruhezeiten Die Arbeitszeitrichtlinie schreibt unmittelbar keine tägliche Höchstarbeitszeit vor. Lediglich bei Nachtarbeit ist eine solche ausdrücklich geregelt (Art. 8 Buchst. a ArbZRL; vgl. Rz. 183 ff.). Eine Begrenzung der maximalen täglichen Arbeitszeit ergibt sich aber mittelbar aus der täglichen Ruhezeit nach Art. 3 Abs. 1 ArbZ-RL, der vorsieht, dass jedem Arbeitnehmer pro 24 Stunden-Zeitraum eine zusammenhängende Ruhezeit (vgl. Rz. 140 ff.) von 11 Stunden gewährt wird. Damit können nach Art. 3 ArbZ-RL pro 24-Stundenzeitraum maximal 13 Stunden Arbeit abzgl. der Ruhepausen abgeleistet werden.4 Abweichungen nach Art. 17 und 18 ArbZ-RL sind nur unter Gewährung gleichwertiger Ausgleichsruhezeiten möglich (vgl. Rz. 237 ff.).
148
Bei der Berechnung der Arbeitszeit sind mehrere Beschäftigungsverhältnisse bei verschiedenen Arbeitgebern zusammenzurechnen (Art. 3, 5, 6 ArbZ-RL). Das entspricht der Rechtslage in Deutschland.5
149
Bezugspunkt des Art. 3 Abs. 1 ArbZ-RL ist nicht ein Wochen- oder Arbeitstag, sondern ein 24-Stundenzeitraum. Beginn dieses Zeitraums ist die Arbeitsaufnahme.6
150
Die Ruhezeit muss sich unmittelbar an die Arbeitszeit anschließen.7 Sie soll eine Kumulierung aufeinander folgender Arbeitsperioden verhindern.8 Diese kann zu einer Schädigung des Arbeitnehmers führen oder seine Leistungsfähigkeit so absenken, dass seine Gesundheit und Sicherheit gefährdet wird.9 Damit ist es nicht zulässig, zwei 24-Stundenzeiträume derart zu kombinieren, dass zwei 13-Stunden-Schichten aneinander gehängt werden und jeweils zu Beginn und Ende des jeweiligen Arbeits-
151
1 Vgl. zu diesen den Überblick bei HWK/Gäntgen, § 7 ArbZG Rz. 2. 2 Ulber D., Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 560 ff. 3 Buschmann, FS Düwell, 24 (43). 4 EAS/Balze, B 3100, Rz. 111; Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 3 Rz. 2. 5 § 2 Abs. 1 Halbs. 2 ArbZG; BAG v. 24.2.2005 – 2 AZR 211/04, NZA 2005, 759; HWK/Gäntgen, § 2 Rz. 9. 6 EAS/Balze, B 3100 Rz. 111. 7 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 50; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 94 ff. 8 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 50; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 94. 9 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 96.
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§6
Rz. 152
Arbeitszeit
tages 11 Stunden Ruhezeit gewährt werden.1 Die Arbeitszeitrichtlinie soll genau solche Gestaltungen verhindern.2 152
Die Ruhezeit muss innerhalb des 24-Stundenzeitraums zusammenhängend gewährt werden. Es ist nicht zulässig, sie auf mehrere Zeiträume zu verteilen.3 Gleichzeitig bedeutet dies, dass jede Unterbrechung der Ruhezeit als Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie gilt und ihr daher eine zusammenhängende Ruhezeit von 11 Stunden folgen muss.
153
Das Erfordernis einer zusammenhängenden Ruhezeit hat besondere Auswirkungen auf die Rufbereitschaft (vgl. Rz. 134 ff.). Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass bei Rufbereitschaft nur die Zeit als Arbeitszeit gilt, in der der Arbeitnehmer tatsächlich tätig wird. Sie müssen aber dafür sorgen, dass innerhalb eines 24 Stundenzeitraums der Arbeitnehmer für mindestens 11 zusammenhängende Stunden keine Rufbereitschaft leisten darf, weil ansonsten die Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 ArbZ-RL nicht eingehalten sind. Denn im Anschluss an die Arbeitszeit muss noch die tägliche Mindestruhezeit gewährt werden können. Das bedeutet, dass bei Rufbereitschaft zwar die Bereitschaft selbst nicht als Arbeitszeit zählen muss und damit die Ruhezeit alleine durch sie nicht verkürzt wird. Jedes Tätigwerden während der Rufbereitschaft ist aber Arbeitszeit. Daher muss sich nach Art. 3 ArbZ-RL im Anschluss an das Tätigwerden eine Ruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden anschließen. Die Rufbereitschaft darf daher nur so gelegt werden, dass sich an ihr Ende noch eine 11-stündige Ruhezeit anschließen kann.4
154
Nach dem deutschen Verständnis von Arbeitszeit war Rufbereitschaft bereits vor Inkrafttreten der Richtlinie keine Arbeitszeit.5 Daran hat sich nichts verändert. Problematisch sind aber Fälle, in denen Mitarbeiter mit Smartphones ständig per Mail und Anruf erreichbar sind und zwischenzeitlich tätig werden (vgl. Rz. 127 f.).
155
Einen Bezugszeitraum für einen Ausgleich der täglichen Mindestruhezeiten auf einen Durchschnittswert sieht die Arbeitszeitrichtlinie grundsätzlich nicht vor. Art 16 ArbZ-RL beinhaltet keine entsprechende Regelung (vgl. Rz. 175). Dementsprechend ist es nach Art. 3 ArbZ-RL nicht möglich, eine Ruhezeit an einem Tag auf 10 Stunden zu kürzen und diese am nächsten Tag auf 12 Stunden zu verlängern. Derartige Regelungen sind nur unter den Voraussetzungen der in Art. 17 ff. ArbZ-RL geregelten Ausnahmefälle möglich (vgl. Rz. 256 ff.).
156
Art. 3 ArbZ-RL lässt es grundsätzlich nicht zu, die Unterschreitung der Mindestruhezeiten durch eine Begrenzung der jährlichen Arbeitstage auszugleichen (vgl. Rz. 239).6
157
Des Weiteren wird die tägliche Arbeitszeit mittelbar durch die in Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL geregelte durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden begrenzt.
158
In Deutschland sind die Anforderungen der Arbeitszeitrichtlinie intransparent umgesetzt. § 5 Abs. 1 ArbZG sieht nach Beendigung der Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von 11 Stunden vor. Dass diese grundsätzlich innerhalb eines 1 2 3 4 5 6
EAS/Balze, B 3100 Rz. 120; a.A. Schliemann, NZA 2004, 513 (516). EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 94 ff. EAS/Balze, B 3100 Rz. 111. EAS/Balze, B 3100 Rz. 111. Buschmann/Ulber J., § 2 ArbZG Rz. 18. EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 38 f.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 161
§6
24-Stundenzeitraums zu gewähren ist, lässt sich dem Wortlaut der Norm nicht entnehmen. Deswegen wird erwogen die Vorschrift unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass innerhalb eines 24-Stundenzeitraums 11 Stunden ununterbrochene Ruhezeit zu gewähren sind.1 Das ist weitestgehend unnötig, weil das Gesetz im Regelfall auf anderem Wege ein unionsrechtskonformes Ergebnis erzielt. § 3 ArbZG, der die werktägliche Arbeitszeit festlegt und nach § 3 Satz 2 ArbZG maximal 10 Stunden werktägliche Arbeitszeit zulässt, führt im Regelfall dazu, dass aus dem Zusammenwirken der beiden Normen alleine noch kein unionsrechtswidriger Zustand entsteht. Denn dann bleiben ohne weiteres 11 Stunden Ruhezeit „übrig“. Gleichwohl liegt ein Transparenzverstoß vor, weil § 5 Abs. 1 ArbZG nicht das Merkmal „innerhalb eines 24-Stundenzeitraums“ beinhaltet.2 b) Wöchentliche Höchstarbeitszeit und wöchentliche Ruhepausen aa) Wöchentliche Höchstarbeitszeit. Nach Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit, nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer, die wöchentliche Arbeitszeit festgelegt wird und diese pro Siebentageszeitraum durchschnittlich 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet. Die Überstunden sind einzubeziehen (Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL). Es handelt sich bei der Regelung in Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL nach der Rechtsprechung des EuGH um eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Union.3 Nach der Wertung des Unionsrechts ist allein dadurch, dass diese überschritten wird, dem Arbeitnehmer ein Nachteil zugefügt, weil seine Sicherheit und Gesundheit beeinträchtigt werden.4 Arbeitsmedizinische Studien bestätigen dies.5
159
In Deutschland wird Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL mittelbar durch § 3 ArbZG i.V.m. § 9 ArbZG umgesetzt. Nach § 3 S. 1 ArbZG darf die werktägliche Arbeitszeit maximal 8 Stunden betragen. Sofern sie nach § 3 S. 2 ArbZG auf bis zu 10 Stunden täglich verlängert wird, dürfen im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen 8 Stunden werktägliche Arbeitszeit nicht überschritten werden. § 9 ArbZG verbietet die Sonntagsarbeit. Damit kommt es bei 6 Werktagen je 8 Stunden zu maximal 48 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit. Wird diese an einzelnen Werktagen verlängert, so ist dies so auszugleichen, dass im Durchschnitt die tägliche Arbeitszeit maximal 8 Stunden beträgt. Das entspricht, abgesehen vom unionsrechtswidrigen Ausgleichszeitraum (vgl. Rz. 170, 173), den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie. Aufgrund der regelmäßig unter 48 Stunden liegenden wöchentlichen Arbeitszeit, die für eine Vielzahl von Arbeitnehmern aufgrund tarifvertraglicher oder arbeitsvertraglicher Regelungen gilt, bieten sowohl die Arbeitszeitrichtlinie als auch das ArbZG ein extremes Flexibilisierungspotential.
160
Art. 6 ArbZ-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht nur die in Buchst. a und b vorgegebenen Mindeststandards einzuhalten, sondern bei deren Ausgestaltung die Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer zu beachten. Diese Formulierung ist keine Floskel. Den Anforderungen des Unionsrechts ent-
161
1 EAS/Balze, B 3100 Rz. 120. 2 EAS/Balze, B 3100 Rz. 120. 3 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 33; v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 – Dellas, Slg. 2005, I-10253 – Rz. 49; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 100. 4 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 54. 5 Vgl. dazu KOM (2003), 843, S. 17.
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§6
Rz. 162
Arbeitszeit
spricht eine mitgliedstaatliche Regelung nicht bereits dann, wenn formal die Anforderungen von Buchst. a und b eingehalten sind. Sieht ein Mitgliedstaat eine Buchst. b entsprechende Regelung der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit vor, ist diese aber so ausgestaltet, dass sie den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes nicht genügt, so ist sie unionsrechtswidrig. Das ergibt sich aus dem Effektivitätsgrundsatz (vgl. § 1 Rz. 120 ff.). 162
Eine wenig beachtete Anforderung der Arbeitszeitrichtlinie ist, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt wird. Das bedeutet das nationale Vorschriften bestehen müssen, die sicherstellen, dass jeder Arbeitnehmer erkennen kann, welche Höchstarbeitszeiten für ihn gelten. Sollten sich diese aus Tarifverträgen ergeben, haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass diese dem Arbeitnehmer bekannt gemacht werden.
163
bb) Unmittelbare Anwendbarkeit. Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL ist unmittelbar anwendbar (zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienvorschriften vgl. § 1 Rz. 130 ff.).1 Er ist ungeachtet der Abweichungsmöglichkeit nach Art. 22 Abs. 1 UAbs. 1 ArbZ-RL (Rz. 285 ff.) hinreichend bestimmt und genau, weil auch diese Abweichungsmöglichkeit von der Einhaltung aller in Art. 22 Abs. 1 UAbs. 1 ArbZ-RL genannten Bedingungen abhängt, aufgrund derer es möglich ist, jederzeit ein Mindestschutzniveau zu bestimmen.2
164
Damit sind staatliche Stellen auf Grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (§ 1 Rz. 31 ff.) gehalten, die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie zu befolgen und entgegenstehendes nationales Recht unangewendet zu lassen.3 Ob dies wegen der Rückanbindung an Art. 31 Abs. 2 GRC auch im Verhältnis zwischen Privaten der Fall sein kann, hat der EuGH bislang nicht entschieden. Insoweit wäre eine Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV einzuholen (vgl. § 13 Rz. 35 ff.).
165
Gegenüber öffentlichen Arbeitgebern kann daher jeder Arbeitnehmer verlangen, dass eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden nicht überschritten wird.4 Entgegenstehende nationale Vorschriften sind unangewendet zu lassen.5 Dem Staat ist es in diesem Zusammenhang verwehrt, sich auf die ihm theoretisch offenstehende Möglichkeit zu berufen, von Ausnahmevorschriften Gebrauch zu machen.6 Nur dann, wenn diese im nationalen Recht ordnungsgemäß und vollständig umgesetzt sind und sich der Staat bei der Umsetzung auf diese Ausnahmevorschriften berufen hat, gilt etwas anderes. Dies gilt auch dann, wenn er als Arbeitgeber Tarifverträge schließt. Die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht wird nicht dadurch entbehrlich, dass der Staat als Tarifvertragspartei unmittelbar an die Arbeitszeitrichtlinie gebunden ist. Abgesehen 1 St. Rspr. EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 35; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 57; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 103 ff.; vgl. auch BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ 2012, 972 (973); BVerwG v. 29.9.2012 – 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643; VG Düsseldorf 2.7.2014 – 6 K 6183/13, n.v. 2 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 58; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 105. 3 BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (973). 4 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 38 f.; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 60. 5 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 40. 6 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 37; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 60.
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Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit
Rz. 170
§6
davon ist eine Abweichung von Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL nach Art. 22 ArbZ-RL durch Tarifvertrag nicht zulässig (vgl. Rz. 288 ff.). Bei Verstoß gegen Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL durch einen öffentlichen Arbeitgeber kann ein Schadenersatzanspruch gegen diesen bestehen (vgl. Rz. 326 ff.). cc) Wöchentliche Ruhezeit. Art. 5 Satz 1 ArbZ-RL verlangt, dass zzgl. zu der 11-stündigen Mindestruhezeit nach Art. 3 ArbZ-RL, jedem Arbeitnehmer pro 7-Tageszeitraum eine ununterbrochene Mindestruhezeit von 24 Stunden zusteht. Der 24-Stundenzeitraum kann nicht mit einer Mindestruhezeit nach Art. 3 ArbZ-RL verrechnet werden. Die Vorschrift führt faktisch zu einer 35-stündigen Mindestruhephase.1 Das ergibt sich auch aus einem Umkehrschluss aus Art. 5 Satz 2 ArbZ-RL.
166
Abweichungen sind möglich. Nach Art. 5 Satz 2 ArbZ-RL kann, sofern objektive, technische oder arbeitsorganisatorische Gründe dies rechtfertigen, die Mindestruhezeit auf 24 Stunden festgelegt werden, ohne dass eine 11-stündige Ruhezeit nach Art. 3 ArbZ-RL hinzugerechnet werden muss. Diese Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Von ihr kann nicht bereits dann Gebrauch gemacht werden, wenn es aus technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen schwierig ist, die Ruhezeiten nach Art. 5 Satz 1 ArbZ-RL zu gewähren. Vielmehr müssen diese Gründe besonders erheblich sein. Ansonsten würde der besonderen Bedeutung, die die Mindestruhezeiten für den Gesundheitsschutz haben, nicht hinreichend Rechnung getragen. Je umfangreicher die Kürzung ausfällt, desto größer wird der Rechtfertigungsbedarf. Die Regelung ermöglicht es aber bspw. für Schichtbetriebe eine Kürzung der Gesamtruhezeit von 35 Stunden auf 32 Stunden zuzulassen, wenn ihre Funktionsfähigkeit anders nicht zu gewährleisten ist.2
167
Umgesetzt wird Art. 5 Satz 1 ArbZ-RL durch § 9 Abs. 1 ArbZG, der vorschreibt, dass Arbeitnehmer an Sonntagen von 0–24 Uhr nicht beschäftigt werden dürfen. Nach § 11 Abs. 4 ArbZG ist der Sonntag oder der Ersatzruhetag unmittelbar in Verbindung mit einer Ruhezeit nach § 5 ArbZG zu gewähren. Nach § 5 Abs. 1 ArbZG beträgt die Ruhezeit 11 Stunden, damit ist § 9 Abs. 4 ArbZG unionsrechtskonform, soweit die Ruhezeit nicht nach § 5 Abs. 2 und 3 ArbZG gekürzt wird. § 11 Abs. 4 ArbZG lässt bei technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen eine Kürzung der Ruhezeit zu. Die Regelung ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass dies objektive, besonders erhebliche Gründe sein müssen.3 Solche sind bei Schichtarbeit gegeben, die einen Schichtwechsel von einer am Samstag um 22:00 Uhr beginnenden Spätschicht auf eine am Montag um 6:00 Uhr beginnende Frühschicht erfordert.
168
c) Bezugszeiträume für die Ruhezeiten und die wöchentliche Höchstarbeitszeit Nach Art. 16 ArbZ-RL können die Mitgliedstaaten für die Art. 5, 6 und 8 ArbZ-RL Bezugszeiträume vorsehen, innerhalb derer die Vorgaben der Artikel im Durchschnitt eingehalten werden müssen.
169
aa) Durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit. Für die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit lässt Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL einen Bezugszeitraum von bis zu 4 Monaten zu. Damit sind unter Berücksichtigung von Art. 3 ArbZ-RL (vgl. Rz. 148 ff.) erhebliche Flexibilisierungspotentiale gegeben.
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1 Barnard, EU Employment Law, S. 540; so auch die Kommission, KOM (2010), 802, S. 3. 2 EAS/Balze, B 3100 Rz. 136. 3 Buschmann/Ulber J., § 11 ArbZG Rz. 9; Anzinger/Koberski, § 11 ArbZG Rz. 45.
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§6
Rz. 171
Arbeitszeit
171
Die Berechnung des Durchschnitts erfolgt so, dass die Zeiten des bezahlten Jahresurlaubs sowie Krankheitszeiten unberücksichtigt bleiben bzw. neutral sein sollen. Damit haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit entweder anzuordnen, dass solche Tage komplett aus der Durchschnittsberechnung ausgenommen werden oder aber dass für diese Tage die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit unter Außerachtlassung der Fehltage angesetzt wird.1 Zweck der Regelung ist zu verhindern, dass durch Ansetzen der Fehltage mit „Arbeitszeit 0“ eine höhere Arbeitsbelastung an den restlichen Tagen erreicht werden kann.
172
Sowohl hinsichtlich des Ausgleichszeitraums (vgl. Rz. 256 ff.) als auch hinsichtlich der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit (vgl. Rz. 285 ff.) bestehen Abweichungsbefugnisse.
173
In Deutschland sieht § 3 Satz 2 ArbZG einen unionsrechtswidrigen Bezugszeitraum von 6 Monaten oder 24 Wochen vor. Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL lässt hingegen maximal 4 Monate zu. Die Ausnahmevorschriften nach Art. 17, 18 ArbZ-RL sind offensichtlich nicht einschlägig (vgl. dazu vgl. Rz. 225 ff., 256 ff., 281, 283).2 Eine Kompensation von Richtlinienverstößen durch Schutzvorschriften an anderer Stelle, die über den Mindeststandard der Richtlinien hinausgehen sollen, ist dem Unionsrecht fremd.3 Die Vorschrift ist damit seit Inkrafttreten der Arbeitszeitrichtlinie offensichtlich unionsrechtswidrig.4 Dies ist von der Kommission bereits beanstandet worden.5 Art. 6 Buchst. b i.V.m. Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL ist gegenüber staatlichen Arbeitgebern unmittelbar anwendbar6, so dass diesen gegenüber der Ausgleichszeitraum von 4 Monaten maßgeblich ist (zur unmittelbaren Anwendbarkeit vgl. vgl. § 1 Rz. 30).
174
Unwirksam ist § 13 Abs. 1 Satz 2 AZV des Bundes. Das Gleiche gilt für die ab 1.10.2017 in § 13 Satz 2 AZV des Bundes verankerte Regelung. Bundesbeamte, die Bereitschaftsdienst leisten und deren Arbeitszeit auf Grundlage von § 13 Abs. 1 Satz 1 AZV Bund verlängert wird, können daher einen Ausgleich innerhalb von 4 Monaten verlangen, weil der Bund die (ihm offen stehende) Möglichkeit für bestimmte Dienste einen Ausgleichszeitraum von 6 Monaten vorzusehen, nicht genutzt hat.
175
bb) Tägliche Mindestruhezeit. Ein Bezugszeitraum für die tägliche Mindestruhezeit nach Art. 3 ArbZ-RL ist in der Richtlinie nicht vorgesehen. Das bestätigt die besondere Bedeutung der werktäglichen Mindestruhezeit für den Gesundheitsschutz. Abweichungsbefugnisse hinsichtlich des Umfangs der Ruhezeit sind in Art. 17 und 18 ArbZ-RL vorgesehen (vgl. Rz. 228, 240 ff., 261 ff., 281 ff.).
176
cc) Wöchentliche Ruhezeit. Für die wöchentliche Ruhezeit nach Art. 5 ArbZ-RL, nicht aber für die tägliche Ruhezeit nach Art. 3 ArbZ-RL (vgl. Rz. 155), kann von den Mitgliedstaaten ein Ausgleichszeitraum von bis zu 14 Tagen vorgesehen werden (Art. 16 Buchst. a ArbZ-RL). Es muss dabei bei einer Vor- und Rückschau in jedem denkbaren 1 Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 16 Rz. 7. 2 Buschmann/Ulber J., ArbZG, § 3 Rz. 12; Schliemann, ArbZG, § 3 Rz. 30; ErfK/Wank, § 3 ArbZG Rz. 7. 3 So aber Baeck/Deutsch, § 3 Rz. 8; Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, S. 70 f. 4 Buschmann/Ulber J., ArbZG, § 3 Rz. 12; ErfK/Wank, § 3 ArbZG Rz. 7; Hahn/Pfeiffer/Schubert/Schubert, ARbZR, Einl. Rz. 36; Schliemann, ArbZG, § 3 Rz. 30, Schliemann NZA 2004, 413 (515); Schubert, GesR 2012, 326 (329). 5 KOM (2010), 802, S. 4. 6 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 56 ff.; v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 102 ff.
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Ruhepausen
Rz. 180
§6
14-Tageszeitraum die entsprechende Ruhezeit vorliegen und die verschobene Ruhezeit ausgeglichen sein. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten befugt sind, anstatt eines 24-Stunden-Zeitraums Ruhezeit pro Siebentageszeitraum zwei 24-Stundenzeiträume Ruhezeit pro 14-Tageszeitraum vorzusehen. Nach Art. 5 Satz 1 ArbZ-RL müssen vor dem 24-Stundenzeitraum mindestens 11 Stunden Ruhezeit liegen. Insgesamt sind also mindestens 35 Stunden ununterbrochene Ruhezeit vorzusehen. Fraglich ist, ob diese Zeiten kumuliert werden müssen, wenn 24-Stundenzeiträume unmittelbar aufeinander folgen sollen oder ob es ausreicht, wenn ihnen einmalig 11 Stunden Ruhezeit voran gehen.1 Für eine Betrachtungsweise, nach der lediglich einmalig 11 Stunden Ruhezeit voran gestellt werden müssen, könnte sprechen, dass der Erholungswert der Ruhezeit als solcher dadurch nicht beeinträchtigt wird.2 Dagegen spricht, dass der Arbeitnehmer ansonsten eine 11-stündige Ruhezeit pro 14-Tageszeitraum verliert und Art. 16 ArbZ-RL nur den Bezugszeitraum und nicht den Gesamtumfang der Ruhezeiten betrifft.3 Teilweise unionsrechtswidrig ist § 11 Abs. 3 ArbZG wegen Verstoßes gegen Art. 16 Buchst. a ArbZ-RL.4 Dieser sieht – insoweit noch mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar – vor, dass, wenn Arbeitnehmer an einem Sonntag arbeiten, diese einen Ausgleichsruhetag erhalten müssen. Dies muss allerdings nach der Norm erst innerhalb eines den Beschäftigungstag einschließenden Zeitraums von 2 Wochen erfolgen. Demnach kann die Arbeitszeit so gelegt werden, dass zunächst einen Sonntag gearbeitet wird, dann wiederum den nächsten Sonntag gearbeitet wird und erst dann ein Ausgleichsruhetag und ein arbeitsfreier Sonntag folgen. Dann wäre es aber möglich, innerhalb eines 14-Tageszeitraums nicht nur die verlorene Ruhezeit nicht auszugleichen, sondern einen 14-Tageszeitraum ganz ohne 24-Stundenruhezeit zu schaffen.5 Das ist erkennbar mit der Arbeitszeitrichtlinie unvereinbar. Weitere Probleme erzeugen die Abweichungsbefugnisse von § 9 ArbZG durch §§ 10 ff. ArbZG.
177
V. Ruhepausen Nach Art. 4 ArbZ-RL haben die Mitgliedstaaten vorzusehen, dass jedem Arbeitnehmer bei einer täglichen Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden eine Ruhepause gewährt wird.
178
Dass Art. 4 ArbZ-RL zulässt, dass die Einzelheiten, insbesondere die Dauer und die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Ruhepause durch das nationale Recht geregelt werden, bedeutet lediglich, dass die Modalitäten, unter denen diese zwingend vorzusehende Pause gewährt wird, durch die Arbeitszeitrichtlinie nicht vorgegeben werden.
179
Die Mitgliedstaaten haben bei der Umsetzung den Zweck der Arbeitszeitrichtlinie zu beachten. Die Ruhepausen müssen demnach so ausgestaltet werden, dass sie einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer leisten (ErwGr. 5 ArbZ-RL). Die Arbeitszeitrichtlinie beinhaltet die Wertung, dass bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden ohne eine Pause der Gesundheitsschutz beeinträchtigt wird. Die nationalstaatlichen Regelungen haben dem Rechnung zu tra-
180
1 2 3 4 5
Für letzteres EAS/Balze, B 3100 Rz. 137. Das würde zu 59 Stunden ununterbrochener Ruhezeit führen. Dann müssten 70 Stunden ununterbrochene Ruhezeit gewährt werden. Schubert, GesR 2012, 326 (329). Ausf. EAS/Balze, B 3100 Rz. 139.
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§6
Rz. 181
Arbeitszeit
gen. Die Einzelheiten können nach der Arbeitszeitrichtlinie auch in Tarifverträgen geregelt werden. Das setzt allerdings voraus, dass im Recht des Mitgliedstaats Zulassungsnormen für derartige Vereinbarungen existieren oder aber die Tarifverträge erga omnes wirken.1 181
In Deutschland setzt eine unionsrechtskonforme Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie voraus, dass gesetzliche Regelungen ab einer Arbeitszeit von 6 Stunden zwingend eine Pause vorsehen. Ist dies der Fall, kann den Tarifvertragsparteien die Ausgestaltung der Dauer und der Voraussetzungen der Pausen gestattet werden. § 4 ArbZG ist unionsrechtskonform. Er setzt die Ruhepause bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden auf 30 und bei mehr als 9 Stunden bei mindestens 45 Minuten fest und sieht vor, dass nach 6 Stunden ununterbrochener Arbeit in jedem Fall eine Pause erfolgen muss. Die Pausen können nach § 4 S. 2 ArbZG in Zeitabschnitte von 15 Minuten aufgeteilt werden. Vorbehaltlich einer faktischen Entwertung des Erholungswerts der Pausen ist auch die § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG vorgesehene Möglichkeit, die Gesamtpausendauer auch auf kürzere Abschnitte als 15 Minuten zu verteilen, unionsrechtskonform. Nur unter den Voraussetzungen der Art. 17, 18 ArbZ-RL können § 7 Abs. 2 Nr. 3 und 4 gerechtfertigt werden (vgl. Rz. 242, 252).
182
Pausen sind grundsätzlich keine Arbeitszeit. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Pausen auf die tägliche Ruhezeit von 11 Stunden nach Art. 3 ArbZ-RL angerechnet werden können. Dieser setzt eine ununterbrochene Ruhezeit von 11 Stunden voraus, auf die die Pausen nicht angerechnet werden können. Eine Anrechnung ist auch nach den Art. 17, 18 ArbZ-RL nicht möglich, weil diese bei einer Kürzung von Pausen oder Ruhezeiten die Gewährung gleichwertiger Ausgleichsruhezeiten verlangen (Rz. 237 ff., 283).
VI. Nachtarbeit und Schichtarbeit 183
Wegen der besonderen Gefahren für Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer durch Nachtarbeit und Schichtarbeit sieht die Arbeitszeitrichtlinie für diese Tätigkeitsformen besondere Regelungen vor. Die Regelungen zur Nachtarbeit sind in den Art. 8 ff. ArbZ-RL enthalten. Die Schichtarbeit ist gesondert in Art. 13 ArbZ-RL geregelt.
184
Nacht- und Schichtarbeit ist hochgradig gesundheitsschädlich.2 Nachtarbeit kann bei jedem Menschen zu gravierenden kurz-, mittel und langfristigen Gesundheitsschäden führen. Langfristig zeigt sich insbesondere ein erhöhtes Krebsrisiko. Im Übrigen können Nacht- und Schichtarbeit die Ursache für Schlafstörungen, Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, Herz-Kreislauferkrankungen und psychische Störungen sein. Diese Folgen greifen auch die ErwGr. 7, 8 und 10 ArbZ-RL auf. Wegen der besonderen Gesundheitsrisiken sind die Schutzvorschriften zur Nachtarbeit besonders weit und Abweichungsmöglichkeiten besonders eng auszulegen. Gefährdungen der Sicherheit der Arbeitnehmer ergeben sich aufgrund permanenter Übermüdung (Shift-lag-Syndrom), die das Arbeiten gegen den menschlichen Biorhythmus zur Folge haben kann, und der herabgesetzten körperlichen Leistungsfähigkeit, zu der Nachtarbeit stets führt. Da nicht nachvollziehbar dargelegt ist, dass Nachtarbeit die Gesundheit von Frauen und Männern unterschiedlich stark schädigt, hat der EuGH ein selektives Nacht1 Ungenau Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 14 Rz. 21. 2 Davis/Mirick/Stevens, JNCI Vol. 93, S. 1557 ff.; Straif/Baan/Grosse/Secretan/Ghissassi/Bouvard/Altieri/Benbrahim-Tallaa/Cogliano, The Lancet Oncology, Vol. 8, Issue 12, S. 1065.
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Nachtarbeit und Schichtarbeit
Rz. 188
§6
arbeitsverbot für Frauen als Verstoß gegen Art. 5 RL 76/207/EWG angesehen, weil Frauen hierdurch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden.1 ErwGr. 6 ArbZ-RL sieht vor, dass den Grundsätzen der ILO zur Nachtarbeit Rechnung zu tragen ist. Die ILO-Konvention Nr. 1712 ist damit für die Auslegung von Art. 8 ff. ArbZ-RL heranzuziehen (vgl. Rz. 33 ff.).
185
1. Begriffsbestimmungen Nachtzeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie ist gem. Art. 2 Nr. 3 ArbZ-RL jede in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegte Zeitspanne von mindestens sieben Stunden, welche auf jeden Fall die Zeitspanne zwischen 24 und 5 Uhr umfasst. Dies stimmt mit Art. 1 a) ILO-Konvention Nr. 171 überein. Daher liegt es nahe, die Vorschriften über die Nachtarbeit im Zweifelsfall anhand der Grundsätze der ILO auszulegen.
186
Die Arbeitszeitrichtlinie regelt nicht die Nachtarbeitszeit, sondern die Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmern.3 Unter die Begriffsbestimmung für Nachtarbeitnehmer i.S.d. Art. 2 Nr. 4 ArbZ-RL fallen 2 verschiedene Fälle. Zunächst erfasst ist der Fall, dass ein Arbeitnehmer während der Nachtzeit normalerweise mehr als 3 Stunden seiner täglichen Arbeitszeit arbeitet (Art. 4 Buchst. a ArbZ-RL). Damit sind Arbeitnehmer, bei denen dies lediglich ausnahmsweise der Fall ist nicht von der Regelung erfasst. Des Weiteren ist Nachtarbeitnehmer, wer während der Nachtzeit einen bestimmten Anteil seiner jährlichen Arbeitszeit verrichtet. Dabei sind die Mitgliedstaaten in der Entscheidung frei, ob sie diesen Anteil entweder selbst festlegen (Art. 2 Nr. 4 Buchst. b i) ArbZ-RL) oder dies den Tarifvertragsparteien oder den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene überlassen (Art. 2 Nr. 4 Buchst. b ii) ArbZRL). Legt ein Mitgliedstaat den Anteil selbst fest, muss er die Sozialpartner zuvor anhören. Lässt ein Mitgliedstaat den Anteil durch die Sozialpartner festlegen, so darf er lediglich Flächentarifverträge als Regelungsinstrument zulassen.
187
In Deutschland sind diese Vorgaben durch § 2 Abs. 3 bis 5 ArbZG umgesetzt. Nach § 2 Abs. 3 ArbZG ist Nachtzeit i.S.d. Gesetzes die Zeit von 23 bis 6 Uhr. In Bäckereien und Konditoreien gilt abweichend die Zeit von 22 bis 5 Uhr als Nachtzeit. Nachtarbeit ist die Arbeit, die 2 Stunden der Nachtzeit umfasst. Nachtarbeitnehmer ist, wer aufgrund der Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten hat (§ 2 Abs. 4 Nr. 1 ArbZG) oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leistet (§ 2 Abs. 5 Nr. 2 ArbZG). Soweit das Tatbestandsmerkmal „in Wechselschicht“ gegenüber dem Begriff „normalerweise“ eine eigenständige Bedeutung haben sollte, wäre dies unionsrechtswidrig, weil die Arbeitszeitrichtlinie eine Beschränkung des Begriffs des Nachtarbeitnehmers auf bestimmte Arbeitszeitmodelle nicht zulässt. Dies wird sich in der Praxis nicht auswirken, weil in aller Regel ein solcher Arbeitnehmer die erforderlichen 48 Tage Nachtarbeit i.S.d. § 2 Abs. 5 Nr. 2 ArbZG erreichen dürfte. Sollte dies nicht der Fall, ein Gericht aber gleichwohl der Auffassung sein, der Arbeitnehmer leiste „normalerweise“ Nachtarbeit, bietet sich eine unionsrechtskonforme Auslegung des Begriffs Wechselschicht dahingehend an, dass der Begriff gegenüber dem Begriff
188
1 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-345/89 – Slg. 1991, I-4047; ebenso BVerfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83 u. 1 BvL 10/91, NZA 1992, 270; vgl. dazu Colneric, NZA 1992, 393. 2 In Kraft getreten am 4.1.1995, von der Bundesrepublik ist diese allerdings nicht ratifiziert worden. Von den Mitgliedstaaten der EU haben lediglich Belgien, Luxemburg, Portugal, Slowenien, Tschechien und Zypern die Konvention ratifiziert. 3 Schliemann, ArbZG, § 2 Rz. 125.
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§6
Rz. 189
Arbeitszeit
„normalerweise“ eine rein deklaratorische und keine qualifizierte Anforderung ist. Bei öffentlichen Arbeitgebern wäre u.U. eine Vorlage an den EuGH angezeigt, da zweifelhaft ist, ob die 48-Tagefrist mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar ist. Insbesondere gebietet die Arbeitszeitrichtlinie, den Nachtarbeitsschutz bereits dann greifen zu lassen, wenn eine Prognose ergibt, dass der Arbeitnehmer die 48 Tage Nachtarbeit erreichen oder überschreiten wird.1 189
Schichtarbeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie ist jede Form der Arbeitsgestaltung kontinuierlicher oder nicht kontinuierlicher Art mit Belegschaften, bei der Arbeitnehmer nach einem bestimmten Zeitplan, auch im Rotationsturnus, sukzessive an den gleichen Arbeitsstellen eingesetzt werden, so dass sie ihre Arbeit innerhalb eines Tage oder Wochen umfassenden Zeitraums zu unterschiedlichen Zeiten2 verrichten müssen (Art. 2 Nr. 5 ArbZ-RL). Bereitschaftsdienste in Kliniken werden in aller Regel Schichtarbeit i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie sein.3
190
Schichtarbeitnehmer i.S.d. Arbeitszeitrichtlinie ist jeder in einem Schichtarbeitsplan eingesetzte Arbeitnehmer.
191
Eine Umsetzung der beiden Begriffe im ArbZG fehlt. Bereits insoweit ist das ArbZG intransparent, weil es nicht erkennen lässt, wann Schichtarbeit vorliegt und wer Schichtarbeitnehmer ist. Ungeachtet der Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung des Begriffes Schichtarbeit (z.B. in § 6 ArbZG) sind daher die Umsetzungspflichten aus der Arbeitszeitrichtlinie verletzt. Die Mitgliedstaaten dürfen die Durchsetzung der Rechte aus der Richtlinie nicht vereiteln oder erschweren, in dem sie Regelungen erlassen, die nicht erkennen lassen unter welchen Voraussetzungen man sich auf diese berufen kann. 2. Nachtarbeit a) Tägliche Höchstarbeitszeit
192
Wegen der besonders hohen Gesundheitsgefahren der Nachtarbeit sieht die Arbeitszeitrichtlinie besondere Schutzvorschriften für Nachtarbeitnehmer vor. Dies geschieht dadurch, dass für diese ausnahmsweise eine tägliche Höchstarbeitszeit festgelegt wird (vgl. i.Ü. Rz. 147 ff.).
193
Art. 8 Buchst. a ArbZ-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten Maßnahmen zu ergreifen, damit die normale Arbeitszeit für Nacharbeitnehmer im Durchschnitt 8 Stunden pro 24-Stundenzeitraum nicht überschreitet.
194
Art. 8 Buchst. b ArbZ-RL verschärft diese Anforderung dahingehend, dass bei Arbeiten, die mit einer erheblichen körperlichen oder geistigen Anspannung verbunden sind, ein Ausgleich nicht möglich ist, die Arbeitszeit pro 24-Stundenzeitraum also nicht durchschnittlich, sondern an keinem Tag mehr als 8 Stunden betragen darf. Welche Arbeiten mit unter den Begriff der erheblichen körperlichen oder geistigen Anspannung verbunden sind, muss durch die Mitgliedstaaten geregelt werden oder sie müssen sicherstellen, dass die Sozialpartner dies regeln. Dabei dürfen nur Tarifverträge oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene solche Regelungen treffen. Firmentarifverträge sind daher ausgeschlossen. 1 Dafür Buschmann/Ulber J., § 2 ArbZG Rz. 25; Neumann/Biebl, § 2 ArbzG Rz. 25, 30; ErfK/ Wank, § 2 ArbZG Rz. 10; dagegen Schliemann, ArbZG, § 2 Rz. 137. 2 Vgl. dazu LAG Nürnberg v. 7.12.2011 – 6 Sa 446/11. 3 Vgl. dazu: EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 59 ff.
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Nachtarbeit und Schichtarbeit
Rz. 200
§6
b) Ausgleichszeiträume Der Ausgleichszeitraum für den Ausgleich nach Art. 8 Buchst. a ArbZ-RL richtet sich nach Art. 16 ArbZ-RL. Für Art. 8 Buchst. b ArbZ-RL kann ein Ausgleichszeitraum nicht vorgesehen werden.1 Für Art. 8 Buchst. a ArbZ-RL ist dies möglich. Eine Höchstgrenze definiert die Arbeitszeitrichtlinie selbst nicht. Dass der Ausgleichszeitraum aber jedenfalls nicht länger sein kann als der Ausgleichszeitraum für die wöchentliche Arbeitszeit nach Art. 6 ArbZ-RL, ergibt sich aus der Systematik der Arbeitszeitrichtlinie und dem intensiveren Schutzniveau, das die Arbeitszeitrichtlinie für Nachtarbeitnehmer vorsieht.
195
Die Mitgliedstaaten können den Bezugszeitraum selbst – nach Anhörung der Sozialpartner – oder durch Tarifverträge oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festlegen. Dabei dürfen nur Tarifverträge oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene solche Regelungen treffen. Firmentarifverträge sind daher ausgeschlossen.
196
Für die Berechnung des Durchschnitts ist nach Art. 16 Buchst. c ArbZ-RL die aufgrund von Art. 5 ArbZ-RL vorgesehene wöchentliche Ruhezeit nicht zu berücksichtigen, soweit sie in den Bezugszeitraum fällt. Damit soll erreicht werden, dass die Nachtarbeitszeit nicht durch Anrechnung der wöchentlichen Ruhezeit auf den Durchschnitt ausgeweitet werden kann.
197
Diese Regelungen sind mit Blick auf Art. 6 Buchst. a ArbZ-RL durch § 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 ArbZG umgesetzt. § 6 Abs. 1 Satz 1 ArbZG sieht vor, dass die werktägliche Arbeitszeit von Nachtarbeitnehmern 8 Stunden nicht überschreiten darf. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 ArbZG kann die werktägliche Nachtarbeit auf bis zu 10 Stunden verlängert werden, wenn abweichend von § 3 ArbZG innerhalb von einem Kalendermonat oder innerhalb von 4 Wochen 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
198
Diese Regelung verstößt teilweise gegen Art. 8 Buchst. b ArbZ-RL. Denn es fehlt an einer Einschränkung, dass § 6 Abs. 2 Satz 2 ArbZG für Arbeiten mit einer hohen körperlichen oder geistigen Anspannung nicht gilt. Eine Regelung, die dies umsetzt, fehlt. § 8 ArbZG ist dafür nicht ausreichend. Eine RVO ist bislang nicht erlassen. Die Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 17, 18 ArbZ-RL bieten keine Rechtfertigungsmöglichkeit (vgl. Rz. 259, 264, 281). § 6 Abs. 2 Satz 3 ArbZG, der für Arbeitnehmer, die unter § 2 Abs. 5 Nr. 2 ArbZG fallen, für Zeiten, in denen der Arbeitnehmer keine Nachtarbeit leistet, den Ausgleich nach § 3 Satz 2 ArbZG vorsieht, ist aufgrund der Länge des Ausgleichszeitraums in seiner Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie zweifelhaft. Das spricht für eine restriktive Interpretation des § 6 Abs. 2 Satz 3 ArbZG.2
199
Das Gleiche gilt für die tarifvertraglichen Abweichungsmöglichkeiten in § 7 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b ArbZG und § 7 Abs. 2a ArbZG. Diese sind insoweit nicht mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar, als keine Vorgaben für eine Obergrenze des Bezugszeitraums gemacht und Firmentarifverträge (vgl. Rz. 196) als Abweichungsinstrumente zugelassen werden. Eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschrift könnte den Verstoß insoweit heilen, als sämtliche Firmentarifverträge mit entsprechenden Regelungen insoweit für unwirksam erklärt werden.
200
1 EAS/Balze, B 3100 Rz. 165; Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 8 Rz. 5. 2 ErfK/Wank, § 6 ArbZG Rz. 6.
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§6
Rz. 201
Arbeitszeit
c) Weitere Schutzvorschriften 201
Nach Art. 9 ArbZ-RL haben die Mitgliedstaaten einen Anspruch der Nachtarbeitnehmer auf Gesundheitsuntersuchungen vorzusehen.
202
Der Gesundheitszustand jedes Nachtarbeitnehmers muss vor Aufnahme der Arbeit und danach regelmäßig untersucht werden (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a ArbZ-RL). Die Untersuchung muss unentgeltlich sein und der Arzt der Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber unterliegen (Art. 9 Abs. 2 ArbZ-RL). Die Mitgliedstaaten müssen die Möglichkeit vorsehen, die Untersuchung im öffentlichen Gesundheitswesen kostenlos durchführen zu lassen (Art. 9 Abs. 3 ArbZ-RL).
203
Durch § 6 Abs. 3 Satz 1 ArbZG wird lediglich ein verzichtbares Recht des Arbeitnehmers vorgesehen, sich vor Aufnahme der Tätigkeit untersuchen zu lassen. Nach Art. 9 Buchst. a ArbZ-RL ist aber ein Beschäftigungsverbot hinsichtlich der Nachtarbeit vorzusehen, bis eine positive Untersuchung vorliegt.1 Dem steht auch nicht der ErwGr. 9 ArbZ-RL entgegen, der lediglich von einem Anspruch des Nachtarbeitnehmers spricht. Die Schutz- und Vorsorgemittel müssen effektiv sein. Das ist nicht der Fall, wenn ein Arbeitnehmer gesundheitlich nicht in der Lage ist eine Tätigkeit ohne Vertiefung vorhandener Gesundheitsschäden auszuführen, diese aber gleichwohl aufnimmt.
204
Soweit die Kosten durch § 6 Abs. 3 Satz 3 ArbZG auf den Arbeitgeber abgewälzt werden, ist dies nicht zu beanstanden, solange nicht, was § 6 Abs. 3 Satz 3 ArbZG allerdings ebenso vorsieht, der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Kosten nur erstatten muss, wenn er einen von ihm bestimmten Arzt aufsucht.2
205
Nachtarbeitnehmer, die an gesundheitlichen Schwierigkeiten leiden, die nachweislich mit der Nachtarbeit verbunden sind, müssen einen Anspruch haben, soweit möglich auf einen geeigneten Tagesarbeitsplatz versetzt zu werden (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b ArbZ-RL). Hier hat der Arbeitgeber alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen.3
206
Diese Regelung ist in Deutschland durch § 6 Abs. 4 ArbZG umgesetzt.4
207
Art. 10 ArbZ-RL gestattet den Mitgliedstaaten, die Zulässigkeit der Nachtarbeit für bestimmte Arbeitnehmergruppen von zusätzlichen Garantien abhängig zu machen, wenn diese Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Arbeit während der Nachtzeit einem Sicherheits- oder Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. Gedacht ist beispielsweise daran, dem Arbeitgeber aufzugeben dafür zu sorgen, dass der Arbeitsplatz sicher erreicht und verlassen werden kann.5 Von dieser Befugnis hat Deutschland keinen Gebrauch gemacht.
208
Nach Art. 11 ArbZ-RL haben die Mitgliedstaaten eine Pflicht des Arbeitgebers vorzusehen, die zuständigen Behörden auf Verlangen davon in Kenntnis zu setzen, dass er regelmäßig Nachtarbeit in Anspruch nimmt (vgl. auch ErwGr. 8 ArbZ-RL).
209
§ 17 Abs. 4 ArbZG ermöglicht es, die entsprechenden Auskünfte einzuholen. 1 Schliemann, ArbZG, § 6 Rz. 46. 2 Buschmann/Ulber J., ArbZG, § 6 Rz. 18; a.A. Junker, ZfA 1998, 105 (122); Schliemann, ArbZG, § 6 Rz. 56. 3 Vgl. hierzu BAG v. 8.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719. 4 Die Auslegung der Norm im Einzelnen ist str., vgl. Buschmann/Ulber J., § 6 ArbZG Rz. 20; Junker ZfA 1998, 105 (123 f.). 5 EAS/Balze, B 3100 Rz. 171.
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Nachtarbeit und Schichtarbeit
Rz. 216
§6
Art. 12 ArbZ-RL beinhaltet ein Gebot, qualifizierte Schutzmaßnahmen für Nachtund Schichtarbeitnehmer vorzusehen (Buchst. a). Ebenso ist ein Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Vorsorgeleistungen für diese Arbeitnehmer einzuführen (Buchst. b).
210
Das Diskriminierungsverbot übernimmt den Grundsatz des bestmöglichen Schutzes aus der Arbeitsschutz-Rahmen-Richtlinie. Die Mitgliedstaaten müssen daher vorsehen, dass die Schutz- und Vorsorgeleistungen für Schicht- und Nachtarbeitnehmer nicht hinter denjenigen für die übrigen Arbeitnehmer zurückbleiben.
211
§ 6 Abs. 6 ArbZG sieht ein Diskriminierungsverbot bei der Weiterbildung und bei aufstiegsfördernden Maßnahmen vor. Für alle weiteren Bereiche fehlen Umsetzungsnormen. Die Gerichte können einen etwaigen Verstoß gegen die Richtlinie durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschrift oder den Rückgriff auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vermeiden. Ein Transparenzverstoß, der die Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens veranlassen sollte, besteht auch dann.
212
Daneben verlangt die Arbeitszeitrichtlinie aber auch, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Mindestschutzvorschriften vorsehen. So müssen die Schutz- und Vorsorgeleistungen oder -mittel den Nacht- und Schichtarbeitnehmern jederzeit zur Verfügung stehen. Zur effektiven Durchsetzung dieser Vorgabe sind wirksame Sanktionsmaßnahmen vorzusehen, damit die Vorschrift nicht leerläuft.
213
Des Weiteren verlangt Art. 12 Buchst. a ArbZ-RL, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer ergreifen. Es steht nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten, ob solche Maßnahmen ergriffen werden. Die Maßnahmen müssen an den besonderen Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer ausgerichtet werden. Diese Maßnahmen müssen nach dem Wortlaut der Norm zu einem qualifizierten Schutz führen. Das bedeutet, dass die ergriffenen Maßnahmen ungeachtet des weiten Handlungsspielraums des Gesetzgebers effektiv sein müssen. Aufgrund der Systematik der Arbeitszeitrichtlinie, die in anderen Artikeln besondere Beschränkungen der Arbeitszeit verlangt, kann eine Umsetzung nicht durch die Umsetzung der Vorgaben für die Arbeitszeit in den anderen Richtlinien-Artikeln erfolgen. Sie muss darüber hinaus gehen.
214
Art. 12 ArbZ-RL muss im Zusammenhang mit Art. 13 ArbZ-RL gelesen werden, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, damit der Arbeitsrhythmus dem allgemeinen Grundsatz Rechnung trägt, dass die Arbeit dem Menschen angepasst sein muss. Dies gilt insbesondere bei eintöniger Arbeit und bei maschinenbestimmtem Arbeitsrhythmus. Die Maßnahmen sind nach der Art der Tätigkeit und den Erfordernissen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes, insbesondere mit Blick auf die Pausen zu ergreifen. Art. 13 ArbZ-RL verlangt, dass diese Maßnahmen bereits vor Aufnahme der Nachtarbeit greifen.1
215
In Deutschland soll offenbar § 6 Abs. 1 ArbZG eine Umsetzung dieser Vorgaben sein. Danach ist die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer anhand der gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Arbeitszeit festzulegen. Die Norm ist nach überwiegender Auffassung eine sanktionslose lex imperfecta. Weitere Schutzvorschriften für Schichtarbeitnehmer fehlen. Der Inhalt von § 6 Abs. 1 ArbZG ist rechtssicher kaum zu bestimmen.2 Es ist bereits unklar, wann
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1 Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 13 Rz. 2. 2 Junker ZfA 1998, 105 (120).
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§6
Rz. 217
Arbeitszeit
„gesicherte“ arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen.1 Diese sollen sich aber jedenfalls „aus arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen“ ergeben. Die Norm schweigt bereits dazu, wie der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer von diesen Kenntnis erlangen sollen. Wann arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse anerkannt sind, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Welche Erkenntnisse von den Kontrollbehörden wann und unter welchen Voraussetzungen anerkannt werden, bleibt offen. Das BAG sah sich 1998 nicht in der Lage, gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zur Schichtarbeit festzustellen.2 Welche Rechtsfolgen sich aus Verstößen ergeben, lässt die Norm ebenfalls offen. Selbst soweit man mit einem Teil des Schrifttums einen Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Einhaltung der entsprechenden Vorgaben konstruiert,3 bleibt unklar, welchen Inhalt die Norm haben soll. § 6 Abs. 1 ArbZG ist damit ein intransparentes, ineffektives und substanzloses legislatives Placebo, dass weder den verfassungsrechtlichen noch den unionsrechtlichen Anforderungen an den Gesundheitsschutz Rechnung trägt.4 217
Die Befugnis, eine Rechtsverordnung nach § 8 ArbZG zu erlassen, reicht zur Richtlinienumsetzung nicht aus (Rz. 199). Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie selbst in hinreichendem Maße zu konkretisieren. Eine entsprechende Rechtsverordnung ist bislang auch nicht erlassen worden. Für die Gerichte bietet sich hier einerseits eine (wegen des Vorwurfs legislativen Unterlassens wenig erfolgversprechende) Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zum BVerfG an, aber auch eine Vorlage an den EuGH, um zu erfragen, ob sich aus der Arbeitszeitrichtlinie konkrete Vorgaben für die Einschränkung der Zulässigkeit von Nacht- und Schichtarbeit ableiten lassen. Das ist angesichts des Verweises des 6. Erwägungsgrundes auf die Grundsätze der Internationalen Arbeitsorganisation durchaus denkbar. Damit ließen sich die gröbsten Schutzlücken im nationalen Recht möglicherweise abmildern.
218
Einen Beitrag zur Einhaltung der Vorgaben des Art. 12 ArbZ-RL, nicht aber des Art. 13 ArbZ-RL kann § 6 Abs. 5 ArbZG leisten,5 der einen Ausgleich der Nachtarbeit durch eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das Nettoentgelt vorsieht. Dies gilt aber nur dann, wenn man ihn unionsrechtskonform dahingehend auslegt, dass ein Zuschlag bei umfangreicherer Nachtarbeit nicht geleistet werden darf, ohne dass zumindest gleichzeitig freie Tage gewährt werden.6 Die Gefahr, dass ansonsten der Gesundheitsschutz kommerzialisiert wird, ist zu groß. Angesichts der Tatsache, dass es sich gerade bei Ärzten um eine Berufsgruppe mit extrem hoher Entgeltpräferenz7 und gleichzeitiger „Unprofessionalität im Erkennen der eigenen Grenzen“8 handelt, kann zumindest bei dieser Berufsgruppe ein Wahlrecht den Gesundheitsschutz nicht gewährleisten.
1 2 3 4 5
Vgl. dazu Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6 Rz. 28 ff. BAG v. 11.2.1998 – 5 AZR 472/97, NZA 1998, 647 (648). Anzinger/Koberski, ArbZG, § 6 Rz. 24; Buschmann/Ulber J., ArbZG, § 6 Rz. 28. Schubert, GesR 2012, 326 (329). Bereitschaftsdienst ist ausgleichspflichtige Nachtarbeit i.S.d. Vorschrift, vgl. BAG v. 12.12. 2012 – 10 AZR 192/12, ZTR 2013, 318. 6 Buschmann/Ulber J., ArbZG, § 6 Rz. 28. 7 Schlottfeldt/Herrmann, Arbeitszeitgestaltung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, S. 87. 8 Füllekrug in: Nickel/Füllekrug/Trojan, Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, 5 (11).
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 222
§6
3. Schichtarbeit Für Schichtarbeiter sieht die Arbeitszeitrichtlinie die Garantien der Art. 12 und 13 ArbZ-RL in gleicher Weise vor, wie für Nachtarbeiter. Auf die entsprechenden Ausführungen kann verwiesen werden (vgl. Rz. 210 ff.).
219
Da das ArbZG in § 6 lediglich in Abs. 1 die Schichtarbeiter einbezieht und im Übrigen Regelungen nicht vorhanden sind, fehlt es an hinreichenden Schutznormen (vgl. Rz. 191). Mangels ausdrücklicher Umsetzungsvorschriften ist die gesamte Regulierung der Schichtarbeit im ArbZG intransparent und daher unionsrechtswidrig. Die Verweigerungshaltung des Gesetzgebers gegenüber einer minimalinvasiven Umsetzung ist unverständlich und verfassungsrechtlich hochgradig bedenklich. Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist Art. 12 Buchst. a ArbZ-RL nicht hinreichend konkret gefasst, um unmittelbar anwendbar zu sein.1 Soweit auf unterschiedliche Beschäftigtengruppen innerhalb eines Schichtplans unterschiedliche Schutzvorschriften angewandt werden, bedarf es der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH, ob Art. 12 Buchst. a ArbZ-RL dem entgegensteht.2
220
VII. Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen Die Überschrift des Kapitels 5 der Arbeitszeitrichtlinie lautet „Abweichungen und Ausnahmen“. Während der EuGH stets den Ausnahmecharakter der in den Art. 17 ff. ArbZ-RL enthaltenen Regelungen betont und darauf verweist, dass ihr Gebrauch auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken ist, findet sich ein derartiges Verständnis beim deutschen Gesetzgeber – wie auch in anderen Mitgliedstaaten – nicht wieder. Damit ist der Grundkonflikt zwischen nationalem Recht und Arbeitszeitrichtlinie vorgezeichnet.
221
1. Auslegungsgrundsätze des EuGH für die Art. 17 ff. ArbZ-RL Der EuGH nimmt die Überschrift der Art. 17 ff. ArbZ-RL ernst und versucht das Regel-Ausnahmeverhältnis, das in der Struktur der Arbeitszeitrichtlinie angelegt ist, stärker zur Geltung zu bringen, als dies im Wortlaut der Abweichungsbefugnisse bisweilen zum Ausdruck kommt. Demnach ist der Gebrauch der Art. 17 ff. ArbZ-RL nach der Wertung der Richtlinie auf das Nötigste zu beschränken.3 Auch wenn in den Erwägungsgründen auch Flexibilisierungsinteressen angesprochen werden, stehen diese unter dem Vorbehalt der Beachtung der Grundsätze der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer.4 Der EuGH lässt für eine extensive Interpretation der Vorschriften nicht den geringsten Spielraum: „Die in der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Abweichungen müssen als Ausnahmen von der Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung so ausgelegt werden, dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt erforderliche begrenzt wird.“5 1 BVerwG v. 15.11.2012 – 2 C 41/10, NVwZ 2012, 641 (643). 2 BVerwG v. 15.11.2012 – 2 C 41/10, NVwZ 2012, 641 (643). 3 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961; v. 9.9. 2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89; Kohte, FS Bepler, 287 (289). 4 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 58; Kohte FS Bepler, 287 (288 f.). 5 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 40; ebenso v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 58; v. 9.9. 2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89.
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§6 223
Rz. 223
Arbeitszeit
Folge ist, dass bei Gebrauch aller Ausnahmevorschriften nicht nur die Erfüllung der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen notwendig ist. Vielmehr muss auch hinsichtlich Art und Umfang der Abweichungen jeweils eine Erforderlichkeitsprüfung durchgeführt werden. Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal ist Zulässigkeitsvoraussetzung für alle Abweichungen. Die Mitgliedstaaten müssen damit zunächst die Interessen bestimmen, deren Wahrung der Gebrauch von der Ausnahmevorschrift dient. Dies dürfen entsprechend des 4. Erwägungsgrundes keine rein wirtschaftlichen Gründe sein.1 Auch bloße Praktikabilitätserwägungen dürften nicht ausreichen. Des Weiteren müssen die Mitgliedstaaten nachweisen können, dass der Umfang und die Art der Abweichung erforderlich ist. Dazu wäre allerdings erforderlich, dass die Mitgliedstaaten ihrerseits Grenzen für die Abweichung definieren, die eine Überprüfung ermöglichen, ob die Abweichung erforderlich war. Die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen ist daher nur sehr eingeschränkt zulässig. Schließlich ist die Erforderlichkeit streng zu prüfen, da nach der Rechtsprechung des EuGH die Abweichungen auf das „unbedingt erforderliche“ zu begrenzen sind.2 2. Systematik der Abweichungsmöglichkeiten
224
Die Abweichungsmöglichkeiten in den Art. 17 ff. ArbZ-RL sind wie folgt systematisiert: – Art. 17 ArbZ-RL regelt Abweichungsmöglichkeiten von der Richtlinie für bestimmte Berufe oder Tätigkeiten (Rz. 225 ff.). – Art. 18 ArbZ-RL regelt die Möglichkeit, Abweichungen im Wege von Tarifverträgen zuzulassen (Rz. 267 ff.). – Art. 22 ArbZ-RL sieht das sog. „Opt out“, eine Ausnahmevorschrift für die Anwendung des Art. 6 ArbZ-RL vor (Rz. 285 ff.). – Art. 20 und 21 ArbZ-RL betreffen die Abweichungsmöglichkeiten für mobile Arbeitnehmer, Tätigkeiten auf Off-shore-Anlagen und an Bord von seegehenden Fischereifahrzeugen (vgl. Rz. 60, 71, 96). 3. Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 17 ArbZ-RL
225
Art. 17 ArbZ-RL bietet verschiedene Flexibilisierungsmöglichkeiten mit Blick auf die Art. 3 bis 6, 8 und 16 ArbZ-RL, soweit bei bestimmten Tätigkeiten oder Berufsgruppen dafür ein Sachgrund besteht. Zu beachten bei der Anwendung aller Ausnahmen sind die restriktiven Auslegungsgrundsätze des EuGH (vgl. Rz. 222 f.). Das Grundkonzept der Richtlinie ist es, Flexibilität nur bei gleichwertigem Schutzniveau der Abweichungen zu gewähren. a) Art. 17 Abs. 1 ArbZ-RL
226
Nach Art. 17 Abs. 1 ArbZ-RL kann von den Art. 3 bis 6, 8 und 16 ArbZ-RL abgewichen werden. Damit stehen alle wesentlichen arbeitszeitrechtlichen Schutzvorschriften der Arbeitszeitrichtlinie – in tatbestandlich eng umschriebener und durch den EuGH stark eingegrenzter Form – zur Disposition des nationalen Gesetzgebers. Adressat des Art. 17 Abs. 1 ArbZ-RL sind ausschließlich die Mitgliedstaaten. Es ist nicht zulässig, die Vorschrift durch Tarifverträge umzusetzen. 1 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 67. 2 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89; Kohte FS Bepler, 287 (289).
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 231
§6
Art. 17 Abs. 1 ArbZ-RL ist nur dann anwendbar, wenn die Arbeitszeit des betroffenen Arbeitnehmers nicht gemessen wird oder nicht im Voraus festgelegt wird oder durch den Arbeitnehmer selbst festgelegt werden kann. Dies muss sich auf die gesamte Arbeitszeit1 beziehen. Ursache müssen besondere Merkmale der Tätigkeit sein. Sofern kein Sachgrund dafür besteht, dass die Arbeitszeit des Arbeitnehmers nicht auf eine konkrete Zeit festgelegt wird oder gemessen werden kann, ist Art. 17 Abs. 1 ArbZ-RL nicht einschlägig. Als nicht abschließende Beispielsfälle sieht Art. 17 Abs. 1 Buchst. a-c ArbZ-RL leitende Angestellte, Arbeitskräfte, die Familienangehörige sind, und Arbeitnehmer, die im liturgischen Bereich von Kirchen beschäftigt werden, an. Nicht anwendbar ist die Vorschrift auf Ärzte in Krankenhäusern,2 soweit diese keinen leitenden Angestellten sind.
227
Die Abweichungsbefugnis erstreckt sich auf die tägliche Ruhezeit (Art. 3 ArbZ-RL vgl. Rz. 148 ff.), die Ruhepausen (Art. 4 ArbZ-RL vgl. Rz. 178 ff.), die wöchentliche Ruhezeit (Art. 5 ArbZ-RL vgl. Rz. 166 ff.), die wöchentliche Höchstarbeitszeit (Art. 6 ArbZ-RL vgl. Rz. 159 ff.), die Nachtarbeit (Art. 8 ArbZ-RL vgl. Rz. 183 ff.) und die jeweiligen Bezugszeiträume (Art. 16 ArbZ-RL).
228
Sollte ein Arbeitnehmer in den Anwendungsbereich der Norm fallen, so dürfen die Abweichungen nur unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer erfolgen. Die Vorschrift dispensiert nicht von der Anwendung der Richtlinie, sondern gestattet lediglich Abweichungen.3 Die Mitgliedstaaten können sich gegenüber ihren Bürgern nicht auf nicht ordnungsgemäß umgesetzte Ausnahmevorschriften berufen.4 Dies gilt auch bei unvollständiger Umsetzung.
229
§ 18 Abs. 1 ArbZG nimmt bestimmte Personengruppen vom Anwendungsbereich des ArbZG aus. Für diese Personen wird nicht von den Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie abgewichen, sondern sie werden komplett von der Anwendung jeder Schutzvorschrift des ArbZG ausgenommen. Da damit kein wirksamer Gebrauch von der Ausnahmevorschrift vorliegt, können sich die in § 18 Abs. 1 ArbZG genannten Arbeitnehmer gegenüber staatlichen Arbeitgebern uneingeschränkt auf das ArbZG berufen. Denn die Unionsrechtswidrigkeit lässt sich nur dadurch beheben, dass man § 18 ArbZG dem staatlichen Arbeitgeber gegenüber unangewendet lässt. Dem staatlichen Arbeitgeber ist es wegen des Sanktionsgedankens verwehrt, sich gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern auf die Unionsrechtswidrigkeit des § 18 Abs. 1 ArbZG zu berufen.
230
b) Art. 17 Abs. 2 und 3 ArbZ-RL, besondere Dienste und Tätigkeiten aa) Vorbemerkungen. Nach Art. 17 Abs. 2 bis 5 ArbZ-RL sind für bestimmte Tätigkeiten Abweichungen von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL nicht aber von Art. 6 ArbZRL5 möglich. Dabei setzt die Arbeitszeitrichtlinie hinsichtlich des Umfangs und der Ausgestaltung der Abweichungen enge tatbestandliche Grenzen. Auf alle Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 17 Abs. 3-5 ArbZ-RL ist Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL anzuwenden. Dieser regelt die allgemeinen Voraussetzungen für den Gebrauch von den Abweichungsbefugnissen. 1 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-484/04 –, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-7471 – Rz. 20. 2 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 83. 3 Das übersehen Baeck/Deutsch, § 18 ArbZG – Rz. 12. 4 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10237 – Rz. 46 f. 5 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 100.
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§6
Rz. 232
Arbeitszeit
232
Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL schafft eine Möglichkeit, Besonderheiten bestimmter Dienste und Tätigkeitsfelder Rechnung zu tragen. Ihr wohnt damit ein tätigkeitsbezogener, nicht aber ein berufsbezogener Ausnahmecharakter inne. Zu den Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 18 ArbZ-RL (vgl. Rz. 267 ff.). Zur fehlenden Möglichkeit des Staates, sich auf nicht ordnungsgemäß umsetzte Ausnahmevorschriften zu berufen (vgl. Rz. 239).
233
bb) Abweichungsinstrument (Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL). Nach Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL besteht die Abweichungsbefugnis für die Mitgliedstaaten im Wege von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern. Für die Bundesrepublik Deutschland besteht keine Möglichkeit, den Tarifvertragsparteien den Gebrauch von dieser Ausnahmevorschrift zu übertragen, sehr wohl aber Abweichungen durch die Tarifvertragsparteien aufgrund von hinreichend bestimmten und klaren staatlichen Umsetzungsnormen1 zuzulassen.
234
Das ergibt sich aus der Systematik der Arbeitszeitrichtlinie. Art. 18 UAbs. 1 ArbZ-RL sieht eine dem Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL ähnliche Regelung vor.2 Gleichwohl regelt Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL, dass Mitgliedstaaten, in denen es keine rechtliche Regelung gibt, wonach über die in der Arbeitszeitrichtlinie geregelten Fragen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene Tarifverträge geschlossen werden können, im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften Abweichungen durch Tarifverträge auf geeigneter kollektiver Ebene zulassen können (vgl. Rz. 273). Dementsprechend gibt es zwei der Arbeitszeitrichtlinie zugrunde liegende Umsetzungsmodelle. Solche Staaten, in denen im Wege nationaler oder regionaler Tarifverträge die Richtlinie umgesetzt werden kann oder solche Staaten bei denen dies nicht möglich ist. Letztere erhalten aber gleichwohl die Befugnis, die Richtlinie selbst vollständig umzusetzen und Zulassungsnormen für Abweichungen durch die Tarifvertragsparteien zu schaffen. Der Unterschied liegt darin, dass im einen Fall der Adressat der Umsetzungsverpflichtung auch die Tarifvertragsparteien sein können. Nur dann sind die Tarifverträge unmittelbar auf ihre Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie zu kontrollieren.3 Da Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL keine dem Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL entsprechende Regelung beinhaltet, sondern ausschließlich eine – auf Deutschland nicht anwendbare – Befugnis entsprechend Art. 18 Abs. 1 ArbZ-RL vorgesehen ist, kann in dessen Anwendungsbereich keine Zulassungsnorm für Abweichungen durch die Tarifvertragsparteien geschaffen werden.
235
Damit muss im Falle der Bundesrepublik Deutschland das nationale Recht lückenlos und ohne jede Ausnahme die Richtlinie das nationale Recht umsetzen und zwar so, dass kein Spielraum für unionsrechtswidrige Tarifverträge bleibt. Sobald in Deutschland ein Tarifvertrag unmittelbar an der Arbeitszeitrichtlinie gemessen werden muss, wäre bereits dadurch, dass dies erforderlich wird, automatisch ein Richtlinienverstoß wegen unzureichender staatlicher Umsetzungsnormen gegeben.
236
cc) Gewährung eines Ausgleichs (Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL). Werden nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. a-g ArbZ-RL Abweichungen vorgenommen, so sind diese nur unter der Voraus-
1 Vgl. zu diesem Erfordernis EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10237 – Rz. 46 f., 51; Kohte, FS Bepler, 287 (290). 2 Er lautet: „Von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 kann abgewichen werden im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene oder, bei zwischen den Sozialpartnern getroffenen Abmachungen, im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern auf niedrigerer Ebene.“ 3 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10237 – Rz. 56 ff.
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 241
§6
setzung der Kompensation der durch die Abweichung entstehenden Gesundheitsgefährdungen zulässig (Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL). (1) Begriff der gleichwertigen Ausgleichsruhezeit. Die Arbeitszeitrichtlinie lässt die Abweichungen nur zu, wenn den betroffenen Arbeitnehmern gleichwertige Ausgleichsruhezeiten gewährt werden, außer es liegt eine atypische Ausnahmekonstellation vor (vgl. Rz. 239). Es muss für jede Abweichung zusätzliche Ruhezeiten geben. Der Begriff der Gleichwertigkeit wird vom EuGH anhand des Ziels der Arbeitszeitrichtlinie, die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer wirksam zu schützen, ausgefüllt.1
237
Die Ausgleichsruhezeiten müssen in ihrem Umfang und in ihrer Ausgestaltung so angelegt sein, dass sie den gleichen Schutz gewährleisten, wie die Vorschriften von denen abgewichen wird. Dementsprechend gilt der Grundsatz, dass mit dem Umfang der Abweichung auch das Ausmaß der Ausgleichsruhezeiten zunehmen muss. Eine Begrenzung der Höchstzahl der jährlichen Arbeitstage erfüllt nicht das Erfordernis der Gleichwertigkeit.2
238
Nur für den Fall, dass die Gewährung gleichwertiger Ausgleichsruhezeiten aus objektiven Gründen nicht möglich ist, dürfen die Mitgliedstaaten andere Instrumente wählen, um einen angemessenen Schutz der betroffenen Arbeitnehmer zu gewährleisten. Hier gilt ein strenger Prüfungsmaßstab.3 Nur unter „ganz außergewöhnlichen Umständen“ hält der EuGH eine solche Möglichkeit für gegeben.4 Die Mitgliedstaaten müssen aber selbst bei Konstellationen, die diese Anforderungen erfüllen, Maßnahmen ergreifen um einen angemessenen Schutz gewährleisten. Fehlen solche Maßnahmen oder sind sie von vorne herein untauglich, so kommt es nicht mehr darauf an, ob aus objektiven Gründen die Arbeitsperioden nicht durch eine Ruheperiode abgelöst werden können.5 So hat der EuGH eine Begrenzung der jährlichen Arbeitstage als von vorne herein ungeeignet angesehen, einen angemessenen Schutz zu verwirklichen.6
239
(2) Länge und Lage der Ausgleichsruhezeiten. In der Rs. Jaeger hat der EuGH sich auch zur Länge der Ausgleichsruhezeiten geäußert. Diese müssen grundsätzlich aus einer Anzahl zusammenhängender Stunden entsprechend der vorgenommenen Kürzung bestehen.7 Die Ausgleichsruhezeiten müssen gewährt werden, „bevor die folgende Arbeitsperiode beginnt“.8 Denn eine erst später erfolgende Ausgleichsruhezeit ist nicht geeignet, den Schutz der Gesundheit und Sicherheit des Arbeitnehmers sicher zu stellen.9
240
Bei einer Verkürzung der nach Art. 3 Abs. 1 ArbZ-RL vorgesehenen Mindestruhezeit von 11 Stunden innerhalb eines 24-Stundenzeitraums nach Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL (vgl. Rz. 261), muss daher die sich an die Arbeitsperiode anschließende Mindest-
241
1 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 50, 37. 2 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 52 ff. 3 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 55 ff.; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 98. 4 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 98. 5 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 57 f. 6 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 58. 7 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 97. 8 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 97; Barnard, EU Employment Law, Chapter 12, S. 554. 9 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 96.
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§6
Rz. 242
Arbeitszeit
ruhezeit um den Kürzungsumfang verlängert werden. Wird die Ruhezeit innerhalb des 24-Stundenzeitraums um 4 Stunden auf 7 Stunden Ruhezeit gekürzt, müssen diese 4 Stunden an die gekürzte Ruhezeit wieder angehängt werden, so dass es zu einer Überwirkung in den nächsten 24-Stundenzeitraum kommt. Es ist also nach der Rechtsprechung des EuGH nicht möglich, die Unterbrechung zwischen 2 Arbeitsperioden auf unter 11 zusammenhängende Stunden zu kürzen, weil dann keine gleichwertige Ausgleichsruhezeit mehr vorliegt. 242
§ 5 Abs. 1 ArbZG sieht vor, dass im Anschluss an die tägliche Arbeitszeit eine Ruhezeit von 11 Stunden gewährt wird. Wird die werktägliche Arbeitszeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 2 Nr. 1-4 oder Abs. 2a ArbZG durch Tarifvertrag verlängert, kann es dazu kommen, dass innerhalb eines 24-Stundenzeitraums keine 11 Stunden zusammenhängende Ruhezeit mehr möglich sind. Damit wären die Anforderungen des Art. 3 ArbZ-RL nicht gewahrt, weil innerhalb eines 24-Stundenzeitraums keine zusammenhängende Ruhezeit von 11 Stunden gewährt wird. Diese Folge verhindert § 7 Abs. 9 ArbZG, der vorschreibt, dass, sofern die werktägliche Arbeitszeit über 12 Stunden hinaus verlängert wird, im unmittelbaren Anschluss hieran eine Ruhezeit von mindestens 11 Stunden zu gewähren ist.1 Die Vorschrift wurde neu eingefügt, um die Anforderungen des EuGH an die Gewährung gleichwertiger Ruhezeiten (vgl. Rz. 237 ff.) einzuhalten.
243
§ 5 Abs. 2 und 3 ArbZG sind teilweise unionsrechtswidrig.2 Sie verkürzen die Ruhezeit nach § 5 Abs. 1 ArbZG, soweit es dadurch zu einer Verkürzung der Mindestruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden kommt und diese nicht sofort ausgeglichen werden.3 Art. 17 und 18 ArbZ-RL lassen Abweichungen von Art. 3 ArbZ-RL nur insoweit zu, als innerhalb eines 24-Stundenzeitraums die Ruhezeit verkürzt werden kann. Die Arbeitszeitrichtlinie lässt es nicht zu, diese Kürzung anders auszugleichen, als in direktem Anschluss an die Verkürzung innerhalb des 24-Stundenzeitraums (vgl. Rz. 240). Deswegen beinhaltet § 5 Abs. 1 ArbZG bereits die maximal zulässige Abweichung von den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie, weil er nicht verlangt, dass die Mindestruhezeit von zusammenhängenden 11 Stunden innerhalb des 24-Stundenzeitraums genommen werden, sondern lediglich im Anschluss an die Arbeit.
244
dd) Tätigkeitsfelder. Nach Maßgabe dieser restriktiven Rechtsprechung des EuGH können für die folgenden Tätigkeitsfelder Abweichungen vorgesehen werden:
245
(1) Räumliche Entfernung zum Arbeitsplatz. Abweichungen sind möglich bei Tätigkeiten, bei denen Arbeitsplatz und Wohnsitz des Arbeitnehmers weit auseinander liegen oder die durch weit auseinanderliegende Arbeitsplätze gekennzeichnet sind (Art. 17 Abs. 3 Buchst. a ArbZ-RL).
246
(2) Sach- und Personenschutz. Nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. b ArbZ-RL bestehen Abweichungsmöglichkeiten auch bei Tätigkeiten im Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie bei Tätigkeiten, die Sachen oder Personen schützen sollen. Von der Ausnahmevorschrift erfasst ist das Wachpersonal, aber auch Hausmeister. Förster dürften ebenso unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen.4 Auch Erzieher in Ferien- oder Freizeitzentren,
1 2 3 4
EAS/Balze, B 3100 Rz. 125; ErfK/Wank § 7 ArbZG Rz. 29. Buschmann/Ulber, § 5 ArbZG Rz. 7. Schliemann, NZA 2004, 513 (516). Offen gelassen von EuGH v. 4.3.2011 – Rs. C-258/10 – Grigore, n.v. juris.
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 250
§6
die Kinder zu beaufsichtigen haben, üben nach der Rechtsprechung des EuGH Tätigkeiten aus, die Personen schützen sollen.1 (3) Tätigkeiten, bei denen die Kontinuität der Dienstleistung oder Produktion gewährleistet sein muss. Abweichungen sind zulässig bei Tätigkeiten, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Kontinuität des Dienstes oder der Produktion gewährleistet sein muss.2 Art. 17 Abs. 3 Buchst. c i)-viii) ArbZ-RL listet Fallgruppen auf, in denen dies typischerweise der Fall ist. Die Liste ist nicht abschließend („insbesondere“). Sollten die Mitgliedstaaten die Ausnahmen in ihrem nationalen Recht auf weitere Fallgruppen erstrecken wollen, so müssen diese aber vergleichbar sein. Maßgeblich für alle Tatbestände ist, dass die Abweichungen nur dann zulässig sind, wenn die Kontinuität des Dienstes gewährleistet sein muss, also eine Unterbrechung objektiv nicht möglich ist. Rein wirtschaftliche Erwägungen sind nicht ausreichend, um sich auf den Ausnahmetatbestand zu berufen.3 Bloße Lästigkeiten oder Praktikabilitätserwägungen sind ebenfalls keine ausreichenden Gründe. Von besonderer Bedeutung sind die Ausnahmen nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. c i) ArbZ-RL für die Aufnahme-, Behandlungs- und Pflegedienste in Krankenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen. Als eine solche ähnliche Einrichtung sieht der EuGH Ferienzentren für Kinder an, soweit diese sich dort mehrtägig aufhalten und rund um die Uhr betreut werden müssen.4
247
(4) Sonstige Fallgruppen; Daseinsvorsorge. Weitere Ausnahmevorschriften betreffen im Wesentlichen die staatliche Daseinsvorsorge, soweit sie rund um die Uhr zur Verfügung stehen muss oder aber Industriezweige oder Tätigkeiten innerhalb der Industrie, bei denen der Arbeitsprozess aus technischen Gründen nicht unterbrochen werden kann oder (Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten) im Widerspruch zur Art der Tätigkeit stehen kann (Art. 17 Abs. 3 Buchst. c iii), iv), v), vi), viii) ArbZ-RL). Bei diesen Abweichungsmöglichkeiten ist besonders zu beachten, dass es objektiv nicht möglich sein darf, die Produktion zu unterbrechen. Der bloße Wunsch des Arbeitgebers oder wirtschaftliche Erwägungen können den Gebrauch von den Abweichungsmöglichkeiten nicht rechtfertigen.
248
Des Weiteren bestehen die Abweichungsmöglichkeiten im Falle eines vorhersehbaren übermäßigen Arbeitsanfalls, insbesondere in der Landwirtschaft, im Fremdenverkehr und dem Postdienst (Art. 17 Abs. 3 Buchst. d ArbZ-RL). Hier sind Saisonbetriebe gemeint. So beispielsweise das Weihnachtsgeschäft bei der Post oder die Ernte in der Landwirtschaft. Eine weitere Ausnahme wird für das Eisenbahnpersonal (Art. 17 Abs. 3 Buchst. c und e ArbZ-RL) gemacht.
249
Des Weiteren greift die Ausnahmevorschrift unter den in Art. 5 Abs. 4 RL 89/391/EWG aufgeführten Bedingungen. Für Vorkommnisse, die auf nicht vom Ar-
250
1 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 45. 2 Als Beispiele nennt die Richtlinie die Aufnahme-, Behandlung- und/oder Pflegedienste von Krankenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen, einschließlich der Tätigkeiten von Ärzten in der Ausbildung, Heimen sowie Gefängnissen (I), die Tätigkeit von Hafen-und Flughafenpersonal (II), die Tätigkeit bei Presse-, Rundfunk-, Fernsehdiensten oder Kinematografieproduktion, Post oder Telekommunikation, Ambulanz-, Feuerwehr-oder Katastrophenschutzdiensten, (III), Tätigkeiten in der Daseinsvorsorge (Gas-, Wasser-oder Stromversorgungsbetriebe, Müllabfuhr oder Verbrennungsanlagen), (IV), Industriezweige, in denen der Arbeitsprozess aus technischen Gründen nicht unterbrochen werden kann, (V), Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten (VI), landwirtschaftliche Tätigkeiten (VII), und Arbeitnehmer, die in regelmäßigen innerstädtischen Personenverkehr beschäftigt sind (VIII). 3 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 67. 4 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 47 f.
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§6
Rz. 251
Arbeitszeit
beitgeber zu vertretende, anormale und unvorhersehbare Umstände oder auf außergewöhnliche Ereignisse zurückzuführen sind, deren Folgen trotz aller Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können, können Abweichungen vorgesehen werden. 251
Darüber hinaus kann von den Abweichungsmöglichkeiten für Unglücksfälle Gebrauch gemacht werden (Art 17 Abs. 3 Buchst. g ArbZ-RL).
252
Unter Berücksichtigung dieser Fallgruppen ist § 7 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 ArbZG durch Art. 17 Abs. 2 und 3 ArbZ-RL nicht zu rechtfertigen. Ebenso wenig § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4 und Abs. 2a ArbZG. Die Vorschriften sind nicht auf die in Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL genannten Personengruppen beschränkt. Diese Vorschriften können lediglich über Art. 18 ArbZ-RL gerechtfertigt werden (vgl. Rz. 267 ff.).
253
ee) Umfang der Abweichungen. Nach Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL sind Abweichungen von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL zulässig. Die Abweichungen sind auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche zu begrenzen.1 Abweichende Vorschriften sind als Ausnahmetatbestände zu fassen. Diese müssen sich auf ein erkennbares, spezifisches und dringliches Interesse beziehen. Die Abweichungen müssen geeignet und erforderlich sein, um dieses Interesse zu wahren.
254
(1) Wöchentliche Höchstarbeitszeit. Von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden pro 7-Tageszeitraum (Art. 6 ArbZ-RL) lässt Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL keine Abweichungen zu.
255
Von Art. 6 ArbZ-RL weicht § 7 Abs. 2a ArbZG ab. Dieser kann nicht auf Art. 17 ArbZ-RL gestützt werden. Zu Art. 22 ArbZ-RL vgl. Rz. 291 ff.
256
(2) Bezugszeiträume (Art. 19 ArbZ-RL). Die Mitgliedstaaten können aufgrund von Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL Abweichungen vom Bezugszeitraum von 4 Monaten nach Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL durch Tarifverträge zulassen. Diese Befugnis ist allerdings beschränkt. Nach Art. 19 Abs. 1 ArbZ-RL dürfen die Mitgliedstaaten maximal einen Bezugszeitraum von bis zu 6 Monaten vorsehen, wenn sie von Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL Gebrauch machen.
257
Allerdings kann eine Zulassungsnorm für Tarifverträge vorgesehen werden, nach der zugelassen wird, dass die Tarifvertragsparteien Bezugszeiträume von bis zu 12 Monaten vorsehen, wenn dies aus objektiven technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen erforderlich ist (Art. 19 Abs. 2 ArbZ-RL). Damit ist die Abweichungsmöglichkeit auf solche Fälle zu beschränken. Sie setzt voraus, dass die Mitgliedstaaten – nicht die Tarifvertragsparteien – die allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes wahren. Das bedeutet, dass eine Zulassungsnorm nur in Kombination mit begleitenden zusätzlichen gesetzlichen Schutzregelungen zulässig ist. Die Abweichungsmöglichkeit ist auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie dienen, unbedingt Erforderliche zu begrenzen.2
258
Eine Zulassungsnorm für einen Bezugszeitraum von bis zu 12 Monaten enthält § 7 Abs. 8 ArbZG für die Abweichungsbefugnisse nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4, Abs. 2 Nr. 2-4 ArbZG. Diese Vorschriften weichen von Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL ab, weil sie die Verlängerung des Ausgleichszeitraums für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit über 4 Monate hinaus zulassen. Die Abweichungsmög1 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 58; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89. 2 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89; EAS/Balze, B 3100 Rz. 151.
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 260
§6
lichkeit wird durch § 7 Abs. 8 ArbZG auf 12 Monate beschränkt. Allerdings fehlen die sonstigen Voraussetzungen, die Art. 19 UAbs. 2 ArbZ-RL für die Möglichkeit einer solchen Zulassungsnorm vorsieht.1 Dass flankierende Schutzmaßnahmen zur Gesundheit und Sicherheit fehlen, mag noch mit der fehlenden Einsicht des Gesetzgebers in deren Erforderlichkeit begründet werden. Dass aber die Zulassungsnorm generell gefasst ist und nicht nur für aus objektiven technischen und arbeitsorganisatorischen Gründen erforderliche Abweichungen die Möglichkeit eines über 6 Monate hinausgehenden Bezugszeitraums vorsieht, ist ein bemerkenswerter Umgang mit der Richtlinie. Ohne Eingrenzung auf bestimmte Tätigkeiten sind § 7 Abs. 8 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1, sowie Abs. 2 Nr. 2 bis 4 ArbZG unionsrechtswidrig.2 Das hat die Kommission bereits beanstandet.3 Darüber hinaus liegt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 ESC vor.4 Die Abweichung lässt sich auch nicht auf Art. 18 ArbZ-RL stützen (Rz. 267 ff.), der gleichermaßen durch Art. 19 UAbs. 2 ArbZ-RL begrenzt wird. Öffentlichen Arbeitgebern ist es verwehrt, sich auf Bezugszeiträume von mehr als 6 Monaten zu berufen. Sollte das BAG die Auffassung vertreten, eine unionsrechtswidrige Zulassungsnorm für Tarifverträge sei durch eine Rechtskontrolle des Tarifvertrags heilbar (zur Problematik vgl. Rz. 233), so müssten die Tarifverträge darauf kontrolliert werden, ob die Verlängerung des Bezugszeitraums auf mehr als 6 Monate aus objektiven technischen und arbeitsorganisatorischen Gründen erforderlich ist.5 Der EuGH hat bislang zwar entschieden, dass der Maßstab für den Gebrauch des Art. 17 ArbZ-RL streng ist (Rz. 222 ff.). 6 Wie dieser mit Blick auf Art. 19 ArbZ-RL ausgeformt werden wird, ist allerdings bislang nicht entschieden und ergibt sich auch nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH. Würde man zu einer Rechtskontrolle des Tarifvertrags auf seiner Vereinbarkeit mit der Richtlinie greifen, wäre eine Vorlage an den EuGH unumgänglich, sofern man es für möglich hält, die tarifvertraglichen Vorschriften könnten in Ansehung der Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie wirksam sein. Offensichtlich unionsrechtswidrig wäre in diesem Zusammenhang der Verweis auf eine Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Diese ist im Unionsrecht kein taugliches Argument, weil die Einhaltung der Vorgaben von Richtlinien nicht durch ein Verfahren sondern durch konkrete Normen sichergestellt werden muss. Im Übrigen ist eine Abweichung von den Bezugszeiträumen nach Art. 16 Buchst. a (wöchentliche Ruhezeit) und c (Dauer der Nachtarbeit) ArbZ-RL möglich. Bei der Nachtarbeit ist allerdings zu beachten, dass Art. 8 Buchst. b ArbZ-RL zum Schutz von Nachtschwerarbeitern verhindert, dass überhaupt ein Ausgleichzeitraum festgelegt wird (vgl. Rz. 195, 199). Dementsprechend kann ein solcher auch nicht durch Gebrauch von Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL festgelegt werden.
259
Bei Gebrauch von den Abweichungsmöglichkeiten hinsichtlich des Ausgleichszeitraums ist die einschränkende Rechtsprechung des EuGH zu beachten (vgl.
260
1 2 3 4
Buschmann, AuR 2004, 1 (4). Boerner GS Heinze (2005), 69 (74); Schliemann NZA 2004, 513 (517). KOM (2010), 802, S. 4. European Social Charter -European Committee of Social Rights Conclusions XIX-3 (2010) (GERMANY), S. 4, Übersetzung in AuR 2011, 107. 5 So EAS/Balze, B 3100 Rz. 157. 6 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89.
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§6
Rz. 261
Arbeitszeit
Rz. 240 ff.).1 Dementsprechend kann der Ausgleichszeitraum nicht frei festgelegt werden.2 261
(3) Tägliche Ruhezeit. Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL lässt Abweichungen von Art. 3 ArbZ-RL (tägliche Ruhezeit) zu. Eine Verkürzung ist nach Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL aber nur unter eingeschränkten Voraussetzungen möglich (vgl. Rz. 236 ff.). Die Arbeitszeitrichtlinie kennt für die täglichen Mindestruhezeiten nach Art. 3 ArbZ-RL keinen Bezugszeitraum (vgl. Art. 16 ArbZ-RL), so dass ein solcher nach Art. 17 Abs. 2, 3 bzw. 18 ArbZ-RL auch nicht geschaffen werden darf.3 Zur Unionsrechtswidrigkeit von §§ 5 Abs. 2 und 3 ArbZG (vgl. Rz. 243).
262 263
(4) Ruhepausen. Auch mit Blick auf die Ruhepausen (Rz. 178 ff.) sind Abweichungen möglich. Auch hier müssen die Grundsätze über den gleichwertigen Ausgleich beachtet werden. In Betracht kommen Einschränkungen insbesondere in Bereichen, in denen die Kontinuität des Dienstes gewährleistet sein muss. So kann eine Pausenregelung mit Notfalleinsätzen im Bereich der Berufsfeuerwehr kollidieren.4 Gleichwohl dürfen die Abweichungen nur erfolgen, soweit dies erforderlich ist. Ein Verweis nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. c ArbZ-RL lässt nur Abweichungen vom Anspruch auf eine Ruhepause und nicht etwa dessen Beseitigung zu.
264
(5) Nachtarbeit. Auch mit Blick auf die Nachtarbeit ist der Erforderlichkeitsgrundsatz und die Notwendigkeit eines Ausgleichs zu beachten. Wegen der hochgradigen Gesundheitsschädlichkeit von Nachtarbeit (vgl. Rz. 184) sind dabei besonders strenge Maßstäbe anzulegen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Erforderlichkeitsprüfung. Abweichungen müssen erheblichen Interessen dienen, die die negativen gesundheitlichen Folgen der Abweichungen rechtfertigen. c) Art. 17 Abs. 2 und 4 ArbZ-RL: Schichtarbeit und über den Tag verteilte Tätigkeiten
265
Unter den gleichen Tatbestandsvoraussetzungen wie die Abweichungsbefugnisse nach Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL, aber hinsichtlich der Tätigkeitsfelder begrenzt und hinsichtlich des Umfangs der Abweichungsbefugnis eingeschränkt, bestehen weitere Abweichungsmöglichkeiten bei Schichtarbeit und über den Tag verteilten Tätigkeiten. Diese erstrecken sich nach Art. 17 Abs. 4 Buchst. a ArbZ-RL auf Fälle, in denen bei Schichtarbeit der Arbeitnehmer die Gruppe wechselt und zwischen dem Ende der Arbeit in seiner alten Schichtgruppe und dem Beginn der Arbeit in der nächsten nicht in den Genuss der täglichen oder wöchentlichen Ruhezeit kommen kann. Zu erinnern ist daran, dass auch diese Abweichungsmöglichkeit nur für Fälle besteht, in denen es objektiv nicht möglich ist, das Schichtsystem vorwärts rollieren zu lassen, sondern ein Arbeitnehmer aus objektiven Gründen rückwärts rollieren muss. Des Weiteren besteht die Abweichungsmöglichkeit nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL (Rz. 236 ff.). Will ein Mitgliedstaat von der Regelung Gebrauch machen oder abweichende Regelungen durch Tarifverträge zulassen, so müssen zusammen mit der Abweichung Ausgleichsruhezeiten vorgesehen werden. Diese müssen effektiv sein.
1 2 3 4
EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 89. A.A. EAS/Balze, B 3100 Rz. 165. Buschmann/Ulber, § 5 ArbZG Rz. 7. OVG RP v. 23.3.2012 – 2 A 11355/11, DÖD 2012, 171.
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 271
§6
d) Art. 17 Abs. 2 i.V.m. Art. 17 Abs. 5 ArbZ-RL Die Möglichkeit zur Abweichung für Ärzte in der Ausbildung war nur für eine Übergangszeit vom 1.8.2004 bis zum 1.8.2009 möglich (Art. 17 Abs. 5 UAbs. 2 ArbZ-RL). Die Mitgliedstaaten dürfen die Abweichungsbefugnis nicht mehr nutzen.
266
4. Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 18 ArbZ-RL Nach Art. 18 ArbZ-RL sind Abweichungen von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL im Wege von Tarifverträgen möglich.
267
a) Anwendbarkeit von Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL Art. 18 ArbZ-RL sieht zwei unterschiedliche Konstellationen für den Gebrauch von den Abweichungsbefugnissen nach Art. 18 ArbZ-RL vor. Dabei ist für Deutschland nur die Variante nach Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL anwendbar.
268
Nach Art. 18 UAbs. 1 ArbZ-RL kann von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene oder, bei zwischen den Sozialpartnern getroffenen Abmachungen, im Wege von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern auf niedrigerer Ebene abgewichen werden. 18 UAbs. 1 ArbZ-RL ist für Deutschland nicht einschlägig. Er bezieht sich auf Mitgliedstaaten, in denen die Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie gewöhnlich durch Tarifverträge erfolgt (Umkehrschluss aus Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL). Dies ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich. Mangels Erga-omnes-Wirkung von Tarifverträgen kann die Bundesrepublik EU-Richtlinien nicht durch die Tarifvertragsparteien umsetzen lassen (vgl. § 1 Rz. 53 f.).
269
Einschlägig für Deutschland ist Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL. Nach diesem können Mitgliedstaaten, in denen es keine rechtliche Regelung gibt, mittels der die Sozialpartner auf nationaler oder regionaler Ebene durch Vereinbarungen oder Tarifverträge die Arbeitszeitrichtlinie umsetzen können, im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Tarifvertragsrecht Abweichungen von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL durch Tarifverträge oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf geeigneter kollektiver Ebene zulassen.
270
b) Verhältnis von Art. 18 ArbZ-RL zu Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL Art. 18 ArbZ-RL ist autonom von Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL auszulegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH „kann“ Art. 18 ArbZ-RL Berufsgruppen erfassen, die Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL nicht nennt.1 Die Formulierung des EuGH „kann“ bedeutet nicht, dass dies stets möglich ist.2 Damit verweist der EuGH darauf, dass die Erforderlichkeitsprüfung bei Art. 18 ArbZ-RL strukturell anders ausfällt als bei Art. 17 Abs. 3 ArbZ-RL. Denn Art 17 Abs. 3 ArbZ-RL nennt Fallgruppen, in denen ein legitimes Ziel für die Abweichungen typisierend anerkannt wird, während Art. 18 Abs. 3 ArbZ-RL eine solche Vermutungswirkung fehlt. Daher ist hier die Erforderlichkeit deutlich stenger zu prüfen. Art. 18 ArbZ-RL ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Ihr Gebrauch ist auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglicht, unbedingt Erforderliche zu begrenzen.3 1 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 36. 2 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 36. 3 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 58, 89.
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§6 272
Rz. 272
Arbeitszeit
§ 7 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4 und Abs. 2a ArbZG sind daher unionsrechtlich bedenklich. Die Vorschriften nennen keine Tätigkeitsfelder oder Berufe, sondern lediglich bestimmte Dienstformen (Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst), bei denen der Gesetzgeber pauschal davon ausgeht, die Abweichungen seien erforderlich. Interessen, deren Wahrung die Vorschriften dienen sollen, lassen sich ihnen nicht entnehmen. Eine Erforderlichkeitsprüfung dürfte daher schon daran scheitern, dass die Erforderlichkeit nicht alleine deswegen bejaht werden kann, weil Bereitschaftsdienst oder Arbeitsbereitschaft geleistet werden. Damit wären die Vorschriften in Ansehung des Art. 18 ArbZ-RL unionsrechtswidrig, soweit sie Abweichungen von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL zulassen. Teilweise lässt sich die Problematik durch eine unionsrechtskonforme einschränkende Auslegung lösen. Dann allerdings wäre ein Großteil der Tarifverträge, die von der Norm Gebrauch machen, unwirksam. Im Übrigen wäre das BAG damit faktisch zu einer Inhaltskontrolle des Tarifvertrages gezwungen, weil es eine Erforderlichkeitsprüfung für die getroffenen Regelungen vornehmen müsste. Eine Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien kann in diesem Zusammenhang nicht angenommen werden, weil ansonsten das Schutzniveau der Richtlinie ausgehebelt würde, was mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar wäre. Unabhängig von dieser Frage werden sich zumindest öffentliche Arbeitgeber nie auf entsprechende unionsrechtswidrige Regelungen berufen können.1 c) Abweichungsinstrument: Tarifvertrag
273
Sozialpartner im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie sind allein die Tarifvertragsparteien, nicht aber die Parteien der Betriebsverfassung. Zulässig sind damit alleine Abweichungen aufgrund von Tarifverträgen. Dementsprechend können die Mitgliedstaaten zwar zulassen, dass die Tarifvertragsparteien die Betriebsparteien bei ihren Regelungen einbeziehen. Allerdings dürfen die Betriebsparteien keine über die von den Tarifvertragsparteien vorgesehenen Abweichungen hinausgehenden Regelungen treffen können. Dementsprechend muss jede Abweichung sich vollständig und tatbestandlich determiniert aus einer tarifvertraglichen Regelung ergeben. Befugnisse der Tarifvertragsparteien, ihre Abweichungsbefugnis auf die Betriebsparteien zu übertragen, sind unionsrechtswidrig.
274
Dementsprechend sind die §§ 7 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 2a, Abs. 3 Satz 1 ArbZG insoweit unionsrechtskonform, als sie abweichende Regelungen in einer Betriebsvereinbarung nur aufgrund eines Tarifvertrags zulassen. Soweit allerdings die Tarifvertragsparteien die Abweichungsbefugnis nicht selbst ausgestalten, sondern sie ohne Außengrenzen auf die Betriebsparteien verlagern, sind solche Regelungen unionsrechtswidrig. Dementsprechend sind die §§ 7 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 2a ArbZG unionsrechtskonform so auszulegen, dass eine hinreichende tarifvertragliche Grundlage für eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung nur dann vorliegt, wenn diese vollständig die Außengrenzen für die Betriebsvereinbarung definiert. Denn dann ist die Abweichung durch die Betriebsparteien letztendlich vollständig durch die Tarifvertragsparteien verantwortet. Eine globale Delegation der Abweichungsbefugnisse ist demnach unwirksam. Dass die Subdelegationsbefugnis auf die Betriebsparteien im Übrigen – mit Recht – als verfassungswidrig angesehen wird,2 spielt in solchen Konstellationen dann keine Rolle mehr. 1 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 46 f. 2 ErfK/Wank § 7 ArbZG Rz. 3; Buschmann, FS Wißmann, 251 (265).
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 279
§6
Die Mitgliedstaaten dürfen Abweichungen nur durch Tarifverträge auf geeigneter kollektiver Ebene zulassen. Zwar verweist die Vorschrift darauf, dass die Tarifverträge nach den nationalen Gepflogenheiten geschlossen werden sollen. Der Begriff der geeigneten Ebene steht aber für sich und ist damit eine eigenständige Tatbestandsvoraussetzung der Abweichungsbefugnis.
275
Da diese Formulierung im Gegensatz zur Formulierung in Art. 18 UAbs. 1 ArbZ-RL steht, der nur Tarifverträge auf nationaler oder regionaler Ebene zulässt, sind Firmentarifverträge nicht von vorne herein als ungeeignet anzusehen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Firmentarifvertrag, wie er nach deutschem Tarifrecht möglich ist, also unterschiedslos mit jedem Arbeitgeber – unabhängig von der Größe des Unternehmens und ungeachtet einer etwaigen Repräsentativität der Gewerkschaft – abgeschlossen werden kann, ein geeignetes Instrument i.S.v. Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL ist. Auch Art. 18 UAbs. 4 Buchst. a ArbZ-RL beantwortet die Frage nicht. Nach dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten Vorschriften für die Anwendung des Artikels durch die Sozialpartner vorsehen. Diese Regelung kann in Deutschland aber nicht angewendet werden. Sie bezieht sich allein auf Staaten, in denen Richtlinien durch Tarifverträge umgesetzt werden können. Das ist in Deutschland nicht möglich (vgl. § 1 Rz. 53 f.). Im Übrigen könnte eine solche Umsetzung wiederum nur im Wege des Flächentarifvertrags erfolgen, so dass sich das Problem gleichermaßen stellen würde.
276
Die Frage ist vom EuGH bislang nicht entschieden. Daher bietet es sich an, sofern eine Abweichung nach den § 7 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 2a ArbZG durch Firmentarifvertrag erfolgt, dem EuGH nach Art. 267 AEUV die Frage vorzulegen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Firmentarifvertrag im Sinne des deutschen Rechts eine Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern auf geeigneter kollektiver Ebene (Art. 18 Abs. 2 ArbZ-RL) ist. Angesichts der restriktiven Rechtsprechung des EuGH zum Inhalt der Ausnahmevorschriften erscheint es nämlich naheliegend, dass der EuGH qualifizierte Anforderungen an die „Eignung“ der kollektiven Ebene stellt, die durch deutsche Firmentarifverträge nicht ohne weiteres erfüllt werden. In diesem Falle wären die Firmentarifverträge in unionsrechtskonformer Auslegung der entsprechenden Vorschriften insoweit für unwirksam zu erklären, als sie auf den o.g. Abweichungsbefugnissen beruhen. Die gleiche Problematik stellt sich für Betriebsvereinbarungen. Die Arbeitszeitrichtlinie schließt die Gewährung von Abweichungsbefugnissen für Betriebsvereinbarungen aus (vgl. Rz. 273).1
277
Nach Art. 18 UAbs. 2 ArbZ-RL müssen die Mitgliedstaaten die Abweichungen zulassen. Das bedeutet, dass im nationalen Recht eine ausdrückliche und inhaltlich bestimmte Regelung enthalten sein muss, in der die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien transparent geregelt ist.2 Insbesondere ist der Gesetzgeber verpflichtet, selbst und eigenständig sowie vollständig und ohne Interpretationsspielräume den Umfang der Abweichungsbefugnis festzulegen.
278
Nach Art. 18 UAbs. 4 Buchst. b ArbZ-RL sind die Mitgliedstaaten befugt,3 Vorschriften für die Erstreckung der Bestimmungen von gemäß diesem Artikel geschlossen Tarifverträgen oder Vereinbarungen auf andere Arbeitnehmer nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten vorzusehen. Aufgrund dieser Regelung ist es
279
1 EAS/Balze, B 3100 Rz. 76. 2 EAS/Balze, B 3100 Rz. 75; D. Ulber ZTR 2005, 70 (72); vgl. auch EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10237 Rz. 46 f., 51. 3 Ohne eine solche Zulassungsnorm ist eine Erstreckung auf Außenseiter unzulässig, vgl. Rödl/ Ulber D., NZA 2012, 841 (843).
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§6
Rz. 280
Arbeitszeit
für Mitgliedstaaten, in denen Tarifverträge nicht erga omnes wirken, möglich, Erstreckungsklauseln auf die nicht organisierten Arbeitnehmer vorzusehen. Da die Abweichungsbefugnis nach Art. 18 ArbZ-RL grundsätzlich auf Tarifverträge beschränkt ist, ist eine solche Zulassungsnorm erforderlich, um Mitgliedstaaten – wie der Bundesrepublik Deutschland –, die die Tarifbindung von der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft oder im Arbeitgeberverband abhängig machen, die Möglichkeit zu geben, einen solchen Tarifvertrag auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer oder Arbeitgeber zu erstrecken. 280
Deutschland hat von dieser Möglichkeit durch § 7 Abs. 3 ArbZG Gebrauch gemacht. d) Grenzen der Abweichungsbefugnis
281
Art. 18 ArbZ-RL lässt Abweichungen von fast allen wesentlichen arbeitszeitrechtlichen Schutzvorschriften der Arbeitszeitrichtlinie durch Tarifvertrag zu. Betroffen sind die tägliche Ruhezeit (Art. 3 ArbZ-RL), die Vorschriften über die Ruhepausen (Art. 4 ArbZ-RL), die wöchentliche Ruhezeit (Art. 5 ArbZ-RL), die Dauer der Nachtarbeit (Art. 8 ArbZ-RL) und die Ausgleichszeiträume (Art. 16 ArbZ-RL). Ausgenommen ist die wöchentlichen Höchstarbeitszeit (Art. 6 ArbZ-RL). Auch wenn Art. 18 ArbZ-RL nach der Rechtsprechung des EuGH autonom auszulegen ist, bietet sich hier eine Übertragung der Grenzziehungen nach Art. 17 Abs. 2 und 3 ArbZ-RL an (vgl. Rz. 271).
282
Auch und gerade bei Gebrauch von der Abweichungsbefugnis nach Art. 18 der Richtlinie ist die restriktive Rechtsprechung des EuGH zu beachten.1
283
Des Weiteren ist nach Art. 18 UAbs. 3 ArbZ-RL, sofern ein Mitgliedstaat Abweichungen nach UAbs. 2 zulässt, dieser verpflichtet sicherzustellen, dass die betroffenen Arbeitnehmer gleichwertige Ausgleichsruhezeiten oder in Ausnahmefällen, in denen die Gewährung solcher Ausgleichsruhezeiten aus objektiven Gründen nicht möglich ist, einen angemessenen Schutz erhalten. Die Ausführungen zu Art. 17 Abs. 2 ArbZ-RL gelten entsprechend (vgl. Rz. 237 ff.). Es bedarf einer hinreichend eingegrenzten staatlichen Ermächtigungsgrundlage für die Abweichungen.2 Die Abweichungsmöglichkeit von Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL ist durch Art. 19 UAbs. 2 ArbZ-RL begrenzt.
284
Nicht auf Art. 18 ArbZ-RL gestützt werden kann § 7 Abs. 2a ArbZG, soweit er eine Abweichung von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit nach Art. 6 ArbZ-RL zulässt. Dies ist nur über Art. 22 ArbZ-RL möglich, dessen Voraussetzungen § 7 Abs. 2a ArbZG nicht einhält (vgl. Rz. 291 ff.). 5. Abweichungsmöglichkeiten nach Art. 22 ArbZ-RL
285
Unter „Sonstige Bestimmungen“ findet sich in Art. 22 ArbZ-RL eine Abweichungsbefugnis von Art. 6 ArbZ-RL. Die Vorschrift wird im Schrifttum, wegen der Reichweite ihrer Abweichungsmöglichkeiten, als Widerspruch zum Grundgedanken des Zwecks der Arbeitszeitrichtlinie und als Verstoß gegen Art. 31 Abs. 2 GRC angesehen.3 Dabei wird insbesondere das Einwilligungserfordernis und das Benachtei1 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 58, 89. 2 EAS/Balze B 3100 Rz. 75; D. Ulber ZTR 2005, 70 (72); EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10237 – Rz. 46 f., 51. 3 Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 22 Rz. 1.
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 289
§6
ligungsverbot als Ausdruck von Naivität des Richtliniengebers1 angesehen. Der Gebrauch der Vorschrift fällt in den Mitgliedstaaten unterschiedlich aus. 11 Mitgliedstaaten haben von ihr keinen Gebrauch gemacht.2 a) Verstoß von Art. 22 ArbZ-RL gegen Art. 31 Abs. 2 GRC In der Tat darf nicht verkannt werden, dass es die Vorschrift dem Wortlaut nach ermöglicht, keine wöchentliche Höchstarbeitszeit vorzusehen, obwohl die Grundrechtecharta genau dies verlangt. Daraus ergibt sich zugleich, dass die Auslegung der Vorschrift bei diesem Ergebnis nicht stehen bleiben kann. Vielmehr ist eine überaus zurückhaltende Anwendung der Vorschrift geboten. Gleichwohl ist unklar, ob Art. 22 ArbZ-RL wegen Verstoßes gegen Art. 31 Abs. 2 GRC3 unwirksam ist. Rechtsprechung des EuGH zu der Frage gibt es nicht.4
286
In Deutschland würde eine Nichtigkeit von Art. 22 ArbZ-RL zur partiellen Unanwendbarkeit von § 7 Abs. 2a ArbZG führen, soweit dieser Abweichungen von § 3 ArbZG zulässt. Denn sofern der EuGH einen Verstoß des Art. 22 ArbZ-RL gegen die GRC annimmt, wären die auf seiner Grundlage erlassenen Vorschriften der Mitgliedstaaten unanwendbar (vgl. § 2 Rz. 28). Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, die auf Basis dieser Vorschrift abgeschlossen wurden, wären dann partiell unwirksam. Soweit nationale Vorschriften auf Art. 22 ArbZ-RL basieren und tarifvertragliche Vorschriften alleine auf diese Vorschriften gestützt werden können, dürfte eine Vorlage an den EuGH geboten sein (vgl. § 13 Rz. 39 ff.)5. Die Rechtsprechung des BAG hat dieses Problem bislang nicht aufgegriffen.6 Eine Anwendung von Tarifverträgen, die auf § 7 Abs. 2a ArbZG basieren und die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf über 48 Stunden erhöhen, ist dem BAG ohne Vorlage nach Art. 267 AEUV verwehrt.
287
b) Abweichungsinstrument: Staatliche Regelung Von Art. 22 ArbZ-RL können ausschließlich die Mitgliedstaaten Gebrauch machen. Dies erklärt sich daraus, dass die Vorschrift ursprünglich alleine als Ausnahmevorschrift für Großbritannien konzipiert war, dem aufgrund seines Systems kollektiver Arbeitsbeziehungen der Rückgriff auf Tarifverträge nicht möglich ist (vgl. Rz. 19).
288
Eine Abweichung durch Tarifvertrag und damit erst Recht durch Betriebsvereinbarung ist nicht möglich.7 Das ergibt sich neben der Entstehungsgeschichte aus dem Wortlaut der Arbeitszeitrichtlinie, der anders als Art. 17 und 18 ArbZ-RL keinen Verweis auf einen Tarifvertrag enthält. Der Tarifvertrag ist aus Sicht des Unionsrechts auch kein zusätzliches im Rahmen von Art. 22 ArbZ-RL verzichtbares Schutzinstrument. Vielmehr ist die Wertung der Richtlinie, dass der Schutz durch Tarifverträge im Verhältnis zum staatlichen Recht minderwertig ist. Bereits in der SIMAP-
289
1 Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie Art. 22 Rz. 1 a.E. 2 KOM (2010) 802, S. 8: Österreich, Dänemark, Finnland, Griechenland, Irland, Italien, Litauen, Luxemburg, Portugal, Rumänien und Schweden. 3 Buschmann, FS Düwell (2011), 24 (38); Stärker, EU-Arbeitszeitrichtlinie, Art. 22 Rz. 8. 4 Zur Unwirksamkeit von Ausnahmevorschriften wegen Verstoßes gegen die GRC vgl. EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 – Test Achat, Slg. 2011, I-773. 5 Vgl. dazu EuGH v. 22.10.1987 – Rs. C-314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, I-4199; a.A. BAG v. 23.6. 2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1085), ohne Auseinandersetzung mit der GRC. 6 BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081. 7 Schubert, GesR 2012, 326 (330); Ulber D., ZTR 2005, 70 (74); a.A. Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 112.
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§6
Rz. 290
Arbeitszeit
Entscheidung hat der EuGH darauf hingewiesen, dass aus der Systematik der Arbeitszeitrichtlinie folgt, dass Art. 22 ArbZ-RL für eine Anwendung durch die Tarifvertragsparteien nicht zur Verfügung steht.1 Die Art. 17 und 18 ArbZ-RL stehen auch aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte in einem Alternativitätsverhältnis zu Art. 22 ArbZ-RL, die unterschiedlichen Systemen der Regulierung der Arbeitsbeziehungen Rechnung tragen. Aufgrund des systematischen Unterschiedes zu Art. 17 und 18 ArbZ-RL, weil sie zwischen staatlichem und tarifvertraglichem Gebrauch von Abweichungsbefugnissen differenzieren, besteht kein Raum für einen Gebrauch oder eine Umsetzung des Art. 22 ArbZ-RL durch die Tarifvertragsparteien. Dementsprechend ist es den Mitgliedstaaten auch verwehrt, darauf zu verweisen, die Tarifvertragsparteien sollten für die Einhaltung der Vorgaben des Art. 22 ArbZ-RL sorgen. Dementsprechend können Tarifverträge auch nicht darauf kontrolliert werden, ob sie die Vorgaben des Art. 22 ArbZ-RL einhalten.2 Bereits in dem Moment, in dem dies erforderlich wird, liegt ein Verstoß gegen die Richtlinie vor, weil daraus umgekehrt folgt, dass die staatlichen Umsetzungsnormen so unzureichend sind, dass zu diesem Mittel gegriffen werden muss. 290
Die Mitgliedstaaten müssen selbst eine den Anforderungen des Art. 22 ArbZ-RL aus sich heraus genügende gesetzliche Regelung schaffen, wenn sie von Art. 22 ArbZ-RL Gebrauch machen.3 Um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen, muss die der Umsetzung einer Richtlinie dienende innerstaatliche Vorschrift konkret, bestimmt sowie klar formuliert sein und ihre Verbindlichkeit muss unbestreitbar sein.4 Es müssen transparente und eindeutige Regelungen vorgesehen werden, aus denen sich der Umfang des Gebrauchs von Art. 22 ArbZ-RL, ebenso wie die Einschränkungen, die zur Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie vorgesehen werden, ergeben. Art. 22 Abs. 1 UAbs. 1 verlangt, dass ein Mindestmaß an Schutz bestimmbar bleibt.5
291
Das BAG hat mittlerweile festgestellt, dass § 7 Abs. 2a ArbZG keine Vorgaben enthält, wie eine Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer ausgeschlossen werden soll.6 Insoweit liegt aber nicht nur ein Transparenzverstoß gegen die Arbeitszeitrichtlinie, sondern ein unzureichender Gebrauch von einer Ausnahmevorschrift vor. Der Verweis § 7 Abs. 2a ArbZG sei auf „Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft“ begrenzt7 geht unionsrechtlich betrachtet ins Leere. Denn dann lautet das Argument aus unionsrechtlicher Sicht die Abweichungsbefugnisse seien auf „Arbeitszeit“ und „Arbeitszeit“ beschränkt (vgl. zum Arbeitszeitbegriff Rz. 97 ff.). Das ist erkennbar keine Einschränkung zum Gesundheitsschutz.
292
Das BAG hingegen wendet nunmehr die Rechtsprechung des EuGH zu den Mindestruhezeiten und den Art. 17 und 18 ArbZ-RL in der Rs. Jaeger8 auf Art. 22 ArbZ-RL an und kontrolliert die auf Grundlage von § 7 Abs. 2a ArbZG vereinbarten Tarifverträge daraufhin, ob sie diese Vorgaben einhalten.9 Darin liegt eine – zu1 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 73; vgl. dazu Buschmann, AuR 2004, 1 (4 f.). 2 A.A. BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081. 3 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 56 ff.; EAS/Balze, B 3100 Rz. 119; Buschmann, AuR 2004, 1 (5); Ulber D., ZTR 2005, 70 (74). 4 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 56 ff.; BVerwG v. 15.12. 2011 – 2 C 41/10, NVwZ 2012, 641 (643). 5 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 56 ff.; v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 58. 6 BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084). 7 So Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 114. 8 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 30. 9 BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1085).
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 297
§6
gegebenermaßen sehr elegante – Umgehung der Vorlageverpflichtung nach Art. 267 AEUV1, weil suggeriert wird, es läge bereits Rechtsprechung des EuGH zu Art. 22 ArbZ-RL vor, die eine solche Vorlage entbehrlich macht. Der Praxis ist zu raten, sofern das BAG diese Rechtsprechungslinie fortsetzen sollte, Verfassungsbeschwerde wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu erheben (§ 13 Rz. 63 ff.). Selbst wann man die Entscheidung des BAG für den Privatsektor für noch vertretbar hielte, müsse man gleichwohl bei einem öffentlichen Arbeitgeber zu einer Vorlageverpflichtung an den EuGH kommen. Denn soweit § 7 Abs. 2a ArbZG, wie das BAG selbst ausführt, keine Vorgaben zum Gesundheitsschutz beinhaltet,2 ist Art. 22 ArbZ-RL nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Damit stellt sich die Frage, ob § 7 Abs. 2a ArbZG gegenüber staatlichen Stellen insgesamt nicht anwendbar ist. Diese Frage lässt sich nicht dadurch umgehen, dass man Art. 22 ArbZ-RL für durch die Tarifvertragsparteien umsetzbar erklärt, weil die Arbeitszeitrichtlinie dies nicht zulässt (vgl. Rz. 289). Es besteht damit dringender gesetzgeberischer Klarstellungsbedarf, weil vor diesem Hintergrund Tarifvertragsnormen im öffentlichen Dienst, soweit sie ausschließlich auf § 7 Abs. 2a ArbZG gestützt werden können, unwirksam sind.
293
Vor diesem Hintergrund ist es erst Recht unionsrechtswidrig, wenn in Tarifverträgen die Abweichungsbefugnis auf die Betriebsparteien übertragen wird (vgl. Rz. 289).3 Dementsprechend sind auch Dienstvereinbarungen im öffentlichen Dienst nichtig, soweit sie Regelungen beinhalten, die nur nach Art. 22 ArbZ-RL zu rechtfertigen sind.
294
Es ist mit den Vorgaben des Unionsrechts unvereinbar anzunehmen, nationale Tarifverträge könnten im Einzelfall darauf kontrolliert werden, ob sie die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer hinreichend schützen, und deswegen sei der Staat befugt, die Aufgabe der Einhaltung der Arbeitszeitrichtlinie, nicht selbst wahrzunehmen. Dies würde die Effektivität des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer in unzumutbarer Weise beeinträchtigen. Vielmehr darf die gesetzliche Regelung keine Unklarheiten lassen.4 Unbestimmte Rechtsbegriffe und generalklauselartige Formulierungen sind daher unzulässig. Es müssen konkrete Obergrenzen der Abweichungsbefugnis definiert werden.
295
Andernfalls käme es nicht nur zu einem Transparenzverstoß, weil die Grenzen der zulässigen Vereinbarungen sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergeben. Es käme auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung in der Rechtssache Fuß5 zu einer Beeinträchtigung des effektiven Rechtsschutzes für die Bürger, weil die Wahrnehmung der Rechte aus der Arbeitszeitrichtlinie erschwert wird, weil das Mindestmaß an Schutz, dass die staatlichen Vorschriften gewähren, nicht erkennbar ist.
296
c) Einwilligungserfordernis Nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. a ArbZ-RL müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass kein Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer verlangt, im Durchschnitt des in Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL geregelten Bezugszeitraums mehr als 48 Stunden pro 7-Tageszeitraum zu arbeiten, es sei denn, dieser hat sich hierzu bereit erklärt. Die Bereitschafts1 2 3 4 5
Kohte, FS Bepler, 287 (294). BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084). A.A. Baeck/Deutsch, § 7 ArbZG Rz. 112. EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 56 ff. EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849.
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§6
Rz. 298
Arbeitszeit
erklärung muss durch den Arbeitnehmer selbst erfolgen.1 Sie kann nicht durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung ersetzt werden.2 Auch eine Bezugnahmeklausel auf einen Tarifvertrag ist keine individuelle Bereitschaftserklärung.3 Bei fehlender Einwilligung steht dem Arbeitnehmer, sobald bei Weiterarbeit seine Arbeitszeit die Grenzen des Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL überschreiten würde, ein Leistungsverweigerungsrecht zu.4 Die Regelung ist unmittelbar anwendbar (vgl. Rz. 163). 298
Die Erklärung muss freiwillig erfolgen. Dies ergibt sich insbesondere aus dem in Art. 22 Abs. 1 Buchst. c ArbZ-RL verankerten Benachteiligungsverbot. Es muss gewährleistet sein, dass der Arbeitnehmer die Bereitschaftserklärung frei und in voller Sachkenntnis der Regelungen auf die sie sich bezieht trifft. Dabei haben die Mitgliedstaaten zu verhindern, dass der Arbeitgeber die schwächere Stellung des Arbeitnehmers ausnutzt. Daher muss die Zustimmung ausdrücklich, individuell und frei sein.5 Die Abgabe einer Einwilligungserklärung darf nicht vor Abschluss des Arbeitsvertrages verlangt werden. Das hat die Kommission bereits 2003 betont.6 Soweit Mitgliedstaaten dagegen verstoßen, könnte dies einer der seltenen Fälle werden, in denen die Kommission bei einem offensichtlichen Verstoß gegen die Arbeitszeitrichtlinie tatsächlich ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Dass in der Praxis in diesem Sinne freiwillige Einwilligungserklärungen zustande kommen, dürfte die absolute Ausnahme sein.7 Angesichts der „Pression im Klinikalltag“8 dürfte echte Freiwilligkeit, insbesondere bei Ärzten, nicht zu gewährleisten sein.
299
Nach dem klaren Wortlaut der Norm muss die Bereitschaftserklärung vor Aufnahme der Tätigkeit, die die Grenzen des Art. 6 ArbZ-RL überschreitet, liegen. Eine nachträgliche Vereinbarung bezüglich bereits geleisteter Arbeit ist nicht möglich. Dies ergibt sich auch aus den in Art. 22 Abs. 1 Buchst. c-e ArbZ-RL verankerten Pflichten.
300
Diese Vorgaben hält § 7 Abs. 7 ArbZG nicht ein. Die Vorschrift ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass eine Einwilligung vor Abschluss des Arbeitsvertrages nicht verlangt werden darf.9 Das ergibt sich ganz selbstverständlich aus dem Freiwilligkeitserfordernis. Eine Vorlage an den EuGH ist daher entbehrlich. Entsprechende vor Abschluss des Arbeitsvertrags erteilte Einwilligungserklärungen sind nichtig. Stellt ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht ein, weil er die entsprechende Erklärung nicht abgibt, hat er Schadenersatz zu leisten. Darüber hinaus wird auch ein Einstellungsanspruch erwogen (zum Benachteiligungsverbot, auch mit Blick auf eine etwaige Kündigung bei Verweigerung der Einwilligung vgl. Rz. 307).10
301
Freiwilligkeit liegt nur vor, wenn auch eine Widerrufsmöglichkeit besteht. Dies ergibt sich zwingend aus Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie, die dem Schutz
1 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01, Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 80; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 73. 2 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01, Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 81; v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 – SIMAP, Slg. 2000, I-7963 – Rz. 74. 3 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 85. 4 HWK/Gäntgen, § 7 ArbZG Rz. 19. 5 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 – Rz. 84. 6 KOM (2003), 842, S. 11. 7 Boerner, GS Heinze, 69 (76); Körner, NJW 2003, 3606 (3608). 8 Schunder, EuZW 2003, 662 (663). 9 Buschmann/Ulber J., § 7 ArbZG Rz. 24c; Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rz. 57; Preis/Ulber D., ZESAR 2011, 147 (154). 10 HWK/Gäntgen, § 7 ArbZG Rz. 19.
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Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 306
§6
der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer dient.1 Wegen der durch Zeitablauf veränderlichen Umstände, die Grundlage der Erklärung des Arbeitnehmers sind, wird daher vom Begriff der Freiwilligkeit eine Widerrufsmöglichkeit zwingend vorausgesetzt, soweit man überhaupt zulässt, dass eine Bindung über den jeweiligen Einsatz hinaus begründet wird.2 Jedenfalls muss bei jeder Änderung der Arbeitszeitregelung eine erteilte Einwilligung wegfallen.3 Denn sofern die Bereitschaft in voller Sachkenntnis erteilt werden soll, kann sie nur auf die dem Arbeitnehmer bei Abgabe bekannten Regelungen bezogen sein. Unionsrechtswidrig ist die Widerrufsfrist von 6 Monaten in § 7 Abs. 7 Satz 2 ArbZG. Sie steht in Widerspruch zum Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie.4 Sofern ein Arbeitnehmer das Opt-out als gesundheitsschädlich empfindet, kann er nicht 6 Monate lang an eine Einwilligungserklärung gebunden sein. Die Arbeitszeitrichtlinie zwingt dazu, eine jederzeitige Widerrufsmöglichkeit vorzusehen. Diese darf nicht an Bedingungen geknüpft werden. Gegenüber staatlichen Arbeitgebern kann der Widerruf daher jederzeit und ohne Einhaltung einer Frist erklärt werden. Ob der EuGH eine kurze Erklärungsfrist anerkennen würde, erscheint zweifelhaft.
302
Teilweise wird vertreten, die Einwilligung sei insoweit zeitlich zu befristen, als sie an den jeweiligen Bezugszeitraum nach Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL gekoppelt sei. Danach dürfte sie maximal auf 4 Monate befristet sein.5
303
d) Benachteiligungsverbot Nach Art. 22 Buchst. b ArbZ-RL dürfen keinem Arbeitnehmer Nachteile daraus entstehen, dass er nicht bereit ist, eine über 48 Stunden im Durchschnitt des in Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL genannten Bezugszeitraums hinausgehende Arbeitszeit abzuleisten. Damit gerät das gesamte nationale Arbeitsrecht in den Anwendungsbereich der Arbeitszeitrichtlinie, soweit es sich auf Maßnahmen bezieht, die wegen der fehlenden Bereitschaft zur Ableistung entsprechender Dienste ergriffen werden. Das Benachteiligungsverbot hat der EuGH in der Rechtssache Fuß I sehr weitreichend interpretiert.
304
Ursache dürfte gewesen sein, dass in diesem Verfahren der staatliche Arbeitgeber eine Umsetzung eines Beamten damit begründet hatte, die Umsetzung führe dazu, dass dem Beamten gegenüber die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie eingehalten würden und dadurch gleichzeitig weiterhin gegenüber allen anderen Arbeitnehmern gegen die Arbeitszeitrichtlinie verstoßen werden könne.6 Eine Anpassung des Dienstplans an die unionsrechtlichen Vorgaben sei dann entbehrlich.7 Selbst wenn der EuGH zuvor noch eine restriktive Handhabung des Benachteiligungsverbotes erwogen haben sollte, dürfte der Fall ihn veranlasst haben, davon Abstand zu nehmen.
305
Das Benachteiligungsverbot erstreckt sich auf alle Maßnahmen, die der Arbeitgeber zumindest auch wegen der fehlenden Bereitschaft unter Überschreitung der Grenzen des Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL zu arbeiten, ergreift. Dabei erkennt es der EuGH nicht als Sachgrund an, dass ohne die Bereitschaftserklärung der Dienst- oder Schichtplan
306
1 2 3 4 5 6 7
Ulber D., ZTR 2005, 70 (75); a.A. Baeck/Deutsch, § 7 Rz. 146. A.A. LAG Hamm v. 2.2.2012 – 17 Sa 1001/11, n.v. Rz. 145 ff. Ulber D., ZTR 2005, 70 (75). Buschmann AuR 2004, 1 (5). EAS/Balze, B 3100 Rz. 118. Vgl. dazu Preis/Ulber D., ZESAR 2011, 147. Nachzulesen bei EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 26.
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§6
Rz. 307
Arbeitszeit
nicht funktioniert. Eine Umsetzung ist nach seiner Auffassung, auch unter Berücksichtigung etwaiger Probleme bei der Dienst- oder Schichtplangestaltung, unzulässig.1 307
Für die Praxis hat das die Konsequenz, dass soweit auch nur ein einziger Arbeitnehmer keine Einwilligung erteilt, die Arbeitszeitgestaltung so angepasst werden muss, dass dieser auf seinem bestehenden Arbeitsplatz verbleiben kann. Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH sind Versetzungen und Umsetzungen unzulässig. Das gilt erst Recht für Kündigungen, die ausgesprochen werden, weil ohne Einwilligungserklärung keine Beschäftigungsmöglichkeit besteht.2 Etwas anderes gilt nur dann, wenn auch bei unionsrechtskonformer Umorganisation keine Beschäftigung möglich ist, die nicht gegen Schutznormen zugunsten des Arbeitnehmers verstößt.3 Einzelne Arbeitnehmer können im Wege des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs Beschäftigung zu unionsrechtskonformen Bedingungen verlangen.4 Kurzum: Das Unionsrecht lässt eine innerbetriebliche Organisation nicht zu, die nur funktioniert, wenn alle oder eine bestimmte Zahl von Arbeitnehmern eine Einwilligungserklärung abgeben. Maßnahmen, die mit einer solchen Organisation begründet werden, sind stets unzulässig.
308
Dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, vor diesem Hintergrund einem etwaigen Mobbing durch Arbeitskollegen entgegen zu treten, die eine Einwilligungserklärung abgegeben haben, bedarf wegen der Vorkommnisse in der Rs. Jaeger besonderer Betonung.5
309
Umstritten ist, ob die Arbeitszeitrichtlinie eine Benachteiligung nicht nur durch den Arbeitgeber, sondern ganz allgemein ausschließen will.6 Das Problem stellt sich vor allem dann, wenn ein Bewerber nicht eingestellt wird, weil er nicht bereit ist, eine Einwilligung zu erteilen. Sozialversicherungsrechtliche Nachteile dürfen ihm dadurch nicht entstehen, weil er bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 7 Satz 3 ArbZG ein rechtswidriges Verlangen des Arbeitgebers abgelehnt hat. e) Verwaltungsvorschriften (Art. 22 Abs. 1 Buchst. c–e ArbZ-RL)
310
Die Mitgliedstaaten haben bei Gebrauch von Art. 22 ArbZ-RL Vorschriften zur effektiven Überwachung der Einhaltung des Mindestmaßes an Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer vorzusehen. Art. 22 Abs. 1 Buchst. d ArbZ-RL geht davon aus, dass es Behörden geben muss, die die Befugnis haben, zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer die auf der Grundlage von Art. 22 ArbZ-RL gestatteten Überschreitungen der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu begrenzen oder zu beschränken.
311
Damit müssen die Aufsichtsbehörden die Befugnis haben und ausüben, eine Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf Grundlage von § 7 Abs. 2a ArbZG wegen Verletzung der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer einzuschränken.
312
Die Verwaltungsvorschriften müssen eine Pflicht des Arbeitgebers beinhalten, Listen über die Arbeitnehmer zu führen, die sich bereit erklärt haben, im Durchschnitt des 1 2 3 4 5
EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 65. Preis/Ulber D., ZESAR 2011, 147 (153 f.); APS/Preis, A. Rz. 39. BAG v. 24.2.2005 – 2 AZR 211/04, NZA 2005, 759. Vgl. hierzu BAG v. 8.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719. Ankersen/Boemke in: Boemke/Kern, Arbeitszeit im Gesundheitswesen, S. 110 berichten von einem jahrelangen „Spießrutenlauf“ des Arztes Dr. Jaeger, der das gleichnamige Urteil EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 erwirkt hat. 6 Buschmann/Ulber J., § 7 ArbZG Rz. 24c.
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Ulber
Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen
Rz. 318
§6
in Art. 16 Buchst. b ArbZ-RL genannten Bezugszeitraums mehr als 48 Stunden innerhalb eines 7-Tageszeitraums zu arbeiten. Die Arbeitszeitrichtlinie spricht zwar davon, dass der Arbeitgeber Listen über Arbeitnehmer führt, die solche Arbeit leisten. Die Dokumentationspflicht erstreckt sich aber auch auf die Bereitschaftserklärung, weil nur Arbeitnehmer in dieser Weise beschäftigt werden dürfen, die eine solche abgegeben haben und die Behörden bereits darüber informiert werden müssen. Solche Aufzeichnungspflichten verstoßen nicht gegen die Vorschriften der Richtlinie 95/46/EG über den Datenschutz, wenn sie sich auf das zur Wahrnehmung der Überwachungsaufgaben Erforderliche beschränken.1 Eine Pflicht zur Listenführung sieht das ArbZG in § 16 Abs. 2 Satz 1 vor. Eine Möglichkeit Einsicht zu verlangen, bietet § 17 Abs. 4 ArbZG.
313
f) Einhaltung der allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes Art. 22 ArbZ-RL verlangt von den Mitgliedstaaten bei Gebrauch von der Ausnahmevorschrift die Einhaltung der allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer. Es handelt sich um eine zwingende Vorgabe.2 Angesichts der Tatsache, dass die Vorschrift von einer der wichtigsten Schutzvorschriften der Arbeitszeitrichtlinie abweicht, sind besonders hohe Anforderungen an die Einhaltung dieser Vorgabe zu stellen. Die Mitgliedstaaten müssen daher eigenständig zusätzliche Schutzvorschriften vorsehen.3
314
Da die weiteren Maßnahmen nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. a–e ArbZ-RL lediglich die individuelle Entscheidung des Arbeitnehmers über die Arbeit zu den verlängerten Arbeitszeiten sichern, ist ihre Einhaltung nicht gleichzeitig als Einhaltung der allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes zu sehen. Gesundheitsschädliche und gefährliche Arbeitsbedingungen werden nicht dadurch gesund oder sicher, dass der Arbeitnehmer zu ihnen arbeiten möchte. Auch das Arbeiten ohne Helm ist nicht sicher, weil ein Arbeitnehmer sich dazu bereit erklärt. Eine abweichende Sichtweise ist mit Grundprinzipien des Arbeitsschutzrechts unvereinbar.4 Sie würde dem Charakter des Arbeitszeitrechts als öffentliches Gefahrenabwehrrecht widersprechen. Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie stehen einer derartigen Verkürzung des Gesundheitsschutzes entgegen.
315
Demgegenüber ist das LAG Hamm der Auffassung Art. 22 Abs. 1 ArbZ-RL verlange keine die Individualvereinbarung begleitenden Maßnahmen.5 Diese Auffassung dürfte der EuGH kam teilen. Für das BAG wäre eine solche Entscheidung ohne Vorlage an den EuGH nicht zulässig.
316
Die Mitgliedstaaten haben beim Gebrauch von Ausnahmevorschriften dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu genügen. In dieser Hinsicht müssen Bestimmungen, die fakultative Abweichungen von den Grundsätzen einer Richtlinie erlauben, mit der Bestimmtheit und Klarheit umgesetzt werden, die erforderlich sind, um den Erfordernissen dieses Grundsatzes zu genügen (vgl. auch Rz. 295).
317
Nach diesen Grundsätzen ist § 7 Abs. 2a ArbZG unionsrechtswidrig. Die Vorschrift beschränkt sich auf eine substanzlose Wiedergabe von Umsetzungspflichten
318
1 2 3 4 5
EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-342/12 – Worten, NZA 2013, 723 – Rz. 43 ff. BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09,, NZA 2010, 1081 (1084 f.). Wank, AuR 2011, 175. Kohte, FS Bepler, 287 (293). LAG Hamm v. 2.2.2012 – 17 Sa 1001/11, n.v. juris Rz. 160.
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403
§6
Rz. 319
Arbeitszeit
des Gesetzgebers, die auf die Tarifvertragsparteien abgeschoben werden.1 Die „besonderen Regelungen“, die die Vorschrift zur Kompensation des Gebrauchs von den Abweichungsmöglichkeiten verlangt, haben „Feigenblattfunktion“2. Abgesehen davon, dass eine solche Regelungstechnik schon nach dem Wortlaut des Art. 22 ArbZ-RL unzulässig ist, sind die Vorgaben des § 7 Abs. 2a ArbZG inhaltlich unklar. Das BAG ist erkennbar nicht in der Lage, der Vorschrift subsumtionsfähige Vorgaben abzuringen.3 Gleichwohl hat es in einer Entscheidung angenommen, Tarifvertragsnormen seien mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar4, obwohl man überhaupt nicht weiß, wie deren Anforderungen inhaltlich aussehen. Diese überaus bemerkenswerte Rechtsprechung stellt eine Umgehung der Vorlageverpflichtung nach Art. 267 AEUV dar (vgl. hierzu § 13 Rz. 39 ff.), weil Rechtsprechung des EuGH dazu fehlt, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Grundsätze des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit wahren.5 Dies ist in der Rs. Jaeger zu Art. 22 ArbZ-RL nicht entschieden worden.6 319
Die Reichweite der Entscheidung des BAG ist auf den privatrechtlichen Bereich beschränkt.7 Insoweit hält das BAG die Vorschrift selbst bei Unionsrechtswidrigkeit für weiterhin anwendbar.8 Das passt allerdings nicht ganz zur nachgelagerten Kontrolle von Tarifverträgen auf ihre Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie. Im Übrigen erscheint im Lichte des Art. 31 Abs. 2 GRC die Frage eines möglichen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts mit der vom BAG gegebenen Begründung nicht beantwortet (vgl. Rz. 286).
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Öffentliche Arbeitgeber können sich wegen der Verletzung der Umsetzungspflichten9 nach Art. 22 Abs. 1 ArbZ-RL nicht auf Art. 7 Abs. 2a ArbZG berufen. Dieser ist ihnen gegenüber unanwendbar. Soweit Tarifvertragsnormen im öffentlichen Dienst ausschließlich auf § 7 Abs. 2a ArbZG gestützt werden können, sind sie daher unwirksam. g) Umfang der Abweichungsbefugnis: Art. 6 ArbZ-RL
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Das sog. „Opt-out“ nach Art. 22 ArbZ-RL lässt lediglich zu, Art. 6 ArbZ-RL nicht anzuwenden. Art. 22 ArbZ-RL kann dementsprechend auch nur die Überschreitung der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden rechtfertigen. Abweichungen von den Art. 3, 4, 5, 8 und 16 ArbZ-RL sind nicht vorgesehen. Diese sind nur bei Gebrauch der in Art. 17 (Rz. 225 ff.) und 18 ArbZ-RL (Rz. 267 ff.) vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten zulässig.
322
Aufgrund der fehlenden Möglichkeit bei Gebrauch von Art. 22 ArbZ-RL von den Art. 3, 4, 5 und 8 ArbZ-RL abzuweichen, stellt sich die Frage, ob bei Gebrauch von Art. 22 ArbZ-RL gleichzeitig eine kumulativ wirkende Abweichung von den genannten Vorschriften zulässig ist. Der EuGH hat bereits entschieden, dass dann, wenn die regelmäßige tägliche Arbeitszeit abweichend von den allgemeinen Regeln durch die Ableistung von Bereitschaftsdienst verlängert wird, das Erfordernis der Gewährung 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kohte, FS Bepler, 287 (291); Wank, AuR 2011, 175 (176). Körner, NJW 2006, 3606 (3608). BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084 f.); Kohte, FS Bepler, 287 (296). BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1084). Buschmann/Ulber J., § 7 ArbZG Rz. 24c; Wank, AuR 2011, 175 (176); zu den verfassungsrechtlichen Konsequenzen vgl. BVerfG v. 3.3.2014 – 1 BvR 2083/11, WM 2014, 647. A.A. BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1085). BAG v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081 (1085). Krit. Wank, AuR 2011, 175 (177). Vgl. zu dieser Folge EuGH – Rs. C-227/09 – Accardo, Slg. 2010, I-10273 – Rz. 46.
404
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Ulber
Ausstrahlungswirkung der Arbeitszeitrichtlinie
Rz. 327
§6
von unmittelbar an die Arbeitsperiode anschließenden, zusammenhängenden und effektiven Ruhepausen dringlicher wird.1 Das heißt, dass der Gebrauch von den Ausnahmevorschriften zu einer Ausweitung der Ruhezeit führen muss, die kompensatorisch wirkt. Wenn aber bereits die Abweichung von den Mindestruhezeiten unter dem Vorbehalt kompensatorischer Regelungen zum Gesundheitsschutz steht, stellt sich die Frage, wie eine Kumulierung dieser Abweichungsbefugnis mit Art. 22 ArbZ-RL diese Anforderungen noch erfüllen soll. Wenn kein Raum für Kompensation mehr bleibt, weil von allen Vorschriften gleichzeitig abgewichen werden kann, dürfte dies insgesamt mit der Richtlinie unvereinbar sein. Mit Blick auf § 7 Abs. 2a ArbZG könnte sich daher eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschrift anbieten, nach der nur entweder von § 3 ArbZG oder aber von den §§ 5 Abs. 1 und 6 Abs. 2 ArbZG abgewichen werden darf. Dazu müsste dem EuGH die Frage gestellt werden, ob die Abweichungen nach Art. 22 ArbZ-RL mit denen der Art. 17 und 18 ArbZ-RL kombiniert werden können. Sollte der EuGH dies für möglich halten, stellt sich die Frage, nach dem Umfang, in dem dies zulässig ist.
323
Dass § 7 Abs. 2a ArbZG tatbestandlich nicht einmal ansatzweise als Ausnahmevorschrift gefasst ist, ist ebenfalls unionsrechtswidrig.2 Die Beschränkung auf Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst ist aus Sicht der Arbeitszeitrichtlinie ungeeignet einen Ausnahmecharakter zu begründen, weil die Arbeitszeitrichtlinie beide Dienstformen als gleichwertige Arbeitszeit ansieht (Rz. 97 ff.). Das Argument, aus Sicht des Unionsrechts sei § 7 Abs. 2a ArbZG eine Ausnahmevorschrift, weil er auf Arbeitszeit (Arbeitsbereitschaft) und Arbeitszeit (Bereitschaftsdienst) beschränkt sei, kann nicht überzeugen.
324
Im Übrigen führt die Anwendung des § 7 Abs. 2a ArbZG in Krankenhäusern zu Arbeitszeitmodellen, bei denen nachts Operationen durch Mitarbeiter durchgeführt werden, deren physische Leistungsfähigkeit sich in einem Zustand befindet, der einer Alkoholisierung mit 1,0 Promille entspricht.3 Das erscheint nicht nur unter Erforderlichkeitsgesichtspunkten kaum zu rechtfertigen. Die verfassungsrechtlichen Implikationen des Problems stehen auf einem anderen Blatt.
325
VIII. Ausstrahlungswirkung der Arbeitszeitrichtlinie 1. Sanktionen bei Verstößen gegen die Arbeitszeitrichtlinie Bei Verstößen gegen die Arbeitszeitrichtlinie hat der EuGH in der Rs. Fuß II einen Staatshaftungsanspruch im Grundsatz bejaht. 4 Jedenfalls die Arbeitnehmer können bei Verstößen gegen Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL Schadenersatz verlangen. Die Haftung eines öffentlichen Arbeitgebers kann neben die Haftung des Staates wegen der Verletzung der Arbeitszeitrichtlinie treten.5
326
Ansprüche von Beamten können sowohl auf das Unionsrecht, als auch auf beamtenrechtliche Grundlagen gestützt werden.6 Für die unionsrechtswidrig geleistete
327
1 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 51; v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 95. 2 Buschmann/Ulber J., § 7 ArbZG Rz. 24c. 3 Füllekrug in: Nickel/Füllekrug/Trojan Arbeitszeitgestaltung im ärztlichen Dienst und Funktionsdienst des Krankenhauses, S. 5 (11). 4 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 42 ff. 5 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 61. 6 BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (973).
Ulber
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§6
Rz. 328
Arbeitszeit
Zuvielarbeit steht Beamten ein beamtenrechtlicher Ausgleichsanspruch aus dem Grundsatz von Treu und Glauben in Verbindung mit den Regeln über den Ausgleich von Mehrarbeit zu.1 328
Ein solcher Schadenersatzanspruch kann nicht unter die einschränkende Voraussetzung eines Verschuldens des öffentlichen Arbeitgebers gestellt werden.2 Ebenso wenig kann von dem Arbeitnehmer verlangt werden, dass er einen Antrag auf Einhaltung des Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL stellt.3 Dies würde gegen den Effektivitätsgrundsatz und die Systematik der Arbeitszeitrichtlinie verstoßen. Diese sieht vor, dass vor einer Überschreitung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden entsprechend Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. a ArbZ-RL durch den Arbeitgeber eine Einwilligung des Arbeitnehmers einzuholen ist. Würde man dem Arbeitnehmer abverlangen, zunächst einen Antrag beim Arbeitgeber auf Einhaltung des Art. 6 Buchst. b ArbZ-RL zu stellen, so würde diese Pflicht umgekehrt.4 Allerdings hält es der EuGH für möglich, einen solchen fehlenden Antrag u.U. in Form eines Mitverschuldens beim Umfang des Schadenersatzanspruchs zu berücksichtigen.5
329
Demgegenüber differenziert das BVerwG offenbar danach, ob der Arbeitnehmer einen Antrag auf Gewährung zeitlichen Ausgleichs stellt.6 Erst ab diesem Zeitpunkt bestehe eine Ausgleichspflicht, weil ein Ausgleich für die Vergangenheit „nicht angemessen“ sei.7 Das widerspricht der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Fuß II. Die Begründung des BVerwG stützt sich auf die nicht anwendbare und auch nicht übertragbare Rechtsprechung des EuGH zu Ausschlussfristen8, die im Übrigen vom EuGH in der Rs. Fuß II nicht aufgegriffen wird. Deswegen verstößt die Rechtsprechung des BVerwG insoweit gegen die Arbeitszeitrichtlinie. Wegen der offensichtlichen Abweichung der Sichtweise des BVerwG von der Entscheidung in der Rs. Fuß II wäre eine weitere Entscheidung ohne Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungswidrig (vgl. hierzu § 13 Rz. 63 ff.).
330
Ein offensichtlicher und qualifizierter Verstoß liegt dann vor, wenn der EuGH eine Frage bereits entschieden hat. Ob die nationale Rechtsprechung oder Rechtswissenschaft die Frage für entschieden halten, ist hingegen unmaßgeblich. Der EuGH lässt Zweifel nur dort zu, wo er selbst eine Frage für noch nicht entschieden hält.9 Dementsprechend gibt es für die Mitgliedstaaten keinen Vertrauensschutz, sobald eine aus Sicht des EuGH einschlägige Entscheidung vorliegt. Selbst dann, wenn das gesamte Schrifttum und die bundesgerichtliche Rechtsprechung eine abweichende Interpretation einer Richtlinie vertreten sollten, ändert dies nichts. Insofern sollten die Gerichte jedenfalls in Konstellationen, in denen eine Haftung des Staates in Betracht kommt, durch Vorlageentscheidungen die Rechtslage so schnell wie möglich klären, wenn auch nur der Hauch eines Zweifels bleibt. 1 BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (974); BVerwG v. 29.9.2011 – 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (644); zur Berechnung VG Düsseldorf, 2.7.2014 – 26 K 6183/13. 2 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 65 ff. 3 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 71 ff.; BVerwG v. 26.7. 2012– 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (974). 4 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 84. 5 EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 75. 6 BVerwG v. 29.9.2011– 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (645). 7 BVerwG v. 29.9.2011– 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (645). 8 BVerwG v. 29.9.2011– 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (645). 9 Vgl. dazu Preis/Ulber D., ZESAR 2011, 147 (148).
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Ulber
Ausstrahlungswirkung der Arbeitszeitrichtlinie
Rz. 333
§6
Die nationalen Gerichte müssen und dürfen die Frage entscheiden, ob dem Arbeitnehmer durch den Richtlinienverstoß kausal ein Schaden entstanden ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfte dieser bereits in dem Verlust von Ruhezeiten liegen.1 Der Schadenersatz kann nach Wahl des Mitgliedstaates – unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes – durch Freistellung in Form von Freizeit oder eine finanzielle Entschädigung erfolgen.2 Allerdings ist das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen, wenn es den Verlust von Ruhezeiten nicht als Schaden ansieht.3
331
Der Schaden liegt bei unionrechtswidriger Zuvielarbeit in den verlorenen Ruhezeiten.4 Diese sind in vollem Umfang auszugleichen.5 Eine Kürzung wegen der Ableistung von Bereitschaftsdiensten ist unzulässig.6 Der Ausgleich hat vorrangig durch Freizeitausgleich zu erfolgen.7 Nur sofern dies aus in der Person des Beschäftigten liegenden Gründen nicht möglich ist, muss ein finanzieller Ausgleich gewährt werden. Das kann etwa der Fall sein, wenn das Beschäftigungsverhältnis zwischenzeitlich geendet hat.8 Die (beamtenrechtliche) Pflicht zur (vergütungsfreien) Mehrarbeit wirkt sich nicht anspruchsmindernd aus. Dem steht der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz entgegen.9 Der Anspruch auf Freizeitausgleich ist umgehend zu erfüllen und kann nicht nach Belieben gestreckt oder verteilt werden. Nur dann, wenn dies zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Arbeitsablaufes führt, kann maximal für den Zeitraum, der zur ggf. erforderlichen Beschaffung einer Ersatzkraft oder einer Umstellung des Dienstplans erforderlich ist, davon abgewichen werden. So kann etwa der Zeitraum, in dem der Freizeitausgleich bewirkt werden muss, nach dienstlichen Bedürfnissen verlängert werden, um die Einsatzbereitschaft dauerhaft sicherzustellen.10 Nur dann, wenn auch dies wegen der Vielzahl der Anspruchsberechtigten nicht möglich ist und es bei der Gewährung von Freizeitausgleich zu einer Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter kommen würde, kann auch eine finanzielle Abgeltung erfolgen.11 Diese ist unter Rückgriff auf die Entgeltregelungen zur Mehrarbeit im jeweiligen Anspruchszeitraum zu berechnen und nicht lediglich als reguläre Arbeitszeit zu vergüten.12
332
Das nationale Verjährungsrecht kann auch bei Ansprüchen, die sich aus einer Verletzung der Arbeitszeitrichtlinie ergeben, angewandt werden.13 Die Rechtsprechung hat auch nationale Ausschlussfristen auf Ansprüche aus der Arbeitszeitrichtlinie erstreckt.14 Diese Rechtsprechung basiert freilich auf der fehlerhaften Annahme, vertragliche Ausschlussfristen könnten gesetzliche Ansprüche erfassen.15
333
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 59. EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 – Fuß II, Slg. 2010, I-12167 – Rz. 91 ff. BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (974). BVerwG v. 29.9.2011 – 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (644). Zur Berechnung vgl. BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972, 972 (974). BVerwG v. 29.9.2011 – 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643, 643 (645). LAG Hamm v. 2.2.2012 – 17 Sa 1001/11, Rz. 201, n.v. BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (974). BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (975). BVerwG v. 29.9.2011 – 2 C 32/10, NVwZ 2012, 643 (645). BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (975 f.). BVerwG v. 26.7.2012 – 2 C 29/11, NVwZ-RR 2012, 972 (976). BVerwG v. 31.1.2013 – 2 C 10/12, ZTR 2013, 349. LAG Hamm v. 2.2.2012 – 17 Sa 1001/11, juris Rz. 138 unter Verweis auf BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 186. 15 Vgl. dazu ErfK/Preis, §§ 194-218 BGB Rz. 36.
Ulber
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§6
Rz. 334
Arbeitszeit
2. Allgemeines Benachteiligungsverbot 334
Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung ein allgemeines Benachteiligungsverbot wegen der Berufung auf durch die Arbeitszeitrichtlinie gewährleistete Rechte geschaffen.1 Dieses ist nicht in Art. 22 ArbZ-RL verankert, sondern ergibt sich unmittelbar aus den jeweiligen Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz.2 Danach müssen die Mitgliedstaaten allen Maßnahmen des Arbeitgebers, die dieser ergreift, um den Arbeitnehmer wegen seiner Berufung auf die Rechte aus der Richtlinie zu maßregeln oder zu benachteiligen, entgegentreten.3 So dürfen Arbeitnehmer wegen ihrer Berufung auf die durch die Richtlinie gewährleisteten Rechte nicht versetzt oder umgesetzt werden und zwar ungeachtet der Frage, ob die Versetzung oder Umsetzung dazu führt, dass sie nunmehr im Einklang mit der Arbeitszeitrichtlinie beschäftigt werden. Denn anderenfalls wäre die effektive Durchsetzung der Rechte aus der Arbeitszeitrichtlinie erschwert. Darüber hinaus läge ein Verstoß gegen Art. 47 GRC vor.4 Nicht nur wegen dieser primärrechtlichen Rückanbindung ist das Benachteiligungsverbot auch zwischen nicht staatlichen Arbeitsvertragsparteien zu beachten. § 612a BGB kann hier als – unionsrechtskonform ausgelegter – Transmissionsriemen ins nationale Recht dienen.
335
Das Benachteiligungsverbot ist nach der Rechtsprechung des EuGH nicht davon abhängig, dass dem Arbeitnehmer bei objektiver Betrachtung ein Nachteil entsteht.5 Vielmehr ist bereits jede Maßnahme erfasst, die dieser subjektiv als Nachteil empfinden muss.
336
Da der EuGH das Benachteiligungsverbot auch auf Retorsionsmaßnahmen erstreckt hat, die in Bereichen stattfinden, die nicht unmittelbar die Arbeitszeit betreffen, gilt das Benachteiligungsverbot, anders als die Arbeitszeitrichtlinie im Übrigen (vgl. Rz. 49, 93), auch beim Entgelt. Allerdings dürfte hier danach differenziert werden müssen, ob eine Vergütung wegen zusätzlich geleisteter Arbeit stattfindet oder als Anerkennung für die Bereitschaft bspw. zur Arbeit zu Bedingungen, die gegen die Arbeitszeitrichtlinie verstoßen, gezahlt wird.
337
Diese Frage hat das BAG unlängst zu undifferenziert entschieden. Sofern Arbeitnehmer, die zu Bedingungen arbeiten, die gegen die Arbeitszeitrichtlinie verstoßen, vom Arbeitgeber besser bezahlt werden und sich dies nicht alleine als Vergütung für die geleistete Arbeit darstellt, müsste dem EuGH entweder die Frage vorgelegt werden, ob dies nach der Arbeitszeitrichtlinie zulässig ist, oder aber in Anwendung der Grundsätze aus der Rs. Fuß ein Anspruch auf Gleichbehandlung gewährt werden. Ob der Arbeitgeber aufgrund eigener Entscheidung oder tarifvertraglicher oder arbeitsvertraglicher Pflichten zu einer Besserstellung verpflichtet ist, spielt keine Rolle.6 Es kommt darauf an, ob diese Verpflichtung ihrerseits unionsrechtskonform ist.
1 2 3 4 5 6
EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 65 ff. Preis/Ulber D., ZESAR 2011, 147 (151 f.). EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 65. EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 66. EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 – Fuß I, Slg. 2010, I-9849 – Rz. 67. A.A. ohne Auseinandersetzung mit der Rspr. des EuGH: BAG v. 16.5.2013 – 6 AZR 619/11, ZTR 2013, 441.
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Reformvorhaben
Rz. 341
§6
IX. Reformvorhaben Nachdem der EuGH in den Rechtssachen SIMAP und Jaeger Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit eingeordnet hatte, kam bereits im Jahr 2003 ein Verfahren zur Änderung der Arbeitszeitrichtlinie in Gang. Kernanliegen des Vorhabens ist die Veränderung des Arbeitszeitbegriffs der Arbeitszeitrichtlinie und die Veränderung oder Abschaffung des Opting-outs nach Art. 22 ArbZ-RL. Dabei soll versucht werden einerseits durch die Möglichkeit einer eingeschränkten Anrechnung von Bereitschaftsdiensten („inaktive Zeiten“) die Arbeitszeitrichtlinie zu flexibilisieren und andererseits das Opting-out einzuschränken. Gleichzeitig sollte das Verfahren genutzt werden, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in die Arbeitszeitrichtlinie zu implementieren.1
338
Im Jahr 2003 begann die Kommission mit Konsultationen zur Änderung der Arbeitszeitrichtlinie.2 Nach den Erkenntnissen der Kommission waren bis zur Entscheidung des EuGH in der Rs. SIMAP in den meisten Mitgliedstaaten bei Bereitschaftsdiensten die Zeiten, in denen der Arbeitnehmer keine Tätigkeit ausübt, nicht als Arbeitszeit angesehen worden. Daher zwang die Entscheidung sie zu einer Anpassung ihrer gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit.3 Konsequenzen wurden vor allem im Krankenhaussektor gesehen, in dem aufgrund der Entscheidung Neueinstellungen nötig wurden. Die Bundesrepublik Deutschland hatte die Mehrkosten im Gesundheitssystem zwischenzeitlich auf 1,75 Milliarden Euro geschätzt.4 Außerdem hatten die Mitgliedstaaten Zweifel, ob im Krankenhaussektor überhaupt genügend Ärzte zur Verfügung standen, um den Mehrbedarf zu decken.5 Angesichts der erheblichen Flexibilisierungsspielräume, die die Arbeitszeitrichtlinie bietet, mag ein Teil dieser Kritik schlicht auf Unkenntnis der nach den Art. 17, 18 und 22 ArbZ-RL möglichen Abweichungen basiert haben. Jedenfalls griffen in der Konsequenz Mitgliedstaaten zum Optout nach Art. 22 ArbZ-RL. Die Kommission stand dem kritisch gegenüber. Daher sollte ein Tausch stattfinden: Mehr Flexibilität beim Arbeitszeitbegriff gegen Aufgabe des Opt-outs.
339
Die Sozialpartner konnten und können über den Inhalt einer Änderung der Arbeitszeitrichtlinie kein Einvernehmen herstellen.6 Daher legte die Kommission bereits im Jahr 2004 einen ersten Entwurf vor.7 Danach sollte neben Arbeitszeit und Ruhezeit der Bereitschaftsdienst eigenständig geregelt und die „inaktive Zeit“ während des Bereitschaftsdienstes als Ruhezeit qualifiziert werden können. Aufgrund der Stellungnahmen zu dem Entwurf, wurde dieser im Jahr 2005 von der Kommission modifiziert.8 Bereits hier zeigt sich das Problem, dass das Parlament eine zurückhaltendere Modifikation des Arbeitszeitbegriffs und eine stärkere Einschränkung des Opt-outs präferierte, als die Kommission.9
340
Auf Grundlage des Kommissionsentwurfs kam es zu Beratungen im Rat, in denen zwar Einvernehmen über die Frage des Bereitschaftsdienstes nicht aber über das Optout erzielt werden konnte. Zu einem Kompromiss kam es nicht, weil Deutschland
341
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. dazu Buschmann, FS Düwell, 24 (50 ff.). KOM (2003), 848. KOM (2003), 848, S. 22. KOM (2003), 848, S. 23. Davies, EU Labour Law, Chapter 7, S. 213. Schliemann, NZA 2006, 1009 (1012). KOM (2004), 607. KOM (2004), 246. Schliemann, NZA 2006, 1009 (1012).
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409
§6
Rz. 342
Arbeitszeit
und Großbritannien zu keinen Zugeständnissen beim Opt-out bereit waren.1 Zwischenzeitlich griffen zunehmend Mitgliedstaaten auf das Opt-out zurück. Im Jahr 2008 waren dies nach Annahme der Kommission „etwa 14“ Mitgliedstaaten.2 Die Änderungen beim Begriff des Bereitschaftsdienstes sollten diesen Rückgriff nach Auffassung der Kommission eigentlich überflüssig machen.3 342
Nachdem sich in der Folge die Verhandlungen bis ins Jahr 2008 hinzogen, kam der Rat am 15.9.2008 zu einem gemeinsamen Standpunkt.4 Dieser änderte den Kommissionsentwurf dahingehend ab, dass die von der Kommission angenommenen Änderungsvorschläge des Europäischen Parlaments wieder rückgängig gemacht wurden.5 Dadurch wurde der – vom Europäischen Parlament ohnehin kritisch bewertete – Entwurf nochmals aufgeweicht. Die Kommission sah den Entwurf kritisch, „akzeptierte“ ihn aber angesichts des dringenden Bedarfs zu einer Änderung zu kommen.6 Die gravierendste Änderung war, dass das Opt-out nach Art. 22 ArbZ-RL nun nicht mehr nach 3 Jahren auslaufen sollte, sondern dauerhaft festgeschrieben werden sollte. Im Gegenzug sollte es zwar stärker eingegrenzt werden. Gleichwohl hatte der Rat damit eine Kernforderung des Europaparlaments abgelehnt. Angesichts der Vorgehensweise des Rates war es wenig überraschend, dass das Parlament den geänderten Vorschlag ablehnte.7 Es blieb bei seiner Position, dass das Opt-out nach einer Übergangsphase von 3 Jahren beendet werden sollte und schlug eine eingeschränkte Neuregelung des Bereitschaftsdienstes vor. Die Kommission nahm die unvereinbaren Standpunkte zur Kenntnis und versuchte nunmehr durch einen vermittelnden Vorschlag den Konflikt zu lösen.8 Danach sollten die Mitgliedstaaten zwar Modifikationen bei der Anrechnung der inaktiven Zeiten bei Bereitschaftsdiensten erhalten. Gleichzeitig sollte aber die Anrechnung der inaktiven Zeiten auf die Ruhezeiten ausgeschlossen werden. Damit blieb die Kommission hinter den Forderungen des Rates zurück und kam dem Parlament entgegen. Gleichzeitig hielt die Kommission eine Streichung des Opt-outs für nicht durchsetzbar. Im weiteren Verlauf konnten sich Parlament und Rat nicht einigen.
343
Die politische Bewertung der Arbeitszeitrichtlinie im Jahr 2010 fällt unterschiedlich aus. Die Kommission berichtet, dass 16 Mitgliedstaaten die Arbeitszeitrichtlinie und ihre Umsetzung positiv bewerten. 11 Mitgliedstaaten melden hingegen Probleme mit Blick auf den Bereitschaftsdienst.9 Die Zahl der Staaten, die das Opt-out für alle Branchen nutzten, lag bei 10. 5 Mitgliedstaaten hatten sektoral von ihm Gebrauch gemacht.10 Die Kommission startete nunmehr einen erneuten Versuch zu einer Einigung zu kommen und begann erneut mit einer Anhörung der Sozialpartner.11 Danach kam es bis Ende 2012 zu Sozialpartnerverhandlungen.12 Diese sind am 14.12.2012 gescheitert.13
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Schliemann, NZA 2006, 1009 (1013). KOM (2008), 568, S. 7. KOM (2008), 568, S. 7. ABl. 2008/C 254 E/01, S. 26 ff. KOM (2008), 568, S. 4. KOM (2008), 568, S. 4, 10. Abl. C 45 E/141 v. 23.2.2010. KOM (2009), 57. KOM (2010), 802, S. 10. KOM (2010), 802, S. 8. KOM (2010), 802. Schubert/Jerchel, EuZW 2012, 926. Vgl. dazu den Bericht in AuR 2013, 45.
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Ulber
Umsetzungsdefizite in Deutschland
Rz. 345
§6
Nach gegenwärtigem Stand ist eine politische Einigung auf Unionsebene nicht zu erwarten. Dies dürfte sich erst dann ändern, wenn die Kommission mit ihrer bereits 2010 unmissverständlich erhobenen Drohung Ernst macht und beginnt, die Mitgliedstaaten mit Vertragsverletzungsverfahren zu überziehen. Insbesondere Deutschland hat sich in einer Konstellation eingerichtet, in der das nationale Arbeitszeitrecht sanktionslos ein Sammelsurium von Unionsrechtsverstößen beinhaltet, die aufgrund der Rechtsprechung des BAG kaum einmal den EuGH erreichen werden. Sollte sich dies ändern, dürfte dies die Verhandlungsbereitschaft auf deutscher Seite erhöhen. Insofern darf prognostiziert werden, dass die Kommission eine Änderung der Arbeitszeitrichtlinie nunmehr nur noch erreichen kann, indem sie die bestehende Arbeitszeitrichtlinie konsequent durchsetzt. Ob die Kommission dazu den Mut finden wird, bleibt abzuwarten.
344
X. Umsetzungsdefizite in Deutschland Die „Umsetzung“ der Arbeitszeitrichtlinie durch die Bundesrepublik Deutschland stellt eine endlose Parade von Unionsrechtsverstößen dar. Lediglich die gravierendsten Fälle seien hier mit Verweis auf die jeweiligen Randnummern noch einmal zusammen gefasst: – Der offensichtlich unionsrechtswidrige Ausgleichszeitraum von 6 Monaten in § 3 Satz 2 ArbZG (vgl. Rz. 173) – § 7 Abs. 2a ArbZG, der gegen nahezu jede Vorgabe der Arbeitszeitrichtlinie verstößt (insb. vgl. Rz. 291 ff.) – Damit verbunden ist das unzureichend ausgestaltete Einwilligungserfordernis in § 7 Abs. 7 ArbZG (vgl. Rz. 297, 394).
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345
§7 Urlaub
I. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . .
Rz. 1
Rz. 2. Krankheitsurlaub . . . . . . . . . . . 34
II. Rechtsnatur des Urlaubsanspruchs
7
3. Mutterschaftsurlaub . . . . . . . . . 36
III. Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs 1. Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . 10 2. Wartezeit . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Arbeitsleistung . . . . . . . . . . . . 18 IV. Urlaubsdauer 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Änderung der Arbeitszeit . . . . . . 26 3. Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . 30 V. Festlegung des Urlaubszeitraums 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 32
VI. Urlaubsentgelt 1. Berechnung des Urlaubsentgelts a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 38 b) Feststellung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts . . . . . . . . . . . 40 c) Besonderheiten bei Teilzeittätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Fälligkeit des Urlaubsentgelts . . . 45 VII. Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs . . . . . . . . . . . 47 VIII. Urlaubsabgeltung . . . . . . . . . . . 53
Schrifttum: Bayreuther, Kurzarbeit, Urlaub und der EuGH, DB 2012, 2749; Bauer/Arnold, Altersdiskriminierung von Organmitgliedern, ZIP 2012, 597; Bieder, Die Vererblichkeit von Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen, AuR 2012, 239; Eckstein, Das Ende der Surrogatstheorie im Urlaubsrecht, SAE 2013, 65; Fischer, Die Fremdgeschäftsführerin und andere Organvertreter auf dem Weg zur Arbeitnehmereigenschaft, NJW 2011, 2329; Fieberg, Urlaubsanspruch bei ruhendem Arbeitsverhältnis, NZA 2009, 929; Fieberg, Urlaubsanspruch bei Übergang in Teilzeit – Neues aus Luxemburg, NZA 2010, 925; Fischinger, Anmerkung zu BAG 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, AP BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 92; Forst, Unterliegen Geschäftsführer dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG)?, GmbHR 2012, 821; Franzen, Urlaubsentgelt, provision und andere unregelmäßig anfallende Vergütungsbestandteile, NZA 2014, 647; Hohenstatt/Naber, Diskriminierungsschutz für Organmitglieder: Konsequenzen für die Vertragsgestaltung, ZIP 2012, 1989; Höpfner, Das deutsche Urlaubsrecht in Europa – Zwischen Vollharmonisierung und Koexistenz (Teil 1 und 2), RdA 2013, 16 und 65; Höpfner, Anmerkung zu BAG 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, AP BUrlG § 7 Nr. 61; Latzel, Urlaub von Teilzeitbeschäftigten, EuZA 2014, 80; Neumann/Fenski, Bundesurlaubsgesetz, 10. Aufl. 2011; Plüm, Wohin im Urlaub?, NZA 2013, 11; Powietzka/Christ, Urlaubsanspruch im ruhenden Arbeitsverhältnis – oder doch nicht?, NZA 2013, 18; Preis/Sagan, Der GmbH-Geschäftsführer in der arbeits- und diskrimierungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, BGH und BAG, ZGR 2013, 26; Rudkowski, Zur Umrechnung des Urlaubsanspruchs bei Kurzarbeit, EuZA 2013, 260; Rudkowski, Die Umrechnung des Urlaubsanspruchs bei Kurzarbeit und ihre Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie, NZA 2012, 74; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 15. Aufl. 2013; Schinz, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, RdA 2012, 181; Schippper/Polzer, Die Vererblichkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs – Die Rechtsprechung im Wandel?, NZA 2011, 80; Schubert, Der Erholungsurlaub zwischen Arbeitsschutz und Entgelt – Kürzung oder Umrechnung des Urlaubsanspruchs und deren Folgen, NZA 2013, 1105; Schubert, Der Urlaubsabgeltungsanspruch nach dem Abschied von der Surrogationstheorie; RdA 2014, 9; Stiebert/Imani, Magische Vermehrung von Urlaubsansprüchen?, NZA 2013, 1338; Stiebert/Pötters, Der schleichende Tod der Surrogatstheorie, NZA 2012, 1334; Suckow/ Klose, Das Bundesurlaubsgesetz unter Luxemburger Auspizien – Europarecht als Probierstein deutschen Urlaubsrechts, Jahrbuch des Arbeitsrechts 49 (2012), 59; Sutschet, Die Berechnung des Urlaubsentgelts nach der Arbeitszeitrichtlinie, EuZA 2012, 399; Wietfeld, Jahresurlaub unabhängig von einer Mindestarbeitszeit, EuZA 2012, 540.
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Mehrens/Witschen
Rechtsgrundlagen
Rz. 2
§7
I. Rechtsgrundlagen Das Urlaubsrecht ist in den letzten Jahren zu einem viel diskutierten Bestandteil des europäischen Arbeitsrechts geworden, obwohl oder gerade weil die europarechtlichen Vorgaben knapp gehalten sind. Der AEUV enthält keine explizite Regelung zum Urlaubsrecht. Art. 158 AEUV, der das Bestreben der Mitgliedstaaten niederlegt, die bestehende Gleichwertigkeit der Ordnungen über die bezahlte Freizeit beizubehalten, hat lediglich programmatischen Charakter und bislang keine darüber hinausgehende Bedeutung erlangt.1 Herzstück des europäischen Urlaubsrechts ist daher Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG (ArbZ-RL).2 Nach Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL hat jeder Arbeitnehmer einen vorbehaltlosen Anspruch auf einen bezahlten vierwöchigen Mindestjahresurlaub nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung, die in den einzelstaatlichen Vorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind. Dieser Mindestjahresurlaub darf gem. Art. 7 Abs. 2 ArbZ-RL außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden. Ergänzend finden sich verschiedene urlaubsrechtliche Spezialnormen in anderen Richtlinien. Art. 8 RL 92/85/EWG sowie Art. 1 RL 96/34/EG enthalten Regelungen zum Mutterschaftsurlaub und zur Elternzeit. Darüber hinaus kommt den europarechtlichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall urlaubsrechtliche Relevanz zu. Der EuGH bezeichnet Zeiten der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als „Krankheitsurlaub“, welcher dem Arbeitnehmer die Genesung ermöglichen soll (vgl. Rz. 34).3 Auch im Rahmen des in der Teilzeitarbeit-Richtlinie 97/81/EG enthaltenen Diskriminierungsverbots können sich urlaubsrechtliche Fragen stellen (vgl. Rz. 24 ff.).
1
Der EuGH versteht den Anspruch auf bezahlten vierwöchigen Jahresurlaub nach Art. 7 ArbZ-RL in ständiger Rechtsprechung als besonders wichtigen Grundsatz des Sozialrechts der Union, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen Stellen nur in den durch die Arbeitszeitrichtlinie selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen.4 Der EuGH hat insoweit eine restriktive Auslegung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub stets abgelehnt.5 Die Mitgliedstaaten können zwar die Bedingungen der Inanspruchnahme und der Gewährung des Urlaubs (das „Wie“) näher ausgestalten, z.B. den Zeitpunkt festlegen, zu dem das Entgelt für den Jahresurlaub zu zahlen ist.6 Darüber hinausgehende Einschränkungen des Jahresurlaubs (insbesondere hinsichtlich des „Ob“ der Ausübung des Urlaubsanspruchs) sind ihnen allerdings verwehrt, weil die Richtlinie in den Öffnungsklauseln der Art. 17, 18 ArbZ-RL für den Urlaubsanspruch keine Abweichungsmöglichkeiten vor-
2
1 Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 158 AEUV; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld/Benecke, Art. 158 AEUV Rz. 1. 2 Die Vorschrift ist identisch mit Art. 7 der Vorgängerrichtlinie 93/104/EG. 3 Vgl. EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 – Rz. 25 = NZA 2009, 135; v. 21.2.2013 – Rs. C-194/12 – Maestre Garcia, NZA 2013, 369 – Rz. 18. 4 Vgl. etwa EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 – Rz. 43 = NZA 2001, 827; v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 48 = NZA 2006, 481; v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 – Rz. 22 = NZA 2009, 135. 5 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 29 = NZA 2010, 557; v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 29. 6 EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 56 ff. = NZA 2006, 481.
Mehrens/Witschen
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§7
Rz. 3
Urlaub
sieht.1 Es bleibt den Mitgliedstaaten gem. Art. 15 ArbZ-RL aber unbenommen, für die Arbeitnehmer günstigere Regelungen zu treffen.2 3
Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub ist zudem in Art. 31 Abs. 2 GRC geregelt und hat damit seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1.12.2009 den Charakter eines Grundrechts (vgl. § 2 Rz. 77). Hierauf hat der EuGH in den Rs. Williams,3 KHS4 und Neidel5 bereits Bezug genommen. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob dem Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub – vergleichbar dem Verbot der Diskriminierung wegen Alters6 – unmittelbare Wirkung zukommt mit der Folge, dass entgegenstehendes nationales Recht unanwendbar ist (vgl. § 1 Rz. 163 f.).7 Gegen eine unmittelbare Wirkung spricht, dass der Schutzbereich des Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub, selbst wenn man zur Konkretisierung auf Art. 7 ArbZ-RL zurückgreifen würde, zu unbestimmt ist.8 Der EuGH hat sich zu dieser Frage noch nicht ausdrücklich geäußert. Die Entscheidung in der Rs. Dominguez9 lässt jedoch darauf schließen, dass der EuGH Art. 31 Abs. 2 GRC keine unmittelbare Wirkung beimisst. Der EuGH prüft lediglich eine unmittelbare Wirkung von Art. 7 ArbZ-RL. Dies wäre überflüssig, wenn dem Urlaubsanspruch bereits aus Primärrecht unmittelbare Bedeutung zukäme.10 Es kann jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass der EuGH in der Zukunft den Urlaubsanspruch mit Blick auf Art. 31 Abs. 2 GRC primärrechtlich „aufwerten“ und unmittelbar auf Privatrechtsverhältnisse anwenden wird (zur Drittwirkung von Richtlinien vgl. § 1 Rz. 135 ff.). Hiergegen lässt sich zwar zu Recht anführen, dass nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC die Charta nur für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts gilt.11 Bei der Herleitung des unionsrechtlichen Bezugs ist der EuGH jedoch tendenziell großzügig.12 Es ist daher nicht auszuschließen, dass er bereits die Arbeitsschutzkompetenz der Union gem. Art. 153 AEUV für ausreichend erachtet, um die nationalen Urlaubsbestimmungen als Durchführung des Urlaubsrechts anzusehen.13 Nach dem Verständnis des EuGH verfolgt der Urlaubsanspruch auch arbeitsschutzrechtliche Zwecke (vgl. Rz. 7). Unabhängig hiervon hat der EuGH in der Rs. Dominguez14 eine unmittelbare Wirkung von Art. 7 ArbZ-RL im Verhältnis zum jeweiligen Mitgliedstaat, d.h. gegenüber staatlichen Arbeitgebern, bejaht. Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL sei inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten (vgl. § 1 Rz. 133).
1 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 – Rz. 50 = NZA 2001, 827. 2 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, AP Nr. 8 zu Richtlinie 2003/88/EG – Rz. 35; v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez NZA 2012, 139 – Rz. 48. 3 EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-155/10 – Williams u.a., Slg. 2011, I-8409 – Rz. 18 = NZA 2011, 1167. 4 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, KHS, Slg. 2011, I-11757 – Rz. 31 = NZA 2011, 1333. 5 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, AP Nr. 8 zu Richtlinie 2003/88/EG – Rz. 40. 6 Vgl. EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-393 – Rz. 49 ff. = NZA 2010, 85. 7 Vgl. ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 6a; Höpfner, RdA 2013, 16 (19 ff.); Suckow/Klose, JbArbR 49 (2012), 59 (71 f.); Wietfeld, EuZA 2012, 540 (542 ff.). 8 Vgl. auch GA Trstenjak 8.9.2011 – Rs. C-282/10 – Dominguez, Slg. ECLI:EU:C:2011:559 Rz. 144 ff.; Schubert, RdA 2014, 9 (10). 9 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 Rz. 41 ff. 10 Vgl. auch ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 6a. 11 Höpfner, RdA 2013, 16 (19 ff.); im Ergebnis auch GA Trstenjak v. 8.9.2001 – Rs. C-282/10 – Dominguez – Rz. 133 ff. 12 Vgl. etwa EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 -Åkerberg Fransson, NJW 2013, 145 – Rz. 17 ff. 13 So auch ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 6a; HWK/Schinz, § 1 BurlG Rz. 2a. 14 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez NZA 2012, 139 – Rz. 32 ff.
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Mehrens/Witschen
Rechtsgrundlagen
Rz. 5
§7
Die Arbeitszeitrichtlinie hat ausweislich ihres sechsten Erwägungsgrundes den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung Rechnung getragen. Bedeutung für das Urlaubsrecht kommt insbesondere dem Übereinkommen Nr. 132 über den bezahlten Jahresurlaub vom 24.6.1970 zu.1 Dieses Abkommen enthält u.a. Regelungen zum dreiwöchigen Mindestjahresurlaub, zu einer Mindestdienstzeit als Voraussetzung des Urlaubsanspruchs und zur Befristung des Urlaubsanspruchs. Diesen Vorschriften kommt zwar keine unmittelbare Wirkung zu. In den Rs. Schultz-Hoff2 und KHS3 hat der EuGH sie jedoch bei der Auslegung von Art. 7 ArbZ-RL berücksichtigt (vgl. Rz. 18 und 48 ff.).
4
Der gesetzliche Mindesturlaub ist im Bundesurlaubsgesetz geregelt. Nach §§ 1, 3 BUrlG hat jeder Arbeitnehmer einen Anspruch auf mindestens 24 Werktage bezahlten Urlaub im Kalenderjahr (vgl. Rz. 25). Ergänzt wird das Bundesurlaubsgesetz durch zahlreiche Sonderregelungen, die zusätzliche Urlaubsansprüche für Arbeitnehmergruppen mit erhöhtem Schutzbedarf regeln.4 Darüber hinaus finden sich in nahezu jeder Branche Tarifverträge mit Regelungen zum Erholungsurlaub, nach denen von den gesetzlichen Vorschriften zugunsten der Arbeitnehmer abgewichen wird. Dies gilt insbesondere für die Dauer des Erholungsurlaubs, die regelmäßig erhöht wird. Der Gesetzgeber hat in § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG den Tarifvertragsparteien allerdings auch das Recht eingeräumt, für die Arbeitnehmer ungünstigere Regelungen zu vereinbaren, die an die Stelle der gesetzlichen Bestimmungen treten. Nur die Dauer des gesetzlichen Mindestjahresurlaubs (vgl. Rz. 25), die Bindung des Urlaubs an das Kalenderjahr sowie die Einbeziehung aller Arbeitnehmer in den Kreis der Urlaubsberechtigten sind unabdingbar. Weitergehende Abweichungsmöglichkeiten bestehen gem. § 13 Abs. 2 Satz 1 BUrlG im Baugewerbe und vergleichbaren Wirtschaftszweigen, soweit dies zur Sicherung eines zusammenhängenden Jahresurlaubs für alle Arbeitnehmer erforderlich ist. Ein Vorabentscheidungsersuchen des LAG Berlin-Brandenburg zu der Frage, ob Art. 31 Abs. 2 GR-Charta und Art. 7 ArbZ-RL zur Unanwendbarkeit von § 13 Abs. 2 BUrlG führen, ist aufgrund einer Erledigung des Ausgangsverfahrens nicht zur Entscheidung gekommen.5 Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Anwendbarkeit der Öffnungsklauseln des § 13 BUrlG erneut Gegenstand von Vorlagen an den EuGH sein wird.6 Auch im Arbeitsvertrag können andere als im Bundesurlaubsgesetz vorgesehene Urlaubsregelungen vereinbart werden. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass gem. § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG – abgesehen von § 7 Abs. 2 Satz 2 BUrlG, der die Aufteilung des Urlaubs regelt – nicht zuungunsten des Arbeitnehmers von den Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen werden darf.
5
1 Das Übereinkommen ist von der Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz vom 30.4.1975 (BGBl. 1975 II, S. 746) ratifiziert worden. Das Übereinkommen Nr. 163 über den bezahlten Jahresurlaub der Seeleute ist von der Bundesrepublik Deutschland am 21.7.2006 (BGBl. II 2006, 675) ratifiziert worden. 2 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 – Rz. 22 = NZA 2009, 135. 3 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 – Rz. 41 = NZA 2011, 1333. 4 Vgl. § 4 ArbPlSchG, § 17 MuSchG, § 17 BEEG, § 125 SGB IX, § 19 JArbSchG sowie §§ 53 ff. SeemG. Ferner bleiben gem. § 15 Abs. 2 Satz 1 BUrlG landesrechtliche Bestimmungen über den Urlaub für Opfer des Nationalsozialismus und für solche Arbeitnehmer, die geistig oder körperlich in ihrer Erwerbsfähigkeit behindert sind, in Kraft. 5 LAG Berlin-Bdb. v. 16.6.2011 – 2 Sa 3/11, LAGE BurlG § 13 Nr. 2 = EuGH v. 22.10.2012 – Rs. 2 Sa 3/11 – Reimann; ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 6e. 6 Höpfner, RdA 2013, 16 (21 f.); vgl. aber auch BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08, NZA 2010, 1020 – Rz. 16 ff.; v. 15.1.2013 – 9 AZR 465/11, NZA-RR 2013, 585; s. auch ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 26.
Mehrens/Witschen
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§7 6
Rz. 6
Urlaub
Der Erholungsurlaub von Beamten, Soldaten und Richtern ist in besonderen Gesetzen geregelt.1 Soweit diese nicht den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechen, ist eine unmittelbare Berufung auf Art. 7 ArbZ-RL möglich (vgl. Rz. 3).2
II. Rechtsnatur des Urlaubsanspruchs 7
Der Rechtsnatur des Urlaubsanspruchs kommt in der Rechtsprechung des EuGH eine zentrale Bedeutung zu. In Ermangelung konkretisierender Vorschriften ist der EuGH gezwungen, nahezu sämtliche Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem europarechtlich garantierten Mindestjahresurlaub stellen, über eine Auslegung des Urlaubsbegriffs zu lösen. Hierbei geht der EuGH im Ausgangspunkt von einem zweiteiligen Anspruch aus, der sich aus der Freistellung von der Arbeitspflicht und der Fortzahlung des Arbeitsentgelts während des Urlaubs zusammensetzt (sog. Einheitstheorie).3 Durch den Anspruch auf Entgeltfortzahlung soll der Arbeitnehmer auch während der Freistellung von der Arbeitspflicht in eine Lage versetzt werden, die der in Zeiten der Arbeit vergleichbar ist.4 Mit dem so verstandenen Urlaubsanspruch soll ein doppelter Zweck verfolgt werden: Einerseits soll der Urlaub es dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich von der Ausübung der arbeitsvertraglichen Leistung zu erholen; andererseits soll der Arbeitnehmer über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit verfügen.5 Damit verfolgt der Urlaubsanspruch auch arbeitsschutzrechtliche Zwecke und dient der Erhaltung der Sicherheit und Gesundheit des Arbeitnehmers.6
8
Das Verständnis des Urlaubsbegriffs ist in Deutschland ein anderes. Während die Rechtsprechung früher ebenfalls einen einheitlichen Anspruch auf Freizeitgewährung und Entgeltfortzahlung zugrunde gelegt hat,7 geht das BAG mittlerweile in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich der Urlaubsanspruch nach § 1 BUrlG auf die Freistellung des Arbeitnehmers von seinen arbeitsvertraglichen Pflichten beschränkt. Der gesetzliche Freistellungsanspruch ist darauf gerichtet, für die Dauer des Urlaubs die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers unter Fortbestand der Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers zu beseitigen.8 Die Entgeltfortzahlung während des Erholungsurlaubs ist weder Inhalt der Pflicht zur Urlaubserteilung noch Wirksamkeitsvoraussetzung für die Erfüllung des urlaubsrechtlichen Freistellungsanspruchs.9 Rechtsgrundlage für die Fortzahlung des Entgelts während
1 Vgl. etwa § 89 Satz 1 BBG i.V.m. Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamtinnen, Beamten, Richterinnen und Richter des Bundes; § 28 SG i.V.m. Verordnung über den Urlaub der Soldatinnen und Soldaten. 2 Vgl. auch BVerwG v. 31.1.2013 – 2 C 10/12, NVwZ 2013, 1295. 3 EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 58 = NZA 2006, 481; v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 – Rz. 60 = NZA 2009, 135. 4 Vgl. grundlegend EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 48 = NZA 2006, 481. 5 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 25 = NZA 2009, 135; v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 – Rz. 31 = NZA 2011, 1333. 6 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 – Rz. 32 = NZA 2011, 1333; Plüm, NZA 2013, 11 (13). 7 BAG v. 3.6.1960 – 1 AZR 251/59, AP BGB § 611 Urlaubsrecht Nr. 73. 8 St. Rspr., u.a. BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538; v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326. 9 BAG v. 21.6.2005 – 9 AZR 295/04, AP Nr. 12 zu § 55 InsO Rz. 18.
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Mehrens/Witschen
Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs
Rz. 11 § 7
des Urlaubs ist allein § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag.1 Die Regelung zum Urlaubsentgelt in § 11 BUrlG stellt keine eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern lediglich eine Berechnungsvorschrift dar.2 Die vom EuGH entwickelte Einheitstheorie hat nicht zwingend zur Folge, dass die Einordnung des Urlaubsanspruchs als Freistellungsanspruch unionsrechtswidrig wäre.3 Dieses unterschiedliche Verständnis vom Inhalt des Urlaubsanspruchs hat allerdings erhebliche Auswirkungen auf die Auslegung urlaubsrechtlicher Bestimmungen. Das BAG war bereits in mehreren Fällen gezwungen, seine Rechtsprechung der Entscheidungspraxis des EuGH anzupassen.4 Besonders einschneidend waren die Rechtsprechungsänderungen im Zusammenhang mit dem Verfall und der Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers (vgl. Rz. 51 ff.)
9
III. Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs 1. Arbeitsverhältnis Nach Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL steht der Anspruch auf den vierwöchigen Mindestjahresurlaub „Arbeitnehmern“ zu. Der Begriff des Arbeitnehmers wird in der Arbeitszeitrichtlinie nicht näher bestimmt. Insbesondere wird zur Definition nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen. Hieraus folgt nach Auffassung des EuGH, dass der Arbeitnehmerbegriff für Zwecke der Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie nicht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt werden kann, sondern der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff i.S.d. Art. 45 AEUV gilt.5 Arbeitnehmer ist danach jede Person, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. § 1 Rz. 111).6 Nach unionsrechtlichem Verständnis fallen hierunter grundsätzlich auch Beamte.7
10
Für Zwecke der Anwendung der Mutterschutzrichtlinie hat der EuGH in der Rs. Danosa entschieden, dass auch Mitglieder der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft – im Anlassfall die Geschäftsführerin einer lettischen Gesellschaft in der Rechtsform einer SIA – als Arbeitnehmer zu qualifizieren sein können.8 Das für die Arbeitnehmerstellung erforderliche Unterordnungsverhältnis liege aufgrund der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Aufsichtsrat und der Abberufungsmöglichkeit der Gesellschafterversammlung vor. Zwar sei nicht auszuschließen, dass Mitglieder der Unternehmensleitung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls nicht unter den Arbeitnehmerbegriff fallen. Es spreche allerdings zumindest der erste Anschein für eine Einordnung als Arbeitnehmer, wenn das Mitglied der Unternehmensleitung
11
1 St. Rspr., vgl. z.B. näher BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, AP BUrlG § 11 Nr. 66 Rz. 28; ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 1; Suckow/Klose, JbArbR 49 (2012), 59 (60). 2 BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, AP BUrlG § 11 Nr. 66 Rz. 14; ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 1. 3 So auch HWK/Schinz, § 1 BurlG Rz. 7. 4 Z.B. BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538 – Rz. 64 ff.; v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538; v. 19.6.2012 – 9 AZR 652, NZA 2012, 1087. 5 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I-9961 – Rz. 28. 6 Zuletzt EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, AP Nr. 8 zu Richtlinie 2003/88/EG – Rz. 23 m.w.N. 7 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, AP Nr. 8 zu Richtlinie 2003/88/EG – Rz. 19 ff. 8 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 49 f. = NZA 2011, 143.
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§7
Rz. 12
Urlaub
eine entgeltliche Tätigkeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen Organs der Gesellschaft ausübe und jederzeit ohne Einschränkung von seinem Amt abberufen werden könne.1 Auch wenn der EuGH seine Aussagen formal auf die Auslegung der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG beschränkt hat, steht zu vermuten, dass er diese Erwägungen auch auf die Arbeitszeitrichtlinie übertragen würde.2 Er hat seine Entscheidung ausschließlich mit dem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff begründet, ohne auf Besonderheiten der Mutterschutzrichtlinie abzustellen. 12
Anspruch auf Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz haben gem. §§ 1 f. BUrlG Arbeitnehmer, die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten sowie arbeitnehmerähnliche Personen. Nach deutschem Verständnis sind Organmitglieder nicht als Arbeitnehmer zu qualifizieren und fallen damit nicht unter den Anwendungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes, wenn sie nicht ausnahmsweise auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags (z.B. in den Fällen einer Drittanstellung bei der Konzernobergesellschaft) tätig werden.3
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Ob Organmitglieder insgesamt aus dem Anwendungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes herausgenommen werden können, erscheint angesichts der neueren Rechtsprechung des EuGH zweifelhaft. Zumindest Fremd-Geschäftsführer einer nicht mitbestimmten GmbH dürften nach den Kriterien des EuGH unter den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff fallen und somit als Arbeitnehmer i.S.d. Art. 7 ArbZ-RL anzusehen sein.4 Fremd-Geschäftsführer sind nach § 37 Abs. 1 GmbHG an die Weisungen der Gesellschafterversammlung gebunden und werden von ihr gem. § 46 Nr. 6 GmbHG überwacht. Zudem kann ihre Bestellung gem. § 38 Abs. 1 GmbHG jederzeit ohne Grund widerrufen werden. Bei Gesellschafter-Geschäftsführern ist zu differenzieren: Allein-,5 aber auch bloße Mehrheitsgesellschafter6 sind keine Arbeitnehmer nach unionsrechtlichem Verständnis, weil es insoweit an einem Unterordnungsverhältnis fehlt. Eine bloße Minderheitsbeteiligung dürfte die Arbeitnehmereigenschaft nach europäischem Verständnis jedoch zumindest dann nicht beseitigen, wenn nicht ausnahmsweise besondere gesellschaftsvertraglich abgesicherte Einflussnahmemöglichkeiten bestehen. Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft sowie ihnen gleichgestellte Organmitglieder7 sind ebenfalls keine Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinne8 und fallen daher nicht unter die Arbeitszeitrichtlinie. Vorstandsmitglieder handeln gem. § 76 Abs. 1 AktG weisungsfrei und können gem. § 84 Abs. 3 AktG nur aus wichtigem Grund abberufen werden, so dass es an dem vom EuGH geforderten Unterordnungsverhältnis fehlt.9 Entsprechendes dürfte auch für Geschäftsführer einer mitbestimmten GmbH gel1 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 – Rz. 51 = NZA 2011, 143. 2 Vgl. Forst, GmbHR 2012, 821 (824); in diese Richtung auch Kruse/Stenslik, NZA 2013, 596 (597). 3 BAG v. 15.3.2011 – 10 AZB 32/10, NZA 2011, 874 für den Fall, dass das vorher zur Konzernobergesellschaft bestehende Arbeitsverhältnis nicht ausdrücklich oder konkludent durch Abschluss eines schriftlichen Geschäftsführerdienstvertrages aufgehoben wurde; in diese Richtung auch in der Vergangenheit schon BAG v. 26.5.1999 – 5 AZR 664/98, NZA 1999, 987. 4 Zum Ganzen auch Lunk/Rodenbusch, GmbHR 2012, 188; Preis/Sagan, ZGR 2013, 26. 5 Vgl. EuGH v. 27.6.1996 – Rs. C-107/94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 – Rz. 26 = NJW 1996, 2924 zu Art. 48 EGV (heute: Art. 45 AEUV). 6 Forst, GmbHR 2012, 821 (825). 7 Vgl. z.B. Art. 9 Abs. 1 Buchst. c Nr. ii SE-VO für Vorstandsmitglieder einer SE. 8 Vgl. auch Bauer/Arnold, ZIP 2012, 597 (599); Hohenstatt/Naber, ZIP 2012, 1989 (1990); a.A. Fischer, NJW 2011, 2329 (2331). 9 Dies gilt auch für Vorstandsmitglieder abhängiger Aktiengesellschaften, denen das herrschende Unternehmen nach § 308 Abs. 1 AktG Weisungen erteilen darf, weil es unabhängig hiervon für die Abberufung eines wichtigen Grundes nach § 84 Abs. 3 AktG bedarf. Vgl. dies-
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Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs
Rz. 17 § 7
ten. Zwar bleibt das Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung gem. § 30 MitbestG von der Errichtung des obligatorischen Aufsichtsrats unberührt. Anders als bei einer nicht unter das Mitbestimmungsgesetz 1976 fallenden GmbH ist eine Abberufung des Geschäftsführers nach § 31 Abs. 1 MitbestG i.V.m. § 84 Abs. 3 AktG jedoch nur aus wichtigem Grund möglich. Damit entfällt zumindest eines der vom EuGH aufgestellten Kriterien (vgl. Rz. 10), was gegen eine Qualifikation als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinne spricht.1 Welche Folgen sich aus der Rechtsprechung des EuGH für den Anwendungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes ergeben, ist noch nicht abschließend geklärt. Teilweise wird die Ansicht vertreten, § 2 BUrlG sei dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass die Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes auch auf Organmitglieder, die als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinne zu qualifizieren sind, anzuwenden seien.2 Dies geht jedoch zu weit. Eine richtlinienkonforme Auslegung ist nur insoweit geboten, wie der Mindestschutz nach Art. 7 ArbZ-RL reicht, d.h. insbesondere hinsichtlich der Mindesturlaubsdauer (vgl. Rz. 24 ff.), der Übertragung des Urlaubsanspruchs (vgl. Rz. 47 ff.) und des Abgeltungsanspruchs (vgl. Rz. 53 ff.). Im Übrigen können die Vertragsparteien die Einzelheiten der Urlaubsgewährung im Anstellungsvertrag regeln.
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Der Urlaubsanspruch von Beamten, Soldaten und Richtern ist in besonderen Gesetzen geregelt (vgl. Rz. 6). Die Erstreckung des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs auf diese Personengruppen hat zur Folge, dass diese Gesetze jeweils auf ihre Vereinbarkeit mit den unionsrechtlichen Vorgaben zu prüfen sind. Sind diese nicht hinreichend umgesetzt, stellt Art. 7 ArbZ-RL eine unmittelbare Anspruchsgrundlage dar.3
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2. Wartezeit Der Anspruch auf den vierwöchigen Mindesturlaub besteht ab dem ersten Arbeitstag. Art. 7 ArbZ-RL sieht keine Wartezeit für das Entstehen des Urlaubsanspruchs vor. In der Rs. BECTU4 hat der EuGH entschieden, dass die Mitgliedstaaten das Entstehen des Anspruchs auf den vierwöchigen Mindesturlaub nicht von einer ununterbrochenen Mindestbeschäftigungsdauer abhängig machen können. Eine derartige Regelung berge Missbrauchsgefahren in sich, weil Arbeitgeber den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub dadurch umgehen könnten, dass sie häufiger auf kurzfristige Arbeitsverhältnisse zurückgreifen. Im Anlassfall verloren Arbeitnehmer nach der streitgegenständlichen gesetzlichen Regelung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Erreichen einer dreizehnwöchigen Mindestbeschäftigungszeit jeden Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub und erhielten zudem auch keinen finanziellen Ausgleich.
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§ 4 BUrlG bestimmt, dass der volle Urlaubsanspruch nach dem Bundesurlaubgesetz erstmals nach einer sechsmonatigen Wartezeit erworben wird. Vor dem Ablauf der Wartezeit kann der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes grundsätzlich keine Freistellung von der Arbeitspflicht verlangen, auch nicht für einen Teil des Jahresurlaubs. Ergänzt wird diese Regelung durch § 5 Abs. 1 Buchst. a und b BUrlG. Danach steht dem Arbeitnehmer für den Fall, dass das Ar-
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1 2 3 4
bezüglich auch KölnKomm/Koppensteiner, § 308 Rz. 63; Altmeppen in MünchKomm/AktG, § 309 Rz. 71. So auch Forst, GmbHR 2012, 821 (825). Forst, GmbHR 2012, 821 (825); ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 15; HWK/Schinz, § 2 BurlG Rz. 7. BVerwG v. 31.1.2013 – 2 C 10/12, NVwZ 2013, 1295 – Rz. 32 ff. EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 = NZA 2001, 827.
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§7
Rz. 18
Urlaub
beitsverhältnis in der zweiten Jahreshälfte begonnen hat – und die Wartezeit daher für das Kalenderjahr nicht erfüllt werden kann – (Buchst. a) oder der Arbeitnehmer bereits vor Ablauf der Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet (Buchst. b), ein Teilurlaubsanspruch zu. Der Teilurlaubsanspruch nach § 5 Abs. 1 Buchst. a BUrlG ist zudem auf Verlangen des Arbeitnehmers gem. § 7 Abs. 3 Satz 4 BUrlG auf das gesamte nächste Kalenderjahr zu übertragen und nicht nur auf dessen erste drei Monate.1 Im Ergebnis genügen diese Regelungen in ihrem Zusammenwirken den unionsrechtlichen Vorgaben.2 Art. 7 ArbZ-RL verbietet zwar, die Entstehung des Urlaubsanspruchs an eine Mindestbeschäftigungszeit zu knüpfen. Die Mitgliedstaaten können aber die Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung des Urlaubs regeln (vgl. Rz. 32) und in diesem Rahmen auch das Erfordernis einer Mindestbeschäftigungszeit vorsehen, bevor der Urlaub genommen werden kann.3 Die Teilurlaubsansprüche nach § 5 Abs. 1 Buchst. a und b BUrlG schützen den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers vor Erfüllung der Wartezeit in hinreichender Weise. Insbesondere beugt der Teilurlaubsanspruch nach § 5 Abs. 1 Buchst. b BUrlG einem Missbrauch der Wartezeitregelung durch Einsatz kurzfristiger Arbeitsverhältnisse vor. 3. Arbeitsleistung 18
Art. 7 ArbZ-RL macht das Entstehen des Urlaubsanspruchs nicht davon abhängig, dass der Arbeitnehmer tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht hat. Insbesondere differenziert die Regelung nicht zwischen Arbeitnehmern, die während des Bezugszeitraums wegen Krankheit der Arbeit ferngeblieben sind, und solchen, die während des Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Daraus folgert der EuGH in den Rs. Schultz-Hoff4 und Dominguez,5 dass der Urlaubsanspruch eines aufgrund Krankheit arbeitsunfähigen Arbeitnehmers unabhängig davon besteht, ob er während des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Auf den Grund der Krankschreibung (als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit) komme es nicht an.6 Ergänzend verweist der EuGH auf Art. 5 Abs. 4 des IAO-Übereinkommens Nr. 132, wonach Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie z.B. Krankheit, als Dienstzeit anzurechnen sind.7
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Mit den Fällen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht vergleichbar ist es nach Ansicht des EuGH in der Rs. Heimann8 allerdings, wenn der Arbeitnehmer infolge einer in einem Sozialplan geregelten „Kurzarbeit Null“ nicht zur Erbringung einer Arbeitsleistung verpflichtet ist. Anders als bei einem krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Arbeitnehmer könne sich der von Kurzarbeit betroffene Arbeitnehmer ausruhen oder Freizeitaktivitäten nachgehen. Zudem verweist der EuGH darauf, dass die mit einer Gewährung von Urlaubsansprüchen für die Dauer der Kurzarbeit verbundene erhöhte Kostenlast Arbeitgeber davon abhalten könne, sich auf eine solche be1 ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 63. 2 So auch ErfK/Gallner, § 4 BUrlG Rz. 1; Schaub/Linck, § 104 Rz. 24, 67; HWK/Schinz, § BUrlG Rz. 3. 3 Vgl. auch GA Trstenjak 24.1.2008 – Rs. C-350/06 – Schultz-Hoff, Slg. 2009 I-179 – Rz. 44. 4 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 Rz. 41 = NZA 2009, 135. 5 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 20. 6 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 – Dominguez, NZA 2012, 139 – Rz. 30. 7 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 Rz. 38 = NZA 2009, 135. 8 EuGH v. 8.11.2012 – verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 – Heimann u.a., NZA 2012, 1273 Rz. 32.
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Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs
Rz. 21 § 7
schäftigungssichernde Maßnahme einzulassen. Der EuGH kommt daher zu dem Ergebnis, dass Kurzarbeiter als „vorübergehend teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer“ anzusehen seien, weil die gegenseitigen Leistungspflichten wie bei einer Teilzeitbeschäftigung entsprechend der Arbeitszeitverkürzung suspendiert seien. Für die Zeit der „Kurzarbeit Null“ verringere sich daher der Urlaubsanspruch entsprechend (zum Urlaubsanspruch von Teilzeitbeschäftigten vgl. Rz. 24 ff.). Die vom EuGH in der Rs. Heimann aufgestellten Grundsätze lassen sich grundsätzlich auf andere Fälle übertragen, in denen das Arbeitsverhältnis aus nicht krankheitsbedingten Gründen ruht, wenn also die gegenseitigen Leistungspflichten aufgrund einer gesetzlichen, tariflichen oder individualvertraglichen Grundlage für eine bestimmte Zeit reduziert oder suspendiert werden.1 Wenn sich der Arbeitnehmer erholen und seine Freizeit nach eigenen Wünschen gestalten kann, gebietet Art. 7 ArbZ-RL keine Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs. Dies gilt allerdings nicht für Zeiten des Mutterschaftsurlaubs. Dieser verfolgt einen anderen Zweck als der Anspruch auf Jahresurlaub. Der Mutterschaftsurlaub dient zum einen dem Schutz der körperlichen Verfassung der Frau während und nach der Schwangerschaft und zum anderen dem Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der Zeit, die an die Schwangerschaft und die Entbindung anschließt.2 Daraus zieht der EuGH in der Rs. Merino Gómez3 den Schluss, dass der Mutterschaftsurlaub sich nicht nachteilig auf den Urlaubsanspruch auswirken darf. Im Anlassfall entschied der Gerichtshof, dass eine Anrechnung des Urlaubsanspruchs auf die Zeit des Mutterschaftsurlaubs mit Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL und Art. 11 Nr. 2 Buchst. a RL 92/85/EWG nicht vereinbar sei.
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Für das Entstehen des Urlaubsanspruchs ist nach dem Bundesurlaubsgesetz allein das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses Voraussetzung. Der Urlaubsanspruch nach §§ 1, 3 BUrlG steht nicht unter der Bedingung, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat.4 Für Fälle krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bedeutet dies, dass der Urlaubsanspruch unabhängig davon entsteht, ob der Arbeitnehmer längere Zeit oder im gesamten Urlaubsjahr keine oder nur eine geringe Arbeitsleistung erbracht hat. Der Arbeitgeber kann in diesen Fällen nicht einwenden, das Urlaubsverlangen des Arbeitnehmers sei rechtsmissbräuchlich.5 Dies gilt nach der Rechtsprechung auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis (z.B. wegen Bezugs einer befristeten oder unbefristeten Erwerbsminderungsrente) krankheitsbedingt ruht.6 Das BAG hat daher eine tarifliche Regelung insoweit für unwirksam erklärt, als die Dauer des Erholungsurlaubs pro rata temporis um Zeiten des krankheitsbedingten Ruhens des Arbeitsverhältnisses gekürzt werden sollte.7 § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG sei entsprechend den vom EuGH in den Rs. Schultz-Hoff und Dominguez aufgestellten Grundsätzen richtlinienkonform auszulegen. Bestä-
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1 Vgl. hierzu auch Fieberg, NZA 2009, 929; Plüm, NZA 2013, 11 (13 f.); Powietzka/Christ, NZA 2013, 18. 2 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 – Merino Gómez, Slg. 2004, I-2605 – Rz. 32 = NZA 2004, 535; v. 27.10.1998 – Rs. C-411/96 – Boyle u.a., Slg. I-1998, I-6401 – Rz. 41; v. 30.4.1998 – Rs. C-136/95 – Thibault, Slg. 1998, I-2011 – Rz. 25; v. 12.7.1984 – Rs. 184/83 – Hofmann, Slg. 1984, 3047 – Rz. 25 = NJW 1984, 2754. 3 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 – Merino Gómez, Slg. 2004, I-2605 Rz. 37 f. = NZA 2004, 535. 4 St. Rspr., vgl. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216 m.w.N. 5 BAG v. 18.3.2003 – 9 AZR 190/02, NZA 2003, 1111; vgl. auch ErfK/Gallner, § 1 BUrlG Rz. 20 m.w.N. 6 BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216. 7 BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216.
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§7
Rz. 22
Urlaub
tigt werde das Entstehen von Urlaubsansprüchen im ruhenden Arbeitsverhältnis durch die Regelung in § 17 BEEG und § 4 ArbPlSchG, die eine Kürzungsmöglichkeit für Zeiten der Elternzeit1 und des Wehrdiensts vorsehen. 22
Das BAG geht im Grundsatz davon aus, dass auch in den Fällen eines nicht krankheitsbedingten Ruhens des Arbeitsverhältnisses Urlaubsansprüche entstehen.2 Der Arbeitgeber sei nur dann zur Kürzung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs berechtigt, wenn eine gesetzliche Regelung dies erlaube. Bestehe – wie z.B. beim Ruhen des Arbeitsverhältnisses während einer Pflegezeit (§§ 3, 4 PflegeZG) – keine solche Regelung, komme eine Kürzung des gesetzlichen Urlaubs nicht in Betracht. Eine Kürzungsregelung ist hingegen für die Elternzeit vorgesehen.3 Während der Elternzeit nach § 15 BEEG ruht das Arbeitsverhältnis.4 Das Gesetz geht davon aus, dass grundsätzlich auch während der Elternzeit Urlaubsansprüche entstehen. § 17 Abs. 1 BEEG berechtigt den Arbeitgeber jedoch, den Urlaubsanspruch für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel zu kürzen. Diese Kürzungsregelung verstößt nach den in der Rs. Heimann aufgestellten Grundsätzen nicht gegen Art. 7 ArbZ-RL, weil es sich um Fälle eines nicht krankheitsbedingten Ruhens des Arbeitsverhältnisses handelt (vgl. Rz. 19).5 Ob § 17 BEEG gegen den durch § 2 der Rahmenvereinbarung im Anhang der Elternurlaubsrichtlinie 2010/18/EU garantierten Elternurlaub verstößt, ist noch nicht abschließend geklärt. Gegen einen Verstoß sprechen die Ausführungen des EuGH in der Rs. Lewen6 zur Kürzung bzw. zum Wegfall einer Weihnachtsgratifikation während des Elternurlaubs. Danach können Zeiten, in denen das Arbeitsverhältnis wegen Elternurlaubs ruht, anspruchsmindernd berücksichtigt werden. Dies geht in dieselbe Richtung wie die Entscheidung in der Rs. Heimann und lässt sich auf eine anteilige Kürzung des Erholungsurlaubs übertragen.7 Für die Zeiten des Mutterschutzes (§§ 3 Abs. 2, 6 Abs. 1 MuSchG) stellen sich die vorstehenden Fragen nicht. § 17 Satz 1 MuSchG bestimmt ausdrücklich, dass der Urlaubsanspruch der Arbeitnehmerin im Mutterschutz in vollem Umfang fortbesteht.
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Noch nicht abschließend geklärt ist, was gilt, wenn das Arbeitsverhältnis wegen Kurzarbeit Null ruht. Der EuGH geht für den unionsrechtlichen Urlaubsanspruch in der Rs. Heimann davon aus, dass dieser für die Zeit der Kurzarbeit Null anteilig gekürzt werde (vgl. Rz. 19). Eine gesetzliche Regelung zur Kürzung des Urlaubsanspruch entsprechend § 17 Abs. 1 BEEG und § 4 Abs. 1 Satz 1 ArbPlSchG fehlt jedoch im nationalen Recht. Die Rechtsprechung wäre auch nicht gezwungen, die Ansicht des EuGH auf das deutsche Urlaubsrecht zu übertragen, weil Art. 7 ArbZ-RL gem. § 15 ArbZ-RL lediglich ein Mindestschutzniveau garantiert. Im Gegenteil könnte die Rechtsprechung zum Entstehen des Urlaubsanspruchs im ru1 Demgegenüber gelten Ausfallzeiten wegen mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote (§§ 3 Abs. 2 und 6 Abs. 1 MuSchG) als Beschäftigungszeiten und führen nicht zur Kürzung des Urlaubsanspruchs; BAG v. 17.5.2011 – 9 AZR 197/10, BAGE 138, 58 = DB 2012, 182 Rz. 32 f. 2 BAG v. 9.5.2014 – 9 AZR 678/12, NZA 2014, 959. 3 § 4 Abs. 1 Satz 1 ArbPlSchG sieht eine Kürzungsmöglichkeit für die Zeit des Wehrdienstes vor. 4 BAG v. 10.2.1993 – 10 AZR 450/91, NZA 1993, 801; v. 10.5.1989 – 6 AZR 660/87, NZA 1989, 759. 5 Vgl. auch LAG Nds. v. 16.11.2010 – 3 Sa 1288/10. 6 EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 – Lewen, Slg. 1999, I-7243-7287 = NZA 1999, 1325. 7 Für diese Lesart auch Schubert, NZA 2013, 1105 (1111); a.A. ArbG Karlsruhe v. 16.12.2011 – 3 Ca 281/11, welches eine richtlinienkonforme Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG dahingehend für geboten hält, dass die ersten drei Monate der Elternzeit von der Kürzungsregelung auszunehmen sind.
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Urlaubsdauer
Rz. 25 § 7
henden Arbeitsverhältnis sogar gegen eine anteilige Kürzung des Urlaubsanspruchs sprechen.1 Eine Übertragung dieser Rechtsprechung würde allerdings dem Ziel der Kurzarbeit, Arbeitsplätze durch eine wirtschaftliche Entlastung des Arbeitgebers dauerhaft zu sichern,2 entgegenlaufen. Im Ergebnis sprechen die überzeugenden Erwägungen des EuGH dafür, auch im nationalen Recht eine anteilige Kürzung des Urlaubanspruchs bei Kurzarbeit Null zu erlauben.3
IV. Urlaubsdauer 1. Allgemeines Der Mindesturlaub beträgt nach Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL vier Wochen. Eine weitergehende Konkretisierung der Urlaubsdauer enthält die Arbeitszeitrichtlinie nicht. Die Mitgliedstaaten haben insoweit einen Gestaltungsspielraum. Sie können die Urlaubsdauer z.B. nach Tagen oder nach Stunden berechnen. Es muss lediglich sichergestellt sein, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine vierwöchige Ruhezeit im Jahr hat. Bei einer Teilzeitbeschäftigung können die Mitgliedstaaten eine anteilige Kürzung des Jahresurlaubs vorsehen, sofern ein Mindesturlaub von vier Wochen gewährleistet bleibt. Der in § 4 Nr. 2 Anhang Teilzeitrichtlinie 97/81/EG geregelte Pro-rata-temporis-Grundsatz ist für Zeiten der Teilzeitbeschäftigung auch auf die Gewährung des Jahresurlaubs anzuwenden.4 Entsprechendes gilt bei Einführung von Kurzarbeit Null (vgl. Rz. 19).5
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Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beträgt der gesetzliche Mindesturlaub 24 Werktage. Das Gesetz geht insoweit vom Tagesprinzip aus. Der Arbeitnehmer kann grundsätzlich eine Befreiung von der Arbeitspflicht nur für Tage und nicht für Stunden verlangen.6 Der gesetzliche Mindesturlaub beruht auf einer 6-Tage-Woche. Verteilt sich die regelmäßige Arbeitszeit auf weniger als sechs Werktage pro Woche, ist die Zahl der Urlaubstage an die tatsächliche Arbeitsverpflichtung anzupassen, indem sie durch sechs geteilt und mit der Anzahl der tatsächlichen Arbeitstage multipliziert wird.7 Dies führt bei der üblichen 5-Tage-Woche zu einem gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen. Im Falle einer unregelmäßigen Verteilung der Arbeitszeit ist die Berechnung des Urlaubsanspruchs auf das Jahr zu beziehen.8 Bei einer Verkürzung der werktäglichen Arbeitszeit entspricht die Urlaubsdauer eines Teilzeitbeschäftigten der eines Arbeitnehmers in Vollzeit.9 Bei einer ungleichmäßigen Verteilung der reduzierten Arbeitszeit ist die Berechnung des Urlaubsanspruchs – wie bei einem Vollzeitarbeitnehmer – auf das Jahr zu beziehen. Im Ergebnis ist auf diese Weise sichergestellt, dass jeder Arbeitnehmer über einen gesetzlichen Min-
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1 Vgl. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216; v. 9.5.2014 – 9 AZR 678/12, NZA 2014, 959. 2 Vgl. BAG v. 22.12.1980 – 1 ABR 2/79, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 70. 3 So auch Bayreuther, DB 2012, 2748 (2749 f.); Rudkowski, NZA 2012, 74; Rudkowski, EuZA 2013, 260; Schaub/Linck, § 47 Rz. 10a, § 104 Rz. 48e; a.A. HWK/Schinz, § 3 BurlG Rz. 41a. 4 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 33 = NZA 2010, 557. 5 EuGH v. 8.11.2012 – verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 – Heimann u.a., NZA 2012, 1273 – Rz. 32. 6 BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 240/00, NZA 2001, 1254. 7 BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 240/00, NZA 2001, 1254 (1256). 8 Vgl. BAG v. 5.11.2002 – 9 AZR 470/01, AP TVG § 1 Tarifverträge: Chemie Nr. 15: Vorgeschriebene Arbeitstage Urlaub/Jahr × tatsächliche Arbeitstage/Jahr: mögliche Arbeitstage/ Jahr = Arbeitstage Urlaub/Jahr. 9 BAG v. 14.2.1991 – 8 AZR 97/90, NZA 1991, 777.
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§7
Rz. 26
Urlaub
desturlaub von vier Wochen verfügt, so dass den unionsrechtlichen Anforderungen genügt ist. 2. Änderung der Arbeitszeit 26
Die Berechnung der Urlaubsdauer bereitet keine Schwierigkeiten, wenn die Arbeitszeit des Arbeitnehmers während des gesamten Bezugszeitraums unverändert bleibt. Reduziert der Arbeitnehmer mit Wirkung zu Jahresbeginn seine Arbeitszeit, können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Jahresurlaub nach vorstehenden Grundsätzen anteilig gekürzt wird (vgl. Rz. 25). Diese Kürzung darf allerdings nicht übertragene Urlaubsansprüche erfassen, die der Arbeitnehmer vor der Verringerung der Arbeitszeit in einem vorangegangenen Bezugszeitraum erworben hat. Der EuGH hat in den Rs. „Tirol“1 und Brandes2 entschieden, dass übertragene Urlaubsansprüche aus den Zeiten einer Vollbeschäftigung bei einem späteren Wechsel in eine Teilzeitbeschäftigung nicht gekürzt werden dürfen, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub im (vorangegangenen) Bezugszeitraum (z.B. wegen Krankheit) tatsächlich nicht in Anspruch nehmen konnte. Der Gerichtshof begründet dies damit, dass die Inanspruchnahme zu einer späteren Zeit als dem Bezugszeitraum in keiner Beziehung zu der in dieser späteren Zeit vom Arbeitnehmer erbrachten Arbeitszeit stehe. Folglich dürfe durch eine Verringerung der Arbeitszeit bei einem Übergang von einer Vollzeit- zu einer Teilzeittätigkeit der übertragene Anspruch auf Jahresurlaub, den der Arbeitnehmer in der Zeit der Vollbeschäftigung erworben hat, nicht gekürzt werden. Auf den ersten Blick mag dieses Ergebnis verwundern, weil es hierdurch de facto zu einer Verlängerung der Urlaubszeit kommen kann. Der Arbeitnehmer kann mit den (ungekürzten) Urlaubsansprüchen aus dem Vorjahr eine längere Freistellung erwirken. Da der EuGH den Urlaubsanspruch als Einheitsanspruch bestehend aus Freistellung und Urlaubsvergütung ansieht (vgl. Rz. 7), ist dies jedoch konsequent. Hat der Arbeitnehmer im vergangenen Bezugszeitraum einen Anspruch auf Vollzeiturlaub mit Vollzeiturlaubsentgelt erworben, kann ihm dieser nicht nachträglich entzogen werden.
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Mit den Folgen eines Wechsels in eine Teilzeitbeschäftigung im laufenden Bezugszeitraum hat sich der EuGH bislang noch nicht auseinandergesetzt. Die Entscheidungen in den Rs. „Tirol“3 und Brandes4 bezogen sich ausschließlich auf die Frage, ob eine anteilige Kürzung übertragener Urlaubsansprüche aus einer Vollzeittätigkeit nach einem Wechsel in eine Teilzeittätigkeit mit Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL vereinbar ist. Die nachträgliche Kürzung übertragener Urlaubsansprüche lässt sich jedoch nicht ohne weiteres mit einer Umrechnung von Urlaubsansprüchen während des laufenden Bezugszeitraums vergleichen. Übertragene Urlaubsansprüche stehen – worauf der Gerichtshof ausdrücklich hinweist – in keiner Beziehung zu der im späteren Bezugszeitraum erbrachten Arbeitsleistung.5 Dies ist im laufenden Bezugszeitraum anders. Der Urlaubsanspruch und das Urlaubsentgelt sind unmittelbar mit der im Bezugszeitraum 1 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 32 = NZA 2010, 557. 2 EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 3 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 32 = NZA 2010, 557. 4 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 33 = NZA 2010, 557; v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 5 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 32 = NZA 2010, 557; v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 30.
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Mehrens/Witschen
Urlaubsdauer
Rz. 28 § 7
erbrachten Arbeitsleistung verknüpft. Vor diesem Hintergrund können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass sich der Urlaubsanspruch fortlaufend dem jeweiligen Beschäftigungsgrad zum Zeitpunkt der Urlaubsgewährung anpasst. Während der Zeit der Vollbeschäftigung hat der Arbeitnehmer den vollen Urlaubsanspruch. Nimmt er seinen gesamten Urlaub vor dem Wechsel in die Teilzeit, hat der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch erfüllt und eine anteilige Umrechnung entfällt. Ist der Urlaubsanspruch hingegen noch nicht erfüllt, sind die verbleibenden Urlaubstage grundsätzlich anteilig zu kürzen (vgl. zur Umrechnung des Urlaubsentgeltanspruchs vgl. Rz. 24).1 Der Urlaubsanspruch wird dadurch nicht „nachträglich“ gekürzt, sondern lediglich an die innerhalb des Bezugszeitraums geschuldete Arbeitszeit angepasst. Einer solchen Umrechnung des Urlaubsanspruchs stehen die Ausführungen des EuGH in den Rs. „Tirol“2 und Brandes3 nicht entgegen. Der Gerichtshof hat lediglich klargestellt, dass eine Umrechnung von Urlaubsansprüchen ausscheidet, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich nicht die Möglichkeit hatte, den Urlaub zu nehmen. Übertragen auf einen Wechsel in die Teilzeittätigkeit hat dies zur Folge, dass eine Umrechnung nicht verbrauchter Urlaubsansprüche lediglich dann ausscheidet, wenn der Arbeitnehmer (z.B. wegen Krankheit) tatsächlich daran gehindert war, den Urlaub vor dem Wechsel in die Teilzeittätigkeit zu nehmen. Eine solche Sichtweise fügt sich nahtlos in die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verfall von Urlaubsansprüchen ein (vgl. Rz. 47 ff.). Auch insoweit können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Urlaub verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht innerhalb des Bezugszeitraums nimmt. Nur für den Fall, dass es dem Arbeitnehmer tatsächlich nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen, ist der Urlaubsanspruch auf das nächste Jahr zu übertragen.4 Eine unterjährige Kürzung der Urlaubsansprüche hat der EuGH auch im Zusammenhang mit der Einführung von Kurzarbeit Null in der Rs. Heimann5 zugelassen und dies damit begründet, dass Kurzarbeiter als „vorübergehend teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer“ anzusehen seien (vgl. Rz. 19). Es ist nicht ersichtlich, warum eine Umrechnung des Urlaubsanspruchs bei einer permanenten Reduzierung der Arbeitszeit durch einen Wechsel in eine Teilzeittätigkeit anders behandelt werden sollte. Zur unterjährigen Erhöhung der Arbeitszeit hat sich der EuGH bislang ebenfalls nicht geäußert. Im Ergebnis kann jedoch nichts anderes gelten als bei einem unterjährigen Übergang von Voll- auf Teilzeit oder einer unterjährigen Verringerung des Teilzeitumfangs. Hat der Arbeitnehmer seinen gesamten, anteilig gekürzten Urlaub bereits vor der Erhöhung der Arbeitszeit genommen, besteht kein Anpassungsbedarf. Der Arbeitnehmer hat dann seinen Urlaubsanspruch verbraucht. Sind noch Urlaubsansprüche offen, sind diese entsprechend umzurechnen, d.h. in diesem Fall zu erhöhen, um sicherzustellen, dass der Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen gewahrt wird.6 Die anteilige Umrechnung gilt auch für übertragene Urlaubsansprüche aus vorangegangenen Bezugszeiträumen. Zwar könnte man die Ausführungen des EuGH in
1 So auch Latzel, EuZA 2014, 80 (88); Schubert, NZA 2013, 1105 (1107 ff.); a.A. offenbar ErfK/ Gallner, § 3 BUrlG – Rz. 20; HWK/Schinz, § 3 BurlG Rz. 37; Stiebert/Imani, NZA 2013, 1338 (1339 f.). 2 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 34 = NZA 2010, 557. 3 EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 4 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 – Rz. 43 = NZA 2009, 135. 5 EuGH v. 8.11.2012 – Rs. C-229/11, verb. Rs. C-229/11 und C-230/11 – Heimann u.a., NZA 2012, 1273 – Rz. 32. 6 Schubert, NZA 2013, 1105 (1110).
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§7
Rz. 29
Urlaub
den Rechtssachen „Tirol“1 und Brandes2 auch als Indiz dafür werten, dass übertragene Urlaubsansprüche „festgeschrieben“ werden. Eine solche Sichtweise liefe jedoch dem Erholungszweck des Urlaubsanspruchs zuwider. Ist dem Arbeitnehmer eine Inanspruchnahme des Urlaubs tatsächlich nicht möglich, soll ihm durch die Übertragung der offenen Urlaubsansprüche die Möglichkeit gegeben werden, den Urlaub zu nehmen (vgl. Rz. 48). Der EuGH geht davon aus, dass die Ruhezeit ihre Bedeutung nicht verliert, wenn sie zu einer späteren Zeit genommen wird.3 Würde man die übertragenen Urlaubsansprüche nicht an den erhöhten Arbeitsumfang anpassen, würden sie jedoch faktisch gekürzt, weil der Arbeitnehmer mit den übertragenen Urlaubsansprüchen eine kürzere Zeit der Freistellung erreichen könnte. Um dies zu vermeiden, sind auch übertragene Urlaubsansprüche an den erhöhten Arbeitszeitumfang anzupassen. 29
Ändert sich im Verlaufe eines Kalenderjahres die Verteilung der Arbeitszeit auf weniger oder mehr Arbeitstage in der Kalenderwoche, verkürzt oder verlängert sich die Dauer des gesetzlichen Urlaubsanspruchs. Die Urlaubsdauer ist dann jeweils unter Berücksichtigung der dann für den Arbeitnehmer maßgeblichen Verteilung der Arbeitszeit neu zu berechnen.4 Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG gilt dies auch für nach § 7 Abs. 3 BUrlG übertragene Resturlaubsansprüche, wenn der Arbeitnehmer im Folgejahr seine Arbeitszeit reduziert.5 Hieran wird nach den vom EuGH in den Rs. „Tirol“6 und Brandes7 aufgestellten Grundsätzen nicht einschränkungslos festgehalten werden können. Gegen eine Umrechnung des Urlaubsanspruchs bei einem Wechsel in eine Teilzeittätigkeit bestehen zwar grundsätzlich keine unionsrechtlichen Bedenken.8 Die Rechtsprechung wird jedoch bei einer unterjährigen Arbeitszeitreduzierung eine Ausnahme von dem Umrechnungsgebot machen müssen, soweit der Arbeitnehmer (z.B. wegen Krankheit) tatsächlich gehindert war, den Urlaub vor der Arbeitszeitreduzierung zu nehmen. Im Hinblick auf die Umrechnung übertragener Urlaubsansprüche wird das BAG seine Rechtsprechung ebenfalls an die unionsrechtlichen Vorgaben anzupassen haben, so dass übertragene Urlaubsansprüche bei einer Arbeitszeitverkürzung nicht umzurechnen sind. Diese Modifikationen lassen sich jedoch im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung (vgl. § 1 Rz. 142 ff.) des nationalen Urlaubsrechts bewerkstelligen.
1 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 32 = NZA 2010, 557. 2 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 33 = NZA 2010, 557; v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 3 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-129 – Rz. 30 = NZA 2009, 135. 4 BAG v. 5.9.2002 – 9 AZR 244/01, NZA 2003, 726; 28.4.1998 – 9 AZR 314/97, NZA 1999, 156. 5 BAG v. 28.4.1998 – 9 AZR 314/97, NZA 1999, 156; a.A. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH nunmehr LAG Berlin-Bbg. v. 12.6.2014 – 21 Sa 221/14, BeckRS 2014, 71707; LAG Nds. v. 11.6.2014 – 2 Sa 125/14, BeckRS 2014, 71096. 6 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 32 = NZA 2010, 557. 7 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 33 = NZA 2010, 557; v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 8 LAG Hess. v. 11.6.2013 – 8 SaGa 224/13; Fieberg, NZA 2010, 925; Latzel, EuZA 2014, 80; Schubert, NZA 2013, 1105; a.A. Stiebert/Imani, NZA 2013, 1338.
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Mehrens/Witschen
Festlegung des Urlaubszeitraums
Rz. 33 § 7
3. Gleichbehandlung Soweit Arbeitnehmern über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehende Urlaubsansprüche gewährt werden, finden die Vorgaben des Art. 7 ArbZ-RL keine Anwendung. Es ist allerdings der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten. Insbesondere dürfen solche Urlaubsregelungen keine diskriminierende Wirkung i.S.v. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Gleichb-RL entfalten. In der Rs. Hay1 ist der EuGH daher davon ausgegangen, dass tariflicher Sonderurlaub, der Arbeitnehmern aus Anlass ihrer Eheschließung gewährt wird, regelmäßig auch Arbeitnehmern zu gewähren ist, die eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft eingehen – im Anlassfall einen „zivilen Solidaritätspakt“ nach französischem Recht (Pacte civil de solidarité).
30
Arbeitsvertragliche oder kollektivrechtliche Bestimmungen, nach denen über den gesetzlichen Mindesturlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz hinausgehender Urlaub gewährt wird, müssen mit dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und den Diskriminierungsverboten der §§ 1, 7 AGG vereinbar sein. So hat das BAG in einer tarifvertraglichen Staffelung der Urlaubsdauer nach Altersstufen, wonach Beschäftigte erst nach der Vollendung des 40. Lebensjahres in jedem Kalenderjahr Anspruch auf eine erhöhte Zahl von Arbeitstagen Urlaub haben, einen Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung nach § 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG gesehen mit der Folge, dass die Regelung nach § 7 Abs. 2 AGG i.V.m. § 134 BGB unwirksam sei.2 In derartigen Fällen geht die Rechtsprechung davon aus, dass die Diskriminierung durch eine Angleichung der Urlaubsansprüche „nach oben“ zu beseitigen ist.3
31
V. Festlegung des Urlaubszeitraums 1. Allgemeines Art. 7 ArbZ-RL trifft keine Regelung zur zeitlichen Festlegung des Jahresurlaubs. Es obliegt den Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen und die Umsetzung des Jahresurlaubs zu regeln. Der EuGH hat in den Rs. Vincente Pereda4 und Maestre Garcia5 allerdings betont, dass die Mitgliedstaaten hierbei die gegenläufigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber, insbesondere zwingende Gründe des Unternehmensinteresses, zu berücksichtigen haben.6
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Die zeitliche Festlegung des Urlaubs obliegt dem Arbeitgeber.7 Es besteht kein Recht des Arbeitnehmers zur Selbstbeurlaubung.8 Allerdings sind bei der zeitlichen Festlegung des Freistellungszeitraums gem. § 7 Abs. 1 BUrlG die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, sofern dem keine dringenden betrieblichen
33
1 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-267/12 – Hay, NZA 2014, 153 Rz. 47; vgl. zur eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem LPartG auch EuGH v. 10.5.2011 – Rs. C-147/08 – Römer, Slg. 2011, I-3591 – Rz. 52 = NZA 2011, 557. 2 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803 Rz. 12 ff. 3 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803 Rz. 27 ff. 4 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-277/08 – Vicente Pereda, Slg. 2009, I-8405 – Rz. 22 = NZA 2009, 1133. 5 EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-194/12 – Maestre Garcia, NZA 2013, 369 – Rz. 22 ff. 6 Vgl. auch Art. 10 ILO-Übereinkommen Nr. 132. 7 BAG v. 17.5.2011 – 9 AZR 189/10, NZA 2011, 1032 – Rz. 19; v. 14.8.2007 – 9 AZR 934/06, NZA 2008, 473 Rz. 11. 8 BAG v. 25.1.1994 – 9 AZR 312/92, NZA 1994, 652; vgl. auch v. 25.10.1994 – 9 AZR 339/93, NZA 1995, 591.
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§7
Rz. 34
Urlaub
Erfordernisse oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer entgegenstehen. Sofern der Arbeitnehmer keinen Urlaubswunsch äußert, ist der Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des BAG berechtigt, aber nicht verpflichtet, den Urlaubszeitraum von sich aus zu bestimmen.1 Das LAG Hamm hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob diese Rechtsprechung mit Art. 7 ArbZ-RL vereinbar ist oder ob Arbeitgeber mit Blick auf die Gesundheit und Sicherheit des Arbeitnehmers verpflichtet seien, dem Arbeitnehmer auch ohne ausdrücklichen Urlaubsantrag bis zum Ablauf des Bezugs- bzw. Übertragungszeitraums Urlaub zu gewähren.2 Anhaltspunkte für eine solche Verpflichtung des Arbeitgebers lassen sich der Antwort des EuGH jedoch nicht entnehmen.3 Ausreichend ist vielmehr, dass der Arbeitnehmer die „tatsächliche Möglichkeit“ hatte, den Urlaub zu nehmen.4 2. Krankheitsurlaub 34
Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub kann auch während des Krankheitsurlaubs – so die Terminologie des EuGH für Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit – erfüllt werden. Der EuGH hat in der Rs. Schultz-Hoff5 entschieden, dass Art. 7 ArbZ-RL nationalen Vorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegenstehe, nach denen der Arbeitnehmer trotz Krankheit bezahlten Urlaub nehmen könne. Urlaub und Krankheit schließen sich demnach nicht zwingend aus. Allerdings ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, sich Krankheitszeiten während des Urlaubs auf den Urlaubsanspruch anrechnen zu lassen. Der EuGH hat in der Rs. Vincente Pereda6 betont, dass der während des Urlaubs erkrankte Arbeitnehmer den Jahresurlaub auch zu einem anderen Zeitpunkt nehmen könne. Der „Krankheitsurlaub“ solle es dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich von einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden Krankheit zu erholen und diene damit einem anderen Zweck als der Jahresurlaub (vgl. Rz. 7). Die Gewährung dieses „zusätzlichen“ Jahresurlaubs richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. Rz. 32). Scheidet danach eine Urlaubsgewährung – z.B. wegen entgegenstehender berechtigter Unternehmensinteressen – während des laufenden Bezugszeitraums aus, ist der Urlaub zu übertragen und zu einem späteren Zeitpunkt zu gewähren.7 Eine Abgeltung des Jahresurlaubs, den der Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht in Anspruch genommen hat, ist ausgeschlossen, sofern das Arbeitsverhältnis nicht beendet wurde.8
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§ 9 BUrlG bestimmt, dass durch ärztliches Zeugnis nachgewiesene Krankheitstage nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden. Anders als nach unionsrechtlichem Verständnis schließen sich Urlaub und Arbeitsunfähigkeit danach aus. Ist der Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig, ist der Anspruch auf Urlaub 1 BAG v. 15.9.2011 – 8 AZR 846/08, NZA 2012, 377 – Rz. 66; v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538 – Rz. 23; a.A. LAG Berlin-Bbg. v. 12.6.2014 – 21 Sa 221/14, BeckRS 2014, 71707. 2 LAG Hamm 14.2.2013 – 16 Sa 1511/12, AuR 2013, 362. 3 EuGH v. 12.6.2014 – Rs. C-118/13 – Bollacke, NZA 2014, 651. 4 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 43 = NZA 2009, 135. 5 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 31 = NZA 2009, 135; bestätigt durch EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-194/12 – Maestre Garcia, NZA 2013, 369 – Rz. 22. 6 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-277/08 – Vicente Pereda, Slg. 2009, I-8405 – Rz. 22 = NZA 2009, 1133; bestätigt durch EuGH v. 21.6.2012 – Rs. C-78/11 – ANGED, NZA 2012, 851 – Rz. 21; v. 21.2.2013 – Rs. C-194/12 – Maestre Garcia, NZA 2013, 369 – Rz. 21. 7 Vgl. EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-277/08 – Vicente Pereda, Slg. 2009, I-8405 – Rz. 22 = NZA 2009, 1133. 8 EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-194/12 – Maestre Garcia, NZA 2013, 369 – Rz. 26 ff.
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Festlegung des Urlaubszeitraums
Rz. 37 § 7
nach der Rechtsprechung des BAG nicht erfüllbar.1 Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf erneute Gewährung des wegen Krankheit nicht erfüllten Urlaubsanspruchs, wenn er die Dauer und die Lage der Krankheit durch ärztliches Attest nachweisen kann.2 Die Attestpflicht ist mit den unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar. Die Mitgliedstaaten können die Bedingungen der Inanspruchnahme des Urlaubs regeln (vgl. Rz. 32). Die Attestpflicht bewegt sich in diesem Rahmen. Sie stellt den Fortbestand des Urlaubsanspruchs für Krankheitstage an sich nicht in Frage und erschwert auch die praktische Geltendmachung nicht über Gebühr, zumal ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers am Krankheitsnachweis besteht. 3. Mutterschaftsurlaub Ebenso wie der Krankheitsurlaub dient auch der durch Art. 8 und 11 RL 92/85/EWG gewährleistete Mutterschaftsurlaub einem anderen Zweck als der Anspruch auf Jahresurlaub. Der Mutterschaftsurlaub dient nicht der Erholung, sondern dem Schutz der körperlichen Verfassung der Arbeitnehmerin während und nach der Schwangerschaft sowie dem Schutz der besonderen Mutter-Kind-Beziehung.3 Vor diesem Hintergrund hat der EuGH in der Rs. Merino Gómez4 entschieden, dass eine Arbeitnehmerin ihren Jahresurlaub zu einer anderen Zeit nehmen können muss, wenn der Jahresurlaub zeitlich mit dem Mutterschaftsurlaub zusammenfällt.
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Der gesetzliche Urlaubsanspruch wird durch Zeiten des Mutterschutzes nicht berührt, sondern besteht im vollen Umfang fort (vgl. Rz. 20). In Übereinstimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben lehnt das BAG eine Verrechnung von Freistellungszeiten aufgrund eines Beschäftigungsverbotes mit dem Urlaubsanspruch aufgrund der unterschiedlichen Zwecksetzung ab.5 Hat eine Arbeitnehmerin ihren Urlaub vor Beginn der mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote nicht oder nicht vollständig erhalten, kann sie ihn gem. § 17 Satz 2 MuSchG nach Ablauf der entsprechenden Fristen im laufenden oder nächsten Urlaubsjahr nehmen. Hat hingegen der Arbeitgeber auf Antrag der Arbeitnehmerin zu Beginn des Urlaubsjahres den Urlaub zeitlich festgelegt, besteht nach der Rechtsprechung des BAG kein Anspruch auf eine Neufestsetzung, wenn die Arbeitnehmerin danach schwanger wird und für die vorgesehene Urlaubszeit einem Beschäftigungsverbot unterliegt.6 Durch die Freistellung habe der Arbeitgeber seine Verpflichtung erfüllt. Damit erlösche der Urlaubsanspruch, weil dem Arbeitgeber eine weitere Freistellung unmöglich sei, ohne dass er dies zu vertreten habe (§§ 326 Abs. 1 Satz 1, 275 Abs. 1 BGB). Ob diese Rechtsprechung mit den unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist, ist zweifelhaft. Nach den in der Rs. Merino Gómez7 aufgestellten Grundsätzen müssen Arbeitnehmerinnen ihren Jahresurlaub zu einer anderen Zeit nehmen können, wenn der Jahresurlaub zeitlich mit dem Mutterschaftsurlaub zusammenfällt.
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1 BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810 – Rz. 43; v. 9.6.1988 – 8 AZR 755/85, NZA 1989, 137. 2 Vgl. zur Attestpflicht ErfK/Gallner, § 9 BUrlG Rz. 5; Schaub/Linck, § 104 Rz. 56 f. 3 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 – Merino Gómez, Slg. 2004, I-2605 – Rz. 32 = NZA 2004, 535; v. 27.10.1998 – Rs. C-411/96 – Boyle u.a., Slg. I-1998, I-6401 – Rz. 41; v. 30.4.1998 – Rs. C-136/95 – Thibault, Slg. 1998, I-2011 – Rz. 25; v. 12.7.1984 – Rs. 184/83 – Hofmann, Slg. 1984, 3047 – Rz. 25 = NJW 1984, 2754. 4 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 – Merino Gómez, Slg. 2004, I-2605 – Rz. 38 = NZA 2004, 535. 5 BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 219/07, NZA 2008, 1237; v. 25.1.1994 – 9 AZR 312/92, NZA 1994, 652. 6 BAG v. 9.8.1994 – 9 AZR 384/92, NZA 1995, 174. 7 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 – Merino Gómez, Slg. 2004, I-2605 = NZA 2004, 535.
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§7
Rz. 38
Urlaub
Dem lässt sich dadurch gerecht werden, dass Zeiten eines Beschäftigungsverbots nicht auf den Urlaubsanspruch angerechnet werden.1
VI. Urlaubsentgelt 1. Berechnung des Urlaubsentgelts a) Allgemeines 38
Nach Art. 7 Abs. 1 ArbZ-RL hat der Arbeitnehmer Anspruch auf einen „bezahlten“ vierwöchigen Jahresurlaub. Nach dem Verständnis des EuGH ist der Entgeltanspruch integraler Bestandteil des Urlaubsanspruchs, dem eine genauso hohe Bedeutung wie dem mit der Freistellung angestrebten Erholungszweck zukommt (vgl. Rz. 7). Das Urlaubsentgelt soll es dem Arbeitnehmer ermöglichen, den Urlaub tatsächlich zu nehmen.2 Der EuGH hat in der Rs. Robinson-Steele3 entschieden, dass dem Arbeitnehmer während des Urlaubs das gewöhnliche Arbeitsentgelt zur Verfügung stehen müsse. Der Arbeitgeber sei daher verpflichtet, für die Dauer des Jahresurlaubs das Arbeitsentgelt weiterzugewähren. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass der Arbeitnehmer aufgrund von finanziellen Nachteilen den Urlaub nicht in Anspruch nehme.4
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Gemäß § 1 BUrlG haben Arbeitnehmer Anspruch auf einen „bezahlten“ Urlaub. Der Urlaubsentgeltanspruch ist nach dem Verständnis des BAG allerdings kein Bestandteil des Urlaubsanspruchs. Der Urlaubsanspruch erschöpft sich nach nationalem Verständnis in einer Freistellung von der Arbeitspflicht (vgl. Rz. 8). Der Arbeitgeber schuldet ein Urlaubsentgelt in Höhe des Arbeitsentgelts, welches der Arbeitgeber während des Urlaubs an den Arbeitnehmer zu zahlen hätte.5 Der Arbeitnehmer behält demzufolge für die Dauer des Urlaubs seinen Anspruch auf die arbeits- oder tarifvertragliche Vergütung. Im Grundsatz ist die Rechtsprechung trotz des unterschiedlichen Verständnisses vom Urlaubsbegriff mit den unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar. b) Feststellung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts
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Hinsichtlich der konkreten Berechnung des Urlaubsentgelts trifft die Arbeitszeitrichtlinie keine Regelung. Dies bereitet keine Schwierigkeiten, wenn der Arbeitnehmer ausschließlich ein festes Arbeitsentgelt erhält. Dann ist dieses Arbeitsentgelt auch während der Dauer des Jahresurlaubs fortzuzahlen. Besteht das vom Arbeitnehmer bezogene Entgelt jedoch aus mehreren Bestandteilen, erfordert die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts eine spezifische Prüfung. In den Rs. Williams6 und Lock7 1 Vgl. auch BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 251/04, NZA 2006, 439, zu Zeiten der Freistellung aufgrund des THW-Helferrechtsgesetzes. 2 EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 49 = NZA 2006, 481. 3 EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 50 = NZA 2006, 481; bestätigt durch EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-155/10 – Williams u.a., Slg. 2011 I-8409 – Rz. 19 = NZA 2011, 1167. Vgl. auch Art. 7 Abs. 1 ILO-Übereinkommen Nr. 132. 4 EuGH v. 22.5.2014 – Rs. C-539/12 – Lock, NZA 2014, 593. 5 BAG v. 22.2.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041; v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, AP BUrlG § 11 Nr. 66. 6 EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-155/10 – Williams u.a., Slg. 2011 I-8409 – Rz. 24 ff. = NZA 2011, 1167; kritisch hierzu Sutschet, EuZA 2012, 399. 7 EuGH v. 22.5.2014 – Rs. C-539/12 – Lock, NZA 2014, 593.
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Mehrens/Witschen
Urlaubsentgelt
Rz. 42 § 7
hat der EuGH hierzu Leitlinien aufgestellt, die die nationalen Gerichte bei der Berechnung des Urlaubsentgelts zu beachten haben. Danach sind alle Entgeltbestandteile, die für mit der Erfüllung der arbeitsvertraglichen Aufgaben verbundene Unannehmlichkeiten gezahlt werden, Bestandteil des gewöhnlichen Arbeitsentgelts und somit für die Dauer des Jahresurlaubs fortzuzahlen. Dies gilt auch für Provisionsansprüche, die der Arbeitnehmer aufgrund des Urlaubs nicht verdienen kann. Fortzuzahlen sind des weiteren Entgeltbestandteile, die an die persönliche und berufliche Stellung des Arbeitnehmers anknüpfen (z.B. Zulagen für eine leitende Position, eine berufliche Qualifikation oder eine bestimmte Dauer der Betriebszugehörigkeit). Dagegen bleiben Entgeltbestandteile, die ausschließlich dem Arbeitnehmer bei der Erfüllung der nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben entstehende Kosten decken sollen, bei der Berechnung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts außer Betracht. Die hiernach erforderliche Prüfung des inneren Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Bestandteilen des Gesamtentgelts des Arbeitnehmers und den ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegenden Pflichten haben die nationalen Gerichte auf der Basis eines Durchschnittswerts über einen hinreichend repräsentativen Referenzzeitraum und unter Berücksichtigung des Zwecks des Urlaubsentgelts vorzunehmen. Das nach nationalem Recht für die Dauer des Urlaubs zu zahlende Urlaubsentgelt berechnet sich aus einem Zeitfaktor und einem Geldfaktor. Der Zeitfaktor beziffert die während des Urlaubszeitraums ausfallende Arbeitszeit, für die das Urlaubsentgelt fortzuzahlen ist. Der Geldfaktor bemisst den für die Urlaubszeit zugrunde zu legenden Verdienst. Das während des Urlaubs fortzuzahlende Entgelt errechnet sich durch Multiplikation des Zeitfaktors mit dem Geldfaktor. Die Berechnung des Geldfaktors ist in § 11 Abs. 1 BUrlG geregelt. Danach ist grundsätzlich das in den letzten 13 Wochen vor der Urlaubsgewährung erhaltene Arbeitsentgelt maßgeblich.1 Zur Feststellung des Arbeitsverdienstes sind alle Entgeltbestandteile zugrunde zu legen, die der Arbeitnehmer im Referenzzeitraum als Gegenleistung für seine Arbeitsleistung erhalten hat.2 Ausgenommen sind für Überstunden geleistete Vergütungen und Einmalzahlungen. Grundsätzlich unberücksichtigt bleiben ferner Aufwandsentschädigungen und Spesen, weil diese einen tatsächlichen Aufwand voraussetzen und daher kein Arbeitsentgelt darstellen.3 Diese Berechnungsgrundsätze bewegen sich innerhalb der europarechtlichen Vorgaben.4
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Von den Berechnungsregeln des § 11 BUrlG wird in den meisten Tarifverträgen abgewichen. § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG eröffnet den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, auch zuungunsten der Arbeitnehmer von § 11 BUrlG abzuweichen. Sie sind danach grundsätzlich frei, jede ihnen als angemessen erscheinende Berechnungsmethode zu wählen. Dies gilt nach der Rechtsprechung jedoch für den gesetzlichen Urlaubsanspruch nicht uneingeschränkt. Um die unionsrechtlichen Vorgaben zu wahren, muss die tarifvertragliche Berechnungsmethode geeignet sein, ein Urlaubsentgelt sicherzustellen, wie es der Arbeitnehmer bei Weiterarbeit ohne Frei-
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1 BAG v. 22.2.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041 (1044); v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, AP BUrlG § 11 Nr. 66. 2 BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 510/09, NZA 2011, 805; v. 20.6.2000 – 9 AZR 437/99, NZA 2001, 625. 3 BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 257/00, NZA 2002, 1338; ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 14. 4 BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 510/09, NZA 2011, 805 – Rz. 19; ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 2; offen gelassen LAG Düsseldorf v. 4.5.2011 – 12 Sa 1832/10, LAGE BUrlG § 7 Nr. 49; Zweifel hinsichtlich der Europakonformität von § 11 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BurlG äußern Franzen, NZA 2014, 647 und Sutschet, EuZA 2012, 399 (406 ff.).
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§7
Rz. 43
Urlaub
stellung voraussichtlich hätte erwarten können.1 Zulässig ist danach z.B. die Berechnung des Urlaubsentgelts entsprechend dem konkreten Lohnausfall, die Erweiterung des gesetzlichen Referenzzeitraums oder eine Vereinfachung der Entgeltberechnung anhand von Pauschalierungen für variable Lohnbestandteile. Überschritten ist der Gestaltungsspielraum allerdings, wenn feste Vergütungsbestandteile aus dem zu zahlenden Urlaubsentgelt herausgenommen werden. Hinsichtlich des übergesetzlichen Mehrurlaubs können die Arbeits- und Tarifvertragsparteien weiterreichende Abweichungen von den gesetzlichen Berechnungsvorschriften treffen, weil sowohl das Unionsrecht als auch das Bundesurlaubsgesetz lediglich Vorgaben für den Mindesturlaub enthalten.2 c) Besonderheiten bei Teilzeittätigkeit 43
Im Grundsatz bemisst sich auch bei einer Teilzeittätigkeit das Urlaubsentgelt nach dem regelmäßigen Arbeitsentgelt. Von diesem Grundsatz sind nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch Ausnahmen zu machen. Der EuGH hat in den Rs. „Tirol“3 und Brandes4 entschieden, dass übertragene Urlaubsansprüche aus den Zeiten einer Vollbeschäftigung bei einem späteren Wechsel in eine Teilzeitbeschäftigung nicht gekürzt werden dürfen, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub im vorangegangenen Bezugszeitraum nicht in Anspruch nehmen konnte. Dieses „Kürzungsverbot“ bezieht sich nicht nur auf die Urlaubsdauer (vgl. Rz. 26 ff.), sondern auch auf den Urlaubsentgeltanspruch. Nach dem Verständnis des EuGH ist der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts integraler Bestandteil des Urlaubsanspruchs, so dass ein einmal erworbener Anspruch auf Vollzeiturlaub mit Vollzeiturlaubsentgelt dem Arbeitnehmer nicht nachträglich entzogen werden kann. Dem Arbeitnehmer bleibt in einem solchen Fall der ungekürzte Urlaubsentgeltanspruch erhalten. Bei einem Wechsel in eine Teilzeittätigkeit im laufenden Bezugszeitraum wird der Urlaubsanspruch grundsätzlich an die geänderte Arbeitszeit angepasst. Etwas anderes gilt nur, soweit dem Arbeitnehmer eine Inanspruchnahme des Urlaubs tatsächlich unmöglich war. In diesem Fall scheidet eine Umrechnung aus (vgl. Rz. 27). Dies hat zur Folge, dass auch der Urlaubsentgeltanspruch für den Zeitraum der Vollzeittätigkeit nicht gekürzt werden darf.
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Bei Teilzeitbeschäftigten hängt die Berechnung des Urlaubsentgelts nach der bisherigen Rechtsprechung von der Anzahl der Arbeitsstunden ab, die an den einzelnen Urlaubstagen ausfallen.5 Dies hat bei einer Verringerung der täglichen Arbeitszeit in der Regel eine Kürzung des Urlaubsentgeltanspruchs zur Folge. Im Grundsatz bestehen hiergegen keine unionsrechtlichen Bedenken. Der EuGH hat in der Rs. „Tirol“6 klargestellt, dass bei einer Teilzeittätigkeit der in § 4 Nr. 2 Anhang Teilzeitrichtlinie 97/81/EG geregelte Pro-rata-temporis-Grundsatz Anwendung findet. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG gelten diese Berechnungsgrundsätze allerdings auch für übertragene Urlaubsansprüche aus den Zeiten einer Vollzeit1 BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 510/09, NZA 2011, 805 v. Rz. 19; v. 15.1.2013 – 9 AZR 465/11, NZA-RR 2013, 585 – Rz. 20; vgl. auch Schaub/Linck, § 104 Rz. 132. 2 BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 510/09, NZA 2011, 805 – Rz. 20. 3 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 35 = NZA 2010, 557. 4 EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 5 BAG v. 15.11.1990 – 8 AZR 283/89, NZA 1991, 346. 6 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 33 = NZA 2010, 557.
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Urlaubsentgelt
Rz. 46 § 7
beschäftigung.1 Hieran wird das BAG nach den Entscheidungen des EuGH in den Rs. „Tirol“2 und Brandes3 nicht festhalten können. Entsprechendes gilt für Fälle, in denen der Arbeitnehmer bei einer unterjährigen Arbeitszeitreduzierung tatsächlich gehindert ist, seinen Urlaub bis zur Arbeitszeitreduzierung zu nehmen. In diesen Fällen ist das Urlaubsentgelt in richtlinienkonformer Auslegung nach der vorherigen höheren Arbeitszeit zu bemessen.4 Bei einer unterjährigen Verringerung der Teilzeittätigkeit ist bei dieser „Festschreibung“ des Arbeitszeitfaktors jedoch der Pro-rata-temporis-Grundsatz anzuwenden, so dass die Anzahl der Urlaubstage mit ungekürztem Urlaubsentgelt lediglich anteilig erhalten bleibt. 2. Fälligkeit des Urlaubsentgelts Die Fälligkeit des Urlaubsentgelts ist in der Arbeitszeitrichtlinie nicht ausdrücklich geregelt. Die Festlegung des Zeitpunkts, zu dem das Entgelt für den Jahresurlaub zu zahlen ist, obliegt somit den Mitgliedstaaten als Durchführungsmodalität. Der EuGH hat jedoch in der Rs. Robinson-Steele5 betont, dass der Regelungsspielraum der Mitgliedstaaten insoweit nicht unbegrenzt ist, sondern die sich aus der Arbeitszeitrichtlinie ergebenden (immanenten) Grenzen zu beachten sind. Danach ist der Zeitpunkt für die Zahlung des Urlaubsentgelts so festzulegen, dass der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in Bezug auf das Entgelt in eine Lage versetzt wird, die mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist. Dem werden z.B. sog. „rolled-up holiday pay“-Klauseln nicht gerecht. Bei diesen erhält der Arbeitnehmer zusätzlich zu seinem laufenden Arbeitsentgelt eine finanzielle Urlaubszulage, aber dafür kein fortlaufendes Entgelt während seines Urlaubs.6 Durch die zeitlich gestreckte Auszahlung des Urlaubsentgelts ist nicht gewährleistet, dass der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs über genügend finanzielle Mittel verfügt (z.B. bei einem Urlaub zu Jahresbeginn). Darüber hinaus ist nach der Ansicht des EuGH mit einer solchen Gestaltung der Anreiz für den Arbeitnehmer verbunden, sich den Anspruch auf die Freistellung von der Arbeitsleistung „abkaufen“ zu lassen.
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Nach der gesetzlichen Regelung in § 11 Abs. 2 BUrlG ist das Urlaubsentgelt vor Antritt des Urlaubs auszuzahlen. Hierdurch wird den unionsrechtlichen Vorgaben genügt. Die gesetzliche Regelung wird in der Praxis jedoch regelmäßig missachtet, indem das Urlaubsentgelt mit der übrigen Vergütung, in der Regel zum Monatsende, ausgezahlt wird. Dem liegt meist eine konkludente Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien zugrunde, die jedoch wegen ihrer Nachteile für den Arbeitnehmer unwirksam ist (§§ 134 BGB; 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG).7
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1 BAG v. 5.9.2002 – 9 AZR 244/01, NZA 2003, 726; v. 28.4.1998 – 9 AZR 314/97, NZA 1999, 156. 2 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 35 = NZA 2010, 557. 3 EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 – Brandes, NZA 2013, 775 – Rz. 33. 4 Vgl. auch Fieberg, NZA 2010, 925 (929 f.); a.A. Schubert, NZA 2013, 1105, die eine Abgeltung analog § 7 Abs. 4 BUrlG vorschlägt. 5 EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 56 f. = NZA 2006, 481. 6 EuGH v. 6.3.2006 – verb. Rs. C-131/04 und C-257/04 – Robinson-Steele u.a., Slg. 2006, I-2531 – Rz. 61 = NZA 2006, 481. 7 ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 27.
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§7
Rz. 47
Urlaub
VII. Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs 47
Die zeitliche Begrenzung des entstandenen Urlaubsanspruchs gehört zu den Durchführungsmodalitäten, deren Regelung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Durch nationales Recht können der Zeitraum, in dem der Jahresurlaub zu nehmen ist, und die Voraussetzungen, unter denen eine Übertragung auf den folgenden Bezugszeitraum erfolgt, grundsätzlich frei geregelt werden.1 Dies erfasst auch Bestimmungen, die den Verlust des Urlaubsanspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums vorsehen.
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Insoweit unterliegt die Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten allerdings Grenzen. Der EuGH hat in der Rs. Schultz-Hoff2 entschieden, dass eine nationale Bestimmung nur dann das Erlöschen des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub vorsehen könne, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, den Urlaub zu nehmen. Dies sei insbesondere dann nicht der Fall, wenn der Arbeitnehmer während des Bezugszeitraums arbeitsunfähig erkrankt sei (zum Verhältnis von Krankheit und Urlaub vgl. Rz. 34). Die positive Wirkung des Urlaubs für die Sicherheit und Gesundheit des Arbeitnehmers gehe grundsätzlich nicht dadurch verloren, dass der Jahresurlaub nicht im laufenden Bezugszeitraum, sondern zu einer späteren Zeit genommen wird.3
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Dies gilt allerdings nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. KHS4 nicht zeitlich unbegrenzt. Ein unbegrenztes Ansammeln von Urlaubsansprüchen entspreche nicht dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub. Überschreite der Übertragungszeitraum eine „gewisse zeitliche Grenze“, verliere der Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit und es verbleibe lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit. Durch nationale Vorschriften oder Gepflogenheiten könne daher die Übertragung angesammelter Urlaubsansprüche auf einen Zeitraum begrenzt werden, bei dessen Überschreitung der bezahlte Jahresurlaub keine positive Wirkung als Erholungszeit mehr hat. Ein solcher Übertragungszeitraum müsse einerseits im Interesse des Arbeitnehmers die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, „deutlich überschreiten“ und andererseits den Arbeitgeber vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten und den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation schützen. Dem werde ein tarifvertraglich geregelter Übertragungszeitraum von 15 Monaten gerecht. Demgegenüber hat der EuGH in der Rs. Neidel5 einen neunmonatigen Übertragungszeitraum nicht für ausreichend erachtet, weil dieser die Dauer des Bezugszeitraums unterschreite.
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Die bisherigen Aussagen des EuGH beziehen sich ausschließlich auf die Übertragung von Urlaubsansprüchen in Fällen, in denen der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon arbeitsunfähig erkrankt war. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob diese Grundsätze auch auf andere Fallgruppen übertragbar 1 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 46 = NZA 2009, 135; v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 – Rz. 25 = NZA 2011, 1333. 2 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 43 = NZA 2009, 135. 3 EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 – Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006 I-3423 – Rz. 30 = NZA 2006, 719; v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 30 = NZA 2009, 135; v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 – Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 – Rz. 30 = NZA 2010, 557. 4 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10 – KHS, Slg. 2011, I-11757 = NZA 2011, 1333; s. hierzu Schinz, RdA 2012, 181 (182 f.); Franzen, NZA 2011, 1403. 5 EuGH v. 3.5.2012 – Rs. C-337/10 – Neidel, AP Nr. 8 zu Richtlinie 2003/88/EG – Rz. 42 f.
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Mehrens/Witschen
Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs
Rz. 52 § 7
sind, in denen das Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes oder vertraglicher Vereinbarung ruht. Insoweit dürfte darauf abzustellen sein, ob der Arbeitnehmer aus von ihm nicht beeinflussbaren Gründen nicht in der Lage war, den Urlaub zu nehmen (z.B. Mutterschutz), oder ob dies auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung des Arbeitnehmers beruhte (z.B. Sonderurlaub). Nur im ersten Fall erscheint eine Übertragung der Grundsätze des EuGH geboten.1 Der gesetzliche Urlaubsanspruch ist auf das laufende Kalenderjahr befristet. Der Urlaub muss gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG ist eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr nur zulässig, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen.2 Davon ist insbesondere auszugehen, wenn der Arbeitnehmer bis zum Jahresende arbeitsunfähig erkrankt ist. Der übertragene Urlaub muss dann gem. § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Andernfalls erlischt der Anspruch mit Ablauf der Frist am 31. März des Folgejahres. Nach der überkommenen Rechtsprechung des BAG galt dies auch dann, wenn der Arbeitnehmer wegen lang andauernder Arbeitsunfähigkeit während des Urlaubsjahres und des Übertragungszeitraums den Urlaub nicht nehmen konnte.3 Diese Rechtsprechung hat das BAG nach der Schultz-Hoff-Entscheidung aufgegeben.4 In richtlinienkonformer Fortbildung des § 7 Abs. 3 BUrlG geht das BAG nunmehr davon aus, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Urlaub nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt ist.5 Im Anschluss an die KHS-Entscheidung hat das BAG dies jedoch dahingehend eingeschränkt, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch auch bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten nach Ende des Urlaubsjahres untergeht.6
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Tarif- und arbeitsvertragliche Mehrurlaubsansprüche fallen nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und können abweichend geregelt werden. Nach der Rechtsprechung müssen für einen Regelungswillen, der zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubsansprüchen unterscheidet, jedoch deutliche Anhaltspunkte bestehen.7 Solche deutlichen Anhaltspunkte seien dann anzunehmen, wenn sich die (Tarif-)Vertragsparteien in weiten Teilen vom gesetzlichen Urlaubsregime lösen und stattdessen eigene Regeln aufstellen.8
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1 So auch ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 55 f.; Schaub/Linck, § 104 Rz. 103d; Powietzke/Christ, NZA 2013, 18 (21), Fieberg, NZA 2009, 929 (934). 2 § 7 Abs. 3 Satz 4 BUrlG trifft eine Sonderregelung für Teilurlaubsansprüche nach § 5 Abs. 1 Buchst. a BUrlG. Weitere Sonderregelungen gelten nach § 4 Abs. 2 ArbPlSchG und § 17 Abs. 2 BEEG. 3 BAG v. 21.6.2005 – 9 AZR 200/04, AP InsO § 55 Nr. 11; v. 9.11.1999 – 9 AZR 797/98, NZA 2000, 603; grundlegend v. 13.5.1982 – 6 AZR 360/80, AP BUrlG § 7 Übertragung Nr. 4. 4 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538 – Rz. 64 ff.; vgl. hierzu Schubert, RdA 2014, 9 (11 f.). 5 Bzgl. des Vertrauensschutzes stellte BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538 – Rz. 73 ff. auf das Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens des LAG Düsseldorf v. 2.8.2006 – 12 Sa 486/06, NZA-RR 2006, 628 in der Rs. Schultz-Hoff ab; vgl. zur Kritik in der Literatur ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 51 m.w.N. 6 BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216 – Rz. 32 ff.; vgl. hierzu Höpfner, AP BUrlG § 7 Nr. 61. 7 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538; v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. 8 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, NZA 2012, 987; v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810.
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§7
Rz. 53
Urlaub
VIII. Urlaubsabgeltung 53
Nach Art. 7 Abs. 2 ArbZ-RL darf der bezahlte Jahresurlaub außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden. Im fortbestehenden Arbeitsverhältnis ist eine Abgeltung von Urlaubsansprüchen nicht zulässig.1 Dies gilt nicht nur innerhalb des laufenden Bezugszeitraums, sondern auch für übertragene Urlaubsansprüche, soweit diese nach nationalem Recht nicht erloschen sind (vgl. Rz. 50).2 Durch dieses Abgeltungsverbot soll sichergestellt werden, dass der Urlaub im Normalfall tatsächlich in Anspruch genommen wird und seine positive Wirkung für die Sicherheit und Gesundheit des Arbeitnehmers entfalten kann.3 Es soll kein Anreiz dafür geschaffen werden können, dass der Arbeitnehmer sich den Urlaub „abkaufen“ lässt.4 Eine Abgeltung nicht gewährten Urlaubs kommt nur bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. In diesem Fall tritt eine finanzielle Vergütung an die Stelle der noch nicht verbrauchten Urlaubsansprüche.5 Ein gesonderter Antrag des Arbeitnehmers ist insoweit nicht erforderlich.6 Der Arbeitnehmer ist so zu stellen, als hätte er den Urlaub während der Dauer des Arbeitsverhältnisses genommen.7 Maßgeblich ist demnach das Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers, das in diesem Fall zu zahlen gewesen wäre (vgl. Rz. 40). Der Urlaubsabgeltungsanspruch geht nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Bollacke8 auch dann nicht unter, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Nach Ansicht des EuGH wäre ansonsten die praktische Wirksamkeit des Urlaubsanspruch gefährdet, weil der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aufgrund eines unwägbaren, weder vom Arbeitnehmer noch vom Arbeitgeber beherrschbaren Vorkommnisses rückwirkend entfallen würde.
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Nach § 7 Abs. 4 BUrlG kann der gesetzliche Urlaub nur dann abgegolten werden, wenn er wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht gewährt werden kann. In Übereinstimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben ist eine Abgeltung von (übertragenen) gesetzlichen Urlaubsansprüchen im fortbestehenden Arbeitsverhältnis nicht zulässig.9 Nach der überkommenen Rechtsprechung entstand der Abgeltungsanspruch als Ersatz für die wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr mögliche Befreiung von der Arbeitspflicht (sog. Surrogatstheorie).10 Als Surrogat war der Abgeltungsanspruch danach hinsichtlich seiner Entstehung und seines Fortbestands an dieselben Voraussetzungen wie der Urlaubsanspruch gebunden. Ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung entstand nicht, wenn ein Arbeitnehmer nach dauernder Arbeitsunfähigkeit aus dem 1 EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-194/12 – Maestre Garcia, NZA 2013, 369 – Rz. 26 ff.; Neuman/ Fenski, BUrlG, § 7 Rz. 102. 2 EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 – Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006 I-3423 – Rz. 33 = NZA 2006, 719. 3 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 – BECTU, Slg. 2001, I-4881 – Rz. 44 = NZA 2001, 827. 4 Vgl. EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 – Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006 I-3423 – Rz. 32 = NZA 2006, 719. 5 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 57 = NZA 2009, 135. 6 EuGH v. 12.6.2014 – Rs. C-118/13 – Bollacke, NZA 2014, 651 – Rz. 27. 7 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 – Rz. 61 = NZA 2009, 135. 8 EuGH v. 12.6.2014 – Rs. C-118/13 – Bollacke, NZA 2014, 65. 9 Dies gilt auch für arbeits- oder tarifvertraglichen Mehrurlaub, soweit nicht etwas anderes vereinbart wird. Vgl. BAG v. 16.10.2012 – 9 AZR 234/11, NZA 2013, 575 – Rz. 19; v. 20.4.2012 – 9 AZR 504/10, NZA 2012, 982 v. Rz. 12; HWK/Schinz, § 7 BurlG Rz. 98 ff. 10 Grundlegend BAG v. 23.6.1983 – 6 AZR 180/80, AP Nr. 14 zu § 7 BUrlG Abgeltung; zahlreiche weitere Nachweise bei Neuman/Fenski, BUrlG, § 7 Rz. 98.
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Mehrens/Witschen
Urlaubsabgeltung
Rz. 56 § 7
Arbeitsverhältnis ausschied, ohne die Arbeitsfähigkeit wieder zu erlangen. Diese Rechtsprechung war nach der Entscheidung des EuGH in der Rs. Schultz-Hoff1 mit Art. 7 Abs. 2 ArbZ-RL nicht vereinbar. Aus diesem Grund gab das BAG die Surrogationstheorie zunächst für die Fälle fortdauernder Arbeitsunfähigkeit2 und später insgesamt3 auf. Es behandelt den Abgeltungsanspruch nunmehr als reinen Geldanspruch, der sich nicht von sonstigen Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet.4 Seine Erfüllbarkeit hängt nicht mehr von der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab.5 Der Abgeltungsanspruch unterliegt auch nicht dem Fristenregime des Bundesurlaubsgesetzes.6 Der Urlaub ist danach auch dann abzugelten, wenn der Arbeitnehmer während des Urlaubsjahres ausscheidet, den Abgeltungsanspruch jedoch erst im Folgejahr geltend macht. Ein Verfall gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG tritt nicht ein. Der Abgeltungsanspruch entsteht mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.7 Auf die Art der Beendigung kommt es nicht an. Die einzige Ausnahme von diesem Grundsatz bildet bislang der Tod des Arbeitnehmers. Endet das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers, geht der Urlaubsanspruch nach der derzeitigen Rechtsprechung des BAG unter und kann sich nicht in einen Abgeltungsanspruch i.S.d. § 7 Abs. 4 BUrlG umwandeln.8 Dieses Verständnis ist nach der Entscheidung des EuGH in der Rs. Bollacke9 nicht mit Art. 7 Abs. 2 ArbZ-RL vereinbar. Es ist daher eine Rechtsprechungsänderung dahingehend zu erwarten, dass der Abgeltungsanspruch gem. § 7 Abs. 4 BUrlG auch dann in den Nachlass fällt, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet.
55
Der Abgeltungsanspruch unterfällt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren.10 Praktisch bedeutsamer ist jedoch, dass der Arbeitnehmer auch arbeitsvertragliche oder tarifliche Ausschlussfristen zu beachten hat.11 Mit den unionsrechtlichen Vorgaben sind Ausschlussfristen vereinbar, soweit der Arbeitnehmer – unabhängig von seiner Arbeitsfähigkeit12 – die Möglichkeit hat, den Abgeltungs-
56
1 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff u.a., Slg. 2009, I-179 = NZA 2009, 135. 2 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538. 3 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087; vgl. hierzu Schubert, RdA 2014, 9; Stiebert/Pötters, NZA 2012, 1334. 4 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087; v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. 5 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087; v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. 6 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087; v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. 7 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087; v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. 8 BAG v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, NZA 2013, 678; v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326; zustimmend Fischinger, Anm. AP Nr. 92 zu § 7 BUrlG Abgeltung; ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 8; Höpfner, RdA 2013, 65 (69 ff.); HWK/Schinz, § 7 BurlG Rz. 101; Schubert, RdA 2014, 9 (15 f.); Stiebert/Pötters, NZA 2012, 1334 (1338); a.A. Bieder, AuR 2012, 239; Schipper/Polzer, NZA 2011, 80. 9 Vgl. EuGH v. 12.6.2014 – Rs. C-118/13 – Bollacke, NZA 2014, 651 – Rz. 26. 10 ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 84. 11 BAG v. 8.4.2014 – 9 AZR 550/12, NZA 2014, 852; v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, NZA 2012, 514; v. 9.8.2011 – 9 AZR 475/10, NZA 2012, 166; v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. 12 Vgl. BAG v. 6.5.2014 – 9 AZR 758/12, BeckRS 2014, 70814.
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§7
Rz. 56
Urlaub
anspruch geltend zu machen.1 Entsprechendes gilt für die Zulässigkeit eines Verzichts auf den Abgeltungsanspruch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Auf dem Boden der Surrogationstheorie hatte das BAG die gesetzliche Unabdingbarkeit des Urlaubsanspruchs nach § 13 Abs. 1 BUrlG auch auf den Abgeltungsanspruch erstreckt.2 Nach der Rechtsprechungsänderung geht das BAG nunmehr davon aus, dass ein Verzicht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich ist.3
1 Höpfner, RdA 2013, 65 (68 f.); HWK/Schinz, § 7 BurlG Rz. 126; Schubert, RdA 2014, 9 (14). Vgl. zu § 15 Abs. 4 AGG auch EuGH v. 8.7.2010 – Rs. C-246/09 – Bulicke, Slg. 2010, I-7003 – Rz. 25 ff. = NZA 2010, 869. 2 BAG v. 5.12.1995 – 9 AZR 871/94, NZA 1996, 594. 3 BAG v. 14.5.2013 – 9 AZR 844/11, NZA 2013, 1098.
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Mehrens/Witschen
§ 8 Leiharbeit
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .
Rz. 1
1. Überblick über die Entstehungsgeschichte der Richtlinie . . . . . .
Rz. 2. Vergleichsmaßstab der Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2
2. Umsetzung in Deutschland . . . .
4
3. Mindestgarantiecharakter des Gleichbehandlungsgrundsatzes . . 61
3. Struktur der Richtlinie . . . . . . . .
5
4. Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . 65
II. Ermächtigungsgrundlage der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . .
9
III. Ziel der Richtlinie . . . . . . . . . . 11 IV. Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . 12 1. Anwendungsbereich nach Art. 1 Abs. 1 Leiharb-RL . . . . . . . . . . . a) Begriff des Arbeitnehmers und des Leiharbeitsunternehmens . . b) Dem entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt, um unter Aufsicht und Leitung zu arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbot nicht vorübergehender Überlassung . . . . . . . . . . . . .
13 15
20 23
2. Anwendungsbereich nach Art. 1 Abs. 2 Leiharb-RL . . . . . . . . . . . 33 3. Ausnahme gem. Art. 1 Abs. 3 Leiharb-RL . . . . . . . . . . . . . . . 36 V. Überprüfung von Einschränkungen und Verboten . . . . . . . . . . . . . . 39 VI. Grundsatz der Gleichbehandlung . 41 1. Gegenstände der Gleichbehandlung a) Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gleichbehandlungsgegenstände gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. i Leiharb-RL . bb) Arbeitsentgelt gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. ii Leiharb-RL . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsgrundlagen der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen . . . . . . . . . . b) Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 Leiharb-RL . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 44 49 51 53
5. Ausnahmeoptionen vom Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . a) Ausnahme bei unbefristeten Leiharbeitsverhältnissen . . . . . b) Ausnahme für nationale Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern bb) Nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen . . . . . . .
67 71 74 76 78
6. Verhinderung missbräuchlicher Anwendung, Art. 5 Abs. 5 Leiharb-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 7. Maßnahmen und Sanktionen i.S.d. Art. 10 Leiharb-RL . . . . . . . . . . 87 VII. Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen und beruflicher Bildung . . . . . . . . . . . 89 1. Zugang zur Beschäftigung beim Entleiher a) Unterrichtung über offene Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Übernahme durch den Entleiher 95 2. Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten . . . . . . . . a) Begriff der Gemeinschaftseinrichtungen oder -dienste . . . . . b) Bindung an die Zugangsbedingungen des Entleihers . . . . . . . c) Ausnahme aus objektiven Gründen . . . . . . . . . . . . . . .
101 102 105 106
3. Zugang zu beruflicher Bildung . . . 112 VIII. Vertretung der Leiharbeitnehmer . 115 IX. Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Schrifttum: Ahlberg/Bercusson/Bruun/Kountouros/Vigneau/Zappalà, Transnational Labour Regulation, A Case Study of Temporary Agency Work, 2008; Bartl/Romanoswki, Keine Leiharbeit auf Dauerarbeitsplätzen!, NZA 2012, 845; Bauer/Krets, Gesetze für moderne Dienst-
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Leiharbeit
leistungen am Arbeitsmarkt, NJW 2003, 537; Bertram, Die AÜG-Reform im Spiegel des EGRichtlinienentwurfs zur Leiharbeit, ZESAR 2003, 205; Bertram, Die EU-Richtlinie zur Zeitarbeit, AIP 11/2008, 3; Blank, Dilemma Leiharbeit, AuR 2011, 415; Blanke, Der Gleichbehandlungsgrundsatz in der Arbeitnehmerüberlassung, DB 2010, 1528; Blanke, Welche Änderungen des deutschen Gesetzes erfordert die Umsetzung der EU-Richtlinie Leiharbeit – mit dem Schwerpunkt Gleichbehandlungsgrundsatz und Abweichungen gem. Art. 5 der EU-RL?, Rechtsgutachten, 2010, Download unter: www.dgb.de; Böhm, Umsetzung der EU-Leiharbeitsrichtlinie – mit Fragezeichen?!, DB 2011, 473; Boemke, Die EG-Richtlinie und ihre Einflüsse auf das deutsche Recht, RIW 2009, 177; Boemke/Lembke, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2013; Brors, „Vorübergehend“, AuR 2013, 108; Brors/Schüren, Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit verhindern, Februar 2014, Download unter: www.mais.nrw.de; De la Feria, Prohibition of abuse of (community) law: The creation of a new general principle of EC law through tax, CMLR 2008, 395; Düwell, Die vorübergehende Überlassung im Ersten AÜG-Änderungsgesetz, ZESAR 2011, 449; Düwell/Dahl, Aktuelle Gesetzes- und Tariflage in der Arbeitnehmerüberlassung, DB 2009, 1070; Forst, Entspricht das Konzernprivileg des neuen AÜG der Leiharbeitsrichtlinie?, ZESAR 2011, 316; Forst, Neue Rechte für Leiharbeitnehmer, AuR 2012, 97; Fütterer, Prozessuale Möglichkeiten zur Durchsetzung des Verbots der nicht vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung gem. § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG n.F., AuR 2013, 119; Fuchs, Das Gleichbehandlungsgebot in der Leiharbeit nach der neuen Leiharbeitsrichtlinie, NZA 2009, 57; Gaul/Otto, Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission, DB 2002, 2486; Giesen, Vorübergehend unklar, FA 2012, 66; Greiner, Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung – Abgrenzungsfragen und aktuelle Rechtpolitik, NZA 2013, 697; Grüneberg/Schuster, Leiharbeit, Vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung als Verbotsgesetz?, AiB 2012, 384; Grüneberg/Schuster, Ein Jahr nach der Änderung des AÜG, AiB 2013, 78; Hamann, Die Richtlinie Leiharbeit und ihre Auswirkungen auf das nationale Recht der Arbeitnehmerüberlassung, EuZA 2009, 287; Hamann, Kurswechsel bei der Arbeitnehmerüberlassung?, NZA 2011, 70; Hamann, Die Reform des AÜG im Jahr 2011, RdA 2011, 321; Hamann, Die Vereinbarkeit der privilegierten Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG und der Richtlinie Leiharbeit, ZESAR 2012, 103; Heuschmid/Klauk, Zur Primärrechtswidrigkeit der Leiharbeitsrichtlinie, SR 2012, 84; Kiss/Bankó, Die Arbeitnehmerüberlassung im ungarischen Arbeitsrecht und die Richtlinie über Leiharbeit – Eine atypische oder eine alternative Form der Beschäftigung?, EuZA 2010, 208; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer als Verfassungsverstoß, 2004; Klumpp, Die neue Leiharbeitsrichtlinie, GPR 2009, 89; Kock, Neue Pflichten für Entleiher: Information über freie Stellen und Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen und -diensten (§ 13a und § 13b AÜG), BB 2012, 323; Krannich/Simon, Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – zur Auslegung des Begriffs „vorübergehend“ in § 1 Abs. 1 AÜG n.F., BB 2012, 1414; Lembke, Die „Hartz-Reform“ des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, BB 2003, 98; Lembke, Aktuelle Brennpunkte in der Zeitarbeit, BB 2010, 1533; Lembke, Die geplanten Änderungen im Recht der Arbeitnehmerüberlassung, DB 2011, 414; Lembke, Neue Rechte von Leiharbeitnehmern gegenüber Entleihern, NZA 2011, 319; Lembke, Arbeitnehmerüberlassung im Konzern, BB 2012, 2497; Lembke, Zeitarbeit – Königsweg aus arbeitsrechtlicher Rigidität?, Rigidität und Flexibilität im Arbeitsrecht, 2012, 119; Leuchten, Das neue Recht der Leiharbeit, NZA 2011, 608; Lipinski/Praß, BAG zu „vorübergehend“ – mehr Fragen als Antworten!, BB 2014, 1465; Mayer, Gesetzliche Mindestlöhne für die Leiharbeit – zur Zulässigkeit eines tariflichen Lohngitters, AuR 2011, 1; Naderhirn, Der Richtlinienvorschlag der Kommission zur Leiharbeit, ZESAR 2003, 258; Nielebock, Regelung europarechtskonformer Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz durch die Änderung des AÜG 2011?, Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft, 2012, 455; Nießen/Fabritius, Gleichbehandlungsgebot in der Arbeitnehmerüberlassung durch Bezugnahmeklauseln und Befristungen, FA 2013, 294; Nießen/Fabritius, Was ist vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung – Das Rätsel weiter ungelöst?, NJW 2014, 263; Preis, Grünbuch und Flexicurity – Auf dem Weg zu einem modernen Arbeitsrecht?, FS für Rolf Birk, 2008, S. 625; Raab, Europäische und nationale Entwicklungen im Recht der Arbeitnehmerüberlassung, ZfA 2003, 389; Reineke, Das Recht der Arbeitnehmerüberlassung in Spanien und Deutschland und sein Verhältnis zu der geplanten europäischen Regelung, 2004; Report – Expert Group, Transposition of Directive 2008/104/EC on temporary agency work, August 2011, Download unter: http://ec.europa.eu/social; Rieble/Klebeck, Lohngleich-
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§8
Leiharbeit
heit für Leiharbeit, NZA 2003, 23; Rieble/Latzel, Wirtschaftsförderung nach sozialen Kriterien, 2012; Rieble/Vielmeier, Umsetzungsdefizite der Leiharbeitsrichtlinie, EuZA 2011, 474; Riechert, Grenzen tarifvertraglicher Abweichung vom Equal Pay-Grundsatz des AÜG, NZA 2013, 303; Rödl/Ulber, D., Unvereinbarkeit von § 9 Nr. 2 Halbs. 4 AÜG mit der Leiharbeitsrichtlinie, NZA 2012, 841; Sagan, The Misuse of a European Company according to Article 11 of the Directive 2001/86/EC, EBLR 2010, 15; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern nach deutschem und Unionsrecht, 2011; Schüren, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 4. Aufl. 2010; Schüren, Tarifverträge für die Leiharbeit – Weitreichende Innovation mit erheblichem Konfliktpotential, JbArbR Bd. 41, S. 49; Schüren/Wank, Die neue Leiharbeitsrichtlinie und ihre Umsetzung in deutsches Recht, RdA 2011, 1; Steinmeyer, Was bedeutet „vorübergehend“? – Die neue Grundsatzfrage des deutschen Arbeitsrechts, DB 2013, 2740; Steuer, Die Arbeitnehmerüberlassung als Mittel zur Förderung des Arbeitsmarktes in Deutschland, 2009; Teusch/Verstege, Vorübergehend unklar – Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats bei Einstellung von Leiharbeitnehmern?, NZA 2012, 1326; Thüsing, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Thüsing, Europäische Impulse im Recht der Arbeitnehmerüberlassung – Zum Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern – KOM (2002) 149 endg., DB 2002, 2218; Thüsing, Blick in das europäische und ausländische Arbeitsrecht, RdA 2009, 118; Thüsing, Dauerhafte Arbeitnehmerüberlassung: Neues vom BAG, vom EuGH und auch vom Gesetzgeber, NZA 2014, 10; Thüsing/Mengel, Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen und Entgelt, 2005; Thüsing/Stiebert, Zum Begriff „vorübergehend“ in § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG, DB 2012, 632; Thüsing/Stiebert, Equal Pay in der Arbeitnehmerüberlassung zwischen Unionsrecht und nationalem Recht, ZESAR 2012, 199; Thüsing/Stiebert, Anmerkung zum Vorabentscheidungsersuchen des Työtuomioistuin (Finnland), vom 9.10.2013 – Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry/Öljytuote ry, Shell Aviation Finland Oy (Aktenzeichen C-533/13), ZESAR 2014, 27; Thüsing/Thieken, Der Begriff der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ im neuen AÜG, DB 2012, 347; Trümner/Fischer, Dauerhafte Personalgestellungen im Lichte des neuen Arbeitnehmerüberlassungsrechts, PersR 2013, 193; Ulber, D., Erweiterte Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats durch Tarifverträge zur Leiharbeit, AuR 2013, 114; Ulber, J. (Hrsg.), AÜG – Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und Arbeitnehmerentsendegesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2011; Ulber J., Personal-Service-Agenturen und Neuregelung der Arbeitnehmerüberlassung, Änderungen des AÜG durch das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, AuR 2003, 7; Ulber J., Kurzarbeit, Kurzarbeitergeld und Leiharbeitnehmer, AiB 2009, 139; Ulber, J., Wirksamkeit tariflicher Regelungen zur Ungleichbehandlung von Leiharbeitnehmern, NZA 2009, 232; Ulber, J., Die Richtlinie zur Leiharbeit, AuR 2010, 10; Ulber, J., Regierungsentwurf zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung, AuR 2010, 412; Ulber, J., Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AiB 2011, 351; Ulber, J., Richtlinienwidrige Leiharbeit als Standortsicherung, AuR 2011, 231; Ulber, J./Ulber, D., Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Basiskommentar zum AÜG, 2. Aufl. 2014; Vielmeier, Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen nach § 13b AÜG, NZA 2012, 535; Waas, Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Leiharbeit, ZESAR 2009, 207; Waas, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im neuen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, ZESAR 2012, 7; Waltermann, Fehlentwicklung in der Leiharbeit, NZA 2010, 482; Wank, Der Richtlinienvorschlag der EG-Kommission zur Leiharbeit und das „Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, NZA 2003, 14; Wank, Die Neufassung des AÜG, JbArbR 49 (2012), 23; Willemsen/Sagan, Die Auswirkungen der europäischen Grundrechtecharta auf das deutsche Arbeitsrecht, NZA 2011, 258; Zappalà, The Temporary Agency Workers’ Directive: An Impossible Political Agreement?, Industrial Law Journal 32 (2003), 310; Zimmer, „Vorübergehender“ Einsatz von LeiharbeitnehmerInnen, AuR 2012, 422; Zimmer, Der Grundsatz der Gleichbehandlung in der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG und seine Umsetzung ins deutsche Recht, NZA 2013, 289; Zimmermann, Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des AÜG – Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung, ArbRAktuell 2011, 62.
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§8
Rz. 1
Leiharbeit
I. Einleitung 1
Leiharbeit wird nicht nur als flexibilitätssteigernde Möglichkeit der Personalplanung angesehen. Ihr wird darüber hinaus ein beschäftigungsfördernder Effekt zugesprochen. In der Diskussion stehen jedoch nicht nur die Chance, durch die Tätigkeit als Leiharbeitnehmer die Übernahme in ein Stammarbeitsverhältnis zu erreichen, sondern auch mögliche negative Effekte der Leiharbeit, insbesondere die umstrittene Verdrängungswirkung gegenüber Dauerarbeitsplätzen. Entscheidender Einfluss auf diese Effekte kommt den Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern zu, die unionsrechtlich durch die Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit (im Folgenden Leiharbeitsrichtlinie bzw. Leiharb-RL)1 determiniert sind.2 1. Überblick über die Entstehungsgeschichte der Richtlinie
2
Entsprechend der kontroversen Einschätzung von Leiharbeit liegen der Leiharbeitsrichtlinie ein fast dreißigjähriges Bemühen und eine Vielzahl gescheiterter legislativen Initiativen zugrunde.3 So scheiterten nicht nur ein erster Vorschlag der Kommission für eine „Richtlinie des Rates über Zeitarbeit“ aus dem Jahr 19824 und weitere Richtlinienentwürfe aus dem Jahr 1990.5 Ebenso zum Scheitern verurteilt waren die ab September 1995 auf Grundlage des heutigen Art. 155 AEUV geführten Verhandlungen der Sozialpartner über eine Rahmenvereinbarung zur Leiharbeit6 sowie die weiteren Initiativen der Kommission, die am 20.3.2002 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern (im Folgenden 1. RL-E)7 und – nach zahlreichen Änderungswünschen des Europäischen Parlaments –8 am 28.11.2002 einen geänderten Vorschlag (im Folgenden 2. RL-E)9 vorgelegt hatte.
3
Nachdem aufgrund der kontroversen Positionen der Mitgliedstaaten10 mit der Realisierung einer Leiharbeitsrichtlinie bereits nicht mehr gerechnet wurde,11 gelang es unter slowenischem Ratsvorsitz im Juni 2008 schließlich, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.12 Nach der erzielten politischen Einigung legte der Rat am 15.9.2008 einen gemeinsamen Standpunkt zur Leiharbeitsrichtlinie 1 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Leiharbeit v. 19.11. 2008, ABl. Nr. L 327 v. 5.12.2008, S. 9. 2 Zur Richtlinie des Rates v. 25.7.1991 zur Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis 91/383/EWG (ABl. Nr. L 206 v. 29.7.1991, S. 19) Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 19. 3 Ausf. zur Entstehungsgeschichte der Leiharbeitsrichtlinie Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 65 m.w.N.; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 40 ff. m.w.N. 4 ABl. C 128 v. 19.5.1982, S. 2. 5 KOM (1990), 228 endg., ABl. C 224 v. 8.9.1990, S. 4. 6 Ausf. Ahlberg/Bercusson/u.a./Ahlberg, Transnational Labour Regulation, S. 191 (194 ff.). 7 KOM (2002) 149 endg.; zum 1. RL-E Thüsing, DB 2002, 2218 (2218 ff.). 8 Standpunkt des Europäischen Parlaments festgelegt in erster Lesung am 21.11.2002 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Leiharbeit, ABl. C 25 E v. 29.1.2004, S. 368. 9 KOM (2002) 701 endg.; zum 2. RL-E Bertram, ZESAR 2003, 205 (205 ff.). 10 Die Richtlinienentwürfe scheiterten insbesondere am Widerstand Irlands, Dänemarks und Deutschlands und des Vereinigten Königreichs, vgl. Ahlberg/Bercusson/u.a./Ahlberg, Transnational Labour Regulation, S. 191 (251 ff.); Thüsing/Thüsing, AÜG, Einf. Rz. 29. 11 Vgl. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rz. 803: „Mit seiner Realisierung [des Richtlinienvorschlags] ist vorerst wohl nicht zu rechnen“. 12 Mitteilung an die Presse zur 2876. Tagung des Rates Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz vom 9.–10.6.2008 in Luxemburg, C/08/166, S. 2, 11 f.
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Einleitung
Rz. 8
§8
fest,1 der im Europäischen Parlament am 22.10.2008 verabschiedet wurde.2 Die Leiharbeitsrichtlinie trat am 5.12.2008 in Kraft.3 Ihre Umsetzung hatte in den Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 1 Leiharb-RL bis zum 5.12.2011 zu erfolgen. 2. Umsetzung in Deutschland Zur Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie hat der deutsche Gesetzgeber fristgerecht das „Erste Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Gesetz zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung“ vom 28.4.20114 sowie das „Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes“ vom 20.7.20115 erlassen.
4
3. Struktur der Richtlinie Die Leiharbeitsrichtlinie umfasst drei Kapitel. Das erste, Art. 1 bis Art. 4 Leiharb-RL umfassende Kapitel enthält auf die gesamte Richtlinie anzuwendende „Allgemeine Bestimmungen“. Art. 1 Leiharb-RL legt den Anwendungsbereich der Richtlinie und Art. 2 Leiharb-RL das mit ihr verfolgte Ziel fest. Art. 3 Leiharb-RL enthält Definitionen und (systemwidrig) weitere Vorgaben für den Anwendungsbereich der Richtlinie. Art. 4 Leiharb-RL regelt die Überprüfung von nationalen Einschränkungen und Verboten der Arbeitnehmerüberlassung.
5
Materiell-rechtlich bildet das zweite Kapitel (Art. 5 bis 8 Leiharb-RL) betreffend die „Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ das Herzstück der Richtlinie,6 das in Art. 5 Leiharb-RL den „Grundsatz der Gleichbehandlung“ enthält. Art. 6 Leiharb-RL weist darüber hinaus eine Reihe von Bestimmungen auf, die den „Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen und beruflicher Bildung“ regeln. Art. 7 und Art. 8 Leiharb-RL betreffen Regelungen der Vertretung von Leiharbeitnehmern durch Arbeitnehmervertretungen.
6
Das dritte, Art. 9 bis 14 Leiharb-RL umfassende Kapitel enthält die „Schlussbestimmungen“ mit für die gesamte Richtlinie relevanten, richtlinientypischen Standardformulierungen.7 Diese betreffen neben der in Art. 11 Leiharb-RL normierten Umsetzungspflicht und -frist das Inkrafttreten (Art. 13 Leiharb-RL) und die Adressaten der Richtlinie (Art. 14 Leiharb-RL). Darüber hinaus normiert Art. 12 Leiharb-RL die – bereits erfüllte8 – Pflicht der Kommission zur Überprüfung der Anwendung der Richtlinie bis zum 5.12.2013.
7
Besondere Bedeutung für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht kommen Art. 9 und Art. 10 Leiharb-RL zu. Während Art. 9 Abs. 1 Leiharb-RL klarstellt, dass die Leiharbeitsrichtlinie lediglich Mindestvorschriften zugunsten von Arbeitnehmern bereit hält, enthält Art. 9 Abs. 2 Leiharb-RL Vorgaben zur Beibehaltung des geltenden nationalrechtlichen Schutzniveaus bei der Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie. Ge-
8
1 ABl. C 254 E v. 7.10.2008, S. 36 ff. 2 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments v. 22.10.2008 zu dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Leiharbeit, 10599/2/2008 – C6-0327/2008 – 2002/0072 (COD). 3 ABl. Nr. L 327 v. 5.12.2008, S. 9. 4 BGBl. I 2011, 642. 5 BGBl. I 2011, 1506. 6 Hamann, EuZA 2009, 287 (295); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 9. 7 Vgl. die Begründung des 1. RL-E durch die Kommission, KOM (2002), 149 endg., S. 17. 8 Vgl. den Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit, KOM (2014), 176 endg.
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§8
Rz. 9
Leiharbeit
mäß Art. 10 Abs. 1 Leiharb-RL haben Mitgliedstaaten für den Fall der Nichteinhaltung der Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder durch entleihende Unternehmen ferner geeignete Maßnahmen vorzusehen, um die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchsetzen zu können, wozu insbesondere entsprechende Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren vorzusehen sind. Nach Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL haben Mitgliedstaaten für Verstöße gegen die einzelstaatlichen Umsetzungsvorschriften der Richtlinie zudem wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen festzulegen und alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um deren Durchführung zu gewährleisten (zum dabei zu beachtenden Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip vgl. § 1 Rz. 120 ff.).1
II. Ermächtigungsgrundlage der Richtlinie 9
Ausweislich der Präambel der Leiharbeitsrichtlinie liegt ihr als Ermächtigungsgrundlage Art. 153 Abs. 2 AEUV (Art. 137 Abs. 2 EGV a.F.) zugrunde (zum Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung vgl. § 1 Rz. 39).2
10
Problematisch ist zwar, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung gem. Art. 5 Leiharb-RL auch eine Gleichbehandlung hinsichtlich des Arbeitsentgelts als wesentliche Arbeitsbedingung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. ii Leiharb-RL verlangt, da Art. 153 Abs. 5 AEUV Bestimmungen über das Arbeitsentgelt von der Regelungskompetenz des Art. 153 AEUV ausnimmt. Gleichwohl verstößt die Leiharbeitsrichtlinie nicht gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV.3 Die Regelungssperre des Art. 153 Abs. 5 AEUV bezieht sich insoweit lediglich auf Regelungen, im Rahmen derer eine unmittelbare Festlegung der Höhe des Entgelts erfolgt, nicht aber auf solche Bestimmungen, die – wie Art. 5 Abs. 1, 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. ii Leiharb-RL – nur mittelbar auf das Arbeitsentgelt einwirken (vgl. § 1 Rz. 61).4
III. Ziel der Richtlinie 11
Dem europäischen „Flexicurity“-Ansatz entsprechend, der größere Flexibilität auf den europäischen Arbeitsmärkten (flexibility) mit größtmöglicher Sicherheit (security) kombinieren soll,5 lassen sich Art. 2 Leiharb-RL zwei antagonistische Zielrichtungen der Richtlinie entnehmen. Zum einen bezweckt sie – was als Hauptziel anzu-
1 Ausf. zu Art. 10 Leiharb-RL Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 560 ff. 2 Dabei ist konkret auf den Regelungsbereich der Arbeitsbedingungen nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV abzustellen, Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 24/2008 vom Rat festgelegt am 15.9.2008, ABl. C 254 E v. 7.10.2008, S. 41. 3 Hamann, EuZA 2009, 287 (291 ff.); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 12, § 15 Rz. 16; EAS/Sagan, B 1100 Rz. 47; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 68 ff.; a.A. Bertram, ZESAR 2003, 205 (214); Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 205 f.; Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 23 ff.; Rieble/Klebeck, NZA 2003, 23 (27); Wank, NZA 2003, 14 (18). Vgl. zum erfüllten Subsidiaritätsprinzip Hamann, EuZA 2009, 287 (294 f.). 4 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 38 ff.; v. 15.4. 2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2483 – Rz. 121 ff.; a.A. Calliess/Ruffert/Krebber, EUV/EGV, Art. 153 AEUV Rz. 11. 5 Vgl. hierzu und zum Grünbuch „Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhundert“ der Kommission, KOM (2006), 708 endg., Preis, FS Birk, S. 625. S.a. die Mitteilung der Kommission „Gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz herausarbeiten“, KOM (2007), 359 endg.
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Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen
Rz. 16 § 8
sehen ist1 – den Schutz von Leiharbeitnehmern und die Verbesserung der Qualität von Leiharbeit. Zum anderen verfolgt sie das arbeitsmarktpolitische Ziel, einen angemessenen Rahmen für die Leiharbeit zur wirksamen Schaffung von Arbeitsplätzen und der Entwicklung flexibler Arbeitsformen vorzugeben.2
IV. Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen Den Anwendungsbereich der Leiharbeitsrichtlinie regelt Art. 1 Leiharb-RL. Er erschließt sich jedoch nur im Zusammenhang mit den Begriffsbestimmungen des Art. 3 Leiharb-RL, die ihrerseits auf Begriffsmerkmale des Art. 1 Leiharb-RL zurückgreifen.
12
1. Anwendungsbereich nach Art. 1 Abs. 1 Leiharb-RL Die Leiharbeitsrichtlinie gilt nach Art. 1 Abs. 1 „für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten“. Eine inhaltsgleiche Definition des Leiharbeitnehmers enthält Art. 3 Abs. 1 Buchst. c Leiharb-RL.
13
Aus diesem Wortlaut folgt bereits, dass Arbeitnehmerüberlassung i.S.d. Leiharbeitsrichtlinie ein Drei-Personen-Verhältnis voraussetzt.3 Daher erfasst die Richtlinie weder den sog. Selbstverleih eines Arbeitnehmers oder Selbständigen noch die Entsendung eines Arbeitnehmers von einer Betriebsstätte in eine andere desselben Arbeitgebers.4
14
a) Begriff des Arbeitnehmers und des Leiharbeitsunternehmens Wie häufig in arbeitsrechtlichen Richtlinien (vgl. § 1 Rz. 107 ff.) richtet sich der Begriff des Arbeitnehmers, Arbeitsvertrags und Beschäftigungsverhältnisses gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 UAbs. 1 Leiharb-RL nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten.
15
Hierbei ist es nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Leiharb-RL für die Anwendbarkeit der Leiharbeitsrichtlinie unerheblich, ob eine Teilzeit- oder befristete Beschäftigung vorliegt. Es ist zudem unerheblich, ob ein Rechtsverhältnis auch nach nationalem Recht als Leiharbeitsverhältnis einzustufen ist.5 Maßgeblich für die Einordnung als Leiharbeitnehmer i.S.d. Richtlinie ist die tatsächliche Durchführung des Rechtsverhältnisses und somit der objektive Vertragsinhalt, nicht jedoch die Bezeichnung des Vertrags durch die Parteien.6
16
1 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 449 f.; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 57; wohl auch Düwell/Dahl, DB 2009, 1070 (1070); Waas, ZESAR 2009, 207 (208); a.A. Boemke, RIW 2009, 177 (178); Rieble/Latzel, Wirtschaftsförderung nach sozialen Kriterien, § 2 Rz. 148. 2 Diese Zielrichtungen liegen auch dem deutschen Recht zugrunde, Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 448 f.; Waltermann, NZA 2010, 482 (484). 3 Hamann, EuZA 2009, 287 (296); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 451. 4 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 451. Zum Verhältnis der Leiharbeitsrichtlinie zur Entsenderichtlinie instruktiv der Prüfungsbericht der Kommission KOM (2014) 176 final, S. 19 f. 5 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 453; Waas, ZESAR 2009, 207 (209) unter Verweis auf Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 letzter Halbs. Leiharb-RL. 6 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 453; vgl. auch Ulber, J., AuR 2010, 10 (11).
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§8
Rz. 17
Leiharbeit
17
Das Leiharbeitsunternehmen definiert Art. 3 Abs. 1 Buchst. b Leiharb-RL als natürliche oder juristische Person, die mit Leiharbeitnehmern Arbeitsverträge schließt oder Beschäftigungsverhältnisse eingeht, um sie entleihenden Unternehmen zu überlassen, damit sie dort unter deren Aufsicht und Leitung vorübergehend arbeiten. Hierunter fallen nicht nur Unternehmen, die ausschließlich Arbeitnehmerüberlassung betreiben, sondern auch sog. Mischunternehmen, die neben der Arbeitnehmerüberlassung als Haupt- oder Nebenzweck weitere Betriebszwecke verfolgen.1
18
Die Leiharbeitsrichtlinie erfasst entgegen der a.A. des deutschen Gesetzgebers2 Arbeitnehmer unabhängig davon, ob sie laut Arbeitsvertrag ausschließlich an fremde Unternehmen zur Arbeitsleistung überlassen werden sollen (sog. unechte Leiharbeit) oder neben der Tätigkeit im Betrieb des Verleihers zusätzlich an Dritte überlassen werden können (sog. echte Leiharbeit).3
19
Das deutsche Recht entspricht diesen Anforderungen des Art. 1 Abs. 1 Leiharb-RL. Auch die Arbeitnehmerüberlassung i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG, der den Geltungsbereich des AÜG vorgibt, setzt ein Drei-Personen-Verhältnis voraus, welches Arbeitnehmer4 unabhängig von einer Teilzeit- oder befristeten Beschäftigung erfasst, wobei für die Qualifikation als Leiharbeitsverhältnis die tatsächliche Durchführung maßgeblich ist.5 Ferner erfasst das AÜG jede natürliche oder juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts unabhängig von einem etwaigen Mischbetriebscharakter des Verleiherbetriebs.6 Sowohl echte als auch unechte Leiharbeit unterliegen dem AÜG.7 b) Dem entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt, um unter Aufsicht und Leitung zu arbeiten
20
Nach Art. 1 Abs. 1 Leiharb-RL muss der Arbeitnehmer einem – in Art. 3 Abs. 1 Buchst. d Leiharb-RL definierten – entleihenden Unternehmen darüber hinaus zur Verfügung gestellt werden, um unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten. Der auch in Art. 1 Abs. 3 Buchst. a Ents-RL (vgl. § 5 Rz. 87 f.) verwendete Begriff der Leitung setzt dabei voraus, dass der Arbeitnehmer weisungsgebundene Arbeit verrichtet.8 Das zur Verfügung Stellen erfordert die Befugnis des Entleihers, den Leiharbeitnehmer unter seiner Aufsicht und Leitung einzusetzen.9 1 Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, Einl. Rz. 10, § 1 Rz. 52; Hamann, EuZA 2009, 287 (297); Hamann, RdA 2011, 321 (323); Hamann, ZESAR 2012, 103 (104 f.); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 454; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (481); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 58, § 1 Rz. 198; Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (40); a.A. Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 614. 2 BT-Drucks. 17/4804, 8 f.; so auch Boemke, RIW 2009, 177 (178 f.); Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 18; unklar Forst, ZESAR 2011, 316 (317 f.). 3 Hamann, EuZA 2009, 287 (297 f.); Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, II A 55 Rz. 13; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 459 f.; Waas, ZESAR 2009, 207 (209). 4 S. für den nationalen Arbeitnehmerbegriff, der die Anwendung der Leiharbeitsrichtlinie bspw. auf Selbständige und in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehende Personen, wie Beamte, Richter und Soldaten, ausschließt, Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 23. 5 Ausf. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 451 ff. m.w.N. 6 BAG v. 8.11.1978 – 5 AZR 261/77, NJW 1979, 2636. 7 Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 18. Die Ansicht, nach der lediglich sog. unechte Leiharbeit in den Anwendungsbereich der Leiharbeitsrichtlinie fällt, nimmt aufgrund von Art. 9 Abs. 1 Leiharb-RL allerdings ebenfalls keinen Verstoß des deutschen Rechts gegen die Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie an, vgl. Boemke, RIW 2009, 177 (178). 8 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 455. 9 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 455; Ulber, J., AuR 2010, 10 (12).
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Sansone
Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen
Rz. 23 § 8
Anhand des Tatbestandsmerkmals des „zur Verfügung Stellens, um unter Aufsicht und Leitung zu arbeiten“ ist die Abgrenzung der Arbeitnehmerüberlassung zu anderen Formen des Fremdpersonaleinsatzes vorzunehmen.1 Sachgerecht erscheint dabei der Rückgriff auf die für das deutsche Recht entwickelte Abgrenzungsformel des BAG,2 wonach Arbeitnehmerüberlassung vorliegt, „wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung in einem Drittbetrieb erbringt und er hierbei hinsichtlich der Arbeitsausführung den Weisungen des fremden Betriebsinhabers oder seiner Repräsentanten unterliegt.“3
21
Auch insofern entspricht das Verständnis der Leiharbeitsrichtlinie der in § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG enthaltenen Definition der Arbeitnehmerüberlassung.4 Für die „Überlassung zur Arbeitsleistung“ i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG ist es erforderlich, dass der Verleiher einem Dritten seine Arbeitnehmer zur Verfügung stellt, wobei die Arbeitsleistung durch die Weisungen des Entleihers koordiniert wird.
22
c) Verbot nicht vorübergehender Überlassung Nach Art. 1 Abs. 1 Leiharb-RL gilt die Leiharbeitsrichtlinie nur für Arbeitnehmer, die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten. U.a. aufgrund dieses Wortlauts ist mit der h.M.5 von der unionsrechtlichen Unzulässigkeit dauerhafter Arbeitnehmerüberlassung auszugehen.6 Ob der EuGH die derzeit anhängige finnische Vorlage,7 die auf die Klärung der Frage abzielt, ob der „längerfristige Einsatz von Leiharbeitnehmern neben den eigenen Arbeitnehmern eines Unternehmens im Rahmen der gewöhnlichen Arbeitsaufgaben des Unternehmens als verbotener Einsatz von Leiharbeitskräf-
1 Hamann, EuZA 2009, 287 (296). 2 BAG v. 10.2.1977 – 2 ABR 80/76, AP Nr. 9 zu § 103 BetrVG 1972, unter II 1 b); v. 20.4.2005 – 7 ABR 20/04, NZA 2005, 1006 (1008); vgl. zur Abgrenzung Greiner, NZA 2013, 697. 3 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 456 f.; wohl auch Hamann, EuZA 2009, 287 (296 f.); weitergehend Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 58; Ulber, J., AuR 2010, 10 (12), der auch den Einsatz von Arbeitnehmern im Rahmen von Werk- oder Dienstverträgen unter die Leiharbeitsrichtlinie fasst. Dies ablehnend auch Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 614. 4 Boemke, RIW 2009, 177 (179); Ulber, J., AuR 2010, 10 (12); Waas, ZESAR 2009, 207 (209). 5 Vgl. unter vielen LAG BW v. 22.11.2012 – 11 Sa 84/12, AE 2013, 102; LAG Berlin-Bdb. v. 9.1. 2013 – 15 Sa 1635/12, NZA-RR 2013, 234 (236); v. 16.4.2013 – 3 TaBV 1983/12, 3 TaBV 1987/12, NZA-RR 2013, 621; ArbG Cottbus v. 22.8.2012 – 4 BV 2/12, PflR 2013, 90; Bartl/Romanowski, NZA 2012, 845; Blanke, Umsetzung der EU-Richtlinie Leiharbeit, S. 116; Brors, AuR 2013, 108 (112); Düwell, ZESAR 2011, 449 (450 f.); Grüneberg/Schuster, AiB 2012, 384 (386); Hamann, EuZA 2009, 287 (310 ff.); Hamann, RdA 2011, 321 (324); Nielebock, Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft, 455 (465); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 461 ff.; Schüren/Wank, RdA 2011, 1 (3); Ulber, D., AuR 2013, 114 (114); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. B. Rz. 67, Einl. F. Rz. 59, § 1 Rz. 230d; Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (27); Zimmer, AuR 2012, 422 (423); offen lassend BAG v. 10.7.2013 – 7 ABR 91/11, NZA 2013, 1296 (1300 f.). 6 A.A. unter vielen LAG Düsseldorf v. 2.10.2012 – 17 TaBV 38/12, AiB 2013, 203; LAG Nds. v. 14.11.2012 – 12 TaBV 62/12, 63/12, 64/12; ArbG Leipzig v. 15.2.2012 – 11 BV 79/1; Boemke, RIW 2009, 177 (179); Lembke, DB 2011, 414 (415); Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (487 ff.); wohl auch Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 14; ebenfalls a.A., da die Leiharbeitsrichtlinie für nicht vorübergehende Überlassung nicht gelte, Krannich/Simon, BB 2012, 1414 (1420); Giesen, FA 2012, 66 (66); Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 5; Steinmeyer, DB 2013, 2740 (2741); Teusch/Verstege, NZA 2012, 1326 (1328 f.); Thüsing/Stiebert, DB 2012, 632 (633); Thüsing/Thüsing, AÜG, Einf. Rz. 13b; vgl. auch EAS/Sagan, B 1100 Rz. 136. 7 Vorabentscheidungsersuchen des Työtuomioistuin (Finnland), eingereicht am 9.10.2013 – Rs. C-533/13 – AKT, ABl. C 352 v. 30.11.2013, S. 10; hierzu Thüsing/Stiebert, ZESAR 2014, 27.
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§8
Rz. 24
Leiharbeit
ten eingestuft werden“ kann, zum Anlass nehmen wird, sich generell zur Frage der Zulässigkeit dauerhafter Arbeitnehmerüberlassung zu äußern, bleibt abzuwarten. 24
Was unter einer vorübergehenden Überlassung zu verstehen ist, ist ebenfalls umstritten, wobei eine kaum überschaubare Vielzahl von Ansichten vertreten wird.1 So wird teils vorgebracht, dass eine vorübergehende Überlassung bereits vorliege, wenn der Verleih auf verschiedene Einsätze ausgelegt ist.2 Auch wird eine Orientierung an § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG in der bis zum 30.11.2011 geltenden Fassung befürwortet, wonach eine Überlassung vorübergehend ist, die nicht als endgültig geplant ist.3 Darüber hinaus wird eine weite Auslegung des Begriffs entsprechend Art. 56 AEUV verfolgt.4 Schließlich werden neben zeitlichen5 eine Vielzahl anlassbezogener Beschränkungen des Einsatzes von Leiharbeitsnehmern vorgeschlagen, z.T. unter Anknüpfung an die nationalrechtlichen Grundsätze der Sachgrund- und/oder Zweckbefristung, größtenteils i.S.e. Rechtsmissbrauchskontrolle.6
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Die dargestellten Auffassungen lassen jedoch mitunter die erforderliche Anbindung an die unionsautonome Auslegung unter Verkennung des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten vermissen.7 Aus der teleologischen Auslegung der Richtlinie ist aufgrund der Betonung der Leiharbeit als flexible Arbeitsform in Art. 2 Leiharb-RL zu folgern, dass sich grundsätzlich nicht pauschal, sondern nur nach den Umständen des Einzelfalls beantworten lässt, bis zu welchem Zeitpunkt eine Überlassung als vorübergehend anzusehen ist.8 Dies schließt jedoch nicht aus, dass Mitgliedstaaten den Gefahren langfristiger Arbeitnehmerüberlassung9 durch die Festlegung eines Höchstüberlassungszeitraums begegnen, wie es bereits in einigen Mitgliedstaaten erfolgt ist, sofern ein ausreichendes Maß an Flexibilität für den Einsatz von Leiharbeitnehmern gewährleistet und Art. 4 Leiharb-RL (vgl. Rz. 39 f.) beachtet wird.10
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Der Begriff der vorübergehenden Überlassung erfordert zudem eine arbeitsplatzbezogene Betrachtung dahingehend, dass durch den Einsatz des Leiharbeitnehmers kein
1 Zum Meinungsstand Lembke, BB 2012, 2497 (2500); Nießen/Fabritius, NJW 2014, 263; Teusch/Verstege, NZA 2012, 1326 (1327). 2 Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 617; EAS/Sagan, B 1100 Rz. 136; ablehnend Düwell, ZESAR 2011, 449 (453 f.); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 230y. 3 Hamann, EuZA 2009, 287 (312); Hamann, NZA 2011, 70 (72); wohl auch Krannich/Simon, BB 2012, 1414 (1415 ff.); Thüsing/Stiebert, DB 2012, 632 (632 ff.); ablehnend Bartl/Romanowski, NZA 2012, 845 (846); Düwell, ZESAR 2011, 449 (450 ff.); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 464 ff. 4 Lipinski/Praß, BB 2014, 1465 (1466). 5 Grüneberg/Schuster, AiB 2012, 384 (386): 6 Monate; s.a. ErfK/Wank, § 1 Rz. 37b; für weitere denkbare zeitliche Beschränkungen s. Zimmer, AuR 2012, 422 (423 f.). 6 ArbG Cottbus v. 22.8.2012 – 4 BV 2/12, PflR 2013, 90; Bartl/Romanowski, NZA 2012, 845 (846); Düwell, ZESAR 2011, 449 (454); Nielebock, Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft, 455 (465 f.); Ulber, J., AiB 2011, 351 (352); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 230g; ErfK/Wank, § 1 Rz. 37b; s.a. Hamann, RdA 2011, 321 (326); für eine bloße Rechtsmissbrauchskontrolle Thüsing/Stiebert, DB 2012, 632 (635); s. Hamann, NZA 2011, 70 (73 f.) und Zimmermann, ArbRAktuell 2011, 62 zu einem vorherigen, nationalen Gesetzesentwurf. 7 Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 108; s.a. ErfK/Wank, § 1 Rz. 37b. Einen weitgehenden Gestaltungsspielraum anerkennend Hamann, NZA 2011, 70 (72). 8 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 464, 468; s.a. Düwell, ZESAR 2011, 449 (452); Hamann, RdA 2011, 321 (326). 9 So schon BAG v. 21.3.1990 – 7 AZR 198/89, AP Nr. 15 zu § 1 AÜG; a.A. Boemke/Lembke/ Boemke, AÜG, § 1 Rz. 112; Thüsing/Stiebert, DB 2012, 632 (634). 10 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 468.
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Sansone
Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen
Rz. 29 § 8
beim Entleiher bestehender Dauerbeschäftigungsbedarf abdeckt wird.1 Eine vorübergehende Überlassung kann daher nur angenommen werden, wenn der Einsatz beim Entleiher von vornherein befristet ist.2 Von einem bestehenden Dauerbeschäftigungsbedarf ist hingegen i.d.R. bei mehrjährigen Überlassungen bzw. einer Überlassung, die „als nicht endgültig“ geplant ist, auszugehen.3 Ob die hier vertretene arbeitsplatzbezogene Sichtweise unionsrechtskonform ist, ist ebenfalls Gegenstand der finnischen Vorlage an den EuGH.4 Weiterer Gegenstand dieser Vorlage ist die Vereinbarkeit einer anlassbeschränkende Regelung mit Art. 4 Abs. 1 Leiharb-RL, nach der der Einsatz von Leiharbeitnehmern nur in gesetzlich bestimmten Fällen zulässig ist, wie dem Ausgleich von Arbeitsspitzen oder zur Erledigung von Arbeiten, die nicht durch eigene Arbeitnehmer eines Unternehmens erledigt werden können.
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Zur Umsetzung der Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber in Form einer „Minimalumsetzung“ § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG eingeführt, der anordnet, dass die Überlassung von Arbeitnehmern an Entleiher vorübergehend erfolgt. Dabei wurde von einer zeitlichen Begrenzung des Einsatzes von Leiharbeitnehmern ausdrücklich abgesehen und die Funktion des Begriffs als flexible Zeitkomponente betont.5 Nach Ansicht des BAG6 definiert § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG – unabhängig von den Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie – nicht lediglich den Anwendungsbereich des AÜG, sondern verbietet eine mehr als nur vorübergehende Überlassung von Arbeitnehmern als verbindliche Rechtsnorm, die zugleich ein Zustimmungsverweigerungsrecht gem. § 99 BetrVG i.V.m. § 14 Abs. 3 Satz 1 AÜG begründet.7
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Durch die Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG hat der Gesetzgeber zwar seinen Gestaltungsspielraum bei der Konkretisierung einer nicht mehr vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung auf Kosten der Rechtssicherheit und -klarheit nicht genutzt.8 Das zuvor bestehende Umsetzungsbedürfnis hat er – unter Zugrundelegung des Normverständnisses als Verbotsnorm – jedoch hinreichend erfüllt.9
29
1 S.a. Brors/Schüren, Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit verhindern, S. 17 f.; Hamann, RdA 2011, 321 (326); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 230u f.; ErfK/Wank, § 1 Rz. 37b; Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (28); Zimmer, AuR 2012, 422 (423); a.A. Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 113 f.; Steinmeyer, DB 2013, 2740 (2742). 2 Düwell, ZESAR 2011, 449 (451); Hamann, RdA 2011, 321 (325); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 465, 467; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 230j; Zimmer, AuR 2012, 422 (423). 3 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 467; vgl. für weitere Indizien aus der Rechtsprechung Nießen/Fabritius, NJW 2014, 263 (264 f.). 4 Vorabentscheidungsersuchen des Työtuomioistuin (Finnland), eingereicht am 9.10.2013 – Rs. C-533/13 – AKT, ABl. C 352 v. 30.11.2013, S. 10 mit der Vorlagefrage: „Kann der längerfristige Einsatz von Leiharbeitnehmern neben den eigenen Arbeitnehmern eines Unternehmens im Rahmen der gewöhnlichen Arbeitsaufgaben des Unternehmens als verbotener Einsatz von Leiharbeitskräften eingestuft werden?“ (Hervorhebung durch den Verf.). 5 BT-Drucks. 17/4808, 8. 6 BAG v. 10.7.2013 – 7 ABR 91/11, NZA 2013, 1296 (1298 f.); v. 10.12.2013 – 9 AZR 51/13, NZA 2014, 196. 7 S.a. LAG Schl.-Holst. v. 8.1.2014 – 3 TaBV 43/13; Brors, AuR 2013, 108 (113); Fitting, BetrVG, § 99 Rz. 192a; Hamann, RdA 2011, 321 (327); ErfK/Wank, § 1 Rz. 37c; a.A. LAG Nds. v. 14.11. 2012 – 12 TaBV 62/12, 63/12, 64/12, Rz. 30; LAG Nürnberg v. 9.5.2014 – 3 TaBV 29/13; Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 119; Giesen, FA 2012, 66 (69); Lembke, BB 2012, 2497 (2501). Zur prozessualen Durchsetzung Fütterer, AuR 2013, 119; zum Personalvertretungsrecht vgl. Trümner/Fischer, PersR 2013, 193. 8 Dies kritisierend Düwell, ZESAR 2011, 449 (451); Lembke, DB 2011, 414 (415). 9 Vor Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Hamann, EuZA 2009, 287 (312); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 469; a.A. Düwell, ZESAR 2011, 449 (451); Zimmer, AuR 2012, 422 (424).
Sansone
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449
§8
Rz. 30
Leiharbeit
30
Umstritten ist, ob das nationale Recht für die Überschreitung der Grenzen einer vorübergehenden Überlassung – wie Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL verlangt – eine wirksame, angemessene und abschreckende Sanktion vorsieht. Dies ist zumindest teilweise nicht der Fall, was ein Umsetzungsdefizit darstellt.1
31
Denn das deutsche Recht sieht derzeit allenfalls eine Sanktion i.S.d. Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL gegenüber Verleihern vor.2 Da § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG nach Ansicht des BAG eine Verbotsnorm darstellt,3 greift bei einem Verstoß gegen das Verbot nicht vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung § 3 Abs. 1 Nr. 1 AÜG ein.4 Daher besteht gegenüber Verleihern in diesen Fällen die Möglichkeit des Entzugs bzw. der Nichtgewährung oder -verlängerung der Überlassungserlaubnis gem. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 3 AÜG.5 Der Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Nr. 1 AÜG führt zudem zur widerlegbaren Vermutung einer Arbeitsvermittlung gem. § 1 Abs. 2 AÜG, die bei gewerbsmäßiger Betreibung ohne Gewerbeanzeige nach § 146 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 146 Abs. 3 GewO bußgeldbewehrt ist.6
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Da die Beurteilung einer vorübergehenden Überlassung nach hier vertretener Auffassung jedoch auch erfordert, dass beim Entleiher kein Dauerbeschäftigungsbedarf abgedeckt wird, erfordert die Umsetzung der Richtlinie auch die Sanktionierung des Entleihers nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 Leiharb-RL. Eine solche ist im geltenden nationalen Recht indes nicht vorgesehen.7 Wie das BAG8 jüngst zutreffend festgestellt hat, sieht das deutsche Recht insbesondere nicht vor, dass bei einer nicht nur vorübergehenden Überlassung ein Arbeitsverhältnis zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher fingiert wird.9 Das Erfordernis einer solchen Fiktion folgt nach der zutreffenden Ansicht des BAG auch nicht aus Art. 10 Abs. 2 Satz 2 Leiharb-RL.10 2. Anwendungsbereich nach Art. 1 Abs. 2 Leiharb-RL
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Nach Art. 1 Abs. 2 Leiharb-RL gilt die Leiharbeitsrichtlinie für öffentliche und private Leiharbeitsunternehmen und entleihende Unternehmen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht. 1 Vor Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 570; weitergehend Düwell, ZESAR 2011, 449 (454); Düwell, BT-Ausschussdrucks. 17 (11) 431, S. 56 f.; HWK/Kalb, § 1 AÜG Rz. 35; Ulber, J., AuR 2010, 412 (413) und nach Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Blank, AuR 2011, 415 (417). 2 Vor Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 570. 3 BAG v. 10.7.2013 – 7 ABR 91/11, NZA 2013, 1296 (1298 f.). 4 Vor Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 570. In diese Richtung gehend auch Steinmeyer, DB 2013, 2740 (2744); a.A. Nießen/Fabritius, NJW 2014, 263 (266); wohl auch Düwell, ZESAR 2011, 449 (454); zu einem vorherigen Gesetzesentwurf Hamann, NZA 2011, 70 (74). 5 Hamann, RdA 2011, 321 (327); vor Einführung des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 570. 6 Schüren/Hamann, AÜG, § 1 Rz. 307; weitergehend wohl Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 59, § 1 Rz. 230e, 213d. 7 Grüneberg/Schuster, AiB 2013, 78 (80); Ulber, J., AuR 2010, 10 (15). 8 BAG v. 10.12.2013 – 9 AZR 51/13, NZA 2014, 196. 9 S.a. Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 115; Giesen, FA 2012, 66 (68 f.); a.A. LAG BerlinBdb. v. 9.1.2013 – 15 Sa 1635/12, NZA-RR 2013, 234 (236); Brors, AuR 2013, 108 (113). 10 BAG v. 10.12.2013 – 9 AZR 51/13, NZA 2014, 196; v. 3.6.2014 – 9 AZR 111/13 und 9 AZR 829/13; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 569 f.; Steinmeyer, DB 2013, 2740 (2743 f.); a.A. Bartl/Romanowski, NZA 2012, 845 (846); Düwell, ZESAR 2011, 449 (454); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 231d; ErfK/Wank, § 1 Rz. 37b.
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Sansone
Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen
Rz. 37 § 8
Unter diesem unionsautonom zu bestimmenden1 Begriff, der u.a. Bestandteil des wettbewerbsrechtlichen Unternehmensbegriffs ist, versteht der EuGH in auf die Leiharbeitsrichtlinie zu übertragender Weise2 „jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“.3 Dabei ist eine objektive Betrachtung der Tätigkeit unabhängig von ihrem Zweck, einer Gewinnerzielungsabsicht und ihrem Ergebnis vorzunehmen. Daher unterfallen der Leiharbeitsrichtlinie auch gemeinnützige, karitative, wissenschaftliche oder sonstige ideelle Zwecke verfolgende Organisationen bzw. Rechtsträger (Wohltätigkeitsvereine, Kirchen etc.) sowie öffentliche Unternehmen, soweit sie sich als Anbieter oder Nachfrager nach Erzeugnissen oder Dienstleistungen am Wirtschaftsleben beteiligen.4 Da das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht nicht erforderlich ist, gilt dies auch für den rein konzerninternen Personalverleih zum Selbstkostenpreis.5 Die Leiharbeitsrichtlinie erfasst hingegen solche Unternehmen nicht, die die Ausübung hoheitlicher Gewalt verfolgen.6
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Der deutsche Gesetzgeber hat diese Richtlinienvorgabe erfüllt, indem er die bisherige Unterscheidung zwischen gewerbsmäßiger und nichtgewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung in § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aufgegeben und stattdessen auf die wirtschaftliche Tätigkeit abgestellt hat.7
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3. Ausnahme gem. Art. 1 Abs. 3 Leiharb-RL Eine Möglichkeit, die Leiharbeitsrichtlinie bereichsweise unangewendet zu lassen, enthält Art. 1 Abs. 3 Leiharb-RL. Danach können die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner vorsehen, dass die Richtlinie nicht für Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse gilt, die im Rahmen eines spezifischen öffentlichen oder von öffentlichen Stellen geförderten beruflichen Ausbildungs-, Eingliederungs- und Umschulungsprogramms geschlossen wurden.8
36
Das reformierte Recht enthält für die Anwendbarkeit des AÜG zwar in § 1 Abs. 3 AÜG und § 1 Abs. 1 Satz 2, 3 AÜG Ausnahmen. Da diese jedoch nicht unter
37
1 Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 196; a.A. Boemke, RIW 2009, 177 (178), der auf § 14 AO abstellt. 2 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 472 f.; modifizierend Thüsing/Thieken, DB 2012, 347 (348 ff.); vgl. auch Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (26). 3 EuGH v. 16.6.1987 – Rs. 118/85 – Kommission/Italien, Slg. 1987, 2599 – Rz. 7; v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 – Wouters, Slg. 2002, I-1577 – Rz. 47; v. 10.1.2006 – Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Slg. 2006, I-289 – Rz. 108. 4 Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 49; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 473; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 205; a.A. Hamann, EuZA 2009, 287 (299); Hamann, RdA 2011, 321 (323). 5 Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 50; Hamann, EuZA 2009, 287 (300); Hamann, NZA 2011, 70 (71); Hamann, RdA 2011, 321 (323 f.); Lembke, Rigidität und Flexibilität im Arbeitsrecht, 119 (146); Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (40); a.A. Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (480); Thüsing/Thieken, DB 2012, 347 (349). 6 Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1 Rz. 51 m.w.N. zum Meinungstand. 7 Leuchten, NZA 2011, 608 (608 f.). Hierbei ist der Gesetzgeber (zulässigerweise) über die Vorgaben der Richtlinie hinausgegangen, da nur erforderlich gewesen wäre, den Anwendungsbereich der nationalen Normen, die die materiellen Vorgaben der Richtlinie umsetzen, auf alle wirtschaftlichen Tätigkeiten zu erweitern, vgl. Hamann, EuZA 2009, 287 (301). 8 Im nationalen Recht stellt die Tätigkeit im Rahmen einer Ausbildung, Eingliederung oder Umschulung allerdings häufig schon mangels Überlassung zur Arbeitsleistung keine Arbeitnehmerüberlassung dar, Boemke, RIW 2009, 177 (178). Ausf. zu Art. 1 Abs. 3 Leiharb-RL Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (478 f.); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 210.
Sansone
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§8
Rz. 38
Leiharbeit
Art. 1 Abs. 3 Leiharb-RL gefasst werden können, verstoßen sie, soweit darin auch die Anwendung der Umsetzungsnormen zu den materiellen Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie (Art. 5 bis 8) ausgeschlossen wird, gegen Unionsrecht.1 Die Rechtsfolge dieses Verstoßes ist umstritten (zur innerstaatlichen Wirkung von europäischen Richtlinien vgl. § 1 Rz. 124 ff.).2 38
Dies gilt auch für die Neufassungen der § 1 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 2a AÜG trotz deren beschränkter Geltung für Arbeitnehmer, die nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt wurden.3 Denn, wie bereits ausgeführt (vgl. Rz. 18), erfasst die Leiharbeitsrichtlinie auch solche Arbeitnehmer, die neben der Tätigkeit im Betrieb des Verleihers zusätzlich überlassen werden können.
V. Überprüfung von Einschränkungen und Verboten 39
Gemäß Art. 4 Abs. 1 Leiharb-RL, der im Zusammenhang mit der in Art. 56 AEUV normierten Dienstleistungsfreiheit steht (vgl. § 5 Rz. 1 ff.),4 sind Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit nur aus Gründen des Allgemeininteresses, die beispielhaft in Halbs. 2 aufgeführt werden, gerechtfertigt.5 Art. 4 Abs. 2 Leiharb-RL normiert ferner eine Pflicht zur Überprüfung bestehender Verbote und Einschränkungen. Dabei legt Art. 4 Abs. 3 Leiharb-RL für den Fall, dass solche Regelungen in Tarifverträgen enthalten sind, zur Wahrung der Autonomie der Sozialpartner fest, dass deren Überprüfung von den Sozialpartnern, die die einschlägige Vereinbarung ausgehandelt haben, selbst durchgeführt werden können. Zulässig bleiben gem. Art. 4 Abs. 4 Leiharb-RL jedoch nationale Anforderungen hinsichtlich der Eintragung, Zulassung, Zertifizierung, finanziellen Garantie und Überwachung von Leiharbeitsunternehmen.6
40
Aufgrund von Art. 4 Abs. 4 Leiharb-RL sind die im nationalen Recht vorgesehene Erlaubnispflicht des § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG sowie die Anzeige-, Auskunfts- und Meldepflichten des AÜG unionsrechtlichen unbedenklich.7 Umstritten ist jedoch
1 Hamann, ZESAR 2012, 103 (103 ff.); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 1 Rz. 195; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (485); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 306; ebenso für § 1 Abs. 3 AÜG a.F. Boemke, RIW 2009, 177 (178 f.); Lembke, BB 2010, 1533 (1540); Lembke, DB 2011, 414 (416); Ulber, J., AuR 2010, 10 (12); Ulber, J., AuR 2010, 412 (414); Ulber, J., AiB 2011, 351 (353); a.A. Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 613 ff. Vgl. zur Kollegenhilfe gem. § 1a AÜG Hamann, ZESAR 2012, 103 (111). 2 Für Unanwendbarkeit Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 1 Rz. 195; a.A. Hamann, ZESAR 2012, 103 (103 ff.); diff. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 1 Rz. 306 ff. 3 Hamann, ZESAR 2012, 103 (109 ff.); Lembke, DB 2011, 414 (416); Lembke, NZA 2011, 319 (320); Lembke, BB 2012, 2497 (2499); Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, II A 55 Rz. 13; Rieble/ Vielmeier, EuZA 2011, 474 (485); diff. Forst, ZESAR 2011, 316 (320 f.); Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 48; Thüsing/Thüsing, AÜG, Einf. Rz. 13e. 4 Begründung des 1. RL-E durch die Kommission, KOM (2002), 149 endg., S. 15; Waas, ZESAR 2009, 207 (209). 5 Zur Forderung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 8. 6 Ausf. zu Art. 4 Leiharb-RL Rieble/Latzel, Wirtschaftsförderung nach sozialen Kriterien, § 2 Rz. 152 ff.; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (482 f.). Zur Zulässigkeit von Höchstquoten für den Einsatz von Leiharbeitnehmern und Höchstüberlassungszeiträumen Ulber, J., AuR 2010, 10 (13); Rieble/Latzel, Wirtschaftsförderung nach sozialen Kriterien, § 2 Rz. 205 ff.; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (484). 7 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 479; Waas, ZESAR 2009, 207 (209).
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Grundsatz der Gleichbehandlung
Rz. 44 § 8
die Frage, ob das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe gem. § 1b AÜG (noch) aus Gründen des Allgemeininteresses i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Leiharb-RL gerechtfertigt ist.1
VI. Grundsatz der Gleichbehandlung Kernvorschrift der Richtlinie ist der in Art. 5 Abs. 1 Leiharb-RL normierte „Grundsatz der Gleichbehandlung“, der in UAbs. 1 und 2 zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen von Gleichbehandlungsgegenständen differenziert.
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1. Gegenstände der Gleichbehandlung a) Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL verlangt, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen definiert Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Leiharb-RL abschließend,2 aufgrund von Art. 9 Abs. 1 Leiharb-RL jedoch lediglich im Mindestumfang bindend3 als „die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die […] sich auf folgende Punkte beziehen: i) Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage, ii) Arbeitsentgelt.“
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Auch das deutsche Recht enthält in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG einen Gleichbehandlungsgrundsatz, der Verleiher verpflichtet, Leiharbeitnehmern für die Zeit der Überlassung an einen Entleiher mindestens die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Nach Auffassung des BAG4 ist zur Bestimmung der wesentlichen Arbeitsbedingungen i.d.S. auf die Definition des Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Leiharb-RL zurückzugreifen.5
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aa) Gleichbehandlungsgegenstände gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. i Leiharb-RL. Die Gleichbehandlungsgegenstände des Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. i Leiharb-RL, d.h. die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeits-
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1 Dafür Ulber, J., AuR 2010, 10 (13); a.A. Boemke/Lembke/Boemke, AÜG, § 1b Rz. 5; Böhm, DB 2011, 473 (474 ff.); Hamann, EuZA 2009, 287 (312 ff.); Hamann, RdA 2011, 321 (339); Schüren/ Hamann, AÜG, § 1b Rz. 17 f.; Lembke, BB 2010, 1533 (1539 f.); Schüren/Wank, RdA 2011, 1 (7); Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (490 ff.); offen lassend Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 618; Thüsing/Waas, AÜG, § 1 Rz. 10a; die frühere Beschränkung von Leiharbeit nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 GüKG a.F. wurde vom Gesetzgeber aufgehoben, vgl. hierzu Hamann, EuZA 2009, 287 (314 f.); Hamann, RdA 2011, 321 (339 f.); vgl. zu § 40 Abs. 1 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (493 ff.). 2 Boemke, RIW 2009, 177 (180); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 120; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (201) m.w.N.; ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 13. 3 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 480 ff. m.w.N.; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 60; Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 21; a.A. Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 30. 4 BAG v. 23.3.2011 – 5 AZR 7/10, NZA 2011, 850. 5 So auch Thüsing/Pelzner/Kock, AÜG, § 3 Rz. 69; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (201); a.A. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 77; Thüsing/Pelzner, AÜG, 2. Aufl. 2008, § 3 Rz. 60; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 160 ff., 480 ff.; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 57; s.a. HWK/Kalb, § 3 AÜG Rz. 29.
Sansone
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§8
Rz. 45
Leiharbeit
freie Tage sind unionsautonom auszulegen, wobei häufig auf Begriffsbestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie (vgl. § 6 Rz. 97 ff.) zurückgegriffen werden kann.1 45
So ist für den Begriff der Arbeitszeit auf Art. 2 Nr. 1 ArbZ-RL zurückzugreifen,2 der die Arbeitszeit definiert als „Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“ (vgl. § 6 Rz. 102 ff.). Die Dauer der Arbeitszeit stellt dabei das vertraglich geschuldete Arbeitszeitvolumen bezogen auf einen bestimmten Zeitraum dar, für den der Arbeitgeber den Arbeitslohn schuldet,3 wohingegen unter Überstunden die Zeiträume verstanden werden, die über diese individuelle Regelarbeitszeit hinausgehen.4
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Unter Pausen i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. i Leiharb-RL sind die sog. Ruhepausen gem. Art. 4 ArbZ-RL zu fassen,5 d.h. die Unterbrechungen der täglichen Arbeitszeit (vgl. § 6 Rz. 178 ff.). Auch für den Begriff der Ruhezeit i.S.d. Leiharbeitsrichtlinie kann die Definition des Art. 2 Nr. 2 ArbZ-RL („Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“) herangezogen werden (vgl. § 6 Rz. 140 ff.).6 Gleiches gilt für den Begriff der Nachtarbeit, den Art. 2 Nr. 4 Buchst. a ArbZ-RL definiert (vgl. § 6 Rz. 183 ff.).7
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Für den Begriff des Urlaubs i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. i Leiharb-RL ist hingegen nicht auf den in Art. 7 ArbZ-RL verwendeten Begriff des Jahresurlaubs (vgl. zu Art. 7 ArbZ-RL § 7 Rz. 1 ff.) zurückzugreifen, sondern auf den weiter reichenden allgemeinen Urlaubsbegriff des EuGH, der auch die Arbeitsunfähigkeit (Krankheitsurlaub),8 den Mutterschutz (Mutterschaftsurlaub)9 und die Elternzeit (Elternurlaub) umfasst.10
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Unter den arbeitsfreien Tagen i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. i Leiharb-RL sind – wie der Vergleich mit anderen Sprachfassungen der Richtlinie zeigt – lediglich Feiertage, d.h. die Tage, an denen von Gesetzes wegen in der Regel keine Arbeitspflicht besteht, zu verstehen.11
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bb) Arbeitsentgelt gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. ii Leiharb-RL. Als wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingung ist nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Nr. ii Leiharb-RL ferner das Arbeitsentgelt anzusehen, dessen Definition sich gem. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Leiharb-RL nach nationalem Recht richtet.12 1 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 486 ff. 2 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 486; zum 2. RL-E Naderhirn, ZESAR 2003, 258 (261). 3 Boemke, RIW 2009, 177 (180); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 132. 4 Boemke, RIW 2009, 177 (180); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 133; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 486; zum 2. RL-E Naderhirn, ZESAR 2003, 258 (261). 5 Boemke, RIW 2009, 177 (180); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 134; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 486; zum 2. RL-E Naderhirn, ZESAR 2003, 258 (261). 6 Boemke, RIW 2009, 177 (180); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 135; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 487; zum 2. RL-E Naderhirn, ZESAR 2003, 258 (261). 7 Boemke, RIW 2009, 177 (180); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 136; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 487; zum 2. RL-E Naderhirn, ZESAR 2003, 258 (261). 8 EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff, Slg. 2009, I-179 – Rz. 20 ff. 9 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 – Gómez, Slg. 2004, I-2605; v. 14.4.2005 – Rs. C-519/03 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2005, I-3067 – Rz. 31 ff. 10 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 488 f.; a.A. Boemke, RIW 2009, 177 (180 f.); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 137. 11 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 138; a.A. Thüsing/Pelzner/Kock, AÜG, § 3 Rz. 77. 12 Hamann, EuZA 2009, 287 (305); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 122; Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 31; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (497); a.A. Boemke, RIW 2009, 177
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Sansone
Grundsatz der Gleichbehandlung
Rz. 52 § 8
Für §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG ist nach h.M.1 auf das sog. Arbeitsentgelt im weiteren Sinne abzustellen, das nicht nur die in unmittelbar synallagmatischer Beziehung zur Arbeitsleistung stehenden Leistungen erfasst, sondern auch alle sonstigen Arbeitgeberleistungen, d.h. mit Rücksicht auf das bestehende Arbeitsverhältnis gewährte Geld- oder Sachzuwendungen, die über die periodische Abgeltung der Arbeitsleistung hinausgehen und außerhalb des vertraglichen Synallagmas stehen.2
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cc) Rechtsgrundlagen der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Von Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Leiharb-RL werden lediglich solche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen erfasst, die „durch Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Tarifvertrag und/oder sonstige verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art, die im entleihenden Unternehmen gelten, festgelegt sind“. Es gilt für Art. 5 Abs. 1 Leiharb-RL somit ein abstrakt-genereller Maßstab, der lediglich normativ im entleihenden Unternehmen geltende Arbeitsbedingungen umfasst.3 Vertraglich vereinbarte Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen werden daher nur dann zum Gegenstand der Gleichbehandlung, wenn sie in einem Tarifvertrag oder einer sonstigen verbindlichen Bestimmung allgemeiner Art enthalten sind.4 Hierunter fallen insbesondere Betriebsvereinbarungen sowie Tarifverträge, die aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung finden.5
51
Da die §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG im Unterschied dazu darauf abstellen, dass die wesentlichen Arbeitsbedingungen für vergleichbare Arbeitnehmer des Entleihers gelten, können im nationalen Recht Gleichstellungsgegenstände nicht nur aus gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelungen sowie Betriebsvereinbarungen folgen, sondern auch aus arbeitsvertraglichen Vereinbarungen.6 Diese nationale Besserstellung von Arbeitnehmern wird durch Art. 9 Abs. 1 Leiharb-RL legitimiert.7
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1 2
3 4 5
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(181); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 61; s.a. Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 19 f. Boemke, RIW 2009, 177 (181); HWK/Kalb, § 3 AÜG Rz. 30; Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 123; Lembke, BB 2003, 98 (101); Ulber, J., AuR 2003, 7 (11); ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 14. A.A. Gaul/Otto, DB 2002, 2486 (2487); Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 32; Thüsing/Mengel, Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen, S. 162; Schüren/Schüren, AÜG, 3. Aufl. 2007, § 9 Rz. 129; ebenfalls a.A. unter Verweis auf Art. 5 Abs. 4 UAbs. 2 Satz 2 Leiharb-RL Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (497). I.E. Ulber, J., AuR 2010, 10 (13); zum 2. RL-E Bertram, ZESAR 2003, 205 (207). Vgl. auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 12; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 505. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 12; zum 2. RL-E Bertram, ZESAR 2003, 205 (207); Reineke, Das Recht der Arbeitnehmerüberlassung, S. 194. Boemke, RIW 2009, 177 (179 f.); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 140; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 506; wohl auch Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (202). Zur Erfassung von Arbeitsbedingungen aufgrund von betrieblichen Übungen, Gesamtzusagen und dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Boemke/Lembke/ Lembke, AÜG, § 9 Rz. 140. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 244 ff. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 506 f.; zum 2. RL-E Reineke, Das Recht der Arbeitnehmerüberlassung, S. 194. Diese Abweichung widerspricht auch nicht dem Vergleichsmaßstab des Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 517 f.; kritisch Reineke, Das Recht der Arbeitnehmerüberlassung, S. 195.
Sansone
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§8
Rz. 53
Leiharbeit
b) Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 Leiharb-RL 53
Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 Leiharb-RL verlangt des Weiteren, dass bei der Anwendung des UAbs. 1 „die im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln in Bezug auf a) den Schutz schwangerer und stillender Frauen und den Kinder- und Jugendschutz sowie b) die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und sämtliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung“ so eingehalten werden, „wie sie durch Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Tarifverträge und/oder sonstige Bestimmungen allgemeiner Art festgelegt sind.“
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Das nationale Recht ist im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 Leiharb-RL richtlinienkonform.1 Die durch Gesetze festgelegten Regeln bezüglich der Gleichbehandlungsgegenstände des Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a und b sind vom Entleiher aufgrund von § 11 Abs. 6 AÜG bzw. § 6 Abs. 2 Satz 2 AGG zu beachten.2 Die Einhaltungspflicht von darüber hinausgehenden Betriebsvereinbarungen resultiert aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot des § 75 Abs. 1 BetrVG. Etwaige in Tarifverträgen enthaltene Bestimmungen, die über die gesetzlich festgelegten Regeln hinsichtlich der Gegenstände des Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a, b Leiharb-RL hinausgehen, sind hingegen vom Verleiher bereits als Gegenstand der Gleichstellung nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG einzuhalten.3 2. Vergleichsmaßstab der Gleichbehandlung
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Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL wählt als Vergleichsmaßstab der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern während ihrer Überlassung diejenigen wesentlichen Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen, die für sie gelten würden, „wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären“. Damit ist eine unternehmensweite Betrachtung erforderlich, bei der auch auf andere Betriebe des Entleihers als den konkreten Einsatzbetrieb des Leiharbeitnehmers zurückzugreifen ist.4
56
Hierbei ist im Wege einer hypothetischen, arbeitsplatzbezogenen Betrachtungsweise zu ermitteln, welche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten würden, wenn der Leiharbeitnehmer vom Entleiher unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre.5 Individuell-personenbezogene Merkmale wie Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Berufserfahrung, Qualifikation und Kompetenz sind daher zu berücksichtigen.6
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Auch hinsichtlich der Dauer und Lage der Arbeitszeit des Leiharbeitnehmers ist darauf abzustellen, welche Vorgaben gelten würden, wäre der Leiharbeitnehmer vom 1 Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 610; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 509 ff. 2 Hamann, EuZA 2009, 287 (306); Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 610; Waas, ZESAR 2009, 207 (210). 3 Ausf. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 509 ff. 4 A.A. Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 24; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (202 f.). 5 Hamann, EuZA 2009, 287 (306); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 12, 100; Thüsing/ Pelzner/Kock, AÜG, § 3 Rz. 79; Schüren/Wank, RdA 2011, 1 (4); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 68. 6 Hamann, EuZA 2009, 287 (306); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 519; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 70 f.; a.A. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 105.
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Sansone
Grundsatz der Gleichbehandlung
Rz. 59 § 8
Entleiher unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden.1 Bei teilzeitoder befristet beschäftigten Leiharbeitnehmern ist hingegen zu fragen, welche Arbeitsbedingungen bei einer Einstellung als befristeter oder teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer gelten würden.2 Da im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL eine hypothetische Ermittlung vorzunehmen ist, ist es nach der Leiharbeitsrichtlinie unerheblich, ob das entleihende Unternehmen einen vergleichbaren Arbeitnehmer beschäftigt.3 Weil Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Leiharb-RL verlangt, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen „durch Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Tarifvertrag und/oder sonstige verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art, die im entleihenden Unternehmen gelten, festgelegt sind“, ist die hypothetische unmittelbare Einstellung durch den Entleiher auch anhand dieser Bestimmungen vorzunehmen.4 Richten sich beim Entleiher die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen nach einem betriebs- oder tarifvertraglichen Eingruppierungssystem, so ist der Leiharbeitnehmer daher in dieses einzugruppieren.5 Sollten im gesamten entleihenden Unternehmen keinerlei verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art Anwendung finden, ist umstritten, ob auf die „Einstellungspraxis“ des Entleihers bzw. – wenn eine solche nicht feststellbar ist – auf die Arbeitsbedingungen abzustellen ist, die beim Entleiher „im Allgemeinen“ gewährt werden bzw. die in der Branche üblich sind, oder ob Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL in diesen Fällen leerläuft.6
58
Die §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG stellen entgegen dieser Richtlinienvorgabe auf einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers ab, was ein Umsetzungsdefizit des nationalen Gesetzgebers darstellt.7 Bei divergierenden Ergebnissen der Vergleichsmaßstäbe, die bei der Heranziehung vergleichbarer Arbeitnehmer i.d.R. nicht auftreten dürften,8 ist daher eine richtlinienkonforme Auslegung
59
1 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 520; a.A. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 105. 2 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 520 f.; zum 2. RL-E Bertram, ZESAR 2003, 205 (210). 3 Begründung des Änderungsantrags 38 des Berichts des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern, A5-0356/2002, S. 28 f.; Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 110; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199, (203); Waas, ZESAR 2012, 7 (7); diff. Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 28; a.A. ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 16; zum Problemfall, dass beim Entleiher mehrere vergleichbare Arbeitnehmer beschäftigt sind, Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 112 ff.; Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 25; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 522 ff.; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (203). 4 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 515 f.; zum 2. RL-E Naderhirn, ZESAR 2003, 258 (261). 5 LAG Düsseldorf v. 29.8.2012 – 12 Sa 576/12; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 515; vgl. auch Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 17 f.; wohl auch Hamann, EuZA 2009, 287 (307). 6 So Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 516 f.; ähnlich Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 18; a.A. Hamann, EuZA 2009, 287 (307); Ulber, J./ Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 70. 7 Fuchs, NZA 2009, 57 (61); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 524 f.; kritisch auch die Kommission KOM (2014), 176 endg., S. 6. 8 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 79, 100; Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (32). Divergierende Ergebnisse sind jedoch bei der Berücksichtigung personenbezogener Merkmale, der Dauer und Lage der Arbeitszeit, der Teilzeit- und befristeten Beschäftigung oder beim Fehlen vergleichbarer Arbeitnehmer denkbar, ausf. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 515 ff.
Sansone
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§8
Rz. 60
Leiharbeit
(hierzu vgl. § 1 Rz. 142 ff.) der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG vorzunehmen.1 60
Dies gilt auch für den Umstand, dass den §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG entgegen Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL eine betriebsbezogene Betrachtung („im Betrieb des Entleihers geltende wesentliche Arbeitsbedingungen“) zugrunde liegt.2 3. Mindestgarantiecharakter des Gleichbehandlungsgrundsatzes
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Der Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer während der Überlassung mindestens denjenigen zu entsprechen haben, die für sie gelten würden, wenn sie im entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL gibt daher lediglich Mindestbedingungen vor, so dass zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer geltende günstigere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ihre Geltung behalten.3
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Es ist dabei davon auszugehen, dass der Richtliniengeber die Bestimmung der Günstigkeit der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mangels Vorgaben in Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL hinsichtlich der Wahl der Form und Mittel für die Umsetzung der Richtlinie den Mitgliedstaaten zugewiesen hat.4 Aufgrund des Gebots der effektiven Umsetzung hatten diese allerdings die Form und Mittel der Umsetzung zu wählen, die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie unter Berücksichtigung des mit ihnen verfolgten Zwecks am besten eignen (zum Effektivitätsprinzip vgl. § 1 Rz. 122 ff.). Sinn und Zweck der Leiharbeitsrichtlinie entspricht insoweit am ehesten ein Sachgruppenvergleich.5
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Die dabei miteinander zu vergleichenden Sachgruppen ergeben sich aus den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Leiharb-RL genannten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.6 Ob eine zwischen Leiharbeitnehmer und Verleiher geltende wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingung für den Leiharbeitnehmer günstiger ist, als die nach Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL zu gewährende, ist aus objektiv-hypothetischer Sicht eines verständigen Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der Anschauungen seines Berufsstands und der Verkehrsanschauung zu beurteilen.7
1 Für die richtlinienkonforme Auslegbarkeit Bertram, AIP 11/2008, 3 (4); Hamann, EuZA 2009, 287 (306); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 79, 100; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 515, 524 f.; Thüsing, RdA 2009, 118 (118); a.A. Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (498). 2 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 514. 3 Boemke, RIW 2009, 177 (183); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 13; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 527; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 72. 4 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 531. 5 Hamann, EuZA 2009, 287 (307); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 148; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 531; wohl auch Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (204); a.A. hinsichtlich des Arbeitsentgelts Boemke, RIW 2009, 177 (184); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F Rz. 61, § 9 Rz. 76 ff.: Einzelvergleich entsprechend Art. 157 Abs. 1 und 2 AEUV; a.A. im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL wohl Waas, ZESAR 2012, 7 (9): Gesamtvergleich bei tarifvertraglichen Regelungen. 6 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 148. 7 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 148; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 532. Vgl. zu den einzelnen Gleichbehandlungsgegenständen Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 153 ff.
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Sansone
Grundsatz der Gleichbehandlung
Rz. 69 § 8
Die §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG erfüllen diese Richtlinienvorgaben.1 Nach der h.M.2 schreiben sie ebenfalls ausschließlich Mindestbedingungen vor, wobei die Günstigkeit der wesentlichen Arbeitsbedingungen mittels eines Sachgruppenvergleichs entsprechend der dargestellten Maßgaben zu ermitteln ist.3
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4. Zeitlicher Geltungsbereich Art. 5 Abs. 1 Leiharb-RL ordnet eine Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern lediglich „während der Überlassung an ein entleihendes Unternehmen“ an. Außerhalb dieses Zeitraums, in den sog. verleihfreien Zeiten, ist Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Leiharb-RL nicht anwendbar.4
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Auch insoweit stimmt das deutsche Recht mit Art. 5 Abs. 1 Leiharb-RL überein, da die §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG eine Gleichstellungspflicht nur „für die Zeit der Überlassung“ an einen Entleiher normieren.
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5. Ausnahmeoptionen vom Gleichbehandlungsgrundsatz Die Leiharbeitsrichtlinie sieht für Mitgliedstaaten in Art. 5 Abs. 2 bis 4 drei Optionen vor, Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung zuzulassen.5 Diese sollen den Mitgliedstaaten im Rahmen der Rechtsangleichung die Balance zwischen den antagonistischen Zielsetzungen der Richtlinie und die „Berücksichtigung der nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten“6 ermöglichen.7 Dabei kann Art. 5 Abs. 4 Leiharb-RL in Deutschland keine Bedeutung erlangen, da ein gesetzliches System existiert, durch das Tarifverträge allgemeine Gültigkeit erlangen bzw. deren Bestimmungen auf alle vergleichbaren Unternehmen in einem bestimmten Sektor oder bestimmten geografischen Gebiet ausgeweitet werden können (vgl. § 5 TVG, § 3 AEntG).8
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Nicht in die Leiharbeitsrichtlinie aufgenommen worden sind die noch im 1. RL-E vorgesehen Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung aus sachlichen Gründen sowie für bis zu sechs Wochen andauernde Überlassungen.
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Aus diesem Grund wurde auch die in § 3 Abs. 1 Nr. 3 Halbs. 1 Teil 2, § 9 Nr. 2 Halbs. 1 Teil 2 AÜG a.F. enthaltene Ausnahme für zuvor arbeitslose Leiharbeitnehmer für den Zeitraum von bis zu sechs Wochen als nicht richtlinienkonform ersatzlos gestrichen.9
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1 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 527 f. 2 Bauer/Krets, NJW 2003, 537 (538); Raab, ZfA 2003, 389 (406 f.); Rieble/Klebeck, NZA 2003, 23 (26); Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rz. 820; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 72; a.A. ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 19 zu § 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG. 3 Bertram, ZESAR 2003, 205 (212); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 148 m.w.N. 4 Ausf. Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (201). 5 Zur Frage, ob Art. 5 Abs. 2 und 3 Leiharb-RL mit dem im Primärrecht verankerten Grundsatz der Nichtdiskriminierung und insb. mit Art. 20 GRC vereinbar ist Heuschmid/Klauk, SR 2012, 84 (88 ff.). 6 Begründung des 1. RL-E durch die Kommission, KOM (2002), 149 endg., S. 14. 7 Hamann, EuZA 2009, 287 (307 f.); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 14; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 534. 8 Blanke, DB 2010, 1528 (1532); Hamann, EuZA 2009, 287 (308); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 21; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 61; Waas, ZESAR 2009, 207 (212). 9 Hamann, RdA 2011, 321 (327); Lembke, DB 2011, 414 (417); Thüsing/Pelzner/Kock, AÜG, § 3 Rz. 84; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (498); Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 610.
Sansone
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§8 70
Rz. 70
Leiharbeit
Da die Leiharbeitsrichtlinie die noch im 1. RL-E vorgesehene Ausnahme aus sachlichen Gründen nicht enthält, kann zudem eine solche Ausnahme im Rahmen der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG nicht geltend gemacht werden.1 a) Ausnahme bei unbefristeten Leiharbeitsverhältnissen
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Gemäß Art. 5 Abs. 2 Leiharb-RL können Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner die Möglichkeit vorsehen, dass, beschränkt auf das Arbeitsentgelt, vom Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen wird, wenn Leiharbeitnehmer, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Verleiher abgeschlossen haben, auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden. Diesem Ausnahmetatbestand liegt, wie ErwGr. 15 Leiharb-RL zeigt, die Annahme des Richtliniengebers zugrunde, dass unbefristete Arbeitsverträge über einen besonderen Schutzstandard verfügen, der eine Schlechterstellung von Leiharbeitnehmern gegenüber Stammarbeitnehmern des Entleihers rechtfertigt.2
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Art. 5 Abs. 2 Leiharb-RL ermöglicht es dabei, vom Grundsatz der Gleichbehandlung hinsichtlich des Arbeitsentgelts sowohl in verleihfreien Zeiten als auch während Überlassungen abzuweichen.3 Vorgaben zur Höhe der Vergütung enthält Art. 5 Abs. 2 Leiharb-RL selbst indes nicht.4
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Obwohl Art. 5 Abs. 2 Leiharb-RL im Gesetzgebungsverfahren als eine an Deutschland adressierte Ausnahmeregelung angesehen wurde,5 ist diese in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG nicht aufgegriffen worden. Die Einführung eines solchen Ausnahmetatbestands wäre jedoch zulässig.6 b) Ausnahme für nationale Tarifverträge
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Gemäß Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL können die Mitgliedstaaten zudem „nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Abs. 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können.“
1 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 437; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 9; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 552; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 118; a.A. Thüsing/Mengel, AÜG, 9 Rz. 46; ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 13. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 15; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 535. 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 15; a.A. zum 2. RL-E Zappalà, Industrial Law Journal 32 (2003), 310 (315), die eine Entgeltabweichung nur in verleihfreien Zeiten für zulässig hält. 4 Vgl. zu dieser Problematik Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 62. Nach Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 15, ist es zulässig, die Vergütung in verleihfreien Zeiten gegenüber der Vergütung während einer Überlassung abzusenken. 5 Ahlberg/Bercusson/u.a./Ahlberg, Transnational Labour Regulation, S. 191 (228, 234). 6 EAS/Sagan, B 1100 Rz. 140; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 536 ff.; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (204); a.A. Ulber, J., AuR 2010, 10 (14); Ulber, J., AiB 2009, 139 (144); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 61, jedoch aufgrund § 11 Abs. 4 Satz 3 AÜG, dessen Geltung bis zum 31.3.2012 befristet war.
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Sansone
Grundsatz der Gleichbehandlung
Rz. 76 § 8
Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL erfasst, anders als Art. 5 Abs. 2 Leiharb-RL, unbefristete und befristete Leiharbeitsverhältnisse.1 Darüber hinaus gilt er nicht nur für das Arbeitsentgelt.2
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aa) Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern. Nach Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL müssen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichende Tarifverträge unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen zu den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten. Die Entstehungsgeschichte der Leiharbeitsrichtlinie zeigt, dass der Richtliniengeber mit dieser Einschränkung – wie ErwGr. 19 Leiharb-RL ausdrücklich betont – nicht die Tarifautonomie der Sozialpartner beeinträchtigen wollte und insbesondere keine weitreichende Kontrolle von Tarifverträgen durch den EuGH bezweckt hat.3 Gleichwohl hat der Rat es „für zweckmäßig erachtet, speziell darauf hinzuweisen, dass die Sozialpartner in ihren Vereinbarungen den ‚Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern‘ achten müssen, wenn sie Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern treffen, die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen.“4 Die Beachtung des Gesamtschutzes stellt daher zwar eine Schranke der tarifvertraglichen Gestaltungsmacht dar. Einer strengen Kontrolle tarifvertraglicher Regelungen steht jedoch Art. 28 Var. 1 GRC entgegen, der bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs heranzuziehen ist5 und sämtliche Handlungen schützt, die mit dem Aushandeln und dem Abschluss von Tarifverträgen zusammenhängen.6 Es ist daher davon auszugehen, dass die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern aufgrund der Autonomie der Sozialpartner gerade keine Angemessenheitskontrolle verlangt, sondern nur eine äußerste Kontrolle des vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden tarifvertraglichen „Gesamtpakets“.7
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1 Hamann, NZA 2011, 70 (71); Nießen/Fabritius, FA 2013, 294 (296); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 539; Waas, ZESAR 2012, 7 (8); a.A. Blanke, DB 2010, 1528 (1531); Düwell, BT-Ausschussdrucks. 17(11) 431, S. 57; Nielebock, Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft, 455 (458); Schüren/Schüren, AÜG, Einl. Rz. 94, § 9 Rz. 169 f.; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 118, 206, 220 ff.; in diese Richtung deutend auch der Prüfungsbericht der Kommission KOM (2014), 176 final, S. 8. 2 Hamann, EuZA 2009, 287 (308 f.); Düwell, BT-Ausschussdrucks. 17(11) 431, S. 57; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 17; Ulber, J., AuR 2010, 10 (14); Waas, ZESAR 2009, 207 (211); Waas, ZESAR 2012, 7 (8); a.A. Zimmer, NZA 2013, 289 (292 ff.). 3 Ausf. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 540 ff. 4 Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 24/2008 vom Rat festgelegt am 15.9.2008, ABl. C 254 E v. 7.10.2008, S. 43. 5 Vgl. instruktiv hierzu und der Abwägung von Art. 31 Abs. 1 GRC und Art. 28 Var. 1 GRC i.S.e. praktischen Konkordanz Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258 (260); s.a. EAS/Sagan, B 1100 Rz. 141; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (500 f.). 6 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 28 GRC Rz. 8 m.w.N. 7 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 17; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 540 ff.; vgl. auch konkretisierend Riechert, NZA 2013, 303 (306); strenger Blanke, DB 2010, 1528 (1533); Düwell/Dahl, DB 2009, 1070 (1073); Zimmer, NZA 2013, 289 (290 f.); für tätigkeitsbezogene Mindestlohngitter Mayer, AuR 2011, 1 (7); für ein Erfordernis, nach unten abweichende Bedingungen durch über dem Niveau des Entleihers liegende Bedingungen auszugleichen Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. Rz. 64, § 9 Rz. 239 ff.; so wohl auch Waas, ZESAR 2012, 7 (9); Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 24; gegen jegliche Begrenzung Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 192; Lembke, DB 2011, 414 (417); Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 39; Thüsing/Pelzner/Kock, AÜG, § 3 Rz. 93; Rieble/ Vielmeier, EuZA 2011, 474 (500 ff.); Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rz. 62. Nach Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 608, 612; Schüren/Schüren, AÜG, § 9 Rz. 171 sei lediglich eine ernsthafte Interessenvertretung zu fordern.
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§8
Rz. 77
Leiharbeit
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Zwar fordert die im nationalen Recht enthaltene Tariföffnungsklausel (§§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, Satz 3, 9 Nr. 2 Halbs. 2, Halbs. 3 AÜG) nicht ausdrücklich die Beachtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern bei der tarifvertraglichen Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz i.S.d. Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL.1 Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien unterliegt jedoch neben allgemeinen gesetzlichen Schranken (Verbot sittenwidriger Vereinbarungen, § 8 Abs. 3 AEntG)2 gem. § 3a Abs. 2 AÜG und – unter Beachtung der Übergangsregelung des § 24 Abs. 1 Satz 2 MiLoG – nach § 1 Abs. 1, 3 MiLoG auch einer Lohnuntergrenze. Spätestens durch die Einführung der Lohnuntergrenze gem. § 3a Abs. 2 AÜG hat der deutsche Gesetzgeber – jedenfalls im Hinblick auf die besonders bedeutsame tarifvertragliche Regelung des Arbeitsentgelts3 – die zuvor insoweit bestehenden Bedenken an der Richtlinienkonformität des deutschen Rechts beseitigt.4 Diese Lohnuntergrenze stellt auch keinen Verstoß gegen Art. 4 Leiharb-RL dar.5
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bb) Nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen. Indem Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumt, die Tarifverträge (auf einer nicht weiter spezifizierten geeigneten Ebene)6 nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen aufrechtzuerhalten oder zu schließen, wurde den Mitgliedstaaten ein großer Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL eingeräumt.7 Diese Zurückhaltung ist der Heterogenität der nationalen Tarifvertragssysteme und Vorschriften zur Leiharbeit geschuldet.8 Auch die bloße Anwendung nationalen Tarifvertragsrechts entspricht diesen Gestaltungsmöglichkeiten.9
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Da Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL keine Vorgabe dazu enthält, unter welchen Voraussetzungen die Tarifverträge in den Leiharbeitsverhältnissen Anwendung finden, umfasst der Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten auch die Einführung von sog. Erstreckungsklauseln zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf die abweichenden Tarifverträge, um eine Umsetzung entsprechend dem nationalen Recht und nationalen Gepflogenheiten zu ermöglichen.10 1 Was nach der (nicht bindenden, vgl. EuGH v. 15.4.1986 – Rs. C-237/84 – Kommission/Belgien, Slg. 1986, 1247 – Rz. 16 f.) Rechtsauffassung der Kommission auch nicht erforderlich sei, KOM (2014) 176 final, S. 8. 2 So die h.M., vgl. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 230 ff., 239 ff.; HWK/Kalb, § 3 AÜG Rz. 36; Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 39; Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rz. 837; nach a.A. ist die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien beschränkt, vgl. Fuchs, NZA 2009, 57 (62); Klumpp, GPR 2009, 89 (91); Schüren, JbArbR Bd. 41, 49 (58 ff.); Ulber, J., NZA 2009, 232 (236 f.); Ulber, J., AuR 2010, 10 (14); Waltermann, NZA 2010, 482 (486). Ausf. Riechert, NZA 2013, 303 (304 ff.). 3 Kritisch, da eine Lohnuntergrenze nicht den Gesamtschutz hinsichtlich anderer Arbeitsbedingungen als das Arbeitsentgelt sichern könne ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 23a; Wank, JbArbR 49 (2012), 23 (29). 4 Thüsing/Pelzner/Kock, AÜG, § 3 Rz. 93; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 546; a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 212: Waas, ZESAR 2012, 7 (9 f.); ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 23a; Zimmer, NZA 2013, 289 (291 f.); s.a. Riechert, NZA 2013, 303 (307 ff.). Vor Einführung des § 3a Abs. 2 AÜG für die Richtlinienkonformität Fuchs, NZA 2009, 57 (61 ff.); Klumpp, GPR 2009, 89 (91); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 192. 5 Hamann, RdA 2011, 321 (329); a.A. Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 474 (502 f.). 6 Hierzu Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 547; Waas, ZESAR 2009, 207 (211); s.a. Kiss/Bankó, EuZA 2010, 208 (221). 7 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 546; Waas, ZESAR 2009, 207 (211). 8 Vgl. Fuchs, NZA 2009, 57 (61); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 546; Waas, ZESAR 2009, 207 (211). 9 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 547; wohl auch Waas, ZESAR 2009, 207 (211); a.A. Ulber, J., AuR 2010, 10 (14); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. F. Rz. 63, § 9 Rz. 207, 226. 10 Boemke, RIW 2009, 177 (183); EAS/Sagan, B 1100 Rz. 140; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 547 f.; a.A. Blanke, DB 2010, 1528 (1529).
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Sansone
Rz. 84 § 8
Grundsatz der Gleichbehandlung
Daher ist die in den §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3, 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG vorgesehene Möglichkeit, im Geltungsbereich eines vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifvertrags die Anwendung des Tarifvertrags arbeitsvertraglich zu vereinbaren, als richtlinienkonform zu betrachten.1
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Nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL („enthalten“) ist ausschließlich die unmittelbare Regelung der Arbeitsbedingungen durch den Tarifvertrag selbst zulässig, nicht aber die bloße Ermächtigung der Betriebs- oder Arbeitsvertragsparteien durch den Tarifvertrag (sog. Zulassungs- bzw. Öffnungsnorm).2
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Insoweit ist von einem Umsetzungsdefizit des deutschen Rechts auszugehen.3 Denn nach h.M. reicht es für §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG im Widerspruch zu dieser Richtlinienvorgabe aus, wenn der Tarifvertrag eine bloße Zulassungs- bzw. Öffnungsnorm vorsieht.4 Es bedarf daher insoweit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts.5
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6. Verhinderung missbräuchlicher Anwendung, Art. 5 Abs. 5 Leiharb-RL Nach Art. 5 Abs. 5 Satz 1 Leiharb-RL ergreifen die Mitgliedstaaten „die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern.“ Solche Maßnahmen erfüllen dabei grundsätzlich die Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 Leiharb-RL, der Einschränkungen und Verbote des Einsatzes von Leiharbeitnehmern zur Missbrauchsverhütung ausdrücklich zulässt.6
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Art. 5 Abs. 5 Leiharb-RL sind zwei Schutzrichtungen zu entnehmen. Zum einen zielt er auf die Verhinderung einer missbräuchlichen Anwendung der Ausnahmetatbestände des Art. 5 Leiharb-RL ab und verweist damit auf das unionsrechtlich nicht abschließend geklärte Institut des Rechtsmissbrauchs.7 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist hierbei eine differenzierte Betrachtung vorzunehmen, wonach nicht nur eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben muss, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, sondern auch eine Absicht des Missbrauchenden erforderlich ist, sich einen
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1 Boemke, RIW 2009, 177 (183); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 193 f.; Thüsing/Pelzner/Kock, § 3 Rz. 102; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 547 f.; Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (205 f.); Waas, ZESAR 2009, 207 (212); ErfK/Wank, § 3 AÜG Rz. 23b; i.E. auch Schüren/Wank, RdA 2011, 1 (5); diff. nach dem Bedeutungsgehalt von Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL Waas, ZESAR 2012, 7 (10 ff.); a.A. Blanke, DB 2010, 1528 (1529); Nielebock, Arbeitsgerichtsbarkeit und Wissenschaft, 455 (463 f.); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 306; Zimmer, NZA 2013, 289 (292 ff.); mit beachtlichen Argumenten Rödl/Ulber, D., NZA 2012, 841. 2 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 548 f.; a.A. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 195; offen lassend Waas, ZESAR 2009, 207 (211). 3 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 548 f.; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 170; a.A. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 195. 4 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 233 ff.; a.A. Bauer/Krets, NJW 2003, 537 (539); Raab, ZfA 2003, 389 (409); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 326 ff.; Preis/Tenbrock, Innovative Arbeitsformen, S. 957. 5 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 548 f. 6 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 555. 7 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 555; kritisch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 20. Zum Institut des Rechtsmissbrauchs De la Feria, CMLR 2008, 395; zum Missbrauch nach Art. 11 SE-RL Sagan, EBLR 2010, 15.
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§8
Rz. 85
Leiharbeit
unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden.1 85
Art. 5 Abs. 5 Leiharb-RL enthält zum anderen die Maßgabe insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. Diese an § 5 Nr. 1 BefrRV (hierzu vgl. § 9 Rz. 123 ff.) erinnernde Vorschrift zielt ihrem Wortlaut nach entgegen der systematischen Stellung nicht nur auf die missbräuchliche Anwendung des Art. 5 Leiharb-RL, sondern weitergehend auf die zu verhindernde Umgehung der „Bestimmungen der Richtlinie“ durch aufeinander folgende Überlassungen ab.2
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Als missbräuchliche Inanspruchnahme i.S.d. Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL ist die in Deutschland vor Umsetzung der Richtlinie mitunter zu beobachtende Praxis des sog. Drehtürverfahrens anzusehen.3 Bei diesem werden zuvor gekündigte Arbeitnehmer des Entleihers von einem Verleiher eingestellt, um sie ihrem vorherigen Arbeitgeber zur Leistung der gleichen Tätigkeit bei geringerer Entlohnung aufgrund von Tarifverträgen gem. §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, Satz 3, 9 Nr. 2 Halbs. 2, Halbs. 3 AÜG zu überlassen. Die hieraus resultierenden unionsrechtlichen Bedenken wurden durch die Einführung der sog. Vorbeschäftigungsklausel in § 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 4, 9 Nr. 2 Halbs. 4 AÜG beseitigt, die die Anwendung der Tariföffnungsklausel in Fällen des Drehtürverfahrens verbietet.4 7. Maßnahmen und Sanktionen i.S.d. Art. 10 Leiharb-RL
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Das deutsche Recht erfüllt im Hinblick auf die Umsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes die Anforderungen des Art. 10 Abs. 1 Leiharb-RL, wonach die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen vorsehen müssen, damit die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchgesetzt werden können. Insoweit sieht § 9 Nr. 2 AÜG i.V.m. § 10 Abs. 4 AÜG einen arbeitsgerichtlich durchsetzbaren Gleichstellungsanspruch für Leiharbeitnehmer vor, der durch Auskunftsansprüche (§ 12 Abs. 1 Satz 3, § 13 AÜG) abgesichert wird.5
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Auch das Erfordernis einer wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionierung i.S.d. Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL ist im Hinblick auf Art. 5 Leiharb-RL erfüllt, da neben dem in § 10 Abs. 4 AÜG normierten Gleichstellungsanspruch für den Fall der Nichteinhaltung des Gleichstellungsgrundsatzes als weitergehende Sanktionen die verwaltungsrechtlichen Rechtsfolgen der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 3 AÜG sowie der bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeitstatbestand gem. § 16 Abs. 1 Nr. 7a, Abs. 2 AÜG eingreifen.6
1 EuGH v. 11.12.2000 – Rs. C-110/99 – Emsland Stärke, Slg. 2000, I-11595 – Rz. 52 f.; vgl. GA Maduro 7.4.2005 – Rs. C-255/02 – Halifax u.a., Slg. 2006, I-1609 Rz. 67; Sagan, EBLR 2010, 15 (28 f.). 2 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 556. 3 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 554 ff. 4 Ausf. zu § 9 Nr. 2 Halbs. 4 AÜG Lembke, DB 2011, 414 (418 ff.). 5 Vor Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 563. 6 Vor Einführung des § 16 Abs. 1 Nr. 7a, Abs. 2 AÜG davon ausgehend, dass die Schaffung eines Ordnungswidrigkeitentatbestands Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL genügt Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 567; Ulber, J., AuR 2010, 10 (15); weitergehend wohl Blanke, Umsetzung der EU-Richtlinie Leiharbeit, S. 126; Hamann, EuZA 2009, 287 (325 f.).
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Zugang zu Beschäftigung
Rz. 92 § 8
VII. Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen und beruflicher Bildung Art. 6 Leiharb-RL enthält Bestimmungen zum „Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen und beruflicher Bildung“, mit denen die Qualität der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern verbessert1 und das in Art. 2 Leiharb-RL festgelegte Ziel gefördert werden soll, Arbeitsplätze zu schaffen, v.a. durch die Möglichkeit der Übernahme von Leiharbeitnehmern durch Entleiher.2
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1. Zugang zur Beschäftigung beim Entleiher a) Unterrichtung über offene Stellen Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Leiharb-RL sind Leiharbeitnehmer über die im entleihenden Unternehmen (d.h. nicht nur die im entleihenden Betrieb)3 offenen Stellen zu unterrichten, damit sie die gleichen Chancen auf einen unbefristeten Arbeitsplatz haben wie die übrigen Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens. Obwohl dieser Wortlaut auf die Erlangung einer unbefristeten Anstellung abzielt, ist auch über befristete Anstellungsmöglichkeiten zu informieren.4 Unerheblich ist dabei nicht nur die Eignung des Leiharbeitnehmers für die zu besetzende Stelle,5 sondern auch, ob es sich um eine Vollzeit- oder Teilzeitstelle handelt.6 Ob auch über Stellen zu informieren ist, die mit Leiharbeitnehmern besetzt werden sollen, ist umstritten.7 Die Bewerberauswahl durch den Arbeitgeber wird durch Art. 6 Abs. 1 Leiharb-RL hingegen nicht eingeschränkt.8
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Informationspflichtig sind die entleihenden Unternehmen.9 Allerdings soll es möglich – wenngleich mitunter unpraktikabel – sein, den Verleiher bei der Information von Leiharbeitnehmern einzubeziehen.10 Die Informationspflicht entsteht, sobald das entleihende Unternehmen über die (Neu)Besetzung eines Arbeitsplatzes entschieden hat.
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Die Unterrichtung kann gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 2 Leiharb-RL durch allgemeine Bekanntmachung an geeigneter Stelle in dem Unternehmen erfolgen, in dem Leiharbeitnehmer tätig sind, d.h. sie muss nicht individuell an jeden Leiharbeitnehmer gerich-
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1 Begründung des 1. RL-E durch die Kommission, KOM (2002), 149 endg., S. 16. 2 Waas, ZESAR 2009, 207 (212). 3 Forst, AuR 2012, 97 (97); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 11; bei im Ausland liegenden Betrieben einen Informationsanspruch ablehnend Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 11; kritisch auch Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 7; a.A. Kock, BB 2012, 323 (323). 4 Hamann, EuZA 2009, 287 (315); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 12; Lembke, NZA 2011, 319 (320); wohl a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 5. 5 Forst, AuR 2012, 97 (97); Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 39; HWK/Gotthardt, § 13a AÜG Rz. 2; Hamann, RdA 2011, 321 (335); Lembke, NZA 2011, 319 (320); a.A. Thüsing/Kock, AÜG, §§ 13a, 13b Rz. 6; Kock, BB 2012, 323 (323); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 4; eine teleologische Reduktion erwägend Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 13. 6 Expert Group Report, Transposition of Directive 2008/104/EC, S. 39; Boemke/Lembke/ Lembke, AÜG, § 13a Rz. 12; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 5. 7 Ablehnend Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 15 m.w.N.; a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 3. 8 Hamann, RdA 2011, 321 (334); a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 14 ff. 9 Bertram, AIP 11/2008, 3 (6); Forst, AuR 2012, 97 (97); Hamann, EuZA 2009, 287 (315); Hamann, RdA 2011, 321 (334). 10 Hamann, EuZA 2009, 287 (316).
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§8
Rz. 93
Leiharbeit
tet werden.1 Geeignet in diesem Sinne ist bspw. ein Aushang am schwarzen Brett, die Veröffentlichung im Intranet oder in einer Werkszeitung.2 Voraussetzung ist jedoch, dass diese für die eingesetzten Leiharbeitnehmer zugänglich sind.3 Inhaltlich sind mindestens die „Eckdaten“ der zu besetzenden Stelle anzugeben, damit sich Leiharbeitnehmer entscheiden können, ob sie sich sinnvollerweise auf die Stelle bewerben.4 93
Die Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 Leiharb-RL wurden durch die Einführung des Informationsanspruchs in § 13a AÜG umgesetzt,5 was im nationalen Recht aufgrund der Reichweite der Unterrichtungspflicht zu einer Besserstellung von Leiharbeitnehmern gegenüber den Arbeitnehmern des Entleihers führt.6 Dabei ist § 13a Satz 1 AÜG, der lediglich von einer Informationspflicht über „Arbeitsplätze des Entleihers“ spricht, aufgrund der Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 Leiharb-RL dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass über sämtliche zu besetzende Arbeitsplätze aller Betriebe des entleihenden Unternehmen zu informieren ist.7
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Verstöße gegen die Informationspflicht sind – was aufgrund von Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL erforderlich, aber auch ausreichend ist8 – gem. § 16 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 2 AÜG mit einem Bußgeld i.H.v. bis zu 2.500 E sanktioniert. Vereinbarungen, die den Informationsanspruch des Leiharbeitnehmers beschränken, sollen zudem nach § 134 BGB i.V.m. § 13a AÜG unwirksam sein.9 b) Übernahme durch den Entleiher
95
Art. 6 Abs. 2 UAbs. 1 Leiharb-RL verlangt von den Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, damit Klauseln, die den Abschluss eines Arbeitsvertrages zwischen Leiharbeitnehmer und entleihendem Unternehmen nach Beendigung der Überlassung entgegenstehen, nichtig sind oder für nichtig erklärt werden können.
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Hiervon unberührt bleiben nach Art. 6 Abs. 2 UAbs. 2 Leiharb-RL jedoch Bestimmungen, aufgrund derer Verleiher für die dem entleihende Unternehmen erbrachten Dienstleistungen in Bezug auf die Überlassung, Einstellung und Ausbildung von Leiharbeitnehmern einen Ausgleich in angemessener Höhe erhalten. Dies soll dem Interesse von Verleihern Rechnung tragen, mittels einer Vermittlungsprovision Personalrekrutierungs- und sonstige Personalkosten auszugleichen. Art. 6 Abs. 2 UAbs. 2 Leiharb-RL unterlegt solche Provisionen allerdings einer Zweckbindung und Ange-
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Hamann, EuZA 2009, 287 (315). Hamann, RdA 2011, 321 (334 f.); Lembke, DB 2011, 414 (418). Hamann, EuZA 2009, 287 (316); Lembke, DB 2011, 414 (418); ausf. Forst, AuR 2012, 97 (98). Ausf. Forst, AuR 2012, 97 (98); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 18; Lembke, NZA 2011, 319 (321); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 9. Forst, AuR 2012, 97 (98 f.); Hamann, NZA 2011, 70 (76 f.); a.A. Ulber, J., AiB 2011, 351 (355). Thüsing/Kock, AÜG, §§ 13a, 13b Rz. 2; ErfK/Wank, § 13a AÜG Rz. 1; ausf. Hamann, EuZA 2009, 287 (316); Hamann, NZA 2011, 70 (76 f.); Lembke, NZA 2011, 319 (320). Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 11; Lembke, NZA 2011, 319 (320); Hamann, RdA 2011, 321 (334 f.). Bereits vor Umsetzung der Richtlinie Hamann, EuZA 2009, 287 (326). Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 8; Lembke, DB 2011, 414 (418); ErfK/Wank, § 9 AÜG Rz. 10a; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13a Rz. 19; a.A. Thüsing/Mengel, AÜG, § 9 Rz. 54. Zu den weiteren Rechtsfolgen des Verstoßes gegen die Informationspflicht wie Schadensersatzansprüche Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13a Rz. 20 ff.; Lembke, NZA 2011, 319 (321 f.); Hamann, RdA 2011, 321 (335 f.).
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Sansone
Zugang zu Beschäftigung
Rz. 101
§8
messenheitskontrolle.1 Dies soll nach umstrittener Auffassung pauschalen Vermittlungshonoraren entgegenstehen.2 Nach Art. 6 Abs. 3 Leiharb-RL darf der Verleiher zudem weder für die Überlassung noch für den Fall, dass der Leiharbeitnehmer nach Beendigung der Überlassung ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher eingeht, ein Entgelt vom Leiharbeitnehmer verlangen. Dies verbietet Leiharbeitsunternehmen insbesondere, vom Leiharbeitnehmer eine Überlassungs- oder Vermittlungsvergütung zu fordern.3
97
Das deutsche Recht war bereits vor Umsetzung der Richtlinie hinsichtlich der Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 und 3 Leiharb-RL richtlinienkonform.4 Zum einen normierte § 9 Nr. 3 AÜG die Unwirksamkeit von Vereinbarungen, die dem Entleiher untersagen, den Leiharbeitnehmer nach Beendigung der Überlassung einzustellen; zum anderen waren solche Vereinbarungen zwischen Leiharbeitnehmer und Verleihern gem. § 9 Nr. 4 AÜG unwirksam.5
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Darüber hinausgehend hat der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie – wie zuvor z.T. gefordert6 – zudem in § 9 Nr. 5 AÜG klargestellt, dass Vereinbarungen, nach denen der Leiharbeitnehmer eine Vermittlungsvergütung an den Verleiher zu zahlen hat, unwirksam sind.7 Obwohl § 9 Nr. 5 AÜG dem Wortlaut nach lediglich Vermittlungsvergütungen verbietet, erfasst er aufgrund der Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 Leiharb-RL auch Überlassungsvergütungen.8
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Das nationale Recht sah, was vor Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie umstritten war,9 in § 9 Nr. 3 Halbs. 2 AÜG entsprechend Art. 6 Abs. 2 UAbs. 2 Leiharb-RL schließlich bereits die Möglichkeit vor, dass Verleiher und Entleiher eine angemessene Vergütung für die Vermittlung vereinbaren. Bei der Bestimmung der Vergütungshöhe sind nunmehr die Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 UAbs. 2 Leiharb-RL zu beachten.10
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2. Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten Gemäß Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL sollen Leiharbeitnehmer unbeschadet der Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 Leiharb-RL in den entleihenden Unternehmen zu den gleichen Bedingungen wie die unmittelbar von den Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen und -diensten haben, es sei denn, eine unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt. Dabei ist 1 Bertram, AIP 11/2008, 3 (6); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 22. Zur Bestimmung der Angemessenheit Hamann, EuZA 2009, 287 (317 f.); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 389 ff. 2 Bertram, AIP 11/2008, 3 (6); a.A. Hamann, EuZA 2009, 287 (317). 3 Hamann, EuZA 2009, 287 (318); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 524; Lembke, DB 2011, 414 (416). 4 Bertram, AIP 11/2008, 3 (6); Boemke, RIW 2009, 177 (186); Hamann, EuZA 2009, 287 (316 ff.); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 498 f.; Ulber, J., AuR 2010, 10 (14); Waas, ZESAR 2009, 207 (212 f.). 5 Dem insoweit scheinbar weiter reichenden Wortlaut der Richtlinie, der auch Klauseln erfasst, die „darauf hinauslaufen“, den Abschluss eines Arbeitsvertrags mit dem Entleiher zu verhindern, ist aufgrund der weiten Auslegung des § 9 Nr. 3, Nr. 4 AÜG Rechnung getragen, Hamann, EuZA 2009, 287 (316 f.). 6 Boemke, RIW 2009, 177 (186). 7 Lembke, DB 2011, 414 (416); Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 9 Rz. 400. 8 Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 9 Rz. 524, 527. 9 Ausf. Boemke/Lembke, AÜG, 2. Aufl. 2005, § 9 Rz. 179 ff. m.w.N. 10 Hierzu Boemke, RIW 2009, 177 (186); Ulber, J., AuR 2010, 10 (14).
Sansone
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§8
Rz. 102
Leiharbeit
von einer Anspruchsverpflichtung des entleihenden Unternehmens auszugehen.1 Der Anspruch bezieht sich auf die Einrichtungen und Dienste des entleihenden Unternehmens, nicht nur des Entleiherbetriebs.2 Ausweislich der Begründung des 1. RL-E soll dies die Motivation der Leiharbeitnehmer verbessern, ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Unternehmen stärken, das Verhältnis zu anderen Mitarbeitern beeinflussen und ihre Gesamtproduktivität steigern.3 a) Begriff der Gemeinschaftseinrichtungen oder -dienste 102
Umstritten ist, was unter dem Begriff der Gemeinschaftseinrichtungen oder -dienste, der erst im 2. RL-E den zuvor verwendeten (und im deutschen Recht bekannten) Begriff der sozialen Einrichtungen ersetzt hat, zu verstehen ist. Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL nennt insoweit lediglich beispielshaft die Gemeinschaftsverpflegung (etwa die Nutzung der Werkskantine), Kinderbetreuungseinrichtungen (wie Betriebskindergärten) und Beförderungsmittel (z.B. Betriebsbusse, die Arbeitnehmer an bestimmten Orten aufnehmen und absetzen).4
103
Diese Beispiele sprechen zwar für ein Begriffsverständnis, dass Einrichtungen und -dienste, die die soziale Aufnahme in den Betrieb bzw. die sozialen Teilhabe am Betriebsleben in den Vordergrund und einen etwaigen Entgeltcharakter in den Hintergrund stellt.5 Gegen die z.T.6 vertretenen restriktiven Begriffsverständnisse, die insbesondere Geldleistungen wie Unterstützungs- oder Pensionskassen vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL ausschließen, spricht hingegen nicht nur der primär von Art. 2 der Richtlinie verfolgte Arbeitnehmerschutz sowie das speziell mit Art. 6 Leiharb-RL verfolgte Ziel, die Qualität der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern zu verbessern.7 Gegen eine einschränkende Auslegung spricht darüber hinaus, dass Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL eine Ausnahme vom Teilhabeanspruch aus objektiven Gründen enthält.8 Ein „doppelt“ restriktives Verständnis sowohl der erfassten Einrichtungen und -dienste bei gleichzeitiger Möglichkeit der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen dürfte den Zielen des Art. 6 Leiharb-RL widersprechen. Daher ist ein weites Begriffsverständnis vorzugswürdig, das dem nationalrechtlichen Begriff der sozialen Einrichtungen i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG9 nahe kommen dürfte.10 1 Hamann, EuZA 2009, 287 (319); Hamann, NZA 2011, 70 (77); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 10; Lembke, NZA 2011, 319 (323); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 498 f.; Schüren/Schüren, AÜG, § 9 Rz. 130; Ulber, J., AuR 2010, 10 (13); Vielmeier, NZA 2012, 535 (536); a.A. Steuer, Arbeitnehmerüberlassung als Mittel zur Förderung des Arbeitsmarktes, S. 360. 2 Lembke, NZA 2011, 319 (324); a.A. Thüsing/Kock, AÜG, §§ 13a, 13b Rz. 22; Kock, BB 2012, 323 (325). 3 KOM (2002), 149 endg., S. 40. 4 Vgl. für die aufgeführten Beispiele Hamann, EuZA 2009, 287 (318). 5 So Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 24; Vielmeier, NZA 2012, 535 (536). 6 HWK/Gotthardt, § 13b AÜG Rz. 2; Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 20 ff.; Lembke, NZA 2011, 319 (323 f.); Thüsing/Kock, AÜG, §§ 13a, 13b Rz. 18; Kock, BB 2012, 323 (325); Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (201 f.); wohl auch Hamann, RdA 2011, 321 (337); reine Geldleistungen ausschließend Forst, AuR 2012, 97 (99 f.); zum 1. RL-E Thüsing, DB 2002, 2218 (2221 f.). 7 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 497. 8 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 497; s.a. Forst, AuR 2012, 97 (100). 9 Hierunter ist ein zweckgebundenes Sondervermögen zu verstehen, in das ein Teil der sachlichen und finanziellen Mittel des Unternehmens abgesondert und einer eigenen Organisation und Verwaltung unterstellt wird, s. etwa BAG v. 9.12.1980 – 1 ABR 80/77, NJW 1982, 253; Wlotzke/Preis/Kreft/Bender, BetrVG, § 87 Rz. 155 m.w.N. 10 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 494 ff.; Ulber, J., AiB 2011, 351 (356); ErfK/Wank, § 13b Rz. 2.
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Sansone
Zugang zu Beschäftigung
Rz. 108
§8
Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL gewährt den Anspruch unabhängig davon, ob die Gemeinschaftseinrichtungen oder -dienste durch den Entleiher selbst betrieben werden. Leiharbeitnehmer sollen daher auch bei einer Durchführung durch Dritte Anspruch auf Nutzung haben, soweit es sich um Gemeinschaftseinrichtungen oder -dienste handelt, auf die der Entleiher Einflussmöglichkeiten hat.1
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b) Bindung an die Zugangsbedingungen des Entleihers Der Zugangsanspruch des Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL stellt nicht auf den Vergleichsmaßstab des Art. 5 Abs. 1 Leiharb-RL (vgl. Rz. 55 ff.) ab, sondern verlangt, dass Leiharbeitnehmer in dem entleihenden Unternehmen zu den gleichen Bedingungen wie die unmittelbar von den Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten haben sollen.2 Er ist daher von der Erfüllung etwaiger, beim Entleiher vorgesehener zusätzlichen Leistungsvoraussetzungen abhängig.3
105
c) Ausnahme aus objektiven Gründen Nach Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL ist eine Ungleichbehandlung von Leiharbeitnehmern hinsichtlich des Zugangs zu den Gemeinschaftseinrichtungen und -diensten – die nicht zu einem Geldersatzanspruch des Leiharbeitnehmers führt –4 jedoch zulässig, wenn sie aus objektiven Gründen gerechtfertigt ist. Der Zugangsanspruch ist mithin nicht tarifdispositiv gem. Art. 5 Abs. 3 Leiharb-RL.5
106
Wann solche objektiven Gründe vorliegen, lässt die Leiharbeitsrichtlinie offen. Zur Konkretisierung dürfte auf den vom EuGH6 im Rahmen der sachlichen Rechtfertigung nach Art. 157 AEUV entwickelten Prüfungsmaßstab zurückgegriffen werden können, auf dessen Grundlage das BAG7 die Voraussetzungen für die Ungleichbehandlung von Teilzeitarbeitnehmern aus sachlichem Grund i.S.d. § 4 TzBfG entwickelt hat.8 Danach sind für eine Ungleichbehandlung objektive Gründe erforderlich, die einem billigenswerten Bedürfnis des Unternehmens entsprechen und für dessen Erreichung geeignet und erforderlich sind.9
107
Eine Ungleichbehandlung dürfte daher insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn die zeitlich begrenzte Tätigkeit des Leiharbeitnehmers beim Entleiher den Zugang zu den Einrichtungen und -diensten des Entleihers, etwa die Unterstützungs- oder Pensionskassen, unmöglich macht oder mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist und deshalb auch eigene Arbeitnehmer in vergleichbar befristeten Ar-
108
1 2 3 4 5 6 7 8
9
Ausf. Vielmeier, NZA 2012, 535 (538 f.). Forst, AuR 2012, 97 (100); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 494. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 494. Thüsing/Kock, AÜG, §§ 13a, 13b Rz. 27; Kock, BB 2012, 323 (326); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 15; nationalrechtlich a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 12. Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 4, 13; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 500. EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 63 ff. m.w.N. BAG v. 1.11.1995 – 5 AZR 84/94, NZA 1996, 813 (815 f.); vgl. hierzu Meinel/Heyn/Herms/ Herms, TzBfG, § 4 Rz. 30 ff. Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 501; ebenfalls für einen Rückgriff auf § 4 TzBfG Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 10; Vielmeier, NZA 2012, 535 (539 f.); vgl. auch Thüsing/Stiebert, ZESAR 2012, 199 (202), die unter Verweis auf § 8 AGG „mindestens“ auf die Voraussetzung einer Rechtfertigung wegen einer Diskriminierung abstellen. EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-381/99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 – Rz. 63 ff. m.w.N.
Sansone
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§8
Rz. 109
Leiharbeit
beitsverhältnissen vom Zugang ausgeschlossen wären.1 Auch stellt die Kapazitätsgrenze einen objektiven Rechtfertigungsgrund dar, da kein Anspruch auf Kapazitätserweiterung besteht, sondern lediglich auf Durchführung eines Auswahlverfahrens anhand objektiver Kriterien.2 Die „Leiharbeitnehmer-Eigenschaft“ als solche stellt hingegen keinen objektiven Grund i.S.d. Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL dar. Problematisch sind auch solche Gründe, die Leiharbeitnehmer mittelbar von der Nutzung der Gemeinschaftseinrichtungen und -dienste ausschließen, weil sie faktisch einzig dazu führen, dass Leiharbeitnehmer im Entleiherbetrieb insgesamt oder ganz überwiegend betroffen sind.3 109
Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL durch Einführung des in § 13b AÜG normierten Zugangsanspruchs zu Gemeinschaftseinrichtungen und -diensten umgesetzt.4 Gleichwohl besteht die Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung der Vorschrift.5 Denn in Abweichung von Art. 6 Abs. 4 LeiharbRL, stellt § 13b AÜG auf den Zugang ab, der vergleichbaren Arbeitnehmern gewährt wird. Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL knüpft einen Zugangsanspruch indes an die Bedingungen, die (alle) unmittelbar vom Entleiher beschäftigten Arbeitnehmer erfüllen müssen.6
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Zudem gewährt § 13b AÜG lediglich einen Anspruch hinsichtlich der Gemeinschaftseinrichtungen und -dienste im Einsatzbetrieb des Leiharbeitnehmers. Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL sieht jedoch einen unternehmensweiten Zugangsanspruch vor.7
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Indem § 13b AÜG eine gerichtlich durchsetzbare Anspruchsgrundlage enthält sowie die Unwirksamkeit von § 13a AÜG beschränkende Vereinbarungen in § 9 Nr. 2a AÜG angeordnet wird, hat der deutsche Gesetzgeber die Anforderungen des Art. 10 Abs. 1 Leiharb-RL erfüllt.8 Das Erfordernis einer wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktion gem. Art. 10 Abs. 2 Leiharb-RL erfüllt der bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeitstatbestand des § 16 Abs. 1 Nr. 10, Abs. 2 AÜG.9
1 Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 501; vgl. auch Hamann, RdA 2011, 321 (338); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 41; Lembke, NZA 2011, 319 (324); Ulber, J./ Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 11; s.a. BAG v. 13.12.1994 – 3 AZR 367/94, NZA 1995, 886 (886 ff.) zu § 4 Abs. 2 TzBfG. 2 Hamann, EuZA 2009, 287 (319); a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 7, 12. 3 Forst, AuR 2012, 97 (101); Hamann, EuZA 2009, 287 (319); s.a. Hamann, NZA 2011, 70 (77); a.A. wohl Vielmeier, NZA 2012, 535 (537 f.). 4 Lembke, DB 2011, 414 (418); Lembke, NZA 2011, 319 (323). Zum (Gesamtschuld)Verhältnis des Anspruchs aus § 13b AÜG zu §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG Boemke/Lembke/ Lembke, AÜG, § 13b Rz. 14. 5 Lembke, NZA 2011, 319 (324); Forst, AuR 2012, 97 (100 f.); Hamann, RdA 2011, 321 (338); Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 39. 6 Hamann, NZA 2011, 70 (77); Hamann, RdA 2011, 321 (338). Das Heranziehen des hypothetisch „vergleichbaren Arbeitnehmers“ insoweit jedoch als „Kontrollüberlegung“ anerkennend Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 38; Lembke, NZA 2011, 319 (324). 7 Forst, AuR 2012, 97 (100); Lembke, NZA 2011, 319 (324); a.A. Thüsing/Kock, AÜG, §§ 13a, 13b Rz. 22; Kock, BB 2012, 323 (325). 8 Hamann, EuZA 2009, 287 (327); Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 567. 9 Hamann, RdA 2011, 321 (339); vor Einführung des § 16 Abs. 1 Nr. 7a, Abs. 2 AÜG Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, S. 568. Ausf. zu den Rechtsfolgen des Verstoßes gegen die Informationspflicht Boemke/Lembke/Lembke, AÜG, § 13b Rz. 43 ff.; Lembke, NZA 2011, 319 (324 f.); Hamann, RdA 2011, 321 (338 f.).
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Sansone
Vertretung der Leiharbeitnehmer
Rz. 115
§8
3. Zugang zu beruflicher Bildung Nach Art. 6 Abs. 5 Leiharb-RL treffen die Mitgliedstaaten die geeigneten Maßnahmen oder fördern den Dialog zwischen den Sozialpartnern nach ihren nationalen Traditionen und Gepflogenheiten mit dem Ziel, den Zugang der Leiharbeitnehmer zu Fortund Weiterbildungsangeboten und Kinderbetreuungseinrichtungen in den Leiharbeitsunternehmen – auch in der Zeit zwischen den Überlassungen – zu verbessern, um deren berufliche Entwicklung und Beschäftigungsfähigkeit zu fördern, und den Zugang der Leiharbeitnehmer zu den Fort- und Weiterbildungsangeboten für die Arbeitnehmer der entleihenden Unternehmen zu verbessern.
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Wie diese Formulierung zeigt, verpflichtet Art. 6 Abs. 5 Leiharb-RL die Mitgliedstaaten anders als Art. 6 Abs. 4 Leiharb-RL nicht dazu, einen Anspruch auf Zugang zu beruflicher Bildung in den Verleiher- und Entleihunternehmen zu normieren, sondern eröffnet einen weiten Handlungsspielraum.1 Die Mitgliedstaaten sind lediglich dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen oder den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu fördern, um den Zugang der Leiharbeitnehmer zu Fort- und Weiterbildungsangeboten (und Kinderbetreuungseinrichtungen im Verleihunternehmen) zu verbessern.2 Angesichts dieser Formulierungen enthält Art. 6 Abs. 5 Leiharb-RL letztlich lediglich eine „Bemühenspflicht“.3
113
Regelungen zum Zugang von Leiharbeitnehmern zu Fort- und Weiterbildungsangeboten sollen im nationalen Recht nach umstrittener Auffassung weder gegenüber Verleihern noch gegenüber Entleihern in hinreichender Weise bestehen.4 Gleichwohl wird eine mangelhafte Richtlinienumsetzung lediglich hinsichtlich fehlender Regelungen betreffend den Zugang zu Fort- und Weiterbildungsangeboten in Entleihunternehmen – trotz Einführung von § 13b AÜG – diskutiert.5 Mangels Nachweises eines „Bemühens“ i.S.d. Art. 6 Abs. 5 Leiharb-RL soll dem deutschen Gesetzgeber daher insoweit ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV drohen.6
114
VIII. Vertretung der Leiharbeitnehmer Art. 7 Leiharb-RL regelt die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den Schwellenwerten für die Einrichtung der Arbeitnehmervertretungen. Keine Vorgaben enthält er hingegen zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern im Rahmen anderer Schwellenwerte, hinsichtlich der Fragen des aktiven und passiven Wahlrechts oder hinsichtlich des Bestehens von Beteiligungsrechten.7 Arbeitnehmervertretungen i.S.d. 1 2 3 4
Vgl. Hamann, EuZA 2009, 287 (327); a.A. Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 22. Hamann, EuZA 2009, 287 (320); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 25 f. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 25; s.a. Vielmeier, NZA 2012, 535 (540). A.A. unter Verweis auf die insoweit nicht ausreichende – da lediglich eine Qualifizierung der Leiharbeitnehmer wie Stammarbeitnehmer bewirkende – Anwendung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes, Boemke, RIW 2009, 177 (187). A.A. unter Verweis darauf, dass Qualifizierungsansprüche – entgegen der Auffassung des BAG – wesentliche Arbeitsbedingung i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 AÜG seien Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 20 ff. Zu beim Verleiher geltenden Qualifikationsregelungen im Rahmen des BetrVG Hamann, EuZA 2009, 287 (320 f.). 5 Boemke, RIW 2009, 177 (187); Ulber, J., AuR 2010, 10 (15); s.a. Forst, AuR 2012, 97 (100), der aus diesem Grund Schulungen und Fortbildungsveranstaltungen § 13b AÜG unterwirft; dies offen lassend Lembke, NZA 2011, 319 (324); ablehnend Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 22. 6 Ulber, J./Ulber, J., AÜG, § 13b Rz. 23; Ulber, J., AuR 2011, 231. 7 Hamann, EuZA 2009, 287 (322); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 28.
Sansone
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§8
Rz. 116
Leiharbeit
Art. 7 Leiharb-RL, aber auch Art. 8 Leiharb-RL sind nach deutschem Verständnis Betriebsräte und der Wirtschaftsausschuss nach § 106 BetrVG, nicht aber Aufsichtsräte.1 116
Nach Art. 7 Abs. 1 Leiharb-RL sind Leiharbeitnehmer im Verleihunternehmen bei der Berechnung des Schwellenwertes für die Einrichtung der Arbeitnehmervertretungen zu berücksichtigen, die nach Unionsrecht (z.B. in der EBR-Richtlinie vgl. § 12 Rz. 1 ff.), nationalem Recht (z.B. im BetrVG) oder in Tarifverträgen vorgesehen sind.2 Allerdings können die Mitgliedstaaten gem. Art. 7 Abs. 2 Leiharb-RL auch vorsehen, dass Leiharbeitnehmer im entleihenden Unternehmen bei der Berechnung dieser Schwellenwerte im gleichen Maße berücksichtigt werden wie Arbeitnehmer, die das entleihende Unternehmen für die gleiche Dauer unmittelbar beschäftigt. In diesem Fall sind die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 3 Leiharb-RL nicht verpflichtet, (zudem) die Berücksichtigung der Leiharbeitnehmer im Leiharbeitsunternehmen nach Art. 7 Abs. 1 Leiharb-RL einzuführen.
117
Die betriebsverfassungsrechtliche Stellung von Leiharbeitnehmern ist richtlinienkonform in § 14 AÜG geregelt.3 Gemäß § 14 Abs. 1 AÜG bleiben Leiharbeitnehmer auch während der Überlassung an einen Entleiher Angehörige des Verleiherbetriebs. Hieraus folgt zugleich deren Berücksichtigung im Rahmen der Schwellenwerte des BetrVG, wie sie Art. 7 Abs. 1 Leiharb-RL verlangt.
118
Unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BAG4 zudem entscheiden, dass in der Regel beschäftigte Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten des § 9 Satz 1 BetrVG im Entleiherbetrieb mitzuzählen sind.5 Einer solchen doppelten Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den Schwellenwerten im Verleiher- und Entleiherbetrieb steht Art. 7 Abs. 3 Leiharb-RL nicht entgegen.6
IX. Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter 119
Nach Art. 8 Leiharb-RL haben entleihende Unternehmen den nach einzelstaatlichem Recht und Unionsrecht eingesetzten Arbeitnehmervertretungen im Zuge der Unterrichtung über die Beschäftigungslage in dem Unternehmen angemessene Informationen über den Einsatz von Leiharbeitnehmern in dem Unternehmen vorzulegen. Dies gilt nach Art. 8 Leiharb-RL unbeschadet strengerer und/oder spezifischerer einzelstaatlicher oder unionsrechtlicher Vorschriften über die Unterrichtung sowie Anhörung und insbesondere der Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie (vgl. § 12 Rz. 201 ff.). Zu den angemessenen Informationen in diesem Sinne gehören mindes-
1 Boemke, RIW 2009, 177 (188); Hamann, EuZA 2009, 287 (324). 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 18 Rz. 28. 3 Boemke, RIW 2009, 177 (187 f.); Hamann, EuZA 2009, 287 (322 f.); Hamann, RdA 2011, 321 (340); Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 620; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. Rz. 65; Waas, ZESAR 2009, 207 (213); zur Vereinbarkeit mit Art. 10 Leiharb-RL Hamann, EuZA 2009, 287 (327 f.). 4 BAG v. 13.3.2013 – 7 AZR 69/11, NZA 2013, 789. Zur Berücksichtigung im Rahmen des § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG BAG v. 24.1.2013 – 2 AZR 140/12, NZA 2013, 726. 5 Inwiefern sich eine regelmäßige Beschäftigung von Leiharbeitnehmern mit dem nach hier vertretener Ansicht unionsrechtlich angeordneten Verbot der Abdeckung von Dauerbeschäftigungsbedarf durch Leiharbeitnehmer beim Entleiher (vgl. Rz. 23 ff.) vereinbaren lässt, hat das BAG nicht thematisiert. 6 Boemke, RIW 2009, 177 (188); Hamann, EuZA 2009, 287 (322); vor Änderung der Rechtsprechung eine solche unionsrechtlich fordernd Ulber, J., AiB 2011, 351 (356).
472
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Sansone
Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter
Rz. 120
§8
tens Auskünfte über die Zahl der eingesetzten Arbeitnehmer, Arbeitsbereich und -platz sowie der zeitliche Umfang der Tätigkeit der Leiharbeitnehmer.1 Das deutsche Recht ist im Hinblick auf Art. 8 Leiharb-RL richtlinienkonform.2 Insoweit bestehen für Entleiher gegenüber dem Betriebsrat Unterrichtungspflichten aus §§ 80 Abs. 1 Nr. 1–9, Abs. 2 Satz 1, 92, 92a BetrVG und § 99 BetrVG i.V.m. § 14 Abs. 3 AÜG sowie gegenüber dem Wirtschaftsausschuss nach § 106 Abs. 3 BetrVG.3
1 Ausf. Boemke, RIW 2009, 177 (188); Hamann, EuZA 2009, 287 (323). 2 Boemke, RIW 2009, 177 (188); Hamann, RdA 2011, 321 (340); Schüren/Riederer v. Paar, AÜG, Einl. Rz. 621; Ulber, J./Ulber, J., AÜG, Einl. Rz. 66. Zur Vereinbarkeit mit Art. 10 Leiharb-RL Hamann, EuZA 2009, 287 (328). 3 Ausf. Boemke, RIW 2009, 177 (188); Hamann, EuZA 2009, 287 (324); Hamann, RdA 2011, 321 (340); Schüren/Hamann, AÜG, § 14 Rz. 140 ff.
Sansone
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120
§ 9 Befristungsrecht Rz. I. Von der Rahmenvereinbarung zur Richtlinie 1. Entstehungsgeschichte . . . . . . . .
1
2. Aufbau der Richtlinie . . . . . . . . .
6
3. Rechtsnatur und Wirkung . . . . . .
7
II. Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . .
9
III. Schnittstellen mit anderen unionsrechtlichen Regelungen . . . . . . . . 12 IV. Anwendungsbereich und Wirkung 1. Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . a) Arbeitnehmer im Sinne der Rahmenvereinbarung . . . . . . . . . . aa) Beschäftigte im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . bb) Herausnahme der Leiharbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befristete und vergleichbare Dauerbeschäftigte, § 3 Befr-RV aa) Anwendung auf Befristungen unabhängig von der Anzahl . bb) Befristung i.S.v. § 3 Nr. 1 Befr-RV . . . . . . . . . . . . . . cc) Vergleichbare Dauerbeschäftigte gem. § 3 Nr. 2 Befr-RV c) Ausnahmen, § 2 Nr. 2 Befr-RV . .
17 18 19 26 31
4. Beschäftigungsbedingungen und Betriebszugehörigkeitszeiten a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zwischen § 4 Nr. 1 und § 4 Nr. 4 Befr-RV . . . . . . . . . . c) Anwendungsbereich . . . . . . . . d) Rechtfertigung durch sachlichen Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104 107 110 112
5. Anwendungsmodalitäten . . . . . . . 115 6. Rechtsfolge bei Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot . . . . . . . . 118
1. Ziel und Inhalt des § 5 Befr-RV . . . 124
38 43
1. Struktur und Stellenwert . . . . . . . 57
Brose
87
3. Pro-rata-temporis-Grundsatz . . . . . 96 a) Inhalt und Anwendungsbereich . 97 b) Angemessenheit . . . . . . . . . . . 101
34
V. Diskriminierungsverbot
|
83 86
VI. Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV . . . . . . . . . 123
3. Unmittelbare Wirkung der einzelnen Regelungen der Befr-RV . . . . . 49 a) Unmittelbare Wirkung des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . 51 b) Unmittelbare Wirkung des Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . 55
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78
33
2. Zeitlicher Anwendungsbereich . . . 46
2. Diskriminierungsverbot nach § 4 Nr. 1 Befr-RV a) Persönlicher Anwendungsbereich und Vergleichsgruppe . . . . . . . . b) Anwendbarkeit bei Wechsel in Dauerbeschäftigung . . . . . . . . . c) Bezugspunkt Beschäftigungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . aa) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonderfall Arbeitsentgelt . . d) Schlechterbehandlung . . . . . . .
Rz. aa) Prüfung einer „vergleichbaren Situation“ . . . . . . . . bb) Anwendbarkeit auf mittelbare Benachteiligungen . . . e) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . f) Rechtfertigung durch sachlichen Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 61 65 66 71 77
2. Gleichwertige gesetzliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Anforderungen bestimmter Branchen/Arbeitnehmerkategorien . . . . 129 4. Verhältnis der Maßnahmen nach § 5 Nr. 1 Befr-RV zueinander . . . . . . . 133 5. Die einzelnen Maßnahmen gem. § 5 Nr. 1 Befr-RV a) Sachlicher Grund . . . . . . . . . . aa) Voraussetzungen . . . . . . . . bb) Einzelne Sachgründe . . . . . (1) Vertretungsbedarf . . . . (2) Begrenzte Haushaltsmittel . . . . . . . . . . . . . . (3) Sozialpolitische Zwecke (4) Altersgrenze . . . . . . . . (5) Spezifische Lehraufgaben im Hochschulbereich . . cc) Zusätzliche Missbrauchskontrolle . . . . . . . . . . . . . b) Höchstdauer und Verlängerung . 6. Begriffsbestimmungen nach § 5 Nr. 2 Befr-RV
135 136 139 140 142 147 149 152 154 167
§9
Befristungsrecht Rz. a) „Aufeinander folgende Befristungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Befristung nach § 5 Nr. 2 Buchst. b Befr-RV . . . . . . . . . 177 7. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Verhältnismäßige, effektive und abschreckende Maßnahmen . . . 180 b) Zulässigkeit unterschiedlicher Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . 183 VII. Information und Beschäftigungsmöglichkeiten, § 6 Befr-RV . . . . . 189
Rz. VIII. Information und Konsultation, § 7 Befr-RV . . . . . . . . . . . . . . . 194 IX. Umsetzungsbestimmungen, § 8 Befr-RV . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Beibehaltung oder Einführung günstigerer Bestimmungen . . . . . 201 2. Senkung des Schutzniveaus . . . . 203 X. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Schrifttum: Annuß/Thüsing (Hrsg.), Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Bauer/Fischinger, Sachgrundlose Befristung und Verbot der Vorbeschäftigung bei „demselben Arbeitgeber“, DB 2007, 1410; Bayreuther, Altersgrenzen, Kündigungsschutz nach Erreichen der Altersgrenze und die Befristung von „Altersrentnern“ – Eine Skizze im Lichte der Hörnfeldt-Entscheidung des EuGH, NJW 2012, 2758; Bieder/Diekmann, Verbot der Diskriminierung befristet Beschäftigter bei der Gewährung von Dienstalterszulagen, EuZA 2008, 515; Boecken/Joussen, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Brose, Sachgrundlose Befristung und betriebsbedingte Kündigung von Leiharbeitnehmern – Ein unausgewogenes Rechtsprechungskonzept, DB 2008, 1378; Brose, Die BAG-Rechtsprechung zu § 14 I 2 Nr. 3 TzBfG – Ein Fall für den EuGH, NZA 2009, 706; Brose/Sagan, Kettenbefristung wegen Vertretungsbedarfs im Zwielicht des Unionsrechts, NZA 2012, 308; Corazza/Nogler, Die „weiche“ Wirkung des Verschlechterungsverbotes in EU-Richtlinien – zugleich eine Besprechung von EuGH Rs. C-98/09 (Sorge), ZESAR 2011, 58; Däubler, Das geplante Teilzeit- und Befristungsrecht, ZIP 2000, 1961; Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag, 2. Aufl. 2011; Eisemann, Befristung und virtuelle Dauervertretung, NZA 2009, 1113; Forst, Kein Befristungsschutz für Leiharbeitnehmer?, FA 2013, 162; Etzel u.a. (Hrsg.), KR: Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 10. Aufl. 2013; Franzen, Anmerkung zu EuGH 4.7.2006, JZ 2007, 191; Gotthardt, Anmerkung zu EuGH 5.7.2012 (Hörnfeldt), EuZA 2013 268; Greiner, Auslegung von Absenkungsverboten in Richtlinien und Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung – Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 24.6.2010 – Rechtssache Sorge, EuZA 2011, 74; Greiner, Missbrauchskontrolle bei „Kettenbefristungen“, EuZA 2012, 529; Greiner, Anmerkung zu BAG 18.10.2006, EzA § 14 TzBfG Nr. 34; Greiner, Zwischen Kücük, Albron Catering, Della Rocca und Cartesio, NZA 2014, 284; Hanau, Was ist wirklich neu in der Befristungsrichtlinie?, NZA 2000, 1045; Hirdina, Befristung wissenschaftlicher Mitarbeiter verfassung- und europarechtswidrig!, NZA 2009, 712; Höland, Anmnerkung zu EuGH 7.9.2006 (Marrosu/Sardino), ZESAR 2007, 180; Höpfner, Die Reform der sachgrundlosen Befristung durch das BAG – Arbeitsmarktpolitische Vernunft contra Gesetzestreue, NZA 2011, 893; Joussen, Anmerkung zu EuGH 26.1.2012 (Kücük), AP Nr. 9 zu Richtlinie 99/70/EG; Junker, Europarechtliche und verfassungsrechtliche Fragen des deutschen Befristungsrechts, EuZA 2013, 3; Kaufmann, Die europäische Sozialpartnervereinbarung über befristete Arbeitsverträge, AuR 1999, 332; Kliemt, Das neue Befristungsrecht, NZA 2001, 296; Kerwer, Verschlechterungsverbote in Richtlinien – Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 23.4.2008 – Rechtssache Angelidaki und andere, EuZA 2010, 253; Kovàcs, Anmerkung zu EuGH 18.10.2012 (Valenza), ZESAR 2013, 176; Laux/Schlachter, Teilzeit- und Befristungsgrecht: TzBfG, 2. Aufl. 2011; Leible, Pflicht zur klaren und eindeutigen Umsetzung der Richtlinie 93/13/EWG, EuZW 2001, 438; Lembke, Neues vom EuGH zum Befristungsschutz von Leiharbeitnehmern, NZA 2013, 815; Linsenmaier, Befristung und Bedingung – Ein Überblick über die aktuelle Rechtsprechung des Siebten Senats des BAG unter besonderer Berücksichtigung des Unionsrechts und des nationalen Verfassungsrechts, RdA 2012, 193; Maschmann, BB-Kommentar: „Die Kettenbefristung lebt!“, BB 2012, 1098; v. Medem, Anmerkung zu EuGH v. 12.12.2013 – C-361/12 (Carratù), ZESAR 2014, 243; Persch, Kehrtwende in der BAG-Rechtsprechung zum Vorbeschäftigungs-
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§9
Rz. 1
Befristungsrecht
verbot bei sachgrundloser Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG – Anmerkung zur Entscheidung des BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, ZTR 2011, 404; Preis, Verbot der Altersdiskriminierung als Gemeinschaftsgrundrecht – Der Fall „Mangold“ und die Folgen, NZA 2006, 401; Preis/Gotthardt, Neuregelung der Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse – Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, DB 2000, 2065; Preis/Greiner, Befristungsrecht – Quo vadis?, RdA 2010, 148; Preis/Loth, Der Gesamtvertretungsbedarf – eine zulässige Kategorie des Befristungsrechts?, ZTR 2013, 232; Richardi/Annuß, Gesetzliche Neuregelung von Teilzeitarbeit und Befristung, BB 2000; Rolfs/de Groot, Die Befristung von Arbeitsverträgen in der Rechtsprechung des EuGH, ZESAR 2009, 5; Sievers, TzBfG, 4. Aufl. 2012; Temming, Der Fall Palacios: Kehrtwende im Recht der Altersdiskriminierung?, NZA 2007, 1193; Thüsing, Das Verbot der Diskriminierung wegen Teilzeit und Befristung nach § 4 TzBfG – Aktuelles und Grundsätzliches zu einer Rechtsfigur sui generis, ZfA 2002, 249; Thüsing/Stiebert, Arbeitnehmerbegriff – Befristungsrichtlinie, ZESAR 2011, 124; Ulber, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz AÜG: Basiskommentar zum AÜG, 2. Aufl. 2013; Wank, Die personellen Grenzen des Europäischen Arbeitsrechts: Arbeitsrecht für Nicht-Arbeitnehmer?, EuZA 2008, 172; Wank/Börgmann, Der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über befristete Arbeitsverträge, RdA 1999, 383; Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/Weber/Franzen, Gemeinschaftskommentar zum BetrVG: GK-BetrVG, Band 1, 10. Aufl. 2014.
I. Von der Rahmenvereinbarung zur Richtlinie 1. Entstehungsgeschichte 1
Die geläufig als Befristungrichtlinie bezeichnete Richtlinie 1999/70/EG weist keinen eigenen materiellen Inhalt auf. Sie bestimmt vielmehr gem. Art. 1, dass die im Anhang beigefügte Rahmenvereinbarung der allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen EGB, UNICE und CEEP vom 18.3.1999 über befristete Arbeitsverträge (Befr-RV) durchgeführt werden soll. Erst in dieser Rahmenvereinbarung finden sich materiell-rechtliche Regelungen zu befristeten Arbeitsverträgen.1
2
Die Rahmenvereinbarung ist das Ergebnis eines langandauernden Prozesses. Dabei waren von Beginn an das Anliegen, atypische Arbeitsverhältnisse auf Unionsebene zu regeln, und die Entwicklung der Kompetenzgrundlagen eng miteinander verwoben.2 Ein erster Richtlinienvorschlag des Rates aus dem Jahr 1982 ebenso wie dessen geänderte Fassung zwei Jahre später und ein erneuter Vorstoß im Jahr 1990 blieben erfolglos.3 Erst über den sozialen Dialog (vgl. § 1 Rz. 71 ff.)4 war der Weg für die Rahmenvereinbarung und die anschließende Richtlinie bereitet. Die branchenübergreifenden Sozialpartner auf europäischer Ebene, namentlich UNICE, CEEP und EGB, schlossen im Jahr 1999 eine Sozialpartnervereinbarung zu den Rahmenbedingungen für befristete Arbeitsverträge,5 welche der Rat auf Vorschlag der Kommission nach dem Verfahren des Art. 155 Abs. 2 AEUV mit der Richtlinie 1999/70/EG durchführte.6
3
Insgesamt spiegelt sich in der Rahmenvereinbarung die zögerliche Grundtendenz wider, die jahrelang die Entwicklung eines europäischen Mindeststandards für Befristungen begleitet hat. So wird in der Literatur häufig bemängelt, dass die Befristung von 1 Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 113; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 252. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 5. 3 Zur Entwicklung Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 5; EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 1. 4 Welcher mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 in den EG-Vertrag eingeführt wurde; s. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 8. 5 Zum Verlauf der Verhandlungen s. Kaufmann, AuR 1999, 332; EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 3. 6 EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 3; s. zur Entstehung auch die Erwägungsgründe Nr. 9–11 der Richtlinie.
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Brose
Von der Rahmenvereinbarung zur Richtlinie
Rz. 5
§9
Arbeitsverhältnissen durch die (Durchführungs-)Richtlinie nur „rudimentär“ geregelt wird.1 Dies wird maßgeblich darauf zurückgeführt, dass die Arbeitgeberseite, für die das Interesse an Flexibilität im Vordergrund stand, den Forderungen der Gewerkschaftsseite, die Befristung nur stark eingeschränkt zuzulassen, nur geringfügig nachgekommen ist. So sollte nach Auffassung der Gewerkschaftsseite jede Befristung an einen sachlichen Grund gebunden sein, die Höchstdauer von Mehrfachbefristungen auf drei Jahre festgelegt werden und nicht mehr als zwei Verlängerungen zulässig sein. Diese Voraussetzungen sollten kumulativ vorliegen müssen.2 Die endgültige Fassung der Rahmenvereinbarung lässt hingegen einen großen Spielraum für die Begründung befristeter Arbeitsverhältnisse: Die verschiedenen Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung werden lediglich in ein Alternativitätsverhältnis gestellt. Zugleich lässt die weite Formulierung aber auch einen weiten Spielraum für die Rechtsprechung des EuGH, welchen er im Anschluss durchaus genutzt hat, um den Arbeitnehmerschutz zu stärken. Dies wird sich bspw. im Rahmen der Ausführungen zur weiten Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs und der Missbrauchskontrolle zeigen. Die Richtlinie wurde mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz vom 21.12.2000 fristgemäß zum 1.1.2001 umgesetzt.3 In der Literatur wird die Umsetzung insgesamt als weit über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehend angesehen, weil das TzBfG bspw. bereits für die erstmalige Befristung des Arbeitsverhältnisses einen sachlichen Grund fordert.4 Angesichts des geringen Regelungsgehalts der Richtlinie ist es zumindest nicht überraschend, wenn das nationale Recht strengere Anforderungen für die Zulässigkeit von Befristungen vorsieht.5
4
Neben dem TzBfG fällt vor allem das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) vom 12.4.20076 in den Anwendungsbereich der Richtlinie,7 ebenso bspw. die Befristung nach § 21 BEEG.8 Ob Richtlinien generell auch auf Tarifverträge unmittelbar anwendbar sind, ist noch nicht abschließend geklärt (vgl. § 1 Rz. 134). Jedoch kann der Rechtsprechung des EuGH jedenfalls entnommen werden, dass dann eine unmittelbare Wirkung eintritt, wenn auf Arbeitgeberseite der „Staat“ als Tarifpartei auftritt (vgl. § 1 Rz. 134). Damit müssen jedenfalls auch Normen des TVöD und TV-L den Vorgaben der Richtlinie entsprechen, so z.B. § 16 TV-L.9
5
1 MüArbR/Oetker, § 10 Rz. 42; s. auch EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 4, nach dessen Ansicht die Rahmenvereinbarung über „einen sehr geringen Regelungsgehalt verfügt“; Kaufmann, AuR 1999, 332 (334). 2 Kaufmann, AuR 1999, 332 (333). 3 So ausdrücklich die amtliche Anmerkung Nr. 1 zum TzBfG, BGBl. I, S. 1966; damit löste das TzBfG das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 ab, s. hierzu auch Boecken/Joussen/Joussen, § 1 Rz. 1. 4 MüArbR/Oetker, § 10 Rz. 42. 5 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 3 „die Rahmenvereinbarung enthält freilich nur wenige Regelungen und diese sind überwiegend auch nur rahmenhaft gestaltet.“ 6 BGBl. I, S. 506. 7 Zu unionsrechtlichen Bedenken bzgl. Umsetzung der Rahmenvereinbarung s. Hirdina, NZA 2009, 712. 8 S. in Bezug auf das Diskriminierungsverbot aus § 4 Befr-RV KDZ/Däubler, § 4 Rz. 15; das BAG hat in seinem Vorlagebeschluss in der Rs. Kücük auch die Frage gestellt ob die Vertretung ein sachlicher Grund bei ständigem Vertretungsbedarf sein kann, wenn wie bei § 21 BEEG jedenfalls auch das sozialpolitische Ziel verfolgt wird, die Möglichkeit zu Sonderurlaub z.B. aus Gründen des Mutterschutzes oder der Erziehung zu erleichtern, BAG v. 17.11.2010 – 7 AZR 443/09 (A), NZA 2011, 34, da der EuGH allerdings die vorangegangene Frage bereits verneint hatte, musste er sich nicht mehr hierzu äußern, EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135. 9 S. zu §§ 16, 17 TVL BAG 24.10.2013 – 6 AZR 964/11, NZA-RR 2014, 98.
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§9
Rz. 6
Befristungsrecht
2. Aufbau der Richtlinie 6
Der Aufbau der Richtlinie 1999/70/EG scheint auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig. Er erklärt sich aber aus der Tatsache, dass ihr eine Sozialpartnervereinbarung zugrunde liegt. Die Art. 1–4 der Richtlinie enthalten keine materiell-rechtlichen Regelungen zum Befristungsrecht. Sie legen im Wesentlichen fest, dass die von den Sozialpartnern geschlossene Rahmenvereinbarung, die im Anhang der Richtlinie enthalten ist, durchgeführt werden soll, und machen Vorgaben für die Umsetzung. Erst in der Rahmenvereinbarung befinden sich die materiell-rechtlichen Regelungen. Daher existieren in der Richtlinie auch zwei voneinander unabhängige Erwägungsgründe: Zum einen die Erwägungsgründe zur Richtlinie und zum anderen die Präambel und die allgemeinen Erwägungsgründe, die der Rahmenvereinbarung vorangestellt wurden. Sie betreffen jeweils unterschiedliche Regelungsgegenstände. Die Präambel und allgemeinen Erwägungsgründe, die der Rahmenvereinbarung vorangestellt sind, wurden von den Sozialpartnern formuliert, wohingegen die Erwägungsgründe zur Richtlinie von der Kommission stammen. 3. Rechtsnatur und Wirkung
7
Die Rechtsnatur und Wirkung der Rahmenvereinbarung sind in diesem Zusammenhang insoweit unproblematisch, als sie durch Ratsbeschluss in Form der Richtlinie durchgeführt wird. Somit wirkt ihr materiell-rechtlicher Inhalt wie eine Richtlinie (zur Rechtsnatur und Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen vgl. § 1 Rz. 72 ff.).
8
Nicht geklärt ist bisher hingegen, wie es sich auswirkt, wenn die Erwägungsgründe zur Richtlinie und die Präambel der Sozialpartner, nebst deren allgemeinen Erwägungen, zur Rahmenvereinbarung nicht (vollständig) übereinstimmen. So wird bspw. nur in der Präambel der Rahmenvereinbarung und Nr. 6 der allgemeinen Erwägungsgründe zur Rahmenvereinbarung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der unbefristete Vertrag die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses darstellt und auch weiterhin darstellen soll. In den Erwägungsgründen zur Richtlinie findet sich keine entsprechende Vorgabe. Dies ist aber m.E. nicht schädlich, da bereits der Regelungsgegenstand der jeweiligen Rechtsakte ein unterschiedlicher ist. Die Richtlinie dient ausschließlich der Durchführung und legt gerade nicht selbst die materiell-rechtlichen Regelungen fest. Dementsprechend beziehen sich ihre Erwägungsgründe auch nicht auf die Befristung im Einzelnen, sondern vielmehr auf die vorgelagerten und allgemeineren Fragen, die den vorangegangenen sozialen Dialog betreffen. Für die Auslegung der materiell-rechtlichen Regelungen der Rahmenvereinbarung sind daher in erster Linie die Präambel und Erwägungsgründe der Rahmenvereinbarung maßgeblich. Hierfür spricht auch, dass die Kommission keine Befugnis hat, die Vereinbarung im Verfahren des Art. 155 Abs. 2 AEUV inhaltlich zu modifzieren. Sie kann die Vereinbarung nur mit dem von den Sozialpartnern vereinbarten Inhalt an den Rat weiterleiten. Damit ist ausgeschlossen, dass die Erwägungsgründe der Kommission den Inhalt der Rahmenvereinbarung beeinflussen.1
II. Sinn und Zweck 9
Nach § 1 Befr-RV werden zwei Ziele verfolgt: die Verbesserung der Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung 1 Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 155 AEUV Rz. 26.
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Brose
Schnittstellen mit anderen unionsrechtlichen Regelungen
Rz. 12 § 9
und die Verhinderung von Missbrauch durch aufeinanderfolgende Arbeitsverhältnisse. Beide Aspekte werden bereits in den Erwägungsgründen zur Rahmenvereinbarung aufgegriffen. Nach Nr. 7 hilft die Inanspruchnahme befristeter Arbeitsverträge aus objektiven Gründen, Missbrauch zu vermeiden. Nr. 9 zeigt einen besonderen Aspekt des Nichtdiskriminierungsgebots auf: Die Rahmenvereinbarung kann auch zur Verbesserung der Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern beitragen, da mehr als die Hälfte der befristet beschäftigten Arbeitnehmer in der EU Frauen sind. Diesen Regelungszielen liegt das Vorverständnis zugrunde, dass unbefristete Verträge die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses darstellen sollen. Dieses Vorverständnis kommt sowohl in der Präambel als auch in Erwägungsgrund Nr. 6 zum Ausdruck. Es wird zwar grundsätzlich ein Bedürfnis der Arbeitgeber und auch der Arbeitnehmer an einer Befristung anerkannt, allerdings nur „unter bestimmten Umständen.“1 Es soll ein „ausgewogenes Verhältnis zwischen Flexibilität und Sicherheit“ erreicht werden.2 Damit gibt die Rahmenvereinbarung für ihre Auslegung ein klares Stufenverhältnis vor: Die Interessen der Arbeitgeber an Flexibilität sind zu berücksichtigen, dennoch soll die Befristung die Ausnahme bleiben und der Arbeitnehmer für den Fall, dass die Befristung grundsätzlich ein berechtigtes Anliegen darstellt, vor Diskriminierung und Missbrauch geschützt werden. Das Schutzinteresse des Arbeitnehmers wird also grundsätzlich höher eingestuft als das Flexibilitätsinteresse des Arbeitgebers. Dahinter steht auch der Gedanke, dass mit der Befristung die Gefahr einhergeht, dass der Kündigungsschutz umgangen wird.3
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Der EuGH hebt den Sinn und Zweck der Befr-RV regelmäßig hervor.4 So weist er in der Rs. Kücük darauf hin, dass es darum gehe, „den wiederholten Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse, der als eine Quelle potentiellen Missbrauchs zu Lasten der Arbeitnehmer gesehen wird, einzugrenzen, indem eine Reihe von Mindestschutzbestimmungen vorgesehen werden, die die Prekarisierung der Lage der Beschäftigten verhindern sollen.“5 In der Rs. Adeneler beschreibt der Gerichtshof das Ziel der Rahmenvereinbarung bereits im 2. Tenor als die „Zielsetzung der Rahmenvereinbarung, mit der die Arbeitnehmer gegen unsichere Beschäftigungsverhältnisse geschützt werden sollen, und …, dass unbefristete Arbeitsverträge die übliche Form der Beschäftigungsverhältnisse sind.“6
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III. Schnittstellen mit anderen unionsrechtlichen Regelungen Die Richtlinie 1999/70/EG ist nicht der einzige unionsrechtliche Maßstab, der im Befristungsrecht zu berücksichtigen ist. Daneben können andere primär- und sekundärrechtliche Regelungen greifen. Auf die offensichtlichste Schnittstelle weist § 8 Befr-RV bereits selbst hin: Nach § 8 Nr. 2 Befr-RV soll die Vereinbarung insbesondere unbeschadet der unionsrechtlichen Bestimmungen zur Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Männern und Frauen gelten. Dass Überschneidungen nahe liegen, haben die Sozialpartner schon in Nr. 9 der Erwägungsgründe zur Rahmenvereinbarung hervorgehoben, wonach mehr als die Hälfte der befristet beschäftigten Arbeitnehmer in der EU Frauen sind. Damit können Schnittstellen zu sämtlichen primär1 2 3 4 5 6
So der Wortlaut der Präambel der Rahmenvereinbarung. Erwägungsgrund Nr. 5 der Rahmenvereinbarung. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 2. Hierzu Linsenmaier, RdA 2012, 193 (195). EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 25. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057.
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§9
Rz. 13
Befristungsrecht
und sekundärrechtlichen Regelungen auftreten, welche gegen die Geschlechtsdiskriminierung wirken sollen (vgl. § 3).1 13
Ebenso stellt die Befr-RV einen Bezug zur Leiharbeitsrichtlinie her. So wird in der Präambel zur Rahmenvereinbarung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie nicht für Arbeitnehmer gilt, die einem Unternehmen von einer Leiharbeitsagentur zur Verfügung gestellt werden; der Abschluss einer der Befr-RV ähnlichen Vereinbarung über Leiharbeit wird an dieser Stelle in Erwägung gezogen. Dieses Vorhaben ist, mit einiger Verspätung, in die Leiharbeitsrichtlinie gemündet.2 Fraglich bleibt, wie weit die Herausnahme der Leiharbeit aus dem Anwendungsbereich der Befristungsrichtlinie reicht (vgl. Rz. 26 ff.).
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Zudem wird die Befr-RV durch das Verbot der Altersdiskriminierung (vgl. § 4) ergänzt.3 Besonders deutlich tritt diese Schnittstelle in der Rs. Mangold4 zu Tage.5
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Im EuGH-Urteil Preston6 wird ein möglicher Bezug zum Entgeltgleichheitsgebot nach Art. 157 AEUV sichtbar: Kettenbefristungen können sich unvorteilhaft im Rahmen von Betriebsrentensystemen auswirken, so dass damit ein Anknüpfungspunkt zum primärrechtlichen Entgeltgleichheitsgebot hergestellt werden kann. In der Rs. Preston musste bspw. ein Anspruch auf Anschluss an ein Betriebsrentensystem nach dem Ende jedes befristeten Arbeitsvertrags eingeklagt werden.
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Überschneidungen sind zudem mit den Grundfreiheiten, insbesondere mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 AEUV, möglich.7
IV. Anwendungsbereich und Wirkung 1. Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich 17
Der Anwendungsbereich der Befr-RV ist, ebenso wie der des TzBfG, unabhängig von der Unternehmensgröße eröffnet.8 Der Klärung bedarf die Frage, wer Arbeitnehmer ist und was als Befristung im Sinne der Rahmenvereinbarung anzusehen ist. a) Arbeitnehmer im Sinne der Rahmenvereinbarung
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Die Befr-RV scheint klar formuliert zu sein: Gemäß § 2 Nr. 1 Befr-RV sind für die Einordnung als Arbeitnehmer im Sinne der Rahmenvereinbarung die in den jeweiligen Mitgliedstaaten geltende gesetzliche oder tarifvertragliche Definition oder die Ge1 S. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 17; zur Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses allein aufgrund einer Schwangerschaft als Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 76/207/EWG, EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 – Jiménez Melgar, Slg. 2001, I-6915 = NZA 2001, 1243. 2 Richtlinie 2008/104/EG vom 19.11.2008 über Leiharbeit. 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 15 Rz. 17; s. auch Linsenmaier, RdA 2012, 193 (194 f.) zur Überschneidung bei sachgrundloser Befristung nach § 14 Abs. 3 TzBfG und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG. 4 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; s. zu dieser Grundproblematik Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008. 5 S. Bieder/Diekmann, EuZA 2008, 515 (521) mit dem Befund, dass teilweise deutlich mehr jüngere Arbeitnehmer in einem befristeten Arbeitsverhältnis stehen. 6 EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 – Preston, Slg. 2000, I-3201 = NZA 2000, 889. 7 S. bspw. EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187 = NZA 2004, 87; näher zu den unionsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit von Befristungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit Rolfs/de Groot, ZESAR 2009, 5. 8 S. hierzu auch EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 9.
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Anwendungsbereich und Wirkung
Rz. 20 § 9
pflogenheiten der Mitgliedstaaten maßgeblich.1 Somit scheint im Bereich des Befristungsrechts der Arbeitnehmerbegriff nicht unionsautonom festgelegt, sondern national zu bestimmen sein.2 aa) Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Doch wird dieser Ansatz nur teilweise umgesetzt. Der EuGH legt, unabhängig von den nationalen Definitionsansätzen, einen sehr weiten Arbeitnehmerbegriff zugrunde.3 Der Gerichtshof bezieht in ständiger Rechtsprechung ausdrücklich sämtliche Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Dienstes in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie mit ein.4
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Dabei bezieht der EuGH in der Entscheidung Gavieiro Gavieiro ausdrücklich Beamte auf Zeit in den Anwendungsbereich der Befr-RV mit ein.5 Der Gerichtshof zitiert zwar § 2 Nr. 1 Befr-RV, der den nationalen Arbeitnehmerbegriff als Maßstab festlegt. Doch dann leitet er „sowohl aus dem Wortlaut der Richtlinie“ als auch aus ihrem „Aufbau und Zweck“ her, dass auch Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Sektor erfasst werden. Er beruft sich auf den weiten Wortlaut des § 2 Nr. 1 Befr-RV, welcher „befristet beschäftigte Arbeitnehmer“ erfasse, und zwar, wie auch aus § 3 Nr. 1 Befr-RV folge, unabhängig davon, ob sie bei einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber tätig sind.6 Damit folgte der EuGH im Wesentlichen dem Schlussantrag des Generalanwalts.7 Besonders hebt der EuGH hervor, dass es ansonsten der Mitgliedstaat in der Hand hätte, Beschäftigte durch ihre nationale Bezeichnung als „statutarisch“ für den öffentlichen Dienst nach Belieben bestimmte Personalkategorien von dem Schutz des Unionsrechts auszunehmen. Damit wäre die praktische Wirksamkeit
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1 Auch befristet beschäftigte Seeleute, die auf Fähren tätig sind, welche innerhalb desselben Mitgliedstaates verkehren, fallen nach EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-362/13 – Fiamango u.a., Ls. 1, in den Anwendungsbereich der Befr-RV. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 4. 3 Bieder/Diekmann, EuZA 2008, 515 (517). 4 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. I-7109, 7132; v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057 – Rz. 54 ff.; v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 39 ff.; v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Màrquez Samohano, NZA 2014, 475 – Rz. 38. 5 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 44; s. auch EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 = NZA 2011, 1219, dort wendet der EuGH bereits ohne nähere Begründung die Richtlinie auf Beamte an; bestätigt wird die weite Auslegung des Anwendungsbereichs zumindest was den öffentlichen Sektor betrifft, durch EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 34. 6 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 39 f.; allgemein dazu, dass auch der öffentliche Sektor vom Anwendungsbereich der Befr-RV ist, ohne jedoch auf Beamte speziell einzugehen bereits EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 39 ff. 7 Dabei stellte Generalanwalt Maduro zunächst heraus, dass der Verweis auf das nationale Recht zur Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs unterschiedlich auszulegen sei, je nachdem, ob der Zweck oder das System der Regelung im Vordergrund stehe; wenn der Zweck der Regelung vorrangig sei, wie dies bei der Arbeitszeit der Fall sei, müsse eine autonome Auslegung greifen. Für die Befr-RV sieht er einen leicht abweichenden Ansatz in Form eines Kompromisses aus Zweck und System vor; dabei sollten die Ziele und allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, vor allem der „fundamentale Grundsatz der Gleichbehandlung“ gewahrt werden, GA Maduro v. 10.1.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 14.
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§9
Rz. 21
Befristungsrecht
der Richtlinie und Rahmenvereinbarung ebenso wie ihre einheitliche Anwendung erheblich in Frage gestellt.1 Diese Rechtsprechung hat er inzwischen bestätigt.2 21
Die ausdrückliche Einbeziehung von Beamten in den Anwendungsbereich der Befr-RV ist angesichts der Vorgabe des § 2 Nr. 1 Befr-RV, die nationale Begriffsbestimmung sei entscheidend, überraschend. Die Entscheidung der Sozialpartner, den nationalen Arbeitnehmerbegriff zur Anwendung kommen zu lassen, dürfte in dem Bewusstsein erfolgt sein, dass Beamte in einigen Mitgliedstaaten aus dem allgemeinen Arbeitnehmerbegriff herausgenommen werden. Die Argumentation des EuGH ist aber insoweit überzeugend als damit verhindert wird, dass es faktisch den Mitgliedstaaten freigestellt wird, einen ganzen Sektor des Arbeitsmarktes dem Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung zu entziehen. Konsequent wäre es nach dieser Begründung, dementsprechend neben Beamten auch andere Sonderbeschäftigungsverhältnisse zum Staat wie Soldaten und Richter in den Anwendungsbereich der Befr-RV aufzunehmen. Der EuGH scheint also schlichtweg eine Lücke schließen zu wollen. Eine Begründung des Gerichtshofs, wie seine Rechtsprechung mit § 2 Nr. 1 Befr-RV vereinbart werden kann, wäre dennoch erforderlich gewesen.3 Im Ergebnis ist aber wohl davon auszugehen, dass aus diesen Sonderverhältnissen noch keine grundlegende Andersbehandlung gegenüber anderen befristeten Beschäftigungsverhältnissen gerechtfertigt werden kann und auch für sie die Ziele der Rahmenvereinbarung ihre volle Berechtigung entfalten.
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Die Rechtsprechung des EuGH könnte mit dem Schlagwort „semi-unionsautonomer“ Arbeitnehmerbegriff zusammengefasst werden.4 Grundsätzlich lässt der Gerichtshof entsprechend § 2 Nr. 1 Befr-RV die nationale Begriffsbestimmung gelten, setzt aber darunter einen „Mindestsockel“ für den gesamten öffentlichen Dienst, die Beamtenverhältnisse inbegriffen, welcher unabhängig vom nationalen Verständnis in den Arbeitnehmerbegriff mit einbezogen werden muss.
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Für das nationale Recht hat der vom EuGH geprägte weite, unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff durchaus Auswirkungen. Der deutsche Arbeitnehmerbegriff setzt einen privatrechtlichen Vertrag voraus.5 Damit bricht der EuGH, wenn er auch Beamte als Arbeitnehmer im Sinne der Befristungsrichtlinie ansieht.6 Auch beschränkt der EuGH seine Rechtsprechung nicht ausdrücklich auf Beamte, ebenso in Betracht kommen daher auch Soldaten und Richter. Das bedeutet zugleich, dass nicht allein das TzBfG oder das WissZeitVG an den Anforderungen der Befristungsrichtlinie zu messen sind, sondern bspw. auch die jeweiligen bundes- und landesrechtlichen Regelungen im Beamtenrecht, die eine Befristungsmöglichkeit vorsehen. Sie alle müssen im Einzelnen dem Missbrauchsverbot und dem Diskriminierungsverbot der Rahmenvereinbarung genügen. Auch der sog. Zeitsol1 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 43; v. 13.9. 2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. I-7109 – Rz. 29. 2 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 40 f., 55 (ohne nähere Begründung); 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. I-7109, 7132 unter Verweis auf Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie i.V.m. dem 17. Erwägungsgrund; bzgl. der Einbeziehung des öffentlichen Sektors zustimmend Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 – Rz. 6, mit der Begründung, dass dies aus dem weiten Wortlaut sowie aus der fehlenden Einbeziehung in die Ausnahmeoption des § 2 Abs. 2 RV und dem Sinn und Zweck der Regelung folge. 3 Ähnlich Thüsing/Stiebert, ZESAR 2011, 124 (125). 4 S. Thüsing/Stiebert, ZESAR 2011, 124 (125) „eine Art Mittelweg“. 5 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 35. 6 Vgl. auch Thüsing/Stiebert, ZESAR 2011, 124 (125); Wank, EuZA 2008, 172 (182); s. HWK/ Schmalenberg, 5. Aufl., § 1 TzBfG Rz. 5; GK-KR/Bader, § 1 TzBfG Rz. 6, danach gilt das TzBfG für alle privaten ebenso wie öffentlichen Arbeitsverhältnisse, nicht aber Beamte.
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Anwendungsbereich und Wirkung
Rz. 27 § 9
dat i.S.v. § 1 Abs. 2 Soldatengesetz könnte auf den Prüfstand zu stellen sein; allerdings dürfte er insoweit eine Sonderstellung einnehmen, als er während der Befristung in der Regel zudem eine Ausbildung oder ein Studium absolviert und die Interessenlage nicht einseitig zugunsten des Flexibilisierungsinteresses des Arbeitgebers gewichtet ist, so dass ein Missbrauchsschutz nicht erforderlich sein dürfte. Verschärft wirkt diese extensive Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs durch den EuGH dadurch, dass wenn die Vorgaben der Richtlinie nicht umgesetzt wurden, die Richtlinie im Verhältnis zum Staat als Arbeitgeber unmittelbar wirkt, soweit die jeweilige Bestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist (vgl. § 1 Rz. 125 ff.).1 Eine inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelung hat der EuGH bspw. in der Rs. Impact ausdrücklich für § 4 Nr. 1 Befr-RV bejaht (vgl. Rz. 17).2
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Erste Anzeichen, dass die Rahmenvereinbarung im Bereich öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse von der nationalen Rechtsprechung zumindest wahrgenommen wird, zeigen sich inzwischen. So hat z.B. das OVG NW bei der Überprüfung der Befristung eines Pastors im Sonderdienst nach § 5 Abs. 2 des Kirchengesetzes über die Pastoren im Sonderdienst in der Evangelischen Kirche im Rheinland, welcher zweimal für je fünf Jahre in einem Kirchenbeamtenverhältnis auf Zeit beschäftigt war, zumindest am Rande auch auf § 5 Nr. 1 Buchst. b und c Befr-RV verwiesen.3 In der Tat ist fraglich, ob eine Befristung, die sich über einen Zeitraum von zehn Jahren erstreckt, ohne dass ein Sachgrund greift,4 den Vorgaben der BefrRV, insbesondere dem Missbrauchsverbot, genügt.
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bb) Herausnahme der Leiharbeiter. Der EuGH hat sich ebenfalls klar zur Frage geäußert, ob Leiharbeitnehmer in den persönlichen Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung einzubeziehen sind. In der Rs. Della Rocca entschied der Gerichtshof, dass sowohl das Verhältnis zwischen Leiharbeiter und Entleiher, als auch das Arbeitsverhältnis zwischen Leiharbeiter und Verleiher von dem Anwendungsbereich der Befr-RV ausgenommen sind.5
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Diese Entscheidung ist aus mehreren Gründen überraschend.6 In erster Linie, weil sie der sehr weiten Auslegung des persönlichen Anwendungsbereichs, wie sie in der Rs. Gaviero Gaviero zugrunde gelegt wurde, wertungsmäßig diametral gegenübersteht; die 8. Kammer des EuGH hat in der Rs. Della Rocca den Anwendungsbereich sehr eng auslegt – bestätigt aber zumindest auch hier die weite Auslegung in Bezug auf
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EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 72. EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 58, 60. OVG NW v. 18.9.2012 – 5 A 1941/10, DVBl. 2012, 1585 – Rz. 110. Das Vorbringen, die Befristungsregelung sollte arbeitsmarktpolitischen Zwecken dienen, wurde vom OVG nicht als überzeugend angesehen, da der geistig-religiöse Verkündigungsauftrag sich solchen Erwägungen entziehe und zudem diese Zielsetzung dem staatlichen Beamtenrecht fremd sei, OVG NW v. 18.9.2012 – 5 A 1941/10, DVBl. 2012, 1585 – Rz. 115, 147. 5 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495. 6 Auch die Andeutung in der Rs. Briot, EuGH v. 15.9.2010 – Rs. C-386/09, Slg. 2010, I-8471, wurde in der deutschen Literatur anders gewertet, s. Lembke, NZA 2013, 815 (816), auch wenn der EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 43 ausdrücklich darauf hinweist, dass er sich nicht in Widerspruch zur Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs. Briot stellt.
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§9
Rz. 28
Befristungsrecht
den öffentlichen Sektor.1 Der Gerichtshof stützt seine Auslegung im Kern2 auf den vierten Absatz der Präambel zur Rahmenvereinbarung. Danach sollen Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen von der Vereinbarung ausgenommen sein, die einem Unternehmen von einer Leiharbeitsagentur zur Verfügung gestellt werden; es sei die Absicht der Sozialpartner, den Abschluss einer ähnlichen Vereinbarung über Leiharbeit in Erwägung zu ziehen.3 Nach Auffassung des EuGH bezieht sich die Ausnahme auf Leiharbeitnehmer als solche. Zwar weist er selbst darauf hin, dass die Präambel nicht verbindlich ist, findet aber seine Ansicht in § 3 Nr. 1 Befr-RV, wonach nur ein „direkt“ mit dem Arbeitgeber geschlossenes Arbeitsverhältnis unter die Rahmenvereinbarung fällt, bestätigt. Zudem sei die Überlassung von Leiharbeitnehmern ein „komplexes und spezifisches arbeitsrechtliches Konstrukt“, das ein doppeltes Arbeitsverhältnis einschließe, die Rahmenvereinbarung enthalte aber keine Regelungen, die diese besonderen Aspekte berücksichtigen.4 28
Die ersten Reaktionen in der deutschen Literatur fielen insgesamt ablehnend aus.5 Dem Urteil wird zu Recht noch insoweit zugestimmt, als das Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeiter aus dem Anwendungsbereich der Befristungsrichtlinie herausgenommen wird. Will man dem Abs. 4 der Präambel überhaupt einen Bedeutungsgehalt zukommen lassen, muss zumindest das Verhältnis zwischen Leiharbeiter und Entleiher aus dem Anwendungsbereich herausgenommen werden. Wenn auch die Präambel, wie der EuGH in seiner Entscheidung selbst feststellt, keine verbindliche Wirkung hat,6 so bedeutet dies umgekehrt nicht, dass sie bei der Auslegung der Richtlinie keine Berücksichtigung finden darf. In der Tat findet diese Auslegung ihren Niederschlag in § 3 Nr. 1 Befr-RV, wo ein „direktes“ Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber vorausgesetzt wird. Gerade in dem Verhältnis Leiharbeitnehmer/Entleiher manifestieren sich auch die vom Gerichtshof angeführten Besonderheiten des „komplexen und spezifischen arbeitsrechtlichen Konstrukts“, schließlich muss der Leiharbeitnehmer bei ihm seine Arbeitsleistung erbringen und unterliegt auch teilweise seinen Weisungen.7 Vertraglich ist er hingegen allein an den Verleiher gebunden, nur zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer besteht auch ein „direktes“ Arbeitsverhältnis.8 Der Entleiher tritt im Ergebnis erst über den Intermediär des Verleihers in ein wie auch immer konkret ausgestaltetes Verhältnis zum Leiharbeitnehmer.
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Auf grundlegende Ablehnung trifft die Rechtsprechung des EuGH hingegen, ebenfalls zu Recht, wenn sie auch die Arbeitsverhältnisse zwischen Leiharbeitnehmer und Verleiher aus dem Anwendungsbereich der Befristungsrichtlinie herausnimmt. Der weite Wortlaut des Abs. 4 der Präambel lässt zwar auch diese Auslegung zu, er erfordert 1 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 34. 2 Darüber hinaus verweist der EuGH auf die ausdrückliche Einbeziehung der Leiharbeiter in den Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie 96/71/EWG und der Richtlinie 91/383/EWG und das Fehlen einer entsprechenden Einbeziehung in der Befristungsrichtlinie und zieht hieraus einen Umkehrsschluss. Kritisch zu diesem Argument Forst, FA 2013, 162 (163); Lembke, NZA 2013, 815 (817 f.), welcher darauf hinweist, dass die genannten Richtlinien in keinerlei systematischen Zusammenhang zueinander stehen und daher auch keine systematische Auslegung möglich sei. 3 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 36 f. 4 EuGH v. 11.4.2013 Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 39 ff. 5 Lembke, NZA 2013, 815; Thüsing, NJW-Editorial 19/2013; Forst, FA 2013, 162. 6 EuGH v. 11.4.2013 Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 38. 7 ErfK/Wank, AÜG, Einl. Rz. 12a. 8 So auch das Verständnis des EuGH selbst, der den Entleiher als „nichtvertraglichen Arbeitgeber“ bezeichnet hat, EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 20; hierauf weist auch Forst, FA 2013, 162 hin.
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Anwendungsbereich und Wirkung
Rz. 32 § 9
eine so extensive Auslegung aber auch nicht zwingend, dafür ist die Formulierung nicht hinreichend eindeutig.1 Zudem schlägt sie sich, mangels eines „direkten“ Verhältnisses, auch nicht in § 3 Nr. 1 Befr-RV nieder. Bei so schwachen Anhaltspunkten in der Rahmenvereinbarung muss ihr Sinn und Zweck umso mehr Berücksichtigung finden: Das unbefristete Arbeitsverhältnis soll der Normalfall bleiben, der Missbrauch von befristeten Arbeitsverhältnissen soll vermieden und Diskriminierung soll verhindert werden. Regelungen, die diese Zielsetzung gewährleisten sollen, sieht die Leiharbeitsrichtlinie – auf die in der Präambel hingewiesen wird, um die Herausnahme der Leiharbeiter zu begründen – hingegen nicht vor.2 Diese Zielsetzung kann also nur über die Anwendung der Befristungsrichtlinie gewährleistet werden. Die Herausnahme der Leiharbeiter aus ihrem Anwendungsbereich wäre wertungswidersprüchlich. Die Leiharbeitnehmer gelten als prekär Beschäftigte und somit als schutzbedürftig. Wenn sie zudem befristet beschäftigt werden, sind sie „doppelt prekär“, also verstärkt schutzbedürftig. Daher wäre es nur konsequent, sie erst Recht in den Anwendungsbereich der Befr-RV einzubeziehen. Für das nationale Recht dürfte diese enge Auslegung des Anwendungsbereichs der Befr-RV keine Auswirkungen haben.3 Gemäß § 8 Nr. 1 Befr-RV können die Mitgliedstaaten günstigere Bestimmungen für Arbeitnehmer beibehalten und nach § 8 Nr. 3 Befr-RV darf die Umsetzung der Rahmenvereinbarung nicht als Rechtfertigung für die Senkung des allgemeinen Niveaus des Arbeitnehmerschutzes in dem von der Vereinbarung erfassten Bereich dienen. Das TzBfG erfasst alle Arbeitnehmer, es gilt der allgemeine Arbeitnehmerbegriff.4 Danach ist Arbeitnehmer, wer sich durch privatrechtlichen Vertrag verpflichtet, weisungsabhängig Dienste zu leisten.5 Damit wird auf nationaler Ebene auch das Arbeitsverhältnis von Leiharbeitnehmern zum Verleiherunternehmen vom TzBfG erfasst.6 Es handelt sich um einen Fall der überschießenden Richtlinienumsetzung, die Normen des TzBfG sind dabei für Leiharbeitnehmer und die übrigen Arbeitnehmer einheitlich im Lichte der Befr-RV auszulegen (vgl. § 1 Rz. 165 ff.).
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cc) Fazit. Insgesamt lässt sich zur Rechtsprechung des EuGH zum persönlichen Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung festhalten: Sie überrascht gleich zweifach. Einerseits wird der Anwendungsbereich unter Außerachtlassen der Vorgabe, dass der Arbeitnehmerbegriff aus nationaler Sicht zu bestimmen ist im Wege einer „zwingenden“ Ausdehnung auf den öffentlichen Sektor, insbesondere der Einbeziehung auch von Beamten, stark ausgedehnt. Hierbei wird der Sinn und Zweck der Rahmenvereinbarung in den Vordergrund gestellt.
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Umgekehrt überrascht die enge Auslegung, wenn es sich um Leiharbeit handelt. Gerade Leiharbeitern, als ohnehin schon prekär Beschäftigten, sollte doch angesichts des
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1 Ebenso Forst, FA 2013, 162 (163). 2 S. hierzu ErwGr. 15, Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 5 Abs. 2 Leiharb-RL, woraus lediglich gefolgert werden kann, dass der Leiharbeitnehmer vom Verleiher befristet oder unbefristet beschäftigt werden kann; so Lembke, NZA 2013, 815 (818), der hieraus zudem folgert, dass keinerlei systematischen Rückschlüsse aus der Leiharbeitsrichtlinie möglich seien. 3 Forst, FA 2013, 162 (164); Lembke, NZA 2013, 815 (819), welcher allerdings auf die Entwicklung eines neuen Leitbildes der Leiharbeit als „flexibles Arbeitsmarktinstrument“ hinweist und dadurch die Auffassung bestätigt sieht, dass eine zeitlich befristete Beschäftigungsmöglichkeit bei einem Entleiher ein sachlicher Grund i.S.v. § 14 Abs. 1 Nr. 1 TzBfG für die Befristung des Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmer und Verleiher sein könne. 4 Boecken/Joussen/Joussen, § 2 Rz. 6; HWK/Schmalenberg,§ 1 TzBfG Rz. 6; GK-KR/Bader, § 2 TzBfG Rz. 6. 5 Boecken/Joussen/Joussen, § 2 Rz. 6. 6 ErfK/Wank, AÜG, Einl. Rz. 6; Ulber/J. Ulber, § 9 Rz. 330.
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§9
Rz. 33
Befristungsrecht
Ziels der Befr-RV nicht weniger Schutz zugebilligt werden als den übrigen Arbeitnehmern, solange dies nicht durch die Besonderheiten der Leiharbeit erfordert wird. Hier hat der Gerichtshof den Anwendungsbereich unnötig eingeschränkt. Insgesamt zeichnet sich damit zumindest wertungsmäßig keine einheitliche Linie des EuGH ab. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass jeweils unterschiedliche Kammern entschieden haben,1 inhaltlich hilft diese Erkenntnis jedoch nicht weiter. b) Befristete und vergleichbare Dauerbeschäftigte, § 3 Befr-RV 33
aa) Anwendung auf Befristungen unabhängig von der Anzahl. Der EuGH hat klargestellt, dass der Anwendungsbereich der Befr-RV sich nicht nur auf Mehrfachbefristungen bezieht, sondern auch erstmalige Befristungen erfasst.2 Zuvor konnte die Entscheidung in der Rs. Mangold insoweit missverstanden werden, dass allein Mehrfachbefristungen erfasst wären.3 Doch eine derart enge Auslegung widerspricht dem Sinn und Zweck der Befr-RV und würde auch das Diskriminierungsverbot zu großen Teilen aushebeln, welches ausdrücklich in § 4 Befr-RV festgelegt ist und schon seinem Wortlaut nach nicht darauf abstellt, ob es sich um eine mehrmalige Befristung handelt. Von der Frage des allgemeinen Anwendungsbereichs der Befr-RV ist die Frage zu unterscheiden, welche Fälle die jeweiligen Regelungen der Befr-RV erfassen. Der Anwendungsbereich der Einzelregelungen kann enger gefasst sein. So ist der Anwendungsbereich des § 5 Befr-RV bspw. auf Mehrfachbefristungen beschränkt (vgl. Rz. 124).4
34
bb) Befristung i.S.v. § 3 Nr. 1 Befr-RV. In § 3 Befr-RV wird der Begriff „befristet beschäftigter Arbeitnehmer“ unionsautonom definiert. Für einen befristet beschäftigten Arbeitnehmer setzt § 3 Nr. 1 Befr-RV zunächst voraus, dass „direkt“ zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Arbeitsvertrag oder -verhältnis geschlossen ist. Nach Ansicht des EuGH ist dieses Merkmal im Zusammenhang mit dem vierten Absatz der Präambel zu lesen und bezieht sich auf die Leiharbeit. Nach Auffassung des Gerichtshofs scheint ein „direktes“ Arbeitsverhältnis weder zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher noch zwischen Leiharbeitnehmer und Verleiher zu bestehen (vgl. Rz. 26).5
35
Des Weiteren gibt § 3 Nr. 1 Befr-RV für ein befristetes Arbeitsverhältnis im Sinne der Rahmenvereinbarung vor, dass das Ende durch objektive Bedingungen bestimmt wird. Als objektive Bedingung sieht die Regelung das Erreichen eines bestimmten Datums, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses an. Das Merkmal „objektiv“ setzt voraus, dass die Beendigung nicht vom Willen der Vertragsparteien abhängt.6 Damit werden die Zeit- und die Zweckbefristung von der Rahmenvereinbarung erfasst; ebenfalls in ihren Anwendungsbereich fallen Arbeitsverhältnisse, die durch das Eintreten einer auflösenden Bedingung beendet werden.7
1 In der Rs. Gaviero Gaviero entschied die 2. Kammer, in der Rs. Della Rocca hingegen die 8. Kammer des EuGH. 2 EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010 I-5837 – Rz. 33; deutlich auch Greiner, EuZA 2011, 74 (76). 3 Greiner, EuZA 2011, 74 (76). 4 Preis, NZA 2006, 401 (402); Greiner, EuZA 2011, 74 (76); EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 22. 5 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 38 f.; so bereits vorher EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 12. 6 EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 11. 7 EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 11; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 115; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 4.
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Brose
Anwendungsbereich und Wirkung
Rz. 39 § 9
In § 3 Abs. 1 TzBfG wird mit der Bestimmung eines Zeitpunktes, der kalendermäßigen Befristung sowie der Zweckbefristung auf dieselben Gruppen zurückgegriffen, wie sie die Befr-RV vorgibt.
36
Fraglich ist, ob der Arbeitnehmer sich in einem laufenden befristeten Arbeitsverhältnis befinden muss oder ob er sich auch auf Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Befr-RV berufen kann, die aufgrund vorangegangener Befristungen erfolgten, während er inzwischen in einem Dauerarbeitsverhältnis zu demselben Arbeitgeber steht (vgl. hierzu ausführlicher Rz. 61).
37
cc) Vergleichbare Dauerbeschäftigte gem. § 3 Nr. 2 Befr-RV. Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot (vgl. Rz. 57 ff.) ist auf den vergleichbaren Dauerbeschäftigten abzustellen. § 3 Nr. 2 Befr-RV definiert ihn als einen Arbeitnehmer desselben Betriebs mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag oder -verhältnis, der in der gleichen oder einer ähnlichen Arbeit/Beschäftigung tätig ist; bei der Beurteilung sind auch die Qualifikationen und Fertigkeiten angemessen zu berücksichtigen. Der EuGH verlangt, dass anhand einer Gesamtheit von Faktoren wie Art der Arbeit, Ausbildungsanforderungen und Arbeitsbedingungen zu prüfen ist, ob sie sich in einer vergleichbaren Situation befinden.1 Der Gerichtshof weist die Überprüfung dem nationalen Gericht zu, weist aber darauf hin, dass auch die Art der Berufserfahrung zu den zu berücksichtigenden Faktoren gehört.2 Eine möglichst umfassende Würdigung der Umstände ist angesichts des Schutzzwecks der Befr-RV, die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse zu verbessern (§ 1 Buchst. a Befr-RV), erforderlich, um zu verhindern, dass der Arbeitgeber durch geschickte Gruppenbildungen (z.B. im Wege stark differenzierender Tätigkeitsbeschreibungen und Eingruppierungen) die Vergleichsgruppen möglichst klein gehalten werden.
38
Die Begriffsbestimmung des § 3 Nr. 2 Befr-RV entfaltet seine Wirkung naturgemäß im Rahmen der Prüfung des § 4 Befr-RV. Bisher wurden § 3 Nr. 2 und § 4 Nr. 1 Befr-RV vom EuGH ohne weiter zu differenzieren in einem Atemzug zitiert.3 Genau genommen müsste allerdings zunächst eine Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer i.S.v. § 3 Nr. 2 Befr-RV gebildet werden, um dann im konkreten Fall eine Schlechterbehandlung nach § 4 Befr-RV zu prüfen. Nicht ganz klar ist, wie die Ausführungen des EuGH in der Rs. Carratù in diesem Zusammenhang einzuordnen sind. Dort zitiert der Gerichtshof allein § 4 Nr. 1 Befr-RV, nicht hingegen § 3 Nr. 2 Befr-RV.4 Der Gerichtshof scheint § 3 Nr. 2 Befr-RV auch nicht mittelbar angewendet zu haben, denn ansonsten hätte er Ausführungen zur Vergleichbarkeit der Arbeit, Qualifikationen und Fähigkeiten machen müssen. Im konkreten Fall hat der EuGH die Prüfung der Schlechterbehandlung nach § 4 Nr. 1 Befr-RV scheinbar vorgezogen und sie sofort verneint, weil es sich nach Auffassung des Gerichtshofs nicht um vergleichbare Sachverhalte handelte – damit bezog er sich auf die ihm vorgelegte nationale Entschädigungsregelung und nicht auf die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern. Etwas klarer scheinen die Entscheidungsgründe in der nachfolgenden Rs. Nierodzik. Dort weist der Gerichtshof wieder ausdrücklich auf § 3 Nr. 2 Befr-RV hin. Allerdings verweist er auch hier nicht auf die Tätigkeiten und Fähigkeiten der Arbeitnehmer, wie es bei einer Bildung einer Vergleichsgruppe nach § 3 Nr. 2 Befr-RV erforderlich wäre. Er weist vielmehr darauf hin, dass sich die Situation der Arbeitnehmer allein darin unter-
39
1 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 42; v. 13.3.2014 – Rs. C-38/12 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 31. 2 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 44. 3 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 42. 4 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 42 ff.
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§9
Rz. 40
Befristungsrecht
schied, ob sie befristet oder nicht befristet beschäftigt waren. Wird allein an die Befristung als Unterscheidungsmerkmal angeknüpft, kann dies nach Ansicht des EuGH nicht ausreichen, um eine Vergleichbarkeit zu verneinen. Er scheint also in einem solchen Fall nach dem Ausschlussverfahren vorzugehen und sieht dann eine weitergehende Vergleichbarkeitsprüfung anhand Art der Tätigkeit, Qualifikationen und Fähigkeiten als überflüssig an.1 Abschließend vermag aber auch aus der Rs. Nierodzik noch keine Folgerung für den Inhalt des § 3 Nr. 2 Befr-RV und sein Verhältnis zu § 4 Befr-RV gezogen werden. 40
§ 3 Nr. 2 Abs. 2 Befr-RV regelt den Fall, dass in demselben Betrieb kein vergleichbarer Dauerbeschäftigter vorhanden ist. Dann soll der Vergleich mit dem anwendbaren Tarifvertrag herangezogen werden. Falls auch ein entsprechender Tarifvertrag nicht besteht, sollen die einzelstaatlichen gesetzlichen oder tarifvertraglichen Bestimmungen oder Gepflogenheiten weiterhelfen. Es ist also ein Vergleich zu ziehen, indem ermittelt wird, wie ein hypothetischer Arbeitnehmer desselben Betriebs nach den jeweiligen gesetzlichen/tariflichen Regelungen oder mangels Regelungen nach den Gepflogenheiten gestellt wäre.2
41
Im TzBfG ist der Begriff des befristet beschäftigten Arbeitnehmers und des vergleichbaren unbefristet Beschäftigten in § 3 definiert. Die Norm hat im Wesentlichen die Vorgaben des § 3 Befr-RV übernommen. Allerdings muss nach § 3 Abs. 1 TzBfG kein „direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossener Arbeitsvertrag“ bestehen, wie es § 3 Nr. 1 Befr-RV vorsieht. Damit ist eine weitere Auslegung in Bezug auf die Leiharbeitnehmer zumindest auf nationaler Ebene unproblematisch, zumal die Befr-RV ohnehin nur einen Mindestmaßstab setzt (s. § 8 Nr. 1 Befr-RV).
42
Für die Vergleichbarkeit greift das TzBfG in § 3 Abs. 2 auf die Eckpunkte zurück, die die Befr-RV vorgibt: Entscheidend sind die gleiche oder ähnliche Tätigkeit, mangels vergleichbarer Arbeitnehmer im Betrieb ist auf den anwendbaren Tarifvertrag abzustellen bzw. wer üblicherweise als vergleichbar anzusehen ist, was den Gepflogenheiten i.S.v. § 3 Nr. 2 Befr-RV entspricht. Das TzBfG hat zwar nicht die Vorgabe der Befr-RV aufgegriffen, wonach auch die Qualifikationen/Fertigkeiten angemessen zu berücksichtigen sind. Damit wird jedoch keineswegs eine Berücksichtigung dieser Elemente auf nationaler Ebene ausgeschlossen, sie könnte sogar vielmehr im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung des TzBfG geboten sein. Nicht richtlinienkonform scheint es hingegen, wenn das BAG darauf abstellt, dass „identische Aufgaben“ wahrgenommen werden.3 Diese Rechtsprechung dürfte zu eng sein, sowohl in Bezug auf den Wortlaut des § 3 Abs. 2 TzBfG als auch des § 3 Nr. 2 Befr-RV. Vergleichbarkeit erfordert gerade nicht Identität. c) Ausnahmen, § 2 Nr. 2 Befr-RV
43
Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner gem. § 2 Nr. 2 Befr-RV Berufsausbildungsverhältnisse und Auszubildendensysteme bzw. Lehrlingsausbildungssysteme von dem Anwendungsbereich der Befr-RV herausnehmen. Ebenso herausnehmen können sie Arbeitsverträge und -verhältnisse, die im Rahmen eines besonderen öffentlichen oder von der öffentlichen Hand unterstützten beruflichen Ausbildungs-, Eingliederungs- oder Umschulungsprogramms abgeschlossen wurden. 1 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 34. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 12. 3 BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 524/11, NZA 2013, 625 – Rz. 30.
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Anwendungsbereich und Wirkung
Rz. 49 § 9
Diese Ausnahmemöglichkeit wird neben den Mitgliedstaaten auch den Sozialpartnern gewährt.1 Bisher noch nicht geklärt ist, ob eine unterlassene oder fehlerhafte Anhörung der Sozialpartner Rechtsfolgen nach sich zieht.2 § 2 Nr. 2 Befr-RV selbst schweigt zu dieser Frage und auch aus den übrigen Regelungen der Rahmenvereinbarung und Richtlinie können keine Rechtsfolgen entnommen werden.
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Bisher blieb diese Regelung für das nationale Recht ohne Interesse. Im deutschen Recht wurde von der Ausnahmemöglichkeit kein Gebrauch gemacht. Berufsausbildungsverhältnisse sind gesetzlich ausdrücklich zum Ablauf der Ausbildungszeit befristet, § 21 Abs. 1 BBiG.3
45
2. Zeitlicher Anwendungsbereich Die Befristungsrichtlinie mit der Rahmenvereinbarung ist seit dem 10.7.1999 in Kraft getreten,4 die Umsetzungsfrist ist am 10.7.2001 abgelaufen (zur Umsetzung, Vorwirkung und Sperrwirkung von Richtlinien näher vgl. § 1 Rz. 115 ff.). Für den EuGH ist nicht maßgeblich, wann die erste Befristung abgeschlossen wurde. Nach seiner Auffassung soll durch die Rahmenvereinbarung der Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge verhindert werden, deshalb betreffen ihre Bestimmungen in erster Linie die Verlängerung befristeter Verträge. Eine Verlängerung, die nach der Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht erfolgte, fällt damit nach Auffassung des EuGH in ihren Anwendungsbereich.5
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Diese Argumentation ist insoweit problematisch als sie allein auf das Ziel abstellt, den Missbrauch von Kettenbefristungen zu verhindern. Hierbei handelt es sich nicht um das einzige Ziel der Rahmenvereinbarung. Auch der Diskriminierungsschutz befristet Beschäftigter wird besonders hervorgehoben und dieser Schutz kann sich nicht nur auf die Verlängerungen beziehen, sondern ist nur dann effektiv, wenn er auch die erste Befristung mit einbezieht. Allerdings lässt der EuGH mit der Formulierung „in erster Linie“ die Möglichkeit offen, auf die erste Befristung abzustellen. Hieraus müsste dann allerdings auch gefolgert werden, dass diese erste Befristung nach der Umsetzung der Richtlinie erfolgte, wenn sie in ihren Anwendungsbereich fallen soll.
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Für das nationale Recht ist die Rechtsprechung unproblematisch, der deutsche Gesetzgeber hat mit der Einführung des TzBfG die Umsetzungsfrist eingehalten.
48
3. Unmittelbare Wirkung der einzelnen Regelungen der Befr-RV Wie bereits oben erwähnt (vgl. Rz. 24), kommt eine unmittelbare Wirkung der Regelungen der Rahmenvereinbarung in Betracht, wenn der Staat in der Eigenschaft als
1 Der Gerichtshof weist ausdrücklich darauf hin, dass § 2 Nr. 2 BefrRV nicht befristete Arbeitsveträge mit öffentlichen Arbeitgebern vom Anwendungsbereich ausnimmt, sondern nur die Möglichkeit eröffnet, die in der Regelung aufgezählten Vertragsverhältnisse herauszunehmen, EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 42. 2 Diese Frage wurde bereits aufgeworfen in EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 13. 3 S. auch Annuß/Thüsing/Maschmann, 3. Aufl., § 14 Rz. 3a. 4 Rolfs/de Groot, ZESAR 2009, 5 (7) mit dem Hinweis, dass gem. Art. 3 der Richtlinie 1999/70/EG das sich das Inkrafttreten nach dem Tag der Veröffentlichung im Antsblatt der Europäischen Gemeinschaften bestimmt. 5 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 36.
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§9
Rz. 50
Befristungsrecht
Arbeitgeber auftritt.1 Diese Grundsätze gelten auch bei Rahmenvereinbarungen, die von den Sozialpartnern im Rahmen des sozialen Dialogs geschlossen wurden und später mit einer Richtlinie durchgeführt worden sind; damit werden sie integraler Bestandteil dieser Richtlinie. Der EuGH hat seine Rechtsprechung zu Richtlinien auf Rahmenvereinbarungen übertragen, so dass es auch zu einer unmittelbaren Anwendung der Rahmenvereinbarung selbst kommt.2 50
Erforderlich für die unmittelbare Wirkung ist, dass die Regelung inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt ist; dies muss für jede einzelne Regelung der Befr-RV gesondert geprüft werden (zur unmittelbaren Wirkung im Einzelnen vgl. § 1 Rz. 115 ff.). a) Unmittelbare Wirkung des Diskriminierungsverbots
51
Für das Diskriminierungsverbot aus § 4 Nr. 1 Befr-RV ebenso wie für § 4 Nr. 4 Befr-RV hat der EuGH die unmittelbare Wirkung gleich mehrfach bejaht.3 Nach Ansicht des Gerichtshofs sieht die Regelung ein generelles und eindeutiges Verbot jeder sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung vor, welches von einem Gericht angewandt werden könne. Die Norm erfordere keine Maßnahmen der Unionsorgane, ebenso wenig sehe sie vor, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung Voraussetzungen an das Verbot knüpfen oder es einschränken könnten. Der Vorbehalt des sachlichen Grundes sei gerichtlich überprüfbar.4 Aus § 4 Nr. 2 und Nr. 3 Befr-RV folge auch nichts anderes; beide Regelungen betreffen nicht den Inhalt des Grundsatzes selbst. Nr. 2 hebe nur eine der möglichen Konsequenzen hervor und Nr. 3 diene nur dazu, die Anwendungsmodalitäten des Grundsatzes auszugestalten.5
52
Aus der unmittelbaren Wirkung des Diskriminierungsverbots folgt, dass es ggü. staatlichen Einrichtungen ebenso wie gegenüber einer Einrichtung, die kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringt und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, entgegengehalten werden kann. Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH unabhängig von der Rechtsform der jeweiligen Einrichtung (im übrigen zu den Voraussetzungen zur unmittelbaren Wirkung vgl. § 1 Rz. 130).6
53
In der Literatur wurde die Rechtsprechung zu § 4 Nr. 1 Befr-RV kritisiert, die Regelung sei nicht hinreichend genau. Insbesondere der Begriff „Beschäftigungsbedingungen“ sei nicht hinreichend konkretisiert, vielmehr sei die Definition problematisch. Auch ein Verweis auf das nationale Recht zur Klärung der Auslegung fehle insoweit.7
54
Die Bedenken sind zwar nachvollziehbar, doch können sie nicht geteilt werden. Nahezu jeder Schlüsselbegriff einer Regelung ist auslegungsbedürftig oder zumindest auslegungsfähig. Konsequenterweise dürfte dann praktisch keine Richtliniennorm un1 Ausdrücklich EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 72 ff. 2 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 77; v. 15.4. 2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 58. 3 Zu § 4 Nr. 1 Befr-RV s. EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 78 ff.; v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 60 ff.; v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 27 ff.; zu § 4 Nr. 4 Befr-RV s. EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11-Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 70; v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 56. 4 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 78 ff.; v. 15.4. 2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 60 ff. 5 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 65 ff. 6 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 29. 7 Rolfs/de Groot, ZESAR 2009, 5 (12 f.).
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Brose
Diskriminierungsverbot
Rz. 59 § 9
mittelbar anwendbar sein. Daher trifft auch der Verweis des Gerichtshofs auf die Möglichkeit zu, dass die nationalen Gerichte den Begriff selbst auslegen können und ihnen zudem die Möglichkeit offen steht, die Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren klären lassen zu. b) Unmittelbare Wirkung des Missbrauchsverbots Anders positioniert sich der EuGH hingegen beim Missbrauchsverbot aus § 5 Nr. 1 Befr-RV. Diese Norm gibt nach Ansicht des Gerichtshofs den Mitgliedstaaten nur ein allgemeines Ziel vor, nämlich die Verhinderung des Missbrauchs. Dabei überlässt sie ihnen aber die Wahl der Mittel, so dass die Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum haben. Daher sieht der EuGH § 5 Nr. 1 Befr-RV nicht als unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung an, welche unmittelbare Wirkung entfalten kann.1
55
Dem ist zuzustimmen, die nationalen Gerichte können nicht die Ermessensspielräume ausfüllen, die den Mitgliedstaaten vorbehalten werden. § 5 Nr. 1 Befr-RV gibt lediglich den äußeren Rahmen und damit die Mindestanforderungen vor.2
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V. Diskriminierungsverbot 1. Struktur und Stellenwert Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus § 4 Befr-RV wird als „Kernstück“ der Rahmenvereinbarung bezeichnet.3 Der EuGH selbst ordnet das Diskriminierungsverbot des § 4 Befr-RV ein als „Ausdruck eines Grundsatzes des Sozialrechts der Union […], der nicht restriktiv ausgelegt werden darf“4 und misst der Regelung damit einen besonderen Stellenwert bei.5 Gerade in § 4 Befr-RV zeigt sich das, der Befr-RV zugrunde liegende Ziel, zu verhindern, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis von einem Arbeitgeber benutzt wird, um den befristet Beschäftigten Rechte vorzuenthalten, die Dauerbeschäftigten gewährt werden.6
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§ 4 Befr-RV umfasst vier Regelungskomplexe: Ausgangspunkt ist § 4 Nr. 1 Befr-RV, welcher den Inhalt des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung benennt und vor allem den vergleichbaren Dauerbeschäftigten als Maßstab vorgibt sowie den sachlichen Grund als Rechtfertigung für Ungleichbehandlungen zulässt. Nr. 2 gibt mit dem Prorata-temporis-Grundsatz eine Leitlinie vor, wie eine Gleichbehandlung erreicht werden soll. In Nr. 4 haben die Sozialpartner das Problem der Betriebszugehörigkeiten gesondert geregelt. Mit Nr. 3 wird die Ausgestaltung der Anwendungsmodalitäten in Bezug auf das Diskriminierungsverbot auf die Mitgliedstaaten übertragen.
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Umgesetzt wurde das Diskriminierungsverbot mit § 4 Abs. 2 TzBfG. Vor Inkrafttreten des TzBfG sah das deutsche Recht kein ausdrückliches Diskriminierungs-
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1 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 70 ff.; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 5, Rz. 196. 2 So auch Rolfs/de Groot, ZESAR 2009, 5 (12). 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 7. 4 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 49; v. 13.9. 2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 38; v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 114. 5 Nach BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11, NZA-RR 2014, 98 (102) handelt es sich bei § 4 Nr. 1 Befr-RV um eine Spezialausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der nun in Art. 20 GRC festgelegt ist. 6 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014 – 79 Rz. 41.
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§9
Rz. 60
Befristungsrecht
verbot bei Befristungen vor.1 § 4 Abs. 2 TzBfG übernimmt die Vorgaben und Struktur des § 4 Befr-RV: In § 4 Abs. 2 Satz 2 TzBfG gibt die nationale Regelung den Pro-rata-temporis-Grundsatz zur Konkretisierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vor und in § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG wird die Möglichkeit zugelassen, eine Ungleichbehandlung über sachliche Gründe zu rechtfertigen. 2. Diskriminierungsverbot nach § 4 Nr. 1 Befr-RV a) Persönlicher Anwendungsbereich und Vergleichsgruppe 60
Der persönliche Anwendungsbereich des § 4 Befr-RV erfasst „befristet beschäftigte Arbeitnehmer“. Ob sie diskriminiert werden, bestimmt sich in Hinblick auf „vergleichbare Dauerbeschäftigte“. Beide Beschäftigtengruppen haben die Sozialpartner der Rahmenvereinbarung in § 3 Befr-RV definiert2 (vgl. Rz. 38). Bevor eine Schlechterbehandlung i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV überhaupt geprüft werden kann, ist entscheidend, dass zunächst eine konkrete Vergleichsgruppe bestimmt wird. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung wird nach ständiger Rechtsprechung so bestimmt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich, ebenso aber unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen.3 In der Rs. Carratù hat sich der EuGH allerdings nicht an diese Reihenfolge gebunden gefühlt und sogleich eine „vergleichbare Situation“ im Rahmen von § 4 Nr. 1 Befr-RV geprüft, ohne auf die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer, welche nach § 3 Nr. 2 Befr-RV anhand aufgaben- und fähigkeitsbezogenen Merkmalen zu prüfen ist, einzugehen (vgl. Rz. 39).4 Das Verhältnis zwischen § 3 Nr. 2 Befr-RV und § 4 Nr. 1 Befr-RV kann noch nicht als abschließend geklärt angesehen werden. So hat der EuGH in der Rs. Nierodzik zumindest wieder sowohl § 4 Nr. 1 Befr-RV als auch § 3 Nr. 2 Befr-RV in seinen Entscheidungsgründen zitiert (vgl. hierzu ausführlicher Rz. 39, 78 ff.).5 b) Anwendbarkeit bei Wechsel in Dauerbeschäftigung
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Der EuGH wendet das Diskriminierungsverbot aus § 4 Befr-RV unabhängig davon an, ob der Beschäftigte sich noch in einem befristeten Arbeitsverhältnis befindet oder inzwischen bei demselben Arbeitgeber in die Dauerbeschäftigung gewechselt ist. In seiner Entscheidung Del Cerro Alonso problematisierte der Gerichtshof erst gar nicht, dass die Beschäftigte, die ab dem Jahr 2004 „dauerbeschäftigtes Statutspersonal“ war, rückwirkend Gewährung der wirtschaftlichen Wirkungen der Anerkennung des Dienstalters für den vorangehenden zwölfjährigen Zeitraum beantragte, in dem sie bei demselben Arbeitgeber als „befristet beschäftigtes Statutspersonal“ tätig war. Der EuGH überprüfte allein die Frage, ob die Versagung einer rückwirkenden Anerkennung für den Zeitraum der befristeten Beschäftigung gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Nr. 1 BefrRV verstößt. Ihm wurde allerdings auch keine konkrete Frage zur zeitlichen Wirkung des Diskriminierungsverbots vorgelegt.6 Doch selbst wenn eine derartige Frage gestellt würde, dürfte das Ergebnis nicht anders ausfallen, 1 Hanau, NZA 2000, 1045; Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 179. 2 Wenngleich der EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 allein § 4 Nr. 1 Befr-RV auslegt, was allerdings m.E. aufgrund des klaren Aufbaus der Befr-RV, welche die Definitionen mit § 3 Befr-RV vor die Klammer gezogen hat, systematisch problematisch ist; soweit ersichtlich folgen hieraus jedoch keine inhaltlichen Unterschiede. 3 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 65; v. 18.12.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 40. 4 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 42 f. 5 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 31 ff. 6 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 64 § 9
schließlich setzt der EuGH in der Rs. Del Cerro Alonso mit der Prüfung des Diskriminierungsverbots voraus, dass es auch bei einem Wechsel in die Dauerbeschäftigung anwendbar bleibt. Deutlicher wird der EuGH bei der Auslegung des § 4 Nr. 4 BefrRV in den Rs. Valenza und Rosado Santana,1 wenn er auch in letzter Entscheidung teilweise seine Ausführungen auf den gesamten § 4 Befr-RV bezieht (vgl. zu § 4 Nr. 4 Befr-RV s. Rz. 110). Der Rechtsprechung des EuGH ist zuzustimmen. § 4 Befr-RV sieht allein ein Verbot der Schlechterbehandlung vor und zwar ohne zeitliche Begrenzung. Daher ist unerheblich, ob der betroffene Arbeitnehmer in der Zwischenzeit ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber eingegangen ist. Ziel der Richtlinie ist gem. § 1 Befr-RV die Verbesserung der Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse, welches auch durch das Diskriminierungsverbot gewährleistet werden soll. Soll dieses Ziel wirksam umgesetzt werden, können keine Schlechterbehandlungen allein deshalb hingenommen werden, weil der betroffene Arbeitnehmer zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr befristet beschäftigt ist. Allein die Entfristung führt nicht zur Heilung vorangegangener Ungleichbehandlungen.
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Das BAG hat seine Rechtsprechung aufgegeben, wonach das Diskriminierungsverbot nach § 4 Abs. 2 TzBfG nur greifen soll, wenn sich der Arbeitnehmer noch in einem befristeten Arbeitsverhältnis befindet und nicht, wenn es in der Zwischenzeit in eine Dauerbeschäftigung umgewandelt wurde. Zur Frage, ob bei der Eingruppierung und der Einstufung der Berufserfahrung auch vorherige befristete Arbeitsverhältnisse zu berücksichtigen sind, hat das BAG sich nunmehr für die Berücksichtigung der Befristungen ausgesprochen und vermeidet so eine unzulässige Diskriminierung von befristet Beschäftigten.2 Mit § 16 Abs. 2 TV-L haben sich auch die Sozialpartner im Bereich des öffentlichen Dienstes an diese Vorgabe gehalten, indem bei der Einstellung die Berufserfahrung ausdrücklich unabhängig davon, ob sie im Rahmen eines befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis erworben wurde, bei der Stufenzuordnung zu berücksichtigen ist.3
63
Damit stimmt die Rechtsprechung des BAG nun mit der Rechtsprechung des EuGH4 überein. Sie ist m.E. richtlinienkonform und fügt sich auch in das nationale gesetzgeberische Konzept ein. Der Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 2 und 3 TzBfG macht keine zeitlichen Vorgaben, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Geltendmachens befristet beschäftigt sein muss. Eine richtlinienkonforme Auslegung, die dazu führt, dass auch nach einer Umwandlung eines befristeten Arbeitsverhältnisses in eine Dauerbeschäftigung ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Nr. 1 Befr-RV geltend gemacht werden kann, ist also möglich und m.E. auch erforderlich.5
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1 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261; v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7909 – Ls. 3, Rz. 42. 2 BAG v. 21.3.2013 – 6 AZR 524/11, NZA 2013, 625; zur alten Rechtsprechung BAG v. 11.12. 2003 – 6 AZR 64/03, NZA 2004, 723; sehr krit. hierzu Bieder/Diekmann, EuZA 2008, 515 (521). 3 Zu §§ 16, 17 TV-L s. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11, NZA-RR 2014, 98. 4 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261. 5 Auf die fehlende Differenzierung, ob der Beschäftigte sich aus einem in der Zwischenzeit umgewandelten Dauerbeschäftigungsverhältnis auf das Diskriminierungsverbot beruft, weisen ausdrücklich Bieder/Diekmann, EuZA 2008, 515 (521 f.) hin.
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§9
Rz. 65
Befristungsrecht
c) Bezugspunkt Beschäftigungsbedingungen 65
Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung bezieht sich auf die Beschäftigungsbedingungen. Für befristet Beschäftigte dürfen keine schlechteren Beschäftigungsbedingungen gelten als für unbefristet Beschäftigte, nur weil sie in einem befristeten Arbeitsverhältnis stehen, solange kein sachlicher Grund die Schlechterbehandlung rechtfertigt. Entscheidend ist also, wie weit der Begriff der Beschäftigungsbedingungen reicht.
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aa) Inhalt. Die Befr-RV verweist für die Beschäftigungsbedingungen nicht auf die Mitgliedstaaten, der Begriff ist also unionsautonom auszulegen.1 Bereits der Sinn und Zweck der Rahmenvereinbarung, die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse zu verbessern (§ 1 Buchst. a Befr-RV) ebenso wie die effektive Umsetzung der Rahmenvereinbarung können nur gewährleistet werden, wenn die Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV weit ausgelegt werden.2 Dieser Ansatz wird bestätigt durch die Rechtsprechung des EuGH, wenn er betont, dass das Diskriminierungsverbot zu den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts“ gehört3 und den Grundsatz der Nichtdiskriminierung als „Grundsatz des Sozialrechts“ der Union bezeichnet.4
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Der EuGH hat in der Rs. Carratù davon ausgehend ein weites Begriffsverständnis entwickelt.5 Dabei hat er sich auf seine Rechtsprechung zum Begriff der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 der Teilzeit-RV6 bezogen und überträgt sie. Als entscheidendes Kriterium stellt der Gerichtshof auf die Beschäftigung ab und damit auf das zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber begründete Arbeitsverhältnis. Im konkreten Fall bejahte der EuGH eine Beschäftigungsbedingung i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV, weil es sich um eine Entschädigung handelte, die einem Arbeitnehmer aufgrund des zwischen ihm und seinem Arbeitgeber bestehenden Arbeitsverhältnisses gewährt wird und damit „aufgrund der Beschäftigung“.7 Es ist also nicht erheblich, dass die Entschädigung erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird.
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Diese Grundlinie hat der Gerichtshof in der Rs. Nierodzik weiterverfolgt. Dort hatte der EuGH über eine nationale Regelung zu entscheiden, die für die Kündigung von befristeten Arbeitsverhältnissen unabhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit eine zweiwöchige Kündigungsfrist vorsah, während bei einer Kündigung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses die Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen war und die Kündigungsfrist sich entsprechend auf bis zu drei Monate verlängern konnte. Auch die Kündigungsfrist fällt nach Ansicht des EuGH unter den Begriff der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV. Er begründet sein Ergebnis damit, dass eine Herausnahme der Kündigungsbedingungen aus § 4 Nr. 1 Befr-RV dazu führen würde, dass der Geltungsbereich der Regelung zu stark eingeschränkt und damit sein Ziel nicht erreicht werden könnte.8 Zudem zieht der Gerichtshof eine Parallele
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So auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 8. EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 38. EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 41. EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 38; v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 33; v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 24. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 32 ff. EuGH v. 10.6.2010 – Rs. C-395/08 – Bruno, Slg. 2010, I-5119 – Rz. 46. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 36; s. auch GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù – Rz. 45, der die Entschädigung als „aufgeschobenes Entgelt“ bezeichnet. EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 27.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 70 § 9
zu Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54, welche zu den Beschäftigungsbedingungen auch die Entlassungsbedingungen zählen.1 Diese weite Auslegung des Begriffs der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV, die auch die Kündigungsbedingungen erfasst, ist zu begrüßen. Der Hinweis auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 überzeugt zwar nicht. Hieraus könnte umgekehrt ebenso gefolgert werden, dass die fehlende ausdrückliche Nennung der Entlassungsbedingungen in § 4 Nr. 1 Befr-RV gerade zeigt, dass die Sozialpartner sie nicht in das Diskriminierungsverbot der Befr-RV einbeziehen wollten. Im Ergebnis ist dennoch dem EuGH zuzustimmen. Bei seiner Rechtsprechung handelt es sich um eine konsequente Anwendung der Grundannahme, dass dem Diskriminierungsverbot der Stellenwert eines Grundsatzes des Sozialrechts der Union zukommt. Einem derart zentralen Stellenwert wird nur genüge getan, wenn der Norm ein weiter Anwendungsbereich zugestanden wird. Die besondere Schutzbedürftigkeit der befristet Beschäftigten liegt gerade in der Art der Beendigung. Würde nun ein befristet Beschäftigter, weil er befristet beschäftigt ist, darüber hinaus auch noch nachteiligeren Kündigungsbedingungen unterliegen, wenn neben dem Befristungsende eine ordentliche Kündigung als Beendigungsform zulässig ist, wäre er gleich zweifach benachteiligt – einmal weil sein Arbeitsverhältnis nur befristet ist und zum anderen, weil bei vorzeitiger Beendigung seines Arbeitsverhältnisses auch noch die Kündigungsbedingungen nachteiliger sind als bei unbefristet Beschäftigten. Wenn sogar die Kündigungsbedingungen als Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Befr-RV eingeordnet werden, müssen in Anlehnung an diese extensive Rechtsprechung erst Recht Dauer/Lage des Urlaubs und der Arbeitszeit ebenso wie die Ausstattung des Arbeitsplatzes Beschäftigungsbedingungen sein. Nach Auffassung des Gerichtshofs in der Rs. Rosado Santana fällt auch eine „Voraussetzung, die die Berücksichtigung von als Beamter auf Zeit zurückgelegten früheren Dienstzeiten im Rahmen eines internen Auswahlverfahrens für eine Beförderung, die auf die Ernennung zum Berufsbeamten abzielt, betrifft“ unter den Begriff der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV.2 Nicht ganz klar ist, ob sich auch diese, vor der Rs. Carratù ergangene Rechtsprechung in das Schema einfügen lässt. Maßgeblich soll danach sein, ob es sich um eine Bedingung handelt, die aufgrund eines bestehenden Arbeitsverhältnisses greift. Problematisch scheint in der Konstellation der Rs. Rosado Santana, dass an zwei verschiedene Arbeitsverhältnisse anzuknüpfen ist – dem früheren befristeten und demjenigen, in dem die Beförderung zum Berufsbeamten angestrebt wird. Allerdings sind beide faktisch miteinander verknüpft und bestehen auch jeweils zwischen demselben Arbeitgeber und Beschäftigte. Zudem ist entscheidende Bedingung für die Beförderung die Vorbeschäftigung und die folgt unmittelbar sowohl aus dem bestehenden als auch aus den vorangegangenen Arbeitsverhältnissen.
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Noch anhängig ist derzeit eine italienische Vorlage (Rs. Racca), in der die Frage gestellt wird, ob der Begriff Beschäftigungsbedingungen auch die Folgen einer rechtswidrigen Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses umfasst und falls dies bejaht wird, ob es zu rechtfertigen ist, dass das innerstaatliche Recht für die rechtswidrige Unterbrechung unbefristeter und befristeter Arbeitsverhältnisse gewöhnlich unterschiedliche Rechtsfolgen vorsieht.3 Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um dieselbe Fra-
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1 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 28. 2 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907-7963 – Ls., Rz. 47. 3 Vorabentscheidungsersuchen v. 7.2.2013 – Rs. C-62/13 – Racca.
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§9
Rz. 71
Befristungsrecht
ge, die bereits in der Rs. Carratù gestellt wurde. Angesichts der deutlichen Worte, die der EuGH dort gefunden hat, könnte damit gerechnet werden, dass auch in der Rs. Racca eine Beschäftigungsbedingung bejaht werden kann. 71
bb) Sonderfall Arbeitsentgelt. Problematisch sind hingegen Beschäftigungsbedingungen, die das Arbeitsentgelt betreffen. Art. 153 Abs. 5 AEUV nimmt das Arbeitsentgelt aus der Rechtsangleichung, welche über Art. 153 AEUV zur Erreichung der Ziele des Art. 151 AEUV angestrebt wird, ausdrücklich heraus – wohingegen u.a. die Arbeitsbedingungen gem. Art. 153 Abs. 1 Buchst. a AEUV ausdrücklich Gegenstand der Rechtsangleichung sein sollen.
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Hieraus wurde insbesondere zu Beginn der Umsetzung der Richtlinie teilweise eine enge Auslegung des Begriffs der Beschäftigungsbedingungen gefolgert, wonach nicht nur das laufende Arbeitsentgelt aus dem Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbots des § 4 Nr. 1 Befr-RV fällt, sondern auch Entgeltbestandteile wie z.B. vermögenswirksame Leistungen, Jubiläumszuwendungen, pauschale Vergütungen für Bereitschaftsdienste/Rufbereitschaft oder Leistung der betrieblichen Altersversorgung nicht vom Diskriminierungsverbot erfasst sein sollen.1
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Die Rechtsprechung des EuGH hat sich hingegen anders entwickelt. Inzwischen hat sich beim Gerichtshof die Ansicht verfestigt, dass der Begriff der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV weit auszulegen ist. Allerdings gibt der EuGH keine Definition der Beschäftigungsbedingungen vor. Doch scheint nach der weiten Rechtsprechung kein Entgeltbestandteil vom Gleichbehandlungsgrundsatz des § 4 Nr. 1 Befr-RV ausgenommen zu sein. So hat der Gerichtshof seine Anwendbarkeit nicht nur für Dienstalterszulagen/Versorgungsbezüge bejaht, die vom Beschäftigungsverhältnis abhängen,2 sondern in der Rs. Impact ganz allgemein „Bedingungen …, die die Vergütung … betreffen“ mit einbezogen.3 Alleinige Negativvoraussetzung, die bislang der Rechtsprechung zu entnehmen ist, betrifft die Versorgungsbezüge; sie dürfen nicht einem gesetzlichen System der sozialen Sicherheit zuzuordnen sein.4
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Dies mag auf den ersten Blick überraschen. Scheinbar naheliegend wäre ein Rückgriff auf Art. 157 Abs. 2 AEUV. Dort wird der Begriff Arbeitsentgelt für den Grundsatz der Entgeltgleichheit definiert und umfasst auch alle sonstigen Vergütungen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Damit legt die Norm einen sehr weiten Begriff des Arbeitsentgelts zugrunde.5 Eine Übertragung der Begriffsbestimmung auf Art. 153 Abs. 5 AEUV würde zu einer ebenso weiten Herausnahme sämtlicher Entgeltbestandteile aus dem Diskriminierungsverbot des § 4 Nr. 1 Befr-RV führen. Allerdings scheint eine solche Auslegung nicht angemessen, schließlich verfolgen die Art. 153 Abs. 5 AEUV und Art. 157 AEUV zwei ganz unterschiedliche Regelungszie1 EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 14; ebenso für eine enge Auslegung der Beschäftigungsbedingungen Wank/Börgmann, RdA 1999, 383 (384). 2 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 39 ff., 47; v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Ls. 2, Rz. 49 ff. 3 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Ls. 5. 4 S. GA Wahl 26.9.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù – Rz. 42, bei Drucklegung noch nicht veröffentlicht. 5 S. ausführlicher Calliess/Ruffert/Krebber, EUV-AEUV, Art. 157 Rz. 20 ff. unter Verweis auf die Rechtsprechung (Rz. 23), welche zudem den Begriff Arbeitsentgelt sehr weit auslegt; so hat der EuGH bspw. Arbeitnehmerbeiträge für betriebliche Sozialversicherungssysteme als Entgelt i.S.v. Art. 157 Abs. 2 AEUV eingestuft, EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 – Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 – Rz. 80; v. 22.12.1993 – Rs. C-152/91 – Neath, Slg. 1993, I-6935 – Rz. 31.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 76 § 9
le. Nach Art. 153 Abs. 5 AEUV wird das Arbeitsentgelt herausgenommen und damit auch nicht von dem Diskriminierungsverbot des § 4 Nr. 1 Befr-RV erfasst.1 Die Begriffsbestimmung des Art. 157 Abs. 2 AEUV bewirkt hingegen, dass der Grundsatz der Entgeltgleichheit weitestgehend gewährleistet wird. Setzt man dasselbe Begriffsverständnis voraus, führt dies zu wertungswidersprüchlichen Ergebnissen: Über Art. 157 Abs. 2 AEUV wird eine Gleichbehandlung möglichst weit gewährleistet, im Rahmen von § 4 Nr. 1 Befr-RV wird sie über Art. 153 Abs. 5 AEUV möglichst eng gehalten, wenn dort der weite Entgeltbegriff des Art. 157 Abs. 2 AEUV zum Zuge kommt. Dies widerspräche auch der Einordnung des § 4 Nr. 1 Befr-RV als Teil der „Grundsätze des Sozialrechts der Gemeinschaft“ (vgl. Rz. 57). Auch systematisch ist ein Rückgriff auf Art. 157 Abs. 2 AEUV nicht zwingend; es handelt sich bei der Regelung um keine „vor die Klammer gezogene“ Norm, die für die nachfolgenden Normen Geltung beansprucht. Vielmehr ist sie Art. 153 AEUV nachgeordnet und erfasst ein wesentlich spezielleres Regelungsanliegen. Somit ist nicht auf die Begriffsbestimmung des Art. 157 Abs. 2 AEUV zurückzugreifen.2 Die Herausnahme des Arbeitsentgelts sollte daher im Zusammenhang mit den übrigen in Art. 153 Abs. 5 AEUV genannten Materien gelesen werde; dort werden des Weiteren das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht genannt. Damit wird im Wesentlichen die Tarifautonomie geschützt und wie auch auf nationaler Ebene der staatlichen Rechtsetzung entzogen (vgl. § 1 Rz. 60 f.).3 Die Entgelthöhe ist dabei einer der zentralen Regelungsgegenstände der Tarifparteien. Dieser Sachzusammenhang sollte so ausgelegt werden, dass mit der Herausnahme des Arbeitsentgelts der Einführung eines unionseinheitlichen Mindestlohns entgegengewirkt werden soll.4 Eine Herausnahme sämtlicher Beschäftigungsbedingungen, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsentgelt stehen, lässt sich aus Art. 153 Abs. 5 AEUV daher nicht herleiten. Vielmehr ist der Begriff der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV so weit auszulegen, dass auch die Vergütung samt ihrer unmittelbaren und mittelbaren Bestandteile von dem Diskriminierungsverbot erfasst werden.
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Auf nationaler Ebene hat die Diskussion um die Auslegung der Beschäftigungsbedingungen i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV bisher weniger Bedeutung. Der entscheidende Unterschied zwischen § 4 Nr. 1 Befr-RV und § 4 Abs. 2 TzBfG besteht darin, dass in der deutschen Vorschrift der Pro-rata-temporis-Grundsatz des § 4 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ausdrücklich auf das Arbeitsentgelt bezogen wird. Damit hat der nationale Gesetzgeber zugleich klargestellt, dass auch, oder sogar gerade, das Arbeitsentgelt Gegenstand des Diskriminierungsverbots ist. Dies ist unionsrechtlich selbst dann unproblematisch, wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass das Arbeitsentgelt vom Anwendungsbereich der Befristungsrichtlinie wegen Art. 153 Abs. 5 AEUV auszunehmen ist, denn zumindest steht es den nationalen Gesetzgebern frei, über die Mindestvorgaben des Richtliniengebers hinauszugehen (vgl. § 1 Rz. 165 ff.).
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1 Der EuGH weist zudem darauf hin, dass es sich bei Art. 153 Abs. 5 AEUV um eine Ausnahmeregelung handelt und sie als solche eng auszulegen ist, EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 39. 2 A.A. Calliess/Ruffert/Krebber, EUV-AEUV, Art. 153 Rz. 11, nach dessen Ansicht nur eine begriffliche Dogmatik den Art. 151 ff. AEUV die erforderliche innere Konsistenz verleihen mag. 3 Ähnlich Streinz/Eichenhofer, EUV/AEUV, Art. 153 AEUV Rz. 13, welcher auch auf Art. 28 GR-Charta verweist, der die kollektivvertragliche Befugnis zum eigenen Grundrecht ausformt und so die Tarifautonomie auf die Ebene des EU-Rechts übertragen wird. 4 S. auch EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 40; deutlicher EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 123 f.
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§9
Rz. 77
Befristungsrecht
d) Schlechterbehandlung 77
§ 4 Nr. 1 Befr-RV verbietet eine Schlechterbehandlung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern im Vergleich zu Dauerbeschäftigten (zu diesen Begriffen vgl. Rz. 13 f.).
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aa) Prüfung einer „vergleichbaren Situation“. Erforderlich ist nach dem Wortlaut der Norm die Vergleichbarkeit. Aus § 4 Nr. 1 Befr-RV folgt, dass eine Gleichbehandlung von nicht miteinander vergleichbaren befristet beschäftigten Arbeitnehmern und Dauerbeschäftigten nicht geboten ist.1 Unklar ist, ob im Rahmen der Schlechterbehandlung eine weitere Vergleichbarkeit zu prüfen ist, die über die Kriterien des § 3 Nr. 2 Befr-RV hinausgeht. In der Rs. Carratù überspringt der EuGH die Anknüpfungspunkte des § 3 Nr. 2 Befr-RV (Tätigkeit und Fähigkeit), und prüft allein, ob sich Arbeitnehmer, deren Vertrag mangels wirksamer Befristungsabrede nicht ordnungsgemäß abgeschlossen ist, und entlassene (zuvor unbefristet beschäftigte) Arbeitnehmer in einer „vergleichbaren Situation“ befinden.2 Verglichen werden dabei aber nicht die Arbeitnehmer, sondern gesetzliche Regelungen daraufhin, ob sie vergleichbare Situationen für befristet und unbefristet Beschäftigte regeln. Damit wird scheinbar vorausgesetzt, dass § 4 Nr. 1 Befr-RV eine zusätzliche Vergleichbarkeitsprüfung erfordert, die nicht identisch ist mit der Prüfung der Vergleichbarkeit nach § 3 Nr. 2 Befr-RV.
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Der Gerichtshof hat in der Rs. Carratù die Vergleichbarkeit gesetzlicher Regelungen verneint, die Entschädigungen für den Fall einer rechtswidrigen Befristungsklausel vorsehen, und solchen, die Entschädigungen bei rechtswidriger Auflösung eines (unbefristeten) Arbeitsvertrags gewähren. Die Situation sei nicht vergleichbar, weil die erste Entschädigung Arbeitnehmer betreffe, deren Vertrag nicht ordnungsgemäß abgeschlossen wurde, wohingegen die zweite Entschädigung entlassene Arbeitnehmer betreffe.3 Ein Bezug zu den Merkmalen des § 3 Nr. 2 Befr-RV wird dabei nicht hergestellt. Auch stellt der Gerichtshof nicht klar, wo nun diese Prüfung der „vergleichbaren Situation“ zu verorten ist. Etwas erhellender sind die Ausführungen des Generalanwalts Wahl, dessen Schlussanträgen der EuGH gefolgt ist. Für ihn handelt es sich dabei um eine Frage des Anwendungsbereichs des § 4 Nr. 1 Befr-RV. Um den Anwendungsbereich einzugrenzen, scheint er eine zusätzliche, von § 3 Nr. 2 Befr-RV unabhängige, Vergleichbarkeitsprüfung einzuziehen.4 Dabei kommen EuGH und Generalanwalt übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine Entschädigungsregelung für den Fall der rechtswidrigen Aufnahme einer Befristungsklausel in einen Arbeitsvertrag und eine Entschädigungsregelung für den Fall der rechtswidrigen Auflösung eines unbefristeten Arbeitsvertrags schon nicht miteinander vergleichbar seien.5 Eine nähere Begründung lässt sich hierzu ebenfalls nur den Schlussanträgen entnehmen. Eine rechtswidrige einseitige Unterbrechung sei nicht dasselbe wie eine rechtswidrige Befristungsklausel, in der ein von beiden Parteien gewünschter Beendigungszeitpunkt vereinbart ist. Die Unterscheidung zwischen Nichterneuerung und Entlassung falle nicht in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsschutzes des § 4 Befr-RV.6 Dabei stellt der Generalanwalt vor allem darauf ab, dass bei einem befristeten Arbeits-
1 EuGH v. 12.12.12013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 42. 2 Diese Prüfung leitet der Gerichtshof ohne nähere Begründung nur aus § 4 Nr. 1 Befr-RV selbst her, EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 43. 3 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 44. 4 GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù – Rz. 62 („Frage nach den Grenzen des § 4“), Rz. 67 ff. 5 EuGH v. 12.12.12013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Rz. 42 ff. 6 Zustimmend von Medem, ZESAR 2014, 245 f.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 80 § 9
vertrag der Wille der Parteien darauf ausgerichtet sei, den Vertrag zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beenden.1 Unabhängig von dem Ergebnis wäre diese Frage methodisch wohl besser beim sachlichen Grund verortet gewesen.2 Da der EuGH nicht erläutert hat, warum er die Vergleichbarkeit der Situation (ausschließlich) im Rahmen von § 4 Nr. 1 Befr-RV prüft, sollte die weitere Rechtsprechungsentwicklung aber noch abgewartet werden. Zugrunde gelegt, die Prüfung einer Schlechterbehandlung i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV setzt, neben der Vergleichsgruppenbildung nach § 3 Befr-RV, die Prüfung einer vergleichbaren Situation voraus, muss im Ergebnis dennoch den Ausführungen des EuGH in der Rs. Carratù widersprochen werden. Nach Auffassung des EuGH unterscheiden sich die Situationen, in denen die Entschädigung gezahlt wird, deutlich, weil die eine Entschädigung Arbeitnehmer betreffe, deren Vertrag nicht ordnungsgemäß abgeschlossen wurde, und die andere Entschädigung entlassene Arbeitnehmer. Damit wird die Vergleichbarkeit im Ergebnis deshalb ausgeschlossen, weil es sich einerseits um ein (unwirksam vereinbartes) Befristungsende handelt und andererseits eine (unwirksame) Entlassung i.R.e. unbefristeten Arbeitsverhältnisses. Doch diese unterschiedlichen Beendigungsformen sind gerade die Wesensmerkmale von befristeten und unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Im Ergebnis wird die Anwendung des § 4 Nr. 1 Befr-RV mit der Argumentation verwehrt, dass es sich um einen befristeten Arbeitsvertrag handelt. Schließlich wird das Vertragsende beim befristeten Arbeitsvertrag gerade bei Vertragsschluss vereinbart – nichtsdestotrotz handelt es sich ebenso wie bei der unwirksamen Kündigung um eine unwirksame Vertragsbeendigung. Dies vermittelt den Eindruck, dass der Anwendungsbereich des § 4 Nr. 1 Befr-RV deshalb eingeschränkt wird, weil es sich um eine Befristung handelt. Eine solche Herangehensweise würde § 4 Nr. 1 Befr-RV seines Sinngehalts – dem Schutz vor Diskriminierung wegen Befristung – entleeren. Dennoch wird in der Literatur dieser Rechtsprechung des EuGH mit der Begründung zugestimmt, das Befristungsende könne nicht als Äquivalent zur Beendigung durch Kündigung gesehen werden, weil auch das befristete Arbeitsverhältnis gekündigt werden kann.3 Dabei wird verkannt, dass es sich bei einer ordentlichen Kündigung im befristeten Arbeitsverhältnis um den Ausnahmefall handelt, das Grundmodell ist die Beendigung des Arbeitsvertrags aufgrund der Befristung (vgl. zur deutschen Rechtslage § 15 Abs. 3 TzBfG). Dass ein befristetes Arbeitsverhältnis ausnahmsweise vor Ablauf der Befristung ordentlich gekündigt werden kann, macht den befristet Beschäftigten nur noch schutzwürdiger und kann nicht dazu führen, den Diskriminierungsschutz auszuhebeln. Vor dem Hintergrund der Zweckrichtung des Diskriminierungsverbots überzeugender sind die Entscheidungsgründe in der Rs. Nierodzik. Auf dem Prüfstand standen eine Regelung, die für die Kündigung von befristeten Arbeitsverhältnissen unabhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit eine zweiwöchige Kündigungsfrist vorsah, und eine Regelung, die für die Berechnung der Kündigungsfrist im Rahmen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses die Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen vorgab, was dazu führen konnte, dass sich die Kündigungsfrist auf bis zu drei Monate verlängert. Der nationale Gesetzgeber sah also für befristete und unbefristete Arbeitsverhältnisse unterschiedlich lange Kündigungsfristen vor. Der EuGH bejaht zu Recht eine Schlechterbehandlung i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV, weil, soweit für ihn ersichtlich, das 1 GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù – Rz. 68 ff. 2 Vgl. deutlich zum – insoweit identisch aufgebauten – nationalen Recht Laux/Schlachter/ Schlachter, § 4 TzBfG Rz. 248, die die sonstigen Differenzierungsmerkmale, die nicht an die Tätigkeit anknüpfen, im Rahmen der Rechtfertigungsebene prüfen will. 3 A.A. von Medem, ZESAR 2014, 246
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§9
Rz. 81
Befristungsrecht
einzige Unterscheidungsmerkmal in der Befristung liegt.1 Er geht allerdings dabei, wie schon früher, wieder dazu über, nicht klar herauszustellen, ob/wann er eine Vergleichbarkeit nach § 3 Nr. 2 Befr-RV prüft und inwieweit es sich um eine Prüfung der Schlechterbehandlung nach § 4 Nr. 1 Befr-RV handelt oder ob schlichtweg beides vermischt wird bzw. aus seiner Sicht dasselbe ist. Methodisch überzeugender prüft der Gerichtshof im Anschluss den im Verfahren gegen eine Schlechterbehandlung vorgebrachten Aspekt, dass befristete Arbeitsverhältnisse nur solche temporärer Natur seien, im Rahmen des sachlichen Grundes. Eine Rechtfertigung der Schlechterbehandlung über den sachlichen Grund verneint er zu Recht,2 anderenfalls könnte jede Ungleichbehandlung über dieses Argument gerechtfertigt und somit der Diskriminierungsschutz ausgehebelt werden. 81
Angesichts der Parallelität der nationalen Vorschriften zur Befr-RV müsste sich auch im Rahmen von § 4 Abs. 2 TzBfG die Frage stellen, ob nicht nur die Vergleichbarkeit i.S.v. § 3 Abs. 2 TzBfG zu prüfen ist, sondern eine zusätzliche Prüfung einer vergleichbaren Situation erforderlich wäre oder hingegen Gesichtspunkte außerhalb der in § 3 Abs. 2 TzBfG genannten nur im Rahmen der Rechtfertigung durch einen sachlichen Grund zu prüfen sind. Die Beziehung zwischen § 4 Abs. 2 TzBfG und der Begriffsbestimmung des § 3 Abs. 2 TzBfG wird auf nationaler Ebene nicht einheitlich beantwortet. Teilweise wird vertreten, dass von einer Identität der Vergleichbarkeitsbegriffe in beiden Normen auszugehen ist,3 teilweise wird § 4 Abs. 2 TzBfG ein weiteres Begriffsverständnis zugrunde gelegt.4 Im Wesentlichen wird aber jedenfalls davon ausgegangen, dass die Berücksichtigung von Kriterien, die nicht von § 3 Abs. 2 TzBfG erfasst sind, im Rahmen des sachlichen Grundes von § 4 Abs. 2 TzBfG zu berücksichtigen sind.5
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Aus unionsrechtlicher Sicht kann in Anbetracht der nicht eindeutigen Vorgehensweise des EuGH derzeit noch keine abschließende Empfehlung gegeben werden. Auch wenn der EuGH in der Rs. Nierodzik zumindest auch wieder eine etwas eingehendere Vergleichbarkeitsprüfung durchführt und § 3 Nr. 2 Befr-RV ebenso wie den sachlichen Grund wieder miteinbezieht, ist den Entscheidungen zum Diskriminierungsverbot gemein, dass die Ausführungen zur Vergleichbarkeit aus systematischer Sicht nicht klar sind.
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bb) Anwendbarkeit auf mittelbare Benachteiligungen. Noch nicht geklärt ist die Frage, ob von § 4 Nr. 1 Befr-RV nur unmittelbare oder auch mittelbare Benachteiligungen erfasst sind. Der Wortlaut lässt beide Auslegungen zu. Der EuGH hat sich hierzu noch nicht geäußert. Allerdings ist bei der Auslegung des § 4 Nr. 1 Befr-RV auch in dieser Frage der besondere Stellenwert zu berücksichtigen, den der Gerichtshof dem Diskriminierungsverbot zumisst und aus dem er selbst die Folge zieht, dass die Vorschrift nicht eng ausgelegt werden darf (vgl. Rz. 57). Danach müsste das Gebot der Gleichbehandlung weit ausgelegt werden, so dass auch mittelbare Benachteiligungen von ihm erfasst werden.6
1 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 34 f. 2 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 36 ff. 3 KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 3; Sievers, § 4 Rz. 56; Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 248; Boecken/Joussen/Joussen, § 4 Rz. 64. 4 Meinel/Heyn/Herms, § 4 Rz. 125. 5 KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 3; Sievers, § 4 Rz. 56; Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 248; Meinel/Heyn/Herms, § 4 Rz. 125. 6 Im Ergebnis ebenso Laux/Schlachter/Schlachter, TzBfG, § 4 Rz. 185; a.A. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, Rz. 12 f.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 86 § 9
Auf nationaler Ebene wird nicht einheitlich beurteilt, ob auch mittelbare Benachteiligungen von § 4 Abs. 2 TzBfG erfasst sind.1 Wenn aber zugrunde gelegt wird, dass § 4 Nr. 1 Befr-RV sowohl unmittelbare als auch mittelbare Ungleichbehandlungen verbietet, wäre im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch im nationalen Recht der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots entsprechend auszuweiten, so dass auch die mittelbare Benachteiligung unter § 4 Abs. 2 TzBfG subsumiert werden müsste. Einer richtlinienkonformen Auslegung steht auch nicht Wortlautgrenze entgegen, denn auch in § 4 Abs. 2 TzBfG differenziert der Wortlaut nicht und lässt so zumindest hinreichend Spielraum für eine entsprechende Auslegung.2
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In diesem Kontext ist auch die Rechtsprechung des BAG kritisch zu beurteilen, wonach die Regelung in § 17 Abs. 4 TV-L, welche eine Besitzstandswahrung in Bezug auf die Entgeltstufe für den Fall der Höhergruppierung im laufenden Arbeitsverhältnis vorsieht, keinen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot darstellen soll.3 Der Vorteil der Besitzstandswahrung des § 17 Abs. 4 TV-L kommt jedoch nicht zur Anwendung, wenn die Höhergruppierung bei einer Neueinstellung zwischen mehreren Befristungen erfolgt. Für diesen Fall soll nach dem Konzept des TV-L allein § 16 Abs. 2 greifen. In der Tat differenziert § 17 Abs. 4 TV-L zwar nicht ausdrücklich danach, ob der Arbeitnehmer sich zum Zeitpunkt der Höhergruppierung in einem befristeten oder in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis befindet oder ob das vorangegangene Arbeitsverhältnis befristet oder unbefristet war. Eine unmittelbare Diskriminierung ist damit ausgeschlossen. Doch wird bei einem mehrfach befristeten Arbeitnehmer die Höhergruppierung realistischerweise nicht im Rahmen eines einjährigen Vertrages, sondern bei Vertragsverlängerung erfolgen. So war auch der Sachverhalt gelagert, der dem BAG zur Entscheidung vorlag. Die Höhergruppierung wird bei einem unbefristet Beschäftigten typischerweise während des laufenden Arbeitsverhältnisses erfolgen. Es ist kaum denkbar, dass hierfür eine Änderungskündigung ausgesprochen wird, um ein neues Arbeitsverhältnis zu begründen. Damit werden im Regelfall befristet Beschäftigte wesentlich häufiger von der Besitzstandswahrung durch § 17 Abs. 4 TV-L ausgenommen sein.4 Auch hierin kann ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Nr. 1 Befr-RV aufgrund einer mittelbaren Diskriminierung gesehen werden. Die Rechtsprechung des BAG zu § 17 Abs. 4 TV-L widerspricht zudem der klaren Positionierung des EuGH in der Rs. Valenza,5 wo er das Diskriminierungsverbot möglichst weitestgehend zur Anwendung kommen lassen will und auch Diskriminierungen mit einbezieht, die aus vorherigen befristeten Arbeitsverhältnissen in das laufende unbefristete Arbeitsverhältnis hineinwirken.
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e) Kausalität Gemäß § 4 Nr. 1 Befr-RV dürfen befristet beschäftigte Arbeitnehmer nur deswegen, weil sie befristet beschäftigt sind, nicht gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten 1 Für eine Einbeziehung der mittelbaren Benachteiligung z.B. KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 11; kritisch Annuß/Thüsing/Thüsing, § 4 Rz. 18. 2 So auch Laux/Schlachter/Schlachter, TzBfG, § 4 Rz. 185; Preis/Gotthardt, DB 2000, 2065 (2070); KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 11; KDZ/Däubler, § 4 TzBfG Rz. 42. 3 BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11, NZA-RR 2014, 98. 4 S. hierzu auch die Argumentation im Rahmen von § 4 über den funktionalen Zusammenhang und das einheitliche Arbeitsverhältnis Fürst/Fieberg, GKÖD, Bd. IV, E § 16 Rz. 16d mit der entsprechenden Gegenargumentation von BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 964/11, NZA-RR 2014, 98, (Rz. 15 ff.). 5 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 ff.
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§9
Rz. 87
Befristungsrecht
schlechter behandelt werden. Diese Formulierung spricht dafür, dass eine Schlechterbehandlung, die sowohl auf der Befristung als auch auf einem anderen, nicht verbotenen Grund beruht, zulässig wäre.1 Allein die Tatsache, dass die Befristung Teil eines Motivbündels ist, führt demnach nicht dazu, dass die Schlechterbehandlung unzulässig ist. Damit scheint der Schutz des § 4 Nr. 1 Befr-RV weniger stark ausgestaltet als bspw. in Art. 2 der allgemeinen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG. Gemäß Art. 2 Abs. 1 RL 2000/78/EG darf es keine „Diskriminierung wegen eines der Art. 1 genannten Gründe geben“. Anders als in § 4 Nr. 1 Befr-RV fehlt der Zusatz „nur“, das Schutzniveau der Befristungsrichtlinie scheint damit also niedriger als dasjenige der allgemeinen Gleichbehandlungsrichtlinie. f) Rechtfertigung durch sachlichen Grund 87
Zentrales Merkmal des § 4 Nr. 1 Befr-RV ist der sachliche Grund, welcher eine Schlechterbehandlung rechtfertigen kann; hierüber wird das Diskriminierungsverbot eingeschränkt.2 Der EuGH legt für den sachlichen Grund i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV und i.S.v. § 4 Nr. 4 sowie § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV dieselbe Definition zugrunde.3 Ein sachlicher Grund rechtfertigt danach eine Schlechterstellung nur, wenn sie „durch das Vorhandensein genau bezeichneter, konkreter Umstände gerechtfertigt“ ist, „die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien für die Prüfung der Frage kennzeichnen, ob diese Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entspricht und ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist.“ Es bietet sich also eine zweistufige Prüfung an: Zunächst sind die Voraussetzungen des echten Bedarfs einer Ungleichbehandlung, das Vorliegen genau bezeichneter, konkreter Umstände, der spezielle Zusammenhang zwischen Schlechterstellung und Beschäftigungsbedingung und die objektiven und transparenten Kriterien zu prüfen. In einem zweiten Schritt muss dann eine Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung durchgeführt werden, die an dem Ziel der Ungleichbehandlung zu messen ist.
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Als Beispiel für solche Umstände nennt der Gerichtshof diejenigen, die sich aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung befristete Verträge geschlossen worden sind, die sich aus deren Wesensmerkmalen ergeben oder aber die sich aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben.4 Den pauschalen Hinweis, dass ein befristeter Arbeitsvertrag die „Stabilität der arbeitsrechtlichen Beziehung“ fördere, lässt der EuGH ebenso wenig ausreichen, wie den Verweis auf die bloß temporäre Natur befristeter Arbeitsverträge.5 Das ist angesichts des Prüfungsmaßstabs, den der EuGH selbst vorgibt, wie z.B das Vorliegen genau bezeichneter, konkreter Umstände, nur konsequent.
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Der EuGH räumt den Mitgliedstaaten bei der Organisation ihrer öffentlichen Verwaltungen Ermessen ein. Dies bedeutet nach seiner Auffassung, dass sie für den Zugang 1 So auch GA Wahl v. 26.9.2013 – Rs. 361/12 – Carratù – Rz. 53. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 15. 3 S. den Verweis in EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 55 und in EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 56 auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006 I-6057 – Rz. 69 f., wo der Gerichtshof den sachlichen Grund für § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV definiert; zur Gleichstellung des sachlichen Grundes gem. § 4 Nr. 1 und § 4 Nr. 4 Befr-RV s. EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 ff. – Rz. 50. 4 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 55; v. 13.9. 2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 53. 5 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-38/13 – Nierodzik, NZA 2014, 421 – Rz. 36 ff.
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Brose
Diskriminierungsverbot
Rz. 92 § 9
zu bestimmten Beschäftigungen Voraussetzungen bzgl. des Dienstalters vorsehen könnten, den Zugang zu einer internen Beförderung Berufsbeamten vorbehalten und von ihnen den Nachweis einer Berufserfahrung verlangen können, die der Einstufung unmittelbar unter der ausgeschriebenen entspreche. Doch lässt dies nach Auffassung des Gerichtshofs nicht die Voraussetzung eines sachlichen Grundes und transparenter Kriterien, die in nachprüfbarer Weise angewandt werden, entfallen.1 Allein die Tatsache, dass die Befristung der Beschäftigung des Personals der öffentlichen Verwaltung in einer allgemeinen und abstrakten Regelung wie einem Gesetz oder Tarifvertrag vorgesehen ist, hat der Gerichtshof u.a. in der Rs. Gavieiro Gavieiro nicht als sachlichen Grund anerkannt.2 Stellte man auf dieses Kriterium ab, würde die bloße Befristung ausreichen, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen und damit könnten Sinn und Zweck der Rahmenvereinbarung gerade nicht erreicht werden.3 Auch ist es nach Ansicht des Gerichtshofs u.a. in der Rs. Del Cerro Alonso keine Rechtfertigung, wenn die unterschiedliche Behandlung von befristet Beschäftigten und Dauerbeschäftigten in einer allgemeinen, abstrakten Regelung des nationalen Rechts geregelt ist, wie z.B. in einem Gesetz oder in einem Tarifvertrag.4 Hierbei fehlt es nach der Definition des EuGH an genau bezeichneten konkreten Umständen, „die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien für die Prüfung der Frage kennzeichnen, ob diese Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entspricht und ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist.“5
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Beide Entscheidungen sind konsequent, schon denklogisch kann die unterschiedliche Behandlung selbst nicht zugleich der sie rechtfertigende Grund sein. Dabei muss unerheblich sein, ob sie durch ein Gesetz vorgegeben wurde. Ansonsten wäre es ein Leichtes, den Diskriminierungsschutz des § 4 Nr. 1 Befr-RV auszuhebeln.6 Der „sachliche Grund“ wäre, weil er faktisch gar nicht existiert, nicht überprüfbar und auch nicht subsumierbar. Allein dass etwas geregelt wird, stellt noch keinen Inhalt dar, der z.B. auf Transparenz oder Erforderlichkeit überprüft werden kann.
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Der nationale Gesetzgeber hat in § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG schlicht den Wortlaut des § 4 Nr. 1 Befr-RV übernommen und nennt den „sachlichen Grund“ als einzige Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung. Damit hat sich der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung scheinbar auf die sichere Seite begeben. In der Literatur wurde allerdings auf die Problematik hingewiesen, ob der Rückgriff auf den unbestimmten Begriff des „sachlichen Grundes“ unionsrechtskonform ist, weil er durch den nationalen Normgeber entsprechend der Vorgaben des EuGH näher konkretisieren müsse, was einen sachlichen Grund darstellen kann.7 Diese Bedenken sind nachvollziehbar. Auch wenn der nationale Gesetzgeber freilich gerade keine konkreten Einzelfallregelungen erlässt, so hätte er doch zumindest abstrakt-generell Fallgruppen vorgeben können, die einen sachlichen Grund i.S.v. § 4 Abs. 2 TzBfG darstellen. Mit der bloßen Übernahme der Wortwahl des § 4 Nr. 1 Befr-RV
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1 2 3 4
EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 76 ff. EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 54. EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 56. EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 57 f.; EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 72 ff. 5 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 57 f.; v. 18.10. 2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 50 ff. 6 Ähnlich Bieder/Diekmann, EuZA 2008, 515 (524); zustimmend ebenfalls Höland, Anm. zur Rs. Del Cerro Alonso, ZESAR 2007, 184 (192). 7 Bieder/Diekmann, EuZA 2008, 515 (524).
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§9
Rz. 93
Befristungsrecht
könnte gegen das Transparenzgebot, welches bei der Umsetzung der Richtlinie einzuhalten ist (vgl. § 1 Rz. 119), verstoßen worden sein. Das Transparenzgebot verlangt, dass die Mitgliedstaaten zur Umsetzung von Richtlinien Rechtsvorschriften erlassen, „die geeignet sind, eine so bestimmte, klare und transparente Lage zu schaffen, dass der Einzelne seine Rechte erkennen und sich vor den nationalen Gerichten auf sie berufen kann.“1 Im Ergebnis ist es auch dieses Transparenzgebot, das der EuGH stärkt, wenn er verlangt, dass der sachliche Grund i.S.v. § 4 Nr. 1 Befr-RV konkrete Umstände benennt und auf objektiven und transparenten Kriterien beruht. Ob das Merkmal „sachlicher Grund“ ohne weitere Konkretisierung diesen Anforderungen des Transparenzgebots genügt, kann angezweifelt werden. 93
Allerdings ist umgekehrt zu berücksichtigen, dass gerade im Rahmen des Diskriminierungsverbots die Schwierigkeit groß sein dürfte, abstrakt-generelle Fallgruppen zu schaffen, mit Hilfe derer das Verbot angemessen eingeschränkt werden kann. Es erscheint fraglich, ob vom nationalen Gesetzgeber verlangt werden kann, insgesamt so vage formulierte Vorgaben, wie sie in der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten sind, konkreter umzusetzen. Schließlich wird den sehr abstrakten Vorgaben der Befr-RV erst im Anschluss faktisch durch den EuGH eine konkretere Bedeutung beigemessen, die der nationale Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Umsetzung naturgemäß noch nicht kennen kann. So läuft er Gefahr, den unionsrechtlichen Vorgaben im Sinne der späteren EuGH-Rechtsprechung nicht gerecht zu werden, je konkreter er die nationalen Bestimmungen ausgestaltet hat. Indem der nationale Gesetzgeber den unbestimmten Begriff des sachlichen Grundes übernommen hat, überlässt er es im Ergebnis der nationalen Rechtsprechung, die Anforderungen auszugestalten – und sich dabei an die Vorgaben des EuGH zu halten.
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Das BAG entspricht jedenfalls bisher mit seiner Rechtsprechung der Leitlinie des EuGH, wenn es darauf hinweist, dass der sachliche Grund sich nicht aus der Tatsache ergeben dürfe, dass der Arbeitnehmer befristet beschäftigt ist, sondern neutral ausgestaltet sein muss.2
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Problematisch ist in diesem Zusammenhang aus unionsrechtlicher Sicht der Beispielsfall, der in der Gesetzesbegründung genannt wird: Danach soll es einen sachlichen Grund darstellen, wenn Zusatzleistungen bei kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen zu so geringen Ansprüchen führen würden, dass der jeweilige Betrag in keinem Verhältnis zum Leistungszweck stehe.3 In diesem Fall liegt der Grund gerade in der besonders kurzen Befristungsdauer, also in der Befristung selbst. Eine Ungleichbehandlung befristet Beschäftigter soll aber nach dem Willen der europäischen Sozialpartner nicht durch die Befristung gerechtfertigt werden, Ziel der Rahmenvereinbarung ist es vielmehr, dieses Vorgehen zu verhindern.4
1 EuGH v. 15.6.1995 – Rs. C-220/94 – Kommission/Luxemburg, Slg. 1995, I-1589 – Rz. 10; v. 18.12.2008 – Rs. C-338/06 – Kommission/Spanien, Slg. 2008, I-10139 – Rz. 54. 2 S. BAG v. 16.6.2004 – 5 AZR 448/03, NZA 2004, 1119 zur Diskriminierung wegen Teilzeitbeschäftigung; Beck-OK/Bayreuther, § 4 TzBfG Rz. 29. 3 BT-Drucks. 14/4374, 16. 4 Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 192, weist zu Recht darauf hin, dass die geringe Anspruchshöhe gerade die direkte Folge der (besonders kurzen) Befristung sei, so dass im Ergebnis die Befristung den Grund für die Schlechterstellung darstellen würde; ebenso KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 18; a.A. Annuß/Thüsing/Thüsing, § 4 Rz. 78, der diese „wirtschaftliche Erwägung“ als sachlichen Grund anerkennt.
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Brose
Diskriminierungsverbot
Rz. 100
§9
3. Pro-rata-temporis-Grundsatz Mit § 4 Nr. 2 Befr-RV haben die Sozialpartner recht knapp formuliert, dass der Prorata-temporis-Grundsatz dort gilt, wo er angemessen ist. Ähnlich wie die Rechtfertigung durch einen sachlichen Grund eröffnet auch die Einschränkung, die die Norm über die Angemessenheit eingefügt hat, den Mitgliedstaaten einen erheblichen Spielraum.
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a) Inhalt und Anwendungsbereich Der Pro-rata-temporis-Grundsatz gibt vor, dass eine zeitanteilige Bemessung vorzunehmen ist, bezogen auf Vor- oder auch Nachteile.1 Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 4 Nr. 2 Befr-RV ist daher, dass es sich um eine teilbare Leistung handelt.2 Hierbei schränkt der Wortlaut der Regelung den Anwendungsbereich nicht auf bestimmte Leistungen, also bspw. nur geldwerte Leistungen ein, sondern umfasst alle, solange sie nur teilbar sind.
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Der Pro-rata-temporis-Grundsatz gestaltet das Diskriminierungsverbot, welches sich auf eine negative Abgrenzung beschränkt, inhaltlich aus, soweit es sich um teilbare Leistungen handelt.3 In diesem Fall kann dem Unterschied, der aus der Befristung folgt, Rechnung getragen werden. So weist der EuGH darauf hin, dass § 4 Nr. 2 Befr-RV nur eine der Konsequenzen hervorhebe, die sich ggf. aus der Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung ergeben.4 § 4 Nr. 2 Befr-RV dient also, für die Fallgruppe der teilbaren Leistungen, der Ausgestaltung von § 4 Nr. 1 Befr-RV.
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Der nationale Gesetzgeber hat den Pro-rata-temporis-Grundsatz mit § 4 Abs. 2 Satz 2 TzBfG umgesetzt. Dabei wird er ausdrücklich auf Arbeitsentgelt und andere geldwerte Leistungen bezogen. Wegen der teilweise herrschenden Unsicherheit, ob auch das Arbeitsentgelt in den Anwendungsbereich der Befr-RV fällt, wurde die deutsche Regelung als über § 4 Befr-RV hinausgehend angesehen.5 Angesichts der dargestellten Rechtsprechung des EuGH, die zu Recht auch das Arbeitsentgelt als Beschäftigungsbedingung i.S.v. § 4 Befr-RV ansieht, muss nun umgekehrt vielmehr die Frage gestellt werden, ob die Bezugnahme auf Arbeitsentgelt und geldwerte Leistungen zu eng ist. Schließlich ist der Wortlaut des § 4 Nr. 2 Befr-RV weiter und bezieht alle teilbaren Leistungen ein. Allerdings dürfte es schwer sein, einen praktischen Anwendungsfall für eine teilbare nicht geldwerte Leistung zu finden.6
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Irritierend ist aus unionsrechtlicher Sicht auch die Formulierung „mindestens in dem Umfang“ in § 4 Abs. 2 Satz 2 TzBfG. Dieser Wortlaut lässt auch eine Besserstellung befristet Beschäftigter zu. Dies scheint zwar gem. § 8 Nr. 1 Befr-RV, wonach die Mitgliedstaaten auch günstigere Bestimmungen für Arbeitnehmer beibe-
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1 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 22. 2 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 116 unter Bezugnahme auf die Schlussanträge der GA Kokott, Slg. 2008, I-2533 Nr. 161. 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 29. 4 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 65. 5 S. bspw. Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 193. 6 Gerade deswegen wurde auch umgekehrt § 4 Nr. 2 Befr-RV vom EuGH als Argument verwendet, um zu begründen, dass Beschäftigungsbedingung im Sinne der Rahmenvereinbarungen auch das Arbeitsentgelt anzusehen ist, EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 116 unter Bezugnahme auf die Schlussanträge der GA Kokott, Slg. 2008, I-2533 Nr. 161; generell käme der Urlaubsanspruch in Betracht, doch auch er könnte bei einem weiten Verständnis als geldwerter Vorteil angesehen werden, so z.B. Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 198 bzgl. § 4 Abs. 2 TzBfG, was angesichts § 7 Abs. 4 BUrlG konsequent ist.
Brose
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§9
Rz. 101
Befristungsrecht
halten oder einführen dürfen, möglich. Allerdings würde darin zugleich eine Schlechterbehandlung der nicht befristet Beschäftigten liegen. Eine derartige positive Diskriminierung ist aber in der Befr-RV, anders als bspw. in Art. 5 RL 2000/43/EG, nicht vorgesehen.1 b) Angemessenheit 101
Auch wenn der unbestimmte Rechtsbegriff „Angemessenheit“ einen großen Spielraum eröffnet, bedeutet dies nicht, dass die Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich des Pro-rata-temporis-Grundsatzes bestimmen können. Maßgeblich ist der Zweck dieses Grundsatzes.2 Damit entfaltet das Merkmal der Angemessenheit erst dann Wirkung, wenn ein Vorteil zeitanteilig bemessen werden kann. Handelt es sich um unteilbare Vorteile, greift nur das Diskriminierungsverbot nach § 4 Nr. 1 Befr-RV.3 Bedeutung kann der Angemessenheitsvorbehalt bspw. bei der Gewährung von Weihnachtsgeld erlangen,4 vorausgesetzt, Bestandteile des Arbeitsentgelts werden als vom Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung erfasst angesehen.
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Anders als § 4 Nr. 2 Befr-RV sieht § 4 Abs. 2 Satz 2 TzBfG keinen Angemessenheitsvorbehalt vor. Vielmehr muss dem befristet Beschäftigten „mindestens“ die Leistung in dem Umfang gewährt werden, der dem Anteil seiner Beschäftigungsdauer am Bemessungszeitraum entspricht. Während also nach Unionsrecht eine Einschränkung über die Angemessenheit ausdrücklich erlaubt ist, schließt der Wortlaut der deutschen Regelung dies über den Mindestvorbehalt geradezu aus.5 Ob dennoch eine Einschränkung der nationalen Regelung über die Angemessenheit zulässig ist, ist in der Literatur umstritten.6 Die Vorgaben der Befr-RV schließen eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des Pro-rata-temporis-Grundsatzes jedenfalls nicht aus, da sie selbst in § 4 Nr. 2 Befr-RV zu diesem Zweck den Angemessenheitsvorbehalt eingeführt hat,7 und ein entsprechender Vorbehalt auch nicht das Erreichen des Ziels der Rahmenvereinbarung gefährden würde.
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Zur Frage, ob der Mindestvorbehalt des § 4 Abs. 2 Satz 2 TzBfG den Anforderungen der Befr-RV entspricht vgl. Rz. 100.
1 ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 63, der darüber hinaus auf einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz hinweist. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 20. 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 20, als Beispiel für einen unteilbaren Vorteil nennt er den Zugang zur Betriebskantine, dort kommt der Pro-rata-temporis-Grundsatz nicht zur Anwendung. 4 S. EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 18; beim Weihnachtsgeld könnte die Berücksichtigung unter dem Gesichtspunkt der Betriebstreue erfolgen. 5 S. Richardi/Annuß, BB 2000, 2201 (2204); Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 193. 6 So soll nach der Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/4374, 16, eine Ungleichbehandlung von befristet Beschäftigten trotz des Wortlauts durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden können, weshalb teilweise von einem Redaktionsversehen ausgegangen wird, s. z.B. Kliemt, NZA 2001, 296 (305); gegen diese Auslegung unter Verweis auf den Wortlaut Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag, Rz. 100; Däubler, ZIP 2000, 1961 (1966); Preis/Gotthardt, DB 2000, 2070; EAS/ Rolfs, B 3200 Rz. 34; für ein gesetzgeberisches Versehen und eine differenzierendere Auslegung hingegen Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 194 f.; KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 17; Thüsing, ZfA 2002, 249 (263). 7 So auch KR/Bader, § 4 TzBfG Rz. 17.
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Brose
Diskriminierungsverbot
Rz. 106
§9
4. Beschäftigungsbedingungen und Betriebszugehörigkeitszeiten a) Inhalt Gemäß § 4 Nr. 4 Befr-RV sollen für befristet beschäftigte Arbeitnehmer bzgl. bestimmter Beschäftigungsbedingungen dieselben Betriebszugehörigkeiten gelten wie für die Dauerbeschäftigten. Eine Ausnahme sieht die Regelung vor, wenn unterschiedliche Betriebszugehörigkeiten aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sind. Die Vorschrift ist sprachlich nicht gerade gelungen. Sie soll besagen, dass die Beschäftigungszeiten, wenn sie eine Voraussetzung für Arbeitgeberleistungen darstellen, für befristet und unbefristet Beschäftigte formal gleich zu bemessen sind.1 Sieht also eine Regelung eine vierwöchige Wartezeit vor, wie z.B. § 3 EFZG, greift diese Wartezeit unabhängig davon, ob es sich um einen befristet oder unbefristet Beschäftigten handelt – auch wenn die Befristung z.B. nur zwei Monate dauert, wird sie nicht verkürzt (und ebenso wenig verlängert). Der Pro-rata-temporis-Grundsatz des § 4 Nr. 2 Befr-RV greift hier nicht.2
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Bei den Verhandlungen der Sozialpartner stand dahinter die Frage, ob eine unterschiedliche Behandlung befristet Beschäftigter beim Zugang zur betrieblichen Altersversorgung möglich sein sollte.3 Mit § 4 Nr. 4 Befr-RV haben sich die Sozialpartner dafür entschieden, die Gleichbehandlung grundsätzlich auch in diesem Bereich zu gewährleisten. Den Mitgliedstaaten wird aber die Möglichkeit gelassen, Unterscheidungen bei Vorliegen „sachlicher Gründe“ vorzunehmen.4 Das bedeutet zugleich, dass befristet Beschäftigte jedenfalls nicht von der betrieblichen Altersversorgung ausgenommen werden sollten, die betriebliche Altersversorgung sollte also durchaus Regelungsgegenstand von § 4 Nr. 4 Befr-RV sein.5 Generell werden also von § 4 Nr. 4 Befr-RV Regelungen erfasst, welche eine Wartezeit, also eine Mindestdauer der Betriebszugehörigkeit, für die Entstehung eines Anspruchs voraussetzen.6 Ebenso können aber nach Auffassung des EuGH, wie die Rs. Valenza gezeigt hat, Regelungen erfasst sein, die die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung von Vorbeschäftigungszeiten in befristeten Beschäftigungsverhältnissen für die Eingruppierung festlegen.7 Diese Auslegung ist jedenfalls noch von dem nicht ganz klaren Wortlaut der Regelung erfasst.
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Dem EuGH wurde in der Rs. Gavieiro Gavieiro ausdrücklich die Frage vorgelegt, wie der Begriff „unterschiedliche Betriebszugehörigkeitszeiten“ i.S.v. § 4 Nr. 4 Befr-RV auszulegen ist. Darauf hat der Gerichtshof allerdings nur geantwortet, er habe bereits entschieden, dass Dienstalterszulagen, wie sie Gegenstand des Verfahrens waren, unter den Begriff der Beschäftigungsbedingungen in § 4 Nr. 1 Befr-RV fallen.8 Der Ge-
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1 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 25, welcher § 4 Nr. 4 Befr-RV folgendermaßen „übersetzt“: „Soweit es für einzelne Arbeitsbedingungen auf die Betriebszugehörigkeitszeiten ankommt, gelten für befristet beschäftigte Arbeitnehmer und Dauerbeschäftigte dieselben Fristen, es sei denn, unterschiedliche Betriebszugehörigkeitszeiten wären aus objektiven Gründen gerechtfertigt.“ 2 Vgl. zur entsprechenden Umsetzungsregelung des TzBfG ErfK/Preis, § 4 TzBfG Rz. 68. 3 Kaufmann, AuR 1999, 332 (333); EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 17; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 114. 4 Kaufmann, AuR 1999, 332 (333). 5 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 27. 6 S. zur entsprechenden nationalen Regelung in § 4 Abs. 2 S. 3 TzBfG Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 204, die als Beispiel die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 EFZG und den Anspruch auf vollen Jahresurlaub nach § 4 BUrlG nennt. 7 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 ff. 8 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09 – Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 50, zu dieser Rechtssache wurde ohne Schlussanträge entschieden, so dass auch insoweit keine weiteren Ausführungen zur Auslegung von § 4 Nr. 4 Befr-RV bestehen.
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§9
Rz. 107
Befristungsrecht
richtshof stützte seine Entscheidung letztlich allein auf § 4 Nr. 1 und nicht auf § 4 Nr. 4 Befr-RV. Dies ist nicht erstaunlich, da das Kernproblem nicht in der Erfüllung einer bestimmten Wartezeit lag, sondern es sich um eine alle drei Jahre wiederkehrende Leistung handelte, die nach den nationalen Regelungen allein unbefristet Beschäftigten vorbehalten sein sollte. b) Verhältnis zwischen § 4 Nr. 1 und § 4 Nr. 4 Befr-RV 107
Das Verhältnis von § 4 Nr. 4 Befr-RV zu § 4 Nr. 1 Befr-RV ist bisher ungeklärt. Der EuGH weist nur darauf hin, dass § 4 Nr. 4 Befr-RV das gleiche Verbot wie § 4 Nr. 1 Befr-RV für die bestimmte Beschäftigungsbedingungen betreffenden Betriebszugehörigkeiten enthält.1 Im Ergebnis ist dem aber nicht viel mehr hinzuzufügen. § 4 Nr. 4 Befr-RV enthält lediglich eine Spezialregelung im Verhältnis zu § 4 Nr. 1 BefrRV, der nicht mehr zukommt als eine klarstellende Wirkung.2 Da sogar mit dem „sachlichen Grund“ dieselbe Rechtfertigungsmöglichkeit vorgesehen ist, bleibt kein Raum zur Differenzierung. Diese Klarstellung dürfte der Entstehungsgeschichte der Rahmenvereinbarung geschuldet sein, während derer die Sozialpartner scheinbar besonderen Einigungsbedarf bei der Frage der unterschiedlichen Behandlung befristet Beschäftigter beim Zugang zur betrieblichen Altersversorgung hatten.3
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Gegenstück auf nationaler Ebene ist § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG. Dort hat der deutsche Gesetzgeber § 4 Nr. 4 Befr-RV nahezu wortgleich übernommen, die Regelung aber zumindest ein wenig eingängiger formuliert. Eine richtlinienkonforme Auslegung führt damit dazu, dass auch § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG den Zugang befristet Beschäftigter zur betrieblichen Altersversorgung regelt.4
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Umstritten ist, ob § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG auch die Wartezeit zur Wahlberechtigung und Wählbarkeit des Betriebsrats erfasst.5 Das Unionsrecht sieht die formale Anwendung derselben Wartezeiten hierfür jedenfalls nicht vor. § 4 Nr. 4 Befr-RV erfasst nur „Beschäftigungsbedingungen“, nicht hingegen das Verhältnis zu Arbeitnehmervertretungen.6 c) Anwendungsbereich
110
Zur Frage der Anwendbarkeit des § 4 Nr. 4 Befr-RV beim Wechsel des befristet beschäftigten Arbeitnehmers in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei demselben Arbeitgeber äußerte sich der EuGH in der Rs. Valenza. Dort ging es um die Frage, ob 1 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7909 – Rz. 64; v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 39. Dies wurde in der Literatur kritisiert; der EuGH beziehe sich in seinen Entscheidungen auf § 4 Nr. 1 „und/oder“ Nr. 4 Befr-RV, es sei daher scheinbar nicht eindeutig für den EuGH, welche Nr. geprüft werden sollte, Kovàcs, ZESAR 2013, 179. Allerdings ist das Zusammenfassen der Nr. 1 und 4 nicht über zu bewerten, da der EuGH in dem Fall Ausführungen zum sachlichen Grund machte und darauf hinwies, dass der Begriff einheitlich auszulegen ist, EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 Rz. 62. Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen den beiden Regelungen sind hieraus nicht zwingend zu ziehen. 2 Im Ergebnis ebenso Kovàcs, ZESAR 2013, 179. 3 Kaufmann, AuR 1999, 332 (333); EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 17; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 114. 4 Im Ergebnis auch Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 204; KR/Bader, § 4 Rz. 27; a.A. Kliemt, NZA 2001, 296 (305), allerdings ohne nähere Begründung. 5 So bspw. KDZ/Däubler, § 4 TzBfG Rz. 10; a.A. KR/Bader, § 4 Rz. 26. 6 So auch KR/Bader, § 4 Rz. 26; dafür sprechen auch die getrennten Regelungen in den Buchst. c und d in Art. 3 Abs. 1 RL 2000/78/EG.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 113
§9
die vorangegangenen Dienstzeiten und die erworbene Berufserfahrung, die die Beschäftigten bei dem Arbeitgeber in vorherigen befristeten Beschäftigungsverhältnissen bei der Festlegung des Dienstalters und der Festsetzung der Höhe der Dienstbezüge nach § 4 Befr-RV zu berücksichtigen sind. Der Gerichtshof hält den Umstand, dass die Arbeitnehmer inzwischen unbefristet beschäftigt sind, für unerheblich. Zur Begründung verweist er darauf, dass weder Wortlaut noch Kontext des § 4 Nr. 4 Befr-RV dafür sprechen, die Regelung dann nicht mehr anzuwenden, sobald der Arbeitnehmer den Status eines Dauerbeschäftigten erlangt. Der Gerichtshof stützt sich auf die Ziele der Befr-RV, dem Verbot von Diskriminierungen und die Verhinderung von Missbräuchen. Die Beschränkung auf Arbeitnehmer, die sich in einem laufenden befristeten Arbeitsverhältnis befinden, würde zu einer unangemessen engen Auslegung des § 4 Befr-RV führen.1 Zur Frage, ob bei der Eingruppierung und der Einstufung der Berufserfahrung auch vorherige befristete Arbeitsverhältnisse zu berücksichtigen sind, hat das BAG sich inzwischen für die Berücksichtigung der Befristungen ausgesprochen und vermeidet so eine unzulässige Diskriminierung von befristet Beschäftigten.2 Damit läuft das BAG nun mit der Rechtsprechung des EuGH3 konform.
111
d) Rechtfertigung durch sachlichen Grund Ebenso wie in § 4 Nr. 1 Befr-RV ist auch in § 4 Nr. 4 Befr-RV die Möglichkeit vorgesehen, von der Grundregel wegen eines „sachlichen Grundes“ abzuweichen. Der EuGH gibt eine einheitliche Auslegung des sachlichen Grundes für § 4 Nr. 1, Nr. 4 und § 5 Befr-RV vor.4
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Damit gilt auch für die Ungleichbehandlung nach § 4 Nr. 4 Befr-RV, dass sie gerechtfertigt sein kann durch „das Vorhandensein genau bezeichneter, konkreter Umstände, die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien für die Prüfung der Frage kennzeichnen, ob diese Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entspricht und ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist.“ Beispielhaft nennt der Gerichtshof Gründe, die sich aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung befristete Verträge geschlossen worden sind, ergeben, die aus deren Wesensmerkmalen folgen oder aber die in der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat begründet sind.5 Ausdrücklich bestätigt der EuGH seine Rechtsprechung auch in Zusammenhang mit § 4 Nr. 4 Befr-RV, dass allein das Berufen auf die temporäre Natur der Arbeit des Personals der öffentlichen
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1 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 bis C-305/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 36 f.; v. 8.9. 2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 44; kritisch hierzu Kovàcs, ZESAR 2013, 178. 2 BAG v. 21.3.2013 – 6 AZR 524/11, NZA 2013, 625; noch anders in BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 64/03, NZA 2004, 723. 3 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261. 4 S. den Verweis in EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09, Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 55 und in EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05, Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 56 auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057 – Rz. 69 f., wo der Gerichtshof den sachlichen Grund für § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV definiert; zur Gleichstellung des sachlichen Grundes gem. § 4 Nr. 1 und § 4 Nr. 4 Befr-RV s. EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 bis C-305/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 50; v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 79; sehr krit. hingegen zu einer einheitlichen Rechtfertigung über den sachlichen Grund Kovàcs, ZESAR 2013, 181. 5 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-444/09, Gavieiro Gavieiro, Slg. 2010, I-14031 – Rz. 55; v. 13.9. 2007 – Rs. C-307/05, Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 53.
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§9
Rz. 114
Befristungsrecht
Verwaltung ebenso wenig ausreicht wie die Tatsache, dass die unterschiedliche Behandlung in einer allgemeinen und abstrakten nationalen Rechtsnorm wie einem Gesetz oder Tarifvertrag vorgesehen ist (für weitere auf § 4 Nr. 4 Befr-RV übertragbare Beispiele vgl. Rz. 87 ff., Rz. 135 ff.).1 114
Der Gesetzgeber hat mit § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG auch für eine Ungleichbehandlung bei der Berücksichtigung von Betriebszugehörigkeitszeiten den sachlichen Grund als Rechtfertigung übernommen, ohne ihn weiter zu konkretisieren. Die Auslegung bleibt also auch hier den nationalen Gerichten vorbehalten (zu unionsrechtlichen Bedenken vgl. Rz. 92 ff.). 5. Anwendungsmodalitäten
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Gemäß § 4 Nr. 3 Befr-RV sind es die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner und/oder die Sozialpartner, die die Anwendungsmodalitäten „dieser Bestimmung“ festlegen. Dabei sollen die Rechtsvorschriften der Union und die gesetzlichen und tarifvertraglichen Bestimmungen und Gepflogenheiten des jeweiligen Mitgliedstaates berücksichtigt werden. Dahinter zeichnet sich der Gedanke ab, dass so im Rahmen der näheren Ausgestaltung Lösungen gefunden werden, über die den Anforderungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern am ehesten Rechnung getragen werden kann.2 Die wirtschaftlichen Gegebenheiten der Mitgliedstaaten unterscheiden sich ebenso, wie die Bedürfnisse der unterschiedlichen Branchen.3
116
Der EuGH weist darauf hin, dass durch § 4 Nr. 3 Befr-RV nur die „Anwendung“ des Diskriminierungsverbots erleichtert werden soll. Die Modalitäten dürften sich nicht auf die Festlegung des Inhalts des Grundsatzes selbst erstrecken. Daher sei es ausgeschlossen, dass die Existenz des Grundsatzes an Voraussetzungen geknüpft oder sein Umfang eingeschränkt werde.4
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Die systematische Stellung der Regelung überrascht. Nahe liegend wäre es gewesen, sie im letzten Absatz des § 4 Befr-RV zu verorten. Allein aus der Systematik müsste gefolgert werden, dass die Regelung zu den Anwendungsmodalitäten nicht für § 4 Nr. 4 Befr-RV greift.5 Aber auch die Bezugszeiträume, die für die Anwendung des § 4 Nr. 4 Befr-RV zu ermitteln sind, müssten durch die Mitgliedstaaten und Sozialpartner ausgestaltet werden.6 Daher wird die systematische Stellung der Nr. 3 und 4 auch als redaktioneller Fehler angesehen.7 Hierfür spricht ebenso der Wortlaut des § 4 Nr. 3 Befr-RV, denn die Regelung wird ausdrücklich auf „diese Bestimmung“ bezogen. „Diese Bestimmung“ kann schwerlich als § 4 mit Ausnahme von Nr. 4 verstanden werden, sondern muss vielmehr so verstanden werden, dass hiermit der gesamte § 4 Befr-RV gemeint ist. 6. Rechtsfolge bei Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
118
Die Richtlinie selbst sieht keine konkrete Sanktion für den Fall vor, dass gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Befr-RV verstoßen wird. Dies ist für arbeitsrechtliche 1 2 3 4 5 6 7
EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-302/11 – Valenza, NZA 2013, 261 – Rz. 50, 52. Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 259. Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 259. EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2533 – Rz. 66 f. Auf dieses Problem weist auch EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 17 hin. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 28. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 28.
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Diskriminierungsverbot
Rz. 121
§9
Richtlinien nicht ungewöhnlich,1 in diesem Fall gilt der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (vgl. § 1 Rz. 120). Begrenzt wird dieser Grundsatz jedoch durch das Effektivitätsprinzip, welches zum einen verlangt, dass Verfahrensregelungen den Bürgern nicht die Ausübung ihrer Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen, und zum anderen, dass die nationalrechtlichen Sanktionen effektiv, abschreckend und verhältnismäßig sein müssen (vgl. § 1 Rz. 122).2 Letzteres ist damit die einzige Vorgabe seitens des Unionsrechts. Für das Befristungsrecht gibt es insoweit noch keine konkrete Rechtsprechung des EuGH. In der Rs. Del Cerro Alonso ging es um die mögliche Sanktion, dass bei einer nicht gerechtfertigten Vorenthaltung einer Leistung die Anpassung nach oben erfolgt, so dass die Begünstigung auch auf die befristet Beschäftigten zu erstrecken ist. Der Gerichtshof hat sich nicht ausdrücklich mit der Frage auseinandergesetzt, ob es sich dabei um eine effektive, abschreckende und verhältnismäßige Sanktion handelt; dieses Problem war auch nicht von der Vorlage erfasst. Aber er führte aus, dass § 4 Nr. 1 Befr-RV „als Grundlage für einen Anspruch dienen kann, der darauf gerichtet ist, einem befristet beschäftigten Arbeitnehmer eine Dienstalterszulage zu gewähren, die nach dem nationalen Recht Dauerbeschäftigten vorbehalten ist.“3 Zumindest implizit scheint der EuGH damit die sog. Anpassung nach oben bei einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot als mögliche Sanktion anzusehen. Dies würde sich in die Rechtsprechung des EuGH zur Rechtsfolge von Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 157 AEUV (Art. 141 EG/Art. 119 EGV) einreihen.4
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Ob die Anpassung allein bereits effektiv, abschreckend und verhältnismäßig ist oder aber bspw. noch ein Schadensersatzanspruch hinzukommen muss, ist damit jedoch noch nicht abschließend geklärt. Wird bereits die Anpassung nach oben als ausreichend erachtet, kann der Arbeitgeber vergleichsweise gefahrenlos diskriminieren. Er kann zunächst versuchen, Kosten zu sparen, indem er befristete Arbeitnehmer bspw. von Dienstalterszulagen ausnimmt, was ggf. gar nicht erst gerügt wird. Schlimmstenfalls müsste er Beträge nachzahlen, die er ohnehin hätte bezahlen müssen, hätte er erst gar nicht diskriminiert. Dieses Risiko wäre gut kalkulierbar. Angesichts der besonderen Bedeutung, die der EuGH dem Diskriminierungsverbot beimisst – er bezeichnet es immerhin als Grundsatz des Sozialrechts der Union, der nicht restriktiv ausgelegt werden darf5 – wäre es durchaus möglich, dass allein die Anpassung nach oben nicht als ausreichend erachtet wird. Hierfür können allerdings aus der Entscheidung Del Cerro Alonso noch keine Rückschlüsse gezogen werden. Weitere Rechtsprechung des EuGH, die sich explizit zur Frage der Sanktion äußert, bleibt insoweit noch abzuwarten.6
120
Der nationale Gesetzgeber sieht ebenfalls keine ausdrückliche Sanktionsregelung für den Fall der unzulässigen Diskriminierung wegen einer Befristung vor. Handelt es sich um eine Schlechterbehandlung in Form der Vorenthaltung einer Leistung,7
121
1 S. auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 32. 2 Zu einer Ausschlussfrist von zwei Monaten im spanischen Recht s. EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-177/10 – Rosado Santana, Slg. 2011, I-7907 – Rz. 92 ff. 3 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Ls. 2, Rz. 48. 4 Annuß/Thüsing/Thüsing, § 4 Rz. 89; Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 266. 5 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 38. 6 Dass es sich nicht um eine allein theoretische Fragestellung handelt, zeigt sich in der Entscheidung EuGH v. 10.4.1984 – Rs. C-14/83 – von Colson, Slg. 1984, 1891-1920. 7 Ansonsten käme die Nichtigkeit der belastenden Regelung gem. § 134 BGB in Betracht und bei Fortwirken der Diskriminierung ggf. ein Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, Laux/Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 265.
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§9
Rz. 122
Befristungsrecht
wird aber auch auf nationaler Ebene von einer Anpassung nach oben ausgegangen.1 Möglich sind nach h.M. auch Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB und wohl auch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 4 TzBfG.2 122
Grundsätzlich müsste zumindest das Zusammenspiel von Anpassung nach oben und Schadensersatz den unionsrechtlichen Vorgaben genügen, wobei jedoch noch zu klären bleibt, welche Rolle die Höhe des Schadensersatzes spielen soll, um die Sanktion als hinreichend abschreckend bezeichnen zu können.3
VI. Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV 123
§ 5 Befr-RV bildet neben dem Diskriminierungsverbot den zweiten großen Pfeiler zum Schutz der befristet Beschäftigten. Das Missbrauchsverbot nimmt in Deutschland sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur bisher einen ungleich höheren Stellenwert ein als das Diskriminierungsverbot. 1. Ziel und Inhalt des § 5 Befr-RV
124
§ 5 Nr. 1 Befr-RV stellt gleich zu Beginn sein Ziel klar: Der Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverhältnisse soll vermieden werden. Dieses Ziel haben die Sozialpartner bereits in § 1 Befr-RV vorangestellt sowie in Nr. 7 der Erwägungsgründe der Rahmenvereinbarung zugrunde gelegt (vgl. Rz. 9). Damit ist die Vermeidung von Kettenbefristungen das Ziel. Hieraus folgt, dass die Befr-RV nicht der Kontrolle der ersten Befristung dienen soll, sondern der Kontrolle bei der Aneinanderreihung mehrerer Befristungen.4
125
Doch so hoch das Ziel, Missbrauch zu vermeiden, auch in der Richtlinie gehängt wird, ist § 5 Befr-RV doch nur das Ergebnis eines „Minimalkonsenses“ der Sozialpartner.5 In der Regelung werden mit den sachlichen Gründen, der zulässigen Höchstdauer und der zulässigen Zahl der Verlängerungen lediglich Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung aufgezählt, die alternativ ergriffen werden können; § 5 Nr. 1 Befr-RV bestimmt nur, dass „eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen“ eingeführt werden müssen. Zudem sind diese Maßnahmen von der Rahmenvereinbarung keineswegs näher ausgestaltet, auch wenn bspw. eine Befristungshöchstdauer oder eine Höchstzahl aneinandergereihter Befristungen durchaus möglich gewesen wäre. Ebenso symptomatisch für die zögerliche Herangehensweise ist § 5 Nr. 2 Befr-RV: Danach legen die Mitgliedstaaten nur „gegebenenfalls“ fest, wie der Begriff „aufeinanderfolgend“ zu definieren ist und nach welchen Voraussetzungen befristete Arbeitsverhältnisse als unbefristet gelten sollen.
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Im Ergebnis ist § 5 Befr-RV also zunächst einmal nur eine sehr vage Handlungsanordnung an die Mitgliedstaaten und ihre Sozialpartner, deren Vorgaben leicht erfüllt sein 1 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 657/07, NZA 2009, 640 (in Bezug auf das Diskriminierungsverbot i.R.d. Teilzeitarbeit); 12.10.2010 – 9 AZR 518/09, NZA 2011, 306 (309); Meinel/Heyn/Herms/ Herms, § 4 Rz. 140; BeckOK/Bayreuther, § 14 TzBfG Rz. 44. 2 Meinel/Heyn/Herms/Herms, § 4 Rz. 144; BeckOK/Bayreuther, § 14 TzBfG Rz. 46; Laux/ Schlachter/Schlachter, § 4 Rz. 266. 3 Mit Hinweisen zur anspruchsbegründenden Wirkung des Diskriminierungsverbots auf unionsrechtlicher Ebene und einer Übertragung auf das nationale Befristungsrecht Laux/Schlachter/ Schlachter, § 4 Rz. 266. 4 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 2, Rz. 107; 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 40 ff.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 30; EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 22. 5 EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 20; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 30.
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Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 131
§9
dürften. Faktisch hat der EuGH freilich die Vorgaben weiter konkretisiert und z.B. mit der Rs. Kücük zumindest im Ansatz das deutsche Befristungskonzept durchaus in Frage gestellt. Dies gilt umso mehr, als der EuGH hervorhebt, dass die nationalen Gerichte nicht nur die nationalen Maßnahmen abstrakt überprüfen sollen. Vielmehr soll die Rechtsprechung ebenso überprüfen, ob die Anwendungsvoraussetzungen und die „tatsächliche Anwendung“ der jeweiligen Regelung eine Maßnahme i.S.v. § 5 Befr-RV bildet, „die geeignet ist, den missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge oder -verhältnisse zu verhindern und zu ahnden.“1 2. Gleichwertige gesetzliche Maßnahmen Nach § 5 Nr. 1 Befr-RV ergreifen die Mitgliedstaaten eine oder mehrere der im Anschluss genannten Maßnahmen, wenn keine gleichwertigen gesetzlichen Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung bestehen. Welche Maßnahmen gleichwertig zu den in § 5 Nr. 1 Buchst. a bis c Befr-RV genannten sind, wird nicht festgelegt.
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Wenn gleichwertige gesetzliche Maßnahmen bereits bestehen, schließt dies nach Auffassung des EuGH nicht aus, dass eine nationale Regelung zur Umsetzung der Rahmenvereinbarung erlassen wird, die speziell für den öffentlichen Sektor anzuwenden ist. Erforderlich bleibt aber, wie auch sonst, dass nicht die Wirksamkeit der Missbrauchsvermeidung, wie sie durch die gleichwertige gesetzliche Maßnahme gewährleistet wird, beeinträchtigt wird. Maßstab ist hierbei vor allem das Verbot der Absenkung des Schutzniveaus nach § 8 Nr. 3 Befr-RV.2
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3. Anforderungen bestimmter Branchen/Arbeitnehmerkategorien Vorweg wird in § 5 Nr. 1 Befr-RV klargestellt, dass auch die Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien zu berücksichtigen sind. Diese Vorgabe ist so allgemein gehalten, dass sie sich sowohl auf die Wahl als auch die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Maßnahme(n) oder das Ausmaß der jeweiligen Sanktion beziehen kann. „Berücksichtigung“ bedeutet hingegen nicht umfassender Ausschluss vom Anwendungsbereich der Befr-RV, eine Herausnahme sieht das Regelwerk allein in § 2 Nr. 2 Befr-RV vor.3
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Inhaltlich kann die Regelung nur so verstanden werden, dass bei diesen „bestimmten Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien“ die Anforderungen an die Maßnahmen zur Vermeidung von Missbräuchen niedriger angesetzt werden könnten, ansonsten hätte es ihrer Erwähnung nicht bedurft. Umso bedauerlicher ist es, dass diese Branchen und Arbeitnehmerkategorien nicht näher definiert werden, schließlich kann über die Qualifizierung als eine solche Kategorie auf nationaler Ebene für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmerschaft der Schutz der Befr-RV eingeschränkt werden.
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Soweit ersichtlich, hat der EuGH sich noch nicht explizit zur Auslegung dieser Formulierung geäußert, lässt aber zumindest im Bereich der Sanktionen eine Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Sektor zu (vgl. Rz. 183 ff.). Dennoch kann m.E. nicht der gesamte öffentliche Sektor als Branche i.S.v. § 5 Nr. 1 Befr-RV angesehen und über diesen Weg privilegiert werden. Schon der Wortlaut „Branche“ legt nahe, dass es sich um einen Bereich handeln muss, der über die Tätigkeit definiert wird. Diese Auffassung lässt sich auf Aussagen der Kommission stützen, wonach die Be-
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1 EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-362/13 – Fiamango u.a., FA 2014, 233 – Ls. 3. 2 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071– Ls. 1, Rz. 87. 3 Vgl. EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 42.
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§9
Rz. 132
Befristungsrecht
grifflichkeit eher auf Gewerbezweige verweisen soll statt auf eine Gegenüberstellung von Privatsektor und öffentlichem Sektor.1 132
Als bestimmte Branche kommt damit bspw. das Baugewerbe, welches besonders von der Wetterlage abhängig ist, in Betracht. Als bestimmte Arbeitnehmerkategorie kommen Künstler und Musiker in Betracht.2 4. Verhältnis der Maßnahmen nach § 5 Nr. 1 Befr-RV zueinander
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Die in § 5 Nr. 1 Befr-RV aufgezählten Maßnahmen müssen angesichts des deutlichen Wortlauts („eine oder mehrere“) nicht kumulativ ergriffen werden, es reicht aus, wenn (mindestens) eine der in der Regelung aufgeführten Maßnahmen ergriffen wird.3 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch bei Einführung nur einer einzigen Maßnahme in das nationale Recht die allgemeinen Grundsätze der Umsetzungspflicht eingehalten werden müssen und damit auch eine effektive Umsetzung des Ziels der Missbrauchsvermeidung gewährleistet sein muss, also tatsächlich Missbrauch verhindert werden kann.4
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Der Wortlaut des § 5 Nr. 1 Befr-RV weist gleich zweifach darauf hin, dass die in den Buchst. a bis c genannten Maßnahmen als gleichwertig angesehen werden: Zum einen, indem er es zulässt, dass nur eine Maßnahme ergriffen wird, und zum anderen, indem er verlangt, dass es sich bei anderen Maßnahmen um „gleichwertige“ handeln muss. Unklar bleibt, ob aus dieser abstrakten Gleichwertigkeit der in § 5 Nr. 1 Befr-RV genannten Maßnahmen auch geschlossen werden kann, dass die Ausgestaltung im Einzelnen damit unerheblich ist. M.E. folgt bereits aus dem Gebot der effektiven Umsetzung, dass auch in der konkreten Ausgestaltung die Buchstaben a bis c in ihrer Gleichwertigkeit überprüfbar bleiben. Allein das Ergreifen einer der aufgeführten Maßnahmen führt noch nicht zur Kontrollfreiheit. Sie muss in ihrer jeweiligen Ausgestaltung tatsächlich gleichwertig sein. Ähnlich kann auch der EuGH verstanden werden, wenn er in der Rs. Kücük von den Behörden der Mitgliedstaaten verlangt, dass sie, auch wenn im nationalen Recht ein sachlicher Grund entsprechend § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV eingeführt wurde, „alle Umstände des Falles einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen befristeten Arbeitsverträge“ berücksichtigen.5 Dadurch wird nicht der den Mitgliedstaaten eingeräumte Spielraum bei der Wahl der Mittel genommen oder unzulässig eingeengt. Zu Recht weist der EuGH darauf hin, dass dieser Spielraum dadurch begrenzt wird, dass die Mitgliedstaaten das unionsrechtlich vorgegebene Ziel, die Vermeidung des Missbrauchs von Kettenbefristungen, gewährleisten müssen.6 Aus dieser Gleichwertigkeit kann gefolgert werden, dass ein Missbrauch durch die Sachgrundbefristung ebenso effektiv verhindert werden können muss wie durch eine Beschränkung der Zahl oder der Dauer der aufeinanderfolgenden Befristungen.
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Ausführlich GA Jääskinen v. 15.9.2011 – Rs. C-313/10 – Jansen, Slg. 2011, I-10511 – Rz. 53 ff. S. auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 31. EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 26. EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 26 („effektiv und mit verbindlicher Wirkung mindestens eine der dort aufgeführten Maßnahmen zu ergreifen“); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 31. 5 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Ls. 6 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 48.
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Brose
Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 138
§9
5. Die einzelnen Maßnahmen gem. § 5 Nr. 1 Befr-RV a) Sachlicher Grund Bisher am häufigsten wurden dem EuGH Fragen zur Auslegung des sachlichen Grundes i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV vorgelegt. Hierbei sind nach der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs zwei Aspekte zu unterscheiden: Zum einen muss überhaupt ein valider Sachgrund im Gesetz geregelt sein und zum anderen sind die Umstände des Einzelfalles zu würdigen, um einen Missbrauch ausschließen zu können.1
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aa) Voraussetzungen. In ständiger Rechtsprechung verlangt der EuGH für den sachlichen Grund, dass er „genau bezeichnete, konkrete Umstände meint, die eine bestimmte Tätigkeit kennzeichnen und daher in diesem speziellen Zusammenhang den Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge rechtfertigen können.“; dabei können sich nach Auffassung des Gerichtshofs diese Umstände z.B. aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung die Verträge geschlossen worden sind, und deren Wesensmerkmalen oder ggf. aus dem Verfolgen eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben (vgl. hierzu auch Rz. 87 ff., 112 ff.).2
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Dementsprechend hat der EuGH mehrmals betont, dass eine nationale Regelung, die – ohne weitere Voraussetzungen – die Verlängerung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge im öffentlichen Sektor zulässt, nicht durch einen sachlichen Grund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV gerechtfertigt ist.3 Einer derart „rein formalen Vorschrift“ können keine objektiven und transparenten Kriterien entnommen werden, damit wäre sie auch nicht nachprüfbar. Hier birgt bereits die Vorschrift selbst eine zu große Gefahr, dass missbräuchlich auf befristete Verträge zurückgegriffen wird.4
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Die Wahl des Gesetzgebers, die Sachgründe des § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG nicht abschließend zu regeln („insbesondere“), ist in Hinblick auf die Befr-RV problematisch. Es wird zwar den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Befr-RV generell ein weiter Spielraum zugebilligt – schließlich werden bspw. nach § 5 Nr. 1 Befr-RV auch bereits existierende gleichwertige Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung als ausreichend erachtet. Solange über die offene Formulierung in § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG nur sachliche Gründe zur Rechtfertigung herangezogen werden, die den Anforderungen des EuGH entsprechen (genau bezeichnete, konkrete Umstände), scheinen aus unionsrechtlicher Sicht keine Bedenken zu bestehen. Dennoch ist m.E. zumindest fraglich, ob damit den Anforderungen des EuGH tatsächlich genüge getan wird, weil so die Ausgestaltung vollends in die Hände der Gerichte gelegt wird. Das TzBfG selbst hat den sachlichen Grund gerade nicht definiert. Indem der Gesetzgeber sich auf die beispielhafte Aufzählung von Sachgründen beschränkt hat und der Rechtsprechung keine verbindlichen Mindestvorgaben bei der
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1 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475; v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135. 2 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475 – Rz. 45; v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 27; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 96; v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057 – Rz. 69 f.; v. 13.9.2007 – Rs. 307/05 – Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 – Rz. 70. 3 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 2, Rz. 107. 4 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano – Rz. 47; v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 29.
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§9
Rz. 139
Befristungsrecht
Schaffung weiterer sachlicher Gründe vorgibt, ist keine Transparenz für die Praxis gewährleistet.1 139
bb) Einzelne Sachgründe. Im Folgenden wird der Fokus auf diejenigen Sachgründe gelegt, die bisher dem EuGH vorgelegt wurden. Eine erschöpfende Darstellung aller Sachgründe wird in dieser Bearbeitung nicht angestrebt. Aus nationaler Sicht wäre dies schon wegen der nicht abschließenden Aufzählung in § 14 Abs. 1 TzBfG in diesem Rahmen kaum möglich.
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(1) Vertretungsbedarf. Die Befristung wegen Vertretungsbedarfs nach § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG hat der EuGH in der Rs. Kücük grundsätzlich als sachlichen Grund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV anerkannt.2 Doch auch wenn die Regelung selbst, wie § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG, den Vorgaben des EuGH standhält und ihr hinreichend transparente und objektive Kriterien entnommen werden können, ist damit zunächst (nur) diese abstrakte Regelung unionsrechtskonform.
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Zweifelhaft ist die Unionsrechtskonformität der Rechtsprechung des BAG im Bereich der Gesamtvertretung/Schulwesen und der Figur der gedanklichen Zuordnung im Zusammenhang mit der Missbrauchskontrolle (vgl. hierzu ausführlicher Rz. 164 ff.).
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(2) Begrenzte Haushaltsmittel. Noch nicht entscheiden musste der EuGH die Frage, ob eine Regelung, die eine Befristung damit rechtfertigt, dass Haushaltsmittel nur für eine befristete Beschäftigung zur Verfügung gestellt werden, zulässig ist. Die von deutscher Seite eingeleiteten Vorlageverfahren kamen nicht zur Entscheidung.3
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Doch gibt die Rechtsprechung des EuGH bereits hinreichend Hinweise zur Auslegung des § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV, die es ermöglichen, auch diesen Fall unter die Regelung zu subsumieren. Wendet man die Voraussetzungen, die der EuGH für den sachlichen Grund entwickelt hat an, müssten in der nationalen Regelung genau bezeichnete, konkrete Umstände zu finden sein, die eine bestimmte Tätigkeit kennzeichnen und daher in diesem speziellen Zusammenhang den Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge rechtfertigen können. Schon nach dieser Formel erscheint es höchst zweifelhaft, allein die Koppelung an die Haushaltsmittel als sachlichen Grund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV anzusehen, fehlt hier doch jeglicher Bezug zur Tätigkeit. Der EuGH hat in diesem Sinne auch inzwischen mehrfach rein formale innerstaatliche Vorschriften, die den Rückgriff auf Kettenbefristungen allgemein und abstrakt zulassen, als nicht vereinbar mit der Befr-RV angesehen.4 Nicht anders verhält es sich, wenn der Gesetzgeber allein eine Anknüpfung an die Qualifizierung der Haushaltsmittel ausreichen lässt, und damit gewissermaßen über Bande sich selbst, als derjenige, der die Haushaltsmittel gesetzlich festlegt, darüber entscheiden lässt, wieviele Befristungen ermöglicht werden. Instruktiv hierzu sind die Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rs. Jansen. Mit ausführlicher Begründung sieht 1 Ausführlich hierzu KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 73e; vgl. auch Leible, EuZW 2001; 438; a.A. Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, S. 159. 2 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 30. 3 BAG v. 27.10.2010 – 7 AZR 485/09, AP § 14 TzBfG Nr. 17 Haushalt mit Anm. Greiner, keine Entscheidung wegen übereinstimmender Erledigungserklärung der Parteien im Hauptsachverfahren; die Vorabentscheidungsersuchen des LAG Köln, EuGH v. – Rs. C-312/10 und C-313/10 – wurden wegen Verfahrensstreichung nicht entschieden. 4 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano – Rz. 46; v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 28; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 97.
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Brose
Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 147
§9
er hierin zu Recht ein erhebliches Missbrauchspotential.1 Dieses kann auch nicht durch die „Anforderungen bestimmter Branchen“ i.S.v. § 5 Nr. 1 Befr-RV wieder ausgeglichen werden, da der öffentliche Sektor keine „Branche“ ist (vgl. Rz. 131).2 Damit wäre bereits der Sachgrund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV zu verneinen, so dass es einer konkreten Missbrauchsprüfung gar nicht mehr bedürfte.
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Gegenstand der deutschen Vorlagen war § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG.3 Diese Regelung wird schon seit langem im Hinblick auf seine Richtlinienkonformität in der deutschen Literatur diskutiert und auch das BAG sieht zumindest Probleme im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der Befr-RV.4 Der 7. Senat sieht jedoch durch seine Rechtsprechung, durch die er die Anwendung des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG einschränkt, als ausreichend an, um einen Verstoß gegen die Befr-RV zu vermeiden.5 Diese Auffassung ist umso bemerkenswerter wenn man berücksichtigt, dass in der Literatur darauf hingewiesen wird, dass die Vertretungsbefristung und die Haushaltsbefristung in großen Verwaltungen austauschbar sind.6
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M.E. ist § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG Norm unionsrechtswidrig. Zu Recht zieht Greiner in diesem Zusammenhang aus der Rs. Kücük für das deutsche Befristungsrecht die Lehre, dass der sachliche Grund rein arbeitsverhältnisbezogen und sozialpolitisch zu konkretisieren ist und damit die Vereinbarkeit der Haushaltsmittelbefristung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG mit dem Unionsrecht fraglich ist.7 Im Vertikalverhältnis zum staatlichen Arbeitgeber müsste dies sogar zur Unanwendbarkeit der Norm führen.
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(3) Sozialpolitische Zwecke. Der EuGH sieht auch das Verfolgen eines legitimen sozialpolitischen Ziels als möglichen sachlichen Grund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV an.8 Der Gerichtshof sieht daher Maßnahmen zum Schutz bei Schwangerschaft und Mutterschaft und solche, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern sollen, als legitime sozialpolitische Ziele an.9 Dabei sieht er seine Einschätzung durch die Richtlinie 92/85 und durch die Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub bestätigt. In der
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GA Jääskinen v. 15.9.2011 – Rs. C-313/10 – Jansen, Slg. 2011, I-10511 – Rz. 61, 70. Ausführlich GA Jääskinen v. 15.9.2011 – Rs. C-313/10 – Jansen, Slg. 2011, I-10511 – Rz. 51 ff. S. BAG v. 27.10.2010 – 7 AZR 485/09, AP § 14 TzBfG Nr. 17 Haushalt mit Anm. Greiner. S. hierzu BAG v. 18.10.2006 – 7 AZR 419/05, NZA 2007, 332, welches es zumindest für unionsrechtswidrig hält, wenn auch im Haushaltsplan überhaupt keine tätigkeitsbezogene Zwecksetzung feststellbar ist; BAG v. 9.3.2011, 7 AZR 728/09, NZA 2011, 911; BAG v. 27.10.2010 – 7 AZR 485/09, AP § 14 TzBfG Nr. 17 Haushalt mit Anm. Greiner; APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 104; Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 Rz. 65; Preis/Greiner, RdA 2010, 148 (152); für eine umfassende Darstellung des Streitstandes s. KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 302 ff. S. hierzu den Überblick bei KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 305; allerdings hat der 7. Senat die Rechtsprechung des EuGH insoweit übernommen als er auch im Rahmen von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 TzBfG einen institutionellen Rechtsmissbrauch prüft, BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 335/11, NZA 2013, 777 – Rz. 36 f. Junker, EuZA 2013, 3 (12). Greiner, EuZA 2012, 529 (532); in der Tat sieht der EuGH bereits in der abstrakten Norm eine potentielle Quelle des Befristungsmissbrauchs, EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 29; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 98, 100. EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 27; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 96. EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 33 unter Verweis auf EuGH v. 17.6.1998 – Rs. C-243/95 – Hill und Stapleton, Slg. 1998, I-3739 – Rz. 42; v. 18.11.2004 – Rs. C-284/02 – Sass, Slg. 2004, I-11143 – Rz. 32 f., wo die legitime sozialpolitische Zielsetzung bereits in anderem Zusammenhang anerkannt wurde.
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§9
Rz. 148
Befristungsrecht
Literatur wird diese Einschätzung insoweit angezweifelt, als die Erleichterung einer befristeten Ersatzeinstellung von Vertretungskräften nur eine mittelbar familienfördernde Wirkung habe.1 148
Damit scheint jedenfalls der EuGH in der Rs. Kücük – obwohl er die Vorlagefrage bzgl. § 21 BEEG nicht mehr beantworten musste – jedenfalls inzident diese Regelung gebilligt zu haben.2
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(4) Altersgrenze. Ebenfalls Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH und auf nationaler Ebene vielen Kontroversen ausgesetzt war die Frage der Erleichterung von Altersbefristungen, die in der Rs. Mangold3 ihren Höhepunkt gefunden haben dürfte. Primär handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein befristungsrechtliches Problem, sondern vielmehr um die Frage der Altersdiskriminierung (vgl. § 4 Rz. 37).4
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Der EuGH hatte zudem über die Frage zu entscheiden, ob eine nationale Regelung, welche dem Arbeitgeber erlaubt, das Arbeitsverhältnis allein wegen der Vollendung des 67. Lebensjahrs zu beenden, den Anforderungen des Unionsrechts genügt. Auch hier lag der Fokus auf dem Aspekt der Altersdiskriminierung.5 Der EuGH sah die Regelung als unionsrechtskonform an, wenn sie „objektiv und angemessen ist, durch ein legitimes Ziel der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gerechtfertigt ist und ein angemessenes und erforderliches Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist.“6
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Der deutsche Gesetzgeber hat im Anschluss an die Mangold-Entscheidung § 14 Abs. 3 TzBfG neu gefasst, nunmehr ist eine sachgrundlose kalendermäßige Befristung mit einer Höchstdauer von fünf Jahren zulässig, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr und unmittelbar vor Beginn der Befristung mindestens vier Monat beschäftigungslos gewesen ist, Transferkurzarbeitergeld bezogen hat oder an einer Beschäftigungsmaßnahme i.S.d. SGB II oder SGB III teilgenommen hat. Diese Regelung scheint zumindest in Hinblick auf die Befr-RV unionsrechtlich unbedenklich, da jedenfalls das Kriterium der Begrenzung über eine Gesamtdauer i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. b7 übernommen wurde.8
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(5) Spezifische Lehraufgaben im Hochschulbereich. Kürzlich hat der EuGH in dem spanischen Vorlageverfahren Márquez Samohano einen Sachgrund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV anerkannt, weil die nationale Vorschrift für die Befristung sog. Assistenzprofessoren verlangt, dass „Fachleute mit anerkannter Qualifikation“ eine Berufstätigkeit außerhalb der Hochschule nachgehen, damit sie ihre Kenntnisse und Berufserfahrungen einbringen können. Die spanische Regelung verlangt hierfür, dass der je1 Greiner, EuZA 2012, 529 (534). 2 Vgl. auch Greiner, EuZA 2012, 529 (533). 3 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; s. hierzu eine prägnante Einordnung bei Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 42 ff. 4 Ausführlich zur Problematik der Altersgrenze im Befristungsrecht KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 288 ff.; zum Aspekt der Altersdiskriminierung Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008. 5 Die Prüfung hat der EuGH an Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 Gleichb-RL ausgerichtet. 6 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 – Hörnfeldt, NZA 2012, 785 – Ls., s. hierzu ausführlich Gotthardt, EuZA 2013, 268; Bayreuther, NJW 2012, 2758. 7 A.A. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 110a, nach dessen Auffassung es sich um einen Sachgrund handelt, dessen Konformität mit den Anforderungen, die der EuGH an den Sachgrund i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV stellt, nicht gegeben sein soll. 8 APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 423; zum Aspekt der Altersdiskriminierung Temming, NZA 2007, 1193 (1200); Kohte, AuR 2007, 168 (169); s. im Allgemeinen zum Streitstand bzgl. der Europarechtskonformität von § 14 Abs. 3 TzBfG über den Aspekt der Befr-RV hinaus den Überblick bei APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 422 ff. m.w.N.
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Brose
Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 156
§9
weilige Assistenzbeauftragte eine Mindestzeit in der Praxis tätig war und auch weiterhin tätig ist. Der Gerichtshof sieht hier die Voraussetzungen des sachlichen Grundes erfüllt: So werden bspw. konkrete Umstände bezeichnet und die Befristung sei auch geeignet, um das angestrebte Ziel, die Bereicherung der universitären Ausbildung durch die Erfahrung anerkannter Fachleute, zu erreichen.1 Aus dem Urteil wird nicht ganz deutlich, warum durch diese spezifische Bedarfslage gerade eine Befristung gerechtfertigt werden soll. Nachvollziehbarer scheint vielmehr das Bedürfnis nach einer Teilzeitbeschäftigung, um auch weiterhin den Bezug zur Praxis gewährleisten zu können. Hier zeigt sich, wie weit der Ermessensspielraum bemessen wird, den die Befr-RV den Mitgliedstaaten bei der Einführung von Sachgründen überlässt. Verständlicher mag die Entscheidung werden, wenn man liest, dass der EuGH keine Gefahr sieht, dass das Ziel der Befr-RV in Frage gestellt wird, Arbeitnehmer vor einer instabilen Beschäftigungssituation zu schützen, da die Teilzeitbeschäftigung in der Praxis weiterhin gewährleistet ist.2
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cc) Zusätzliche Missbrauchskontrolle. Mit der Rs. Kücük hat der EuGH losgelöst von der abstrakten Kontrolle des Sachgrundes eine weitere Prüfungsebene eingezogen, die er in der Rs. Márquez Samohano bestätigt hat.3 Er weist den „öffentlichen Stellen“ und damit auch4 den nationalen Gerichten auf der nächsten – der tatsächlichen Ebene – die Aufgabe zu, einen eventuellen Missbrauch zu prüfen. Es ist also eine zweistufige Prüfung erforderlich. Als Prüfungsraster gibt der Gerichtshof für diese zweite Prüfungsebene vor, dass bei der Anwendung der jeweiligen nationalen Vorschrift möglich sein muss, objektive und transparente Kriterien herauszuarbeiten, um prüfen zu können, ob die Verlängerung der Verträge tatsächlich einem echten Bedarf entspricht und ob sie geeignet und erforderlich sind, um das verfolgte Ziel zu erreichen.5 Zu berücksichtigen sind dabei alle Umstände des Einzelfalls, „namentlich die Zahl der mit derselben Person oder zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge …, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen, mögen diese auch augenscheinlich zur Deckung eines Vertretungsbedarfs geschlossen worden sein.“6 Diese Aussage bezieht sich im konkreten Fall auf den Vertretungsbedarf, ist aber so allgemein formuliert, dass sie auf jeden anderen Sachgrund übertragbar ist.
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Der EuGH bestätigt zwar die deutsche Rechtsprechung insoweit, dass der vorgebrachte sachliche Grund nur bzgl. der Verlängerung der letzten Befristung zu prüfen ist. Dennoch können nach seiner Ansicht bei der Prüfung der missbräuchlichen Kettenbefristung Zahl und Dauer der früheren Befristungen erheblich sein. Diese Auffassung ist m.E. logische Folge der Zielvorgabe der Befr-RV, Missbrauch durch Kettenbefristungen zu verhindern. In diesem Zusammenhang muss gerade die „Kette“ und damit nicht nur die letzte Befristung der Prüfungsgegenstand sein, um herauszufiltern, ob ein Missbrauch vorliegt.
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Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie es zu beurteilen ist, wenn die Verlängerung zur Deckung eines Bedarfs eingesetzt wird, der faktisch nicht vorübergehend, sondern ständig und dauerhaft besteht. Grundsätzlich ist der EuGH der
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EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475 – Rz. 49 ff. EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475 – Rz. 52. EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475. Auch der Gesetzgeber kann freilich als eine solche öffentliche Stelle agieren. EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 34. EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 40, mit Verweis auf EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 157.
Brose
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§9
Rz. 157
Befristungsrecht
Auffassung, dass dies nicht durch § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV gerechtfertigt werden kann.1 Daher sollen auch die öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten prüfen, ob der sachliche Grund, in der Rs. Kücük also § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG, in Wirklichkeit unionsrechtswidrig zu diesem Zweck eingesetzt wird.2 Hierbei hätte der EuGH es angesichts der deutlichen Zielsetzung der Befr-RV, Kettenbefristungen zu vermeiden, belassen können und Befristungen, die trotz dauerhaften Bedarfs vereinbart werden, stets für unionsrechtswidrig ansehen können. 157
Doch gibt der EuGH schon im Tenor vor, dass umgekehrt aus dem bloßen Umstand, dass ein Arbeitgeber gezwungen ist, dauerhaft Vertretungsbefristungen durchzuführen, nicht folgt, dass kein sachlicher Grund gem. § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV oder ein Missbrauch vorliegt – selbst dann nicht, wenn diese Vertretungsfälle durch unbefristete Arbeitsverhältnisse abgedeckt werden könnten und es sich um große Unternehmen handelt.3 Hieraus wird geschlussfolgert, dass das Vorhalten einer Personalreserve auch in großen Unternehmen nicht zwingend erforderlich ist.4 Erfasst werden hiervon praktisch insbesondere große Unternehmens- und v.a. große Verwaltungsstrukturen, in denen sich der Vertretungsbedarf im Rahmen eines Tätigkeitsfeldes wegen Krankheit und Schwangerschaft oder Elternzeit entsprechend anhäuft. Von einer Missbrauchskontrolle im Einzelfall, auf tatsächlicher Ebene, entbindet dies jedoch nicht. Damit legt der EuGH nur fest, dass alleine die Tatsache (der „bloße Umstand“), dass der Bedarf durch unbefristete Verträge gedeckt werden könnte, noch nicht ausreicht. Erforderlich ist laut Gerichtshof vielmehr eine „umfassende Prüfung“ der Umstände, die mit der Befristungsverlängerung verbunden sind. Aus dieser umfassenden Prüfung muss dann hervorgehen, dass nicht nur ein vorübergehender Bedarf an der Arbeitsleistung besteht.5
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Diese Rechtsprechung ist insoweit bedauerlich, als sie sehr viel Raum für Graubereiche lässt, deren Ausmaß nicht absehbar ist. Auch sind die Ausführungen zur Deckung eines dauerhaften Bedarfs nicht auf den ersten Blick einleuchtend. Dies wird nochmals in den Entscheidungsgründen zur Rs. Márquez Samohano deutlich. Dort wird in drei unmittelbar aufeinanderfolgenden Randziffern6 zunächst herausgestellt, dass zwar mit den befristet beschäftigten Assistenzprofessoren ein ständiger Bedarf der Universitäten abgedeckt werde, was aber zulässig sei, weil der Bedarf für die Einstellung insoweit vorübergehend sei, da von den Lehrkräften erwartet werde, dass sie nach Beendigung der Befristung wieder ihre berufliche Vollzeittätigkeit aufnehmen. Damit scheint der EuGH nicht auf den Gesamtbedarf abzustellen, sondern vielmehr auf das jeweilige Arbeitsverhältnis. Gleich darauf stellt nämlich der Gerichtshof heraus, dass die befristeten Arbeitsverträge nicht zum Zweck einer ständigen und dauerhaften Wahrnehmung von Lehraufgaben verlängert werden dürften, die normalerweise zur Tätigkeit des festen Lehrkörpers gehören. Auch hier ist dann nach Auffassung des EuGH wieder im Einzelfall konkret zu überprüfen, ob die jeweilige Verlängerung nicht in Wirklichkeit eingesetzt werde, um einen ständigen und dauerhaften Bedarf zu decken. Besonders klar scheint diese Herangehensweise nicht, hier könnte ggf. noch ein Vorlagebedarf identifziert werden. 1 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 36; vgl. auch EuGH v. 23.4. 2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 103. 2 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 36, 39; vgl. auch EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 103. 3 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Ls. 4 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09 Rz. 29; Brose/Sagan, NZA 2012, 308 (309). 5 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 51. 6 EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475 – Rz. 57 ff.
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Brose
Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 162
§9
Zusammenfassend kann angesichts der Entscheidungsgründe zu den Rs. Kücük und Márquez Samohano festgehalten werden, dass es nach Auffassung des Gerichtshofs jedenfalls insgesamt unproblematisch zu sein scheint, wenn ein Arbeitgeber einen dauerhaften Personalbedarf mit unterschiedlichen jeweils befristet beschäftigten Arbeitnehmern gedeckt wird. Der abstrakt bestehende dauerhafte Personalbedarf scheint also aus unionsrechtlicher Sicht unbedenklich. Die Rechtsprechung des EuGH scheint personenbezogen, nicht stellenbezogen sein. Damit dürfte die Prüfung, ob ein dauerhafter Personalbedarf gedeckt wird und damit ein Verstoß gegen die Befr-RV vorliegt, erst auf der konkreten Ebene, in Bezug auf das jeweilige Arbeitsverhältnis vorzunehmen sein.
159
Die Entscheidung des EuGH in der Rs. Kücük hat auf nationaler Ebene eine Vielzahl von Reaktionen hervorgerufen, welche in diesem Kontext nur grob skizziert werden sollen.1 Im Wesentlichen hat das BAG im Anschluss in seinem Urteil in dem Fall Kücük vom 18.7.2012 die Vorgaben des EuGH übernommen. Die Vorgabe, dass eine umfassende Prüfung der Umstände durchzuführen ist, hat das BAG insoweit konkretisiert, als es eine zweistufige Prüfung vornimmt. Danach ist in einem ersten Schritt der sachliche Grund zu prüfen und in einem zweiten Schritt noch eine zusätzliche Missbrauchskontrolle durchzuführen. Hierfür greift das BAG auf die Grundsätze des sog. institutionellen Rechtsmissbrauchs zurück.2
160
Das BAG sieht hierdurch nicht seinen Ansatz gefährdet, wonach nur die letzte Befristung überprüft wird.3 Die Vorgaben des EuGH sind gewahrt, solange sich dies nur auf die Prüfung des Sachgrundes bezieht, auf der zweiten Prüfungsebene, der Missbrauchsprüfung, hingegen auch Anzahl und Dauer der vorangegangenen Befristungen berücksichtigt werden.4 Ansonsten wäre ein Missbrauch gar nicht überprüfbar, obwohl Ziel der Befr-RV gerade dessen Vermeidung ist.5
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Diese zweistufige Prüfung entspricht jedenfalls grundsätzlich den Vorgaben des EuGH, welcher lediglich über die Prüfung des sachlichen Grundes hinaus eine Missbrauchskontrolle verlangt, ohne diese im Einzelnen auszugestalten. Kritisch ist dennoch anzumerken, dass das Prüfungsmodell des BAG beachtliche Unwägbarkeiten für die Praxis bereit hält. Mit dem Rückgriff auf die Wertung des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG gibt das BAG zwar einen ersten Anhaltspunkt, doch soll ein Missbrauch erst bei „erheblichem Überschreiten dieser Grenzwerte“ indiziert sein – dies lässt weiter die Frage offen, was unter „erheblich“ zu verstehen ist. Dies zeigt sich bereits an den beiden Entscheidungen, die direkt im Anschluss an das EuGH-Urteil ergangen sind: In der Rs. Kücük befand das BAG eine Gesamtdauer von mehr als elf Jahren und 13 Befristungen als derart lang an, dass ein Gestaltungsmissbrauch als indiziert anzusehen ist, weil die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Grenzen in besonders gravierendem Ausmaß überschritten seien.6 In der Parallelentscheidung vom selben Tag reichte dem 7. Senat eine Gesamt-
162
1 In der Literatur s. bspw. Brose/Sagan, NZA 2012, 308; Gooren, ZESAR 2012, 225; Joussen, AP Nr. 9 zu Richtlinie 99/70/EG; Junker, EuZA 2013, 3; Persch, ZTR 2012, 268. 2 S. hierzu ausführlicher BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, AP § 14 TzBfG Nr. 99 – Rz. 38 ff.; BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, NZA 2013, 777 – Rz. 36 f. 3 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, AP § 14 TzBfG Nr. 99 – Rz. 12 f.; zustimmend KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 145d. 4 S. auch KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 145d f., welcher des Weiteren in diesem Zusammenhang die Erhöhung der Darlegungslast des Arbeitgeber und der Anforderungen an die zuletzt getroffene Prognose bei wiederholten Vertretungsbefristungen verlangt. 5 Vgl. BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09. AP § 14 TzBfG Nr. 99 – Rz. 13. 6 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351 – Rz. 49, unter Verweis auf Gooren, ZESAR 2012, 225 (228).
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§9
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Rz. 163
Befristungsrecht
dauer von sieben Jahren und neun Monaten bei einer Anzahl von vier Befristungen hingegen nicht aus.1 In diesem Fall soll ein institutioneller Rechtsmissbrauch nicht indiziert sein, so dass auch die übrigen Umstände des Einzelfalles nicht weiter überprüft werden. Dies ist m.E. jedenfalls im Hinblick auf das Ziel, Kettenbefristungen zu vermeiden zumindest bedenklich, insbesondere wenn die Wertung des § 14 Abs. 2 TzBfG als Leitlinie zugrunde gelegt werden – immerhin wird dort die Grenze bei zwei Jahren gezogen, die in dem Sachverhalt fast vervierfacht wurde. Bei der konkreten Beurteilung des Einzelfalls darf m.E. nicht die Anzahl und Dauer der einzelnen Befristungen im Vergleich zur Gesamtdauer in den Hintergrund treten. Auch eine besonders hohe Anzahl von Befristungen kann bei einer vergleichsweise niedrigen Gesamtdauer durchaus als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.2
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Zu berücksichtigen ist auch, dass das BAG ab einer bestimmten Gesamtdauer und Anzahl von Befristungen den Rechtsmissbrauch nur indiziert sieht. Nach Auffassung des 7. Senats sind auch branchenspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen.3 Da der EuGH eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls vorgibt, ist auch dies legitim. Schließlich gibt die Befr-RV selbst vor, dass auch das Interesse an Befristungen seitens des Arbeitgebers legitim ist und nicht die Befristung als solche verboten werden soll. Doch muss angesichts des Ziels der Befr-RV die Berücksichtigung der branchenspezifischen Besonderheiten in einem sehr engen Rahmen erfolgen. Eine Kettenbefristung kann im öffentlichen Dienst bei Justizangestellten oder bei Lehrern jedenfalls nicht mit branchenspezifischen Besonderheiten gerechtfertigt werden.
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In diesem Zusammenhang ist auch die speziell für befristet beschäftigte Lehrer entwickelte Figur des Gesamtvertretungsbedarfs zu überdenken.4 Diese Rechtsprechung wurde mit den Besonderheiten des Schulbetriebs gerechtfertigt. Doch auch hier ist das übergeordnete Ziel, missbräuchliche Kettenbefristungen zu vermeiden, maßgeblich zu berücksichtigen. Die Begründung, die Entwicklung der Schülerzahlen sei zu schwer vorhersehbar, kann nicht als tragfähiges Argument angesehen werden; es ist kaum nachvollziehbar, warum dies angesichts der bekannten Geburtenraten und Schülerzahlen der jüngeren Jahrgänge schwieriger sein sollte als die Prognose der künftigen Auftragslage in der Privatwirtschaft.5 Lässt man aber die Figur der Gesamtvertretung uneingeschränkt zu, um dadurch einen faktisch bestehenden Dauerbedarf zu decken, entspricht dies nicht dem Sinn und Zweck der Befr-RV. Eine Einschränkung des Ziels, Missbrauch durch Kettenbefristungen zu vermeiden, ist aufgrund dieser fragwürdigen Besonderheit jedenfalls nicht nachvollziehbar.6 Für den Bereich des Schulwesens ist derzeit ein italienisches Vorlageverfahren beim EuGH anhängig.7 1 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 783/10, NZA 2012, 1351. 2 Ausführlich ArbG Trier v. 12.22014 – 5 Ca 913/13; ebenfalls angedeutet in BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, NZA 2013, 777 – Rz. 40. 3 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351 – Rz. 47. 4 Zur Entwicklung und Begründung s. ausführlich Preis/Loth, ZTR 2013, 232. 5 Deutlich Preis/Loth, ZTR 2013, 232 (235, 237), s. dort auch zu den weiteren Begründungen der Besonderheiten des Schulwesens als Rechtfertigung für die Figur der Gesamtvertretung. 6 Vgl. auch Preis/Loth, ZTR 2013, 232 (238 f.); s. auch sehr instruktiv im Bereich der Befristung im Schulwesen ArbG Trier 12.2.2014 – 5 Ca 913/13, wo bei einer mehrfachen Befristung eines Lehrers ein institutioneller Rechtsmissbrauch nach den Vorgaben, die das BAG in seiner Entscheidung vom 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, im Anschluss an den EuGH in der Rs. Kücük entwickelt hat, geprüft und im Ergebnis zwar nicht aufgrund der Gesamtdauer, aber aufgrund der besonders hohen Anzahl der Verlängerungen und sehr kurz andauernden Befristungen bejaht wurde. 7 Vorabscheidungsersuchen – Rs. C-62/13 – Racca, ABl. C 141 v. 18.5.2013, S. 12.
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Brose
Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 169
§9
Seine Rechtsprechung zur gedanklichen Zuordnung im Rahmen von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG sieht das BAG durch das Urteil des EuGH bestätigt.1 So eindeutig sind m.E. die Entscheidungsgründe des EuGH jedoch nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, wie stark das Ziel, den Missbrauch von Kettenbefristungen zu vermeiden, vom EuGH gewichtet wird.2 Die gedankliche Zuordnung ist in diesem Zusammenhang vielmehr neutral zu bewerten. Sie ist nicht zwingend nach der Rechtsprechung des EuGH als unzulässig anzusehen, doch ist zu bedenken, dass gerade der Weg über die gedankliche Zuordnung missbrauchsanfällig ist, erleichtert sie doch in besonderem Maße, Befristungsketten aufzubauen. Auch bei einer gedanklichen Zuordnung kann gerade die Anzahl der Vertretungen und ihre Gesamtdauer im Rahmen des zweiten Prüfungsschrittes dazu führen, dass ein Missbrauch festgestellt wird. Hier müssen auch nach der Logik des BAG zumindest die Grundsätze zur Kontrolle eines institutionellen Rechtsmissbrauchs herangezogen werden.
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b) Höchstdauer und Verlängerung Neben dem sachlichen Grund sieht die Befr-RV in § 5 Nr. 1 Buchst. b und a als alternative Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung die Einführung einer Höchstdauer für aufeinanderfolgende Arbeitsverträge und/oder eine Einschränkung der Anzahl der Verlängerungen vor. Auch hier lässt die Befr-RV den Mitgliedstaaten einen erheblichen Entscheidungsspielraum. Die Befr-RV macht keine konkreten Vorgaben, welche Höchstdauer noch zulässig sein könnte und ab welcher Anzahl von Verlängerungen das Unionsrecht verletzt wird.
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Orientiert man sich an der bisher zu § 5 Nr. 1 Buchst. a Befr-RV ergangenen Rechtsprechung und insbesondere an der Rs. Kücük, ist dieser Spielraum der Mitgliedstaaten dennoch nicht unbegrenzt. Auch im Rahmen der § 5 Nr. 1 Buchst. b und c Befr-RV sind die Zielsetzung der Befr-RV, missbräuchliche Kettenbefristungen zu vermeiden, sowie die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Befr-RV zu berücksichtigen.3 Die Wirksamkeit nationaler Regelungen wäre sicherlich zu schwach, wenn nur eine „Scheingrenze“ gesetzt würde, die so hoch angesiedelt ist, dass faktisch der Missbrauch sogar begünstigt wird. Problematisch dürfte bspw. eine Höchstdauer von elf Jahren sein, zumal der EuGH in der Rs. Kücük die Zulässigkeit einer elf Jahre andauernden Befristungskette angezweifelt hat – wenn auch zu beachten ist, dass dort zudem die hohe Anzahl der Befristungen eine Rolle gespielt hat und es sich letztlich um eine Gesamtschau handelte.
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Darüber hinaus sollte auch hier die Leitlinie der Kücük-Entscheidung4 berücksichtigt werden, wonach eine Missbrauchskontrolle im Einzelfall und unabhängig davon durchzuführen ist, ob eine abstrakt unionsrechtskonforme nationale Regelung i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. b oder c Befr-RV vorliegt. Die Entscheidungsgründe in der Rs. Kücük bezogen sich freilich auf die Sachgrundbefristung i.S.v. § 5 Nr. 1 Buchst. a BefrRV, doch greift die Argumentation über den Sinn und Zweck der Regelung ebenso bei den anderen beiden Maßnahmen. So könnte es also bei der Überprüfung einer Befris-
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1 BAG v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351 – Rz. 24. 2 Zur Kritik in der Literatur an der Figur der gedanklichen Zuordnung aus unionsrechtlicher Sicht s. Brose, NZA 2009, 706 (707); Eisemann, NZA 2009, 1113 (1114 f.); Greiner, EzA § 14 TzBfG Nr. 34; Maschmann, BB 2012, 1098 (1099); Preis/Greiner, RdA 2010, 148. 3 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 29; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 98, 100. 4 Wohl bestätigt, zumindest aber nicht abgelehnt in der Rs. Màrquez Samohano, EuGH v. 13.3. 2014 – Rs. C-190/13 – Márquez Samohano, NZA 2014, 475.
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§9
Rz. 170
Befristungsrecht
tungskette erforderlich werden, dass bei einer Regelung, die eine Höchstdauer vorsieht, im Einzelfall auch die Anzahl der Verlängerungen zu berücksichtigen ist, und umgekehrt bei einer Regelung, die auf die Anzahl der Verlängerungen abstellt, die Gesamtdauer. 170
Der deutsche Gesetzgeber hat in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG die Maßnahmen, die § 5 Nr. 1 Buchst. b und c Befr-RV bieten, miteinander kombiniert, was die europäische Regelung ausdrücklich zulässt. Mit der Deckelung bei zwei Jahren und dreifacher Verlängerung ist für die sachgrundlose Befristung eine Lösung gefunden worden, die keine langandauernden Kettenbefristungen ermöglicht, so dass keine Bedenken aus unionsrechtlicher Sicht bestehen dürften.1 Fraglich ist, ob § 14 Abs. 2 TzBfG gegen das Verschlechterungsverbot des § 8 Nr. 3 Befr-RV verstößt (vgl. Rz. 209).
171
Wenn von der Möglichkeit des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG Gebrauch gemacht wird, müssen auch die Tarifparteien sich an die Vorgaben der Befr-RV halten, d.h. die Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung gewährleisten und missbräuchliche Kettenbefristungen vermeiden. 6. Begriffsbestimmungen nach § 5 Nr. 2 Befr-RV a) „Aufeinander folgende Befristungen“
172
Die Mitgliedstaaten oder Sozialpartner können gem. § 5 Nr. 2 Buchst. a Befr-RV festlegen, unter welchen Voraussetzungen es sich um ein „aufeinander folgendes“ befristetes Arbeitsverhältnis handelt. Doch auch hier sind dem Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten durch die Zielsetzung der Befr-RV und dem Gebot der praktischen Wirksamkeit Grenzen gesetzt. Der EuGH hat ausdrücklich eine nationale Regelung, nach der „aufeinander folgend“ i.S.d. § 5 Nr. 2 Buchst. a Befr-RV nur solche Befristungen sind, die höchstens 20 Werktage auseinander liegen, als unionsrechtswidrig angesehen. Zu Recht weist der EuGH darauf hin, dass es sich hierbei um einen Schlüsselbegriff handelt, der für den Anwendungsbereich der Befr-RV entscheidend ist. Durch eine derart restriktive Begriffsbestimmung käme es zu einer erheblichen Einengung des Wirkungskreises der Befr-RV und damit auch des Missbrauchsverbots.2 Bei einem derart engen Begriffsverständnis würde in der Tat nicht wirksam Missbrauch verhindert, sondern geradezu dazu eingeladen, indem die Möglichkeit gelassen wird, einfach 20 Werktage zwischen den Befristungen verstreichen zu lassen.3
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Umgekehrt folgt aber aus § 5 Nr. 2 Buchst. a Befr-RV auch, dass ab einem gewissen Zeitraum, der zwischen zwei Befristungen liegt, die „Kette“ bei Mehrfachbefristungen unterbrochen werden kann. Ab welchem Zeitraum – ein Monat, ein Jahr oder mehrere Jahre4 – der EuGH die Wirksamkeit der Befr-RV als noch gewährleistet ansieht, kann schwerlich prognostiziert werden.
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Der nationale Gesetzgeber hat mit seiner Regelung in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im Bereich der sachgrundlosen Befristung zwar nicht definiert, ab wann Befristungen als aufeinanderfolgend anzusehen sind. Mit dem sog. Anschlussverbot hat er aber eine Lösung gewählt, die gerade keinen konkreten Zeitraum vorsieht, ab dem eine Anschlussbefristung wieder zulässig sein soll. Der Wortlaut allein gibt dem Anschlussverbot keine zeitliche Begrenzung vor. Damit ist die Regelung in Anleh1 So auch BAG v. 22.1.2014 – 7 AZR 243/12 – Rz. 34. 2 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057 – Rz. 81 ff. 3 S. auch Franzen, JZ 2007, 191, nach dessen Auffassung es „auf der Hand liegt“, dass eine solche Regelung zu Missbräuchen einlädt. 4 Franzen, JZ 2007, 193 schlägt einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Monaten vor.
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Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 176
§9
nung an die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Adeneler, wo allein kritisiert wird, dass der zeitliche Abstand zwischen den aufeinander folgenden Arbeitsverträgen zu kurz ist, jedenfalls unionsrechtskonform.1 Fraglich ist jedoch, ob das vom reinen Wortlaut vorgegebene zeitlich unbegrenzte Anschlussverbot gegen die Befr-RV verstößt, weil legitime Interessen am Abschluss von Befristungen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Die Befr-RV erachtet das Anliegen der Flexibilisierung als legitim, es soll nicht die Befristung an sich verboten, sondern ihr Missbrauch verhindert werden. Ob hierfür ein zeitlich unbegrenztes Anschlussverbot erforderlich und geeignet ist, mag bezweifelt werden.2 Derartige Bedenken dürften aber jedenfalls durch die jüngere Rechtsprechung des BAG zurückgedrängt worden sein. Danach ist nun der Begriff „bereits zuvor“ in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG derart auszulegen, dass das Anschlussverbot nicht mehr greift, wenn das Ende des vorherigen Arbeitsvertrags mehr als drei Jahre zurückliegt.3 Ziel des § 5 Befr-RV ist die Vermeidung von missbräuchlichen Kettenbefristungen. Als eine „Kette“ von Befristungen können zwei Arbeitsverhältnisse, die mehr als drei Jahre auseinanderliegen, nicht mehr angesehen werden. Die Gefahr, dass in einem solchen Fall missbräuchlich ein tatsächlich dauerhafter Bedarf durch Befristungsketten gedeckt wird, besteht schlichtweg nicht.4
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Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG wird die Frage diskutiert, ob die Regelung es, entgegen der Zielsetzung der Befr-RV, zulässt, dass mehrere Arbeitgeber derart Zusammenwirken, dass sie missbräuchlich Kettenbefristungen mit demselben Arbeitnehmer durchführen.5 Es stellt sich also die Frage, ob die Formulierung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG und seine Auslegung durch die Rechtsprechung gerade eine Umgehung des dort geregelten Anschlussverbots zulässt. Anknüpfungspunkt auf nationaler Ebene ist das Merkmal „derselbe Arbeitgeber“ in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG und auf unionsrechtlicher Ebene das Ziel, den Missbrauch von Kettenbefristungen zu vermeiden. Wenn dieses Ziel wirksam umgesetzt werden soll, ist das Merkmal „derselbe Arbeitgeber“ weit auszulegen. Ein rein formales Verständnis ist angesichts der nicht immer leicht zu durchschauenden Konzernsachverhalte aus unionsrechtlicher Sicht jedenfalls problematisch.6 In diese Richtung geht auch das BAG zumindest tendenziell, wenn es ein Vorgehen als unvereinbar mit den unionsrechtlichen Vorgaben sieht, bei dem mehrere rechtlich und tatsächlich verbundene Arbeitgeber kollusiv zusammenwirken und mit demselben Arbeitnehmer mehrere aufeinander folgende
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1 Vgl. Franzen, JZ 2007, 191. 2 Vgl. Wank, RdA 2012, 361 (362), mit dem Argument, dass eine Regelung, die zwar Missbräuche bekämpfen soll, aber wegen Unverhältnismäßigkeit über das Ziel hinausschießt, nicht der Richtlinie entspreche. 3 BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; v. 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255; (im Ergebnis) zustimmend Linsenmaier, RdA 2012, 193 (204 f.); ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 99; Persch, ZTR 2011, 404; ablehnend Höpfner, NZA 2011, 893; KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 418b ff.; zur vorherigen Rechtsprechung, wonach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im Sinne von jedem irgendwann bestandenen „Bereits-zuvor-Arbeitsverhältnis“ s. BAG v. 29.7. 2009 – 7 AZN 368/09, ZTR 2009, 544; ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 98. 4 Vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 99. 5 ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 93. 6 S. hierzu ausführlicher Brose, DB 2008, 1378; zu einer unionsrechtlichen Bewertung von BAG v. 15.5.2013 – 7 AZR 525/11, NZA 2013, 1214, wo das Gericht mit einer Kombination aus sachgrundloser Befristung, Arbeitnehmerüberlassung und Betriebsübergang konfrontiert war, ausführlich Greiner, NZA 2014, 284.
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§9
Rz. 177
Befristungsrecht
sachgrundlose Befristungen abschließen, mit dem Ziel unter Umgehung des Anschlussverbots Kettenbefristungen zu schaffen.1 b) Befristung nach § 5 Nr. 2 Buchst. b Befr-RV 177
Gemäß § 5 Nr. 2 Buchst. b Befr-RV wird es in die Hände der Mitgliedstaaten gelegt, ggf. festzulegen, unter welchen Bedingungen ein befristeter Arbeitsvertrag als unbefristet zu gelten hat. Unter den Hinweis auf die Formulierung „gegebenenfalls“ zieht der EuGH in gefestigter Rechtsprechung die Schlussfolgerung, dass damit die Entfristung nur eine von mehreren möglichen Sanktionen bei Verstoß gegen § 5 Nr. 1 Befr-RV darstellt.2
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Mit der Regelung wird der Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten und ggf. Sozialpartner ein weiteres Mal hervorgehoben. Mit § 5 Nr. 2 Buchst. b Befr-RV wird ihnen nicht nur das „Ob“ einer Befristung anheim gestellt, sondern auch das „Wie“. Damit gibt bspw. die Regelung auch keinerlei Hinweise darauf, unter welchen Voraussetzungen eine Entfristungsklage einzureichen ist. Zu diesem Problemkreis wird auf die folgenden Ausführungen zur Sanktion verwiesen. 7. Sanktionen
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Gar keine Sanktion wird im Rahmen des § 5 Nr. 1 Befr-RV nach der Rechtsprechung des EuGH zu Recht erforderlich, wenn es sich um einen ersten oder einzigen befristeten Arbeitsvertrag handelt, und zwar selbst dann nicht, wenn hierdurch tatsächlich ein ständiger und dauernder Bedarf des Arbeitgebers gedeckt wird.3 Sanktioniert werden soll nur der Missbrauch von Kettenbefristungen. a) Verhältnismäßige, effektive und abschreckende Maßnahmen
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Doch auch wenn es sich um eine missbräuchliche Kettenbefristung handelt, wird den Mitgliedstaaten ein Spielraum bei der Wahl der Sanktion zugestanden. Insbesondere sieht der EuGH keine allgemeine Verpflichtung zur Entfristung.4 Dass die Entfristung nicht die einzig zulässige, jedoch zumindest eine denkbare Sanktion ist, folgt aus § 5 Nr. 2 Buchst. b Befr-RV, wonach die Mitgliedstaaten „gegebenenfalls“ die Bedingung einer Entfristung festlegen können.5
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Erforderlich ist auch hier, dass die jeweilige Sanktion effektiv und abschreckend ist. Die Überprüfung überlässt der EuGH den nationalen Gerichten. Doch genügt nach Auffassung des Gerichtshofs in der Rs. Marrosu „auf den ersten Blick“ eine nationale Regelung, die einen Anspruch auf Schadensersatz vorsieht, diesen Anforderungen.6 1 BAG v. 9.3.2011 – 7 AZR 657/09, NZA 2011, 1147; s. aber auch grundsätzlich die wohl h.M. gegen eine Berücksichtigung von Anstellungen bei anderen Konzernunternehmen APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 397; Bauer/Fischinger, DB 2007, 1410 (1413); ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 93. 2 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 52 f. 3 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 5. 4 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 – Kücük, NZA 2012, 135 – Rz. 52; v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057 – Rz. 91; v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 145, 183; v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 47. 5 EAS/Rolfs, B 3200 Rz. 25. 6 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 55; so auch APS/Preis, A. Rz. 43.
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Brose
Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung, § 5 Befr-RV
Rz. 183
§9
Auch eine Regelung, die vorsieht, dass die Umwandlung in einen unbefristeten Arbeitsvertrag erfolgt, wenn die befristeten Arbeitsverträge eine bestimmte Dauer erlangt haben, ohne aber vorzuschreiben, dass der unbefristete Arbeitsvertrag die wesentlichen Bestimmungen des vorherigen befristeten Arbeitsvertrags zu übernehmen hat, verstößt noch nicht allein deswegen gegen die Vorgaben der Befr-RV. In der Rs. Huet verlangt der EuGH, nachdem er auf den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten hingewiesen hat, lediglich, dass der Mitgliedstaat darauf zu achten habe, dass die Umwandlung in einen unbefristeten Arbeitsvertrag nicht mit tiefgreifenden Änderungen der Bestimmungen des vorherigen Vertrags einhergehe und damit insgesamt eine Verschlechterung entstehe, während Tätigkeit und Aufgaben gleich bleiben.1 Auch hier zeigt sich, dass der EuGH den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten hoch hängt, wenn er nur „tiefgreifende“ Änderungen als unionsrechtswidrig erachtet. Diese Rechtsprechung ist angesichts des weiten Wortlauts des § 5 Nr. 2 Buchst. b Befr-RV nachvollziehbar. Damit wird allerdings dem nationalen Gesetzgeber/den nationalen Gerichten die schwierige Aufgabe übertragen zu klären, wann eine „tiefgreifende“ Änderung vorliegt. Auf diesem Weg wird eine weitere Unwägbarkeit in das Befristungsrecht transportiert, die aus Anwendersicht nicht für Rechtssicherheit sorgt.
182
b) Zulässigkeit unterschiedlicher Sanktionen Der EuGH gesteht den Mitgliedstaaten grundsätzlich sogar insoweit einen Gestaltungsspielraum zu, dass unterschiedliche Sanktionen für den privaten und den öffentlichen Sektor ergriffen werden können. Sowohl in der Rs. Adeneler als auch in den Rs. Marrosu und Vassallo sah das innerstaatliche Recht vor, dass im öffentlichen Sektor die Entfristung als Sanktion sogar ausdrücklich untersagt war.2 Der EuGH beruft sich dabei auf die Formulierung in § 5 Nr. 1 Befr-RV, wonach die besonderen Anforderungen bestimmter Branchen und/oder bestimmter Gruppen von betroffenen Arbeitnehmern zu berücksichtigen ist, sofern dies objektiv gerechtfertigt ist. Zwar weist der EuGH selbst darauf hin, dass eine entsprechende Formulierung in § 5 Nr. 2 Befr-RV fehlt, wo die Bedingungen, unter denen befristete Arbeitsverträge als unbefristete Verträge zu gelten haben, den Mitgliedstaaten zur Regelung überlassen werden.3 Doch wenn das innerstaatliche Recht in dem Sektor eine andere wirksame Maßnahme enthalte, um den missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge zu verhindern und ggf. zu ahnden, könne die innerstaatliche Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar sein.4 Das Gericht betont auch hier den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, doch verlangt es, dass gleichwertige Garantien für den Schutz der Arbeitnehmer geboten werden, um den missbräuchlichen Einsatz von Kettenbefristungen angemessen zu sanktionieren.5 Ob das innerstaatliche Recht eine gleichwertige Maßnahme zur Missbrauchsvermeidung bietet, ist von den nationalen Gerichten zu prüfen.6 Eine Rechtfertigung, warum im öffentlichen und privaten Sektor unterschiedliche Sanktionen bei Kettenbefristungen greifen können, wird in den Entscheidungsgründen hingegen nicht verlangt. 1 EuGH v. 8.3.2012 – Rs. C-251/11 – Huet, NZA 2012, 441 – Rz. 43. 2 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057 – Rz. 105; v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Ls., Rz. 49; v. 7.9.2006 – Rs. C-180/0 – Vassallo, Slg. 2006, I-7251 – Ls., Rz. 42. 3 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 46. 4 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 49. 5 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/04 – Marrosu, Slg. 2006, I-7213 – Rz. 52 f.; APS/Preis, A. Rz. 43. 6 Dies ist nicht überaschend, da es nicht Aufgabe des EuGH ist, innerstaatliches Recht auszulegen, Höland, Anm. zu EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/06 – Marrosu, ZESAR 2007, 182, 183.
Brose
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527
183
§9
Rz. 184
Befristungsrecht
184
Die Position des EuGH ist auf der Grundlage der Befr-RV nachvollziehbar. Die Befr-RV sieht nicht vor, dass in allen Bereichen dieselbe Sanktion greifen muss, sie lässt den Mitgliedstaaten vielmehr einen großen Spielraum, welche Sanktion sie im Einzelnen vorsehen. Es gilt allein die allgemeine Voraussetzung, dass die Sanktion hinreichend wirksam, effektiv und abschreckend ist. Das Regelwerk zeichnet sich durch eine Auswahloffenheit aus, wobei der Ermessensspielraum durch das Gebot der Gleichwertigkeit der Maßnahmen gebunden ist.1 Damit fügen sich die Entscheidungen Adeneler und Marrosu ebenso wie Vassallo in eine Linie ein, wonach den Mitgliedstaaten ein großer Spielraum gelassen wird.2
185
Derzeit ist erneut eine Vorlage (Rs. Racca) anhängig, in der nochmals gefragt wird, wann ein Arbeitsverhältnis beim „Staat“ i.S.v. § 5 Befr-RV, insbesondere auch im Hinblick auf die Wendung „bestimmte Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien“, anzusehen und daher geeignet ist, andere Rechtsfolgen als private Arbeitsverhältnisse zu rechtfertigen.3
186
Diese Differenzierungsmöglichkeit ist dennoch sowohl aus rechtspolitischer Sicht als auch aus methodischer Sicht Bedenken ausgesetzt. Angesichts der Vielzahl der Fälle, die in der Praxis gerade im öffentlichen Sektor zumindest den Verdacht des Missbrauchs von Kettenbefristungen nahelegt, ist es mit Sorge zu betrachten, dass gerade in diesem Bereich der Arbeitgeber vor der (zumindest aus deutscher Sicht) einschneidendsten Sanktion, der Entfristung, bewahrt werden kann, ohne dass hierfür Rechtfertigungsgründe vorgebracht werden müssen. Vor Schwierigkeiten dürften die nationalen Gerichte gestellt werden, wenn sie zu beurteilen haben, ob es sich bei einer Entfristung und bspw. einem Schadensersatzanspruch um gleichwertige Maßnahmen handelt und wenn ja, wie hoch ein gleichwertiger Schadensersatzanspruch sein muss. Die Möglichkeit unterschiedlicher Sanktionen kann auch zu einer erheblichen Ungleichbehandlung öffentlicher und privater Arbeitgeber führen: Es dürfte schwierig sein, eine Sanktion zu finden, die zumindest auf tatsächlicher Ebene ebenso schwer wiegt wie eine Entfristung. Insgesamt kann diese Rechtsprechung zu einer massiven Privilegierung des öffentlichen Sektors führen – eine solche „positive“ Grundeinstellung bzgl. dieser Privilegierung, sollte bei Prognosen zu künftiger Rechtsprechung des EuGH bzgl. der Haushaltsbefristung des § 14 TzBfG. eingeplant werden.
187
Auch aus rechtlicher Sicht ist die großzügige Rechtsprechung nicht zwingendes Auslegungsergebnis der Befr-RV. Schließlich weist der EuGH selbst darauf hin, dass eine Differenzierung nach Branchen oder Arbeitnehmerkategorien ausdrücklich nur in § 5 Nr. 1 Befr-RV vorgesehen ist. Hieraus könnte auch geschlussfolgert werden, dass es für eine unterschiedliche Behandlung auch auf der Rechtsfolgenseite einer Ermächtigung in der Befr-RV bedarf, welche aber fehlt.
188
Die Entfristung, die das deutsche Recht als Rechtsfolge vorsieht, ist im Hinblick auf die Befr-RV sowie die Rechtsprechung des EuGH unbedenklich. Auch wenn der Arbeitgeber letztlich so dasteht, wie er es täte, wenn er sich richtig verhalten hätte, dürfte die Entfristung angesichts des Kündigungsschutzes, der dann greift, abschreckend sein. Jedoch ist noch zu berücksichtigen, dass nach § 17 TzBfG eine materiell wirkende Klagefrist von drei Wochen nach dem vereinbarten Befristungs1 Höland, Anm. zu EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/06 – Marrosu, ZESAR 2007, 182, welcher auch von einem „Spannungsverhältnis zwischen Auswahlfreiheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung und alternativer Wirksamkeit“ spricht. 2 Zustimmend Höland, Anm. zu EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-53/06 – Marrosu, ZESAR 2007, 182, 183. 3 Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Napoli, 7.2.2013 – Rs. C-62/13 – Racca.
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Information und Beschäftigungsmöglichkeiten, § 6 Befr-RV
Rz. 192
§9
ende einzuhalten ist. Diese materiell-rechtliche wirkende Präklusionsvorschrift schränkt die Wirksamkeit der Sanktion ein. Doch auch hier dürften die Vorgaben der Befr-RV eingehalten sein, weil § 17 Satz 2 TzBfG auf § 5 KSchG verweist und so die Möglichkeit lässt, nach den dort festgelegten Voraussetzungen auch verspätete Klagen zuzulassen.1 Auch der weite Wertungsspielraum, den der EuGH z.B. in der Rs. Huet den Mitgliedstaaten zubilligt, würde wohl für eine entsprechende Einschätzung des EuGH in Bezug auf § 17 TzBfG sprechen.
VII. Information und Beschäftigungsmöglichkeiten, § 6 Befr-RV § 6 Befr-RV gibt den Arbeitgebern zwei Pflichten auf: zum einen sind befristet Beschäftigte über das Freiwerden unbefristeter Arbeitsplätze zu informieren, § 6 Nr. 1 Befr-RV. Ziel ist es, den befristet Beschäftigten die gleichen Chancen auf einen sicheren Arbeitsplatz zu gewähren wie anderen Arbeitnehmern.
189
Zum anderen sollen nach § 6 Nr. 2 Befr-RV die Arbeitgeber den befristet Beschäftigten soweit möglich den Zugang zu angemessenen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten erleichtern, die ihre Fertigkeiten, ihr berufliches Fortkommen sowie ihre berufliche Mobilität verbessern bzw. fördern. Diese Regelung ist schwächer formuliert als § 6 Nr. 1 Befr-RV, was sich in den Begriffen „erleichtern“ und „soweit dies möglich ist“ äußert. Ein entsprechender Anspruch dürfte hieraus nicht herleitbar sein.2
190
Mit § 18 TzBfG hat der deutsche Gesetzgeber die Regelung des § 6 Nr. 1 Befr-RV und mit § 19 TzBfG hat er die Regelung des § 6 Nr. 2 Befr-RV nahezu wortgleich übernommen.
191
Dennoch kann bezweifelt werden, ob damit den Anforderungen der Befr-RV genüge getan ist. Das TzBfG knüpft keinerlei Rechtsfolge an die Nichterfüllung dieser Pflicht, die Sanktion des § 17 TzBfG greift nur für den Fall, dass die Befristung rechtsunwirksam ist. Die ganz h.M. ordnet § 18 TzBfG als Nebenpflicht des Arbeitgebers ein, so dass eine Pflichtverletzung über einen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB zu sanktionieren ist.3 Doch es besteht ebenso Einigkeit, dass in der Praxis der Nachweis, dass der Arbeitnehmer den unbefristeten Arbeitsplatz nur deswegen nicht erhalten hat, weil der Arbeitgeber ihn nicht gem. § 18 TzBfG hierüber informiert hat, nur schwer vorstellbar ist.4 Nun kann man sich zumindest die Frage stellen, ob dieser faktisch kaum umsetzbare Schadensersatzanspruch ausreicht, um die Pflicht aus § 6 Nr. 1 Befr-RV wirksam umzusetzen und zu gewährleisten. Schließlich gab der EuGH bereits in der Rs. von Colson5 vor, dass eine Sanktion wirksam sein und eine abschreckende Wirkung gewährleisten muss, so dass bspw. ein rein symbolischer Schadensersatz wie das bloße Erstatten von Bewerbungskosten nicht genügen – und bei einem Verstoß gegen § 18 TzBfG liegt das Problem noch tiefer, da der Arbeitnehmer aufgrund der Nachweisschwierigkeiten nicht einmal zu einem symbolischen Schadensersatz vordringt.
192
1 Franzen, JZ 2007, 191. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 37; a.A. Kaufmann, AuR 1999, 332 (334). 3 BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905, 911 – Rz. 43; ErfK/Müller-Glöge, § 18 TzBfG Rz. 3; Annuß/Thüsing/Annuß, § 18 Rz. 6; Boecken/Joussen/Joussen, § 18 Rz. 7; Sievers, § 18 Rz. 6. 4 Sehr deutlich Annuß/Thüsing/Annuß, § 18 Rz. 6; Boecken/Joussen/Joussen, § 18 Rz. 8; Laux/ Schlachter/Schlachter, § 18 Rz. 5; Sievers, § 18 Rz. 6. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. C-14/83 – von Colson, Slg. 1984, 1891-1920 – Rz. 28.
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§9 193
Rz. 193
Befristungsrecht
§ 6 Nr. 2 Befr-RV ist durch § 19 TzBfG umgesetzt. Die Wortwahl ist in diesem Fall zwar nicht identisch, doch dürfte durch die Formulierungen „soweit dies möglich ist“ und „erleichtern“ der Wertungsspielraum hinreichend groß sein, dass die abweichenden Formulierungen in § 19 TzBfG davon gedeckt sind.
VIII. Information und Konsultation, § 7 Befr-RV 194
Kern des § 7 Befr-RV ist die Pflicht, befristet Beschäftigte entsprechend bei der Berechnung der Schwellenwerte für die Einrichtung von Arbeitnehmervertretungen zu berücksichtigen, § 7 Nr. 1 Befr-RV. Auch hier werden die Anwendungsmodalitäten in die Hände der Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner und/oder von den Sozialpartnern unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen gesetzlichen und tarifvertraglichen Bestimmungen und Gepflogenheiten gelegt (§ 7 Nr. 2 Befr-RV). In Betracht kommen hier bspw. Regelungen zur Bildung von Durchschnittswerten oder Stichtagsregelungen.1
195
Bemerkenswert ist der Zusatz in § 7 Nr. 2 Befr-RV, dass dies im Einklang mit § 4 Nr. 1 Befr-RV erfolgen soll. Daran wird deutlich, dass die Berücksichtigung bei den Schwellenwerten auch ein Ausdruck des Diskriminierungsverbots bzgl. befristet Beschäftigter ist. Zudem ist dadurch klargestellt, dass das Gebot der Berücksichtigung sowohl für das passive als auch für das aktive Wahlrecht gilt.2
196
Zugleich wird in der Regelung ein Schutz der Mitbestimmung gesehen, da damit ein potentieller Befristungsanreiz zur Vermeidung der Mitbestimmung genommen werde.3
197
Über § 5 BetrVG werden alle Arbeitnehmer vom Wahlrecht erfasst, also auch die befristet Beschäftigten, eine Diskriminierung ist hier nicht erkennbar. Jedoch stellt § 1 BetrVG für die Errichtung des Betriebsrats einen Schwellenwert von „in der Regel“ mindestens fünf „ständigen“ wahlberechtigten Arbeitnehmern auf. Insbesondere der Begriff „ständig“ ist im Hinblick auf die Befr-RV problematisch.4 Denn selbst wenn, wie teilweise vertreten, auch Befristungen hierunter gefasst werden, mit denen ein dauerhafter Arbeitskraftbedarf abgedeckt wird (also eine stellenbezogene Sichtweise eingenommen wird),5 bleiben weiterhin diejenigen befristeten Arbeitsverhältnisse unberücksichtigt, mit denen kein dauerhafter Bedarf gedeckt wird. Auch wenn mit der Auffassung gegangen wird, welche befristete Arbeitsverhältnisse berücksichtigt, die dem Betrieb für einen „erheblichen Zeitraum“ angehören,6 ist das unionsrechtliche Problem noch nicht gelöst, da § 7 Nr. 1 Befr-RV nicht so offen konzipiert ist, dass bspw. bereits eine „angemessene“ Berücksichtigung ausreicht.
198
Weitaus unverbindlicher ist § 7 Nr. 3 Befr-RV, wenn er vorgibt, dass eine angemessene Information der Arbeitnehmervertretungen über befristete Arbeitsverhältnisse von den Arbeitgebern in Erwägung gezogen werden soll – und dies auch nur soweit möglich. Warum § 7 Befr-RV mit „Information und Konsultation“ überschrieben wird, erscheint rätselhaft. 1 2 3 4 5 6
Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 39. Vgl. auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 38, 40. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 38. Sehr deutlich Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 283. So Fitting, § 1 Rz. 276. So z.B. GK-BetrVG/Franzen, § 1 Rz. 100.
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Umsetzungsbestimmungen, § 8 Befr-RV
Rz. 203
§9
Trotz dieser vergleichsweise „harmlosen“ Regelung in § 7 Nr. 3 Befr-RV hat der nationale Gesetzgeber mit § 20 TzBfG diese Vorgabe ernst genommen und bleibt jedenfalls nicht hinter den Vorgaben der Befr-RV zurück.
199
IX. Umsetzungsbestimmungen, § 8 Befr-RV Die Rechtsprechung des EuGH betrifft bisher in der Regel nur die Bestimmungen des § 8 Nr. 1 und Nr. 3 Befr-RV, auf sie allein wird hier kurz näher eingegangen (zu § 8 Nr. 2 Befr-RV vgl. Rz. 12). § 8 Nr. 4 Befr-RV stellt lediglich nochmals die Befugnisse der Sozialpartner klar. Im Wesentlichen wird damit wiederholt, was in den jeweiligen Einzelnormen in Bezug auf die Anwendungsmodalitäten ohnehin bereits gewährleistet wird, s. z.B. § 4 Nr. 3 Befr-RV.
200
1. Beibehaltung oder Einführung günstigerer Bestimmungen § 8 Nr. 1 Befr-RV erlaubt den Mitgliedstaaten und/oder Sozialpartnern, günstigere Bestimmungen für Arbeitnehmer beizubehalten oder einzuführen als die Befr-RV vorsieht. Die Befr-RV setzt also einen Mindeststandard. Die Befugnis, über das Schutzniveau der Befr-RV hinauszugehen, umfasst ihren gesamten Regelungsbereich.
201
In der Rs. Carratù hat der EuGH bei der Überprüfung einer nationalen Sanktionsregelung für rechtswidrige Befristungen auch auf § 8 Nr. 1 Befr-RV zurückgegriffen. Der Gerichtshof verneinte zwar einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, unter Rückgriff auf § 8 Nr. 1 Befr-RV ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, die dies wünschen, ermächtigt werden, günstigere Bestimmungen für befristet beschäftigte Arbeitnehmer einzuführen. Deshalb dürften auch die finanziellen Konsequenzen des rechtswidrigen Abschlusses eines befristeten Arbeitsvertrags mit den Konsequenzen gleichgesetzt werden, die im Fall der rechtswidrigen Auflösung eines unbefristeten Arbeitsvertrags gezogen werden können.1 Dieser Hinweis war keineswegs erforderlich, da § 8 Nr. 1 Befr-RV nicht Gegenstand der Vorlagefrage war. Es entsteht der Eindruck, dass der EuGH damit einen unverbindlichen Appell an die Mitgliedstaaten richtet, die Situation der befristet Beschäftigten auch ohne unionsrechtlichen Zwang zu verbessern.
202
2. Senkung des Schutzniveaus § 8 Nr. 3 Befr-RV legt ein „Verschlechterungsverbot“ fest. Dieses Verbot ist in arbeitsrechtlichen Richtlinien durchaus gebräuchlich.2 Die Rechtsprechung, die der EuGH im Zusammenhang mit der Befr-RV entwickelt hat, ist zum Großteil von grundsätzlicher Natur und kann auch auf Verschlechterungsverbote anderer Richtlinien übertragen werden und erhält so eine Bedeutung weit über das Befristungsrecht hinaus. Dem Verschlechterungsverbot wird – unabhängig davon, in welcher arbeitsrechtlichen Richtlinie es verankert ist – der Zweck beigemessen, die Akzeptanz der Politik der EU bei den Bürgern zu stärken. Es soll verhindert werden, dass die Mitgliedstaaten unter dem Vorwand der Umsetzung einer Richtlinie das arbeitsrechtliche Schutzniveau absenken.3 1 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 – Carratù, NZA 2014, 79 – Ls. 3. 2 Corazza/Nogler, ZESAR 2011, 58; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 44. 3 S. zum Schutzzweck Greiner, EuZA 2011, 74 (80), der in diesem Zusammenhang auch auf das Transparenzgebot hinweist; MünchKomm/BGB/Thüsing, § 15 AGG Rz. 33; Kerwer, EuZA 2010, 253 (257 ff.).
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203
§9
Rz. 204
Befristungsrecht
204
Der Anwendungsbereich des Verschlechterungsverbots erstreckt sich auf das Schutzniveau, das sowohl den erstmalig befristeten als auch den mehrfach hintereinander befristeten Arbeitnehmern gewährt wird. Das Verschlechterungsverbot betrifft also nicht nur die Absenkung des Schutzniveaus im Bereich der Kettenbefristung.1
205
Der EuGH gibt im Ergebnis den nationalen Gerichten vor,2 dass ein Verstoß gegen § 8 Nr. 3 Befr-RV in zwei Schritten zu prüfen ist.3 Zum einen ist festzustellen, ob es sich überhaupt um eine Verschlechterung handelt, und zum anderen muss überprüft werden, ob diese Verschlechterung im Zusammenhang mit der Umsetzung eingeführt wurde. § 8 Nr. 3 Befr-RV gibt vor, dass die Umsetzung der Rahmenvereinbarung nicht als Rechtfertigung für die Senkung des allgemeinen Schutzniveaus für Arbeitnehmer dienen darf. Der EuGH legt die Regelung weit und damit für die Mitgliedstaaten vorteilhaft aus. Eine Senkung i.S.d. § 8 Nr. 3 Befr-RV wird nur bejaht, wenn das „allgemeine“ Schutzniveau abgesenkt wurde. Dabei soll es nach Auffassung des EuGH nicht ausreichen, wenn es sich um eine nur begrenzte Arbeitnehmergruppe handelt.4 Von dem Verschlechterungsverbot soll nur eine Herabsetzung „in einem gewissen Umfang“ erfasst werden, die so ausgestaltet ist, dass die nationale Regelung über befristete Arbeitsverträge insgesamt berührt werde.5 Zudem müsse auch die „Gesamtheit der anderen Garantien“ bewertet werden6 – mit anderen Worten, das Herabsenken des Schutzniveaus in einem Bereich kann durch das Heraufsetzen des Schutzniveaus in einem anderen Bereich ausgeglichen werden.
206
In der Tat legt der Wortlaut der Regelung, „allgemeines“ Schutzniveau, diese Auslegung nahe. Nicht jedes Absenken des Schutzniveaus ist also von dem Verschlechterungsverbot des § 8 Nr. 3 Befr-RV erfasst.7 Damit bleibt aber noch vollkommen ungeklärt, ab wann es sich um eine „relevante“ Abweichung handelt, die als Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot qualifiziert werden kann.8 Der EuGH lässt offen, wann dieser „gewisse Umfang“ erreicht ist und wann es sich nur um eine begrenzte Arbeitnehmergruppe handelt. Diese Einschätzung überlässt er den nationalen Gerichten.
207
Angesichts dieser Unklarheiten ist es wiederum nachvollziehbar, dass der EuGH dem Verschlechterungsverbot aus § 8 Nr. 3 Befr-RV keine unmittelbare Wirkung beimisst.9
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Wird das Absenken des allgemeinen Schutzniveaus bejaht, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Verschlechterung im Zusammenhang mit der Umsetzung der Befr-RV erfolgt ist. Auch hier ist der EuGH äußerst „mitgliedstaatenfreundlich“. Erfolgt die Verschlechterung in einem Gesetz, das ausdrücklich zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie erlassen wird, sieht es dies als ein gewichtiges Indiz an,10 1 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 3, Rz. 120 ff., 125 f.; v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. I-5837 – Rz. 33. 2 EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. I-5837 – Rz. 36 f. 3 S. EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. I-5837 – Rz. 37; so auch die Einschätzung von Greiner, EuZA 2011, 74 (77). 4 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 4; v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Ls. 1, Rz. 48. 5 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Rz. 210. 6 EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. I-5837 – Rz. 46 f. 7 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 44. 8 Kritisch auch Greiner, EuZA 2011, 74 (79), der eine Betroffenheit von einem Drittel der befristet Beschäftigten als Richtschnur vorschlägt. 9 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 – Ls. 6, Rz. 210 f.; v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Rz. 50. 10 EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Rz. 42.
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Fazit
Rz. 211
§9
doch ist auch dann noch von dem nationalen Gericht zu prüfen, ob die Änderung, also das Absenken des Schutzniveaus, ein Ausgleich dafür sein soll, dass die zur Umsetzung der Befr-RV eingeführten Arbeitnehmerschutzvorschriften den Arbeitgeber belasten.1 Dementsprechend hat der EuGH in der Rs. Mangold keinen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot gesehen, weil durch die stufenweise Herabsetzung des Alters, ab dem eine Befristung ohne Begrenzung möglich ist (§ 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG a.F.), die Beschäftigungsförderung bezweckt und damit gerechtfertigt war.2 Ziel der Absenkung des Schutzniveaus war schließlich nicht die Umsetzung der Richtlinie. Insgesamt lässt der EuGH im Wege seiner Auslegung des § 8 Nr. 3 Befr-RV den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum.3 In der deutschen Literatur ist umstritten, ob die Bestimmung der sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG, die im Zuge der Richtlinienumsetzung erneuert wurde, gegen § 8 Nr. 3 Befr-RV verstößt.4 Allerdings ist zu prüfen, ob eine „allgemeine Absenkung“ feststellbar ist. Geht man davon aus, dass mit § 14 Abs. 2 TzBfG tatsächlich eine Verschlechterung eingetreten ist, dürfte sie dennoch nicht gegen die Befr-RV verstoßen. Entsprechend den Entscheidungsgründen der Rs. Sorge wäre hierfür die „Gesamtheit der anderen Garantien“ zu bewerten.5 Mit der Umsetzung der Befr-RV wurde die Möglichkeit der Kettenbefristung erheblich eingeschränkt, so dass sich insgesamt das allgemeine Schutzniveau verbessert haben dürfte.6
209
X. Fazit Obwohl die Befr-RV einen eher niedrigschwelligen Kompromiss der Sozialparter darstellt, ist sie keineswegs bedeutungslos. Aus deutscher Sicht hat sie vor allem im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EuGH zur Sachgrundbefristung Beachtung gefunden. Die nationale Rechtsprechung wurde mit dem Erfordernis einer konkreten Missbrauchskontrolle vor anspruchsvolle Aufgaben gestellt. Als abgeschlossen kann die Rechtsprechungsentwicklung im Bereich der Kettenbefristung auch auf Unionsebene noch nicht angesehen werden, dafür dürfte es in den einzelnen Mitgliedstaaten zu viele Mechanismen geben, über die eine Kettenbefristung kreiert werden kann.7 Doch hat der EuGH jedenfalls in diesem Bereich bereits eine Richtung vorgegeben, indem er regelmäßig das Ziel, missbräuchliche Kettenbefristungen zu vermeiden, besonders hoch einstuft.
210
Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung wird auf deutscher Ebene bisher noch weniger stark wahrgenommen als er in der Rechtsprechung des EuGH behandelt wird. Dies mag daran liegen, dass er mit § 4 Abs. 2 TzBfG nahezu inhaltsgleich übernommen wurde. Damit ist freilich noch nicht gewährleistet, dass der Grundsatz der
211
1 EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Rz. 40. 2 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; auf diesen Anwendungsfall weist auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 45 ausdrücklich hin. 3 Zustimmend Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 17 Rz. 44, der bei einer strengen Auslegung des Verschlechterungsverbots die Gefahr sieht, dass ansonsten eine Versteinerung des Rechtssystems drohe und z.B. auch Änderungen, die aus Gründen der Folgerichtigkeit geboten sein können, nicht möglich wären. 4 Zum Meinungsstand s. KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 379 f. m.w.N. 5 EuGH v. 24.6.2010 – Rs. C-98/09 – Sorge, Slg. 2010, I-5837 – Rz. 46 f. 6 S. auch Hanau, NZA 2000, 1045; Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag, Rz. 426 f.; KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 380. 7 S. hierzu die Konstellationen, die Greiner, NZA 2014, 284 untersucht.
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§9
Rz. 212
Befristungsrecht
Nichtdiskriminierung auch im Einzelnen gewährleistet wird. Daher sollte auch die umfassende Rechtsprechung des EuGH zu § 4 Befr-RV nicht vernachlässigt werden. 212
Eine noch nicht häufig wahrgenommene Quelle potentieller Unionsrechtswidrigkeit bietet § 7 Nr. 1 Befr-RV. Auch hier sollte die weitere Entwicklung nicht aus den Augen verloren werden.
213
Im Übrigen hat die Befr-RV auch auf nationaler Ebene eine beachtliche Breitenwirkung, die über das TzBfG hinausgeht, wenn man bedenkt, dass auch tarifliche Regelungen in ihren Anwendungsbereich fallen. Insgesamt werden Auslegung und Wirkung der Befr-RV Literatur und Rechtsprechung noch langfristig beschäftigen.
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§ 10 Massenentlassungsrecht Rz. I. Entstehungsgeschichte und Zweck 1. Richtlinie 75/129/EWG . . . . . . . .
1
2. Richtlinien 92/56/EWG und 98/59/EG . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
3. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
4. Deutsches Massenentlassungsrecht a) Historische Vorläufer der heutigen Regelung . . . . . . . . . . . . . b) Regelung im Kündigungsschutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
5. Rechtsfolgen bei Fehlern im Konsultationsverfahren . . . . . . . . . . . 91 IV. Anzeigeverfahren 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Zuständige Behörde . . . . . . . . . . 105
81
3. Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige a) Inhaltliche Anforderungen . . . . aa) Zwingende Angaben . . . . . bb) Stellungnahme des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fakultative Angaben . . . . . b) Anzeigepflichtiger . . . . . . . . . . c) Formale Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige . . . . d) Zeitlicher Ablauf der Massenentlassungsanzeige aa) Zeitpunkt der Anzeige . . . . bb) Verhältnis zum Konsultationsverfahren . . . . . . . . . . cc) Verhältnis zu §§ 85 ff. SGB IX . . . . . . . . . . . . . . e) Sperrfrist . . . . . . . . . . . . . . . . f) Rechtsfolgen bei Fehlern im Anzeigeverfahren aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . bb) Sanktionen nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . cc) Heilung . . . . . . . . . . . . . (1) Heilung durch verspätete Klageeinreichung . . . . . (2) Heilung durch bestandskräftigen Verwaltungsakt? . . . . . . . . . . . . . (3) Heilung gem. § 125 Abs. 2 InsO? . . . . . . . .
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V. Ablaufplan . . . . . . . . . . . . . . . . 154
8 9
II. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . 13 1. Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Arbeitgeber/Betrieb/herrschendes Unternehmen a) Arbeitgeberbegriff . . . . . . . . . . 22 b) Betriebsbegriff . . . . . . . . . . . . 24 c) Herrschendes Unternehmen . . . 28 3. Entlassung a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Befristungen und Bedingungen . . 41 c) Tod des Arbeitgebers . . . . . . . . 43 III. Konsultationsverfahren . . . . . . . . 45 1. Arbeitnehmervertretung . . . . . . . 46 2. Inhaltliche Anforderungen an die Konsultation . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Formelle Anforderungen an die Konsultation . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Zeitlicher Ablauf der Konsultation . a) Rechtzeitige Übermittlung von Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übermittlung einer Abschrift an zuständige Behörde . . . . . . . . . c) Zeitliche Reihenfolge im Verhältnis Konsultationsverfahren und Massenentlassungsanzeige . d) Unterbreitung von Vorschlägen durch Arbeitnehmervertreter . . .
Rz. e) Verhältnis zu anderen Beteiligungsverfahren nach nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . 84
71 77 79
108 110 116 122 123 127 130 134 140 141 144 147 149 150 152 153
Schrifttum: Bauer/Röder, Aufhebungsverträge bei Massenentlassungen und bei Betriebsänderungen, NZA 1985, 201; Bonin, Die Richtlinie 2002/14/EG zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer und ihre Umsetzung in das Betriebsverfassungsrecht, AuR 2004, 321; Dzida/Hohenstatt, BAG schafft Klarheit bei Massenentlassungen, DB 2006, 1897; Forst, Neues aus Luxemburg zur Massenentlassung, NZA 2010, 144; Fuhlrott/Fabritius, Anzeigepflichtige Entlassungen – Ablaufplan und vermeidbare Fehlerquellen, ArbR 2009, 154; Gerdom, Ge-
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§ 10
Rz. 1
Massenentlassungsrecht
meinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten und ihre Auswirkungen auf das Betriebsverfassungs-, Personalvertretungs- und Mitarbeitervertretungsrecht – Zum Umsetzungsbedarf der Richtlinie 2002/14/EG, 2009; Ginal/Raif, Über die Hürden: Fehler bei Massenentlassungen vermeiden, ArbR 2013, 94; Grau/Sittard, Neues zum Verfahren bei Massenentlassungen?, BB 2011, 1845; Hinrichs, Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassungen, 2001; Hohenstatt/Naber, Sind Fremd-Geschäftsführer Arbeitnehmer im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie?, NZA 2014, 637; Hützen, (Un-)Gelöste Probleme des Massenentlassungsanzeigeverfahrens, ZInsO 2012, 1801; Karthaus, Betriebsübergang als interessenausgleichspflichtige Maßnahme nach der Richtlinie 2002/14/EG, AuR 2007, 114; Krieger/Ludwig, Das Konsultationsverfahren bei Massenentlassungen – Praktischer Umgang mit einem weitgehend unbekannten Wesen, NZA 2010, 919; Lunk/Rodenbusch, Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff und seine Auswirkungen auf das deutsche Recht, GmbHR 2012, 188; Lembke/Oberwinter, Massenentlassungen zwei Jahre nach „Junk“ – Eine Bestandsaufnahme, NJW 2007, 721; Maiß/Röhrbohrn, Unterrichtungspflicht des Unternehmers gegenüber dem Wirtschaftsausschuss gem. § 106 BetrVG, ArbR 2011, 341; Mauthner, Die Massenentlassungsrichtlinie der EG und ihre Bedeutung für das deutsche Massenentlassungsrecht, 2004; Naber, Der massenhafte Abschluss arbeitsrechtlicher Aufhebungsverträge, 2009; Niklas/Koehler, Vermeidung von Problemen bei Massenentlassungsanzeigen, NZA 2010, 913; Opolny, Die anzeigepflichtige Entlassung nach § 17 KSchG, NZA 1999, 791; Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa, 2006; Preis/Sagan, Der GmbH-Geschäftsführer in der arbeits- und diskriminierungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, BGH und BAG, ZGR 2013, 26; Reinhard, Rechtsfolgen fehlerhafter Massenentlassungen, RdA 2007, 207; Schramm/Kuhnke, Das Zusammenspiel von Interessenausgleichsund Massenentlassungsanzeigeverfahren, NZA 2011, 1071; Sittard/Knoll, Neujustierungen im Recht der Massenentlassung, BB 2013, 2037; Wank, Die personellen Grenzen des Europäischen Arbeitsrechts: Arbeitsrecht für Nicht-Arbeitnehmer? EuZA 2008, 172; Weber, Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl bei Massenentlassungen, EuZA 2008, 355; Wißmann, Probleme bei der Umsetzung der EG-Richtlinie über Massenentlassungen in deutsches Recht, RdA 1998, 221.
I. Entstehungsgeschichte und Zweck 1. Richtlinie 75/129/EWG 1
Das europäische Massenentlassungsrecht soll dazu dienen, ein einheitliches europäisches Schutzniveau zugunsten von Arbeitnehmern bei Massenentlassungen zu schaffen. Rechtsgrundlage für das europäische Massenentlassungsrecht war ursprünglich der damalige Art. 100 EWGV (jetzt: Art. 115 AEUV).
2
Das europäische Massenentlassungsrecht hat seinen Ursprung in der politischen Wahrnehmung eines Einzelfalls, nämlich einer grenzüberschreitenden Restrukturierungsmaßnahme: Der multinationale AKZO-Konzern sah sich im Jahr 1973 zu einer Massenentlassung gezwungen. Diese Massenentlassung führte der AKZO-Konzern – anders als ursprünglich geplant – vor allem in Belgien durch, weil eine Massenentlassung dort einfacher und günstiger durchgeführt werden konnte als etwa in Deutschland oder den Niederlanden. Sodann wurde – in Folge eines „sozialpolitischen Aktionsprogramms“ des Rates vom 21.1.1974 – die Richtlinie 75/129/EWG erlassen (vgl. § 1 Rz. 5 f.).1 2. Richtlinien 92/56/EWG und 98/59/EG
3
Die Richtlinie 75/129/EWG wurde – nachdem durch Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation, das Zusatzprotokoll zur Europäischen 1 Vgl. Hinrichs, S. 23 ff.; Mauthner, S. 29; Naber, S. 172 f.
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Entstehungsgeschichte und Zweck
§ 10
Rz. 7
Sozialcharta vom 5.5.1988 sowie die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte vom 9.12.1989 Impulse gesetzt worden waren1 – durch die Richtlinie 92/56/EWG verändert. Im Wesentlichen wurde der Anwendungsbereich erweitert, die Vorschriften über das Konsultationsverfahren überarbeitet sowie eine Sanktion für den Fall von Verstößen aufgenommen.2 Die Richtlinien 75/129/EWG und 92/56/EWG wurden sodann aus Transparenzgründen in die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (ME-RL)3 überführt, ohne dass weitere inhaltliche Änderungen vorgenommen wurden.
4
3. Zweck Das europäische Massenentlassungsrecht dient in erster Linie dem Individualschutz der Arbeitnehmer, die von einer Massenentlassung betroffen sind. Dies ergibt sich nicht nur aus der Geschichte, sondern lässt sich auch mit den Erwägungsgründen der Richtlinie belegen. So lautete bereits ErwGr. 1 Richtlinie 75/129/EWG – der ErwGr. 2 ME-RL entspricht –, dass das Massenentlassungsrecht dazu dienen soll, „den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken“. Die Verhinderung von negativen Folgen für den Arbeitsmarkt war für die europäischen Massenentlassungsrichtlinien demgegenüber nur von untergeordneter Bedeutung.4 Arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Zwecksetzungen finden sich lediglich im sozialpolitischen Aktionsprogramm vom 21.1.1974, auf welches die Erwägungsgründe verweisen, sowie in einer Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für die Richtlinie 75/129/EWG.5 Die mit dem europäischen Massenentlassungsrecht verbundenen beschäftigungspolitischen Impulse erschöpfen sich jedoch in einer unionsweiten Abstimmung der Beschäftigungspolitik,6 also im Sinne der Schaffung eines unionsweit einheitlichen Schutzniveaus.
5
Dementsprechend sieht auch die Rechtsprechung des EuGH den Zweck des europäischen Massenentlassungsrecht darin, einen „vergleichbaren Schutz der Rechte der Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten zu gewährleisten“.7 Unter Verweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie hat der EuGH in der Rs. Lauge ausdrücklich festgestellt, dass ihr „Ziel der Schutz der Arbeitnehmer im Falle von Massenentlassungen“ ist.8
6
4. Deutsches Massenentlassungsrecht a) Historische Vorläufer der heutigen Regelung Das deutsche Massenentlassungsrecht ist wesentlich älter als die europäischen Richtlinien und reicht bis in die Zeit nach Ende des Ersten Weltkriegs zurück. Bereits die Demobilmachungsverordnung vom 19.2.1920,9 die Stilllegungsverordnung 1 Vgl. dazu Mauthner, S. 29 f. 2 Vgl. zu den Änderungen im Einzelnen Hinrichs, S. 40 ff. 3 Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. Nr. L 225 v. 12.8.1998, S. 16). 4 Vgl. Naber, S. 176. 5 Mauthner, S. 44. 6 Vgl. Hinrichs, S. 66. 7 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königsreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 27. 8 EuGH v. 17.12.1998 – Rs. C-250/97 – Lauge u.a., Slg. 1998, I-8737 – Rz. 19 = NZA 1999, 305. 9 RGBl. I 1920, S. 218.
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Rz. 8
Massenentlassungsrecht
vom 8.11.19201 sowie schließlich die Verordnung über Betriebsstilllegungen und Arbeitsstreckung vom 15.10.19232 sahen Entlassungssperren und Kündigungsbeschränkungen vor. Hiermit sollte insbesondere der – nicht erwünschte – Stillstand von Anlagen verhindert und die Produktionsfähigkeit der Industrie erhalten werden,3 zumal die Arbeitslosigkeit nach Kriegsende bedrohlich angestiegen war.4 In der Folge lösten arbeitsmarktpolitisch motivierte Vorschriften das ursprüngliche Regelungsregime ab. Mit den Anzeigepflichten des Arbeitgebers vor Durchführung von Massenentlassungen sollte eine Belastung des Arbeitsmarktes vermieden werden, unabhängig davon, ob eine Betriebsstilllegung erfolgte oder nicht: Gemäß § 20 des – nationalsozialistisch geprägten – Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit5 musste vor einer Massenentlassung eine schriftliche Anzeige an den „Treuhänder für Arbeit“ erfolgen. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit wurde 1947 aufgehoben. Es galten dann Anzeigepflichten aufgrund eines Kontrollratsbefehls sowie einzelner Landesgesetze.6 b) Regelung im Kündigungsschutzgesetz Diese Einzelregelungen wurden schließlich in die §§ 15 ff. KSchG 1951 übergenommen, wobei ihr arbeitsmarktpolitischer Zweck weiter akzentuiert wurde. In der Begründung zum KSchG 1951 hieß es ausdrücklich, dass die darin vorgesehenen Vorschriften zu Massenentlassungen „in erster Linie den arbeitsmarktpolitischen Zweck [verfolgen], Arbeitslosigkeit im Allgemeininteresse möglichst zu verhindern“. Diese Motive lagen auch den 1969 eingeführten §§ 17 ff. KSchG zugrunde. Wesentliche Anpassungen der §§ 17 ff. KSchG an das europäische Recht erfolgten sodann durch Gesetze vom 27.4.19787 und vom 20.7.19958.
8
c) Zweck 9
In der Zwecksetzung bestehen zwischen dem deutschen und dem europäischen Massenentlassungsrecht – trotz der nationalen gesetzgeberischen Anpassungen – bis heute grundlegende konzeptionelle Unterschiede: Dem deutschen Massenentlassungsrecht werden in erster Linie weiterhin und entsprechend seiner historischen Grundlagen arbeitsmarktpolitische Ziele zugesprochen.9 Das europäische Recht bezweckt demgegenüber in erster Linie den Individualschutz der von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer (vgl. Rz. 5 f.).
10
Auch die Rechtsprechung des BAG definiert den Zweck der §§ 17 ff. KSchG stets arbeitsmarktpolitisch.10 Lediglich in einer Entscheidung11 hat das BAG themati-
1 2 3 4 5 6 7 8 9
RGBl. I 1920, S. 1901. RGBl. I 1923, S. 983. Vgl. Mauthner, S. 64 m.w.N. Mauthner, S. 59 f. m.w.N. RGBl. I 1934, S. 45. Siehe hierzu im Einzelnen APS/Moll, Vor § 17 KSchG Rz. 4. BGBl. I 1978, 500. BGBl. I 1995, 946. ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 2; KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 8; vHH/L/von Hoyningen-Huene, Vor § 17 KSchG Rz. 13; zu Recht krit. APS/Moll, Vor § 17 KSchG Rz. 10 ff. 10 BAG v. 6.12.1973 – 2 AZR 10/73, NJW 1974, 1263; v. 24.10.1996 – 2 AZR 895/95, NZA 1997, 372 (375); v. 13.4.2000 – 2 AZR 215/99, NZA 2001, 144 (145). 11 BAG v. 11.3.1999 – 2 AZR 461/98, NZA 1999, 761 (762).
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Rz. 14 § 10
Anwendungsbereich
siert, ob – angesichts der Regelung in § 20 Abs. 4 KSchG – mit dem deutschen Massenentlassungsrecht nicht auch eine Erweiterung des Individualschutzes von Arbeitnehmern bezweckt sei. In Folge der Junk-Entscheidung des EuGH1 hat sich gezeigt, dass die Unterscheidung zwischen der Zwecksetzung des europäischen Rechts einerseits und des deutschen Rechts andererseits keineswegs rein akademischer Natur ist. Nach der europäischen Zwecksetzung der ME-RL ist der einzelne Arbeitnehmer vor einer Massenentlassung zu schützen. Zu verhindern oder nur unter Beschränkungen zuzulassen ist mithin der Beendigungstatbestand – also in erster Linie die Kündigungserklärung des Arbeitgebers. Denn hieraus leiten sich für den einzelnen Arbeitnehmer alle negativen Folgen einer Massenentlassung ab. Wer hingegen in erster Linie den Arbeitsmarkt schützen möchte, muss auf den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abstellen, wie sich dieser aus der jeweils einschlägigen Kündigungsfrist bzw. aus dem unter den Parteien vereinbarten Zeitpunkt für das rechtliche Ende des Arbeitsverhältnisses ergibt. Aus diesem Grund schlägt die Zwecksetzung des Massenentlassungsrechts sowohl auf die Definition der „Entlassung“ (vgl. Rz. 29 ff.) als auch auf den richtigen Zeitpunkt für die Durchführung des Konsultations- (vgl. Rz. 44 ff.) und des Anzeigeverfahrens (vgl. Rz. 99 ff.) durch.
11
Der deutsche Gesetzgeber ist seiner Verpflichtung zur Umsetzung der ME-RL bislang nicht hinreichend nachgekommen, weil in den §§ 17 ff. KSchG die abweichende Zwecksetzung des europäischen Rechts nicht vollzogen ist. Seitdem die grundlegende unterschiedliche Zwecksetzung des europäischen Massenentlassungsrechts durch die Junk-Entscheidung aufgedeckt worden ist, behilft sich die Rechtsprechung mit einer richtlinienkonformen Auslegung der §§ 17 ff. KSchG, die jedoch methodisch fragwürdig ist und zahlreiche, noch nicht geklärte Einzelfragen aufwirft. Für die Praxis ist es ein Ärgernis, dass der deutsche Gesetzgeber den Zielkonflikt zwischen europäischem und deutschem Massenentlassungsrecht noch nicht aufgelöst hat.
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II. Anwendungsbereich Am Anwendungsbereich der ME-RL bzw. der ihrer Umsetzung dienenden §§ 17, 18 KSchG entscheidet sich, ob ein Arbeitgeber bei einem Personalabbau die Vorgaben des Massenentlassungsrechts einzuhalten hat. In der Konsequenz muss er sodann die entsprechenden Konsultations- und Anzeigepflichten berücksichtigen. Verkennt man den Anwendungsbereich des Massenentlassungsrechts und missachtet mithin die Vorgaben von Richtlinie bzw. dem diese umsetzenden nationalen Recht, so droht u.a. die Unwirksamkeit ausgesprochener Kündigungen. Von zentraler Bedeutung ist daher, wer als Arbeitnehmer in den Schutzbereich der Richtlinie fällt, welche Arbeitgeber deren Bestimmungen zu beachten haben und welche Entlassungen für die Berechnung der Schwellenwerte und die Beteiligungspflichten relevant sind.
13
1. Arbeitnehmer Die ME-RL selbst enthält keine Definition des Arbeitnehmerbegriffes. Es ist daher zu fragen, ob der Arbeitnehmerbegriff unionsrechtlich einheitlich oder jeweils nationalrechtlich zu verstehen ist (vgl. § 1 Rz. 107 f.). 1 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885 = NZA 2005, 213.
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Rz. 15
Massenentlassungsrecht
15
Der EuGH geht u.a. in der Rs. Danosa1 davon aus, dass der Arbeitnehmerbegriff einer Richtlinie sich nach Unionsrecht und nicht nach nationalem Recht richte. Der EuGH hat hierbei einen spezifischen, auf diese Richtlinie angepassten Arbeitnehmerbegriff zugrunde gelegt. In einer weiteren Entscheidung hat der EuGH festgehalten, dass der fehlende Verweis in einer Richtlinie auf die Geltung eines nationalrechtlich definierten Arbeitnehmerbegriffs für sich genommen bereits genüge, um anzunehmen, der Arbeitnehmerbegriff einer Richtlinie sei unionsrechtlich auszulegen.2 Dies wiederum trifft noch keine konkrete Aussage darüber, welcher der Arbeitnehmerbegriffe aus dem Unionsrecht einschlägig sein soll, denn ein allgemeingültiger Arbeitnehmerbegriff existiert im Unionsrecht nicht.3 Generell ist aber erkennbar, dass der EuGH tendenziell den Arbeitnehmerbegriff zugrunde legt, der in Rechtsakten nach Art. 288 AEUV verwendet wird (vgl. § 1 Rz. 112).4 Hiernach ist Arbeitnehmer jede Person, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.5 Im Gegensatz zum deutschen Arbeitnehmerbegriff6 kann danach bspw. auch ein (Fremd-)Geschäftsführer einer GmbH als Arbeitnehmer zu sehen sein.7 Dies scheidet im deutschen Recht wegen der mangelnden persönlichen Abhängigkeit des Geschäftsführers aus.8
16
In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH ist mithin zu fragen, ob die ME-RL bezüglich des Arbeitnehmerbegriffs auf nationales Recht verweist. Dem wird entgegengehalten, dass eine ausdrückliche Verweisung in der ME-RL nicht enthalten ist.9 Nach wohl herrschender Ansicht ergibt sich jedoch eine solche Verweisung implizit aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. b ME-RL. Dieser verweist bezüglich der Arbeitnehmervertreter auf die Rechtsvorschriften und die Praxis der Mitgliedstaaten, so dass die Richtlinie indirekt auch den allgemeinen Begriff des Arbeitnehmers dem nationalen Recht unterwerfe.10 Der EuGH hat diese Frage bislang offen gelassen.11 Insbesondere ist der Entscheidung in der Rs. CGT12 keine Positionierung des EuGH in dieser Frage zu entnehmen.13
17
Auch aus der Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie 2002/14/EG (UuA-RL) ergibt sich kein für die ME-RL maßgeblicher unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff. Zwar wird teilweise vertreten, dass die Begriffsbestimmungen der UuA-RL auch auf die ME-RL Anwendung finden müssten,14 jedoch ist dieser Ansicht – wie GA Mengozzi in der Rs. CGT ausführt15 – richtigerweise nicht zu folgen (vgl. Rz. 24 ff.). Auch der 1 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405 = NJW 2011, 2343. 2 EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-428/09 – Union syndicale „Solidaires Isère“, Slg. 2010, I-9961 = EAS Teil C RL 2003/88/EG Art. 1 Nr. 1. 3 Wank, EuZA 2008, 172. 4 EuGH v. 7.4.2011 – Rs. C-519/09 – May, Slg. 2011, I-2761 = BeckRS 2013, 87054. Vgl. hierzu auch die umfassende Darstellung von Preis/Sagan, ZGR 2013, 26. 5 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 = NVwZ 1987, 41. 6 Vgl. zur Definition des Arbeitnehmers im nationalen Recht: ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 34 ff. 7 Vgl. Lunk/Rodenbusch, GmbHR 2012, 188. 8 Vgl. ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 50 f. 9 Opolny, NZA 1999, 791; Weber, EuZA 2008, 355. 10 Pottschmidt, S. 379; Riesenhuber, § 23 Rz. 9; Wank, EuZA 2008, 172; vgl. auch Preis/Sagan, ZGR 2013, 26. 11 EuGH v. 16.10.2003 – Rs. C-32/02 – Kommission/Italien, Slg. 2003, I-12063. 12 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05 – CGT, Slg. 2007, I-611 = NZA 2007, 193. 13 Hohenstatt/Naber, NZA 2014, 637; a.A. ArbG Verden v. 6.5.2014 – 1 Ca 35/13, NZA 2014, 665. 14 So die Ansicht der französischen Regierung in EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-385/05 – CGT, Slg. 2007, I-611 = NZA 2007, 193. 15 GA Mengozzi v. 24.10.2005 – Rs. C-385/05 – CGT, Slg. 2007, I-611 – Rz. 75 ff.
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Anwendungsbereich
Rz. 21 § 10
EuGH vertritt wohl diesen Standpunkt,1 indem er weiterhin die durch ihn entwickelten Begriffe und nicht die der UuA-RL auf die ME-RL anwendet. Hierfür spricht insbesondere Art. 9 Abs. 1 UuA-RL, wonach die in der ME-RL vorgesehenen spezifischen Informations- und Konsultationsverfahren durch die UuA-RL unberührt bleiben. Auf Grundlage der überwiegenden Auffassung ist daher für die Auslegung der §§ 17 und 18 KSchG der allgemeine nationalrechtliche Arbeitnehmerbegriff maßgebend, wobei § 17 Abs. 5 KSchG – mit Ausnahme der Regelung zu Betriebsleitern und leitenden Angestellten – nur deklaratorischen Charakter hat. Arbeitnehmer nach § 17 KSchG ist damit, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist.2 Nicht umfasst sind hingegen die sog. arbeitnehmerähnlichen Personen sowie (regelmäßig) Organmitglieder einer Gesellschaft.
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Da die ME-RL richtigerweise auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff verweist, besteht die Umsetzungsaufgabe für den deutschen Gesetzgeber insoweit lediglich darin, den deutschen Arbeitnehmerbegriff in den §§ 17, 18 KSchG zur Anwendung zu bringen.
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Das ArbG Verden hat dem EuGH unlängst die Frage vorgelegt, ob Fremd-Geschäftsführer nach deutschem Recht der ME-RL unterfallen. Die Ausnahme in § 17 Abs. 5 Nr. 1 KSchG wäre dann richtlinienwidrig. Da – entgegen der Ansicht des ArbG Verden – für die ME-RL jedoch nicht der unionsrechtliche, sondern der nationale Arbeitnehmerbegriff heranzuziehen ist,3 gilt die ME-RL nicht für FremdGeschäftsführer und § 17 Abs. 5 Nr. 1 KSchG ist richtigerweise als richtlinienkonform einzustufen.4
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Problematisch ist insoweit indessen, ob die in § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG geregelte Bereichsausnahme für Betriebsleiter und leitende Angestellte richtlinienkonform ist. Hinsichtlich der in § 17 Abs. 5 Nr. 1 und 2 KSchG genannten Personengruppen, also den vertretungsberechtigten Organmitgliedern und den zur Vertretung der Personengesamtheit berufenen Personen sowie den in § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG genannten Geschäftsführern, bestehen keinerlei Bedenken, da diese nach allgemeinem deutsch-rechtlichem Verständnis ohnehin nicht als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind.5 Betriebsleiter und leitenden Angestellte sind hingegen als Arbeitnehmer i.S.d. allgemeinen Arbeitnehmerbegriffs anzusehen, auch wenn für diese im Bereich des Kündigungsschutzes gewisse Einschränkungen gelten (§ 14 Abs. 2 KSchG) und sie nicht durch den Betriebsrat vertreten werden (§ 5 Abs. 3, 4 BetrVG). Die ME-RL selbst kennt – was wegen Fehlens jeglicher Definition nicht verwundert – keine Unterscheidung dahingehend, ob Arbeitnehmer in leitender Stellung tätig sind. Fragwürdig ist mithin, ob durch den Verweis auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff dem nationalen Gesetzgeber gestattet wird, gewisse Mitarbeitergruppen, und seien es Führungskräfte, aus dem Anwendungsbereich der die ME-RL umsetzenden Vorschriften auszunehmen. Diesbezüglich wird vertreten, die Geltung des nationalen Arbeitnehmerbegriffs verbiete es den Mitgliedstaaten, den Arbeitnehmerbegriff beliebig einzuschränken und bestimmte Personengrup-
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1 EuGH v. 15.2.2007 – Rs. C-270/05 – Athinaiki Chartopoiia, Slg. 2007, I-1499 = NZA 2007, 319. 2 Vgl. nur BAG v. 9.7.2003 – 5 AZR 595/02, NZA-RR 2004, 9 (10 f.) m.w.N. 3 Lunk/Rodenbusch, GmbHR 2012, 188 (190); Mauthner, S. 79; Pottschmidt, S. 379 ff.; Wank, EuZA 2008, 172 (184). 4 Hohenstatt/Naber, NZA 2014, 637; Vielmeier, NJW 2014, 2678. 5 KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 30.
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§ 10
Rz. 22
Massenentlassungsrecht
pen, deren grundsätzliche Arbeitnehmereigenschaft nach nationalem Recht feststeht, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinienumsetzung herauszunehmen.1 Auch der EuGH hat sich in der Rs. CGT klar in diese Richtung geäußert2 und diese Auffassung in Bezug auf sog. „dirigenti“ nach italienischem Recht – die mit leitenden Angestellten nach deutschem Verständnis vergleichbar sind – unlängst bestätigt.3 Dies überzeugt: Der Verweis der ME-RL auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff erlaubt es dem deutschen Gesetzgeber nicht, den allgemeinen deutschen Arbeitnehmerbegriff noch weiter einzuschränken. Dies wäre nur dann zulässig, wenn die Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber explizit gestatten würde, den Kreis der Mitarbeiter zu bestimmen, denen der Schutz der ME-RL zukommt. Dies ist indes nicht geschehen. Mithin ist § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG als richtlinienwidrig einzustufen soweit Betriebsleiter und leitende Angestellte betroffen sind.4 Richtigerweise ist § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG nichtsdestotrotz anwendbar, denn der reine Richtlinienverstoß führt mangels Drittwirkung jedenfalls gegenüber privaten Arbeitgebern nicht zur Unanwendbarkeit der nationalen Regelung (vgl. § 1 Rz. 135 ff.).5 Einen Verstoß gegen das primärrechtliche Verbot vor ungerechtfertigen Entlassungen nach Art. 30 GRC, der zur Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen Regelung führen würde, lässt sich unseres Erachtens in der Ausnahme von Betriebsleiter/leitende Angestellte nicht erkennen, weil der Grundrechtsschutz sich insoweit (auch) nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten richtet6 und ein geringeres Schutzniveau für leitende Angestellte schon nach § 14 Abs. 2 KSchG zentraler Bestandteil des deutschen Kündigungsschutzrechts ist. Da die Rechtsprechung im Bereich der Drittwirkung und zur GRC allerdings im Fluss ist, ist aus Gründen der Vorsicht dringend zu empfehlen, auch Betriebsleiter/leitende Angestellte im Zuge des Massenentlassungsverfahrens mitzuzählen und die Ausnahme des § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG für diese Personengruppe nicht anzuwenden. 2. Arbeitgeber/Betrieb/herrschendes Unternehmen a) Arbeitgeberbegriff 22
Der Arbeitgeber ist Adressat der in Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 und 2 ME-RL normierten Konsultations- und Anzeigepflichten. Eine Definition des Arbeitgeberbegriffs enthält die ME-RL nicht. Es ist – wie oben zum Arbeitnehmerbegriff dargestellt – nach überwiegender Auffassung der allgemeine nationale Arbeitgeberbegriff einschlägig.7
23
Nach allgemeiner Auffassung ist im deutschen Arbeitsrecht Arbeitgeber, wer mindestens einen Arbeitnehmer beschäftigt. Es kann sich hierbei um eine natürliche oder juristische Person handeln.8 Dieser nationalrechtliche Arbeitgeberbegriff begegnet auch keinen unionsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der ME-RL oder der 1 2 3 4 5 6 7 8
APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 15. EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05, EuZW 2007, 185. EuGH v. 13.2.2014 – Rs. C-596/12 – n.v. Moll/Eckhoff, § 50 Rz. 9; APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 15; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 10; KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 30; Wißmann, RdA 1998, 221. Fuhlrott/Fabritius, ArbR 2009, 154; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 8; APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 15 m. zahlreichen w. N.; Opolny, NZA 1999, 793; KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 30. Vgl. dazu EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193. MünchKomm/BGB/Hergenröder, § 17 KSchG Rz. 26. Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 611 BGB Rz. 231.
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Anwendungsbereich
Rz. 25 § 10
UuA-RL. Die in der UuA-RL enthaltene Begriffsdefinition, wonach die natürliche oder juristische Person, die entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Partei der Arbeitsverträge oder Arbeitsverhältnisse mit den Arbeitnehmern ist, Arbeitgeber ist, unterscheidet sich insoweit nicht von der nationalrechtlichen Definition. Es ist daher ohne Bedeutung, ob die Begriffsbestimmungen der UuA-RL überhaupt auf die ME-RL Anwendung finden. b) Betriebsbegriff Für die in Art. 1 Abs. 1 ME-RL genannten Schwellenwerte für die Annahme einer Massenentlassung stellt die Richtlinie auf den Betrieb als maßgebliche Einheit ab. Die ME-RL enthält jedoch auch diesbezüglich keine Definition. Dies bedeutet jedoch nicht, dass entsprechend dem Arbeitnehmerbegriff auch hier die nationale Definition einschlägig wäre. Vielmehr hat der EuGH in der Rs. Rockfon entschieden, dass der Betriebsbegriff in der ME-RL unionsrechtlich und damit einheitlich zu bestimmen sei.1 Nach der ME-RL ist damit als Betrieb diejenige Einheit bzw. derjenige Unternehmensteil zu verstehen, der bzw. dem der Arbeitnehmer auf Grund der Erfüllung seiner Aufgabe angehört.2 Die Einheit muss eine gewisse Dauerhaftigkeit und Stabilität aufweisen, zur Erledigung von Aufgaben bestimmt sein und die über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, Betriebsmitteln und Organisationsstrukturen verfügen.3 Es kommt weder darauf an, ob die Leitung dieser Einheit bzw. dieses Unternehmensteils selbständig über die vorzunehmenden Massenentlassungen entscheiden kann4 noch darauf, ob eine Selbständigkeit in finanzieller, verwaltungsmäßiger oder wirtschaftlicher Hinsicht besteht.5
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Allerdings könnte der für die ME-RL einschlägige Betriebsbegriff – abweichend von dem durch den EuGH entwickelten, eben dargestellten Begriff – mittlerweile vom europäischen Gesetzgeber in Art. 2 Buchst. c UuA-RL kodifiziert worden sein, der eine unionsrechtliche Definition des Betriebsbegriffs bereithält. Hiernach ist der Betrieb eine gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten definierte Unternehmenseinheit, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist und in der kontinuierlich unter Einsatz personeller und materieller Ressourcen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt wird. Dass diese – und damit letztendlich auch die anderen – Begriffsbestimmung der UuA-RL auch auf die ME-RL anzuwenden sei, hat die französische Regierung in der Rs. CGT6 vertreten.7 Generalanwalt Mengozzi ist dieser Auffassung in den Schlussanträgen entgegengetreten8 und ist der Meinung, es sei willkürlich, die Bestimmungen eines Rechtsakts automatisch im Licht einer anderen Vorschrift auszulegen, die fast vier Jahre nach diesem erlassen wurde. Es gebe keine klaren Anhaltspunkte, dass der europäische Gesetzgeber die Begriffsbestimmungen auch auf die ME-RL übertragen und damit ggf. bestehende Definitionen abändern wollte. Dies überzeugt im Ergebnis, da der Richtliniengeber – wie bereits dargestellt – in Art. 9 Abs. 1 UuA-RL klargestellt hat, dass die Informations- und Konsultations-
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1 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 – Rockfon, Slg. 1995, 4291 = NZA 1996, 471; vgl. zum Betriebsbegriff auch die ausführliche Darstellung in APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 8. 2 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 – Rockfon, Slg. 1995, 4291 = NZA 1996, 471. 3 EuGH v. 15.2.2007 – Rs. C-270/05 – Athinaiki Chartopoiia, Slg. 2007, I-1499 = NZA 2007, 319. 4 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 – Rockfon, Slg. 1995, 4291 = NZA 1996, 471. 5 EuGH v. 15.2.2007 – Rs. C-270/05 – Athinaiki Chartopoiia, Slg. 2007, I-1499 = NZA 2007, 319. 6 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-385/05 – CGT, Slg. 2007, I-611 = NZA 2007, 193. 7 Bei der Ansicht der französischen Regierung ging es um die Übertragung des Arbeitnehmerbegriffs in der UuA-RL auf die ME-RL. Wie sich jedoch auch aus den Schlussanträgen des Generalanwalts Mengozzi richtigerweise ergibt, können die einzelnen Begriffsbestimmungen nicht separat betrachtet werden. 8 GA Mengozzi v. 24.10.2005 – Rs. C-385/05 – CGT, Slg. 2007, I-611 – Rz. 75 ff.
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§ 10
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Massenentlassungsrecht
verfahren der ME-RL durch die UuA-RL nicht berührt werden.1 Der Auffassung, dass der Betriebsbegriff der UuA-RL nicht auf die ME-RL zu übertragen ist, hat sich indirekt auch der EuGH angeschlossen. Dieser hat in der Rs. Athinaiki Chartopoiia den in der Rs. Rockfon entwickelten Betriebsbegriff der ME-RL weiterentwickelt, ohne auf die UuA-RL oder auf die Rs. CGT einzugehen.2 Demnach dürfte der vom EuGH entwickelte Betriebsbegriff für die ME-RL weiterhin einschlägig sein. 26
Im deutschen Recht wird – trotz der Stellung der §§ 17, 18 KSchG im Kündigungsschutzrecht – regelmäßig angenommen, für den Betriebsbegriff im Massenentlassungsrecht sei der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff maßgebend.3 Damit sind § 1 BetrVG und insbesondere auch die Vermutung des § 4 BetrVG heranzuziehen. Dies begegnet im Grundsatz keinen Bedenken, weil der Betriebsbegriff des BetrVG („organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber allein oder mit Hilfe seiner Arbeitnehmer mit technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke verfolgt“4) sich in die vom EuGH entwickelte Definition einfügt. Das dürfte auch für die Fiktion des § 4 BetrVG gelten, da auch solche Betriebsteile regelmäßig eine ausreichende Organisationsstruktur aufweisen dürften, um einen Betrieb im Sinne der EuGH-Rechtsprechung darzustellen. In Gemeinschaftsbetrieben ist somit für die Bestimmung der Schwellenwerte gem. § 17 Abs. 1 KSchG auf die (von allen Trägerunternehmen insgesamt) im Gemeinschaftsbetrieb beschäftigten Arbeitnehmer und die (von allen Trägerunternehmen insgesamt) zu entlassenden Arbeitnehmer abzustellen.5 Die Umsetzung der ME-RL ist mithin insoweit richtlinienkonform erfolgt.6
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Fraglich ist aber, ob auch eine aufgrund eines Tarifvertrags bzw. einer Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG gebildete Einheit, die gem. § 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG betriebsverfassungsrechtlich als Betrieb gilt, eine maßgebliche Einheit im Sinne der ME-RL sein kann. Teilweise wird in Bezug auf § 17 KSchG vertreten, dieser sei nicht vereinbarungsdispositiv und die Zuständigkeiten der Agenturen für Arbeit könnten nicht durch eine Vereinbarung nach § 3 BetrVG geändert werden.7 Dies überzeugt wegen § 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG schon für das nationale Recht nicht. Für die ME-RL ist die Frage der Vereinbarungsoffenheit ebenfalls nicht entscheidend: Maßgeblich ist allein, ob die kraft Vereinbarung nach § 3 BetrVG zusammengefasste Einheit einen Betrieb im Sinne der ME-RL darstellen kann. Regelmäßig dürfte auch der auf Grundlage von § 3 BetrVG gebildete Betrieb eine Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität darstellen, die zur Erledigung von Aufgaben bestimmt ist und die über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, Betriebsmitteln und Organisationsstrukturen verfügt,8 und damit dem Betriebsbegriff des EuGH genügt. Allerdings lässt § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG die Bildung solcher betriebsverfassungsrechtlichen Einheiten zu, die – aus Gründen der besseren Interessenvertretung der Arbeitnehmer – deutlich über die organisatorische Einheit eines typischen Betriebs hinausgehen, z.B. als betriebs- oder sogar unternehmensübergreifende Strukturen. Hier ist fraglich, ob diese – in der Regel 1 2 3 4 5
So auch Gerdom, S. 147. EuGH v. 15.2.2007 – Rs. C-270/05 – Athinaiki Chartopoiia, Slg. 2007, I-1499 = NZA 2007, 319. Vgl. zum nationalen Betriebsbegriff nur KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 15 m.w.N. Statt aller Fitting, § 1 BetrVG Rz. 63 m.w.N. BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, NZA 2007, 1431 Rz. 35; LAG Nds. v. 18.12.2013 – 17 Sa 335/13, BeckRS 2014, 66597; dazu Naber, EWiR 2014, 399. 6 BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, NZA 2007, 1431. 7 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 7; KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 17. 8 EuGH v. 15.2.2007 – Rs. C-270/05 – Athinaiki Chartopoiia, Slg. 2007, I-1499 = NZA 2007, 319.
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Anwendungsbereich
Rz. 30 § 10
vergrößerten – Einheiten tatsächlich für die Berechnung der Schwellenwerte maßgeblich sein können. In der Praxis sollte im Zweifel immer geprüft werden, ob in einem Fall, in dem eine Massenentlassungsanzeige für die wegen eines Tarifvertrags bzw. einer Betriebsvereinbarung gem. § 3 BetrVG maßgebliche Einheit mangels Erreichung der Schwellenwerte entbehrlich wäre, nicht in einem existierenden „normalen“ Betrieb nach dem Verständnis der §§ 1, 4 BetrVG doch eine Überschreitung der Schwellenwerte gegeben ist. Vorsorglich sollte man für diesen – an sich nach § 3 Abs. 5 BetrVG nicht maßgeblichen – Betrieb doch das Konsultationsverfahren durchführen und eine Massenentlassungsanzeige erstatten. c) Herrschendes Unternehmen Art. 2 Abs. 4 UAbs. 1 ME-RL regelt, dass die Verpflichtungen der ME-RL unabhängig davon gelten, ob die Entscheidung über Massenentlassungen von dem Arbeitgeber oder einem herrschenden Unternehmen getroffen wurde. Auch den Begriff des herrschenden Unternehmens definiert die ME-RL nicht selbst. Teile des Schrifttums fordern hier eine autonome unionsrechtliche Definition des Begriffs.1 Danach soll ein Unternehmen dann als herrschend anzusehen sein, wenn es ein anderes Unternehmen dazu zwingen kann, bei sich Massenentlassungen durchzuführen.2 Unabhängig davon, wie genau der europarechtliche Begriff des herrschenden Unternehmens zu definieren ist, ist eindeutig, dass an ein herrschendes Unternehmen i.S.d. ME-RL nicht die Anforderungen des § 17 AktG zu stellen sind. Entscheidend ist nur, dass sich das Arbeitgeber-Unternehmen bei der (Nicht-)Erfüllung seiner Pflichten aus der ME-RL (bzw. dem diese umsetzenden nationalen Recht) nicht darauf berufen kann, ein anderes (Konzern-)Unternehmen habe die Entscheidung zur Massenentlassung getroffen und/oder habe die zur Konsultation bzw. Massenentlassungsanzeige erforderlichen Informationen. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob das herrschende Unternehmen die Entscheidung anstelle des Arbeitgeber-Unternehmens getroffen hat (was jedenfalls im deutschen Recht so gar nicht möglich wäre) oder ob es Zwang oder auch nur maßgeblichen Einfluss dahingehend ausgeübt hat.
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Der deutsche Gesetzgeber hat in § 17 Abs. 3a Satz 1 KSchG klargestellt, dass die Pflichten des § 17 KSchG unabhängig davon gelten, ob die Entscheidung über die Massenentlassung von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Der Arbeitgeber kann sich zudem nach § 17 Abs. 3a Satz 2 KSchG hinsichtlich der Auskunftspflichten nicht darauf berufen, ihm seien vom „verantwortlichen Unternehmen“ die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt worden. Damit setzt der deutsche Gesetzgeber Art. 2 Abs. 4 der ME-RL ordnungsgemäß um.
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3. Entlassung a) Allgemeines Nach Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. a ME-RL liegt eine „Massenentlassung“ i.S.d. Richtlinie vor, wenn ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, so viele Entlassungen vornimmt, dass die Schwellenwerte gem. Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. a Nr. i und ii ME-RL überschritten werden. Schon daraus folgt, dass die Richtlinie den Begriff der „Entlassung“ auf keine bestimmte Beendigungsform beschränkt, dass es für die Beendigung aber jedenfalls einer Mitwirkung des Arbeitgebers bedarf. Denn nur dann kann man davon spre1 Forst, NZA 2010, 144; vgl. auch APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 138. 2 Forst, NZA 2010, 144.
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§ 10
Rz. 31
Massenentlassungsrecht
chen, dass der „Arbeitgeber [Entlassungen] vornimmt“. Ganz deutlich wird dies schließlich durch Art. 1 UAbs. 2 ME-RL. Danach werden diesen Entlassungen solche Beendigungen des Arbeitsvertrags gleichgestellt, die auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem oder mehreren Gründen erfolgen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens fünf beträgt. 31
Art. 1 Abs. 2 ME-RL nimmt bestimmte Arten von Massenentlassungen aus dem Anwendungsbereich aus, namentlich Massenentlassungen „im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden, es sei denn, dass diese Entlassungen vor Ablauf oder Erfüllung dieser Verträge erfolgen“ (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a ME-RL) sowie Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen des öffentlichen Rechts (Buchst. b) und Besatzungen von Seeschiffen (Buchst. c).
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In seiner Junk-Entscheidung hat der EuGH festgestellt, dass unter „Entlassung“ im Sinne der Richtlinie die Kündigungserklärung des Arbeitgebers zu verstehen ist.1 Demgegenüber ist die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses jedenfalls für das europäische Massenentlassungsrecht nicht relevant. Vor dem Hintergrund des Individualschutzes, der für das europäische Massenentlassungsrecht vorrangig ist, ist diese Sichtweise konsequent. Ihretwegen nimmt der EuGH an, dass sowohl das Konsultations- als auch das Anzeigeverfahren abgeschlossen sein müssen, bevor eine Massenentlassung vorgenommen wird.2
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Für das europäische Recht ist es nicht erheblich, ob die Entlassung durch äußere Umstände wie etwa höhere Gewalt oder einen gerichtlichen Beschluss beeinflusst worden ist.3 Mit Blick auf den europäischen Schutzzweck des Massenentlassungsrechts ist dies konsequent.
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Auch § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG enthält keine konkrete Definition des Begriffs „Entlassung“. Traditionell wurde unter „Entlassung“ im Sinne des deutschen Massenentlassungsrechts die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses – wie diese mit Ablauf der Kündigungsfrist eintritt – verstanden. Wenn man bedenkt, dass das deutsche Massenentlassungsrecht historisch primär arbeitsmarktpolitische Zwecke verfolgt, ist auch dies konsequent.
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Mit der Junk-Entscheidung war für das deutsche Massenentlassungsrecht ein Paradigmenwechsel verbunden. Mit dieser Entscheidung hat das BAG eine Kehrtwende vollzogen und legt nunmehr die §§ 17 ff. KSchG dahingehend richtlinienkonform aus, dass unter „Entlassung“ die Kündigungserklärung des Arbeitgebers zu verstehen ist. Auf die Auswirkungen für den Arbeitsmarkt durch die Entlassung kommt es ebenfalls nicht mehr entscheidend an. Dementsprechend sind auch Änderungskündigungen im Rahmen von § 17 KSchG relevant, und zwar unabhängig davon, ob der betroffene Arbeitnehmer das hiermit verbundene Angebot annimmt oder ablehnt.4 Vor der Junk-Entscheidung wurde noch angenommen, dass wegen der arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung keine „Entlassung“ vorgenommen wird, wenn ein Arbeitnehmer nicht arbeitslos wird, weil er in den Ruhestand eintritt.5 An dieser Ansicht kann zwar festgehalten werden,6 allerdings nicht, weil in dieser Kon1 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885 = NZA 2005, 213; vgl. zu den grundsätzlicheren Auswirkungen dieser Entscheidung vgl. Rz. 10 ff. 2 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885 = NZA 2005, 213. 3 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-55/02, NZA 2004, 1265; EuGH v. 3.3.2011 – verb. Rs. C-235/10 bis 239/10, NZA 2011, 337. 4 BAG v. 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, NZA 2014, 1069. 5 Vgl. z.B. Mauthner, S. 95; Bauer/Röder, NZA 1985, 201 (203). 6 ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 12; APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 29.
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Anwendungsbereich
Rz. 37 § 10
stellation keine Arbeitsmarktbelange betroffen sind,1 sondern weil ein Arbeitnehmer, der ohnehin in den Ruhestand eintritt, keines besonderen individuellen Schutzes vor einer Massenentlassung bedarf. Aus denselben Gründen spricht viel dafür, bei einem Wechsel in eine BQG/Transfergesellschaft eine Massenentlassung i.S.d. § 17 KSchG anzunehmen, weil die fehlende Belastung des Arbeitsmarktes nach europarechtlichem Verständnis nicht maßgeblich ist.2 Das gilt jedenfalls dann, wenn zum Zeitpunkt der Konsultation bzw. Erstattung der Massenentlassungsanzeige noch nicht definitiv feststeht, dass ein Arbeitnehmer in eine BQG wechselt.3 Nach § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG stehen Entlassungen „andere Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden. Anders als die Richtlinie ist § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG nicht nur dann anzuwenden, wenn die Zahl der Entlassungen mindestens fünf beträgt; als für die Arbeitnehmer günstigere Regelung ist dies europarechtskonform.4 Auch Eigenkündigungen von Arbeitnehmern und Aufhebungsverträge können damit den §§ 17 ff. KSchG unterfallen. Daraus folgt, dass die Form des Beendigungstatbestands auch nach deutschem Recht nicht entscheidend ist. Entscheidende Voraussetzung ist die Veranlassung der Beendigung durch den Arbeitgeber. Eine solche ist anzunehmen, wenn der Arbeitgeber dem (konkreten) Arbeitnehmer zu verstehen gibt, dass er das Arbeitsverhältnis durch Arbeitgeberkündigung beenden werde, wenn er nicht einer anderen Form der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zustimmt.5 Allein die abstrakte Gefahr einer baldigen Arbeitgeberkündigung oder eine nicht auf den konkreten Arbeitnehmer bezogene „Kündigungsandrohung“ dürfte hingegen nicht für eine Veranlassung genügen. Dies wird häufig bei sog. Freiwilligenprogrammen zum Personalabbau relevant, bei denen der Arbeitgeber der kompletten oder jedenfalls einem Teil der Belegschaft ein freiwilliges Ausscheiden zu bestimmten Konditionen anbietet und auf dieser Grundlage dann Aufhebungsverträge geschlossen werden. Bei solchen Programmen dürfte es in der Regel an einer Erklärung des Arbeitgebers fehlen, dass ganz bestimmte Arbeitsplätze abgebaut und konkret benannte Arbeitnehmer gekündigt werden. Hier lässt sich u.E. gut vertreten, keine Veranlassung durch den Arbeitgeber anzunehmen.
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§ 17 Abs. 1 KSchG enthält keine Anforderungen an die Gründe, aus denen eine Entlassung erfolgt. § 17 Abs. 4 KSchG nimmt lediglich fristlose Entlassungen aus der Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen aus. Üblicherweise erfolgen vor allem verhaltensbedingte Kündigungen fristlos. Gleichwohl sind die §§ 17 ff. KSchG auf sämtliche Kündigungen bzw. gem. § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG gleichgestellte Tatbestände – unabhängig, aus welchen Gründen diese erfolgen – anzuwenden.6 Die §§ 17 ff. KSchG gelten somit – in den Kategorien gem. § 1 KSchG gesprochen – sowohl für betriebs-, verhaltens- als auch personenbedingte Gründe. Auch diese Regelung geht zugunsten der Arbeitnehmer über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinaus und ist gem. Art. 5 ME-RL als zulässig anzusehen. Angesichts des Individual-
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1 So jedoch APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 29; Moll/Eckhoff, § 50 Rz. 13. 2 Vgl. aber vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 27; richtig Niklas/Koehler, NZA 2010, 913 (914); ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 12 weist zu Recht darauf hin, dass die Belastung im Übrigen nur zeitlich verzögert wird. 3 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 (allerdings noch mit einer an arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkte anknüpfenden Argumentation, vgl. Sittard/Knoll, BB 2013, 2037 ff.). 4 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 31. 5 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 33 m.w.N. 6 BAG v. 8.6.1989 – 2 AZR 624/88, NZA 1990, 224; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 19.
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§ 10
Rz. 38
Massenentlassungsrecht
schutzes, der seit der Junk-Entscheidung auch das deutsche Massenentlassungsrecht prägt, ist diese Regelung nicht mehr zeitgemäß. Denn wie sich aus Art. 1 Abs. 1 ME-RL ergibt, besteht im Zusammenhang mit einer Massenentlassung, mit der stets unternehmerische Motive verwirklicht werden, kein Bedürfnis für einen Schutz vor Entlassungen etwa aus Gründen der Person des Arbeitnehmers. 38
Danach sind insbesondere auch folgende Beendigungstatbestände vom Anwendungsbereich der §§ 17 ff. KSchG erfasst: – Kündigungen des Arbeitgebers, und zwar unabhängig von den Kündigungsgründen, – Eigenkündigungen des Arbeitnehmers, die vom Arbeitgeber – unabhängig aus welchem Grund – „veranlasst“ werden, – Aufhebungsverträge, die vom Arbeitgeber – unabhängig aus welchem Grund – im oben beschriebenen Sinne „veranlasst“ werden, – dreiseitige Verträge zum Wechsel vom bisherigen Arbeitgeber in eine BQG/ Transfergesellschaft, die vom Arbeitgeber „veranlasst“ werden.
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In den drei letztgenannten Fallgruppen stellt sich die Frage, welcher Zeitpunkt für die Berechnung der Schwellenwerte relevant ist. Denkbar wäre es, auf das Wirksamwerden des Beendigungstatbestands, d.h. auf den Zugang der Eigenkündigung oder den Abschluss des Aufhebungsvertrages, abzustellen.1 Alternativ könnte für den relevanten Zeitpunkt zu berücksichtigen sein, wann und mit welchem Verhalten der Arbeitgeber seine betriebsbedingten Kündigungen substituiert, die er ansonsten auszusprechen hätte. Hier lässt sich argumentieren, dass dies auch das Gespräch bzw. der Termin ist, in welchem den Arbeitnehmern nahegelegt wird, Eigenkündigungen auszusprechen bzw. Aufhebungsverträge abzuschließen.2 Rechtsprechung hierzu liegt – soweit ersichtlich – nicht vor.
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Nach § 17 Abs. 4 KSchG gilt das deutsche Massenentlassungsrecht nicht für fristlose Entlassungen. § 17 Abs. 4 KSchG differenziert dabei nicht zwischen den verschiedenen Gründen für eine fristlose Entlassung. Von der Ausnahme gem. § 17 Abs. 4 KSchG sind sog. Orlando-Kündigungen, d.h. außerordentliche Kündigungen mit sozialer Auslauffrist, nicht erfasst; diese Kündigungen erfolgen gerade nicht fristlos.3 Im Wege richtlinienkonformer Auslegung gilt § 17 Abs. 4 KSchG darüber hinaus nur für solche fristlose Kündigungen, die aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen ausgesprochen werden.4 Die ME-RL unterscheidet nicht zwischen fristlosen und fristgerechten Kündigungen, sondern nimmt nur solche Kündigungen aus ihrem Anwendungsbereich aus, die in der Person des oder der Gekündigten liegen. b) Befristungen und Bedingungen
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Die Richtlinie geht nicht ausdrücklich darauf ein, ob auch Befristungen und Bedingungen mit konsultations- bzw. anzeigepflichtigen Entlassungen gleichgestellt werden müssen.
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Befristungen und Bedingungen führen nicht zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG. In beiden Fällen ist die Beendigung bereits im Arbeitsverhältnis angelegt und es bedarf für die Beendigung gerade keiner wei1 2 3 4
So z.B. APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 34a. Naber, S. 40 ff. APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 40. KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 37; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 37; APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 40.
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Konsultationsverfahren
Rz. 46 § 10
teren Handlung durch den Arbeitgeber, die gezielt auf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen gerichtet ist.1 Wie Moll zu Recht ausführt, können die §§ 17 ff. KSchG wegen der strukturellen Unterscheidung zwischen einem unbefristeten Arbeitsverhältnisses (und dessen späterer Beendigung) und einem von Anfang an befristeten oder unter eine auflösende Bedingung gestellten Arbeitsverhältnisses nicht durch Befristung oder Bedingung umgangen werden.2 c) Tod des Arbeitgebers Führt der Tod des Arbeitgebers zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, löst dies keine „Entlassung“ im Sinne der ME-RL aus.3
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Nach deutschem Recht führt der Tod des Arbeitgebers in der Regel nicht zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Vielmehr gehen Arbeitsverhältnisse des Erblassers gem. §§ 1922, 1967 BGB auf die Erben über. Etwas anderes gilt nur, wenn ausnahmsweise eine Zweckbefristung oder auflösende Bedingung auf den Tod des Arbeitgebers vereinbart ist.4
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III. Konsultationsverfahren Das sog. Konsultationsverfahren betrifft die Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter über eine beabsichtigte Massenentlassung gemäß Teil II der ME-RL. Beabsichtigt der Arbeitgeber Massenentlassungen, so hat er die Arbeitnehmervertreter gem. Art. 2 Abs. 1 ME-RL rechtzeitig und mit dem Ziel einer Einigung zu konsultieren. Erst Teil III regelt die Pflicht des Arbeitgebers, die beabsichtigten Massenentlassungen bei der zuständigen Behörde anzuzeigen. Die Schritte nach Teil II und Teil III der Richtlinie sind aber in mehrerlei Hinsicht miteinander verwoben.
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1. Arbeitnehmervertretung Art. 2 Abs. 1 ME-RL bestimmt, dass die Konsultationspflicht gegenüber den sog. Arbeitnehmervertretern besteht. Der Begriff der Arbeitnehmervertreter wird von der Richtlinie nicht definiert. Diese verweist in Art. 1 Abs. 1 Buchst. b ME-RL insoweit auf die nationalen „Rechtsvorschriften oder (die) Praxis der Mitgliedstaaten“.5 Daher bleibt die Festlegung des zuständigen Gremiums in der Hand der Mitgliedstaaten. Der EuGH hat beispielsweise auch eine Branchengewerkschaft als Arbeitnehmervertretung anerkannt.6 Die Ausgestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten ist jedoch begrenzt. So hat der EuGH entschieden, dass das Vereinigte Königreich die Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hatte, weil nach britischem Recht das Bestehen von Arbeitnehmervertretern von der (für diesen freiwilligen) Anerkennung durch den Arbeitgeber abhing.7 Unwirksam 1 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 35; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 27. 2 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 35; a.A. z.B. KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 44. 3 EuGH v. 10.12.2009 – Rs. C-323/08 – Ovidio Rodríguez Mayor, Slg. 2009, I-11621 = NZA 2010, 151. 4 Dzida/Naber, ArbRB 2014, 80 (82). 5 Dies könnte einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass auch für den von der ME-RL verwendeten Begriff des Arbeitnehmers auf das nationale Recht abzustellen ist, kritisch dazu Ziegler, 2. Teil § 13b aa. 6 EuGH v. 12.2.1985 – Rs. 284/83 – Nielsen, Slg. 1985, 553 – Rz. 2 = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 1 Nr. 1; s. Wißmann, RdA, 1998, 221 (224). 7 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 19 ff. = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 2 Nr. 1; Wißmann, RdA, 1998, 221 (224).
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§ 10
Rz. 47
Massenentlassungsrecht
ist daher eine nationale Umsetzung, die das Konsultationsverfahren an solche Arbeitnehmervertretungen koppelt, deren Existenz im Belieben des Arbeitgebers steht. Denn durch eine derartige Ausgestaltung des nationalen Rechts wird aus Sicht der EuGH derjenige Schutz verhindert, den die Richtlinie gewährleisten soll.1 47
Aufgrund des Spielraums, den die ME-RL bei der Wahl der Arbeitnehmervertretung den Mitgliedstaaten lässt, hätte der deutsche Gesetzgeber die Wahl gehabt, die Konsultationspflicht gegenüber Gewerkschaften, Betriebsräten oder ggf. (zusätzlich) auch Sprecherausschüssen (vgl. §§ 30 bis 33 SprAuG) zu etablieren.2 Die Umsetzung erfolgte in den §§ 17 ff. KSchG zugunsten der Betriebsräte. § 17 KSchG verpflichtet den eine Massenentlassung beabsichtigenden Arbeitgeber, dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und diesen entsprechend des § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG über Art und Ausmaß der Entlassung zu unterrichten, sofern die in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG geregelten Schwellenwerte überstiegen werden. Es bestehen diesbezüglich keine Bedenken hinsichtlich der richtlinienkonformen Umsetzung.
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Ebenso wenig ist es aus Sicht der ME-RL problematisch, dass im Fall eines Tarifvertrags bzw. einer Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs. 1, Abs. 2 BetrVG eine vom nationalrechtlichen Normalfall abweichend strukturierte Arbeitnehmervertretung für das Konsultationsverfahren zuständig ist. Dies ist von dem Spielraum, den Art. 1 Abs. 1 Buchst. b ME-RL gibt, gedeckt (vgl. Rz. 26).
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Auch die §§ 111 ff. BetrVG setzen nach Auffassung des deutschen Gesetzgebers teilweise Pflichten der ME-RL um.3 Bei mitbestimmungspflichtigen Betriebsänderungen in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmern ist der Arbeitgeber gem. §§ 111 ff. BetrVG verpflichtet, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich zu versuchen sowie einen Sozialplan zu vereinbaren. Zwar mag für den Ansatz des deutschen Gesetzgebers sprechen, dass für das Vorliegen einer Betriebsänderung nach den §§ 111 ff. BetrVG nach gefestigter Rechtsprechung grundsätzlich die Schwellenwerte des § 17 KSchG zumindest einen Orientierungswert darstellen (wobei die Entlassungen nicht wie in § 17 Abs. 1 KSchG innerhalb von 30 Tagen erfolgen müssen und zudem eine 5 %-Schwelle greifen soll).4 Dennoch ist es sehr fraglich, ob die §§ 111 ff. BetrVG tatsächlich auch die ME-RL umsetzen. Zwar geben die §§ 111 ff. BetrVG dem zuständigen Betriebsrat durchaus weitergehende Rechte als die ME-RL der Arbeitnehmervertretung (Anrufung der Einigungsstelle für einen Interessenausgleich, Erzwingbarkeit (!) eines Sozialplans). Dafür sehen die §§ 111 ff. BetrVG aber keine der ME-RL entsprechenden Konsultationspflichten vor. So ist es weder zwingend, dass alle in Art. 2 Abs. 3 Buchst. b ME-RL genannten Auskünfte erteilt werden, noch muss dies schriftlich erfolgen, wie dies die ME-RL vorsieht. Schon an diesem Beispiel wird deutlich, dass ein ordnungsgemäß durchgeführtes Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren keineswegs sicher1 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 21 = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 2 Nr. 1. 2 So BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NJW 2011, 3180 – Rz. 31, wonach Arbeitnehmervertreter jedenfalls Mitglieder des örtlichen oder auch des Gesamtbetriebsrats sein können. 3 BT-Drucks. 12/7630, 9, wonach der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass die §§ 111 ff. BetrVG die von der ME-RL vorgegebenen Unterrichtungs- und Beratungspflichten bereits umsetzen, § 17 KSchG sei indes aufgrund der von der Richtlinie geforderten Unterrichtungsgegenstände zu erweitern gewesen. Kritisch Reinhard, RdA 2007, 207 (211), mit der zutreffenden Differenzierung, dass dies nur für Fälle gelte, in denen die Massenentlassung auch eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG darstelle. Siehe hingegen Dauses/Eichenhofer, D. III. Arbeitsrecht, Rz. 62, wonach die ME-RL in § 17 KSchG und in §§ 111 ff. BetrVG umgesetzt sei. 4 HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112a Rz. 3 und § 111 Rz. 28.
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Konsultationsverfahren
Rz. 52 § 10
stellt, dass der Arbeitgeber die Pflichten der ME-RL bzw. des § 17 KSchG erfüllt hat. Das ändert nichts daran, dass eine Vielzahl von Verpflichtungen der §§ 111 ff. BetrVG einerseits und des § 17 KSchG andererseits miteinander verbunden werden können. Die Arbeitnehmerbeteiligung nach den §§ 111 ff. BetrVG ersetzt jedoch keineswegs die Verpflichtungen aus § 17 KSchG. Vielmehr muss der Arbeitgeber ausdrücklich kenntlich machen, dass er beide Verpflichtungen gleichzeitig erfüllen möchte und dabei auch beiden Regelungskomplexen vollständig gerecht werden.1 Die ME-RL enthält keine Regelungen zum Konkurrenzverhältnis, wenn nach nationalem Recht mehrere Arbeitnehmervertretungen für die Konsultation in Betracht kommen. Folge dessen ist, dass die nationalen Gesetzgeber auch insoweit frei sind, die Zuständigkeit zu regeln. Von dem Wortlaut der Richtlinie wäre dabei auch eine Regelung gedeckt, nach der mehrere Arbeitnehmervertretungsgremien im Rahmen des Konsultationsverfahrens zu beteiligen wären. Die nationalen Gesetzgeber sind aber auch frei darin, die Kompetenz zugunsten eines bestimmten Arbeitnehmervertretungsgremiums einzuschränken.
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Im deutschen Recht ist zwischen der Zuständigkeit von lokalen Betriebsräten, Gesamtbetriebsräten sowie Konzernbetriebsräten zu unterscheiden. Grundsätzlich ist der von den betroffenen Arbeitnehmern örtlich gewählte Betriebsrat für die Beteiligung im Rahmen von § 17 KSchG zuständig.2
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Für den Arbeitgeber stellt sich bei einer betriebsübergreifenden Maßnahme die Frage, welches Betriebsratsgremium er im Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG zu beteiligen hat. Typischerweise muss der Arbeitgeber in dieser Situation zudem auch einen Interessenausgleich und einen Sozialplan mit dem Betriebsrat bzw. dem Gesamtbetriebsrat (theoretisch käme auch eine Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats in Betracht) verhandeln.3 Für den Arbeitgeber wäre es naheliegend und interessengerecht, das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsratsgremium durchzuführen, das für den Interessenausgleich und Sozialplan zuständig ist oder, falls die Zuständigkeiten für Interessenausgleich und Sozialplan auseinanderfallen (nicht selten ist für den Interessenausgleich aufgrund betriebsübergreifender Maßnahmen der Gesamtbetriebsrat zuständig, wohingegen die Milderung der Folgen auf Betriebsebene geregelt werden kann, so dass der lokale Betriebsrat für den Sozialplan zuständig ist4), eines der beiden zuständigen oder ein drittes Vertretungsgremium der Arbeitnehmer zu beteiligen. Die Verknüpfung mit einem Interessenausgleich ist für den Arbeitgeber deshalb besonders wichtig, weil § 1 Abs. 5 Satz. 4 KSchG selbst eine Verbindung zwischen dem Interessenausgleichsverfahren und dem Konsultationsverfahren herstellt. So ersetzt ein Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Das BAG hat hierzu entschieden, dass ein mit dem – zuständigen – Gesamtbetriebsrat abgeschlossener Interessenausgleich diese Anforderung ebenfalls erfüllt. Damit ist zugleich entschieden, dass der Arbeitgeber im konkreten Fall auch das Konsultationsverfahren gem. § 17 KSchG mit dem Gesamtbetriebsrat durchführen konnte.5 Der Zweck der ME-RL erfordert es nach Auffassung des BAG nicht, dass nur ein örtlicher Betriebsrat als Arbeitnehmervertretung verstanden wird und deshalb nur ein vom örtlichen Betriebsrat abgeschlossener Interessenausgleich mit
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HWK/Molkenbur, § 17 KSchG Rz. 25. Hützen, ZInsO, 2012, 1801 (1803); Reinhard, RdA 2007, 207 (215). Lembke/Oberwinter, NJW, 2007, 721 (724). Vgl. dazu Richardi/Annuß, BetrVG, § 50 Rz. 37 ff. BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NJW 2011, 3180 – Rz. 18 ff.; Hützen, ZInsO, 2012, 1801 (1804).
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Massenentlassungsrecht
Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzen könne. Das Argument, nur der örtliche Betriebsrat kenne die örtlichen arbeitsmarktpolitischen Besonderheiten und könne diese in seiner Stellungnahme einbringen, überzeuge nicht. Erforderliche Kenntnisse des Gesamtbetriebsrats über die betrieblichen und regionalen Verhältnisse seien dadurch gewährleistet, dass nach Maßgabe des § 47 Abs. 2 Satz 1 BetrVG jeder örtliche Betriebsrat in den Gesamtbetriebsrat mindestens ein Mitglied entsende.1 Auch die gebotene richtlinienkonforme Auslegung des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG anhand des Wortlauts und des Zwecks der ME-RL gebe kein anderes Ergebnis vor, weil die ME-RL selbst keinerlei Regelung dahingehend treffe, welche Arbeitnehmervertretung zu beteiligen sei.2 Dieser Auffassung des BAG ist zuzustimmen. Es spricht vielmehr sogar einiges dafür, dass bei einer betriebsübergreifenden Maßnahme regelmäßig der Gesamtbetriebsrat für die Konsultation nach der ME-RL zuständig ist. Die ME-RL macht u.a. in ihrem Art. 2 Abs. 2 klar, dass die zuständige Arbeitnehmervertretung die Möglichkeit haben soll, „Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken“. Dies setzt aber voraus, dass sie ein Gegenüber zum Entscheidungsträger auf Unternehmensebene ist. Dieses „Gegenüber“ ist jedenfalls bei einer betriebsübergreifenden Maßnahme der Gesamtbetriebsrat. Aus europarechtlicher Sicht dürfte es daher geradezu sinnvoll sein, bei einer in die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats fallenden Betriebsänderung den Gesamtbetriebsrat zu konsultieren. Gleiches gilt bei einer unternehmensübergreifenden Maßnahme für den Konzernbetriebsrat. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Massenentlassungsanzeige ggf. bei einer „lokalen“ Agentur für Arbeit und nicht am Unternehmenssitz zu erstatten ist. 53
In der Rs. Mono Car Styling hat der EuGH die Massenentlassungsrichtlinie dahin gehend ausgelegt, dass das Recht auf Anhörung und Unterrichtung der Arbeitnehmervertretung als solcher zusteht, nicht aber den einzelnen Arbeitnehmern.3 Ein „Ersatzanhörungsrecht“ für Arbeitnehmer besteht daher nicht. Daraus folgt zugleich, dass das Konsultationsverfahren europarechtlich hinfällig wird, wenn in einem Unternehmen/Betrieb keine Arbeitnehmervertretung im Sinne des nationalen Rechts besteht.4
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Vor diesem Hintergrund erweist es sich als europarechtskonform, dass das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG nicht durchzuführen ist, wenn kein Betriebsrat existiert.5 Problematischer wäre die Frage nach der europarechtskonformen Umsetzung der ME-RL für Betriebe mit weniger als fünf ständigen wahlberechtigten und drei wählbaren Mitarbeitern, in denen gem. § 1 Abs. 1 BetrVG kein Betriebsrat gewählt werden kann. Diesen Arbeitnehmern bleibt nicht die Möglichkeit, durch die Wahl eines Arbeitnehmervertretungsgremiums die Konsultationsrechte der ME-RL „in Anspruch zu nehmen“. Der sachliche Anwendungsbereich der ME-RL umfasst aber gem. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Nr. i nur Entlassungen ab mindestens 10 Arbeitnehmern in einem Zeitraum von 30 Tagen, oder nach Nr. ii ab mindestens 20 Arbeitnehmern innerhalb von 90 Tagen. Damit können in Betrieben mit weniger als fünf Arbeitnehmern ohnehin keine Massenentlassungen i.S.d. ME-RL durchgeführt werden, so dass sich diese Frage im Ergebnis nicht stellt. 1 BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NJW 2011, 3180 – Rz. 28. 2 BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NJW 2011, 3180 – Rz. 28. 3 EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 – Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 – Rz. 38, 49 = EAS Teil C RL 98/59/EG Art. 2 Nr. 1; zusammenfassend Forst, NZA 2010, 144 (145). 4 Vgl. Wißmann, RdA 1998, 221 (224), mit dem Argument, dass die Richtlinie im Grundsatz dem nationalen Recht die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter überlässt. 5 Moll/Eckhoff, § 50 Rz. 59; Wißmann, RdA 1998, 221 (224).
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Konsultationsverfahren
Rz. 58 § 10
Die ME-RL sieht in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 zusätzlich die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vor, eine Regelung zu schaffen, die es den Arbeitnehmervertretern im Rahmen des Konsultationsverfahrens ermöglicht, Sachverständige nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken hinzuzuziehen.
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Das Recht des Betriebsrates, Sachverständige hinzuzuziehen, besteht gem. § 80 Abs. 2 BetrVG nach näherer Vereinbarung mit dem Arbeitgeber, „soweit dies zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist.“ Da die Richtlinie die Möglichkeit der Hinzuziehung von Sachverständigen ohnehin den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken überlässt, bestehen insoweit keine europarechtlichen Bedenken.
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2. Inhaltliche Anforderungen an die Konsultation Gemäß Art. 2 Abs. 2 ME-RL erstrecken sich die Konsultationen mit der Arbeitnehmervertretung zumindest darauf, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern. Der EuGH hat die Umsetzung der ME-RL durch das Vereinigte Königreich für richtlinienwidrig erklärt, nach welcher der Arbeitgeber das Vorbringen von Arbeitnehmervertretern lediglich „zu berücksichtigen, dazu Stellung zu nehmen und im Falle der Ablehnung dies zu begründen“ hatte.1 Die Richtlinie verpflichte den Arbeitgeber zu Konsultationen mit dem Ziel, zu einer Einigung mit der Arbeitnehmervertretung zu gelangen und die Beratungen insbesondere auf die Möglichkeit zu erstrecken, Massenentlassungen zu vermeiden, einzuschränken sowie deren Folgen zu mildern.2 Dies verlangt indes keine wochenlangen Verhandlungen über die beabsichtigte Massenentlassung. Aus Sicht von Art. 2 Abs. 1 ME-RL kann sogar ein konstruktiv geführtes Gespräch genügen, wenn der Arbeitnehmervertretung alle erforderlichen Auskünfte erteilt worden sind. Auch verlangt der Konsultationsanspruch der Arbeitnehmervertretung nicht, dass der Arbeitgeber seine bisherige Planung, eine Massenentlassung vorzunehmen, tatsächlich noch ernsthaft zur Disposition stellt; das umsetzende nationale Gesetz muss dafür nur Möglichkeiten eröffnen. Es genügt, wenn der Arbeitgeber die Vorschläge der Arbeitnehmervertretung zur Kenntnis nimmt und in den finalen Entscheidungsprozess einbezieht, wobei es nicht erforderlich ist, dass sich seine finale Entscheidung auch nur minimal von der Planung vor der Konsultation unterscheidet.
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Keine Bedenken bestehen daher hinsichtlich der Umsetzung in § 17 Abs. 2 Satz 1 und 2 KSchG, wonach der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Entlassungen beabsichtigt, dem Betriebsrat rechtzeitig zweckdienliche Auskünfte zu erteilen hat (Satz 1), um insbesondere die Möglichkeit zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern (Satz 2). In Literatur und Rechtsprechung wird „Beratung“ dahin gehend ausgelegt, dass sie mehr als eine schlichte Anhörung ist. Anders als beim Interessenausgleich nach § 111 BetrVG besteht aber keine Einigungspflicht der Parteien.3 Der Arbeitgeber genügt nach der Rechtsprechung des BAG seiner Pflicht, wenn er dem Betriebsrat Verhandlun-
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1 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 34 ff. = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 2 Nr. 1. 2 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 36 = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 2 Nr. 1. 3 BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, BB 2007, 156; v. 21.5.2008 – 8 AZR 84/07, NZA 2008, 753 (757); Grau/Sittard, BB 2011, 1845 (1846); Krieger/Ludwig, NZA 2010, 919 (922); Reinhard, RdA 2007, 207 (213).
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§ 10
Rz. 59
Massenentlassungsrecht
gen anbietet und, sofern der Betriebsrat darauf eingeht, auch „Taten folgen lässt“.1 Wie bereits dargestellt, bedarf es aber weder aus europarechtlichem Blickwinkel noch gem. § 17 Abs. 2 KSchG intensiven „Verhandlungen“. In der Praxis wird das europarechtlich zulässige, einmalig stattfindende „Konsultationsgespräch“ indes selten vorkommen, weil das typischerweise parallel stattfindende Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren weitreichendere Einigungsbemühungen verlangt (insbesondere die Einschaltung der Einigungsstelle). 59
Aus der europarechtlichen Vorgabe, dass ein konstruktiver Einigungsversuch genügt, ergibt sich darüber hinaus jedoch auch, dass der Arbeitgeber dem „Beratungsgebot“ auch nachkommt, wenn sich der Betriebsrat trotz ernsthafter Angebote auf keine Verhandlung einlässt. Die ME-RL verlangt vom Arbeitgeber nicht mehr als die Ermöglichung eines Konsultationsverfahrens. Wenn der Arbeitgeber alles seinerseits Erforderliche getan hat (also die nach der ME-RL und § 17 Abs. 2 KSchG erforderlichen Informationen übermittelt hat), darf die Arbeitnehmervertretung nicht die Möglichkeit haben, durch schlichte Verweigerung den weiteren Fortgang des Massenentlassungsverfahrens zu verhindern. Jede andere Betrachtung wäre eine Einladung zum – auch europarechtlich nicht geduldeten – Rechtsmissbrauch.2
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Daher steht entgegen teilweise anderslautender Stimmen3 § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG, wonach die Anzeige bei der Agentur für Arbeit auch ohne Stellungnahme des Betriebsrates wirksam ist, wenn dieser unterrichtet wurde, aber binnen zwei Wochen nicht Stellung genommen hat, mit der ME-RL in Einklang. Es stimmt zwar, dass die ME-RL kein Äquivalent zu § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG enthält, jedoch fordert die ME-RL selbst auch nicht die Beifügung einer Stellungnahme des Betriebsrats bei der Anzeige an die Behörde. Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 Satz 3 ME-RL muss die Anzeige „alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gem. Art. 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.“ Eine Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung wird nicht gefordert. Zwar kann eine Stellungnahme die Übermittlung von „zweckdienlichen Angaben über die Konsultation der Arbeitnehmervertreter gem. Art. 2“ darstellen, aber eine unionsrechtliche Verpflichtung zur Beifügung einer Stellungnahme abzuleiten, ginge zu weit. Wenn die ME-RL jedoch schon nicht zur Übersendung einer Stellungnahme verpflichtet, dann kann die Ausnahmevorschrift hierzu nicht europarechtswidrig sein. Die Europarechtskonformität kann allenfalls unter Bezugnahme auf den Beschluss des BVerfG v. 25.2.20104 bezweifelt werden, wenn damit eine Möglichkeit geschaffen würde, die Massenentlassungsanzeige zu stellen, bevor das Konsultationsverfahren i.S.d. ME-RL als abgeschlossen anzusehen ist. Dies ist jedoch, wie eben ausgeführt, nicht der Fall, da der Arbeitgeber bereits mit dem erfolglosen Angebot zur Durchführung der Konsultation seine Verpflichtungen aus der ME-RL erfüllt hat. Einen weitergehenden Schutz gebietet die ME-RL hierzu nicht.
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Man könnte weiterhin fragen, ob die Regelung des § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG, wonach ein Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrates 1 So auch BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267 Rz. 70; Hützen, ZInsO 2012, 1805. 2 Vgl. allgemein zum Rechtsmissbrauchsverbot im Europarecht: Grabitz/Hilf/Nettesheim/Randelzhofer/Forsthoff, Vorb. Art. 39–55 EGV Rz. 122. 3 ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 32. 4 BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268.
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Konsultationsverfahren
Rz. 65 § 10
ersetzt, richtlinienkonform ist, da die ME-RL eine Ersetzung der Stellungnahme durch ein anderes betriebsverfassungsrechtliches Instrument nicht kennt. Aus den eben genannten Gründen ist jedoch auch diese Ausnahmevorschrift zur Übersendung der Stellungnahme des Betriebsrats richtlinienkonform. Auch die strenge Rechtsprechung des BAG1 zu den Anforderungen an eine Stellungnahme des Betriebsrats zur geplanten Massenentlassung ist nicht europarechtlich determiniert, da die ME-RL ohne jede Stellungnahme auskommt.
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Um die Möglichkeit zu haben, die geplante Massenentlassung zu vermeiden oder zu beschränken, sollen die Arbeitnehmervertreter gem. Art. 2 Abs. 3 ME-RL konstruktive Vorschläge unterbreiten können. Dazu müssen ihnen vom Arbeitgeber zweckdienliche Informationen erteilt werden. Dies sind nach Abs. 2 Buchst. b ME-RL mindestens: die Gründe der geplanten Entlassung (Nr. i); die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer (Nr. ii); die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer (Nr. iii); der Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen (Nr. iv); die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/ oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen (Nr. v) sowie die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken ergeben (Nr. vi).
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Der Inhalt der Konsultationspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG orientiert sich eng am Katalog des Art. 2 Abs. 2 ME-RL. Allerdings spricht Art. 2 Abs. 3 Buchst. b Nr. ii, und iii ME-RL von „Kategorien“ der zu entlassenden Arbeitnehmer, § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 KSchG hingegen von „Berufsgruppen“ der Arbeitnehmer. Beide Merkmale lassen sich aber gleichermaßen auslegen. Es bestehen daher im Ergebnis keine Bedenken hinsichtlich der Richtlinienkonformität.
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Diskutiert wird, ob sich durch die UuA-RL weitere – über die Vorgaben der ME-RL hinausgehende – Anforderungen an den Inhalt der Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter ergeben. Die wohl überwiegende Ansicht geht wegen dem Verweis von Art. 4 Abs. 2 Buchst. c UuA-RL davon aus, dass die beiden Richtlinien nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers nebeneinander Anwendung finden sollen, da diese explizite Verweisung neben die Regelung des Art. 9 UuA-RL tritt, wonach die spezifischen Informations- und Konsultationsverfahren der ME-RL unberührt bleiben sollen.2 Weiterhin umstritten ist, ob sich durch das Nebeneinander der UuA-RL und der ME-RL auch tatsächlich inhaltliche Änderungen ergeben. Teile des Schrifttums meinen, dass der Arbeitgeber zusätzlich über Veränderungen in der Arbeitsorganisation anzuhören und zu unterrichten wäre.3 Demgegenüber wird vertreten, Art. 4 Abs. 2 Buchst. c UuA-RL sehe keine zusätzlichen inhaltlichen Anforderungen im Vergleich zur ME-RL vor.4 Letztlich erscheint es nicht überzeugend, die UuA-RL neben der ME-RL anzuwenden, weil auch der europäische Gesetzgeber in der ME-RL eine (abschließende) Spezialregelung für Massenentlassungen gesehen hat. Jedenfalls hätte ein Verstoß gegen etwaige weitergehende Unterrichtungspflichten nach der UuA-RL keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des Konsultationsverfahrens nach der ME-RL.
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1 Vgl. u.a. BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029; s. dazu Sittard/Knoll, BB 2013, 2037. 2 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 330; Gerdom, S. 145; Bonin, AuR 2004, 321; Karthaus, AuR 2007, 114; a.A. Ritter, S. 214. 3 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 330. 4 Bonin, AuR 2004, 321.
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Rz. 66
Massenentlassungsrecht
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Die Richtlinie bestimmt nicht, ob den Arbeitnehmervertretern das Recht eingeräumt werden kann, auf Auskünfte aus dem Katalog des Art. 2 Abs. 3 ME-RL zu verzichten. Für ein solches Verzichtsrecht spricht aber, dass die Arbeitnehmervertreter nach der ME-RL „konstruktive Vorschläge unterbreiten können“. Wenn die Arbeitnehmervertretung solche Vorschläge bereits auf Grundlage der ihr zur Verfügung gestellten Informationen (oder gar ohne jegliche Information) unterbreiten kann, muss sie auf deren Erhalt auch verzichten können. Es gibt keinen Grund, warum der Katalog des Art. 2 Abs. 3 ME-RL zwingend „abgearbeitet“ werden muss.
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Auch für das deutsche Recht wird richtigerweise vertreten, dass der Betriebsrat als „Herr des Verfahrens“ das Recht haben muss, auf Informationen zu verzichten, wenn diese für ihn nicht weiter erforderlich sind, um die Beratungen mit dem Arbeitgeber abzuschließen.1 Diese Annahme stützt indirekt auch das BAG, da es dem Betriebsrat die Möglichkeit einräumt, zu erklären, dass er auf eine Stellungnahme verzichten wolle.2 Im Umkehrschluss muss also auch auf die der Stellungnahme und Konsultation zugrunde liegenden Auskünfte verzichtet werden können. Es ist dem Arbeitgeber jedoch nicht anzuraten, Informationen nicht zu erteilen, da er ansonsten die Möglichkeit aus der Hand geben würde, sich gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG auf die Zwei-Wochen-Frist zu berufen, weil vorher eine erneute – vollständige – Unterrichtung erfolgen müsste. 3. Formelle Anforderungen an die Konsultation
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Die Erteilung der zweckdienlicher Auskünfte an die Arbeitnehmervertreter muss gem. Art. 2 Abs. 3 UAbs. 1 Buchst. b ME-RL schriftlich erfolgen. Ferner ist gem. Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 ME-RL der zuständigen Behörde schriftlich eine Abschrift der in UAbs. 1 Buchst. b Nr. i bis v genannten Bestandteile dieser Mitteilung zu übermitteln. Die ME-RL konkretisiert nicht, welche Anforderungen an die Schriftform gestellt werden. Mangels europarechtlicher Regelung ist davon auszugehen, dass insoweit den Mitgliedstaaten ein Spielraum bei der Umsetzung zusteht.
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§ 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1–6 KSchG setzt die Verpflichtung zur schriftlichen Übermittlung der zweckdienlichen Informationen an den Betriebsrat um. Gleiches gilt für § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, wonach eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat mit den Informationen nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1-5 KSchG an die Agentur für Arbeit übermittelt werden muss.
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Das BAG hat jüngst offen gelassen, ob die Unterrichtung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG unter Wahrung der strengen Schriftform des § 126 Abs. 1 BGB erfolgen muss;3 das Unterrichtungsdokument also eigenhändig unterzeichnet werden muss. Aus europarechtlicher Sicht ist ein solch strenges Verständnis nicht erforderlich. Es steht aber im Ermessen des nationalen Gesetzgebers, „das Maß der Schriftform“ festzulegen. Daher kann unter „schriftlich“ i.S.d. ME-RL auch die Textform des § 126b BGB subsumiert werden. Solange der deutsche Gesetzgeber aber eine schriftliche Unterrichtung verlangt, ist Arbeitgebern dringend zu empfehlen, die erforderlichen Informationen im Einklang mit § 126 bzw. § 126a BGB (elektronische Form)4 zu übermitteln.5 Das BAG hat in diesem Zusammenhang 1 Grau/Sittard, BB 2011, 1845 (1846). 2 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029. 3 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32; vgl. dazu ausführlich Sittard/Knoll, BB 2013, 2037 (2039 ff.). 4 APS/Moll, § 17 Anzeigepflicht Rz. 70; Krieger/Ludwig, NZA 2010, 919 (922). 5 Ginal/Raif, ArbR 2013, 94.
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Naber/Sittard
Konsultationsverfahren
Rz. 74 § 10
entschieden, dass ein etwaiger Verstoß gegen § 126 Abs. 1 BGB wegen der Zuleitung eines nicht unterzeichneten Dokuments durch eine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats geheilt wird.1 Diese – überzeugende – Auffassung ist allerdings nicht durch Rechtsprechung des EuGH abgesichert, obwohl sie u.E. auch europarechtlich haltbar ist. 4. Zeitlicher Ablauf der Konsultation Das Verfahren der Konsultation knüpft mit seinen verschiedenen Phasen an das tatbestandliche Vorliegen einer „beabsichtigten“ Entlassung nach Art. 2 bis 4 ME-RL an.
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Was unter „beabsichtigten“ Entlassungen zu verstehen ist, hat sich – wie bereits dargestellt – als auslegungsbedürftig erwiesen (vgl. Rz. 31 ff.). Seit der Rs. Junk steht fest, dass unter Entlassung der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist und damit von einer „beabsichtigten“ Entlassung nur die Rede sein kann, wenn die Entscheidung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht endgültig getroffen worden ist.2
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In § 17 KSchG knüpft die Konsultationspflicht terminologisch an eine „beabsichtigte Entlassung“ an. Infolge der Rs. Junk hat das BAG seine ehemalige Rechtsprechung aufgegeben und entschieden, dass Entlassung i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG den Ausspruch der Kündigung (bzw. den Abschluss eines Aufhebungsvertrages) meint.3 Die Konsultationspflicht beginnt demnach, wenn die Zahl der geplanten Kündigungserklärungen innerhalb von 30 Tagen einen der in § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 KSchG geregelten Schwellenwerte übersteigt.4
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In der Rs. Akavan Keskusliitto hat der EuGH weiter ausdifferenziert, wann genau die Konsultation der Arbeitnehmervertreter zu erfolgen hat, d.h. wann eine Entlassung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 ME-RL „beabsichtigt“ ist.5 Der EuGH hat sich dabei für einen sehr frühen Informationszeitpunkt entschieden.6 Die Konsultation müsse zwingend vor der Entscheidung des Arbeitgebers stattfinden, wobei die Konsultationspflicht entstehe, „wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt“.7 Diese recht pauschale Aussage wird vom EuGH noch ein wenig präzisiert. Danach könne keinesfalls erst der „Erlass einer strategischen oder betriebswirtschaftlichen Entscheidung“, die die Massenentlassungen erforderlich macht, abgewartet werden, da nach dieser Entscheidung das Konsultationsverfahren, das Kündigungen gerade verhindern soll, leer liefe.8 Eine Konsultation, die erst nach der getroffenen Entscheidung erfolge, könne sich nicht mehr auf die Prüfung von Alternativen erstrecken. Eine Konsultationspflicht soll aber noch nicht bestehen, wenn eine Entscheidung, von der angenommen werde, dass sie zu Massenentlassungen führe, „nur beabsichtigt“ sei und die Massenentlassung „daher
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1 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32. 2 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885 – Rz. 36 = NZA 2005, 213. 3 BAG v. 23.3.2006 – 3 AZR 343/05, NJW 2006, 3161 (3163); kritisch hinsichtlich der Frage, ob eine solche richtlinienkonforme Auslegung überzeugend ist Dzida/Hohenstatt, DB 2006, 1897 (1898). 4 Dzida/Hohenstatt, DB 2006, 1897 (1897); ausführlich für die verschiedenen Beendigungstatbestände Reinhard, RdA 2007, 207. 5 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 = NZA 2009, 1083. 6 Vgl. Grau/Sittard, BB 2011, 1845. 7 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 41 = NZA 2009, 1083. 8 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 47 = NZA 2009, 1083.
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§ 10
Rz. 75
Massenentlassungsrecht
eher unwahrscheinlich und die einschlägigen Faktoren für die Konsultation nicht bekannt“ seien.1 Semantisch distanziert sich der EuGH damit von Art. 2 Abs. 1 ME-RL, wonach ein „Beabsichtigen“ gerade ausreichend ist. Dies hat indes praktisch keine Bedeutung, da die Unterrichtung nach dem EuGH ja gerade vor der strategischen Entscheidung erfolgen soll, also zwingend in einem Zeitraum, zu dem die Entscheidung erst „beabsichtigt“, aber noch nicht beschlossen ist. Entscheidend für den richtigen Zeitpunkt dürfte vielmehr die Äußerung des EuGH sein, dass eine Konsultation nicht erforderlich ist, wenn eine Massenentlassung „eher unwahrscheinlich“ und „die einschlägigen Faktoren für die Konsultation“ noch nicht bekannt sind. Mit einschlägigen Faktoren meint der Gerichtshof den Inhalt der Unterrichtung, also u.a. die Zahl und Kategorien der zu entlassenden Mitarbeiter sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen. Allerdings hat der Gerichtshof zugleich klargestellt, dass es für die Einleitung des Konsultationsverfahrens nicht erforderlich ist, dass alle in Art. 2 Abs. 3 ME-RL (entspricht der Aufzählung in § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 6 KSchG) genannten Informationen bereits gegeben werden können. Es sei möglich, die bei Beginn des Verfahrens noch nicht feststehenden Informationen noch bis zum Abschluss des Verfahrens zu erteilen.2 75
Von praktischer Bedeutung ist auch, dass sich der EuGH für Konzernsachverhalte ganz ausdrücklich über den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 ME-RL hinwegsetzt und auf Art. 2 Abs. 4 ME-RL Bezug nimmt. Dort heißt es, dass die Verpflichtungen gegenüber der Arbeitnehmervertretung unabhängig davon gelten, ob die Entscheidungen vom Arbeitgeber selbst oder von einem beherrschenden Unternehmen getroffen wurden. Zugleich weist der EuGH aber darauf hin, dass die Konsultationspflicht allein den (Vertrags-)Arbeitgeber trifft.3 Deshalb, so der EuGH, sei eine Information an die Arbeitnehmervertreter auch erst möglich, wenn feststehe, welches Tochterunternehmen von den Beschlüssen der Konzernmutter betroffen sei.4 Vorher müsse eine Information nicht erfolgen.
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Daraus kann man den Schluss ziehen, dass abstrakte Planungen einer Massenentlassung auf der Ebene der Muttergesellschaft noch keine Konsultationspflicht auslösen, solange sich die Konzernmutter noch die Entscheidung offen hält, welches Tochterunternehmen betroffen sein wird. Wenn eine Information der Arbeitnehmervertretung noch herausgezögert werden soll, empfiehlt es sich in Konzernverhältnissen aus Arbeitgebersicht daher, die Entscheidungsbefugnisse möglichst lange auf der Ebene der Konzernmutter zu halten und die betroffenen Tochtergesellschaften noch nicht abschließend festzulegen.5 a) Rechtzeitige Übermittlung von Angaben
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Art. 2 Abs. 3 ME-RL verpflichtet den Arbeitgeber, den Arbeitnehmervertretern rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen zweckdienliche Auskünfte zu erteilen. Das Entstehen der Konsultationspflicht ist aber – wie gerade dargestellt – nach der Rechtsprechung des EuGH nicht davon abhängig, ob der Arbeitgeber bereits in der Lage ist, alle 1 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan 2009, 1083. 2 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan 2009, 1083. 3 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan 2009, 1083. 4 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan 2009, 1083. 5 Ausführlich Grau/Sittard, BB 2011, 1845.
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Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 46 = NZA Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 53 = NZA Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 57 = NZA Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 63 = NZA
Konsultationsverfahren
Rz. 83 § 10
Auskünfte zu erteilen.1 Eine rechtzeitige Übermittlung der Angaben liegt daher vor, wenn die Auskünfte im Verlaufe des Verfahrens vervollständigt werden, und zwar sobald diese vorliegen.2 § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG verpflichtet den Arbeitgeber zur rechtzeitigen Übermittlung der zweckdienlichen Angaben (vgl. Rz. 60, 98) an die Arbeitnehmervertreter. Das BAG vertritt mit Verweis auf die Rs. Akavan Keskusliitto ebenfalls, dass die „Auskünfte im Verlauf und nicht unbedingt im Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultationen zu erteilen sind.“3
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b) Übermittlung einer Abschrift an zuständige Behörde Der Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 ME-RL verpflichtet den Arbeitgeber dazu, der zuständigen Behörde eine Abschrift der Mitteilung an die Arbeitnehmervertreter zu übermitteln. Diese Abschrift muss die Informationen der in Art. 2 Abs. 3 UAbs. 1 Buchst. b (i)-( v) ME-RL aufgeführten Bestandteile enthalten. Das sind die Angaben, die auch den Arbeitnehmervertretern übermittelt werden, aber ohne die Angabe über die Berechnungsmethode etwaiger Abfindungen.
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§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG setzt dies richtlinienkonform um, indem der Arbeitgeber verpflichtet ist, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten. Auch übernimmt § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 KSchG die von der Richtlinie vorgeschriebenen Pflichtangaben.
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c) Zeitliche Reihenfolge im Verhältnis Konsultationsverfahren und Massenentlassungsanzeige Der Richtlinie nicht unmittelbar zu entnehmen ist, ob im Verhältnis des Konsultationsverfahrens nach Art. 2 ME-RL zur Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 ME-RL eine zwingende Reihenfolge dahingehend einzuhalten ist, dass das Konsultationsverfahren vor Stellung der Anzeige abgeschlossen sein muss. Aus Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 ME-RL ergibt sich aber, dass der Arbeitgeber der zuständigen Behörde die schriftliche Konsultationsunterlage übermitteln muss. Daraus folgt zugleich, dass zumindest diese (Erst-)Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter stattfinden muss, bevor eine Massenentlassungsanzeige erstattet werden kann (vgl. Rz. 134).
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d) Unterbreitung von Vorschlägen durch Arbeitnehmervertreter Art. 2 Abs. 2 ME-RL besagt, dass sich die Konsultationen zumindest auf die Möglichkeit erstrecken sollen, „Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.“
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Aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG ergibt sich, dass Arbeitgeber und Betriebsrat über die Möglichkeit zu beraten haben, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. Eine solche Beratung kann nach deutschem Recht erst als abgeschlossen gelten, wenn der Betriebsrat Stellung genommen hat oder eine Stellungnahme ablehnt, was auch durch Verstreichenlassen der Zwei-Wo-
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1 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 = NZA 2009, 1083. 2 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Akavan Keskusliitto, Slg. 2009, I-8163 – Rz. 53 = NZA 2009, 1083. 3 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32 – Rz. 53.
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§ 10
Rz. 84
Massenentlassungsrecht
chen-Frist geschehen kann.1 Eine (abschließende) Stellungnahme des Betriebsrats ist nicht zwingend erforderlich, da – wie dargestellt – die Richtlinie das Erfordernis einer (abschließenden) Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung gar nicht kennt. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 ME-RL regelt nur, dass die Anzeige zweckdienliche Angaben über die Konsultation der Arbeitnehmervertreter enthalten muss. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 ME-RL regelt, dass die Arbeitnehmervertreter etwaige Bemerkungen an die zuständige Behörde richten können müssen. e) Verhältnis zu anderen Beteiligungsverfahren nach nationalem Recht 84
Das europäische Recht regelt das Verhältnis der ME-RL zu anderen Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nach nationalem Recht nicht.
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In einer Massenentlassungen dürfte regelmäßig eine wirtschaftliche Angelegenheit nach § 106 Abs. 3 BetrVG liegen,2 womit bei Unternehmen mit i.d.R. mehr als 100 Arbeitnehmern ein bestehender Wirtschaftsausschuss rechtzeitig und umfassend über die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens zu unterrichten ist und ihm „die sich daraus ergebenen Auswirkungen auf die Personalplanung darzustellen“ sind. Rechtzeitig ist die Auskunftserteilung, wenn sich die wirtschaftliche Angelegenheit bereits konkretisiert hat, aber noch nicht umgesetzt wurde.3 Damit fällt die durch beabsichtigte Massenentlassungen bestehende Beratungspflicht gegenüber dem Wirtschaftsausschuss zeitlich in den Verlauf des Konsultationsverfahrens nach § 17 KSchG.
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Massenentlassungen nach § 17 KSchG stellen sich bei Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 Mitarbeitern regelmäßig als Betriebsänderungen i.S.d. §§ 111 ff. BetrVG dar.
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Die Konsultation des Betriebsrates nach § 17 KSchG kann mit der Konsultation des Wirtschaftsausschusses und des zuständigen Betriebsrates hinsichtlich der Betriebsänderung nach §§ 111 ff. BetrVG kombiniert werden, wobei geprüft werden muss, ob für das Verfahren nach § 17 KSchG einerseits und §§ 111 ff. BetrVG andererseits das gleiche Gremium zuständig ist.4 Zu beachten ist bei dieser Handhabung in jedem Fall, dass es sich hierbei um unterschiedliche Verfahren handelt, die grundsätzlich getrennt voneinander durchzuführen sind.5 Daraus folgt aber auch, dass das Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren aus europarechtlicher Sicht nicht abgeschlossen sein muss, wenn die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Anzeige erstattet wird.6 Indes muss hier nationales Recht berücksichtigt werden: Bevor das Interessenausgleichsverfahren – ggf. nach Anrufung der Einigungsstelle – nicht abgeschlossen ist, darf der Arbeitgeber die interessenausgleichspflichtige Maßnahme nicht umsetzen, ohne sich der Gefahr von Nachteilsausgleichsansprüchen gem. § 113 BetrVG bzw. einer einstweiligen Verfügung auf 1 2 3 4 5 6
BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267. Lembke/Oberwinter, NJW 2007, 721 (724). Maiß/Röhrbohrn, ArbR 2011, 341. Lembke/Oberwinter, NJW 2007, 721 (724). Reinhard, RdA 2007, 207 (213). BAG v. 21.5.2008 – 8 AZR 84/07, NZA 2008, 753 Rz. 48; Grau/Sittard, BB 2011, 1845 (1848); hinfällig wurde damit auch die 2006 vom ArbG Berlin dem EuGH vorgelegte – aber dann wegen Prozessvergleichs zurückgezogene – Vorlagefrage, ob nach Scheitern der Beratungen und Verhandlungen mit dem Betriebsrat und anschließender Anrufung einer Einigungsstelle nach § 112 Abs. 4 BetrVG auch die Verhandlungen mit der Einigungsstelle abgeschlossen sein müssten, damit das Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG abgeschlossen sei, Vorlagebeschluss 21.2.2006 – 79 Ca 22399/05, zurückgenommen durch 27 Ca 8899/06.
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Konsultationsverfahren
Rz. 90 § 10
Unterlassung auszusetzen.1 Vorbereitungshandlungen lösen jedoch noch keine Nachteilsausgleichspflicht aus,2 da die Verhandlungen zum Interessenausgleich noch ergebnisoffen geführt werden können und damit ihren Zweck erreichen.3 Fraglich ist jedoch, ob die Einreichung der Massenentlassungsanzeige noch als Vorbereitung oder bereits als Durchführung der Betriebsänderung anzusehen ist. Richtigerweise wird man erst den Ausspruch von Kündigungen (bzw. den Abschluss von arbeitgeberseitig veranlassten Aufhebungsverträgen) als Umsetzung einer Betriebsänderung ansehen können, da allein die Erstattung der Massenentlassungsanzeige noch keine vollendeten Tatsachen schafft.
1 2 3 4 5 6 7
Im Ergebnis empfiehlt es sich aus Arbeitgebersicht, darauf zu achten, dass sowohl das Konsultationsverfahren als auch das Interessenausgleichsverfahren erkennbar und transparent durchgeführt werden. Dabei darf eine Information, die der Arbeitgeber dem Betriebsrat erteilt, durchaus in Hinblick auf beide Verfahren erteilt werden. Dies sollte gegenüber dem Betriebsrat aber klar kommuniziert werden und es muss insgesamt hinreichend klargestellt sein, dass der Arbeitgeber – wenn auch das Interessenausgleichsverfahren faktisch im Mittelpunkt stehen wird – beide Verfahren durchführt.4
88
Wurde innerhalb eines Interessenausgleichs ausdrücklich erklärt, dass der Betriebsrat zur geplanten Massenentlassung i.S.d. § 17 KSchG abschließend Stellung genommen hat, so lässt das BAG dieses Dokument auch für § 17 Abs. 3 KSchG ausreichen,5 wonach die Stellungnahme des Betriebsrates der Agentur für Arbeit zuzusenden ist. Grundsätzlich ersetzt freilich gem. §§ 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG, 125 Abs. 2 InsO nur ein Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahme nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Dies steht aber nicht einem Vorgehen entgegen, wonach die Stellungnahme des Betriebsrats selbst Bestandteil eines Interessenausgleichs sein kann. Häufig findet man in der Praxis Formulierungen in Interessenausgleichen, wonach auch die Massenentlassung mit dem Betriebsrat erörtert wurde, dieser aber keine Möglichkeiten sieht, die Massenentlassung zu verhindern und daher von einer weiteren Stellungnahme absieht. Europarechtlich bestehen hiergegen keine Bedenken. Empfehlenswert dürfte es trotzdem sein, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat bittet, diese Stellungnahme noch einmal separat abzugeben, damit sie der Massenentlassungsanzeige beigefügt werden kann.
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Massenentlassungen können sich zudem aus personellen Einzelmaßnahmen zusammensetzen,6 die dem Betriebsrat nach § 102 BetrVG anzuzeigen sind. Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Die Anhörung nach § 102 BetrVG sollte erst nach dem Abschluss des Konsultationsverfahrens erfolgen. Anderenfalls zeigt der Arbeitgeber, dass er – entgegen dem Sinn der Konsultation – die Entscheidung über die Kündigung bereits getroffen hat,7 da durch die Anhörung nach § 102 BetrVG deutlich wird, dass die Entscheidung, ein konkretes Arbeitsverhältnis zu kündigen, gefallen ist.
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GK-BetrVG/Oetker, § 113 BetrVG Rz. 36. GK-BetrVG/Oetker, § 113 BetrVG Rz. 41. BAG v. 4.6.2003 – 10 AZR 586/02, NZA 2003, 1087. BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, NJW 2012, 2376 – Rz. 34. BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, NZA 2012, 1058 – Rz. 19. Krieger/Ludwig, NZA 2010, 919 (919). Grau/Sittard, BB 2011, 1845 (1848); Ginal/Raif, ArbR 2013, 94.
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Rz. 91
Massenentlassungsrecht
5. Rechtsfolgen bei Fehlern im Konsultationsverfahren 91
Um zu gewährleisten, dass die Verpflichtungen der Richtlinie von den Arbeitgebern eingehalten werden, sind die Mitgliedstaaten gem. Art. 6 ME-RL verpflichtet, gerichtliche oder administrative Verfahren einzurichten, mit denen Arbeitnehmer oder Arbeitnehmervertreter ihre Rechte geltend machen können.
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Mit der Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG sieht das deutsche Recht eine solche Möglichkeit zugunsten der Arbeitnehmer vor. Schon diese Möglichkeit genügt nach europäischem Recht, so dass es auf mögliche Rechte des Betriebsrats, die dieser im Wege des Beschlussverfahrens geltend machen könnte, für die Frage der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung nicht ankommt.
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Konkrete Sanktionen bei fehlerhafter Durchführung des Konsultationsverfahrens sieht die ME-RL nicht vor. Aus Art. 6 der ME-RL ergibt sich, dass die Regelung der Rechtsfolgen dem nationalen Recht unterliegen soll. Für einen solchen Verweis gilt grundsätzlich, dass die erlassenen nationalen Normen ihrerseits nicht die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Regelung aushöhlen dürfen (effet utile).1 Damit dies gewährleistet werden kann, muss die Sanktion prozessual und auch materiell im Einklang mit den nationalen Normen für vergleichbare Verstöße stehen, außerdem muss sie wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein (vgl. § 1 Rz. 120 ff.).2 In diesem Zusammenhang hat der EuGH entschieden, dass die Gesetzeslage im Vereinigten Königreich richtlinienwidrig sei. Dort traten Entschädigungen für Arbeitnehmer wegen Verstoßes gegen die Verpflichtung zur Konsultation und Information gegenüber den Arbeitnehmervertretern ganz oder teilweise an die Stelle der vom Arbeitgeber dem Arbeitnehmer schon aufgrund des mit ihm geschlossenen Arbeitsvertrages oder wegen Bruchs dieses Vertrages geschuldeten Beträge. Denn auf diese Weise verliere die Richtlinie „weitgehend ihre praktische Wirksamkeit und ihren abschreckenden Charakter“.3
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§ 17 KSchG regelt die Rechtsfolge einer fehlenden oder fehlerhaften Unterrichtung des Betriebsrates im Rahmen des Konsultationsverfahrens nicht ausdrücklich. Nach § 18 KSchG steht der Agentur für Arbeit allerdings bei fehlerhafter Massenentlassungsanzeige (und wohl auch bei fehlerhafter Konsultation) die Möglichkeit zu, keinen Bescheid nach § 18 KSchG hinsichtlich der Sperrfrist zu erteilen. Da dieser allerdings nicht Voraussetzung für den Ausspruch von Kündigungen ist, kann allein hierin nach herrschender Auffassung keine abschreckende Sanktion liegen.4
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Aus deutscher Sicht ist die entscheidende Frage, ob ein Verstoß gegen die Pflichten des Konsultationsverfahrens zwingend zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.5 Teilweise wird vertreten, dass die ME-RL die Sanktion der Unwirksamkeit der Kündigung nicht erfordert.6 Der 2. Senat des BAG führt in der Entscheidung vom 22.11.20127 unter Bezug auf den effet utile des Unionsrechts aus, dass eine Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung ohne wirksame Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 KSchG gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. 1 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 58 f. = NZA 2003, 1019. 2 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 40 = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 2 Nr. 1. 3 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 42 = EAS Teil C RL 75/129/EWG Art. 2 Nr. 1. 4 Vgl. Hinrichs, S. 129 f. 5 Vgl. auch Sittard/Knoll, BB 2013, 2037 (2039 ff.). 6 Reinhard, RdA 2007, 207 (216). 7 BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742.
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Naber/Sittard
Konsultationsverfahren
Rz. 96 § 10
§ 134 BGB verstieße und somit nichtig sei. Der 6. Senat des BAG hat in seiner Entscheidung vom 13.12.20121 diese Rechtsprechungslinie grundsätzlich auch auf das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG ausgeweitet. Das BAG hat dies allerdings bislang nur für das vollständige Fehlen eines Konsultationsverfahrens entschieden.2 Es ist damit noch unklar, ob dies auf jegliche Fehler im Konsultationsverfahren ausgeweitet wird.3 Nach hier vertretener Ansicht können nicht alle Verstöße im Konsultationsverfahren gleichermaßen die Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung nach sich ziehen. Dies wäre nicht durch europarechtliche Vorgaben der Richtlinie zu begründen, weil der effet utile des Unionsrechts nicht fordert, dass jeglicher Fehler im Rahmen der Konsultation Rechtsfolgen herbeiführt. Es muss nur sichergestellt sein, dass das Schutzniveau der Richtlinie generell zur Anwendung kommt. Eine an Sinn und Zweck orientierte Rechtsfolgenbetrachtung muss daher nach einzelnen Fehlerquellen im Konsultationsverfahren differenzieren: – Wurde das Konsultationsverfahren gar nicht durchgeführt, so scheint die Unwirksamkeit der Kündigung in der Tat vertretbar. Gleiches gilt, wenn die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 KSchG derart unvollständig war, dass von einer Konsultation faktisch nicht die Rede sein kann und der Betriebsrat keine Stellungnahme abgeben konnte. Jedenfalls dann, wenn der Betriebsrat gegenüber dem Arbeitgeber mitteilt, sich nicht zu einer Stellungnahme in der Lage zu sehen, wird man die gleiche Rechtsfolge wie bei vollständig unterlassener Konsultation annehmen müssen. Unterlässt der Betriebsrat eine solche Mitteilung, stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber sich auf die Wirkung des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG berufen darf oder ob diese nur greifen kann, wenn alle Auskünfte nach § 17 Abs. 2 KSchG ordnungsgemäß erteilt worden sind. Im Rahmen der vertrauensvollen Zusammenarbeit dürfte vom Betriebsrat verlangt werden können, auf nicht ausreichende Auskünfte explizit hinzuweisen; ob dies allerdings dazu führt, dass sich der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess nicht auf die unzureichende Konsultation berufen darf, ist zweifelhaft. – Eine Unwirksamkeit der Kündigung kommt dann nicht in Betracht, wenn im Rahmen des Konsultationsverfahrens zwar nicht alle erforderlichen Auskünfte nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 6 KSchG erteilt werden, der Betriebsrat aber dennoch eine Stellungnahme abgibt. Da der Betriebsrat – wie geschildert – „Herr des Verfahrens“ ist, ist allerdings nach richtiger Ansicht in diesem Fall das Konsultationsverfahren sogar als ordnungsgemäß durchgeführt anzusehen. – Inhaltlich falsche Auskünfte nach § 17 Abs. 2 KSchG führen richtigerweise nicht per se zur Unwirksamkeit der Kündigung. Entscheidend ist vielmehr, ob die Unterrichtung so fehlerhaft war, dass der Betriebsrat bei verständiger Betrachtung eine abweichende Stellungnahme abgegeben hätte. – Wenn der Fehler im Rahmen der Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG aus der Sphäre des Betriebsrats kommt, also z.B. eine nicht den Anforderungen genügende Stellungnahme abgegeben wird, kommt eine Unwirksamkeit der Kündigung nach hier vertretener Auffassung nicht in Betracht. Der Betriebsrat muss sowohl nach europäischem als auch nach deutschem Recht nur die Möglichkeit 1 BAG v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, BB 2013, 1150. 2 Nach dem BAG führen Fehler bei § 17 Abs. 2 KSchG „jedenfalls dann“ zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige, wenn das Konsultationsverfahren überhaupt nicht durchgeführt wurde. 3 Vgl. auch Sittard/Knoll, BB 2013, 2037 (2039 ff.).
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§ 10
Rz. 97
Massenentlassungsrecht
haben, sich in das Massenentlassungsverfahren einzubringen. Tut er dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht, so kann dies für den Arbeitgeber keine ungünstigen Rechtsfolgen zur Folge haben. – Auch die fehlende Rechtzeitigkeit der Konsultation kann eine Unwirksamkeit der späteren Kündigung nicht begründen, wenn anschließend ein ordnungsgemäßes Konsultationsverfahren mit den erforderlichen Auskünften nach § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt wurde und der Betriebsrat mindestens die sich aus § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ergebenden zwei Wochen Zeit hatte, um eine Stellungnahme abzugeben. Solange der Betriebsrat vor dem Ausspruch der Kündigungen Gelegenheit hatte, seine Konsultationsrechte wahrzunehmen, besteht kein Bedürfnis für die Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung. – Dies ist auf einen Verstoß gegen die Schriftform des § 17 Abs. 2 KSchG zu übertragen, wenn der Betriebsrat im Ergebnis in die Lage versetzt worden ist, eine Stellungnahme abzugeben. 97
Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten EuGH-Entscheidung zur Rechtslage im Vereinigten Königreich,1 wonach Entschädigungen für Arbeitnehmer wegen Verstoßes gegen die Konsultationspflichten der Richtlinie nicht an die Stelle der vom Arbeitgeber ohnehin zu zahlenden Entschädigung treten dürfen, wird vertreten, dass Nachteilsausgleichsansprüche nach § 113 BetrVG aus europarechtlichen Gründen nicht auf eine Abfindung angerechnet werden dürfen, weil dadurch der effet utile der ME-RL in Frage gestellt würde.2 Richtigerweise steht die ME-RL einer Verrechnung etwaiger Abfindungen mit Nachteilsausgleichsansprüche aber nicht entgegen, weil der Nachteilsausgleich im deutschen Recht zum einen nicht der Umsetzung der ME-RL dient und zum anderen durch die potentielle Unwirksamkeit der Kündigung eine Rechtsfolge existiert, die bereits eine wirksame Sanktion i.S.v. Art. 6 ME-RL darstellt. Der EuGH hat die Rechtslage im Vereinigten Königreich aber nur deshalb für unionsrechtswidrig erklärt, weil durch die Anrechnung der Verstoß gegen die ME-RL sanktionslos gewesen wäre.
IV. Anzeigeverfahren 1. Überblick 98
Art. 3 Abs. 1 ME-RL sieht eine schriftliche Anzeige des Arbeitgebers an die zuständige Behörde über alle beabsichtigten Massenentlassungen vor. Die Anzeige muss sämtliche zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultation der Arbeitnehmer erhalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.
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Gemäß Art. 3 Abs. 2 ME-RL hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmervertretungen eine Abschrift der Anzeige zu übermitteln. Die Arbeitnehmervertreter können etwaige Bemerkungen an die zuständige Behörde richten.
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Art. 4 Abs. 1 ME-RL sieht vor, dass „Entlassungen“ (vgl. Rz. 29 ff.) erst 30 Tage nach Eingang der in Art. 3 ME-RL genannten Anzeige wirksam werden. Von der Wirksamkeitsfrist soll die Kündigungsfrist nicht tangiert werden. Die Frist gem. Art. 4 Abs. 1 1 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 – Rz. 42 = BeckEurRS 1994, 203915. 2 Vgl. Nachweise bei HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 113 BetrVG Rz. 17.
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Naber/Sittard
Anzeigeverfahren
§ 10
Rz. 106
ME-RL soll gem. Art. 4 Abs. 2 ME-RL dazu dienen, nach Lösungen für die durch die Massenentlassung aufgeworfenen Probleme zu suchen. Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde gem. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 ME-RL das Recht einräumen, die 30-Tages-Frist gem. Art. 4 Abs. 1 ME-RL zu verkürzen oder – wie sich aus Art. 4 Abs. 3 ME-RL ergibt – auf 60 Tage oder darüber hinaus zu verlängern. Nach der Richtlinie setzt eine Verlängerung allerdings voraus, dass die Gefahr besteht, dass die durch die Massenentlassung hervorgerufenen Probleme nicht innerhalb der Regelfrist gelöst werden können. Der Arbeitgeber ist gem. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 ME-RL über die Verlängerung und deren Begründung zu informieren.
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Art. 3 ME-RL wird durch § 17 Abs. 3 KSchG umgesetzt. Die Regelung in § 17 Abs. 3 KSchG ist detaillierter als in Art. 3 ME-RL vorgesehen. Insbesondere enthalten § 17 Abs. 3 Satz 4 und 5 KSchG detailliertere Angaben über den Inhalt der Massenentlassungsanzeige (vgl. Rz. 108 ff.).
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§ 18 KSchG setzt Art. 4 ME-RL um. Nach § 18 Abs. 1 KSchG gilt für anzeigepflichtige Entlassungen eine „Entlassungssperre“, derzufolge diese vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren – auch rückwirkend bis zum Tag der Antragsstellung erklärbaren – Zustimmung wirksam werden. Gemäß § 18 Abs. 2 KSchG kann die Agentur für Arbeit im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von maximal zwei Monaten nach Anzeigeeingang wirksam werden. Schließlich sieht § 18 Abs. 4 KSchG vor, dass es einer erneuten Anzeige bedarf, wenn Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie nach den Abs. 1 und 2 zulässig sind, durchgeführt werden. Das Verfahren der Zustimmung der Agentur für Arbeit ist in § 20 KSchG festgelegt.
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Gemäß § 19 KSchG kann der Arbeitgeber – unter den darin näher geregelten Voraussetzungen – Kurzarbeit einführen, wenn er nicht in der Lage ist, die Arbeitnehmer bis zum Ende der Entlassungssperre gem. § 18 KSchG voll zu beschäftigen.
104
2. Zuständige Behörde Die Massenentlassungsrichtlinie trifft keine Aussage darüber, nach welchen Kriterien die „zuständige Behörde“ zu bestimmen ist, die gem. Art. 3 ME-RL Empfänger der Anzeige ist und gem. Art. 4 ME-RL über die Verkürzung oder Verlängerung der Regelfrist von 30 Tagen entscheiden kann.
105
Zuständig sind in Deutschland die Agenturen für Arbeit, und zwar diejenige Agentur, in deren Bezirk der betroffene Betrieb i.S.d. § 17 KSchG belegen ist. Bei unternehmens- oder konzernweiten Restrukturierungen stellt sich allerdings die Frage, ob eine Anzeige bei sämtlichen örtlich zuständigen Arbeitsagenturen für alle Beteiligten effizient ist; durch eine zentrale Zuständigkeit der Agentur für Arbeit am Sitz der Unternehmensleitung bzw. Konzernholding könnte man dem Abhilfe schaffen. Die örtlichen Zuständigkeiten der Agenturen bestimmt die Bundesagentur für Arbeit im Wege ihrer Selbstverwaltung (§ 367 SGB III). Eine Ausnahme sieht § 21 KSchG für Entscheidungen über die Entlassung von mehr als 500 Arbeitnehmern im Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr oder für Post und Telekommunikation vor; in diesem Fall ist ausnahmsweise die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit zuständig. Jedenfalls aus europarechtlicher Sicht spricht nichts dagegen, bei unternehmens- oder konzernweiten Personalabbaumaßnahmen nicht jede örtliche Agentur für Arbeit einzubeziehen. Allerdings geht die Praxis der
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§ 10
Rz. 107
Massenentlassungsrecht
Arbeitsagenturen derzeit von einer lokalen Zuständigkeit der jeweiligen Agentur am Betriebssitz aus.1 107
Eine Anzeige kann erst dann Rechtswirkungen entfalten, wenn sie bei der örtlich zuständigen Agentur eingeht.2 Dies gilt insbesondere, wenn der Arbeitgeber die Anzeige bei einer örtlich nicht zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht hat, die Anzeige aber an die zuständige Agentur weitergeleitet worden ist. 3. Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige a) Inhaltliche Anforderungen
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Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 ME-RL verlangt, dass die Massenentlassungsanzeige alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter enthält, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.
109
Die inhaltlichen Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige bleiben damit hinter den Angaben zurück, welche gem. Art. 2 Abs. 3 ME-RL gegenüber den Arbeitnehmervertretern im Rahmen der Konsultation zu erteilen sind. Die RL 75/129/EWG sah insofern noch einen Gleichlauf vor, bevor die Informationspflichten gegenüber den Arbeitnehmervertretern durch RL 92/56/EWG erweitert wurden.
110
aa) Zwingende Angaben. Zweckdienliche Angaben sind alle solche Angaben, die erforderlich sind, damit die zuständige Behörde in die Lage versetzt wird, die ihr durch die Massenentlassungsrichtlinie vermittelten Aufgaben zweckgerecht zu erfüllen.
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Der in Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 ME-RL genannte Katalog, der die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, aufführt, ist exemplarisch. Dies zeigt sich bereits durch die Einleitung „insbesondere“.
112
Der Umfang der gem. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 ME-RL zu übermittelnden Angaben definiert sich durch den Zweck der Anzeigepflicht. Die Mitteilung der „Gründe der Entlassung“ erfordert mithin europarechtlich, dass die zuständige Behörde in die Lage versetzt wird, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 3 Abs. 2 ME-RL).
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Aus europarechtlicher Sicht ist eine überschießende Richtlinienumsetzung der nationalen Gesetzgeber dahingehend, dass sie den Katalog gem. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 ME-RL erweitern, im Grundsatz nicht problematisch. Für die von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer, deren Schutz die ME-RL in erster Linie bewirken soll, ist eine umfassendere Informationsverpflichtung gegenüber der zuständigen Behörde i.S.v. Art. 5 ME-RL günstiger. Eine Ausweitung der Informationspflicht darf aber nicht dazu führen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten des Betriebsrats nach nationalem Recht durch eine zu frühzeitige Festlegung eingeschränkt werden.3
114
Im Hinblick auf die nach nationalem Recht vorzusehenden Angaben legt § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG fest, dass die Anzeige Angaben über (i) den Namen des Arbeitgebers, (ii) den Sitz und die Art des Betriebes, (iii) die Gründe für die geplanten 1 Vgl. Merkblatt 5 der Bundesagentur für Arbeit („Anzeigepflichtige Entlassungen“), abrufbar unter arbeitsagentur.de. 2 ErfK/Kiel § 17 KSchG Rz. 28; APS/Moll § 17 KSchG Rz. 96. 3 So zutreffend Mauthner, S. 210.
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Anzeigeverfahren
§ 10
Rz. 117
Entlassungen, (iv) die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, (v) den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und (vi) die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer enthalten muss. Das BAG verlangt, dass in der Massenentlassungsanzeige auch diejenigen Arbeitnehmer aufzuführen sind, welche durch eine vom Arbeitgeber veranlasste Eigenkündigung ausscheiden.1 Dafür spricht nicht nur der Regelungszweck, der Agentur für Arbeit die Möglichkeit zu geben, Maßnahmen zur Vermeidung oder Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarktes einzuleiten.2 Auch § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG lässt sich hierfür anführen. Es wäre inkonsequent, derartige Entlassungen zwar im Rahmen der Schwellenwertberechnung zu berücksichtigen, diese aber in der Anzeige außen vor lassen zu können. Aus demselben Grund sind in der Anzeige grundsätzlich auch Entlassungen auf Grundlage von Aufhebungsverträgen zu nennen, wenn eine Veranlassung durch den Arbeitgeber angenommen werden kann (vgl. Rz. 34 ff. zur Besonderheit bei Wechsel in eine Beschäftigungsgesellschaft). Darüber hinaus ist der Agentur für Arbeit mit der Anzeige gem. § 17 Abs. 3 Satz 1, Halbs. 2 KSchG eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten, welche die in § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG genannten Angaben – mit Ausnahme der für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien (Nr. 6) – enthält. Die Übermittlung eines Interessenausgleichs allein genügt nicht als Nachweis für eine rechtzeitige Unterrichtung innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG.3
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bb) Stellungnahme des Betriebsrats Ferner besteht gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG eine zusätzliche inhaltliche Anforderung dahingehend, dass der Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats bzw. hilfsweise eine Glaubhaftmachung über die Information des Betriebsrats und den Stand der Beratungen hinzuzufügen ist. Gemäß § 17 Abs. 3a Satz 2 KSchG ist es dem Arbeitgeber verwehrt, sich darauf zu berufen, dass er von dem für die Entlassung verantwortlichen Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht erhalten habe.
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Die Rechtsprechung erkennt zu Recht an, dass ein Interessenausgleich mit Namensliste die ausdrückliche Stellungnahme des Betriebsrats i.S.v. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzen kann.4 Liegt eine solche Namensliste vor, bedarf es insbesondere auch keiner weiteren separaten oder in dem Interessenausgleich integrierten Stellungnahme des Betriebsrats. Ist der Gesamtbetriebsrat originär für den Abschluss des Interessenausgleichs mit Namensliste zuständig, wird auch mit der in diesem Interessenausgleich enthaltenen Stellungnahme die Stellungnahme des Betriebsrats gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzt.5 Ein Interessenausgleich vermag allerdings nicht die Unterrichtung des Betriebsrats gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG, die allerdings parallel durchgeführt werden kann (vgl. Rz. 81), zu ersetzen. Gleiches dürfte auch bei Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats gelten.6
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1 2 3 4
BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 (1033 f.). BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 (1033 f.). BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845. BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, NZA 2012, 817; v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32. 5 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32. 6 So wohl auch BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845 (846).
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§ 10
Rz. 118
Massenentlassungsrecht
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Liegt keine Namensliste vor, genügt unter Umständen auch eine in den Interessenausgleich ohne Namensliste integrierte Stellungnahme des zuständigen Gremiums auf Arbeitnehmerseite den Anforderungen des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG.1 Insofern verlangt das BAG, dass sich die Stellungnahme des Betriebsrats auf die angezeigten Kündigungen bezieht, dessen Meinung zu der anstehenden Massenentlassung enthält und dass die Erklärung ausdrückt, dass der Betriebsrat das Konsultationsverfahren als abgeschlossen ansieht. Der Zweck von § 17 Abs. 3 KSchG erfordert kein separates Schreiben des Betriebsrats.2 Lediglich pauschale Aussagen des Betriebsrats, z.B. in der Präambel oder den Schlussbestimmungen, genügen in einem Interessenausgleich ohne Namensliste nicht.3 Wie es auch im Rahmen von § 102 BetrVG anerkannt ist,4 kann die eindeutige Äußerung des Betriebsrats, keine inhaltliche Stellungnahme abgeben zu wollen, ausreichend sein. Für die Praxis empfiehlt sich, im Interessenausgleich ausdrücklich klarzustellen, dass der Betriebsrat keine weiteren Stellungnahmen gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG abgeben wird (zum Verhältnis zwischen Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen vgl. Rz. 87 ff.).
119
Vom BAG bislang nicht entschieden wurde die Frage, ob den Anforderungen gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG auch genügt ist, wenn der Betriebsrat seine Stellungnahme direkt an die Agentur für Arbeit schickt. Dagegen spricht zwar, dass der Arbeitgeber die Stellungnahme des Betriebsrats gemäß dem Wortlaut von § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG seiner Anzeige beifügen muss. Der Sinn und Zweck von § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG, dass die Agentur für Arbeit die Meinung des Betriebsrats bei der weiteren Bearbeitung der Massenentlassungsanzeige berücksichtigen kann, wird jedoch gleichermaßen erfüllt, wenn der Betriebsrat eine Stellungnahme direkt an die Agentur für Arbeit sendet. Mithin verstößt dieses Vorgehen nicht gegen § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG.
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Wenn gar keine Stellungnahme des Betriebsrats vorliegt, ist die Anzeige gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG gleichwohl wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat, und gleichzeitig den Stand der Beratungen darlegt5 (zu den Anforderungen an die Übermittlung der Unterrichtung des Betriebsrats vgl. Rz. 79; zum Konsultationsverfahren vgl. Rz. 57).
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§ 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG erfasst nach seinem Wortlaut nur den Fall, dass der Anzeige gar keine Stellungnahme beigefügt ist. Über seinen Wortlaut hinaus gilt § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG aber auch für den Fall einer bewusst oder unbewusst ungenügenden Stellungnahme des Betriebsrats. Es ist nicht einzusehen, warum in dem weniger schlimmen Fall, dass zwar überhaupt eine, aber eine nur ungenügende Stellungnahme vorliegt, die Ausnahmeregelung gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nicht zur Anwendung kommen können soll, wenn sämtliche insofern notwendigen Angaben enthalten sind. cc) Fakultative Angaben
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Schließlich sieht § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG vor, dass in der Anzeige ferner – im Einvernehmen mit dem Betriebsrat – Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. 1 BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, NZA 2012, 1058. 2 BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, NZA 2012, 1058 (1059 f.); v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845. 3 BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845 (846). 4 Vgl. etwa BAG v. 12.3.1987 – 2 AZR 176/86, NZA 1988, 137. 5 BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11 NZA 2013, 845.
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Anzeigeverfahren
§ 10
Rz. 130
b) Anzeigepflichtiger Nach Art. 3 ME-RL ist die Massenentlassungsanzeige vom „Arbeitgeber“ abzugeben. Die Richtlinie enthält keine Angaben zur Vertretung des Arbeitgebers. Der Sinn und Zweck der ME-RL stehen einer Vertretung des Arbeitgebers bei Abgabe der Anzeige jedoch nicht entgegen.
123
Eine Stellvertretung des Arbeitgebers bei Abgabe der Anzeige ist somit möglich, solange die Voraussetzungen für eine wirksame Stellvertretung gem. §§ 164 ff. BGB eingehalten sind; die Zulässigkeit einer Vertretung im Verwaltungsverfahren ergibt sich aus § 13 SGB X.1
124
Insbesondere ist es auch zulässig, wenn die Anzeige in einem Gemeinschaftsbetrieb von einem von mehreren Trägerunternehmen für sämtliche Arbeitgeber des Gemeinschaftsbetriebs abgegeben wird.2
125
Auch bei Massenentlassungen in der Insolvenz gelten die §§ 17 ff. KSchG,3 wie sich aus dem Umkehrschluss zu § 125 Abs. 2 InsO ergibt. Bei Insolvenz ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, die Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit zu erklären.4
126
c) Formale Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige Art. 3 ME-RL sieht eine schriftliche Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung durch den Arbeitgeber vor. Die Massenentlassungsrichtlinie legt nicht fest, welche formalen Anforderungen an die Schriftlichkeit der Anzeige zu stellen sind.
127
Eine strenge Schriftlichkeit – wie in Deutschland gem. § 126 BGB vorgesehen – ist europarechtlich nicht zwingend geboten. Vielmehr sind die europarechtlichen Anforderungen an die Form nach dem Sinn und Zweck des Schriftformgebots zu bestimmen.5 Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige ist es, dass die zuständige Behörde von der beabsichtigten Massenentlassung in einer Weise erfährt, die für die Richtigkeit Gewähr und Beweis bietet. Hierfür bedarf es indessen keiner Originalunterschrift des Arbeitgebers.6
128
Dementsprechend ist der in § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorgesehenen Schriftform nicht nur dann Genüge getan, wenn die Anzeige der Form gem. § 126 BGB entspricht.7 Vielmehr ist es ausreichend, wenn die Massenentlassungsanzeige per Telefax oder – was heutzutage wohl nicht mehr praktikabel ist – per Telegramm erfolgt.8 Eine lediglich mündliche oder telefonische Anzeige genügt hingegen nicht.9
129
d) Zeitlicher Ablauf der Massenentlassungsanzeige aa) Zeitpunkt der Anzeige. Anders als im Hinblick auf die Konsultation (vgl. Art. 2 Abs. 1 ME-RL: „rechtzeitig“) nennt Art. 3 ME-RL keinen konkreten Zeitpunkt, bis zu dem die Massenentlassungsanzeige abzugeben ist. Aus der Formulierung „beabsichtig1 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 94. 2 Naber, EWiR 2014, 399 (400); offen gelassen von LAG Nds. v. 18.12.2013 – 17 Sa 335/13, ZIP 2014, 696. 3 APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 95. 4 LAG München v. 15.11.1992 – 2 (5) Sa 459/91, BB 1993, 1737. 5 EuGH v. 29.4.1982 – Rs. 66/81 – Pommerehnke u.a., Slg. 1982 I-1363. 6 Mauthner, S. 207. 7 Mauthner, S. 207. 8 KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 72a. 9 BAG v. 6.12.1973 – 2 AZR 10/73, NJW 1974, 1263.
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§ 10
Rz. 131
Massenentlassungsrecht
te“ Entlassungen1 und dem Sinn und Zweck der Richtlinie2 folgt, dass die Anzeige jedenfalls vor der Entlassung zu erfolgen hat.3 Aus Art. 4 ME-RL ergibt sich sodann, dass Entlassungen frühestens nach einer – von den Mitgliedstaaten verkürzbaren – Frist von 30 Tagen ab Eingang der Anzeige wirksam werden. 131
§ 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verlangt dementsprechend, dass der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit Anzeige erstattet, bevor die Entlassung erfolgt.
132
Ergibt sich erst im weiteren Verlauf, dass eine massenentlassungspflichtige Anzeige vorliegt, kommt auch eine nachträgliche Anzeige an die Agentur für Arbeit in Betracht. Eine solche nachträgliche Anzeige erfasst auch nur diejenigen Kündigungen, die nach Erstattung der Anzeige ausgesprochen werden; zu diesem Zeitpunkt bereits ausgesprochene Kündigungen können hierdurch nicht mehr geheilt werden.4
133
In Zweifelsfällen ist dem Arbeitgeber somit eine vorsorgliche Anzeige anzuraten. Sie verstößt nicht gegen § 242 BGB.5
134
bb) Verhältnis zum Konsultationsverfahren. Unklar ist, ob zwischen dem Konsultationsverfahren nach Art. 2 ME-RL und der Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 ME-RL eine zwingende zeitliche Reihenfolge besteht. Das europäische Recht enthält insoweit keine ausdrückliche Vorgabe. Nach herrschender Auffassung ist davon auszugehen, dass die Anzeige nach dem Abschluss der Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern zu erfolgen hat. Dafür lässt sich anführen, dass Art. 2 Abs. 3 Satz 2 ME-RL die Übermittlung der schriftlichen Konsultationsunterlage an die zuständige Behörde vorschreibt. Dagegen spricht, dass die Zwecke des Anzeigeverfahrens auch dann noch erreicht werden könnten, wenn die Konsultationsunterlage – nach Erstattung der Anzeige – nachgereicht wird.6
135
Zutreffenderweise setzt die Anzeige voraus, dass das Konsultationsverfahren abgeschlossen ist.7 Abgeschlossen ist das Verfahren bereits dann, wenn die Beratungen mit der Arbeitnehmervertretung erfolgt sind. Art. 3 ME-RL ist nicht zu entnehmen, dass im Zeitpunkt der Anzeige bestimmte Voraussetzungen – wie etwa das Vorliegen einer Stellungnahme der Arbeitnehmervertretungen – erfüllt sein müssen.8
136
Es steht zu erwarten, dass die Frage nach dem zeitlichen Verhältnis zum Konsultationsverfahren vom EuGH entschieden wird.
137
Auch § 17 Abs. 1 Satz 3 KSchG enthält keine ausdrückliche Regelung dazu, in welchem Verhältnis Anzeige- und Konsultationsverfahren zueinander stehen. Da die Stellungnahme des Betriebsrats der Anzeige gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG grundsätzlich beizufügen und unter den Voraussetzungen gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG „nachgereicht“ werden kann, geht der deutsche Gesetzgeber aber offenbar ebenfalls davon aus, dass das Konsultationsverfahren im Regelfall im Zeitpunkt der Anzeige an die Agentur für Arbeit bereits abgeschlossen ist. 1 2 3 4 5 6
APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 126. EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885 = NZA 2005, 213. A.A. offenbar Mauthner, S. 211. APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 126. So zutreffend APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 127. Offen gelassen in BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439; APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 125a. 7 Vgl. z.B. Grau/Sittard, BB 2011, 1845 (1849); Lembke/Oberwinter, NJW 2007, 721 (724). 8 Diesen Umstand berücksichtigt das BVerfG nicht; vgl. BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439 – Rz. 26 f.
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Anzeigeverfahren
§ 10
Rz. 142
Hinsichtlich der zeitlichen Reihenfolge hatte das BAG – ohne vorherige Vorlage an den EuGH – zu § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG entschieden, dass der Arbeitgeber auch nach Stellung der Massenentlassungsanzeige noch eine Stellungnahme des Betriebsrates nachreichen könne und damit die Möglichkeit hat, die Massenentlassungsanzeige zu vervollständigen.1 Eine solche Auslegung von § 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 KSchG hielt das BAG für vertretbar, solange der Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Anzeigeerstattung unterrichtet worden war und mit der Maßgabe, dass die Anzeige erst bei Vervollständigung wirksam werde.2 Mit Beschluss vom 25.2.2010 hat das BVerfG dieses Urteil aufgehoben.3 Mit Erfolg argumentierte der Beschwerdeführer, dass sein Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt worden sei, weil die aufgeworfene Frage nicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH vorgelegt wurde.4 Das BVerfG erklärte, die „Frage, ob der Arbeitgeber die beabsichtigten Massenentlassungen erst nach dem Ende der Konsultationen mit dem Betriebsrat gegenüber der Agentur für Arbeit anzuzeigen hat, […] sei weder nach Wortlaut und Systematik der Art. 2 und 3 ME-RL noch nach dem Zweck der Konsultationspflicht eindeutig zu beantworten“.5
138
Sofern dies ohne Verzögerungen möglich ist, ist der Praxis bis zu einer abschließenden Klärung durch den EuGH zu empfehlen, die Stellungnahme des Betriebsrats nur dann nachzureichen, wenn diese im Zeitpunkt der Erstattung der Anzeige noch nicht vorliegt und die Zwei-Wochenfrist abgelaufen ist. Sofern dies ohne zeitliche Verzögerungen möglich ist, sollte die Anzeige an die Agentur für Arbeit ggf. solange aufgeschoben werden, bis die Stellungnahme vorliegt.
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cc) Verhältnis zu §§ 85 ff. SGB IX Sind von einer Massenentlassung schwerbehinderte Mitarbeiter betroffen, ist parallel ein Verfahren gem. §§ 85 ff. SGB IX durchzuführen. Weder die §§ 85 ff. SGB IX noch die §§ 17 ff. KSchG enthalten Anhaltspunkte für das zeitliche Verhältnis beider Verfahren zueinander. Auch aus dem Sinn und Zweck beider Verfahren ergeben sich insofern keine Vorgaben für den Arbeitgeber.
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e) Sperrfrist Art. 4 Abs. 1 ME-RL sieht vor, dass die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten Massenentlassungen frühestens 30 Tage nach Eingang der in Art. 3 Abs. 1 genannten Anzeige wirksam werden. Die jeweiligen Kündigungsfristen bleiben davon unberührt. Art. 4 UAbs. 2 ME-RL erlaubt nationale Regelungen zur Verkürzung dieser Sperrfrist. Die Sperrfrist soll dazu dienen, dass die Behörde „nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme“ sucht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, welche durch die Massenentlassung aufgeworfenen „Probleme“ hiermit angesprochen werden, bleibt die Richtlinie indessen schuldig.
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Dementsprechend sieht § 18 Abs. 1 KSchG vor, dass Entlassungen, die nach § 17 KSchG bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen sind, nur mit deren Zustimmung vor Ablauf eines Monates wirksam werden. Hat die Agentur für Arbeit den angezeigten Entlassungen zugestimmt, und sind diese Entscheidungen bestandskräftig, d.h.
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1 2 3 4 5
BAG v. BAG v. BVerfG BVerfG BVerfG
21.5.2008 – 8 AZR 84/07, NZA 2008, 753 – Rz. 44. 21.5.2008 – 8 AZR 84/07, NZA 2008, 753 – Rz. 44. v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439. v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439 – Rz. 14. v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NZA 2010, 439 – Rz. 25.
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§ 10
Rz. 143
Massenentlassungsrecht
in ihrer Natur als Verwaltungsakt nicht angefochten worden, ist die Kündigung insofern wirksam. 143
Nach der BAG-Rechtsprechung hindert die ArbG auch ein bestandskräftiger Verwaltungsakt der Arbeitsverwaltung nach § 18 Abs. 1 KSchG oder § 18 Abs. 2 KSchG i.V.m. § 20 KSchG nicht daran, im Kündigungsschutzprozess die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige anzunehmen.1 Erkennt der Arbeitgeber daher nachträglich Fehler in einer Massenentlassungsanzeige, sollte er diese vorsorglich wiederholen (und ggf. erneute Kündigungen aussprechen), selbst wenn die Agentur für Arbeit mit rechtskräftigem Bescheid die Sperrfrist festgesetzt und faktisch der Entlassung zugestimmt hat.2 f) Rechtsfolgen bei Fehlern im Anzeigeverfahren
144
aa) Allgemeines. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Konsultationsverfahren erörtert (vgl. Rz. 91), sind die Mitgliedstaaten gem. Art. 6 ME-RL verpflichtet, gerichtliche oder administrative Verfahren einzurichten, mit denen Arbeitnehmer oder Arbeitnehmervertreter ihre Rechte geltend machen können.
145
In Deutschland bietet die Kündigungsschutzklage ein entsprechendes Verfahren, um Fehler des Arbeitgebers bei der Anzeige einer Massenentlassungsanzeige zu rügen (vgl. Rz. 92).
146
Ebenso wenig wie in Bezug auf das Konsultationsverfahren sind Art. 6 ME-RL jedoch keine konkreten Sanktionen für den Fall zu entnehmen, dass die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft ist oder vollständig unterbleibt. Auch insofern gebietet es die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Regelung (effet utile),3 eine angemessene Sanktion für entsprechende Versäumnisse des Arbeitgebers vorzusehen. bb) Sanktionen nach deutschem Recht
147
§ 18 KSchG sieht vor, dass die Agentur für Arbeit bei fehlerhafter Massenentlassungsanzeige keinen Bescheid hinsichtlich der Sperrfrist erteilen kann. Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt einen solchen Bescheid indessen nicht voraus und genügt somit nicht als angemessene Sanktion.
148
Nach herrschender Auffassung führt eine unvollständige Anzeige oder deren vollständiges Ausbleiben zur Unwirksamkeit der Kündigung.4 Doch ebenso wenig wie jeder, ggf. auch kleine, Fehler im Konsultationsverfahren stets zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen würde, haben Fehler im Zusammenhang mit der Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit stets die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Grundsätzlich wird man annehmen können, dass nur solche Fehler zur Unwirksamkeit führen, die den Sinn und Zweck des Anzeigeverfahrens vereiteln oder dessen Durchführung erheblich erschweren.5 Für die in Betracht kommenden Fallgruppen gilt demnach Folgendes:
1 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 – Rz. 71; anders noch v. 13.7.2000, NZA 2001, 144. 2 Ginal/Raif, ArbR 2013, 94. 3 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 – Jaeger, Slg. 2003, I-8389 – Rz. 58 f. = NZA 2003, 1019. 4 BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845; v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267; APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 133; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 5; Grau/ Sittard, BB 2011, 1845. 5 In diese Richtung auch APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 133b.
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Naber/Sittard
Anzeigeverfahren
§ 10
Rz. 152
– Unterbleibt die Massenentlassungsanzeige vollständig, obwohl die Schwellenwerte gem. § 17 Abs. 1 KSchG erreicht werden, führt dies stets zur Unwirksamkeit der Kündigungen. – Enthält die Anzeige grobe Fehler, die Auswirkungen auf die Tätigkeit der Agentur für Arbeit haben können, führt dies ebenfalls zur Unwirksamkeit der Kündigung. In der Regel wird ein solcher Fehler anzunehmen sein, wenn die „MussAngaben“ gem. § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG fehlen.1 Ähnliches dürfte gelten, wenn die Anzahl der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer oder der zu entlassenden Arbeitnehmer gemäß Anzeige erheblich von den tatsächlichen Umständen abweicht. Eine Unwirksamkeit tritt auch ein, wenn die Stellungnahme des Betriebsrats der Anzeige entgegen § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht beigefügt wird bzw. die Voraussetzungen einer Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Unterrichtung gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nicht erfüllt sind.2 – Weicht die angegebene Zahl der Entlassungen nur geringfügig von der Zahl der tatsächlich beabsichtigten oder erklärten Kündigungen nach oben ab, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen.3 – Schließlich hat das BAG zu Recht entschieden, dass auch bei einer zu niedrigen Angabe der Anzahl der von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer sich nur diejenigen Arbeitnehmer auf die Unwirksamkeit ihrer Kündigung berufen können, die in der Massenentlassungsanzeige nicht genannt sind.4 cc) Heilung. Art. 3 und 4 ME-RL enthalten keine Aussagen zu einer möglichen Heilung von Fehlern im Anzeigeverfahren. Art. 6 ME-RL verlangt lediglich, dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß der Richtlinie zur Verfügung stehen. Ob eine Heilung möglich ist, bestimmt sich somit nach den allgemeinen europarechtlichen Vorgaben bzw. nach dem Sinn und Zweck des Anzeigeverfahrens.
149
(1) Heilung durch verspätete Klageeinreichung. Der EuGH nimmt an, dass Art. 6 ME-RL einer mitgliedstaatlichen Vorschrift nicht entgegensteht, die das individuelle Klagerecht des Arbeitnehmers beschränkt, um gegen eine Verletzung der Anhörungsoder Informationspflichten durch den Arbeitgeber im Vorfeld einer Massenentlassung vorzugehen.5 Aus europarechtlicher Sicht ist es daher zulässig, den Rechtsschutz von einer rechtzeitigen Klageerhebung abhängig zu machen.6
150
Dementsprechend können nach Ablauf der Frist gem. § 4 Satz 1 KSchG Fehler im Hinblick auf das Konsultations- und Anzeigeverfahren nicht mehr geltend gemacht werden.7
151
(2) Heilung durch bestandskräftigen Verwaltungsakt? Ein bestandskräftiger Verwaltungsakt der Agentur für Arbeit entfaltet demgegenüber – entgegen der früheren BAG-Rechtsprechung8 – in Folge der Junk-Entschei1 ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 29; KR/Weigand, § 17 KSchG Rz. 83; vHH/L/v. Hoyningen-Huene, § 17 KSchG Rz. 84. 2 ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 36. 3 LAG BW v. 16.9.2010 – 9 Sa 33/10, LAGE Nr. 7 zu § 17 KSchG; vgl. auch APS/Moll, § 17 KSchG Rz. 133c; ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 36; Schramm/Kuhnke, NZA 2011, 1071 (1074). 4 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 – Rz. 50. 5 EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 – Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653. 6 So auch Niklas/Koehler, NZA 2010, 913 (919); Forst, NZA 2010, 144 (146). 7 LAG Nds. v. 6.4.2009 – 9 Sa 1297/08, BeckRS 2009, 69729; ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rz. 39. 8 Anders noch BAG v. 24.10.1996 – 2 AZR 895/95, NZA 1997, 372.
Naber/Sittard
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152
§ 10
Rz. 153
Massenentlassungsrecht
dung des EuGH keine Heilungswirkung. Ausdrücklich entschieden wurde dies für die Konstellation, in der der Anzeige keine Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt und auch die Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nicht erfüllt sind.1 Angesichts der allgemeinen Begründung, in welcher das BAG auf die Anforderungen gem. Art. 6 ME-RL und den Umstand abstellt, dass ein Bescheid weder gegenüber dem Arbeitnehmer noch gegenüber den ArbG materielle Bestandskraft entfalte, dürfte dies zumindest für die Praxis aber auch für übrige Mängel des Anzeigeverfahrens gelten. (3) Heilung gem. § 125 Abs. 2 InsO? 153
Nach § 125 Abs. 2 InsO ersetzt ein Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrats gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Eine Heilung von Mängeln im Anzeigeverfahren sieht § 125 InsO hingegen nicht vor.2 Auch eine analoge Anwendung von § 125 InsO auf Mängel im Anzeigeverfahren kommt nicht in Betracht, da die Voraussetzungen für eine Analogie nicht gegeben sind.3
V. Ablaufplan 154
Zeitpunkt
Schritt
EU-Recht
Vorplanung der Massenentlassung
(nach EuGH ist aber vor Erlass einer strategischen Entscheidung das Konsultationsverfahren einzuleiten)
Einleitung von Verhandlungen – mit Betriebsrat über Interessenausgleich/Sozialplan; ggf. Einigungsstelle Vor Erlass einer strate- Konsultationsverfahren (mit gischen oder betriebs- schriftlicher Unterrichtung) wirtschaftlichen Entscheidung zur Massenentlassung und spätestens zwei Wochen vor geplanter Massenentlassungsanzeige während des Konsulta- Unterrichtung des Wirtschaftstionsverfahrens ausschusses spätestens zwei Wochen vor geplanter Massenentlassungsanzeige
Zuleitung einer Abschrift der Unterrichtung an die Agentur für Arbeit
Art. 2 ME-RL
Deutsches Recht
§§ 111 ff. BetrVG
§ 17 Abs. 2 KSchG; Einleitung durch Unterrichtung (vgl. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG)
§ 106 Abs. 3 BetrVG Art. 2 Abs. 3 § 17 Abs. 3 ME-RL Satz 1 KSchG
1 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029; vgl. dazu Sittard/Knoll, BB 2013, 2037 (2039 ff.). 2 LAG Nds. v. 18.12.2013 – 17 Sa 335/13, ZIP 2014, 696. 3 Naber, EWiR 2014, 399 (400).
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Naber/Sittard
Ablaufplan Zeitpunkt
§ 10
Rz. 154 EU-Recht
Deutsches Recht
spätestens eine Woche Anhörung des Betriebsrats vor Entlassung
Schritt
–
§ 102 BetrVG
vor Entlassung
Einholung der Stellungnahme des Betriebsrats oder Glaubhaftmachung der Unterrichtung
–
§ 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG
vor Entlassung
Massenentlassungsanzeige unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats oder der Glaubhaftmachung
Art. 3 ME-RL
§ 17 Abs. 1 und 3 KSchG
vor Entlassung
Übermittlung einer Abschrift der Massenentlassungsanzeige an den Betriebsrat
Art. 3 Abs. 2 § 17 Abs. 3 ME-RL Satz 6 KSchG
vor Entlassung
Abschluss der Verhandlungen mit Betriebsrat über Interessenausgleich/Sozialplan
–
Spätestens innerhalb von 90 Tagen nach Ablauf der Entlassungssperre
Entlassung (es ist empfehlenswert, jedenfalls die Eingangsmitteilung der Agentur für Arbeit abzuwarten, bevor Entlassungen vorgenommen werden)
§§ 111 ff. BetrVG
§ 18 Abs. 4 KSchG hinsichtlich des Zeitraums
ab Eingang der Anzeige Lauf der Entlassungssperre von Art. 4 bei Agentur für Arbeit grds. einem Monat ME-RL
§ 18 Abs. 1 KSchG
Ggf. Berücksichtigung einer Art. 4 Verlängerung oder Verkürzung ME-RL der Sperrfrist
§ 18 Abs. 2 KSchG
Naber/Sittard
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§ 11 Betriebsübergang* Rz. I. Grundlagen 1. Überblick über den Regelungsgehalt 2. Entwicklung des europäischen Betriebsübergangsrechts a) Entstehung der Richtlinie 77/187/EWG . . . . . . . . . . . . . b) Modifikation durch die Richtlinie 98/50/EG und Neuverkündung durch die Richtlinie 2001/23/EG c) Reformdiskussion . . . . . . . . . . 3. Ermächtigungsgrundlage zum Erlass der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . .
1
2 3 5 6
4. Zielsetzung der Richtlinie a) Bedeutung des Regelungszwecks für Auslegung und Anwendung der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . 7 b) Marktfunktionale Harmonisierung und sozialer Arbeitnehmerschutz als doppelte Zielsetzung . 9 c) Präzisierung des sozialen Schutzzwecks auf historisch-rechtsvergleichender Grundlage . . . . . . . 12 5. Regelungsspielräume des nationalen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie . . . . . . . . . . . 15 1. Sachlicher Anwendungsbereich a) Wirtschaftliche Einheit als Gegenstand des Betriebsübergangs . b) Übergang auf einen anderen Inhaber . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erfasste Übertragungsformen . . . aa) Vertragliche Übertragung . . bb) Verschmelzung . . . . . . . . . cc) Spaltung . . . . . . . . . . . . . d) Wahrung der Identität . . . . . . . aa) Kriterienbündel in Form eines beweglichen Systems als Ansatz des EuGH . . . . . . . . . bb) Differenzierung zwischen betriebsmittelarmen und betriebsmittelreichen Branchen . . . . . . . . . . . . . . . .
16 21 24 26 30 33 36 37
41
Rz. cc) Abgrenzung zur Funktionsund Auftragsnachfolge . . . . 47 dd) Erfordernis tatsächlicher Fortführung . . . . . . . . . . . 53 2. Persönlicher Anwendungsbereich a) Begriff des Arbeitnehmers aa) Grundsätzlicher Verweis auf das mitgliedstaatliche Recht bb) Unionsrechtliche Vorgaben . b) Begriff des Inhabers/Arbeitgebers aa) Private und öffentliche Unternehmen . . . . . . . . . . . . bb) Wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig vom Erwerbszweck . . . . . . . . . . . . . . . cc) Betriebsübergang und Leiharbeit . . . . . . . . . . . . . . .
56 58 59 60 61 62
3. Räumlicher Anwendungsbereich . . 66 III. Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . 72 1. Übergang von Rechten und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen auf den Erwerber (Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL) a) Automatischer Übergang der Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . b) Erfasste Arbeitsverhältnisse aa) Begriff des Arbeitsverhältnisses und Zuordnungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . bb) Leiharbeitsverhältnisse und sonstiges Fremdpersonal . . . c) Eintritt des Erwerbers in die Rechte und Pflichten . . . . . . . . d) Unabdingbarkeit; Änderung übergehender Rechte und Pflichten . .
73
76 82 85 93
2. Widerspruchsrecht gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses a) Anerkennung eines Widerspruchsrechts . . . . . . . . . . . . . 97 b) Ausübung und Rechtsfolgen . . . 102 3. Rechtsstellung des Veräußerers a) Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
* Der Autor Grau hat die Abschnitte III bis VII, der Autor Hartmann die Abschnitte I und II verfasst. Beide Autoren tragen die gemeinsame Verantwortung für den gesamten Text.
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Grau/Hartmann
§ 11
Betriebsübergang Rz. b) Fakultative gesamtschuldnerische Weiterhaftung des Veräußerers (Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 c) Fakultative Informationspflicht gegenüber dem Erwerber (Art. 3 Abs. 2 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . 106
Rz. 2. Ermächtigung zum Ausschluss des Inhalts- und Bestandsschutzes (Art. 5 Abs. 1 BÜ-RL) . . . . . . . . . 158 3. Optionale Einschränkungen einzelner Schutzbestimmungen a) Ermächtigung in Art. 5 Abs. 2 BÜ-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Ermächtigung in Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL . . . . . . . . . . . 163
4. Aufrechterhaltung von Arbeitsbedingungen aus Kollektivverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Kollektivrechtlich geltende Arbeitsbedingungen (Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL) aa) Voraussetzungen der Aufrechterhaltung . . . . . . . . . 108 bb) Bedeutung und Wirkweise der Aufrechterhaltung . . . . . . . 112 cc) Grenzen bzw. Ende der Aufrechterhaltung . . . . . . . . . 115 dd) Ablösung von Kollektivverträgen . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Individualvertragliche Bezugnahme auf Kollektivverträge . . . 128
VI. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die Rechtsstellung und Funktion der Arbeitnehmervertretungen und ihre Mitglieder . . . . . 165
5. Schutz der Rechte und Anwartschaften aus betrieblichen und überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen (Art. 3 Abs. 4 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
c) Aufrechterhaltung von Rechtsstellung und Funktion der Arbeitnehmervertreter . . . . . . . . 176
IV. Schutz vor Kündigung und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses infolge wesentlicher Verschlechterung der Arbeitsbedingungen . . . . 139 1. Verbot der arbeitgeberseitigen Kündigung wegen des Betriebsübergangs (Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL) a) Reichweite und Folgen des Kündigungsverbots . . . . . . . . . . . . 140 b) Fakultative Einschränkung des Kündigungsverbotes durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . 144 2. Fiktion der Arbeitgeberkündigung bei wesentlicher Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Voraussetzungen der Fiktionswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Rechtsfolge bei Eingreifen der Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 V. Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . 155 1. Entwicklung und Zweck der Einschränkungsmöglichkeit des Richtlinienschutzes . . . . . . . . . . . . . . 156
4. Pflicht zu Sanktionen bei Missbrauch von Insolvenzverfahren (Art. 5 Abs. 4 BÜ-RL) . . . . . . . . . 164
1. Schutz der Arbeitnehmervertretung nach Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL . . . . . . 166 a) Begriff der Arbeitnehmervertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Erhalt der Selbständigkeit der übertragenen Einheit . . . . . . . . 173
d) Gewährleistung einer Vertretung bei Verlust der Selbständigkeit der übertragenen Einheit (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 4 BÜ-RL) . . . . . . 179 2. Nachwirkender Individualschutz der Mandatsträger (Art. 6 Abs. 2 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 VII. Information und Konsultation . . . 185 1. Überblick und Struktur der Informations- und Konsultationsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter im sog. Grundmodell (Art. 7 Abs. 1 und 2 BÜ-RL) a) Informationspflicht des Veräußerers und Erwerbers . . . . . . . . . 193 b) Konsultation hinsichtlich in Betracht gezogener Maßnahmen . . 197 3. Ermächtigung zu Einschränkungen der Informations- und Konsultationspflicht a) Das Ausnahmemodell des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL . . . . . . . . . . . . 201
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§ 11
Betriebsübergang
Rz. b) Beschränkung der Informationsund Konsultationspflicht auf Einheiten mit Kollegialorgan als Arbeitnehmervertretung (Art. 7 Abs. 5 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . 209 4. Individuelle Information der Arbeitnehmer als Auffanglösung (Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL) . . . . . . . . . 210
Rz. 5. Gewährleistung der Information und Konsultation bei Planung durch Obergesellschaft (Art. 7 Abs. 4 BÜ-RL) . . . . . . . . . . . . . . 217 6. Gewährleistung der Rechtedurchsetzung (Art. 9 BÜ-RL) und Sanktionen bei Verstoß gegen Informations- oder Konsultationspflichten 219
Schrifttum: Alsbæk, Der Betriebsübergang und seine individualarbeitsrechtlichen Folgen in Europa, 2001; Bauer/von Medem, § 613a BGB: Übergang von Leiharbeitsverhältnissen bei Übertragung des Entleiherbetriebs?, NZA 2011, 20; Bauer/von Medem, Betriebsübergang: Beschränkt kollektivrechtliche Fortgeltung nach § 613a I S. 2 BGB, DB 2010, 2560; Bauer/von Steinau-Steinrück, Neuregelung des Betriebsübergangs: Erhebliche Risiken und viel mehr Bürokratie!, ZIP 2002, 457; Bergwitz, Betriebsübergang und Insolvenz nach der neuen EG-Richtlinie zur Änderung der Betriebsübergangsrichtlinie, DB 1999, 2005; Berscheid, in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 13. Aufl. 2010; Bieder, Die Bewahrung der organisatorischen Selbständigkeit der übertragenen Einheit – konstitutive Voraussetzung eines Betriebsübergangs? – Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12.2.2009 – Rechtssache Klarenberg, EuZA 2009, 513; Birk, Der EuGH und das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers beim Betriebsinhaberwechsel nach § 613a BGB, EuZW 1993, 156; Däubler, Das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers bei Betriebsübergang – ein Verstoß gegen EG-Recht?, NZA 1991, 134; Däubler, Der Erwerb deutscher Betriebe durch ausländische Unternehmen, in: Arbeitsrecht in der Bewährung, FS für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 119; Debong, Die EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, 1988; Ende, Das Recht des Arbeitnehmers auf Beendigung seines Arbeitsverhältnisses bei Betriebsübergang im EGRecht, NZA 1994, 494; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge – Am Beispiel der Bezugnahme- und Öffnungsklausel, Baden-Baden 2012; Forst, Leiharbeitnehmer im Betriebsübergang, RdA 2011, 228; Forst, Betriebsübergang: Ende der Dynamik einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag?, DB 2013, 1847; Franzen, Die Richtlinie 98/50/EG zur Änderung der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG und ihre Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht, RdA 1999, 361; Franzen, Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die arbeitsrechtliche Regulierung des Betriebsübergangs, NZA-Beil. 2008, 139; Franzen, Der Betriebsinhaberwechsel nach § 613a BGB im internationalen Arbeitsrecht, 1994; Gaul, Die neue EG-Richtlinie zum Betriebs- und Unternehmensübergang, BB 1999, 526; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang gem. § 613a Abs. 5 und 6 BGB, 2005; Grau, Unterrichtung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter gem. Art. 7 der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG und die Umsetzung der europäischen Vorgaben im deutschen Recht, ZfA 2005, 647; Hanau, EU-Richtlinienentwurf zum Betriebsübergang, ZIP 1994, 1568; Hanau/Strauß, Die neue Rechtsprechung zur Kündigung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in FS für Klaus Bepler zum 65. Geburtstag, 2012, S. 207; Hanau/Vossen, Die Auswirkungen des Betriebsinhaberwechsels auf Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, in: Arbeitsrecht im sozialen Dialog, FS für Wissmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 546; Hartmann, „Backsourcing“ von Reinigungsaufgaben durch die öffentliche Hand – Betriebsübergang oder bloße Funktionsnachfolge?, Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 20.1.2011 – Rechtssache CLECE/Martín Valor, EuZA 2011, 329; Hartmann, Der Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie in historisch-rechtsvergleichender Perspektive, EuZA 2012, 35; Hauck, Die Umsetzung der EG-Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen in Abs. 5 des § 613a BGB, in FS Wißmann, 2005, S. 546; Henssler, Aktuelle Rechtsprobleme des Betriebsübergangs, NZA 1994, 913; Hitzfeld, § 613a BGB im System der europäischen Rechtsprechung, BB 1991, 199; Hohenstatt, Die Fortgeltung von Tarifnormen nach § 613a I 2 BGB, NZA 2010, 23; Hohenstatt/Grau, Der Betriebsübergang nach Güney Görres – Was geht noch?, NJW 2007, 29; Jochums, Betriebsübergang: Der EuGH auf
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Grau/Hartmann
§ 11
Betriebsübergang
Abwegen? NJW 2005, 2580; Jöst, Der Betriebsübergang. Europarechtliche Vorgaben und deren Umsetzung in Österreich, 2004; Joost, Betriebsveräußerung durch die Arbeitnehmer?, in FS für Alfons Kraft zum 70. Geburtstag, 1998, S. 281; Joussen, Betriebsübergangsrichtlinie, in: Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS), B 7200; Junker, Rechtsfragen grenzüberschreitender Betriebsverlagerung, NZA-Beilage 2012, 8; Kainer, Gerechter Interessenausgleich und unternehmerische Freiheit: Ende der Dynamik von Bezugnahmeklauseln nach Alemo-Herron?, EuZA 2014, 230; Krause, Das Übergangsmandat des Betriebsrats im Lichte der novellierten Betriebsübergangsrichtlinie, NZA 1998, 1201; Kamlah, Bestandsschutz und Ablösung von Kollektivverträgen bei Betriebsübergang, 1998; Krieger, Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei wesentlicher Änderung der Arbeitsbedingungen durch Betriebsübergang, Anmerkung zum EuGH Urt. v. 27.11.2008 – Rs. C-396/07, NJW 2009, 45; Kühn, Der Betriebsübergang bei Leiharbeit, NJW 2011, 1408; Latzel, Unternehmerische Freiheit als Grenze des Arbeitnehmerschutzes – vom Ende dynamischer Bezugnahmen nach Betriebsübergang. Zugleich Besprechung des EuGH-Urteils vom 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron u.a., RdA 2014, 110; Löw, Die Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht – Die EG-Richtlinie 77/187 und ihre Umsetzung in Deutschland und Großbritannien, Frankfurt/M. 1992; Löw, Steht das europäische Recht einem Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers bei Betriebsübergang entgegen?, DB 1991, 546; Löwisch, Unvereinbarkeit von Nachträglichkeit und Rückwirkung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB mit der Richtlinie 01/23/EG, in FS Birk, 2008, S. 541; Martin, Die Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie (Richtlinie 2001/23/EG – Betriebsübergangsrichtlinie) in Spanien, Berlin 2006; Meilicke, Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers bei Betriebsübergang – Wirkungen des Europarechts, DB 1991, 1326; Mückl, Fortbestehende Selbständigkeit einer übertragenen wirtschaftlichen Einheit bei Betriebsübergang; Anmerkung zum EuGH Urt. v. 29.7.2010 – Rs. C-151/09, BB 2010, 2827; Mückl, Alemo-Herron – Ende der Dyamik einer Bezugnahmeklausel bei Betriebsübergang?, ZIP 2014, 207; Nicolai, EuGH bestätigt statische Weitergeltung von Tarifnormen nach Betriebsübergang – Anmerkung zu EuGH vom 9.3.2006 – Rs. C-499/04, Werhof –, DB 2006, 670; Oetker, Das Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer beim Betriebsübergang und die Rechtsprechung des EuGH, NZA 1991, 137; Oetker, Die Vorgaben der Betriebsübergangsrichtlinie für die Beteiligungsrechte des Betriebsrats, NZA 1998, 1193; Oetker/Schubert, Europäisches Betriebsverfassungsrecht, in: Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeitsund Sozialrecht (EAS), B 8300; Rebhahn, Probleme der Ausführung der Betriebsübergangsrechtlinie in Kontinentaleuropa, RdA 2006, Sonderbeilage zu Heft 6, 4; Reichold, Neues zum grenzüberschreitenden Betriebsübergang, in FS für Rolf Birk zum 70. Geburtstag, 2008, S. 687; Riesenhuber, Informationspflichten beim Betriebsübergang: Fehler bei der Umsetzung der Richtlinie und Anlass für eine grundsätzliche Neuordnung, RdA 2004, 340; Röder, Die Fortgeltung von Kollektivnormen bei Betriebsübergang gem. § 613a BGB in der Fassung vom 13.8.1980, DB 1981, 1980; Salamon/Hoppe, Die Maßgabe der fortbestehenden Organisationsstrukturen für den Betriebsteilübergang nach „Klarenberg“, NZA 2010, 989; Sagan, Die kollektive Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nach § 613a Abs. 1 Sätze 2-4 BGB, RdA 2011, 163; Sagan, Unterrichtung und Widerspruch beim Betriebsübergang aus deutscher und europäischer Sicht, ZIP 2011, 1641; Sagan, Das Verschlechterungsverbot bei der Ablösung von Kollektivverträgen nach einem Betriebsübergang, Urteil des Europäischen Gerichtshofs v. 6.9.2011 – Rechtssache Scattolon, EuZA 2012, 247; Salamon, Justierungen des BAG im Fall „Klarenberg“, NZA 2012, 482; Schruiff, Die Betriebsübergangsrichtlinie der EG in der Fassung 2001/23/EG, 2004; Seiter, Betriebsinhaberwechsel, 1980; Schnitker/ Grau, Übergang und Anpassung von Rechten aus Aktienoptionsplänen bei Betriebsübergang nach § 613a BGB, BB 2002, 2497; Schubert/Jerchel, Die Entwicklung des europäischen Arbeitsrechts 2011/2012, EuZW 2012, 926; Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung aus arbeitsrechtlicher Sicht, 2. Aufl. 2010; Sittard/Flockenhaus, „Scattolon“ und die Folgen für die Ablösung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nach einem Betriebsübergang, NZA 2013, 652; Steffan, Neues vom EuGH zum Betriebsübergang: Was folgt aus „Scattolon“? NZA 2012, 473; von Steinau-Steinrück, Die Grenzen des § 613a BGB bei Aktienoptionen im Konzern, NZA 2003, 473; Sutschet, Werhof reloaded, RdA 2013, 28; Trayer, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg ./. Ferrotron Technologies GmbH), DB 2009, 519; Trittin, Der EuGH bestätigt die umstrittene Christel Schmidt-Entscheidung, Anmerkung zum EuGH Urt. v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95, DB 1997, 1333; von Al-
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Betriebsübergang
vensleben, Die Rechte der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang im Europäischen Gemeinschaftsrecht – Eine Studie zu den gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen des § 613a BGB, 1992; von Roetteken, Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an Gesetzgebung und Rechtsprechung, Am Beispiel der Gleichbehandlungs-, der Arbeitsschutz- und der Betriebsübergangsrichtlinie, NZA 2001, 414; Waas, Richtlinienvorschlag zum Betriebsübergang, EuZW 1995, 52; Waas, Zur Konsolidierung des Betriebsbegriffs in der Rechtsprechung von EuGH und BAG zum Betriebsübergang, ZfA 2001, 377; Waas/Johanns, Die Änderung der Richtlinie zum Betriebsübergang, EuZW 1999, 458; Wank, Der Betriebsübergang in der Rechtsprechung von EuGH und BAG – eine methodische Untersuchung, in: 50 Jahre BAG, 2004, S. 245; Wenking, Der Betriebsübergang im europäischen und deutschen Arbeitsrecht, 1999; Willemsen, Zur Befreiung neugegründeter Unternehmen von der Sozialplanpflicht (§ 112a Abs. 2 BetrVG), DB 1990, 1405; Willemsen, Aktuelles zum Betriebsübergang: § 613a BGB im Spannungsfeld von deutschem und europäischem Recht, NJW 2007, 2065; Willemsen, Europäisches und deutsches Arbeitsrecht im Widerstreit? – Aktuelle „Baustellen“ im Recht des Betriebsübergangs, NZA-Beil. 2008, 155; Willemsen, Erneute Wende im Recht des Betriebsübergangs – ein „Christel Schmidt II“-Urteil des EuGH?, NZA 2009, 289; Willemsen, Erosion des Arbeitgeberbegriffs nach der Albron-Entscheidung des EuGH?, NJW 2011, 1546; Willemsen/ Annuß, Neue Betriebsübergangsrichtlinie – Anpassungsbedarf im deutschen Recht?, NJW 1999, 2073; Willemsen/Annuß, Auftragsnachfolge – jetzt doch ein Betriebsübergang?, DB 2004, 134; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011; Willemsen/Müntefering, Outsourcing nach „Güney-Görres“ – Von der eigenwirtschaftlichen Nutzung zum Kern der Wertschöpfung, NZA 2006, 1185; Willemsen/Sagan, Der Tatbestand des Betriebsübergangs nach „Klarenberg“, ZIP 2010, 1205; Winter, Betriebsübergang und Tarifvertragsersetzung – was ergibt sich aus dem Urteil Scattolon?, RdA 2013, 36; Wißmann/Schneider, Europa hat gesprochen: Betriebsübergang ohne Erhalt der organisatorischen Einheit, BB 2009, 1126; Wollenschläger, Rechtsfragen des Betriebsübergangs nach § 613a BGB unter Berücksichtigung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen und des Rechts der Europäischen Union, ZfA 1996, 547; Zachert/Kocher, Die Richtlinie 98/50/EG zum Betriebsübergang – aus Brüssel, Luxemburg und Kassel etwas Neues?, in: Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit. Bilanz und Perspektiven an der Schwelle zum Jahr 2000, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Arbeitsgerichtsbarkeit in RheinlandPfalz, 1999, S. 51; Ziemons, EuGH-Rechtsprechung vs. unternehmerische Entscheidungsfreiheit, ZIP 1995, 987; Ziemons, Der Vorschlag zur Änderung der Betriebsübergangsrichtlinie – ein trojanisches Pferd?, ZIP 1995, 1805; Zwanziger, Vom Reinigungsvertrag zur Krise der Europäischen Union?, DB 1994, 2621.
I. Grundlagen 1. Überblick über den Regelungsgehalt 1
Die Betriebsübergangsrichtlinie betrifft ausweislich ihres genauen Titels die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmensoder Betriebsteilen. Regelungsgegenstand sind also in erster Linie die Konsequenzen eines Inhaberwechsels auf Arbeitgeberseite für das Beschäftigungsverhältnis. Das Kapitel I der Richtlinie regelt in den Art. 1 und 2 BÜ-RL den häufig diskutierten Anwendungsbereich der Vorschriften über den Betriebsübergang und enthält wichtige Definitionen. Das Kernstück der Richtlinie bildet das Kapitel II, das die Wahrung der Ansprüche und Rechte der Arbeitnehmer behandelt. Von zentraler Bedeutung ist hier Art. 3 BÜ-RL, wonach die Arbeitsverhältnisse auf den Betriebserwerber übergehen und kollektivvertraglich vereinbarte Arbeitsbedingungen einen gewissen Inhaltsschutz genießen. Flankiert wird diese Regelung insbesondere dadurch, dass eine arbeitgeberseitige Kündigung wegen des Übergangs als solchen nach Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL ausgeschlossen ist. Art. 5 BÜ-RL klärt das Verhältnis der Vorschriften 580
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zum Insolvenzrecht. Art. 6 BÜ-RL betrifft das Schicksal von Arbeitnehmervertretungen. Das Kapitel III enthält in Art. 7 BÜ-RL Vorschriften über die Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter bzw. der Arbeitnehmer selbst. Von den Schlussbestimmungen des Kapitels IV ist besonders Art. 8 BÜ-RL mit der Regelung des Günstigkeitsprinzips bedeutsam. 2. Entwicklung des europäischen Betriebsübergangsrechts a) Entstehung der Richtlinie 77/187/EWG Die ursprüngliche Fassung des europäischen Betriebsübergangsrechts war in der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG vom 14.2.1977 enthalten. Sie geht ebenso wie die erste Fassung der Massenentlassungsrichtlinie (75/129/EWG)1 auf das Sozialpolitische Aktionsprogramm von 1974 zurück (vgl. § 1 Rz. 5 f.).2 Bereits Art. 30 des letztlich gescheiterten Entwurfs eines Übereinkommens über die internationale Verschmelzung von Aktiengesellschaften vom September 19723 hatte eine rudimentäre Regelung zum Übergang von Arbeitsverhältnissen vorgesehen. Ausgangspunkt für diese in die Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG mündenden Regelungsaktivitäten war die Auffassung, dass die besonders seit Ende der 1960er Jahre stark zunehmende Anzahl der Unternehmenskonzentrationen erheblichen Handlungsbedarf beim sozialen Schutz der Arbeitnehmer hervorgerufen habe.4 Die Gestalt der schließlich verabschiedeten Richtlinie beruht in zentralen Punkten auf den zahlreichen Änderungsvorschlägen des Wirtschafts- und Sozialausschusses am Kommissionsentwurf.5
2
b) Modifikation durch die Richtlinie 98/50/EG und Neuverkündung durch die Richtlinie 2001/23/EG Die europäischen Regelungen über den Betriebsübergang erfuhren eine erhebliche Umgestaltung durch die Richtlinie 98/50/EG vom 29.6.1998.6 Besonders der in Wissenschaft und Praxis vieldiskutierte Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie wurde neu geregelt. Während der Kommissionsvorschlag vom 8.9.1994 in einigen Punkten noch für eine Kurskorrektur gegenüber der EuGH-Rechtsprechung plädierte,7 orien1 Später geändert durch Richtlinie 92/56/EWG, neugefasst durch Richtlinie 98/59/EG. 2 S. zu dem Zusammenhang zwischen der Entschließung des Rates vom 21.1.1974 über ein sozialpolitisches Aktionsprogramm, ABl. C 13 v. 12.2.1974, S. 1 ff. und der Betriebsübergangsrichtlinie eingehend v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 92 ff.; Debong, Die EGRichtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 4 ff.; sowie ferner Hartmann, EuZA 2012, 35 (37 f.); EAS/Joussen, B 7200 Rz. 1. 3 Abgedruckt in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 13/73; s. zu Art. 30 des Entwurfs auch Koppensteiner, RabelsZ 39 (1975), 405 (438). 4 S. zur besonders in den Jahren 1966 bis 1970 stark gestiegenen Anzahl von Unternehmenszusammenschlüssen die statistischen Angaben zu Beginn der Begründung für den Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen und Vergünstigungen der Arbeitnehmer bei Gesellschaftsfusionen, Betriebsübertragungen sowie Unternehmenszusammenschlüssen vom 31.5.1974, ABl. C 104 v. 13.9.1974, S. 1 = RdA 1975, 124. 5 S. dazu den Überblick bei v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 106 ff.; Debong, Die EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 6 f. 6 S. näher Franzen, RdA 1999, 361; Willemsen/Annuß, NJW 1999, 2073. 7 Die Kommission wollte ausdrücklich klarstellen, dass der alleinige Übergang einer Tätigkeit keinen Betriebsübergang begründe; s. Art. 1 UAbs. 1 Satz 2 des Entwurfs, ABl. C 274 v. 1.10. 1994, S. 10 ff. = BR-Drucks. 896/94, 1 ff., insb. Rz. 17 f. und dazu näher Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 589 f.
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tierte sich die schließlich verabschiedete Richtlinie weitgehend am Stand der Judikatur.1 Auf diese Weise ist insbesondere das vom EuGH entwickelte Kriterium des identitätswahrenden Übergangs einer wirtschaftlichen Einheit zu einem Bestandteil des geschriebenen Sekundärrechts geworden. Weitere Modifikationen betrafen die Anwendbarkeit der Vorschriften in der Insolvenz, die Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter und die Informationspflichten von Veräußerer und Erwerber.2 4
Die Neuverkündung einer konsolidierten Fassung durch die nunmehr geltende Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG vom 12.3.2001 erfolgte „[a]us Gründen der Klarheit und Wirtschaftlichkeit“.3 Ihr kommt mangels inhaltlicher Änderungen lediglich redaktionelle Bedeutung zu. c) Reformdiskussion
5
Die Reformdiskussion seit Inkrafttreten der aktuell geltenden Betriebsübergangsrichtlinie ist vor allem von dem Problem grenzüberschreitender Betriebsübergänge geprägt (vgl. Rz. 67 ff.). Die Kommission eröffnete im Jahr 2007 die Erste Phase der Sozialpartneranhörung gem. Art. 138 Abs. 2 EG (jetzt: Art. 154 Abs. 2 AEUV) zum Thema grenzüberschreitender Betriebsübergänge.4 Die Kommission stellte ihre Reformbemühungen jedoch ein, nachdem die Sozialpartner keinen Änderungsbedarf erkennen konnten.5 In der Literatur wird in jüngerer Zeit erneut eine Überarbeitung der Richtlinie mit Blick auf grenzüberschreitende Betriebsübergänge angeregt. Aufgenommen werden soll danach zum einen die Klarstellung, dass die Richtlinie auch in derartigen Fällen einen Geltungsanspruch erhebt, zum anderen eine eigenständige Kollisionsnorm.6 Auch eine Ausweitung der Informationspflichten von Veräußerer und Erwerber7 und selbst die Erweiterung der Richtlinie auf Fälle des share deals8 sind Gegenstand der Reformdiskussion. 3. Ermächtigungsgrundlage zum Erlass der Richtlinie
6
Für die Ursprungsfassung der Richtlinie stützte sich der EG-Rat seinerzeit auf die Regelung des Art. 100 EGV a.F. Diese Kompetenzgrundlage ermöglichte eine Angleichung derjenigen mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die sich 1 So für die gesamte Richtlinie die Einschätzung auch von Fuchs/Marhold/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 238; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 7; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 4. 2 S. für einen detaillierten Überblick über die Änderungen Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 153 ff. 3 So ErwGr. 1 BÜ-RL; vgl. auch den Kommissionsvorschlag vom 2.5.2000, KOM (2000) 259 endg., Rz. 4. 4 Vgl. Europäische Kommission, „Erste Phase der Anhörung der Sozialpartner gem. Art. 138 Abs. 2 EG-Vertrag betreffend grenzüberschreitende Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen“, abrufbar unter http://ec.europa.eu/social/Blob Servlet?docId= 2442&langId=de (zuletzt abgerufen am 21.7.2014) und dazu Reichold, Festschrift Birk, 687 (688 ff.). 5 Vgl. den Zweiten Bericht über die Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds vom 30.1.2008, KOM (2008) 33 endg., S. 16 f. 6 S. näher Niksova, ecolex 2013, 53 (56 f.). 7 Zu ersten Diskussionsansätzen McMullen, The International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 23 (2007), 335 (373). 8 S. für diesen Vorschlag McMullen, The International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations 23 (2007), 335 (373 f.); Sympathie bei Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 20; zur geltenden Rechtslage mit Blick auf das deutsche Recht Reichold, FS Birk, 687 (690).
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Grundlagen
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Rz. 9
unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Für die Änderungsrichtlinie 98/50/EG und die aktuell geltende Fassung der Betriebsübergangsrichtlinie zog der Rat die seinerzeit in Art. 93 EG (jetzt: Art. 115 AEUV) enthaltene Nachfolgevorschrift heran. Nach wohl allgemeiner Auffassung sind die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage erfüllt.1 4. Zielsetzung der Richtlinie a) Bedeutung des Regelungszwecks für Auslegung und Anwendung der Richtlinie Wie kaum ein anderer europäischer Rechtsakt hat die Betriebsübergangsrichtlinie von Anfang an für erhebliche Auslegungszweifel gesorgt und eine Flut an EuGH-Entscheidungen hervorgerufen. Selbst der revidierten und an die neuere EuGH-Rechtsprechung angepassten Fassung wird vorgehalten, dass es sich um eine „begrifflich wenig sorgfältig gearbeitete Richtlinie“ handele.2 Diese Schwierigkeiten werden noch dadurch verschärft, dass der Rechtsprechung gerade mit Blick auf die Betriebsübergangsrichtlinie durchaus zu Recht vorgeworfen werden kann, „ihrerseits – auch durch methodisch unsauberes Vorgehen – öfters neue Fragen aufgeworfen und zu Abgrenzungsschwierigkeiten geführt“ zu haben.3
7
Bei dieser Ausgangslage kommt der zweckorientierten Interpretation eine große Bedeutung zu. Über die Zielsetzung der Betriebsübergangsrichtlinie besteht nun allerdings bis heute wenig Klarheit.4 Recht vage bleibt der in ErwGr. 3 BÜ-RL genannte Zweck, „die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel [zu] schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche [zu] gewährleisten“. Die Aussage des EuGH, der „Hauptzweck der Richtlinie“ bestehe darin, „auch gegen den Willen des Erwerbers die Arbeitsverträge der Arbeitnehmer des Veräußerers aufrechtzuerhalten“,5 führt ebenfalls kaum weiter, gibt sie doch lediglich die Rechtsfolge wieder. Offen lässt der EuGH schließlich auch die Rolle des mitunter zusätzlich genannten Ziels, die Belastungen für die Unternehmen einander anzugleichen.6 Weitere Klärungsfortschritte werden davon abhängen, ob es Rechtsprechung und Wissenschaft gelingt, den Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie präziser als bislang zu ermitteln und für die Auslegung fruchtbar zu machen.
8
b) Marktfunktionale Harmonisierung und sozialer Arbeitnehmerschutz als doppelte Zielsetzung So vage die bisher ermittelten Richtlinienzwecke geblieben sind, lassen sich aus ihnen doch immerhin zwei denkbare Ansatzpunkte ableiten: Als mögliche Zielsetzung kommt zum einen die marktfunktionale Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Arbeitsmarktregelungen in Betracht, zum anderen der soziale Arbeitnehmerschutz.7 1 S. nur v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 124 ff.; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 3; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 6 Fn. 12. 2 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 12. 3 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 11. 4 S. zum Folgenden bereits Hartmann, EuZA 2011, 329 (334 f.); Hartmann, EuZA 2012, 35 (36). 5 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 – Abler u.a., Slg. 2003, I-14023 – Rz. 37. 6 S. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 – Rz. 15. 7 Unabhängig davon sind als Nebenzwecke der Richtlinie anzuerkennen die Kontinuität der Betriebsratsarbeit sowie eine angemessene Verteilung der Haftungsrisiken zwischen altem und neuem Arbeitgeber; s. auch Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 1.
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Bereits die gewählte Ermächtigungsgrundlage des Art. 100 EGV a.F. (jetzt: Art. 115 AEUV) deutet darauf hin, dass die Betriebsübergangsrichtlinie jedenfalls auch eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften im Interesse eines funktionierenden Binnenmarkts verfolgt. Dies lässt sich zudem historisch belegen, weil in jener Zeit vor allem Frankreich auf eine Angleichung der Arbeits- und Sozialvorschriften drang, um den Faktor Arbeit im Wettbewerb möglichst zu neutralisieren.1
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Nicht zuletzt wegen ErwGr. 3 BÜ-RL erscheint auf den ersten Blick kaum zweifelhaft, dass die Betriebsübergangsrichtlinie zumindest auch einen eigenständigen Zweck des sozialen Arbeitnehmerschutzes verfolgt.2 Nach mancher Auffassung gilt die Richtlinie jedoch bis heute als Beispiel für eine rein marktfunktional orientierte Harmonisierung.3 Noch nicht durchschlagend spricht gegen diese Sichtweise der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang mit dem Sozialpolitischen Aktionsprogramm von 1974, weil jedenfalls seinerzeit noch durchaus unklar war, ob die Sozialpolitik nicht lediglich einen Annex zur Binnenmarktfrage darstellte.4 Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang mit dem Entwurf eines Übereinkommens über die internationale Verschmelzung von Aktiengesellschaften stützt jedoch die Annahme eines eigenständigen sozialen Schutzzwecks: Hinter diesem gescheiterten Projekt stand die Befürchtung, dass sich multinationale Konzerne bei Einschnitten im Personalbereich auf Mitgliedstaaten mit schwachem Arbeitnehmerschutz konzentrieren könnten.5 Dass diese Zielsetzung nicht nur für die Massenentlassung, sondern auch für den Betriebsübergang weiterverfolgt wurde, zeigt nicht zuletzt die konkrete Ausgestaltung der heutigen Betriebsübergangsrichtlinie: Wäre es nur um eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen gegangen, hätte es nahe gelegen, den Mitgliedstaaten größere Freiheit bei der Ausgestaltung der Rechtsfolgen zu geben und beispielsweise wirtschaftliche Kompensationen zuzulassen, anstatt den Übergang der Arbeitsverhältnisse zwingend vorzugeben.6 c) Präzisierung des sozialen Schutzzwecks auf historisch-rechtsvergleichender Grundlage
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Die Verfasser der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG konnten sich auf einige nationale Vorläufer stützen. Die Ursprungsfassung des § 613a BGB war bereits 1972 in Kraft getreten, und auch in Frankreich und Italien war ein Übergang der Arbeitsverhältnisse seit langem gesetzlich vorgesehen.7 Das Potential einer historisch-rechtsvergleichend fundierten Verdichtung des Arbeitnehmerschutzzwecks ist bislang weitgehend ungenutzt geblieben. Aufschlussreich ist insbesondere die rechtsordnungsübergreifend anerkannte Parallele zum Bestandsschutz bei Veräußerung der Mietsache. Jeweils besteht ein enger Zusammenhang mit dem Kündigungsschutz,8 wie sich nicht zuletzt aus der in Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL vorgesehenen Möglichkeit der Mitgliedstaaten ergibt, die personelle Reichweite der Umsetzungsvorschriften an den nationalen Kündigungsschutz anzupassen. Beim Betriebsübergang wechselt der Be1 Dazu eingehend v. Bogdandy/Bast/Rödl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 855 (865 ff.). 2 Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 1 verweist zusätzlich auf das Günstigkeitsprinzip nach Art. 8 BÜ-RL. 3 S. etwa v. Bogdandy/Bast/Rödl, Europäisches Verfassungsrecht, S. 855 (895 f.). 4 Zu dieser Frage aus heutiger Sicht einerseits Calliess/Ruffert/Krebber, EUV/AEUV, Art. 151 AEUV Rz. 7 ff. und andererseits Schwarze/Rebhahn/Reiner, EU-Kommentar, Art. 151 AEUV Rz. 10. 5 Näher Hartmann, EuZA 2012, 35 (38 f.). 6 Näher Hartmann, EuZA 2012, 35 (39). 7 Eingehend Hartmann, EuZA 2012, 35 (39 ff.). 8 Klar erkannt von Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 1.
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
trieb oder Betriebsteil als notwendiges Substrat des Arbeitsverhältnisses den Inhaber. Die Richtlinie verhindert in dieser Situation, dass der Erwerber die übernommenen Strukturen neu personalisiert und damit der Sache nach eine verbotene Austauschkündigung durchführt. Nicht zu den verfolgten Zielen gehört es hingegen, Umstrukturierungen und Betriebsstilllegungen zu verhindern, um Arbeitsplätze zu sichern.1 5. Regelungsspielräume des nationalen Gesetzgebers Das in Art. 8 BÜ-RL verankerte Günstigkeitsprinzip ergibt sich bereits aus der subsidiären Regelungszuständigkeit der Union (vgl. § 1 Rz. 40).2 Danach können die Mitgliedstaaten für Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anwenden und erlassen sowie günstigere Kollektivnormen und sonstige Sozialpartnervereinbarungen fördern und zulassen. Bei den Rechts- und Verwaltungsvorschriften ist nach der Rechtsprechung des EuGH die Auslegung der jeweiligen nationalen Gerichte maßgeblich.3 Ob mitgliedstaatliche Vorschriften eine günstigere Regelung beinhalten, kann nur vor dem Hintergrund des Richtlinienzwecks beurteilt werden.4 Als zulässig hat es der EuGH jüngst etwa in der Rs. Amatori erachtet, wenn ein Mitgliedstaat die Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs auch für den von der Richtlinie nicht erfassten Fall anordnet, dass der übertragenen wirtschaftlichen Einheit zuvor keine funktionelle Autonomie zukam.5 Wie der EuGH in ständiger Rechtsprechung betont, sieht die Betriebsübergangsrichtlinie „nur eine teilweise Harmonisierung auf dem betreffenden Gebiet vor und will kein für die gesamte Union aufgrund gemeinsamer Kriterien einheitliches Schutzniveau schaffen“.6
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Ob die Mitgliedstaaten ein Recht des Arbeitnehmers zum Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses vorsehen können, war lange umstritten. Inzwischen herrscht im Ergebnis Einigkeit, dass eine Regelung, wie sie heute in § 613a Abs. 6 BGB enthalten ist, zulässig ist. Keine Einigkeit besteht allerdings darüber, ob dies aus dem Günstigkeitsprinzip folgt (vgl. Rz. 99 f.).
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II. Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie Als „wohl wichtigste Frage zur Richtlinie“ gilt deren Anwendungsbereich.7 Gerade insoweit bringt eine zweckorientierte, historisch-rechtsvergleichend informierte Interpretation einigen Aufschluss (vgl. Rz. 12).
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1. Sachlicher Anwendungsbereich a) Wirtschaftliche Einheit als Gegenstand des Betriebsübergangs Für den Gegenstand des Betriebsübergangs stützt sich der EuGH seit Spijkers8 auf das heute in Anlehnung an diese Judikatur in Art. 1 Abs. 1 Buchst. b BÜ-RL kodifizierte 1 S. zu alledem bereits Hartmann, EuZA 2012, 35 (50 f.). 2 Zum deklaratorischen Charakter der Vorschrift v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 168, 264; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 103. 3 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/92, C-138/91 und C-139/91 – Katsikas u.a., Slg. 1992, I-6577 – Rz. 40. 4 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 104. 5 EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-458/12 – Amatori, NZA 2014, 423 – Rz. 36 ff. 6 So in ständiger Rechtsprechung EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-458/12 – Amatori, NZA 2014, 423 – Rz. 41. 7 Rebhahn, RdA 2006, Sonderbeilage zu Heft 6, 4 (6). 8 EuGH v. 18.3.1986 – 24/85 – Spijkers, Slg. 1986, 1119 – Rz. 11 ff.
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§ 11
Rz. 17
Betriebsübergang
Merkmal der wirtschaftlichen Einheit. Ein Betriebsübergang liegt danach vor, wenn eine wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- und Nebentätigkeit auf einen anderen Inhaber übergeht. Nicht in den Wortlaut der Richtlinie übernommen wurde die in Teilen präzisere Definition aus Süzen, in der die Einheit als „eine organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung“ bezeichnet wird.1 Der EuGH hat diese Formulierung aber auch mit Blick auf die aktuell geltende Betriebsübergangsrichtlinie verwendet.2 Die in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL erwähnten Begriffe Unternehmen, Betrieb sowie Unternehmens- und Betriebsteil werden weder in der Richtlinie noch in der Judikatur näher definiert und spielen in der Praxis für sich genommen keine wesentliche Rolle.3 Weil der EuGH stets die wirtschaftliche Einheit ins Zentrum stellt, soll von diesem Oberbegriff bei Vorliegen der Voraussetzungen offenbar bereits der Betriebsteil als kleinste Einheit umfasst sein.4 17
Nach der EuGH-Entscheidung in der Rs. Süzen hat sich das BAG auch terminologisch an die europäischen Vorgaben angepasst und orientiert sich inzwischen nicht mehr am Wortlaut des § 613a BGB, sondern ebenfalls am zentralen Begriff des identitätswahrenden Übergangs einer wirtschaftlichen Einheit.5 Dies ist zu begrüßen, weil der deutsche Betriebsbegriff im allgemeinen arbeitsrechtlichen und betriebsverfassungsrechtlichen Sinn eine andere Funktion hat.6 Die terminologischen Unterschiede wirken sich jedoch häufig nicht aus.7 So ist zwar der deutsche Betriebsbegriff auf arbeitstechnische Zwecken bezogen und setzt deshalb nicht zwingend erwerbswirtschaftliche Ziele voraus.8 Jedoch stellt auch Art. 1 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL ausdrücklich klar, dass die erforderliche wirtschaftliche Tätigkeit nicht mit Erwerbszwecken verbunden sein muss.9
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Bei teleologischer Auslegung erweist sich das Tatbestandsmerkmal der wirtschaftlichen Einheit nach verbreiteter und zutreffender Auffassung als eine Ausprägung des Substratsgedankens.10 Es geht also um das Substrat, „an“ welchem der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung erbringt. Erforderlich ist eine Organisationsstruktur, in der Ressourcen wie Personal oder Sachen in charakteristischer Zusammensetzung zur Verfolgung spezifischer wirtschaftlicher Zwecke gebündelt sind.
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Weil der Schutzzweck der Richtlinie eine arbeitsplatzbezogene Sichtweise erfordert, steht nicht entgegen, dass der jeweils verfolgte Zweck für das übertragende Unternehmen nur von untergeordneter Bedeutung ist und nicht in einem notwendigen Zusam1 EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259 – Rz. 13; s. auch EuGH v. 20.11. 2003 – Rs. C-340/01 – Abler u.a., Slg. 2003, I-14023 – Rz. 30. 2 EuGH v. 15.12.2005 – Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres u.a., Slg. 2005, I-11237 – Rz. 32. 3 Besonders deutlich EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 – Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311 – Rz. 17. 4 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 22; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/ Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G36. 5 BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050 (1052); s. dazu Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 30. 6 S. auch ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 5. 7 Vgl. Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G36. 8 Zum deutschen Betriebsbegriff als allgemeinem Rechtsbegriff Richardi/Richardi, BetrVG, 14. Aufl. 2014, § 1 Rz. 16 f. 9 S. auch Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 44. 10 Annuß, NZA 1998, 70 (71 f.); EAS/Joussen, B 7200 Rz. 4.
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 22 § 11
menhang mit dem Unternehmenszweck steht („Haupt- oder Nebenzweck“).1 Die insoweit häufige erforderliche Abgrenzung zur Auftrags- oder Funktionsnachfolge wird herkömmlich als Problem der Identitätswahrung eingeordnet (vgl. Rz. 47 ff.). Jedoch stellt sich in den einschlägigen Fällen häufig bereits die Frage, ob eine wirtschaftliche Einheit als tauglicher Gegenstand eines Betriebsübergangs vorliegt. Seit langem ist anerkannt, dass die wirtschaftliche Einheit auf Dauer angelegt sein muss und sich nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränken darf. So hat der EuGH bereits 1995 in der Rs. Rygaard den Anwendungsbereich der Richtlinie nicht als eröffnet gesehen, wenn bereits beim Veräußerer keine dauerhaft eingerichteten Arbeitsplätze bestanden.2
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b) Übergang auf einen anderen Inhaber Ein Übergang i.S.d. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b BÜ-RL erfordert nach der Rechtsprechung des EuGH einen Wechsel in der für den Betrieb des Unternehmens verantwortlichen natürlichen oder juristischen Person, die den Beschäftigten gegenüber die Arbeitgeberverpflichtungen eingeht.3 Der häufig verwendete Begriff der „Leitungsmacht“4 bringt nicht hinreichend zum Ausdruck, dass die verantwortliche Person (ggf. durch Einsatz weisungsgebundener Dritter) der Belegschaft gegenüber als Arbeitgeberin auftreten muss. Auf einen Wechsel in den Eigentumsverhältnissen kommt es nicht an, weil sich die betroffenen Arbeitnehmer auch ohne Eigentumsübertragung in einer „vergleichbaren Lage wie die Arbeitnehmer eines veräußerten Unternehmens“ befinden können.5 Bereits die Begründung des Kommissionsentwurfs nennt als Anwendungsfälle der geplanten Richtlinie neben der Eigentumsübertragung auch Vermietung, Verpachtung und Nießbrauchbestellung.6 Umgekehrt genügt der Eigentümerwechsel für sich genommen nicht, wenn wie etwa bei der Sicherungsübereignung der Veräußerer die Arbeitgeberfunktion behält.7
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Der Zeitpunkt des Übergangs fällt mit dem Wechsel in der Verantwortlichkeit für Betriebsleitung und Arbeitgeberverpflichtungen zusammen (vgl. Rz. 77). Wegen des zwingenden Charakters des Betriebsübergangsrechts können die Parteien diesen Zeitpunkt nicht nach eigenem Gutdünken bestimmen.8 Andernfalls könnten Veräußerer und Erwerber beispielsweise die Haftungsverhältnisse verändern oder erreichen, dass der Betrieb oder Betriebsteil noch vor einer Tariferhöhung auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber übergeht.9 Dies wäre mit dem Schutzzweck der Richtlinie unvereinbar. Allerdings kommt es für den Übergangszeitpunkt nicht notwendig auf das Wirksamwerden einer dinglichen Übertragung der Betriebsmittel an, so dass Veräußerer und Erwerber diesen Zeitpunkt durch eine vorgelagerte oder nachfolgende Übertragung der Nutzungsbefugnis an den wesentlichen Betriebsmitteln und Übertragung der Leitungsmacht über die betroffene betriebliche Einheit gestalten können.
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1 EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Watson Rask und Christensen, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 17; v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 – Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311 – Rz. 14. 2 EuGH v. 19.9.1995 – Rs. C-48/94 – Rygaard, Slg. 1995, I-2745 – Rz. 19 ff. 3 St. Rspr., s. nur EuGH v. 17.12.1987 – Rs. 287/86 – Ny Mølle Kro, Slg. 1987, 5465 – Rz. 12; v. 10.12.1998 – Rs. C-173/96 und C-247/96 – Hidalgo u.a., Slg. 1998, I-8237 Rz. 23. 4 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 6; Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 32. 5 EuGH v. 17.12.1987 – Rs. 287/86 – Ny Mølle Kro, Slg. 1987, 5465 – Rz. 12. 6 Erläuterung zu Art. 1 des Richtlinienvorschlags, abgedruckt in: RdA 1975, 124. 7 Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 28. 8 EuGH v. 14.11.1996 – Rs. C-305/94 – Rotsart de Hertaing, Slg. 1996, I-5927 – Rz. 22 ff.; v. 26.5. 2005 – Rs. C-478/03 – Celtec, Slg. 2005, I-4389 – Rz. 39 ff. 9 S. für diese Beispiele Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 105.
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§ 11 23
Rz. 23
Betriebsübergang
Nach der zutreffenden Rechtsprechung des EuGH müssen Veräußerer und Erwerber nicht unabhängig voneinander sein. Der Tatbestand eines Betriebsübergangs kann also auch dann erfüllt sein, wenn die Übertragung etwa zwischen zwei Tochtergesellschaften desselben Konzerns1 oder zwischen Konzernmutter und -tochter2 erfolgt. c) Erfasste Übertragungsformen
24
Nach ihrem deutschen Wortlaut umfasst die Richtlinie Inhaberwechsel durch vertragliche Übertragungen und Verschmelzungen (Art. 1 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL). Ausdrücklich ausgeschlossen sind nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL die Übertragung von Aufgaben im Zuge einer Umstrukturierung von Verwaltungsbehörden und die Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer Behörde auf eine andere. Art. 11 RL 82/891/EWG erweitert den Anwendungsbereich auf die Spaltung von Aktiengesellschaften.
25
Im deutschen Recht verlangt § 613a BGB parallel dazu einen Übergang durch Rechtsgeschäft. § 324 UmwG regelt die Anwendung von § 613a BGB bei Verschmelzung, Spaltung und Vermögensübertragung.
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aa) Vertragliche Übertragung. Der Begriff „vertragliche Übertragung“ in der deutschen Fassung ist irreführend. Da sich nicht nur die mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen, sondern auch die verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie substantiell unterscheiden (in der englischen Fassung ist etwa von „legal transfer“ die Rede),3 misst der EuGH dem Wortlaut zu Recht keine entscheidende Bedeutung bei.4 Vielmehr entscheidet er über die Anwendung nach dem Zweck der Betriebsübergangsrichtlinie, die Arbeitnehmer bei einer Übertragung ihres Unternehmens zu schützen.5 Dabei hat der Gerichtshof das Merkmal freilich so weit ausgedehnt, dass es kaum noch eine einschränkende Wirkung entfaltet.
27
Eine vertragliche Beziehung zwischen den am Wechsel beteiligten Inhabern ist keine Voraussetzung. In der Rs. Jouini lässt es der EuGH ausreichen, dass unabhängig von der konkreten Form ein gemeinsamer Wille von altem und neuem Inhaber für einen Wechsel zum Ausdruck kommt.6 Auch ist eine unmittelbare Beziehung zwischen den Beteiligten keine Notwendigkeit für einen Betriebsübergang. So ist beispielsweise die Nachfolge in ein Pachtverhältnis ausreichend.7 Unschädlich ist es, wenn die Übertragung in mehreren Schritten erfolgt.8 Mittlerweile hat der EuGH sogar jegliche rechtsgeschäftliche Komponente für entbehrlich erklärt. In Redmond Stichting hat er einen Betriebsübergang für den Fall bejaht, dass staatliche Subventionen an eine Stiftung eingestellt und im Anschluss an eine andere Stiftung zu einem ähnlichen Zweck gewährt werden.9 Unter Berufung auf dieses Urteil nimmt der EuGH Betriebs1 2 3 4 5 6 7
EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 – Allen u.a., Slg. 1999, I-8643 – Rz. 17 ff. EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-458/12 – Amatori, NZA 2014, 423 – Rz. 47 ff. Zu beiden Aspekten Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 41. Grundlegend EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 153/83 – Abels, Slg. 1985, 469 – Rz. 11 ff. Exemplarisch EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-458/05 – Jouini, Slg. 2007, I-7301 – Rz. 24. EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-458/05 – Jouini, Slg. 2007, I-7301 – Rz. 24. EuGH v. 10.2.1988 – Rs. 324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, 739 – Rz. 10; vgl. auch v. 17.12.1987 – Rs. 287/86 – Ny Mølle Kro, Slg. 1987, 5465 – Rz. 12 ff. (Kündigung des Pachtvertrags und Übernahme durch den Verpächter/Eigentümer). 8 So EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/87 – Bork, Slg. 1988, 3057 – Rz. 14 für den Fall eines beendeten Mietvertrags und einer anschließenden Veräußerung an einen Dritten durch den Eigentümer. 9 EuGH v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 – Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189 – Rz. 15 ff.
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 30 § 11
übergänge auch bei einseitigen staatlichen Verwaltungsentscheidungen an.1 Mit dem Urteil in der Rs. Scattolon ist inzwischen eine weitere Barriere gefallen: Im Ausgangsfall erfolgte der Übergang der Arbeitsverhältnisse unmittelbar durch Gesetz. Auch dies hindert aus Sicht des EuGH die Annahme einer „vertraglichen Übertragung“ nicht. Zur Begründung verweist der Gerichtshof lediglich auf frühere Entscheidungen wie Redmond Stichting, in denen es für ausreichend erachtet wurde, dass der Übergang auf einer einseitigen Entscheidung staatlicher Stellen beruhte.2 In welcher Form die staatliche Entscheidung getroffen wird, soll also offenbar keine Rolle spielen. Damit stellt sich die Frage, welche Funktion dem Erfordernis einer vertraglichen Übertragung überhaupt noch zukommen soll. Entgegen mancher Kritik, die eine mangelnde Differenzierungskraft des Merkmals in der Auslegung durch den EuGH beklagt,3 ist dem teleologischen Ansatz des EuGH im Grundsatz zuzustimmen. Bei zweckorientierter Richtlinienauslegung ergibt sich allerdings zumindest das Erfordernis, dass der Übergang nicht gegen den Willen des bisherigen Inhabers erfolgt. Werden etwa Mitarbeiter einseitig abgeworben, liegt es nahe, dass der frühere Arbeitgeber seine Strukturen wiederherstellt, so dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ein Übergang der verbleibenden Arbeitsverhältnisse kraft Gesetzes wäre hier nicht mit dem Richtlinienzweck vereinbar.4
28
Aus dem Merkmal des Übergangs „durch Rechtsgeschäft“ in § 613a BGB leitet auch das BAG nur minimale Anforderungen ab. Allerdings soll § 613a BGB nicht unmittelbar auf den Inhaberwechsel durch Gesetz oder Hoheitsakt anwendbar sein.5 Entsprechend ging das BAG bislang davon aus, dass die Übertragung durch Gesetz keinen Betriebsübergang begründe.6 Im Hinblick auf Scattolon werden die Übertragungsgesetze an der Richtlinie zu messen und gegebenenfalls richtlinienkonform auszulegen sein.7
29
bb) Verschmelzung. Der Begriff der Verschmelzung ist in der Richtlinie selbst nicht näher bestimmt. Allerdings lässt sich schon aus entstehungsgeschichtlichen Gründen (vgl. Rz. 2) die Definition aus anderen Richtlinien – insbesondere der Richtlinie 78/855/EWG und der Verschmelzungsrichtlinie – übernehmen.8 Regelmäßig liegt im Falle einer Verschmelzung wegen der hierzu erforderlichen Rechtsgeschäfte zugleich
30
1 EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 – Collino und Chiappero, Slg. 2000, I-6659 – Rz. 34; v. 29.7. 2010 – Rs. C-151/09 – UGT-FSP, Slg. 2010, I-7591 – Rz. 21 ff. 2 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 63 ff. unter Verweis u.a. auf EuGH v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 – Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189 – Rz. 15 ff.; dazu Steffan, NZA 2012, 473 (474). 3 S. etwa Jöst, Der Betriebsübergang, S. 36 ff.; Wank, FS 50 Jahre BAG, 245 (253). 4 S. bereits Hartmann, EuZA 2011, 329 (337 f.); ähnlich Joost, FS Kraft, 281 (286); Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G 44. 5 So in einem obiter dictum BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267 – Rz. 27. 6 S. dazu die Entscheidungen BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 124/05, NZA 2006, 848 – Rz. 24 ff. sowie v. 28.9.2006 – 8 AZR 441/05, AP Nr. 26 zu § 419 BGB Funktionsnachfolge, jeweils zur gesetzlichen Überleitung von Arbeitsverhältnissen auf die „Stiftung Oper in Berlin“. Vgl. aber auch BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, NZA 2011, 400 – Rz. 71 ff. zum verfassungsrechtlichen Erfordernis eines Widerspruchsrechts, wenn die gesetzliche Übertragung auf einen anderen öffentlichen Träger der Vorbereitung einer Privatisierung dient. 7 Zum Ganzen auch Steffan, NZA 2012, 473 (474), der die Konsequenzen allerdings offen lässt. 8 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 204 und EAS/Joussen, B 7200 Rz. 20 Fn. 73 erweitern den Verschmelzungsbegriff, der nur Aktiengesellschaften umfasst, auf entsprechende Vorgänge unabhängig von der jeweiligen Rechtsform.
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§ 11
Rz. 31
Betriebsübergang
auch eine vertragliche Übertragung vor, so dass die Regelung einen klarstellenden Charakter aufweist.1 31
Voraussetzung für eine Verschmelzung ist, dass eine oder mehrere Gesellschaften ihr Vermögen durch Auflösung ohne Abwicklung auf eine bestehende (Art. 3 Abs. 1 RL 78/855/EWG) oder eine neu gegründete Gesellschaft (Art. 4 Abs. 1 RL 78/855/EWG) übertragen. Im Gegenzug erhalten die Aktionäre der übertragenen Gesellschaft(en) Aktien an der übernehmenden Gesellschaft und gegebenenfalls eine Zuzahlung, die 10 % nicht übersteigt.
32
Der Verschmelzung gleichgestellt sind Vorgänge, bei denen die Zuzahlung 10 % übersteigt, und solche, bei denen nicht alle übertragenen Gesellschaften aufgelöst werden (Art. 30 f. RL 78/855/EWG). Im Fall der Spaltung ist eine Anwendung der Betriebsübergangsrichtlinie auch für gleichgestellte Maßnahmen angeordnet. Gleiches sollte für die Verschmelzung gelten.
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cc) Spaltung. Art. 11 der Aktiengesellschafts-Spaltungsrichtlinie 82/891/EWG erklärt im Fall einer Spaltung die Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG für anwendbar. Art. 12 Abs. 2 BÜ-RL stellt klar, dass dies als Verweis auf die aktuelle Richtlinie gilt.
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Spiegelbildlich zur Verschmelzung setzt eine Spaltung die Übertragung des gesamten Vermögens einer Aktiengesellschaft im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf mehrere Gesellschaften, die Auflösung der übertragenen Gesellschaft ohne Abwicklung und das Einräumen von Aktien der übernehmenden Gesellschaften an die Aktionäre der übertragenden Gesellschaften voraus, wobei eine Zuzahlung von 10 % gestattet ist (Art. 1, 2, 21 RL 82/891/EWG). Dabei können die übernehmenden Gesellschaften bereits bestehen (Art. 2 RL 82/891/EWG) oder neu gegründet werden (Art. 21 RL 82/891/EWG).2
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Vorgänge, bei denen die Zuzahlung 10 % übersteigt, und solche, bei denen die gespaltene Gesellschaft nicht aufgelöst wird, sind der Spaltung gleichgestellt (Art. 24 f. RL 82/891/EWG). Der Verweis in Art. 11 RL 82/891/EWG gilt ebenfalls für gleichgestellte Maßnahmen, so dass die Betriebsübergangsrichtlinie Anwendung findet. d) Wahrung der Identität
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Von zentraler Bedeutung für die tatbestandliche Konturierung des Betriebsübergangs ist die Voraussetzung, dass die auf den neuen Inhaber übergehende wirtschaftliche Einheit ihre Identität wahren muss. Der soziale Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie ist nur einschlägig, wenn die wirtschaftliche Einheit in ihrer charakteristischen Zusammensetzung auch beim Erwerber das Substrat der jeweiligen Arbeitsverhältnisse bildet. Mit seinen Vorgaben zur Präzisierung des Identitätskriteriums hat der EuGH immer wieder heftige Diskussionen ausgelöst.
37
aa) Kriterienbündel in Form eines beweglichen Systems als Ansatz des EuGH. Seit der Entscheidung in der Rs. Spijkers aus dem Jahr 1986 beurteilt der EuGH die Identitätswahrung aufgrund einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung, wobei sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen zu berücksichtigen sein sollen. Hierzu hat die Rechtsprechung einen Sieben-Punkte-Katalog entwickelt, der die aus Sicht des Gerichtshofs wesentlichen Punkte enthält. Dazu zählen „namentlich – die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs, 1 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 208; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 20. 2 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, S. 527.
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Rz. 41 § 11
Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
– der Übergang oder Nichtübergang der materiellen Aktiva wie Gebäude und bewegliche Güter, – der Wert der immateriellen Aktiva zum Zeitpunkt des Übergangs, – die Übernahme oder Nichtübernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, – der Übergang oder Nichtübergang der Kundschaft, – der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und der nach dem Übergang verrichteten Tätigkeit sowie – die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit“.1 Ausdrücklich betont der EuGH, dass diese sieben Merkmale „nur Teilaspekte der vorzunehmenden globalen Bewertung sind und deshalb nicht isoliert beurteilt werden können“.2 In methodischer Hinsicht bedient er sich dabei eines beweglichen Systems.3 Bereits deshalb müssen nicht stets bestimmte oder gar alle Indizien erfüllt sein. Im Übrigen stehen die genannten Kriterien ohnehin keineswegs gleichrangig nebeneinander. Teilweise kommt ihnen nur eine Hilfsfunktion bei der Anwendung der übrigen Merkmale zu. So spricht etwa die jeweilige Art des betreffenden Betriebs oder Unternehmens bei isolierter Betrachtung weder für noch gegen einen Betriebsübergang. Jedoch ist der Charakter der ausgeübten Tätigkeit ebenso wie die angewandten Produktions- und Betriebsmethoden maßgeblich für die Gewichtung der weiteren Kriterien.4
38
Der Umstand, dass der Sieben-Punkte-Katalog des EuGH über mehr als ein Vierteljahrhundert hinweg alle Umbrüche der Judikatur überdauert hat, spiegelt sowohl dessen Stärken als auch dessen Schwächen wider. Einerseits enthält das Kriterienbündel unbestreitbar Indizien, mit deren Hilfe sich der Begriff des Betriebsübergangs konkretisieren lässt. Zudem weist die betriebliche Lebenswirklichkeit eine so große Bandbreite an Organisationsstrukturen auf, dass es illusorisch wäre, für alle Arten der Warenproduktion und Dienstleistung ein einziges äußerliches Kriterium zu benennen. Andererseits führt die vom EuGH geforderte „Gesamtwürdigung“5 zu einer mit Recht kritisierten tatbestandlichen Offenheit, die in besonderer Weise die Gefahr richterlichen Dezisionismus in sich birgt.6
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Die notwendige tatbestandliche Verdichtung ist nur zu erreichen, wenn die Elemente des Kriterienbündels im Rahmen einer teleologischen Auslegung auf den Grundgedanken der Regelung zurückgeführt werden. Die Betriebsübergangsrichtlinie soll verhindern, dass der Erwerber die übernommene Struktur neu personalisiert und damit der Sache nach eine sonst nicht zulässige Austauschkündigung vornimmt (vgl. Rz. 12). Die in Deutschland verbreitete Redeweise, es müsse sich der Erwerber „ins gemachte Bett“ gelegt haben,7 weist zwar für sich genommen noch keine allzu große Differenzierungskraft auf, ist aber als Kriterium im Rahmen einer Evidenzkontrolle durchaus hilfreich.
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bb) Differenzierung zwischen betriebsmittelarmen und betriebsmittelreichen Branchen. Eine gewisse Strukturierung erhält die erforderliche Gesamtabwägung durch die
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1 2 3 4 5 6 7
EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 – Spijkers, Slg. 1986, 1119 – Rz. 13. EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 – Spijkers, Slg. 1986, 1119 – Rz. 13. Zutreffend Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 26. EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259 – Rz. 14, 18. S. etwa EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 – Klarenberg, Slg. 2009, I-803 – Rz. 49. Zutreffend Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 39. BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, NZA 2006, 1039 – Rz. 26; v. 24.8.2006 – 8 AZR 317/05, NZA 2007, 1287 – Rz. 55; Fuhlrott, NZA 2013, 183; vgl. auch Jochums, NJW 2005, 2580 (2585).
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§ 11
Rz. 42
Betriebsübergang
zentrale Rolle, die der EuGH dem Verhältnis von Arbeitskraft und sonstigen Produktionsmitteln bei der Anwendung des Sieben-Punkte-Katalogs beimisst. Die Art des jeweiligen Unternehmens oder Betriebs bestimmt darüber, welche Bedeutung den anderen sechs Abwägungsgesichtspunkte im konkreten Fall zukommt.1 Die Unterscheidung zwischen „betriebsmittelarmen“ und „betriebsmittelreichen“ Branchen wird etwa in der Rs. Süzen betont: „Soweit in bestimmten Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt, eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die durch eine gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbunden sind, eine wirtschaftliche Einheit darstellt, kann eine solche Einheit ihre Identität über ihren Übergang hinaus bewahren, wenn der neue Unternehmensinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt, das sein Vorgänger gezielt bei dieser Tätigkeit eingesetzt hatte.“2 42
In der jüngeren Literatur ist die Frage aufgeworfen worden, ob es eine tatbestandsbegründende Personalübernahme zwingend voraussetzt, dass der Erwerber die betreffenden Arbeitskräfte auf der Grundlage von Arbeitsverträgen beschäftigt. Entscheidend kann auch insoweit nur sein, ob sich der neue Inhaber das im Personal verkörperte Know-how in der erforderlichen Weise zunutze macht. Deshalb kann es unter Umständen ausreichen, wenn Arbeitnehmer des bisherigen Inhabers vom Erwerber als „freie Mitarbeiter“ beschäftigt werden.3
43
Ein Übergewicht der menschlichen Arbeitskraft hat der EuGH bislang vor allem im Reinigungs-4 und Bewachungsgewerbe5 mit der Folge anerkannt, dass bereits die Übernahme wesentlicher Personalteile den Tatbestand eines Betriebsübergangs erfüllen kann. Ein Gegenbeispiel aus der Rechtsprechung bildet der Wechsel großer Teile einer Belegschaft von Busfahrern zu einem neuen Arbeitgeber. Weil der Busverkehr „in erheblichem Umfang Material und Einrichtungen erfordert“, lehnt der EuGH einen Betriebsübergang nur auf der Grundlage der Personalübernahme ab.6 Problematisch sind insbesondere Konstellationen, in denen zwar einerseits eine Dienstleistung erbracht wird, hierfür aber andererseits Anlagen und Maschinen von hohem Wert oder großer Komplexität eine Rolle spielen. Ein Grenzfall dürfte etwa die Sicherheitskontrolle am Flughafen mit Hilfe von Torbogensonden, Durchleuchtungsgeräten usw. sein. In Güney-Görres7 (vgl. Rz. 51) thematisiert der EuGH nicht näher, dass dem geschulten Sicherheitspersonal eine mindestens vergleichbare Bedeutung wie den Anlagen zukommt.8
44
Die häufig vorgebrachte Kritik, es grenze bei personalintensiven Betrieben an einen Zirkelschluss, aus der Übernahme von Belegschaftsteilen den gesetzlichen Übergang der Arbeitsverhältnisse zu folgern,9 greift nicht durch. Der EuGH setzt keineswegs 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 53. EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259 – Rz. 21. Zutreffend Fuhlrott, NZA 2013, 183 (185 f.) mit Hinweis auf weitere Konstellationen. EuGH v. 10.12.1998 – Rs. C-127/96, C-229/96 und C-74/97 – Hernández Vidal u.a., Slg. 1998, I-8179 – Rz. 30 ff.; v. 24.1.2002 – Rs. C-51/00 – Temco, Slg. 2002, I-969 – Rz. 26. EuGH v. 10.12.1998 – Rs. C-173/96 und C-247/96 – Hidalgo u.a., Slg. 1998, I-8237 – Rz. 30 ff. EuGH v. 25.1.2001 – Rs. C-172/99 – Oy Liikenne, Slg. 2001, I-745 insb. – Rz. 39; anders v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 – Allen u.a., Slg. 1999, I-8643 – Rz. 30 für Streckenvortriebsarbeiten im Kohlebergbau, wenn der Zecheneigentümer die erforderlichen Gerätschaften stellt. EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres u.a., Slg. 2005, I-11237. Zutreffend bezeichnen Willemsen/Müntefering, NZA 2006, 1185 (1191), die parallele Sachverhaltsgestaltung in BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101 als „ausgesprochenen Grenzfall“. S. für dieses sog. „Konfusionsargument“ etwa GA Cosmas v. 24.9.1998 – verb. Rs. C-127/96, C-229/96 und C-74/97 – Hernández Vidal u.a., Slg. 1998, I-8179 – Rz. 80 f.; vgl. außerdem etwa Barrett, Common Market Law Review 42 (2005), 1053 (1065).
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 47 § 11
Voraussetzungen und Rechtsfolgen in eins. Denn die übernommenen Belegschaftsteile geraten auf tatbestandlicher Seite von vornherein nur in ihrer möglichen Funktion als immaterielle Betriebsmittel in Betracht. Vor dem Hintergrund des Richtlinienzwecks kommt es deshalb darauf an, ob der übernommene Belegschaftsteil mit Blick auf Sachkunde, Organisationsstruktur und nicht zuletzt auch relative Größe seine Funktionsfähigkeit grundsätzlich behält. Ihm kommt dann diejenige Funktion zu, die in weniger personalintensiven Branchen die sächlichen Betriebsmittel erfüllen. Jeweils wird die Arbeit gewissermaßen „an“ den Betriebsmitteln, seien sie dinglicher oder personeller Art, erbracht. Die Betriebsübergangsrichtlinie will den Arbeitnehmer davor schützen, dass ihm diese Betriebsmittel als notwendiges Substrat des Arbeitsverhältnisses durch einen Inhaberwechsel entzogen werden.1 Auch die gegen die Rechtsprechung des EuGH gerichtete weitere Kritik, mit der Differenzierung zwischen materiellen und immateriellen Betriebsmitteln würden sinnwidrige Anreize gesetzt, verliert bei zweckorientierter Interpretation der Betriebsübergangsrichtlinie an Durchschlagskraft. Richtig ist zwar, dass der Erwerber bei betriebsmittelarmen Betrieben von der Übernahme eines Belegschaftsteils absehen könnte, um nicht in den Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie zu geraten.2 Dieser Kritik lässt sich aber jedenfalls teilweise Rechnung tragen, indem man die Mindestanforderungen an den übernommenen Belegschaftsteil nicht rein quantitativ bestimmt, sondern zum maßgeblichen Kriterium erhebt, ob das betreffende Personal etwa durch seine Fachkompetenz ein zentrales immaterielles Betriebsmittel darstellt oder eine bestimmte betriebliche Organisationsstruktur widerspiegelt. Eine rein quantitative Betrachtung findet in der Rechtsprechung des EuGH aber ohnehin keine Stütze.3
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In der Rechtsprechung des BAG finden sich Beispiele für eine Sichtweise, die sich insbesondere bei geringer qualifizierten Belegschaftsteilen an Übernahmequoten orientiert. So hat das BAG etwa bei Reinigungstätigkeiten 60 %4 und bei Holund Bringdiensten in einem Krankenhaus 75 % der Arbeitnehmer5 als nicht ausreichend erachtet. Auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung begründet aber selbst die Weiterbeschäftigung der Gesamtbelegschaft nicht zwingend einen Betriebsübergang.6 Begrüßenswert ist es deshalb, wenn auch das BAG zunehmend nicht die Erfüllung starrer Übernahmequoten für maßgeblich hält, sondern insbesondere die Qualifikation der jeweiligen Belegschaftsteile ins Zentrum rückt.7
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cc) Abgrenzung zur Funktions- und Auftragsnachfolge. Die Auffassung des EuGH, dass in betriebsmittelarmen Branchen bereits die Übernahme des ausführenden Personals einen Betriebsübergang herbeiführen kann, wirft als Folgeproblem die Abgrenzung zur sog. Funktionsnachfolge auf. Die Frage stellt sich, wenn ein Unternehmen bislang selbst
47
1 S. zum Ganzen bereits eingehend Hartmann, EuZA 2011, 329 (335 f.). Besonders lesenswert in diesem Zusammenhang GA Trstenjak v. 26.10.2010 – Rs. C-463/09 – CLECE, Slg. 2011, I-95 – Rz. 64, 67 ff. 2 GA Cosmas v. 24.9.1998 -verb. Rs. C-127/96, C-229/96 und C-74/97 – Hernández Vidal, Slg. 1998, I-8179 – Rz. 80; GA Geelhoed v. 19.6.2003 – Rs. C-340/01 – Abler u.a., Slg. 2003, I-14023 – Rz. 80 f.; aus der Literatur Barrett, Common Market Law Review 42 (2005), 1053 (1065 f.); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 40; Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 37; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 23. 3 Lesenswert die Rechtsprechungsanalyse bei GA Trstjenjak v. 26.10.2010 – Rs. C-463/09 – CLECE, Slg. 2011, I-95 – Rz. 64 ff., 70 f.; dazu bereits Hartmann, EuZA 2011, 329 (335 f.). 4 BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 333/04, NZA 2006, 31 (33). 5 BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 676/97, NZA 1999, 420 (421 f.). 6 Dazu bereits Hartmann, EuZA 2011, 329 (336 f.). 7 S. etwa BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, NZA-RR 2013, 6 – Rz. 41 ff.
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§ 11
Rz. 48
Betriebsübergang
durchgeführte Tätigkeiten einem externen Auftragnehmer überträgt und dieser zumindest Teile des ausführenden Personals übernimmt. Ein ähnliches Problem entsteht bei der sog. Auftragsnachfolge. In dieser Situation tritt an die Stelle des bisherigen Auftragnehmers ein anderer und übernimmt wiederum zumindest Teile des ausführenden Personals.1 48
Heftige Kontroversen hat insbesondere die Entscheidung in der Rs. Christel Schmidt aus dem Jahr 1994 ausgelöst. In dem zugrunde liegenden Ausgangsfall vergab eine Sparkasse die bislang von einer eigenen Mitarbeiterin durchgeführten Reinigungsarbeiten an ein externes Unternehmen, das dieser Mitarbeiterin eine Übernahme zu schlechteren Konditionen anbot. Der EuGH sah den Anwendungsbereich der Richtlinie eröffnet. Auch unabhängig von einer Übertragung von Vermögensgegenständen könne die erforderliche Identitätswahrung erfüllt sein, wenn „dieselbe oder eine gleichartige Geschäftstätigkeit vom neuen Inhaber tatsächlich weitergeführt oder wiederaufgenommen wird“.2 Die Einwände gegen die Entscheidung konzentrierten sich vor allem darauf, dass mit diesem Ausgangspunkt auch die bloße Funktionsnachfolge in den Anwendungsbereich der Richtlinie einbezogen schien.3 In entsprechenden Befürchtungen sahen sich die Kritiker insbesondere durch die Entscheidung in der Rs. Merckx u.a. bestätigt. Auch hier betonte der EuGH, es komme nicht auf die Übertragung materieller oder immaterieller Aktiva an, wenn die ausgeübte Tätigkeit unverändert fortgeführt werde.4
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Wie einigen Folgeentscheidungen zu entnehmen ist, hat jedenfalls die Abgrenzung zur Auftragsnachfolge nach aktueller Rechtsprechung des EuGH durchaus Relevanz für den Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie. In der Rs. Süzen aus dem Jahr 1997 stellte der Gerichtshof erstmals ausdrücklich fest, dass die bloße Fortführung einer bestimmten Tätigkeit für sich genommen keinen Betriebsübergang begründe.5 Der Ausgangsfall betraf die Vergabe eines Reinigungsauftrags an einen neuen Dienstleister, wobei es aber anders als in der Rs. Christel Schmidt nicht zu einer Personalübernahme gekommen war. Wegen dieses zentralen Unterschieds erweist sich Süzen weniger als „turning point“6, sondern vielmehr als Konkretisierung in konsequenter Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung.7 Inzwischen ist die Grundaussage der Süzen-Entscheidung in weiteren Urteilen bestätigt worden.8
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Für einige Irritation hat allerdings das Urteil in der Rs. Klarenberg aus dem Jahr 2009 gesorgt. In dem zugrunde liegenden Ausgangsfall hatte die Erwerberin das übernommene Personal in unterschiedliche Abteilungen ihres Unternehmens eingegliedert und auch mit Aufgaben betraut, die nichts mit den ebenfalls erworbenen Produktlinien zu tun hatten. Der EuGH hat unter Bezugnahme auf die Rs. Christel Schmidt ausgeführt, dass es für den Tatbestand eines Betriebsübergangs nicht darauf ankom1 Zum Begriff der Auftragsnachfolge EAS/Joussen, B 7200 Rz. 13 Fn. 47. 2 EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 – Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311 – Rz. 17. 3 Vgl. aus der Flut der kritischen, mitunter auch polemischen Stellungnahmen nur etwa Bauer, BB 1994, 1433; Junker, NJW 1994, 2527 (2528). 4 EuGH v. 7.3.1996 – verb. Rs. C-171/94 und C-172/94 – Merckx u.a., Slg. 1996, I-1253 – Rz. 20 f.; kritisch Franzen, DZWir 1996, 397 (401 f.). 5 EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259 – Rz. 15. 6 So aber Barrett, (2005) 42 CMLR 1053 (1056); vgl. auch Buchner, NZA 1997, 408; Heinze, DB 1997, 677 (678); Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G10; differenzierter jedoch Annuß, NZA 1998, 70 (72). 7 S. bereits Hartmann, EuZA 2011, 329 (332). 8 EuGH v. 10.12.1998 – Rs. C-173/96 und C-247/96 – Hidalgo u.a., Slg. 1998, I-8237 – Rz. 30; v. 10.12.1998 – Rs. C-127/96, C-229/96 und C-74/97 – Hernández Vidal u.a., Slg. 1998, I-8179 – Rz. 30; v. 20.1.2011 – Rs. C-463/09 – CLECE, Slg. 2011, I-95 – Rz. 41.
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 52 § 11
me, dass die organisatorische Selbständigkeit des übergegangenen Betriebsteils erhalten bleibt. Erforderlich sei vielmehr „die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung“ zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren.1 Dem Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie würde es in der Tat widersprechen, auf äußerlich erkennbare Organisationsentscheidungen abzustellen.2 Die funktionelle Verknüpfung der Produktionsfaktoren ist als Kriterium freilich nur handhabbar, wenn gesicherte Erkenntnisse über den Richtlinienzweck vorliegen.3 Die teils heftige Kritik an dem Klarenberg-Urteil macht insbesondere geltend, die funktionale Betrachtungsweise des EuGH weise eine nur geringe Trennschärfe auf.4 In diesen Zusammenhang gehört die Aussage, die Entscheidung erinnere „aufgrund ihrer Konturenlosigkeit fatal an die Entscheidung in der Rs. Christel Schmidt“.5 Die einschlägige Folgejudikatur bietet jedoch keinen Beleg dafür, dass der EuGH von den erreichten tatbestandlichen Konkretisierungen wieder abgerückt wäre. Im Gegenteil stellt der EuGH etwa in der Rs. CLECE nochmals klar, dass in einer bloßen Tätigkeit keine wirtschaftliche Einheit im Sinne der Richtlinie liege.6 Bei der Abgrenzung zur Auftragsnachfolge hat sich verschiedentlich die Frage gestellt, ob ein Betriebsübergang nur bei eigenwirtschaftlicher Nutzung übernommener Produktionsmittel in Betracht kommt. Im Ausgangsfall der Rs. Abler hatte ein Krankenhausträger den Auftrag zur Bewirtschaftung der Klinikküche nach Streitigkeiten mit der bisherigen Auftragnehmerin an ein anderes Unternehmen vergeben. Die neue Auftragnehmerin erbrachte die Verpflegungsleistungen mit eigenem Personal, aber unter Verwendung der vom Krankenhausträger zusätzlich zu den Räumlichkeiten, Wasser und Energie gestellten Kücheneinrichtung, die der alte wie der neue Caterer in geringem Umfang auch für externe Aufträge nutzte. Dass der EuGH den Tatbestand des Betriebsübergangs auf dieser Grundlage bejahte,7 deutete bereits darauf hin, dass es auf die eigenwirtschaftliche Nutzung übernommener Produktionsmittel nicht ankommen soll. In der Rs. Güney-Görres (vgl. Rz. 43) hat der EuGH dies – freilich ohne nähere Begründung – ausdrücklich klargestellt.8 Der Ausgangsfall betraf den Wechsel des Dienstleisters für die Fluggast- und Gepäckkontrolle am Düsseldorfer Flughafen unter Verwendung des von der Bundesrepublik zur Verfügung gestellten Luftsicherheitsgeräts.
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Gewissermaßen als Ersatz für das Merkmal der „eigenwirtschaftlichen Nutzung“ hat das BAG in Reaktion auf Güney-Görres ein in der Literatur seit langem diskutiertes Kriterium aufgenommen: den „Kern der Wertschöpfung“.9 Mit dieser Abgrenzung sollen diejenigen sächlichen Betriebsmittel bestimmt werden, deren Einsatz „bei wertender Betrachtungsweise […] den eigentlichen Kern des zur Wert-
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1 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 – Klarenberg, Slg. 2009, I-803 – Rz. 47 (Hervorhebung hinzugefügt). 2 Zutreffend auch Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 39. 3 Näher dazu bereits Hartmann, EuZA 2012, 35 (52). 4 S. etwa Bieder, EuZA 2009, 513 (519 f.); Sieg/Maschmann, Unternehmensumstrukturierung, Rz. 95; Willemsen, NZA 2009, 289 (291 ff.); Wißmann/Schneider, BB 2009, 1126; zurückhaltender jedoch Junker, SAE 2010, 113 (116 ff.). 5 Bieder, EuZA 2009, 513 (521). 6 EuGH v. 20.1.2011 – Rs. C-463/09 – CLECE, Slg. 2011, I-95 – Rz. 41; s. dazu Hartmann, EuZA 2011, 329 (331). 7 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 – Abler, Slg. 2003, I-14023 – Rz. 36 f. 8 EuGH v. 15.12.2005 – Rs. C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres u.a., Slg. 2005, I-11237 – Rz. 39 ff. 9 In die Debatte eingeführt von Willemsen, ZIP 1986, 477 (481); vgl. auch Willemsen/Müntefering, NZA 2006, 1185.
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§ 11
Rz. 53
Betriebsübergang
schöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs ausmacht“1. In der Literatur ist nicht nur die Trennschärfe des genannten Merkmals, sondern auch seine Vereinbarkeit mit der Richtlinie in Zweifel gezogen worden.2 Diese Bedenken sind jedoch jedenfalls dann unbegründet, wenn man den „Kern der Wertschöpfung“ nur als Hilfskriterium bei der Anwendung des vom EuGH entwickelten Sieben-Punkte-Katalogs anwendet. Hilfreich ist der Wertschöpfungsgedanke vor allem in Fällen, in denen eine Geschäftstätigkeit sowohl durch materielle als auch durch immaterielle Ressourcen geprägt ist.3 Problematisch ist es allerdings, wenn das BAG4 für den „Kern der Wertschöpfung“ auf die „Unverzichtbarkeit“ des jeweiligen Betriebsmittels abstellt. Denn auch Betriebsmittel von untergeordneter Bedeutung können äquivalent-kausal für den angestrebten Erfolg sein.5 53
dd) Erfordernis tatsächlicher Fortführung. Die Identitätswahrung setzt voraus, dass der Erwerber die übergegangene wirtschaftliche Einheit fortführt. Der Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie ist nur einschlägig, wenn der Erwerber die übernommenen Ressourcen weiternutzt. Denn nur in diesem Fall steht zu befürchten, dass der Inhaberwechsel zu einer sonst nicht möglichen Austauschkündigung missbraucht werden könnte. Wie der EuGH in Klarenberg festgestellt hat (vgl. Rz. 50), kommt es für die Fortführung durch den Betriebserwerber darauf an, dass die funktionelle Verknüpfung der Produktionsfaktoren erhalten bleibt. Die Entscheidung stellt das Erfordernis einer Betriebsfortführung hingegen nicht in Frage.6
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Das BAG hat früher bereits die bloße Möglichkeit zur Betriebsfortführung ausreichen lassen. Danach sollte es für den Tatbestand des Betriebsübergangs etwa nicht darauf ankommen, ob der Pächter den Betrieb tatsächlich fortgeführt hat.7 Hinter dieser Rechtsprechung stand die mit dem Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie unvereinbare Auffassung, nach der für den Tatbestand des Betriebsübergangs die Übernahme sächlicher Betriebsmittel nicht nur erforderlich, sondern auch ausreichend sei.8 Von dieser Fehldeutung hat das BAG inzwischen Abstand genommen und verlangt nunmehr, dass der Erwerber von der Möglichkeit zur Betriebsfortführung auch tatsächlich Gebrauch gemacht hat.9
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Das Fortführungserfordernis darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass jede faktische Betriebsunterbrechung bereits als tatbestandshindernde Betriebsstilllegung einzuordnen wäre. Bereits das vom EuGH verwendete Kriterium der Dauer einer eventuellen Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit (vgl. Rz. 37) zeigt die Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtungsweise. Einem Betriebsübergang steht es etwa nicht entgegen, wenn der Betrieb über Weihnachten und den Jahreswechsel 1 BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101 – Rz. 20; v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723 – Rz. 23; v. 26.7.2006 – 8 AZR 769/06, NZA 2008, 112 – Rz. 40. 2 Houben, NJW 2007, 2075 (2076 ff.). 3 Zutreffend Willemsen, NZA-Beilage 2008, 155 (156). 4 BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101 – Rz. 24; v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06, NZA 2007, 793 Rz. 21. 5 Ähnlich Willemsen, NZA-Beilage 2008, 155 (156); kritisch auch Hohenstatt/Grau, NJW 2007, 29 (30 f.). 6 Ebenso Willemsen/Sagan, ZIP 2010, 1205 (1211). 7 BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, NZA 1995, 1155 (1156); v. 16.7.1998 – 8 AZR 81/97, NZA 1998, 1233 (1234). 8 Eingehend dazu Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G67 ff. 9 St. Rspr. seit BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 196/98, NZA 1999, 869 (870); v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, NZA 1999, 704 (705).
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 59 § 11
zum Erliegen kommt1 oder wenn der Übergang auf den neuen Inhaber während der Schließzeit einer Gaststätte mit Saisonbetrieb erfolgt.2 2. Persönlicher Anwendungsbereich a) Begriff des Arbeitnehmers aa) Grundsätzlicher Verweis auf das mitgliedstaatliche Recht. In der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG war der Arbeitnehmerbegriff nicht näher bestimmt. Mit der Einführung des heutigen Art. 2 Abs. 1 Buchst. d BÜ-RL durch die Richtlinie 98/50/EG stellte der Richtliniengeber im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH3 klar, dass es auf den Arbeitnehmerbegriff des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechts ankommt. Der Verzicht auf eine autonome Definition des Arbeitnehmers ist rechtspolitisch umstritten, weil er den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, die Reichweite des Schutzes bei Betriebsübergängen erheblich zu relativieren.4 Auch in diesem Zusammenhang betont der EuGH seit jeher, dass die Richtlinie „nur eine teilweise Harmonisierung auf dem betreffenden Gebiet vornimmt“, aber „kein für die gesamte Gemeinschaft aufgrund gemeinsamer Kriterien einheitliches Schutzniveau schaffen“ wolle.5
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In Deutschland fallen daher etwa Beamte nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie.6 Eine generelle Ausnahme von Beamten aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie wird allerdings vereinzelt nicht zuletzt mit Blick auf den europäischen Grundrechtsschutz kritisiert.7
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bb) Unionsrechtliche Vorgaben. Eine unionsrechtliche Grenze für den grundsätzlich nach mitgliedstaatlichem Recht zu bestimmenden Arbeitnehmerbegriff enthält Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 BÜ-RL. Die Mitgliedstaaten dürfen Arbeitnehmer danach nicht aufgrund von Teilzeitarbeit, befristeten Arbeitsverhältnissen oder Leiharbeitsverhältnissen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen. Diese Vorgaben begründen einen Mindestschutz. Die in Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 Buchst. c BÜ-RL enthaltene Ausnahme betrifft bereits nach ihrem Wortlaut nur die Übertragung eines Verleiher- und nicht die eines Entleiherunternehmens.8
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b) Begriff des Inhabers/Arbeitgebers Die deutsche Fassung des Art. 1 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL spricht von dem Übergang auf einen anderen Inhaber. In ähnlicher Weise ist etwa in der italienischen Fassung vom Unternehmer (imprenditore) die Rede, während die englische und die französische Sprachfassung den Arbeitgeber (employer/employeur) nennen.9 Aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b BÜ-RL ergibt sich nur, dass es sich bei den als Veräußerer und Erwerbern auftretenden Inhabern um natürliche oder juristische Personen handeln kann. Es 1 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. C-101/87 – Bork, Slg. 1988, 3057 – Rz. 16. 2 EuGH v. 17.12.1987 – Rs. C-287/86 – Ny Mølle Kro, Slg. 1987, 5465 – Rz. 18 ff. 3 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 – Wendelboe, Slg. 1985, 457 – Rz. 16; v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 – Mikkelsen, Slg. 1985, 2639 – Rz. 18 ff. 4 S. näher Staudinger/Annuß, BGB, 2011, § 613a Rz. 25. 5 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 – Mikkelsen, Slg. 1985, 2639 – Rz. 26; EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 22 m.w.N. 6 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 13; vgl. auch EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 – Collino, Slg. 2000, I-6659 – Rz. 40 für öffentlich-rechtliche Bedienstete in Italien. 7 Bereits de lege lata kritisch gegenüber einer umfassenden Ausnahme von Beamten vom Anwendungsbereich Jöst, Der Betriebsübergang, 2004, S. 8, 12 ff. 8 Bauer/v. Medem, NZA 2011, 20 (21). 9 Näher dazu Jöst, Der Betriebsübergang, 2004, S. 19.
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Rz. 60
Betriebsübergang
wird daher grundsätzlich ein weiter Interpretationsspielraum bei dem Begriff des Inhabers/Arbeitgebers befürwortet.1 60
aa) Private und öffentliche Unternehmen. Wie Art. 1 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL deutlich zeigt, steht die Beteiligung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft einem Betriebsübergang nicht von vornherein entgegen. Allerdings darf es nicht um die Umstrukturierung von Verwaltungsbehörden oder die Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer auf eine andere Behörde gehen.2 Nach zutreffender Auffassung des EuGH ist letztlich maßgeblich, ob hoheitliches Handeln vorliegt.3 Gegen die Annahme einer hoheitlichen Tätigkeit soll es dabei nicht sprechen, wenn damit auch wirtschaftliche Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung verbunden sind.4 Problematisch ist freilich, dass sich diese Abgrenzung nicht auf eine unionsrechtliche Definition hoheitlichen Handelns oder eine gemeinsame Rechtstradition stützen kann.5 Für den Übergang von einem privaten Arbeitgeber auf eine juristische Person des öffentlichen Rechts wird eine Ausnahme vom unveränderten Übergang des Arbeitsverhältnisses diskutiert (vgl. Rz. 75).
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bb) Wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig vom Erwerbszweck. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH muss die übergehende Einheit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, ohne dass es jedoch darauf ankommt, ob diese Tätigkeit auf eine Gewinnerzielung ausgerichtet ist.6 Dies ergibt sich mit Blick auf die beteiligten Unternehmen seit der Reform des Jahres 1998 auch aus dem Richtlinientext (Art. 1 Abs. 1 Buchst. c Satz 1 BÜRL). Dem Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit kommt dabei letztlich keine begrenzende Funktion zu. So hat der EuGH etwa auch die Hilfeleistung für Suchtkranke durch eine ohne Erwerbszweck agierende Stiftung umstandslos als wirtschaftliche Tätigkeit anerkannt.7
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cc) Betriebsübergang und Leiharbeit. Noch vor einigen Jahren wurde nicht bezweifelt, dass es am Tatbestand eines Betriebsübergangs fehlt, wenn der Einsatzbetrieb eines Leiharbeitnehmers einem Inhaberwechsel unterliegt.8 Auch der EuGH ging bis zu seiner Entscheidung in der Rs. Albron aus dem Jahr 20109 davon aus, eine Anwendung der Betriebsübergangsrichtlinie setze einen Wechsel in der Person voraus, „die als solche die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht“.10 Der Ausgangsfall der genannten Entscheidung betraf einen Konzern, innerhalb dessen sämtliche Arbeitnehmer bei einer Personalführungsgesellschaft angestellt waren. Der bei einer Betriebsgesellschaft zur Lieferung von Mahlzeiten eingesetzte Kläger wurde von einem konzernexternen Caterer übernommen, an den die Betriebsgesellschaft die bislang von ihr erfüllten Aufgaben übertragen hatte. Diese Situation bewertet der EuGH wie folgt: „Wenn […] in einem Konzern zwei Arbeitgeber nebeneinander bestehen, von denen der eine vertragliche Beziehungen und der andere nichtvertragliche Beziehungen zu den Arbeitnehmern dieses Konzerns unterhält, kann als ‚Veräußerer‘ im Sinne der Betriebsübergangsrichtlinie auch der Arbeitgeber betrachtet werden, der 1 Kühn, NJW 2011, 1408 (1411). 2 Art. 1 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 BÜ-RL geht ebenfalls auf eine Formulierung der Rechtsprechung zurück; s. nur EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 – Henke, Slg. 1996, I-4989 – Rz. 14. 3 S. etwa EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2010, I-7491 – Rz. 54 ff. Zum Ganzen näher Barrett, Common Market Law Review 42 (2005), 1053 (1069-1077). 4 EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 – Henke, Slg. 1996, I-4989 – Rz. 17. 5 S. bereits Hartmann, EuZA 2011, 329 (338) m.w.N. 6 EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 – Collino, Slg. 2000, I-6659 – Rz. 30. 7 EuGH v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 – Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189. 8 Rückblickend ebenso Kühn, NJW 2011, 1408; Willemsen, NJW 2011, 1546. 9 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309. 10 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-175/99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755 – Rz. 46.
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 64 § 11
für die wirtschaftliche Tätigkeit der übertragenen Einheit verantwortlich ist und der in dieser Eigenschaft Arbeitsverhältnisse mit den Arbeitnehmern dieser Einheit begründet, und zwar auch bei Fehlen vertraglicher Beziehungen zu diesen Arbeitnehmern.“1 Für die Figur des „nichtvertraglichen Arbeitgebers“ stützt sich der EuGH nicht zuletzt auf die Rechtsfolgenvorschrift des Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL, der die Begriffe des Arbeitsvertrags und des Arbeitsverhältnisses gleichwertig und ohne erkennbares Rangverhältnis nebeneinander stelle.2 Die Redeweise von einem „doppelten Arbeitsverhältnis“ hat der EuGH in der Rs. Della Rocca3 erneut aufgegriffen. Die Albron-Entscheidung hat in einer lebhaften Diskussion neben einiger grundsätzlicher Zustimmung4 zunächst mit Blick darauf Kritik5 erfahren, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 BÜ-RL die Definition der Begriffe „Arbeitsverhältnis“ und „Arbeitsvertrag“ dem mitgliedstaatlichen Recht überlässt. Auch der EuGH erkennt die mitgliedstaatliche Definitionshoheit durchaus, zieht daraus allerdings im konkreten Fall keine Konsequenzen.6 Jedoch bezieht sich der nationale Regelungsspielraum ohnehin in erster Linie auf die hier nicht einschlägige Frage nach den personellen Grenzen des Arbeitsrechts.7 Angeführt wird weiterhin, dass die begriffliche Aufspaltung des Arbeitgeberbegriffs in einen vertraglichen und einen nichtvertraglichen Arbeitgeber weder in der Betriebsübergangsrichtlinie angelegt noch mit den grundsätzlichen arbeitsrechtlichen Strukturprinzipien in vielen Mitgliedstaaten vereinbar sei.8 Kritisiert wird schließlich auch, dass vor dem Hintergrund eines „doppelten Arbeitsverhältnisses“ die Rechtsfolgen unklar bleiben.9 Offenbar geht der EuGH davon aus, dass der Erwerber nicht nur an die Stelle des bisherigen Entleihers tritt, sondern auch in die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag einrückt. Dies wird in der Literatur teilweise mit dem Gedanken der Zurechnung erklärt: Weil die Aufspaltung der Arbeitgeberfunktion die Anwendung der Betriebsübergangsrichtlinie nicht ausschließen dürfe, sei die Veräußerung dem bisherigen Verleiher zuzurechnen und dieser folglich als „Veräußerer“ i.S.d. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL anzusehen.10 Zwar ist der Zurechnungsgedanke grundsätzlich durchaus tragfähig. Wenn der Verleiher als Personalführungsgesellschaft lediglich die administrativen Vorgänge betreut, liegt es aber näher, gerade umgekehrt dem Entleiher die formale Arbeitgeberstellung zuzurechnen. Jedenfalls führt die Figur der Zurechnung dazu, dass sich die gespaltene Arbeitgeberstellung in der Person des Erwerbers wieder vereinigt.
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Folgt man dem Zurechnungsgedanken, ist die Albron-Entscheidung nicht auf die reguläre Leiharbeit übertragbar.11 Zu Recht stützte sich bereits Generalanwalt Bot in Abgrenzung zur Rs. Jouini12 maßgeblich auf die Besonderheiten der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung. Mit Blick auf den Zweck der Richtlinie müsse die Konstel-
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EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 31. EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 24 f. EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 – Della Rocca, NZA 2013, 495 – Rz. 40. Kühn, NJW 2011, 1408 (1411). Bauer/v. Medem, NZA 2011, 20 (21); Forst, RdA 2014, 157 (163); Willemsen, NJW 2011, 1546 (1548). EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 23. Zutreffend Raab, EuZA 2011, 537 (547). In diese Richtung Forst, RdA 2014, 157 (163). Greiner, NZA 2014, 284 (289). Willemsen, NJW 2011, 1546 (1548 f.); ähnlich Greiner, NZA 2014, 284 (288 f.). Im Ergebnis ebenso Junker, NZA 2011, 950 (952); Raab, EuZA 2011, 537 (551 ff.); Willemsen, NJW 2011, 1546 (1549 f.). EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-458/05 – Jouini u.a., Slg. 2007, I-7301 betrifft den Wechsel in der Inhaberschaft des Verleiherunternehmens; s. dazu GA Bot v. 3.6.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 45.
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§ 11
Rz. 65
Betriebsübergang
lation so behandelt werden, als ob die Personalführungsgesellschaft den Arbeitsvertrag für Rechnung der jeweiligen Betriebsführungsgesellschaft schlösse.1 Wenngleich der EuGH ähnlich klare Ausführungen vermissen lässt, ist jedenfalls eine Ablehnung dieses Gedankens nicht ersichtlich. Insgesamt besteht daher keine Veranlassung, der Albron-Entscheidung über die entschiedene Konstellation hinaus Bedeutung für den konzernexternen Regelfall der Leiharbeit beizumessen. Aus diesem Grund erscheint es darüber hinaus auch zweifelhaft, wenn das genannte Urteil zur Grundlage einer europarechtlich veranlassten Neubestimmung des Arbeitnehmerbegriffs herangezogen wird.2 65
Nach mancher Ansicht in der deutschen Diskussion kann die Albron-Judikatur zumindest für atypische Konstellationen der Arbeitnehmerüberlassung auch außerhalb von Konzernsachverhalten Bedeutung erlangen. Dies wird insbesondere bejaht, wenn der Entleiher den Verleiher von typischen Arbeitgeberrisiken freistellt.3 Möglicherweise wird diese Frage noch zum Gegenstand einer Vorlageentscheidung werden.4 3. Räumlicher Anwendungsbereich
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Gemäß Art. 1 Abs. 2 BÜ-RL ist der räumliche Anwendungsbereich eröffnet, wenn und soweit sich das Unternehmen, der Betrieb oder der Unternehmens- bzw. Betriebsteil, das bzw. der übergeht, innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des EU-Vertrags (Art. 52 EUV i.V.m. Art. 355 AEUV) befindet. Die Betriebsübergangsrichtlinie ist außerdem Bestandteil des EWR-Abkommens.5 Die Betriebsübergangsrichtlinie ist nach ihrem Art. 1 Abs. 3 nicht auf Seeschiffe anwendbar,6 gilt aber für Binnenschiffe.7
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Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Betriebsübergangsrichtlinie auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten eingreift. Insoweit sind zwei Fragen voneinander zu trennen: zum einen die kollisionsrechtliche Frage nach dem anwendbaren Recht, zum anderen die Frage nach dessen tatbestandlicher Reichweite.8
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Zum internationalen Privatrecht des Betriebsübergangs enthält die Betriebsübergangsrichtlinie keine Regelung. Nach mancher Ansicht ergibt sich allerdings bereits aus der Richtlinie selbst eine ungeschriebene Sonderanknüpfung an das Betriebsstatut des Veräußerers.9 Hierfür spricht, dass sich das für den Betriebsübergang maßgebliche identitätsprägende Zusammenwirken nur in der Gesamtheit der Arbeitsverhältnisse entfalten kann.10 Nach überwiegender Auffassung kommt es jedoch auf das jeweilige Arbeitsvertragsstatut an.11 Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs zum Kündi1 GA Bot v. 3.6.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 42 ff., insb. Rz. 46. 2 Dazu eingehend Forst, RdA 2014, 157 (162 f.). 3 S. näher Greiner, NZA 2014, 284 (288 f.) zu BAG v. 15.5.2013 – 7 AZR 525/11, NZA 2013, 1214; anders Hoffmann-Remy, NJW 2013, 3469. 4 Vgl. Greiner, NZA 2014, 284 (289). 5 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, Anhang XVIII Nr. 23, ABl. Nr. L 1 v. 3.1.1994, S. 4. 6 Zu den Hintergründen Franzen, RdA 1999, 361 (365). 7 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 111. 8 Besonders klar Junker, NZA-Beilage 2012, 8 (13 f.). 9 Im Ausgangspunkt übereinstimmend Birk, RabelsZ 46 (1982), 384 (396); Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, 1992, S. 234 f.; Reichold, FS Birk, 687 (697 f.). 10 Reichold, FS Birk, 687 (697). 11 BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, NZA 1993, 743 (745); v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 – Rz. 40; vgl. auch Däubler, FS Kissel, 119 (124 f.); Niksova, ecolex 2013, 53 (54).
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Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie
Rz. 71 § 11
gungsrecht erscheint dies jedenfalls insoweit gut vertretbar, als es um die individualrechtlichen Folgen des Betriebsübergangs geht. In den Ergebnissen werden sich zumeist ohnehin keine Abweichungen ergeben, weil gewöhnlicher Arbeitsort (Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB bzw. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO) und Sitz des Betriebs regelmäßig zusammenfallen.1 Die tatbestandliche Reichweite der Betriebsübergangsrichtlinie ist bereits für den Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils innerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie umstritten. Nach einer Auffassung sind nur Vorgänge innerhalb eines Mitgliedstaats erfasst. Dafür soll sprechen, dass die Annahme eines Betriebsübergangs andernfalls regelmäßig zu einem Statutenwechsel für das Arbeitsverhältnis mit der Gefahr einer Schwächung etwa des Kündigungsschutzes führen würde („ship and fire“).2 Die Gegenmeinung macht geltend, dass die Betriebsübergangsrichtlinie ihrem Zweck nach auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte zwischen Mitgliedstaaten anwendbar sei.3 In diesem Zusammenhang verweist man auf ErwGr. 2 BÜ-RL, der neben der einzelstaatlichen ausdrücklich auch die gemeinschaftliche Ebene erwähnt.4 Hinzu kommt, dass ErwGr. 12 Verschm-RL für die grenzüberschreitende Verschmelzung von Kapitalgesellschaften ausdrücklich auf die Betriebsübergangsrichtlinie Bezug nimmt.5
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Die Standortverlagerung von einem Drittstaat in einen Mitgliedstaat ist bereits vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 2 BÜ-RL nicht erfasst.6 Besonders umstritten ist die umgekehrte Konstellation des Übergangs auf einen neuen Inhaber mit Sitz in einem Drittstaat. Der Zweck der Betriebsübergangsrichtlinie lässt sich nur erfüllen, wenn auch der Erwerber entsprechenden Regelungen unterliegt. Hält man in kollisionsrechtlicher Hinsicht das Arbeitsvertragsstatut für maßgeblich, erweist sich dessen Wandelbarkeit als problematisch.7 Selbst die Anknüpfung an das Betriebsstatut löst die Probleme nur dann, wenn man keine Statutenkumulation verlangt,8 sondern ungeachtet völkerrechtlicher Bedenken9 der Betriebsübergangsrichtlinie einen Anwendungsbefehl auch gegenüber Drittstaaten entnimmt10.
70
Das BAG hat in einem Fall, der eine Standortverlagerung in die Schweiz betraf, zum Ausdruck gebracht, dass bei „erheblicher Entfernung“ zwischen altem und neuem Betriebsort „die Wahrung der Identität zweifelhaft erscheinen könnte“.11 Aus dem Sieben-Punkte-Katalog für die Identitätswahrung sind diese geographischen Erwägungen nicht ableitbar.12 Ob das Kriterium vor dem EuGH Bestand hätte, erscheint daher zweifelhaft.
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1 Näher Junker, NZA-Beilage 2012, 8 (13 f.). 2 So zum deutschen nationalen Recht Junker, NZA-Beilage 2012, 8 (14 f.); vgl. bereits Loritz, RdA 1987, 65 (84 f.). 3 Däubler, FS Kissel, 119 (126); Niksova, ecolex 2013, 53 (54); im Ergebnis auch EAS/Joussen, B 7200 Rz. 33. 4 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 159; Niksova, ecolex 2013, 53 (54). 5 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 159; Niksova, ecolex 2013, 53 (54). 6 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 33; Niksova, ecolex 2013, 53 (56). 7 Im Einzelnen dazu Niksova, ecolex 2013, 53 (55 f.). 8 So Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, 1992, S. 239 f. 9 Dazu Niksova, ecolex 2013, 53 (56). 10 So Reichold, FS Birk, 687 (698). 11 BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 – Rz. 36. 12 Zutreffend Junker, NZA-Beilage 2012, 8 (15).
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§ 11
Rz. 72
Betriebsübergang
III. Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse 72
Die Kernvorschrift der Richtlinie im Hinblick auf den materiellen Schutz der Arbeitsverhältnisse bei Übertragungen i.S.v. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL stellt Art. 3 BÜ-RL dar. Dieser hat im Überblick folgende Struktur: Abs. 1 UAbs. 1 ordnet den Eintritt des Erwerbers in die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus den betroffenen Arbeitsverhältnissen an, was durch das Kündigungsverbot wegen des Betriebsübergangs (Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL; vgl. Rz. 140 ff.) zusätzlich abgesichert wird. Nach Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL können die Mitgliedstaaten eine begrenzte gesamtschuldnerische Weiterhaftung des Veräußerers anordnen. Ebenso können sie nach Abs. 2 fakultativ eine Pflicht des Veräußerers zur Unterrichtung des Erwerbers über die übergehenden Arbeitsbedingungen vorsehen. Abs. 3 regelt die Aufrechterhaltung von Arbeitsbedingungen aus Kollektivverträgen beim Erwerber. Schließlich nimmt Abs. 4 bestimmte Versorgungsansprüche vom zwingenden Übergang auf den Erwerber aus, soweit die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen. 1. Übergang von Rechten und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen auf den Erwerber (Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL) a) Automatischer Übergang der Arbeitsverhältnisse
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Der Erwerber (vgl. Rz. 59 ff.) tritt nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL allein aufgrund des Betriebsübergangs ipso iure in die Rechte und Pflichten des Veräußerers ein und wird Gläubiger und Schuldner aller Ansprüche aus den bestehenden Arbeitsverhältnissen.1 Der Veräußerer hingegen wird infolge seines vollständigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis und vorbehaltlich einer mitgliedstaatlich vorgesehenen gesamtschuldnerischen Weiterhaftung (Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL) von seinen Verpflichtungen aus den Arbeitsverhältnissen entbunden.2 Demnach handelt es sich um einen gesetzlichen Übergang des Vertragsverhältnisses auf Arbeitgeberseite bzw. um eine Sonderrechtsnachfolge in die Rechtstellung des Arbeitgebers mit allen Rechten und Pflichten,3 welche das zwischen dem Arbeitnehmer und dem Veräußerer als früheren Arbeitgeber bestehende Arbeitsverhältnis inhaltlich grundsätzlich unverändert lässt.4
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Der automatische Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber soll zum einen sicherstellen, dass der Arbeitnehmer seinen Arbeitsvertrag mit dem Erwerber unter den gleichen Vertragsbedingungen fortsetzen kann, die er mit seinem ursprünglichen Arbeitgeber vereinbart hatte.5 Darüber hinaus soll auch verhindert werden, dass der Erwerber aufgrund der zivilrechtlichen Vorschriften über die Vertragsübernahme bzw. Schuldnerwechsel die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer ablehnen oder 1 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 – Wendelboe, Slg. 1985, 457 – Rz. 17; v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, 2559 – Rz. 10 ff.; v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 10–12; v. 14.11.1996 – Rs. C-305/94 – Rotsart de Hertaing, Slg. 1996, I-5927 – Rz. 16 ff.; v. 24.1.2002 – Rs. C-51/00 – Temco, Slg. 2002, I-969 – Rz. 35; v. 26.5.2005 – Rs. C-478/03 – Celtec, Slg. 2005, I-4389 – Rz. 39 ff. 2 EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, 2559 – Rz. 14; v. 14.11.1996 – Rs. C-305/94 – Rotsart de Hertaing, Slg. 1996, I-5927 – Rz. 24; v. 26.5.2005 – Rs. C-478/03 – Celtec, Slg. 2005, I-4389 – Rz. 40; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 38; Schruiff, Betriebsübergangsrichtlinie der EG, S. 41; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 230. 3 Vgl. Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 134. 4 Vgl. für das deutsche Recht BAG v. 22.2.1978, AP BGB § 613a Nr. 11; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 66; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 221. 5 EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 ff.; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 39.
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Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
Rz. 75 § 11
dass er mit dem Veräußerer den Ausschluss der Übernahme der Arbeitsverhältnisse vereinbaren kann (zum Zweck der Betriebsübergangsrichtlinie vgl. Rz. 12).1 Aufgrund dessen ist der Übergang der Arbeitsverhältnisse im Zuge des Betriebsübergangs weder von der Zustimmung des neuen Arbeitgebers noch von der ausdrücklichen Zustimmung der vom Übergang betroffenen Arbeitnehmer abhängig.2 Der Übergang ist sowohl für den Veräußerer als auch für den Erwerber zwingend; dies gilt – mit Ausnahme ihres Widerspruchsrechts (vgl. Rz. 97 ff.) – auch für die betroffenen Arbeitnehmer.3 Eine mögliche Ausnahme vom unveränderten Übergang des Arbeitsverhältnisses erkennt der EuGH für Fälle an, in denen ein Übergang von einem Privatrechtssubjekt auf eine juristische Person des öffentlichen Rechts erfolgt. Wie der Gerichtshof in der Rs. Delahaye angenommen hat, steht die Richtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegen, welche in einem solchen Fall die Beendigung der privatrechtlichen Arbeitsverträge vorsieht.4 Begründet wird dies damit, dass die Richtlinie insofern lediglich eine teilweise Harmonisierung des in Frage stehenden Gebietes vorsehe.5 Noch nicht ausdrücklich vom EuGH entschieden wurde, ob der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber verpflichtet ist, den Arbeitnehmern stets die Fortsetzung der Beschäftigung in einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis anzubieten. Dafür spricht jedenfalls die Zielsetzung der Richtlinie sowie der Umstand, dass Erwerber i.S.v. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b BÜ-RL auch eine juristische Person des öffentlichen Rechts sein kann.6 Allerdings hindert die Richtlinie den öffentlich-rechtlichen Erwerber nicht daran, als neuer Arbeitgeber eine Kürzung der Vergütung der übergehenden Arbeitnehmer vorzunehmen, um nationalen Vorschriften hinsichtlich der öffentlichen Angestellten nachzukommen, wobei aber bei der Eingruppierung gegebenenfalls das Dienstalter des übergehenden Arbeitnehmers zu berücksichtigen ist.7 Eine mit dem Wechsel in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis verbundene erhebliche Kürzung der Vergütung löst die Beendigungsfiktion durch den Arbeitgeber nach Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL aus, wenn der Arbeitnehmer das Angebot nicht annimmt. Ob dies auch bereits für die Beendigung des privatrechtlichen Arbeitsverhältnisses bei Weiterbeschäftigungsangebot zum Wechsel in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis zu im Wesentlichen gleichwertigen Bedingungen gilt, ist indes zweifelhaft.8
1 Vgl. die Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125); Hanau/Steinmeyer/ Wank/Wank, § 18 Rz. 93. 2 EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, 2259; v. 14.11.1996 – Rs. C-305/94 – de Hertaining, Slg. 1996, I-5927; s. auch die Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125). 3 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 11; v. 7.12.1995 – Rs. C-472/93 – Spano, Slg. 1995, I-4321 – Rz. 32; v. 26.5.2005 – Rs. C-478/03 – Celtec, Slg. 2005, I-4389 – Rz. 42. 4 EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 – Delahaye, Slg. 2004, I-10823 – Rz. 32; 26.9.200 – Rs. C-175/99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755 – Rz. 56. 5 Vgl. EuGH v. 10.2.1988 – Rs. 324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, I-739 – Rz. 16; v. 6.11. 2003 – Rs. C-4/01 – Martin, Slg. 2003, I-12859 – Rz. 41; bestätigt in EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 – Delahaye, Slg. 2004, I-10823 – Rz. 32. 6 Im Ergebnis ebenso Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 188 f. 7 EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 – Delahaye, Slg. 2004, I-10823 – Rz. 33. 8 Anders wohl EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 – Delahaye, Slg. 2004, I-10823 – Rz. 33; v. 26.9.2000 – Rs. C-175/99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755 – Rz. 56; Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 189.
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§ 11
Rz. 76
Betriebsübergang
b) Erfasste Arbeitsverhältnisse 76
aa) Begriff des Arbeitsverhältnisses und Zuordnungsprobleme. Von den Rechtsfolgen des Betriebsübergangs sind alle Arbeitsverträge bzw. Arbeitsverhältnisse betroffen, die zum maßgeblichen Zeitpunkt des Inhaberwechsels bestanden haben und der übertragenen Einheit zuzurechnen sind. Der Begriff des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses bestimmt sich gem. Art. 2 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL prinzipiell allein nach mitgliedstaatlichem Recht.1 Erfasst werden sämtliche Arbeitsverhältnisse, unabhängig davon, ob es sich um Arbeiter, Angestellte, leitende Angestellte oder Auszubildende handelt.2 Auch ruhende Arbeitsverhältnisse einschließlich Altersteilzeitarbeitsverhältnisse in der Freistellungsphase sowie fehlerhafte Arbeitsverhältnisse gehen auf den Erwerber über, wenn sie aufgrund einzelstaatlichen Arbeitsrechts geschützt sind, was etwa auf Deutschland zutrifft.3 Teilzeitbeschäftigte sowie Beschäftigte mit befristetem Arbeitsvertrag i.S.v. Art. 1 Nr. 1 RL 91/383/EWG können nicht durch eine abweichende mitgliedstaatliche Begriffsbestimmung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses vom Schutz der Betriebsübergangsrichtlinie ausgeklammert werden und gehen daher ebenfalls über, was durch Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 BÜ-RL zum Zwecke der Mindestharmonisierung zwingend angeordnet ist.4
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Damit es zum Übergang kommt, muss das Arbeitsverhältnis nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL im Zeitpunkt des Betriebsinhaberwechsels (noch) bestehen. Für den Zeitpunkt des Inhaberwechsels kommt es auf den Moment des Übergangs der tatsächlichen Leitungsmacht über die wirtschaftliche Einheit auf den Erwerber an.5 Vor dem Übergang gekündigte Arbeitsverhältnisse gehen in gekündigtem Zustand für die Restlaufzeit auf den Erwerber über, sofern die Kündigungsfrist im Zeitpunkt des Betriebsübergangs noch nicht abgelaufen ist.6 Für bereits erloschene Arbeitsverhältnisse ist ein Übergang ausgeschlossen. Noch nicht erfüllte Ansprüche ausgeschiedener Arbeitnehmer, beispielsweise auf Abfindungen oder Betriebsrenten, richten sich nur gegen den Veräußerer als Vertragspartner und nicht gegen den Erwerber.7 Ebenso werden von Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL nachwirkende Verpflichtungen aus einem vor dem Betriebsübergang beendeten Arbeitsverhältnis (z.B. Zeugnis- und Auskunftserteilung) nicht erfasst.8 Auch in Ruhestandsverhältnisse tritt der Erwerber nicht aufgrund des Betriebsübergangs ein. Soweit diese nicht aufgrund mit1 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 – Mikkelsen, Slg. 1985, 2639 – Rz. 23; v. 15.6.1988 – Rs. 101/87 – Bork International, Slg. 1988, 3057 – Rz. 17; vgl. v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 160 ff. 2 BAG v. 22.2.1978 – 5 AZR 800/76, AP BGB § 613a Nr. 11; v. 19.1.1988 – 3 AZR 263/86, NZA 1988, 501; 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, NZA 2006, 1406 (1407); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 67; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 222. 3 Vgl. im Zusammenhang mit § 613a BGB: BAG v. 18.12.2003 – 8 AZR 621/02, NZA 2004, 791; v. 14.7.2005 – 8 AZR 392/04, NZA 2005, 1411; v. 31.1.2008 – 8 AZR 27/07, NZA 2008, 705; v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, NZA 2009, 432; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 67 f.; HWK/Willemsen/ Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 223. 4 Vgl. EAS/Joussen, B 7200 Rz. 35; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 38. 5 EuGH v. 10.2.1988 – Rs. 324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, I-739 – Rz. 9; 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, 2559 – Rz. 17; v. 15.6.1988 – Rs. 101/87 – Bork International, Slg. 1988, 3057 – Rz. 13; v. 26.5.2005 – Rs. C-478/03 – Celtec, Slg. 2005, I-4389 – Rz. 1. 6 Vgl. zu § 613a BAG v. 22.2.1978 – 5 AZR 800/76, AP BGB § 613a Nr. 11; v. 21.8.2008 – 8 AZR 201/07, NZA 2009, 29 – Rz. 56; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G132. 7 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 37; Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 200. 8 Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G133.
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Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
Rz. 80 § 11
gliedsstaatlichen Rechts ebenfalls als Arbeitsverhältnisse geschützt sind, gehen freie Dienstverhältnisse wie Dienstverträge mit freien Mitarbeitern und Organmitgliedern im Zuge des Betriebsübergangs ebenso wenig auf den Erwerber über wie Anstellungsverhältnisse mit arbeitnehmerähnlichen Personen, Heimarbeitsverhältnisse sowie Beamtenverhältnisse.1 Voraussetzung für den Übergang des Arbeitsverhältnisses vom Veräußerer auf den Erwerber nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL ist schließlich, dass dieses der übertragenen wirtschaftlichen Einheit zugehörig ist. Die Übertragung kompletter Betriebe bereitet hier in der Regel keine Probleme, da in diesem Fall sämtliche Arbeitsverhältnisse des Betriebes vom Übergang betroffen sind. Zuordnungsfragen können sich demgegenüber im Hinblick auf Arbeitnehmer in Stabs- oder Querschnittsbereichen stellen, wenn diese aus einer zentralen Betriebsabteilung heraus Aufgaben für die übertragene Einheit wahrnehmen. Entsprechendes gilt für die Zuordnung von Arbeitnehmern, die eine organisatorische Mehrfachzugehörigkeit aufweisen, weil sie sowohl in der übertragenen Einheit als auch in einer weiteren beim Veräußerer verbleibenden Einheit eingesetzt sind.
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Zum fraglichen Übergang von Arbeitnehmern in nicht mitübertragenen Stabs- oder Querschnittsbereichen wie z.B. einer zentralen Verwaltungsabteilung hat der EuGH in der Rs. Botzen Stellung genommen.2 Wie der Gerichtshof im Anschluss an die Stellungnahme der Kommission zu Recht angenommen hat, ist das Arbeitsverhältnis durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Unternehmens- oder Betriebsteil gekennzeichnet, dem er zur Erfüllung seiner Aufgabe angehört. Für die Beurteilung, ob das Arbeitsverhältnis mit übergegangen ist, bedarf es daher der Feststellung, welchem Unternehmens- oder Betriebsteil der betreffende Arbeitnehmer angehört.3 Voraussetzung für den Übergang nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL ist damit, dass der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers in die Organisationsstruktur der übertragenen wirtschaftlichen Einheit eingebunden ist. Kommt es danach auf die organisatorische Eingliederung des Arbeitnehmers in die übergehende Einheit an, so kann eine bloße Erbringung von Tätigkeiten für die übertragene Einheit eine solche Zuordnung nicht begründen.4 Dementsprechend gehen Beschäftigte nicht deswegen auf den Erwerber über, weil sie aus einer anderen Organisationseinheit heraus Tätigkeiten für den übertragenen Betrieb oder Betriebsteil verrichten, ohne in diesen tatsächlich eingliedert zu sein.5
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Die Richtlinie erfordert keine andere Beurteilung in Fällen, in denen es infolge der Übertragung einer Teileinheit nicht mehr möglich ist, den verbleibenden Betrieb sinnvoll zu führen, so dass es beim Veräußerer zum Verlust von Arbeitsplätzen kommt. Dementsprechend ist für die Frage des Übergangs des Arbeitsverhältnisses auch dann allein maßgeblich, ob der Arbeitnehmer in der übertragenen Einheit und nicht nur für diese tätig war.6
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1 Vgl. zum fehlenden Übergang nach § 613a BGB: BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 59/02, NZA 2003, 854; v. 13.2.2003 – 8 AZR 654/01, NZA 2003, 552 (für GmbH-Geschäftsführer); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 67; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 226. 2 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 186/83 – Botzen, Slg. 1985, 519. 3 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 186/83 – Botzen, Slg. 1985, 519 – Rz. 14 f. 4 Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G135. 5 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 186/83 – Botzen, Slg. 1985, 519; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 36; Hanau/ Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 53. Das BAG hat diese Grundsätze übernommen, s.u.a. BAG v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95, NJW 1998, 1253; v. 24.8.2006 – 8 AZR 556/05, NZA 2007, 1320; v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231. 6 BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 375/96, NZA 1998, 249 (251).
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§ 11
Rz. 81
Betriebsübergang
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Noch keine nähere Klärung durch den EuGH liegt zur Behandlung von Arbeitsverhältnissen vor, die teils der übertragenen Einheit, teils einer beim Veräußerer verbleibenden Einheit zuzuordnen sind, wie beispielsweise im Falle von Arbeitnehmern, die regelmäßig auf Arbeitsplätzen in verschiedenen Organisationsabteilungen eingesetzt sind (sog. Springer). Die Richtlinie trifft hierzu keine Aussage. Unter Schutzzweckaspekten erscheint es richtig, dann für die Zuordnung auf die überwiegende Tätigkeit abzustellen.1 Dabei können auch Aspekte wie überwiegender Arbeitsaufwand und -ort sowie der Grad der Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und anderen Mitarbeitern aus den betroffenen Bereichen eine Rolle spielen.2 Lässt sich bei objektiver Betrachtung kein eindeutiger Schwerpunkt ermitteln, muss der bisherige Arbeitgeber eine Zuordnung mittels Direktionsrechts vornehmen.3
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bb) Leiharbeitsverhältnisse und sonstiges Fremdpersonal. Auch Leiharbeitsverhältnisse i.S.v. Art. 1 Nr. 2 RL 91/383/EWG sind vom Übergang erfasst, wenn der Betrieb des Verleihers auf einen anderen Inhaber übergeht. Dies wird ausdrücklich durch Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 BÜ-RL klargestellt.
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Wird hingegen der Betrieb des Entleihers übertragen, bleiben die Arbeitsverhältnisse der dort eingesetzten Leiharbeitnehmer unberührt, da sie nicht zu diesem, sondern zu dem Unternehmen des Verleihers in einem Arbeitsverhältnis stehen.4 Entsprechendes gilt für sonstiges in der übertragenen Einheit eingesetztes Fremdpersonal. Dass es hier nicht zum Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber kommt, folgt bereits daraus, dass Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL ausdrücklich vom Übergang der Rechte und Pflichten des Veräußerers aus dem Arbeitsvertrag bzw. Arbeitsverhältnis spricht, wohingegen mit Fremdpersonal keine solche Rechtsbeziehung des Veräußerers besteht. Zudem fehlt es im Verhältnis zwischen dem Verleihunternehmen bzw. Arbeitgeber des Fremdpersonals und dem Veräußerer regelmäßig an einem Übergang von Substrat, welches die Kriterien einer wirtschaftlichen Einheit von Art. 1 Abs. 1 BÜ-RL erfüllen könnte.
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Allerdings ist der EuGH in der Rs. Albron (vgl. Rz. 62 ff.) davon ausgegangen, dass als Veräußerer i.S.v. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a BÜ-RL auch ein Konzernunternehmen anzusehen sein kann, zu welchem die Arbeitnehmer von einem anderen Konzernunternehmen, welches als Personalführungsgesellschaft und zentraler Arbeitgeber für die gesamte Gruppe fungiert, ständig abgeordnet waren. Nicht zuletzt auf der Grundlage des hier behandelten Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL kommt der EuGH zu einer Unterscheidung zwischen vertraglichem und nichtvertraglichem Arbeitgeber.5 Auf dieser Basis sah es der EuGH als unschädlich für den fraglichen Übergang der Arbeitsverhältnisse an, wenn zwischen dem Veräußerer als nichtvertraglichem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern keine vertraglichen Beziehungen bestehen.6 Wie bereits näher dargelegt (vgl. Rz. 63 f.), kann dies jedoch nicht für den Regelfall der Leiharbeit verallgemeinert werden. 1 BAG v. 20.7.1982 – 3 AZR 261/80, DB 1983, 50; v. 25.6.1985 – 3 AZR 254/83, NZA 1986, 93; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 45; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 229; Kreitner, NZA 1990, 429 (432). 2 Ähnlich Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 196. 3 Dazu HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 229; Meyer, NZA-RR 2013, 225 (227 f.) m.w.N. auch zur abweichenden Ansicht. 4 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-458 – Jouini, Slg. 2007, I-7301 – Rz. 36; Bauer/v. Medem, NZA 2011, 20; Forst, RdA 2011, 228 (229). 5 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 24 f. 6 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 24 f.; GA Bot hatte demgegenüber mit Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten argumentiert, s. Schlussantrag v. 3.6.2010 – Rs. C-242/09 – Albron, Slg. 2010, I-10309 – Rz. 42 ff.
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Grau/Hartmann
Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
Rz. 89 § 11
c) Eintritt des Erwerbers in die Rechte und Pflichten Mit dem Betriebsübergang tritt der Erwerber in die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus den Arbeitsverhältnissen ein, Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL. Maßgeblich ist dabei der gesamte inhaltliche Bestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Übergangs der betrieblichen Leitungsmacht des Erwerbers, d.h. zum Vollzugszeitpunkt des Übergangs. Soweit diese Rechte und Pflichten beim Veräußerer durch einen Kollektivvertrag geregelt waren, werden diese nach Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL ebenfalls unverändert aufrechterhalten, wobei dies allerdings nur bis zu dessen Kündigung oder Ablauf oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags beim Erwerber vorgesehen ist (vgl. Rz. 107 ff.).
85
Der Eintritt des Erwerbers nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL erstreckt sich grundsätzlich ausnahmslos auf sämtliche Bedingungen aus dem inhaltlich unverändert fortbestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis.1 Dazu zählen beispielsweise auch Ansprüche aus betrieblicher Übung oder auf Nebenleistungen aus dem Arbeitsverhältnis.2 Unerheblich ist, ob sich die Ansprüche erst mit dem Eintritt eines bestimmten Ereignisses materialisieren oder die Rechtsposition erst noch durch den Erwerber oder den Arbeitnehmer ausgeübt werden muss, da der Erwerber auch insoweit in die entsprechenden Rechtsgrundlagen eintritt.3
86
Zu den übergehenden Rechten i.S.v. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL zählen auch solche, die bei der Entlassung oder bei mit dem Arbeitgeber vereinbartem Eintritt in den Vorruhestand entstehen. Bei letzterem bedarf es gegebenenfalls der Abgrenzung zu Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung, welche gem. Art. 3 Abs. 4 BÜ-RL nicht vom automatischen Übergang erfasst sind, sofern dies nicht anders im mitgliedstaatlichen Recht vorgesehen ist (vgl. Rz. 137 f.).
87
Im Zuge des Betriebsübergangs wird der Erwerber Schuldner aller Verbindlichkeiten aus dem Arbeitsverhältnis, auch wenn diese vor dem Übergang entstanden sind. Für rückständige Sozialversicherungsbeiträge oder Lohnsteuer haftet der Erwerber gegenüber der zuständigen Stelle nicht, da es sich hierbei nicht um Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, sondern um Verpflichtungen öffentlich-rechtlicher Natur gegenüber einem Dritten handelt.4
88
Vertragsverhältnisse zwischen dem bisherigen Betriebsinhaber und dem Arbeitnehmer sowie Rechtspositionen außerhalb des Arbeitsverhältnisses (wie z.B. Wohnraummietverträge5 oder Arbeitgeber-Darlehen6) sowie separate Vertragsverhältnisse des Arbeitnehmers mit Dritten gehen grundsätzlich nicht zusammen mit dem Arbeitsverhältnis auf den neuen Betriebsinhaber über.7 Dementsprechend zählen Rechte
89
1 EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 – Martin u.a., Slg. 2003, I-12859 – Rz. 29; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 62 m.w.N. 2 Zu § 613a BGB statt aller ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 74; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 232 jeweils m.w.N. 3 EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 Martin u.a., Slg. 2003, I-12859 – Rz. 29. 4 Vgl. BayObLG v. 31.10.1974 – 1 U 2225/74, BB 1974, 1582; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 81; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 235; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/ Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G170. 5 EuGH v. 16.10.2008 – Rs. C-313/07 – Kirtruna, Slg. 2008, I-7909; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a Rz. 99; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 188; Seiter, Betriebsinhaberwechsel, S. 79. 6 BAG v. 21.1.1999 – 8 AZR 373/97; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 73; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 164. 7 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 233; Willemsen, FS Wiedemann, 645 (646 ff.).
Grau/Hartmann
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§ 11
Rz. 90
Betriebsübergang
aus einem von der Konzernmutter zugesagten Aktienoptionsprogramm nicht zu den nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL übergehenden Ansprüchen, wenn diese nicht aufgrund der konkreten Gestaltung auch zum Bestandteil des Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers mit der Tochtergesellschaft gemacht wurden.1 90
Nach der Richtlinie tritt der Erwerber in die Rechtsstellung des Veräußerers ein. Dieser Eintritt umfasst nicht bloße faktische Gegebenheiten, welche gegebenenfalls das Arbeitsverhältnis beeinflussen können. Diese sind keine Rechte, können allerdings rechtsbegründend wirken, wenn sie Voraussetzung für das Entstehen oder den Umfang eines Anspruchs sind. Besondere Bedeutung hat dies für die Dauer der Betriebszugehörigkeit bzw. die beim Veräußerer bereits zurückgelegten Dienstjahre. Da diese normalerweise die Rechtsposition eines Arbeitnehmers in verschiedener Hinsicht prägen (etwa im Hinblick auf Lohnhöhe, Unverfallbarkeitsregelungen, Kündigungsschutz, Abfindungen etc.), würde das Richtlinienziel der unveränderten Aufrechterhaltung der bisherigen Arbeitsbedingungen verfehlt, wenn die Betriebszugehörigkeit nicht zum nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL übergangsfähigen Besitzstand zu zählen wäre. Der EuGH geht zumindest davon aus, dass der Erwerber bei der Ermittlung von finanziellen Ansprüchen, welche an das Dienstalter geknüpft sind, die bisherige Dauer der Beschäftigung beim Veräußerer zu berücksichtigen hat, soweit sich diese Verpflichtung bereits aus dem Arbeitsverhältnis zum Veräußerer ergab und gemäß den dort vereinbarten Modalitäten.2 Nicht zu dem nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL aufrechtzuerhaltenden Besitzstand zählen solche tatsächlichen Umstände, die nicht an das individuelle Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers, sondern lediglich an das Unternehmen oder den Betrieb des Veräußerers anknüpfen. Dies gilt vor allem für Schwellenwerte, welche das Eingreifen von Schutzbestimmungen oder Rechten zugunsten der Arbeitnehmer an die Beschäftigtenzahl des Betriebes oder Unternehmens knüpfen.3 Daran ändert sich auch nichts mit Blick auf die vom EuGH betonte allgemeine Zielsetzung der Richtlinie zu verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen Arbeitnehmer allein aufgrund des Übergangs verschlechtert.4 Denn dieser Schutz umfasst – ebenso wenig wie beim bisherigen Arbeitgeber – keine Bestandsgarantie von rein faktischen Gegebenheiten.
91
Nach der Rechtsprechung des BAG zählt beispielsweise die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzes im Hinblick auf den in § 23 KSchG vorausgesetzten Schwellenwert nicht zu den nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergangsfähigen Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis.5 Entsprechendes gilt für betriebsverfassungsrechtlich relevante Schwellenwerte wie z.B. die Möglichkeit zur Wahl eines Betriebsrats für den übergegangenen Betrieb(steil) (§ 1 Abs. 1 BetrVG) oder die Bildung eines Wirtschaftsausschusses (§ 106 BetrVG), die Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen (§ 99 BetrVG) und den Schutz bei Betriebsänderungen (§§ 111 ff. BetrVG). Dies ist nach dem Gesagten mit der Betriebsübergangsrichtlinie vereinbar. 1 Vgl. zu § 613a BGB etwa BAG v. 12.2.2003 – 10 AZR 299/02, NZA 2003, 487; Schnitker/Grau, BB 2002, 2497 (2499); v. Steinau-Steinrück, NZA 2003, 473 (474). 2 S. EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 – Collino, Slg. 2000, I-6659 – Rz. 51; v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 83; Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 196; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 240. 3 BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 397/06, NZA 2007, 739 (741); APS/Moll, § 23 KSchG Rz. 36a. 4 EuGH v. 26.5.2005 – Rs. C-478/03 – Celtec, Slg. I 2005, I-4389 Rz. 2, 6; 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491, Rz. 76. 5 BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 397/06, NZA 2007, 739 (741); APS/Moll, § 23 KSchG Rz. 36a; Erfk/ Preis, § 613a BGB Rz. 76.
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Rz. 94 § 11
Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
Für die Frage der Anwendbarkeit des Sozialplanprivilegs auf Neugründungen (§ 112a Abs. 2 BetrVG) ist nach zutreffender Ansicht des BAG auf das Alter des Unternehmens abzustellen und nicht auf das Alter des Betriebs.1 Dies kann insofern problematisch sein, als die Arbeitnehmer im Falle der Übernahme eines älteren Betriebs durch ein neu gegründetes Unternehmen die Chance auf den Abschluss eines Sozialplans bei einer Betriebsänderung in den folgenden vier Jahren nach dem Betriebsübergang verlieren. Ein Verstoß gegen Art. 3 BÜ-RL liegt hierin nicht, da die Aussicht auf einen erforderlichenfalls erzwingbaren Sozialplan kein Recht der Arbeitnehmer aus den bestehenden Arbeitsverhältnissen ist, sondern lediglich eine faktische Chance auf den Abschluss eines Sozialplans im Falle einer Betriebsänderung, die auf den Erwerber im Zuge des Betriebsübergangs nicht übertragen wird.2
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d) Unabdingbarkeit; Änderung übergehender Rechte und Pflichten Der Schutz durch den inhaltlich unveränderten Übergang der Arbeitsverhältnisse nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL ist grundsätzlich unabdingbar.3 Vereinbarungen zwischen Veräußerer und Erwerber, durch die der Eintritt des Erwerbers in die arbeitsvertraglichen Rechte und Pflichten im Außenverhältnis zu den betroffenen Arbeitnehmern ausgeschlossen oder beschränkt werden soll, ist daher nach nationalem Recht die Wirksamkeit zu versagen. Ferner kann der Übergang der Arbeitsverhältnisse auch nicht durch Kollektivvertrag wirksam ausgeschlossen werden.4
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Gegen die Richtlinie verstoßen auch Abreden zwischen dem Arbeitnehmer und dem bisherigen Arbeitgeber, welche auf eine Umgehung des Inhaltsschutzes beim Betriebsübergang abzielen. Dies wird beispielsweise für eine Regelung beim Veräußerer angenommen, wonach die Arbeitnehmer für den Fall eines Betriebsübergangs auf rückständige Vergütung verzichten sollten.5 Entsprechendes gilt für die wegen eines Betriebsübergangs vorgenommene Befristung oder die Veranlassung der Arbeitnehmer zum Abschluss von Aufhebungsverträgen, um sodann mit dem Erwerber unter Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit neue Arbeitsverträge zu schlechteren Konditionen zu begründen.6
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1 BAG v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, AP Nr. 14 zu § 112a BetrVG –, Rz. 17; Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, §§ 112, 112a Rz. 109 f.; GK-BetrVG/Oetker, 4. Aufl. 2014, §§ 112, 112a Rz. 323; HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112a BetrVG Rz. 7; Richardi/Annuß, BetrVG, 14. Aufl. 2014, § 112a Rz. 13; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. C221. 2 BAG v. 13.6.1989 – 1 ABR 14/88, AP Nr. 3 zu § 112a BetrVG 1972; v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, AP Nr. 14 zu § 112a BetrVG 1972 – Rz. 22 ff.; Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, §§ 112, 112a – Rz. 111; HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112a BetrVG Rz. 7; Richardi/Annuß, BetrVG, 14. Aufl. 2014, § 112a Rz. 15. 3 EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, I 2559 – Rz. 12; v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 9; v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91, C-138/91 – Katsikas, Slg. 1992, I-6577 – Rz. 21; v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 – Martin, Slg. 2003, I-12859 – Rz. 39; v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. I-2006, 2397 – Rz. 26; zu § 613a BGB s. nur BAG v. 19.3.2009 – 8 AZR 722/07, NZA 2009, 1091 – Rz. 30; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 82; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 247; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 35. 4 Vgl. EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 3, 20; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 247. 5 Vgl. EuGH v. 10.2.1988 – Rs. C-324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, I-739 – Rz. 15 ff.; v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 – Martin, Slg. 2003, I-12859 – Rz. 44 f.; zu § 613a BGB BAG v. 19.3.2009 – 8 AZR 722/07, NZA 2009, 1091. 6 Vgl. zu § 613a BGB BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367 (370); HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 247.
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§ 11
Rz. 95
Betriebsübergang
Sofern inhaltliche Modifikationen der vertraglichen Arbeitsbedingungen allein aufgrund des Übergangs eintreten, erkennt der EuGH auch dann einen Richtlinienverstoß, wenn zwar die Höhe des Arbeitsentgelts unverändert bleibt, jedoch die sich aus dem Arbeitsvertrag ergebenden Bedingungen wie Auszahlungszeitpunkt und Entgeltzusammensetzung geändert werden.1 95
Zulässig ist auch im Lichte der Richtlinie der Abschluss eines Aufhebungsvertrags vor oder nach dem Betriebsübergang, soweit dieser auf ein endgültiges Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet ist.2 Da der EuGH ein Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers gegen den Übergang anerkennt (vgl. Rz. 97 ff.), begegnet es europarechtlich auch keinen Bedenken, wenn sich Veräußerer und Arbeitnehmer mit Blick auf einen konkret bevorstehenden Betriebsübergang über einen Verbleib des Arbeitsverhältnisses beim Veräußerer einigen.
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Soweit keine Umgehung des Schutzzwecks der Richtlinie gegeben ist, besteht keine Veranlassung für eine Einschränkung der Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien. Wie der EuGH betont, soll die Richtlinie (nur) sicherstellen, dass der betroffene Arbeitnehmer in seinen Rechtsbeziehungen zum Erwerber in gleicher Weise geschützt ist, wie er es nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats in seinen Beziehungen zum Veräußerer war.3 Modifikationen von Arbeitsbedingungen sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil der Arbeitnehmer bleiben daher zulässig, wenn die Änderungen durch das nationale Recht unabhängig vom Fall des Übergangs ermöglicht werden und diese nicht aus dem Grund des Übergangs als solchem erfolgen.4 Dementsprechend schließt die Richtlinie nachteilige Änderungen der Arbeitsbedingungen, die vor dem Inhaberwechsel aus anderen Gründen als wegen des bevorstehenden Betriebsübergangs vereinbart werden, nicht aus. Gleiches gilt für Änderungsvereinbarungen zwischen Erwerber und Arbeitnehmer, welche im Einklang mit dem nationalen Recht im Anschluss an den Betriebsübergang getroffen werden, etwa zum Zwecke der Harmonisierung mit den beim Erwerber üblichen Bedingungen.5 Eines sachlichen Grundes bedarf es hierfür im Lichte der Betriebsübergangsrichtlinie auch dann nicht, wenn sich Arbeitnehmer und Erwerber einzelvertraglich auf eine nachteilige Änderung der Arbeitsbedingungen verständigen, wie beispielsweise auf eine Absenkung der Vergütung, solange hier die Umsetzung der Richtlinie bezweckt ist.6 Die befristete Bestandschutzgarantie nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 BÜ-RL von mindestens einem Jahr gilt lediglich für beim Veräußerer kollektivvertraglich vereinbarte Arbeitsbedingungen; für einzelvertragliche Regelungen enthält die Richtlinie hingegen keine entsprechende Sperre. Ein Tarifvertrag, den Veräußerer oder Erwerber zur Ermöglichung einer sanierenden Betriebsübernahme mit der zu1 EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 31. 2 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 – Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 – Rz. 16; zu § 613a BGB statt vieler BAG v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203 (205); HWK/Willemsen/MüllerBonanni, § 613a BGB Rz. 311. 3 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 9; v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, I-2559 – Rz. 12. 4 Vgl. EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 – Martin, Slg. 2003, I-12859 – Rz. 39 ff.; v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 – Collino, Slg. 2000, I-6659 – Rz. 52; v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 28; v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 19; v. 10.2.1988 – Rs. C-324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, I-739 – Rz. 17; v. 7.12.1995 – Rs. C-472/93 – Spano, Slg. 1995, I-4321 – Rz. 35. 5 EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 31. 6 Vgl. zu § 613a BGB: BAG v. 7.11.2007 – 5 AZR 1007/06, NJW 2008, 939; 19.12.2007 – 5 AZR 1008/06, NZA 2008, 464; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a Rz. 89; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. G194.
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Rz. 99 § 11
Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
ständigen Gewerkschaft abschließen und der zu schlechteren Bedingungen nach dem Übergang führt, verstößt nicht gegen die Richtlinie, da die Möglichkeit zur Ablösung der kollektiven Arbeitsbedingungen durch nachfolgende oder speziellere Tarifverträge unabhängig vom Betriebsübergang besteht und zudem das Ablösungsprinzip in Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL ausdrücklich anerkannt ist (vgl. Rz. 119 ff.). 2. Widerspruchsrecht gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses a) Anerkennung eines Widerspruchsrechts In der Rs. Berg und Busschers setzte sich der EuGH zum ersten Mal mit der fraglichen Existenz eines Widerspruchsrechts der Arbeitnehmer gegen den – nach dem Wortlaut in Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL ausnahmslos zwingend angeordneten – Eintritt des Erwerbers in die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis auseinander.1 Der EuGH kam damals zu dem Ergebnis, dass der Veräußerer nach dem Zeitpunkt des Übergangs von seinen Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis allein auf Grund des Übergangs befreit wird, selbst wenn die in dem Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer dem nicht zustimmen oder Einwände dagegen erheben, sofern keine nationale Vorschrift eine gesamtschuldnerische Weiterhaftung des Veräußerers vorsehe.2
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Dies führte zu einer vorübergehenden Kontroverse in Deutschland, ob das vom BAG noch vor Inkrafttreten der Betriebsübergangsrichtlinie rechtsfortbildend entwickelte,3 seither in ständiger Rechtsprechung anerkannte4 und seit April 2002 in § 613a Abs. 6 BGB kodifizierte Recht der Arbeitnehmer, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den neuen Betriebsinhaber zu widersprechen, unionskonform ist.5 Inzwischen ist diese Frage nur noch von rechtshistorischer Bedeutung, da die Vereinbarkeit des Widerspruchsrechts mit der Betriebsübergangsrichtlinie heute zu Recht nicht mehr in Frage gestellt wird (vgl. Rz. 99).
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In der Rs. Katsikas nahm der EuGH später erneut Stellung zu der Vereinbarkeitsproblematik eines Widerspruchsrechts mit der Richtlinie.6 Anders als einige Stimmen in der Literatur, welche die Unionsrechtskonformität auf den Günstigkeitsvorbehalt in Art. 8 BÜ-RL stützten,7 ging der Gerichtshof davon aus, dass sich die Zulässigkeit aufgrund von Überlegungen zum Schutzzweck der Richtlinie ergebe.8 Im Ergebnis folgte der EuGH der Argumentation des BAG, wonach der Arbeitnehmer in der Wahl seines Arbeitgebers frei sei und nicht gezwungen werden könne, sein Arbeitsverhältnis gegen seinen Willen mit dem Erwerber fortzusetzen. Dabei stellte der
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1 EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, I-2559. 2 EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, I-2559 – Rz. 11 f. 3 Grundlegend BAG v. 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, NJW 1973, 1378; v. 21.7.1977 – 3 AZR 703/75, AP BGB § 613a Nr. 8; v. 17.11.1977 – 5 AZR 618/76, NJW 1978, 1653. 4 S. etwa BAG v. 21.5.1992 – 2 AZR 449/91, AP § 613a BGB Nr. 96; v. 22.4.1993 – 2 AZR 313/92, AP § 613a BGB Nr. 102; v. 22.4.1993 – 2 AZR 50/92, AP § 613a BGB Nr. 103; v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, AP § 613a BGB Nr. 177; v. 25.1.2001 – 8 AZR 336/00, AP § 613a BGB Nr. 215. 5 Zur damaligen Streitfrage s.u.a. Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche bei Betriebsübergang, S. 31 f.; Seiter, Betriebsinhaberwechsel, S. 67; Bauer, NZA 1990, 881 (883); Meilicke, DB 1991, 1326; Oetker, NZA 1991, 137 (138). 6 EuGH v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91, C-138/91 und C-139/91 – Katsikas, Slg. 1992, I-6577. 7 Tschöpe, Rechtsfolgen eines arbeitnehmerseitigen Widerspruchsrechts beim Betriebsinhaberwechsel, S. 22; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 267. 8 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91, C-138/91 und C-139/91 – Katsikas, Slg. 1992, I-6577 – Rz. 34.
Grau/Hartmann
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611
§ 11
Rz. 100
Betriebsübergang
EuGH auf das Grundrecht der Vertragsfreiheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts ab (vgl. § 1 Rz. 23 ff.). 100
Inzwischen geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL nicht anwendbar ist, wenn der Betroffene aufgrund eigener freier Entscheidung das Arbeitsverhältnis nach dem Übergang mit dem Erwerber nicht fortsetzen möchte, so dass die Richtlinie einem in nationalen Rechtsordnungen vorgesehenen Widerspruchsrecht nicht entgegensteht.1 Mit wenigen Ausnahmen wie beispielsweise Deutschland und Schweden sehen allerdings die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kein Widerspruchsrecht vor, so dass der Arbeitnehmer den Übergang des Arbeitsverhältnisses per Kündigung verhindern muss, wenn eine Fortsetzung der Tätigkeit mit dem Erwerber nicht gewollt ist.2 Folgt man dem zutreffenden Ansatz, dass der zwingende Schutz der Richtlinie dort endet, wo der Arbeitnehmer von seiner auch unionsrechtlich zu schützenden Vertragsfreiheit Gebrauch macht, so muss das nationale Recht dem Arbeitnehmer entweder ein Widerspruchsrecht gegen den Arbeitgeberwechsel einräumen oder ihm jedenfalls die Möglichkeit eröffnen, das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Übergangs aus freiem Entschluss zu kündigen.3
101
Die Arbeitnehmer müssen die Entscheidung über einen Widerspruch oder eine Kündigung zur Verhinderung des Übergangs frei treffen können.4 In dem Zusammenhang verweist der EuGH auf Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL (vgl. Rz. 146 ff.) als Instrument zum Schutz der Entscheidungsfreiheit des Arbeitnehmers und zur Ermöglichung einer Kontrolle durch die mitgliedstaatlichen Gerichte.5 b) Ausübung und Rechtsfolgen
102
Weder aus der Betriebsübergangsrichtlinie noch aus der Judikatur des EuGH ergeben sich Vorgaben für die nähere Ausgestaltung des Widerspruchsrechts. Die Mitgliedstaaten sind daher bei einzelstaatlicher Anerkennung eines Widerspruchsrechts frei, hierfür Ausübungsmodalitäten wie z.B. eine bestimmte Form oder Frist vorzusehen.
103
Die Rechtsfolge des ausgeübten Widerspruchsrechts ist primär die Verhinderung des automatischen Übergangs des Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber. Es ist Sache der Mitgliedstaaten zu bestimmen, was in einem solchen Fall mit dem Arbeitsvertrag mit dem Veräußerer geschieht. Diese können den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit dem bisherigen Arbeitgeber anordnen oder den Vertrag entweder als durch den Arbeitgeber oder durch den Arbeitnehmer gekündigt ansehen.6 Die Richtlinie garantiert im Widerspruchsfall keinen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit dem Veräußerer.
1 EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-399/96 – Europièces, Slg. 1998, I-6965 – Rz. 38; v. 24.1.2002 – Rs. C-51/00 – Temco, Slg. 2002, I-969 – Rz. 35. 2 S. Rebhahn, RdA 2006, Sonderbeilage zu Heft 6, 4 (10 f.). 3 Ebenso Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 71; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 49. 4 Vgl. EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-399/96 – Europièces, Slg. 1998, I-6965 – Rz. 38. 5 Vgl. EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-399/96 – Europièces, Slg. 1998, I-6965 – Rz. 44; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 86. 6 EuGH v. 16.12.1992 – verb. Rs. C-132/91, C-138/91 und C-139/91 – Katsikas, Slg. 1992, I-6577 – Rz. 36.
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Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
§ 11
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3. Rechtsstellung des Veräußerers a) Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis Grundsätzlich scheidet der Veräußerer mit dem Betriebsübergang aus dem Arbeitsverhältnis aus und ist damit nicht mehr Gläubiger oder Schuldner der hieraus folgenden Ansprüche. Dies gilt sowohl hinsichtlich der erst nach dem Übergang entstandenen oder fällig gewordenen Arbeitnehmeransprüche als auch für vor Betriebsübergang entstandene, noch nicht erfüllte Verbindlichkeiten.1 Die im Zuge des Betriebsübergangs auf den Erwerber übergegangenen Arbeitnehmer können ihre Ansprüche nur noch gegen den neuen Betriebsinhaber geltend machen. Lediglich die noch nicht erfüllten Ansprüche derjenigen Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse vor Übergang beendet waren, richten sich (nur) gegen den alten Betriebsinhaber. Letzteres betrifft insbesondere unverfallbare Versorgungsanwartschaften bereits ausgeschiedener Arbeitnehmer sowie laufende Betriebsrentenzahlungen, falls dies im mitgliedstaatlichen Recht nicht anders vorgesehen ist.
104
b) Fakultative gesamtschuldnerische Weiterhaftung des Veräußerers (Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL) Nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Veräußerer und Erwerber nach dem Zeitpunkt des Übergangs gesamtschuldnerisch für Verpflichtungen haften, die vor dem Übergangszeitpunkt durch einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis entstanden sind, der bzw. das zum Zeitpunkt des Übergangs bestand.2 Die Richtlinie gewährt den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum bezüglich der Ausgestaltung der Weiterhaftung des alten Betriebsinhabers, ohne in die Ausgestaltung der Gesamtschuld durch das mitgliedstaatliche Recht einzugreifen.3 Hat ein Mitgliedstaat von dieser Option Gebrauch gemacht, erhalten die Arbeitnehmer unter dem Gesichtspunkt der Bonität einen zusätzlichen Schuldner, den sie wahlweise anstelle des Erwerbers in Anspruch nehmen können.4 Eine abweichende nationale Ausgestaltung, etwa als akzessorische Haftung, wird durch Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL nicht ausgeschlossen, sondern bleibt als Stärkung des durch die Richtlinie gewährten Mindestschutzes gem. Art. 8 BÜ-RL möglich.5
105
c) Fakultative Informationspflicht gegenüber dem Erwerber (Art. 3 Abs. 2 BÜ-RL) Neu eingefügt wurde im Jahre 1998 durch die Änderungsrichtlinie 98/50/EG der Art. 3 Abs. 2 BÜ-RL. Die Mitgliedstaaten können danach geeignete Maßnahmen ergreifen, welche die Weitergabe von Informationen bezüglich aller übergehenden Rechte und Pflichten vom Veräußerer an den Erwerber sicherstellen. Ein Verstoß gegen solche Vorschriften hat allerdings keinen Einfluss auf die Wirksamkeit des Übergangs der Arbeitsverhältnisse oder auf den Eintritt des Erwerbers in die sich hieraus ergebenden einzelnen Rechte und Ansprüche, Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 BÜ-RL.6 Die Richtlinie setzt mithin für den Übergang der inhaltlich unverändert bleibenden Ar1 EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, I-2559 – Rz. 11,14; Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 217. 2 Vgl. EuGH v. 14.11.1996 – Rs. C-305/94 – Rosart de Hertaing, Slg. 1996, I-5927 – Rz. 19; v. 5.5. 1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 – Berg und Busschers, Slg. 1988, I-2559 – Rz. 11, 13. 3 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 217; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 66. 4 Vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 133; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 65. 5 Vgl. Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 217. 6 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 43; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 77.
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Betriebsübergang
beitsverhältnisse keine konkrete Kenntnis des Erwerbers von den Arbeitsbedingungen der auf ihn übergehenden Arbeitnehmer voraus. 4. Aufrechterhaltung von Arbeitsbedingungen aus Kollektivverträgen 107
Nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL hat der Erwerber die in einem Kollektivertrag vorgesehenen Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags so aufrechtzuerhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. Gemäß Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 BÜ-RL steht es den Mitgliedstaaten frei, diesen Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen zu begrenzen, jedoch für nicht weniger als ein Jahr.1 Dadurch wird für die kollektivvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen ein Mindestschutz von einem Jahr gewährleistet, sofern nicht der bisherige Kollektivvertrag vorher endet oder soweit nicht dessen Bedingungen durch einen anderen beim Erwerber anwendbaren Kollektivvertrag ersetzt werden. a) Kollektivrechtlich geltende Arbeitsbedingungen (Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL)
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aa) Voraussetzungen der Aufrechterhaltung. Um von dem Anwendungsbereich des Aufrechterhaltungsgebotes in Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL erfasst zu sein, muss es sich um kollektivvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen handeln. Darunter fallen in dem Zusammenhang alle Vereinbarungen zwischen der auf betrieblicher oder überbetrieblicher Ebene organisierten Arbeitnehmerschaft und dem Arbeitgeber bzw. einem Arbeitgeberverband.2 Diese Definition umfasst neben Tarifverträgen (Verbands- und Firmentarifverträge) auch Betriebsvereinbarungen (inkl. Gesamtbetriebs- und Konzernbetriebsvereinbarungen) sowie bei einem öffentlichen Arbeitgeber bestehende Dienstvereinbarungen.3 Soweit Arbeitsbedingungen eines abgelaufenen oder gekündigten Kollektivvertrags nach mitgliedstaatlichem Recht für die übergehenden Arbeitsverhältnisse nachwirken, erstreckt sich der Schutz des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL nach Auffassung des EuGH auch hierauf, solange für diese Arbeitsverhältnisse nicht ein neuer Kollektivvertrag wirksam oder mit den betroffenen Arbeitnehmern eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen wird. 4
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Nach dem Richtlinienwortlaut ist nicht ganz eindeutig, ob die betreffenden Kollektivvereinbarungen vor dem Übergang normativ auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden müssen oder ob von Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL auch lediglich individualvertraglich für anwendbar erklärte Kollektivverträge erfasst sind. Da die Weitergeltung der individualvertraglichen Rechte und Pflichten bereits in Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL geregelt ist, betrifft Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL systematisch lediglich solche Arbeitsbedingungen, welche kraft einer kollektivrechtlichen Vereinbarung normativ für die Arbeitsverhältnisse gelten, ohne lediglich Bestandteil der individualrechtlichen Abreden zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sein. Anderenfalls hätte es der speziellen Aufrechterhaltungsvorschrift in Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL nicht bedurft. Zudem erweisen sich die in Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL enthaltenen Begrenzungen für die Aufrechterhaltung sowie die Möglichkeit der Ablösung der bisherigen Kollektivbedingungen nur im Hin1 Vgl. EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 Rz. 29. 2 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 55; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 241. 3 Vgl. auch Art. 3 Abs. 2 und 3 der Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125); EAS/Joussen, B 7200 Rz. 55; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 47; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 75. 4 EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 31.
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blick auf beim Veräußerer kollektivrechtlich geltende Arbeitsbedingungen als sinnvoll. Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL betrifft daher nicht die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer, da diese hinsichtlich der tariflichen Arbeitsbedingungen kein durch die Richtlinie speziell geschütztes Bestandsschutzinteresse haben.1 Dementsprechend richtet sich die Fortgeltung von arbeitsvertraglich vereinbarten Bezugnahmeklauseln nicht nach Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL, sondern ist Teil der nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL auf den Erwerber übergehenden Bestandteile des Arbeitsvertrags bzw. Arbeitsverhältnisses (vgl. Rz. 128 ff.). Dies schließt es trotz der fehlenden unmittelbaren Wirkung für die Arbeitsverhältnisse nicht aus, auch Regelungsabreden in den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL mit einzubeziehen, soweit mittelbar auch die Arbeitsbedingungen der übergehenden Arbeitnehmer gestaltet werden und nicht lediglich die Betriebsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat betroffen ist oder es sich lediglich um Betriebsnormen handelt.2 Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL verleiht diesen dann allerdings beim Erwerber keine weitergehenden Wirkungen als zuvor beim Veräußerer. Die Richtlinie enthält keine Definition des Begriffs der Arbeitsbedingungen. Geht man von einem weiten Verständnis des Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL aus, können die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen neben individualbezogenen Rechten und Pflichten der Arbeitnehmer auch die die Belegschaft als Ganzes betreffenden kollektivrechtlichen Bestimmungen wie Regelungen zur Organisation des Betriebsablaufs oder Regelungen über die Benutzung von sozialen Einrichtungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene und betriebsweit geltende Regelungen (in Deutschland: betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen) umfassen.3 Nach einer engeren Auslegung erstreckt sich Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL hingegen nur auf solche Arbeitsbedingungen, die das Austauschverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betreffen und auch Gegenstand des Arbeitsvertrags sein könnten (in Deutschland mithin auf Inhaltsnormen sowie auf das Arbeitsverhältnis betreffende Abschlussnormen).4 Für die zuletzt genannte Auffassung spricht, dass Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL eine komplementäre Funktion zu Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL aufweist, welcher nur Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis betrifft.5 Eine Ausnahme gilt allerdings für sog. Doppelnormen, die zwar Betriebsnormen sind, zugleich aber individuelle Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis regeln bzw. die Rahmenbedingungen der Tätigkeit des Arbeitnehmers mitgestalten. Diese können nach dem Sinn und Zweck des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL unter die Vorschrift gefasst werden.6 Nicht erfasst 1 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 58; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 247; unklar hingegen EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 24 f. 2 Ebenso wohl Kamlah, Bestandsschutz und Ablösung von Kollektivverträgen bei Betriebsübergängen, S. 51; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 47; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 75. 3 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 56 f.; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 244 ff.; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 200; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 98; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 70 f.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 62; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 56; Röder, DB 1981, 1980 (1981); Seiter, DB 1980, 877 (881). 4 S. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 53; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 211; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. E124; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 264; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 68 ff. 5 Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 43. 6 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 53; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 264; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, 271 (290 f.).
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Betriebsübergang
sind hingegen nur zwischen den Betriebsparteien geltende Regelungen und der schuldrechtliche Teil eines Tarifvertrags. 111
Nach strenger grammatikalischer Auslegung des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL hätte der Erwerber die kollektivrechtlich vereinbarten Arbeitsbedingungen nicht nur gegenüber solchen Arbeitnehmern aufrechtzuerhalten, die zum Zeitpunkt des Übergangs in der betroffenen Einheit tätig waren, sondern auch gegenüber solchen Beschäftigten, die erst nach dem Inhaberwechsel eingestellt werden. Dies würde aber mit Hinblick auf die Zielsetzung der Richtlinie nicht überzeugen. Denn lediglich die übergehenden Arbeitnehmer sind aufgrund des Betriebsübergangs in ihrem Bestands- und Inhaltsschutzinteresse betroffen. Die Richtlinie gewährleistet daher die Aufrechterhaltung der kollektiven Arbeitsbedingungen nur für die zum maßgeblichen Zeitpunkt des Übergangs in der betroffenen wirtschaftlichen Einheit beschäftigten Arbeitnehmer. Eine Pflicht des Erwerbers, die in der übergehenden Einheit bislang angewendeten Kollektivverträge auch auf erst nach dem Übergang eingestellte Arbeitnehmer oder auf die eigene Bestandsbelegschaft anzuwenden, ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL nicht.1
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bb) Bedeutung und Wirkweise der Aufrechterhaltung. Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL verlangt die Aufrechterhaltung der in einem Kollektivvertrag geregelten Arbeitsbedingungen, nicht jedoch eine Weitergeltung des Vertrags als solchen.2 Die Art und Weise der Aufrechterhaltung wird – anders als im historischen Richtlinienentwurf3 – in der Richtlinie nicht vorgegeben. Aus der Entstehungsgeschichte sowie dem Wortlaut der Norm, der lediglich von einer Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen, nicht aber des sie regelnden Kollektivvertrags selbst spricht, ist zu folgern, dass keine Verpflichtung seitens des Erwerbers besteht, auch den kollektivrechtlichen Charakter des anzuwendenden Kollektivvertrags fortzuführen. Insbesondere folgt aus Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen Eintritt des Erwerbers in die Rechtsstellung als Kollektivpartei gegenüber der Gewerkschaft oder dem Arbeitnehmervertretungsgremium vorzusehen, das den Kollektivvertrag abgeschlossen hat.4 Damit bleibt die methodische Ausgestaltung der Aufrechterhaltung der kollektivvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen. Auch gegen eine Weitergeltung der bisherigen Kollektivbedingungen auf der individualvertraglichen Ebene als Bestandteil des Arbeitsverhältnisses unter Wechsel ihrer Normenqualität („Transformation“), wie sie konzeptionell von der früheren h.M. in Deutschland vertreten wurde,5 bestehen vom Grundsatz her keine europarechtlichen Bedenken.6 Entscheidend ist hier der Rechtsgedanke, dass die Arbeitnehmer in ihrer Rechtsstellung nach Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber nicht beeinträchtigt werden, dadurch also nicht besser, aber auch nicht schlechter gestellt werden als beim Veräußerer. Sofern die aufrecht zu erhaltenen Arbeitsbedingungen durch ihren kollektivrechtlichen Charakter ge1 2 3 4
Vgl. EuGH v. 17.12.1987 – Rs. C-287/86 – Ny Mølle Kro, Slg. 1987, 5465 – Rz. 3, 23 f. EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 23. Vgl. dazu Art. 3 Abs. 3 des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (127). EAS/Joussen, B 7200 Rz. 54; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 36; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 67 ff. 5 S. etwa BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 (595); v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); HMB/Grau, Teil 15 Rz. 48 m.w.N. 6 A.A. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41, das von der Beibehaltung des kollektivrechtlichen Charakters nach dem Betriebsübergang ausgeht. Wie hier Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 37 f.; Fuchs/ Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 200; Hanau/Steinmeyer/Wank/Wank, § 18 Rz. 129; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 73; Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rz. 56; Schreiber, RdA 1982, 137 (146).
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prägt sind und sich dies auf die Rechtsstellung der Arbeitnehmer unmittelbar auswirkt, ist dies allerdings im Rahmen des Inhaltsschutzes zu berücksichtigen. Nach dem Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die beim Veräußerer kollektivvertraglich geregelten Rechte und Pflichten Inhalt des Arbeitsverhältnisses. Entsprechend der gewandelten Ansicht des BAG sind die (nach vom BAG weiterhin verwendeter, allerdings eher durch das frühere individualrechtliche Fortgeltungsverständnis geprägter Diktion) in das Arbeitsverhältnis „transformierten“ Kollektivvertragsnormen arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen nicht gleichzusetzen, sondern diese behalten ihren kollektivrechtlichen Charakter.1 Dieser These ist vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL insoweit zuzustimmen, als der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zu wahrende Besitzstand nicht gänzlich losgelöst von dem bisherigen kollektivrechtlichen Normencharakter gesehen werden kann. Nach diesem Ansatz hat der Erwerber die entsprechenden Rechte und Pflichten in den zeitlichen Grenzen der Veränderungssperre sowie bis zur Kündigung oder Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zur Ablösung durch einen anderen Kollektivvertrag im Grundsatz so aufrechtzuerhalten, als wären sie weiterhin normativ und damit zwingend auf das Arbeitsverhältnis anwendbar. Hierbei handelt es sich um eine Fiktion und nicht um die Anordnung einer echten Tarifgebundenheit des Betriebserwerbers, welche Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL nicht verlangt und die auch nicht ohne Verstoß gegen das europäische Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit (Art. 28 GRC) angeordnet werden könnte. Allerdings erscheint die vom BAG aus der Fortwirkung des kollektivrechtlichen Charakters der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifnormen abgeleitete Konsequenz, dass deren Fortbestand beim Erwerber zumindest in begrenztem Umfang noch zur Disposition der Tarifparteien auf der Veräußererseite stehen kann, gerade in dieser Hinsicht bedenklich.2 Dies gilt umso mehr im Lichte der Aussage des EuGH in der Rs. Scattolon (vgl. Rz. 123 ff.).
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Einer extra angeordneten Aufrechterhaltung der bisherigen Kollektivarbeitsbedingungen bedarf es nicht, falls der Erwerber bereits aus anderen Gründen, etwa aufgrund gleicher Tarifgebundenheit wie der Veräußerer, an die für die übergehenden Arbeitnehmer einschlägigen Kollektivvereinbarungen gebunden ist. Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL hat insofern, ebenso wie in Deutschland § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, den Charakter einer Auffangregelung.
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cc) Grenzen bzw. Ende der Aufrechterhaltung. Anerkannt ist, dass aus Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL lediglich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten folgt, eine statische Aufrechterhaltung der bisherigen Kollektivbedingungen vorzusehen.3 Hingegen reicht der Bestandsschutz nicht so weit, dass der Erwerber einen Anspruch auf Teilnahme an einer Fortentwicklung der Kollektivverträge gewähren muss. Daraus folgt, dass Arbeitnehmer, die auf einen nicht oder anderweitig tarifgebundenen Erwerber übergehen, grundsätzlich keinen Anspruch auf Teilnahme an Tarifänderungen haben, welche nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs vereinbart werden. Dies hat der EuGH vor allem mit dem Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit des Erwerbers begründet, welche es ver-
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1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; bestätigt durch 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (534); dazu u.a. HMB/ Grau, Teil 15 Rz. 47 ff.; Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560; Hohenstatt, NZA 2010, 23 jeweils m.w.N. 2 Vgl. hierzu den Fall BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff.; hierzu ausführlich HMB/Grau, Teil 15 Rz. 66 ff.; zu einem Alternativkonzept s. u.a. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113b; Sagan, RdA 2011, 163 (169 ff.); Hanau/Strauß, FS Bepler, 199 (203 ff.). 3 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 35 f.
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Betriebsübergang
biete, diesen an Kollektivverträge zu binden, denen er nicht angehöre und auch bewusst unter Gebrauchmachen von seiner negativen Freiheit nicht angehören wolle.1 Dies steht der Anwendung einer bereits in dem vor Betriebsübergang vereinbarten und statisch fortwirkenden Kollektivvertrag angelegten weiteren dynamischen Entwicklung bestimmten Arbeitsbedingungen wie bspw. Gehaltserhöhungen nach Maßgabe eines festen Stufenmodells nicht entgegen.2 116
Im Übrigen ordnet Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL die Aufrechterhaltung der bisherigen kollektivvertraglichen Arbeitsbedingungen nur bis zur Kündigung oder Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zur Ablösung durch einen anderen Kollektivvertrag an. Dadurch wird vermieden, dass der Betriebsübergang zu einer Besserstellung der übergehenden Arbeitnehmer aufgrund des Inhaberwechsels führt, da sie auch beim Veräußerer den entsprechenden Veränderungen bzw. Veränderungsmöglichkeiten ihrer Kollektivarbeitsbedingungen unterworfen gewesen wären. Die Frage, ob im Lichte der BÜ-RL auch ein beim Erwerber im Stadium der Nachwirkung befindlicher Tarifvertrag ablösende Wirkung haben kann, hat der EuGH noch nicht entschieden.3 Einer Ablösung steht die Richtlinie hier konsequenterweise nicht entgegen, wobei sich die Frage, ob nachwirkende Regelungen die übergehenden Arbeitnehmer überhaupt erfassen, nach dem jeweiligen nationalen Recht richtet. Für Tarifverträge des Erwerbers im Stadium der Nachbindung (wie in § 3 Abs. 3 TVG) gilt dasselbe.
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Zusätzlich räumt Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 BÜ-RL den Mitgliedstaaten eine fakultative zeitliche Begrenzungsmöglichkeit der Aufrechterhaltung ein. Der nationale Gesetzgeber kann demnach den Zeitraum der Beibehaltung der in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen begrenzen, wobei der Zeitraum nicht kürzer als ein Jahr sein darf.
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Der deutsche Gesetzgeber hat in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB von dem durch die Richtlinie gewährten Regelungsspielraum Gebrauch gemacht. Von dem grundsätzlichen Änderungsverbot der aufrechterhaltenen Kollektivbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers gelten gem. § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB zudem zwei Ausnahmen, die ihre Stütze in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL finden.
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dd) Ablösung von Kollektivverträgen. Gemäß Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL gilt das Aufrechterhaltungsgebot für die in einem Kollektivvertrag des Veräußerers vereinbarten Arbeitsbedingungen nur bis zum Inkrafttreten oder Anwendung eines anderen Kollektivvertrags bei dem Erwerber. Damit ist das Ablösungsprinzip normiert, welches es dem Erwerber ermöglichen soll, die von ihm ansonsten aufrechtzuerhaltenden Kollektivbedingungen durch passendere eigene Kollektivbedingungen zu ersetzen oder die Bedingungen der übergehenden Arbeitnehmer mit im eigenen Unternehmen oder Betrieb angewendeten Kollektivbedingungen zu harmonisieren. Da das Ablösungsprinzip nur für kollektivvertragliche Regelungen und nicht für einzelvertraglich vereinbarte Bedingungen greift (für letztere gilt Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL), muss gegebenenfalls die Quelle der übergehenden Rechte und Pflichten bestimmt werden, was Sache der nationalen Gerichte ist.4 Eine Pflicht zur Harmonisierung der kollektiven Arbeitsbedingungen nach dem Übergang im Hinblick auf etwaige Unterschiede zwischen den übergehenden Arbeitnehmern und der Bestandsbelegschaft des Erwerbers folgt aus der Betriebsübergangsrichtlinie nicht. Dies begründet der EuGH damit, dass die Richtlinie lediglich ver1 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 35 ff. 2 S. dazu BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, NZA 2008, 241 (243); v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420 (421); HMB/Grau, Teil 15 Rz. 62 m.w.N. 3 Vgl. EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 32 ff. 4 EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 30.
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Grau/Hartmann
Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
§ 11
Rz. 122
hindern wolle, dass die Arbeitnehmer allein wegen der Übernahme durch einen anderen Arbeitgeber schlechter gestellt sind als vorher.1 Aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL könnte gefolgert werden, dass die kollektivvertraglichen Arbeitsbedingungen nur bis zur Anwendung schlechterdings irgendeines Kollektivvertrags beim Erwerber ohne Rücksicht auf die darin enthaltenen Regelungsgegenstände aufrechtzuerhalten sind. Eine solche Auslegung würde aber den Schutzzweck der Richtlinie missachten, in deren Licht eine Ablösung nur insoweit angemessen ist, wie inhaltlich ihrem Gegenstand nach kollidierende Regelungskomplexe betroffen sind.2 Die Feststellung einer Regelungsidentität als Voraussetzung für die Ablösung ist Sache der nationalen Gerichte. Entscheidend ist, ob die betroffene Sachgruppe beim Erwerber ebenfalls kollektivvertraglich geregelt ist.3 Dabei darf die Abgrenzung der Kollisionsmaterie nicht zu eng erfolgen, da dies ansonsten zu einer Zersplitterung der Arbeitsbedingungen führen würde, was dem in Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL enthaltenen Schutz des Ablösungsinteresses des Erwerbers nicht Rechnung tragen würde.
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Keine Bedenken bestehen unter europarechtlichem Blickwinkel gegen die Ablösung von beim Veräußerer tariflich geregelten Arbeitsbedingungen durch Betriebsvereinbarung beim Erwerber (sog. Überkreuzablösung).4 Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL unterscheidet insofern nicht zwischen verschiedenen Arten von Kollektivverträgen.
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Anders als im Bereich der individualvertraglichen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, die gem. Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL unverändert auf den Erwerber übergehen, schließt Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL die Möglichkeit von inhaltlichen Veränderungen und damit auch Verschlechterungen in den kollektivrechtlich geregelten Arbeitsbedingungen im Zuge ihrer Ablösung durch beim Erwerber geltende Kollektivverträge mit ein. Ein Günstigkeitsvergleich mit Verschlechterungsverbot der Arbeitsbedingungen infolge Inkrafttretens oder Anwendung eines anderen Kollektivvertrags ist der Betriebsübergangsrichtlinie nicht zu entnehmen.5 Die mögliche Folge einer Ablösung von Tarifverträgen durch für die Arbeitnehmer ungünstigere Tarifverträge des Erwerbers wurde bereits bei Schaffung von Art. 3 Abs. 2 RL 77/187/EWG, der Vorgängerregelung des heutigen Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL, vom europäischen Gesetzgeber gesehen, wobei entsprechende Vorschläge für eine Begrenzung der Ablösungsmöglichkeit von Tarifverträgen jedoch nicht aufgegriffen wurden.6 Zudem vertrüge sich ein Verschlechterungsverbot nicht mit der Systematik der Betriebsübergangsrichtlinie. Da die individualvertraglichen Rechte und Pflichten wegen Art. 3 Abs. 1
122
1 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 59. 2 Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125); s. zu § 613a BGB BAG v. 20.4. 1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, NZA 2003, 879; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 97; Müller-Glöge, in MünchKomm/BGB, § 613a Rz. 142; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 222; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. E145. 3 Vgl. zu § 613a BGB BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 271; Müller-Glöge, in MünchKomm/BGB, § 613a Rz. 142 jeweils m.w.N. 4 Zur diesbezüglichen Streitfrage bei § 613a BGB s. BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, NZA 2008, 542 (546); v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, DB 2010, 1998; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 126; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 90; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 221 jeweils m.w.N. 5 Vgl. HMB/Grau, Teil 15 Rz. 104; Leder/Rodenbusch, EWiR 2011, 737 (738); Sagan, EuZA 2012, 247 (254). 6 S. auch die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 14.2.1977, veröffentlicht im ABl. Nr. L 61 v. 5.3.1977, S. 26; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 107; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 104.
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§ 11
Rz. 123
Betriebsübergang
UAbs. 1 BÜ-RL unverändert übergehen, wäre Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL (vgl. Rz. 146 ff.) weitgehend überflüssig, wenn es nicht zu – auch wesentlichen nachteiligen – Änderungen der kollektiven Arbeitsbedingungen durch den Ablösungsmechanismus des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL kommen könnte. Schließlich würde ein wie auch immer geartetes Verschlechterungsverbot bei der Ablösung von Kollektivverträgen beim Betriebsübergang durch die für ihren Abschluss beim Betriebserwerber zuständigen Sozialpartner mit dem europäischen Grundrecht auf kollektive Gestaltung der Arbeitsbedingungen gem. Art. 28 GRC1 kollidieren.2 Auch der EuGH ist in der Vergangenheit zu Recht davon ausgegangen, dass die Betriebsübergangsrichtlinie es dem Erwerber nicht verwehrt, die Arbeitsbedingungen zu verändern, soweit das nationale Recht eine solche Änderung unabhängig vom Fall des Betriebsübergangs zulässt. Dies ist mit Blick auf den Schutzzweck der Richtlinie konsequent.3 Dementsprechend findet im Verhältnis zwischen den bisherigen Kollektivarbeitsbedingungen und den beim Erwerber geltenden Arbeitsbedingungen kein Günstigkeitsprinzip Anwendung. 123
Unsicherheit besteht in diesem Zusammenhang über die Auswirkungen der Entscheidung des EuGH in der Rs. Scattolon.4 In diesem Fall ging es um eine kollektivvertragliche Regelung aus Anlass der Umstrukturierung von Instandhaltungs- und Verwaltungsdiensten in italienischen Schulen, die für die übergehenden Arbeitnehmer nur zu einer bedingten Berücksichtigung der zurückgelegten Vorbeschäftigungszeit bei der Integration in das Gehaltssystem der übernehmenden Körperschaft führte. Der EuGH nahm zwar an, dass ein beim Veräußerer geltender Kollektivvertrag durch den beim Erwerber einschlägigen Tarifvertrag abgelöst werden könne. Allerdings dürfe eine Ablösung von Kollektivverträgen nicht dem Ziel der Betriebsübergangsrichtlinie zuwiderlaufen, eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen allein auf Grund des Übergangs zu verhindern. Der Gerichtshof folgerte hieraus, dass die Inanspruchnahme der Ablösungsmöglichkeit durch den Erwerber, die in einem Tarifvertrag des Veräußerers vorgesehenen Arbeitsbedingungen mit sofortiger Wirkung durch die Arbeitsbedingungen eines beim Erwerber geltenden Tarifvertrags zu ersetzen, nicht zum Ziel oder zur Folge haben dürfe, den betroffenen Arbeitnehmern insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen als die vor dem Übergang geltenden aufzuerlegen.5 In dieser Hinsicht lasse Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL es nicht zu, dass Arbeitnehmer „erhebliche“ Kürzungen ihres Entgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Betriebsübergang hinnehmen müssten, weil ihr beim Veräußerer zurückgelegtes Dienstalter, welches dem entspricht, das beim Erwerber beschäftigte Arbeitnehmer erreicht haben, bei der Bestimmung ihres Anfangsgehaltes nicht berücksichtigt worden ist.6
1 Zur Reichweite von Art. 28 GRC, der auch Kollektivverhandlungen zum Zwecke des Abschlusses von Betriebsvereinbarungen betrifft, s. Jarass, Art. 28 Rz. 6; Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 28 GRC Rz. 5. 2 Vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 104; Sagan, EuZA 2012, 247 (254). 3 S. EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 – Martin, Slg. 2003, I-12859 – Rz. 39 ff.; v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 – Collino, Slg. 2000, I-6659 – Rz. 52; v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 28; v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 19; v. 10.2.1988 – Rs. C-324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, I-739 – Rz. 17; v. 7.2.1995 – Rs. C-472/93 – Spano, Slg. 1995, I-4321 – Rz. 35. 4 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491. 5 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 59. 6 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 83.
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Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
§ 11
Rz. 125
Diese zu Recht kritisierte Entscheidung des EuGH wirft eine ganze Reihe bislang ungeklärter Fragen auf.1 Dazu gehört, ob der Gerichtshof tatsächlich eine grundsätzliche Relativierung des Ablösungsprinzips durch Einführung eines – in der Richtlinie indes nicht angelegten – generellen Vorbehaltes eines (wie auch immer gearteten) kollektiven Günstigkeitsvergleichs bzw. Gesamtvergleichs bei der Ablösung der kollektiven Arbeitsbedingungen vornehmen wollte. Dagegen könnte sprechen, dass der behandelte Fall eine recht spezielle Sachverhaltskonstellation betraf.2 Zudem hat der EuGH die Position des Betriebserwerbers, selbst über Inhalt und Gestaltung der auf die übergegangenen Arbeitnehmer anzuwendenden kollektiven Arbeitsbedingungen entscheiden zu können, inzwischen in anderem Zusammenhang deutlich gestärkt, ohne dies unter den Vorbehalt des Ausbleibens wesentlicher inhaltlicher Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu stellen (vgl. Rz. 132 ff.).3 Auch hat der EuGH in der Scattolon-Entscheidung lediglich eine solche Verschlechterung als schutzzweckwidrig bewertet, die allein aufgrund der Übernahme durch einen anderen Arbeitgeber und mit sofortiger Wirkung eintreten sollte.4 Nimmt man den Gerichtshof beim Wort, spricht dies ebenfalls gegen einen generellen Günstigkeitsvergleich, da die Arbeitnehmer auch im Falle ihres Verbleibs beim Veräußerer eine potentielle Änderung oder Umgestaltung ihrer kollektiven Arbeitsbedingungen etwa infolge des Inkrafttretens neuer oder speziellerer Tarifverträge hätten hinnehmen müssen. Zudem vermischt der EuGH in der Entscheidung die Rechtslage in Bezug auf die Gewährleistung von individualvertraglichen Rechten und Pflichten einerseits und die Ablösbarkeit von Kollektivverträgen nach Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL andererseits.5 Auch dem Betriebsübergang erst zeitlich nachfolgende Veränderungen, etwa durch den sukzessiven Abschluss von Kollektivverträgen zur Harmonisierung der Arbeitsbedingungen beim Erwerber, sind vom Wortlaut der Begründung des EuGH nicht direkt erfasst.
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Fraglich ist mit Blick auf übliche Ausgliederungsvorgänge zur Veränderung der tariflichen Strukturen des Weiteren, ob und gegebenenfalls welche Einschränkungen daraus folgen sollen, dass die Inanspruchnahme der Ablösungsmöglichkeit ausweislich eines Satzes in der Entscheidung auch nicht zum Ziel haben darf, dass den Arbeitnehmern insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen auferlegt werden. Dies bezieht sich allerdings nur auf von Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL erfasste Kollektivbedingungen und nicht auf sonstige tatsächliche oder allgemeine betriebliche Rahmenbedingungen wie etwa ein beim Erwerber bestehendes Sozialplanprivileg nach § 112a BetrVG.6 Insofern könnte man die Scattolon-Entscheidung weniger als Regelvorgabe für einen generellen Günstigkeitsvergleich denn als Kontrollvorbehalt im Hinblick auf einen eventuellen Gestaltungsmissbrauch deuten.7 Ein Missbrauchsfall kann allerdings grundsätzlich nicht angenommen werden, wenn die ablösenden Tarifbedingungen durch eine nach dem mitgliedstaatlichen Tarifrecht anerkannte Gewerkschaft ausgehandelt wur-
125
1 Dazu ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 104; Leder/Rodenbusch, EWiR 2011, 737; Forst, Anm. zu EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, AP Nr. 9 zu RL 2001/23/EG; Sagan, EuZA 2012, 247; Sittard/Flockenhaus, NZA 2013, 652; Steffan, NZA 2012, 473; Winter, RdA 2013, 36. 2 Vgl. Schubert/Jerchel, EuZW 2012, 926 (929); Winter, RdA 2013, 36 (38). 3 S. EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835; ferner unlängst EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 29, wo der Gerichtshof ebenfalls betont, dass der Erwerber vor dem Hintergrund des gebotenen Ausgleichs der Interessen der Arbeitnehmer einerseits und denen des Erwerbers andererseits in der Lage sein müsse, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen. 4 HMB/Grau, Teil 15 Rz. 104; Sagan, EuZA 2012, 247 (252). 5 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125. 6 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, Slg. 2011, I-7491 – Rz. 83. 7 Winter, RdA 2013, 36 (38).
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§ 11
Rz. 126
Betriebsübergang
den. Jedenfalls in Deutschland muss sie zum Erhalt ihrer Tariffähigkeit von vornherein eine ausreichende soziale Mächtigkeit aufweisen. Außerdem kommt ihren Tarifverträgen eine Richtigkeitsgewähr zu, so dass auf diese Weise ein Schutz vor unangemessenen Arbeitsbedingungen auch in Ablösungskonstellationen gegeben ist.1 126
Auch zu der Frage, nach welchen Maßstäben sich die Feststellung erheblicher Verschlechterungen richten soll und wie ein Gesamtvergleich der Arbeitsbedingungen in diesem Zusammenhang konkret auszusehen hätte, lässt sich der Scattolon-Entscheidung nichts Näheres entnehmen. Eine der Schwierigkeiten liegt darin begründet, dass eine statische Aufrechterhaltung der bisherigen Tarifbedingungen wie etwa des Gehalts im Moment des Betriebsübergangs zwar gegebenenfalls günstiger ist als eine sofortige Tarifablösung, das Pendel bei Annahme einer „Ablösungssperre“ infolge des Abschneidens von der dynamischen Tarifentwicklung beim Erwerber jedoch im Zeitverlauf auch wieder zum Nachteil der übergegangenen Arbeitnehmer ausschlagen kann. Zudem wären nicht nur die tariflichen, sondern gegebenenfalls auch weitere beim Erwerber (erstmals) anwendbare Arbeitsbedingungen mit zu berücksichtigen. Dies wirft die Frage auf, wie diese im Rahmen eines Gesamtvergleichs zu gewichten wären, bei dem womöglich „Äpfel mit Birnen“ verglichen werden müssten.2 Schließlich ist völlig offen, welche Rechtsfolgen sich gegebenenfalls aus einer erheblichen Verschlechterung der kollektiven Arbeitsbedingungen ergeben sollen, insbesondere ob dies dann nach Ansicht des EuGH zur (statischen) Fortgeltung des bisherigen Tarifregimes führen kann und diese Folge entsprechend Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 BÜ-RL auf ein Jahr begrenzt wäre.3 Insofern bleibt letztlich die weitere Rechtsprechungsentwicklung abzuwarten.
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Vor diesem Hintergrund erscheint eine grundlegende Korrektur der bislang einhelligen Auslegung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, wonach das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis zwischen abzulösenden Kollektivregelungen des Veräußerers und den ablösenden Kollektivbedingungen beim Erwerber keine Anwendung findet,4 vorerst nicht angezeigt. b) Individualvertragliche Bezugnahme auf Kollektivverträge
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Zu den übergehenden Rechten und Pflichten nach Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL gehören auch arbeitsvertragliche Klauseln, die auf tarifvertragliche Vereinbarungen verweisen (Bezugnahmeklauseln). Diese gehen im Zuge des Betriebsübergangs nach Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL ebenfalls auf den Erwerber über.5
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Nach ihrem Inhalt ist zwischen statischen und dynamischen Bezugnahmeklauseln zu unterscheiden.6 Während erstere auf einen bestimmten Tarifvertrag eines genau festgelegten Datums verweisen, machen letztere entweder einen bestimmten Tarifvertrag 1 In diese Richtung auch Forst, Anm. zu EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, AP Nr. 9 zu RL 2001/23/EG. 2 Vgl. Forst, Anm. zu EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 – Scattolon, AP Nr. 9 zu RL 2001/23/EG. 3 Vgl. Sagan, EuZA 2012, 247 (255); Sittard/Flockenhaus, NZA 2013, 652 (653). 4 S. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (46 f.); v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/ Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. E144 m.w.N. 5 Vgl. EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 27; BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, NJW 2010, 1831 (1834); APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 141; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 111, 127. 6 Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung, Rz. E180 ff.; ausführlich zu den Auswirkungen von Betriebsübernahmen auf Bezugnahmeklauseln Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 152 ff. m.w.N.
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Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
§ 11
Rz. 131
in seiner jeweilig geltenden Fassung zum Vertragsinhalt (kleine dynamische Bezugnahmeklausel) oder verweisen allgemein auf den für den Arbeitgeber oder Betrieb jeweils maßgeblichen Tarifvertrag in der jeweils geltenden Fassung (große dynamische Bezugnahmeklausel).1 Die Betriebsübergangsrichtlinie erfordert, dass der Erwerber so in den Arbeitsvertrag eintritt, wie er bei dem Veräußerer bestand. Daraus könnte man folgern, dass eine arbeitsvertragliche Klausel, die beim Veräußerer dynamisch bzw. statisch wirkte, auch bei dem Erwerber dynamisch bzw. statisch wirken müsste.2 Soweit eine dynamische Bezugnahme vorliegt und eine Auslegung als große dynamische Bezugnahme im Sinne eines Verweises auf die jeweils beim Erwerber kollektivrechtlich geltenden Tarifverträge nicht möglich ist, bewirkt eine solche Vereinbarung, dass der Erwerber arbeitsvertraglich nach dem Betriebsübergang an Tarifentwicklungen gebunden sein kann, welche durch für ihn „fremde“ Tarifparteien vereinbart werden und auf welche er keinen Einfluss hat. Aus Sicht des Arbeitnehmers bedeutet dies, dass er unabhängig davon, ob und welchen Tarifverträgen das Arbeitsverhältnis nach tarifrechtlichen Maßstäben bzw. aufgrund der nationalen Umsetzungsnorm des Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL unterfällt, einen Anspruch auf weitere zeitdynamische Anwendung des im Arbeitsvertrag vereinbarten Tarifvertrags behält. Allerdings gilt es zu sehen, dass die Auslegung von Bezugnahmeklauseln als solche nicht europarechtlich determiniert ist.3 Deshalb kann die Auslegung nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu einem „Einfrieren“ der Dynamik unter Gleichstellung mit den ursprünglich beim Veräußerer tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen führen (zur Rechtslage in Deutschland vgl. Rz. 135 f.).
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In der Rs. Werhof hat sich der EuGH erstmals ausführlich mit der Frage der dynamischen Wirkung einer Bezugnahmeklausel nach Betriebsübergang befasst.4 Gegenstand der Entscheidung war die Frage, ob es mit Art. 3 BÜ-RL vereinbar ist, wenn eine dynamische Bezugnahme entsprechend der früheren Gleichstellungskonzeption des BAG dahingehend ausgelegt wird, dass hiervon nach dem Betriebsübergang abgeschlossene Tarifverträge nicht mehr erfasst sind und der Arbeitnehmer dementsprechend seinen Anspruch auf Anwendung der weiteren Tariferhöhungen verliert. Die Richtlinienkonformität dieser Folge hat der EuGH in der Werhof-Entscheidung bestätigt. Die Betriebsübergangsrichtlinie erfordere lediglich, dass dem Arbeitnehmer diejenigen Arbeitsbedingungen erhalten bleiben, welche zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestanden haben.5 Daraus folge jedenfalls kein zwingender Anspruch der Arbeitnehmer auf weitere dynamische Anwendung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifverträge, selbst wenn dies nach dem Wortlaut der arbeitsvertraglichen Bezugnahme der Fall war. Daneben argumentierte der EuGH mit der negativen Vereinigungsfreiheit als einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts,6 welche beeinträchtigt werde, falls künftige Tarifverträge für den Erwerber gälten, obwohl dieser
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1 Vgl. nur BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151 (152 f.); v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 230; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 238 jeweils m.w.N. 2 Vgl. LAG Düsseldorf v. 8.10.2004 – 9 Sa 817/04, NZA-RR 2005, 148; Sutschet, RdA 2013, 28. 3 Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 325 f.; Lobinger, NZA 2013, 945 (947); Thüsing, NZA 2004, 473 (474 f.). 4 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397; s. dazu das Vorabentscheidungsersuchen des LAG Düsseldorf v. 8.10.2004 – 9 Sa 817/04, NZA-RR 2005, 148; zum Ganzen Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 40 ff., 256 ff., 325 ff. 5 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 37. 6 Nunmehr Art. 12 GRC; vgl. Jarass, Art. 12 Rz. 25.
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§ 11
Rz. 132
Betriebsübergang
dem Kollektivvertrag nicht angehört und ihm auch bewusst nicht angehören will.1 Häufig übersehen wird, dass diese Argumentation in engem Zusammenhang mit den Ausführungen des EuGH zur Privatautonomie des Erwerbers steht.2 Weiterhin solle auch die Bindung an die Bezugnahmeklausel nicht weiter gehen, als die in Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL geregelte Bindung an Kollektivverträge reicht, so dass diese gleichzeitig mit der Tarifgebundenheit enden könne.3 Ob hieraus insgesamt die Konsequenz abzuleiten ist, dass eine dynamische Wirkung von Bezugnahmeklauseln europarechtswidrig wäre, ist seither umstritten.4 132
Inzwischen hat der EuGH seine Rechtsprechung zu dieser Frage in der Rs. AlemoHerron weiter präzisiert.5 In dem Fall ging es um die Auswirkungen einer privatisierenden Betriebsübernahme auf eine arbeitsvertragliche Klausel des Klägers, welche dynamisch auf bestimmte kollektivvertragliche Regelungen des öffentlichen Dienstes verwies. Der EuGH gelangte zu dem Ergebnis, dass der Betriebserwerber nicht kraft einer vertraglichen Bezugnahme auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs verhandelte und abgeschlossene Kollektivverträge gebunden werden könne, wenn der Erwerber nicht die Möglichkeit habe, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang abgeschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen.6 Dies stützt der Gerichtshof im Wesentlichen auf zwei Gründe. Zum einen bezwecke die Betriebsübergangsrichtlinie nicht nur den Schutz der Arbeitnehmer, sondern auch den des Erwerbers, weshalb dessen Anpassungsbedarf aufgrund der beträchtlichen Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen im öffentlichen und privaten Sektor bei dem erforderlichen Ausgleich der beiderseitigen Interessen zu berücksichtigen sei. Dieses berechtigte Anpassungsinteresse sei gefährdet, wenn eine dynamische Bindung an Kollektivverträge existiert, die nach dem Betriebsübergang ohne Einflussmöglichkeit des neuen Arbeitgebers beschlossen worden seien.7 Zum anderen sei bei der Auslegung der Betriebsübergangsrichtlinie auch die Garantie der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC zugunsten des Erwerbers zu berücksichtigen. Es müsse dem Erwerber daher im Hinblick auf Art. 3 BÜ-RL möglich sein, im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens, an dem er beteiligt ist, seine Interessen wirksam geltend zu machen, und die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln.8 Anderenfalls sei die unternehmerische Freiheit des Erwerbers so erheblich reduziert, dass der Wesensgehalt von Art. 16 GRC berührt sei.9 Auch das Günstigkeitsprinzip des Art. 8 BÜ-RL berechtige die Mitgliedstaaten nicht zum Erlass von
1 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 34. 2 So zu EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 23 ff. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 257 f.; s. bereits Reichold, JZ 2006, 725 (726). 3 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 – Werhof, Slg. 2006, I-2397 – Rz. 28 ff. 4 Dagegen BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NJW 2008, 102 (105); v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, NJW 2010, 1831 – Rz. 19 ff.; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 127; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 279; HMB/Grau, Teil 15 Rz. 122; Jacobs, FS Birk, 243 (255 ff.); Thüsing, NZA 2006, 473 (474); a.A. Nicolai, DB 2006, 670. 5 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835. In der Literatur ist die Entscheidung bislang auf geteiltes Echo gestoßen, s. Forst, DB 2013, 1845; Jacobs/Frieling, EuZW 2013, 737; Latzel, RdA 2014, 110; Lobinger, NZA 2013, 945; Naber/Krois, ZESAR 2014, 121; Willemsen/Grau, NJW 2014, 12. 6 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835 – Rz. 37. 7 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835 – Rz. 28 f. 8 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835 – Rz. 33 f. 9 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835 – Rz. 35 f.
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Grau/Hartmann
Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
§ 11
Rz. 134
Maßnahmen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, gleichzeitig aber die unternehmerische Freiheit des Erwerbers erheblich einschränken.1 Die Alemo-Herron-Entscheidung bestätigt im Grundsatz die Werhof-Entscheidung, lässt allerdings wohl wegen einiger Besonderheiten der Sachverhaltsgestaltung und der Vorlagefragen2 die negative Vereinigungsfreiheit unerwähnt und stellt stattdessen die unionsrechtlich geschützte Vertragsfreiheit ins Zentrum.3 Der Erwerber solle nicht daran gehindert sein, die für die Entwicklung der Arbeitsbedingungen der übernommenen Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln. Dem ist zuzugeben, dass eine fehlende Einflussnahmemöglichkeit des Erwerbers auf die Entwicklung der Kollektivbedingungen durchaus Abschreckungscharakter für einen Betriebserwerb haben kann, was von der Richtlinie nicht bezweckt wird, und vom EuGH zudem nicht als angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und des Erwerbers bewertet wird.4 Indem der EuGH der Bindung des Erwerbers an ausschließlich fremdbestimmte Kollektivbedingungen nach dem Betriebsübergang Grenzen setzt, reduziert er damit zugleich ein potentiell binnenmarktrelevantes Hemmnis für Betriebsübernahmen.5 Allerdings weist die Entscheidung auch einige dogmatische Schwächen auf. Insbesondere unterscheidet der EuGH nicht sauber zwischen einer kollektivrechtlichen Wirkung und der lediglich individualvertraglich durch Bezugnahme vermittelten Tarifgeltung, obwohl Art. 3 BÜ-RL für die Fortgeltung von arbeitsvertraglichen Regelungen in Abs. 1 sowie hinsichtlich der begrenzten Aufrechterhaltung von Kollektivverträgen in Abs. 3 unterschiedliche Regelungen und Rechtsfolgen beinhaltet.6
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Als vorläufiges Fazit dieser Entwicklung wird man festhalten können, dass eine dynamische „Endlosbindung“ des Betriebserwerbers an die beim Veräußerer einschlägigen Tarifverträge infolge einer Bezugnahmeklausel europarechtlich wohl keinen Bestand haben kann, wenn der Betriebserwerber keine Möglichkeit hat, die Entwicklung dieser Tarifverträge nach dem Betriebsübergang zu beeinflussen. Dabei ist noch offen, welcher Grad an Einflussnahmemöglichkeit konkret gegeben sein muss, um eine zum Ausschluss der Dynamik führende Fremdbestimmtheit bei der Tarifentwicklung zu vermeiden. Sofern der Erwerber die satzungsgemäßen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der tarifschließenden Koalition nicht erfüllt, so fehlt es in jedem Fall an der vom EuGH geforderten Einflussnahmemöglichkeit auf die nach dem Betriebsübergang stattfindenden Tarifverhandlungen. Falls ein Koalitionsbeitritt prinzipiell möglich wäre, erscheint es vor dem Hintergrund der negativen Koalitionsfreiheit immerhin problematisch, den Erwerber auf die Möglichkeit zu einem Koalititionsbeitritt zu verweisen, falls er die dynamische Wirkung der Bezugnahmeklauseln vermeiden will, zumal dies dann – jedenfalls nach deutschem Recht – zur (weiteren) dynamischen Bindung an die bisherigen Tarifverträge bereits wegen § 4 Abs. 1 TVG führen würde, so dass sich eine Begrenzung der Tarifdynamik hierdurch nicht erreichen ließe.7
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1 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835 – Rz. 36 unter Verweis auf EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-544/10 – Deutsches Weintor, GRUR 2012, 1161 (1163). 2 Näher dazu Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 262 f. 3 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, NZA 2013, 835 – Rz. 32 ff. und dazu Lobinger, NZA 2013, 945 (946 f.). 4 S. auch EuGH v. 11.9.2014 – Rs. C-328/13 – ÖGB, Rz. 29. 5 Willemsen/Grau, NJW 2014, 12 (14). 6 Willemsen/Grau, NJW 2014, 12 (14); abweichend zur Binnensystematik des Art. 3 BÜ-RL demnächst Hartmann, Dynamische Bezugnahmeklauseln im Betriebsübergang vor dem EuGH, erscheint in EuZA Heft 2/2015. 7 Vgl. Willemsen/Grau, NJW 2014, 12 (15).
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§ 11
Rz. 135
Betriebsübergang
Noch weitergehend könnte aus der Alemo-Herron-Entscheidung gefolgert werden, dass es darauf ankommt, ob der Erwerber das Tarifergebnis auch tatsächlich aktiv beeinflussen kann, da der Erwerber nur dann seine Interessen im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitsbedingungen der übergehenden Arbeitnehmer wirksam geltend machen kann. Das wäre nur dann erfüllt, wenn der Erwerber entweder unmittelbar an den Tarifverhandlungen beteiligt ist oder er jedenfalls maßgeblich an der Willensbildung der Koalition, welche für den Abschluss des Kollektivvertrags zuständig ist, mitwirken kann. Oftmals sehen die Satzungen der Arbeitgeberverbände aber kein Recht des Mitglieds auf Teilnahme an Tarifverhandlungen vor. Hier besteht nach mancher Ansicht die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Willensbildung erst über die Mitgliedschaft in einer Tarifkommission, was in der Praxis nicht der Regelfall ist.1 135
Nach früherer Rechtsprechung des BAG war eine dynamische Tarifbezugnahme regelmäßig als Gleichstellungsabrede auszulegen, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung tarifgebunden war, so dass die Bezugnahme nach einem Betriebsübergang parallel zur Rechtslage für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse (s. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB) nur noch statisch wirkt.2 Für ab dem Jahr 2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln gilt dies nach einer geänderten BAG-Rechtsprechung nur noch, falls der Gleichstellungszweck in der Klausel ausreichend zum Ausdruck kommt; ansonsten ist die Bezugnahme ihrem Wortlaut entsprechend dynamisch auszulegen.3 Ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit des Erwerbers komme lediglich dann in Betracht, wenn die angeordnete Bindung an den Tarifvertrag auf kollektivrechtlicher Wirkungsweise beruhen würde, nicht hingegen falls diese nur Ergebnis privatautonomer Willenserklärung der Arbeitsvertragsparteien ist.4 Allerdings erscheint fraglich, ob die Bindung des Betriebserwerbers als Ergebnis ausgeübter Privatautonomie gesehen werden kann oder ob darin nicht vielmehr eine grundrechtlich problematische Folge eines Betriebsübergangs läge.5
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Es spricht vieles dafür, dass an der aktuellen BAG-Rechtsprechung im Anwendungsbereich der Alemo-Herron-Entscheidung zumindest im Ergebnis nicht festgehalten werden kann. Vor diesem Hintergrund mag trotz der teilweise bedenkenswerten Kritik an der früheren Gleichstellungsrechtsprechung6 eine Rückkehr zu den alten Auslegungsregeln nahe liegen.7 Letztlich könnten die Wirkungen der Alemo-Herron-Entscheidung sogar noch darüber hinausgehen, da der EuGH die statische Fortgeltung der dynamischen Bezugnahme nach dem Betriebsübergang nicht davon abhängig macht, ob der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Vereinbarung selbst tarifgebunden war oder nicht, was Voraussetzung für den Gleichstellungscharakter einer Bezugnahmeklausel ist, sondern allein auf die Belastung des Erwerbers mit 1 Vgl. Jacobs/Frieling, EuZW 2013, 737 (739). 2 S. u.a. BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP § 4 TVG NR. 6; v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, AP § 1 TVG Nr. 34; v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 (1209). 3 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04 – NZA 2006, 607; nunmehr st. Rspr., s. v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, NJW 2010, 1831 (1833); v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530. 4 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967 f.); Sutschet, RdA 2013, 28 (29); Thüsing, NZA 2006, 473 (474). 5 Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 326 ff. 6 Dazu näher Lobinger, FS v. Hoyningen-Huene, S. 271 (272 ff.) 7 Im Ergebnis ähnlich Lobinger, NZA 2013, 945 (947); vgl. ferner Naber/Krois, ZESAR 2014, 121 (124 f.), die für eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB plädieren. Anders Jacobs/Frieling, EuZW 2013, 737 (739 f.): zeitliche Begrenzung der Dynamik oder Änderungskündigung.
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Grau/Hartmann
Übergang und Inhaltsschutz der Arbeitsverhältnisse
§ 11
Rz. 138
fremdbestimmten und für ihn nicht beeinflussbaren Kollektivbedingungen abstellt. Die europarechtlichen Probleme würden sich allerdings ohnehin erledigen, wenn die Dynamik bereits nach dem zugrunde liegenden Arbeitsverhältnis nicht über den Betriebsübergang hinausreichen würde. Nach einer Ansicht ist es nach wie vor denkbar, dass die Arbeitsvertragsparteien die Entdynamisierung gerade für den Fall des Betriebsübergangs vereinbart haben.1 Ebenfalls eine erhebliche Entschärfung würde die Anerkennung eines einseitigen „Entdynamisierungsrechts“ bringen, das vom Veräußerer auf den Erwerber übergehen würde.2 5. Schutz der Rechte und Anwartschaften aus betrieblichen und überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen (Art. 3 Abs. 4 BÜ-RL) Sofern das Recht der Mitgliedstaaten nichts anderes vorschreibt, gilt Art. 3 Abs. 1 und 3 BÜ-RL kraft der in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a BÜ-RL vorgesehenen Bereichsausnahme nicht für Arbeitnehmeransprüche auf Leistungen bei Alter, Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten. Es bleibt dementsprechend grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen, ob der Eintritt des Erwerbers auch Ansprüche aus einer vom Veräußerer zugesagten betrieblichen Altersversorgung umfassen soll. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Versorgungsanwartschaften übergehender als auch der bereits aus dem Betrieb ausgeschiedenen Arbeitnehmer. Infolge dieser Ausnahmebestimmung wird der Erwerber vorbehaltlich abweichender Bestimmungen des nationalen Rechts nicht mit den in der Vergangenheit vor dem Übergang verdienten Versorgungsanwartschaften belastet, für welche er keine Gegenleistung in Form der geleisteten Arbeit erhalten hat. Der EuGH tendiert zu einer engen Auslegung des Ausnahmetatbestands in Art. 3 Abs. 4 Buchst. a BÜ-RL und fasst beispielsweise Ansprüche auf Vorruhestandsleistungen nicht darunter. Diese Ansprüche gehen dementsprechend zusammen mit dem Arbeitsverhältnis nach Art. 3 Abs. 1 oder Abs. 3 BÜ-RL auf den Erwerber über.3
137
Falls das nationale Recht keinen Rechteübergang vorsieht, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b BÜ-RL verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der bereits ausgeschiedenen Versorgungsanwärter des übergehenden Betriebs hinsichtlich ihrer Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich für Hinterbliebene, zu treffen.4 Invaliditätsleistungen nennt die Richtlinie hier nicht. Die konkrete Umsetzung des Schutzes verbleibt im Spielraum der Mitgliedstaaten.5 In Deutschland erfolgt der Schutz der erworbenen Anwartschaften (auch soweit diese in Bezug auf bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer nicht auf den Erwerber übergehen) durch den Pensionssicherungsverein (§ 7 BetrAVG).
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1 Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 330. 2 Dazu grundlegend Lobinger, FS v. Hoyningen-Huene, S. 271 (284 ff.); demnächst auch Hartmann, Dynamische Bezugnahmeklauseln im Betriebsübergang vor dem EuGH, erscheint in EuZA Heft 2/2015. 3 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-164/00 – Beckmann, Slg. 2002, I-4893 – Rz. 28 ff.; bestätigt durch v. 6.11.2003 – Rs. C-4/01 – Martin, Slg. 2003, I-12859 – Rz. 29 ff.; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 263 f.; Martin, Umsetzung der Betriebsübergangsrichtlinie, S. 225 ff. 4 S. dazu Art. 9 des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (126); Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 55. 5 S. zur unterschiedlichen Umsetzung in den Mitgliedstaaten Rebhahn, RdA 2006, Sonderbeilage zu Heft 6, 4 (12).
Grau/Hartmann
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§ 11
Rz. 139
Betriebsübergang
IV. Schutz vor Kündigung und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses infolge wesentlicher Verschlechterung der Arbeitsbedingungen 139
Der von der Betriebsübergangsrichtlinie bezweckte Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse soll nicht dadurch umgangen werden, dass Veräußerer oder Erwerber den Arbeitnehmern aufgrund des Betriebsübergangs kündigen. Zu diesem Zweck sieht Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL ein grundsätzliches Verbot übergangsbedingter Kündigungen vor. Ergänzt wird der Schutz durch eine arbeitgeberseitige Beendigungsfiktion im Falle einer wesentlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch den Übergang, Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL. 1. Verbot der arbeitgeberseitigen Kündigung wegen des Betriebsübergangs (Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL) a) Reichweite und Folgen des Kündigungsverbots
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Gemäß Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL darf der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils keinen Grund für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses darstellen. Der Schutz durch Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL ist zwingend, so dass ein abstrakter Verzicht hierauf (etwa im Arbeitsvertrag) unwirksam wäre; Adressaten sind sowohl der Veräußerer als auch der Erwerber und zwar sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang zu dem Betriebsübergang.1 Es handelt sich um ein eigenständiges Kündigungsverbot, welches eine sachlogisch gebotene Ergänzung des durch Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL gewährten Bestandsschutzes ist.
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Das Kündigungsverbot bezieht sich auf Kündigungen, die allein wegen des Übergangs erfolgen sollen. Kündigungsmöglichkeiten aus anderen Gründen vor oder nach der Betriebsübertragung werden hierdurch nicht ausgeschlossen. Dies gilt sowohl für Kündigungen durch den Veräußerer als auch durch den Erwerber.2 Art. 4 Abs. 1 Satz 2 BÜ-RL stellt hierzu klar, dass die Richtlinie etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegensteht.3 Dies gilt entsprechend für eine verhaltensbedingte Kündigung.4 Der EuGH hat wiederholt betont, dass Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL nicht der Anwendung innerstaatlicher Regelungen entgegensteht, die es dem Veräußerer gestatten, die mit der Beschäftigung von überzähligen Arbeitnehmern verbundenen Lasten zu mindern.5 Der Gerichtshof will offenbar vermeiden, dass Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL als Sanierungshindernis wahrgenommen wird, wenn die Chance besteht, wenigstens einen Teil der im wirtschaftlich angeschlagenen Unternehmen des Veräußerers bestehenden Arbeitsplätze beim Erwerber 1 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 – Wendelboe, Slg. 1985, I-457; v. 17.12.1987 – Rs. C-287/86 – Ny Mølle Kro, Slg. 1987, I-5465; v. 12.3.1988 – Rs. C-319/94 – Dethier, Slg. 1988, I-1061; v. 10.2. 1988 – Rs. C-324/86 – Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, I-739; v. 15.6.1988 – Rs. C-101/87 – Bork, Slg. 1988, I-3057; vgl. auch die Begründung zu Art. 4 des Richtlinienvorschlags, abgedruckt in: RdA 1975, 124 (125); Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 78 m.w.N. 2 EuGH v. 12.3.1998 – Rs. C-319/94 – Dethier, Slg. 1998, I-1061 – Rz. 36 f.; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 77. 3 EuGH v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 – Rask, Slg. 1992, I-5755 – Rz. 29; v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 – Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311 – Rz. 18 f.; v. 12.3.1998 – Rs. C-319/94 – Dethier, Slg. 1998, I-1061 – Rz. 35 f.; v. 16.10.2008 – Rs. C-313/07 – Kirtruna, Slg. 2008, I-7907 – Rz. 46 f. 4 Vgl. Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 230; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 78. 5 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 19; v. 7.12.1995 – Rs. C-472/93 – Spano, Slg. 1995, I-4321 – Rz. 35.
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Grau/Hartmann
Schutz vor Kündigung
§ 11
Rz. 144
zu erhalten.1 Dementsprechend stellt der Übergang als solcher zwar keinen zulässigen Kündigungsgrund dar. Andererseits schützt die Richtlinie nicht vor bloßen „Fernwirkungen“ des Übergangs, d.h. falls der Betriebsinhaberwechsel bloß Anlass für beschäftigungsrelevante Umstrukturierungsmaßnahmen in der betroffenen wirtschaftlichen Einheit ist, stellt dies keinen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL dar.2 Dies gilt auch für Personalanpassungsmaßnahmen durch den Erwerber, welche auf Synergien infolge des Hinzukommens der übernommenen wirtschaftlichen Einheit beruhen. Letztlich führt Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL also dazu, dass der Betriebsübergang im Hinblick auf den Kündigungsschutz der Arbeitnehmer neutral ist.3 Dementsprechend bleibt auch der allgemeine mitgliedstaatliche Kündigungsschutz durch Art. 4 BÜ-RL unberührt. Im Einzelfall kann die Abgrenzung zwischen einer aufgrund des Übergangs erfolgten und mithin verbotenen Kündigung und einer zulässigen Kündigung aus sonstigen Gründen schwierig sein. Maßgeblich hierfür sind die objektiven Umstände, unter denen die Kündigung erfolgt ist.4 Zu den zu würdigenden Umständen zählen nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere der zeitliche Zusammenhang zwischen Kündigung und Übergang, die Begründung des Arbeitgebers sowie eine etwaige Wiedereinstellung der vom Veräußerer gekündigten Arbeitnehmer zu schlechteren Bedingungen durch den Erwerber.5 Zur Beweislast trifft die Richtlinie keine Aussage; diese richtet sich folglich nach dem Recht oder der Praxis des jeweiligen Mitgliedstaates.6
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Ein Verstoß gegen das Kündigungsverbot des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BÜ-RL führt zur Unwirksamkeit der Kündigung, so dass die betroffenen Arbeitnehmer als immer noch in der übertragenen Einheit beschäftigt gelten und die Arbeitsverhältnisse nach Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL unverändert mit dem Erwerber fortbestehen.7 Diese Rechtsfolge ergibt sich unmittelbar aus dem zwingenden Schutzcharakter der Norm.
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b) Fakultative Einschränkung des Kündigungsverbotes durch die Mitgliedstaaten Gemäß Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL kann das mitgliedstaatliche Recht einige abgegrenzte Gruppen von Arbeitnehmern, auf die sich die Rechtsvorschriften oder die Praxis der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Kündigungsschutzes nicht erstrecken, vom Kündigungsverbot wegen des Betriebsübergangs ausnehmen. Dieser Ausnahmetatbestand ist zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der Arbeitnehmer bei Betriebsübergängen eng auszulegen. Nach der Sichtweise des EuGH greift die Ausnahmebestimmung lediglich in Fällen ein, in denen die betreffende Arbeitnehmergruppe im nationalen Recht keinerlei Kündigungsschutz hat. Besteht hingegen irgendein (wenn auch nur eingeschränkter) Schutz, z.B. in Form von Mindestkündigungsfristen, sind diese Arbeitnehmer vom Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL 1 2 3 4
S. auch Art. 4 des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125). Vgl. Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 231. Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 231. EuGH v. 15.6.1988 – Rs. C-101/87 – Bork, Slg. 1988, I-3057; Blainpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rz. 470; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 77; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 250 ff. 5 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. C-101/87 – Bork, Slg. 1988, I-3057 – Rz. 18. 6 Teilweise abweichend Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 255; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 124; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 251; s. zu § 613a BGB etwa BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 107/10, NZA-RR 2012, 119 (121); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 178. 7 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. C-101/87 – Bork, Slg. 1988, I-3057 – Rz. 18; v. 12.3.1988 – Rs. C-319/94 – Dethier, Slg. 1988, I-1061 – Rz. 39 ff.; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 80; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 249 f.; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 255.
Grau/Hartmann
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144
§ 11
Rz. 145
Betriebsübergang
nicht erfasst und das Kündigungsverbot wegen des Betriebsübergangs ist auf diese ebenfalls zu erstrecken.1 145
Deutschland könnte sich daher (schon wegen § 622 BGB) auf die Ausnahmebestimmung unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG auf das konkrete Arbeitsverhältnis nicht berufen. Dem trägt das eigenständige und von der Anwendbarkeit des KSchG unabhängige Kündigungsverbot in § 613a Abs. 4 BGB Rechnung. Hiergegen verstoßende Kündigungen sind nämlich bereits nach § 134 BGB nichtig.2 Dass § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB, wonach ein Recht des Arbeitgebers zur Kündigung aus anderen Gründen unberührt bleibt, nicht im Wortlaut mit Art. 4 Abs. 1 Satz 2 BÜ-RL übereinstimmt, ist unschädlich für die Umsetzung, da die deutsche Fassung ebenfalls den Zweck der Abgrenzung von Kündigungen wegen des Betriebsübergangs von im Rahmen des allgemeinen Kündigungsschutzes zulässigen betriebs-, verhaltens- und personenbedingten Kündigungen dient.3 2. Fiktion der Arbeitgeberkündigung bei wesentlicher Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL)
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Nach der Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL ist eine gegebenenfalls erfolgte Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses als durch den Arbeitgeber erfolgte Beendigung anzusehen, falls der Übergang eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers zur Folge hat. Der Zweck dieser Beendigungsfiktion durch den Arbeitgeber liegt u.a. darin, eine Umgehung des Kündigungsverbots nach Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL zu verhindern, indem der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis ohne Schaden aus eigener Initiative beenden kann, nachdem die Arbeitsbedingungen infolge des Übergangs zu seinem Nachteil verändert wurden. Auf diese Weise soll der betroffene Arbeitnehmer durch die Fiktion der Arbeitgeberkündigung in den Genuss aller Ansprüche und Vergünstigungen kommen, die eine arbeitgeberseitige Kündigung mit sich gebracht hätte. Dies betrifft etwa eine Abfindung oder sonstige Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes.4 a) Voraussetzungen der Fiktionswirkung
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Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL ist zunächst, dass es zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang kommt. Vor dem Hintergrund des Normwortlautes bedarf es nicht notwendigerweise einer Kündigung. Vielmehr ist auch eine einvernehmliche Beendigung durch Aufhebungsvertrag erfasst.5
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Des Weiteren setzt die Fiktion der arbeitgeberseitigen Beendigung eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen infolge des Betriebsübergangs und zum Nachteil des Arbeitnehmers voraus. Solche Änderungen können beispielsweise Änderungen der kollektiven Arbeitsbedingungen durch Anwendbarkeit anderer Tarifverträge 1 EuGH v. 15.4.1986 – Rs. 237/84 – Kommission/Belgien, Slg. 1986, I-1247; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 78; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 252; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 121 f. 2 BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, NZA 1997, 148 (149); APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 172; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 153; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 305 m.w.N. 3 Vgl. auch EAS/Joussen, B 7200 Rz. 82. 4 Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche bei Betriebsübergang, S. 67; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 81. 5 Vgl. EAS/Joussen, B 7200 Rz. 81; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 256.
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Grau/Hartmann
Schutz vor Kündigung
§ 11
Rz. 150
beim Erwerber, die fehlende Übernahme einer betrieblichen Zusatzversorgungseinrichtung (vgl. Art. 4 Buchst. a BÜ-RL) oder die Verringerung eines umsatzabhängigen Arbeitsentgeltes betreffen.1 Auch eine erhebliche faktische Veränderung der Gegebenheiten, unter denen die Arbeit zu leisten ist, wie z.B. ein Wechsel an einen weit entfernten Arbeitsort aufgrund einer Betriebsverlegung im Zuge des Übergangs, kann darunter fallen.2 Nicht ausreichend sind grundsätzlich bloß mögliche oder absehbare Veränderungen, die sich (noch) nicht in einer nachteiligen Veränderung der Arbeitsbedingungen niedergeschlagen haben. Zudem setzt der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL eine Kausalitätsbeziehung zwischen der Änderung der Arbeitsbedingungen und dem Betriebsübergang voraus. Sieht man die Norm als Komplementärvorschrift zum Kündigungsverbot des Art. 4 Abs. 1 BÜ-RL an, so dürften mittelbare Änderungen, die sich in inhaltlicher oder zeitlicher Hinsicht lediglich als Fernwirkung des Übergangs darstellen, nicht erfasst sein. Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL gilt auch nicht für anlässlich des Übergangs einvernehmlich vereinbarte Änderungen der arbeitsvertraglichen Arbeitsbedingungen. Dem EuGH und der ganz h.M. zufolge kommt es für das Eingreifen von Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL nicht darauf an, ob die Änderung der Arbeitsbedingungen durch den Betriebsübergang rechtmäßig oder aber rechtswidrig erfolgt ist.3 Gerade letzteres ist, lässt man mögliche historische Vorbilder der Regelung im britischen oder französischen Recht einmal außer Betracht,4 an sich keineswegs selbstverständlich, weil Änderungen unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 oder Abs. 3 BÜ-RL unwirksam sind.5 Der Übergang kann eine solche Änderung somit nicht (wirksam) zur Folge haben. Allerdings erscheint es unter Schutzzweckgesichtspunkten geboten, Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL auch auf den Fall anzuwenden, dass der Erwerber entgegen seinen Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 BÜ-RL die übergehenden Arbeitsbedingungen nicht anerkennt und es infolgedessen in tatsächlicher Hinsicht zu einer wesentlichen Verschlechterung der Bedingungen infolge des Übergangs des Arbeitsverhältnisses kommt. Das Wesentlichkeitskriterium des Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL gilt allerdings auch in diesem Fall der Vertragsverletzung durch den Erwerber.6 Dadurch werden die übergehenden Arbeitnehmer nicht schutzlos gestellt, da die Mitgliedstaaten nach Art. 9 BÜ-RL ohnehin verpflichtet sind, ausreichende Möglichkeiten zur gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen aus der Betriebsübergangsrichtlinie zu schaffen.
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Schließlich muss die Änderung der Arbeitsbedingungen eine Wesentlichkeitsschwelle überschreiten. Dieses Merkmal soll ausschließen, dass sich Arbeitnehmer bei einer geringfügigeren Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen von dem Arbeitsverhältnis lösen und gleichzeitig diejenigen (Kompensations-) Ansprüche geltend machen
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1 Vgl. EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-171/94, C-172/94 – Merkx, Slg. 1996, I-1253 – Rz. 38; v. 26.9. 2000 – Rs. C-175/99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755 – Rz. 56; v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 – Delahaye, Slg. I-2004, 10838 – Rz. 32; weitere Beispiele bei EAS/Joussen, B 7200 Rz. 82. 2 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 259; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche bei Betriebsübergang, S. 71; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 83. 3 EuGH v. 26.2.2000 – Rs. C-175/99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755 – Rz. 56; v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 – Delahaye, Slg. 2004, I-10838 – Rz. 32 f.; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 81; Felsner, Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen von Unternehmensübernahmen, S. 275. 4 S. v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 255, 256 ff.; Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 232. 5 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 82. 6 Anders im Ergebnis Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 82 (Gleichstellung mit Arbeitgeberkündigung infolge teleologischer Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 BÜ-RL).
Grau/Hartmann
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631
§ 11
Rz. 151
Betriebsübergang
können, die ihnen im Falle einer Arbeitgeberkündigung zustehen würden.1 Von einer wesentlichen Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers i.S.d. Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL kann grundsätzlich ausgegangen werden, falls dem betroffenen Arbeitnehmer die Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses aufgrund der Umstände des Einzelfalls nicht mehr zugemutet werden kann.2 Das ist gerade bei einer zulässigen Ablösung von Kollektivbedingungen nach Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL nicht ohne weiteres der Fall.3 Auch führt der Umstand, dass der Erwerber wirtschaftlich schwächer ist als der Veräußerer oder anders als dieser (noch) keiner Sozialplanpflicht unterliegt, nicht bereits zu einer wesentlichen Änderung der Arbeitsbedingungen.4 b) Rechtsfolge bei Eingreifen der Fiktion 151
Angesichts der in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestalteten Rechtsfolgen einer arbeitgeberseitigen Kündigung beschränkt sich die in Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL angeordnete Rechtsfolge darauf, dass die Beendigung als durch den Arbeitgeber erfolgt gilt. Welche konkrete Folge sich daraus für den Arbeitnehmer ergibt, lässt sich erst im Verbund mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht sowie den konkreten Umständen beurteilen, die zur Änderung der Arbeitsbedingungen geführt haben.5
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Liegt der Beendigung ein rechtswidriges Verhalten bzw. Vertragsverstoß des Erwerbers zugrunde und hat dieser hierdurch die Eigenkündigung des Arbeitnehmers zur Vermeidung des Übergangs provoziert, so dürfte der Arbeitnehmer im Hinblick auf seine Ansprüche wegen der Beendigung grundsätzlich so zu behandeln sein wie im sonstigen Falle einer rechtswidrigen Arbeitgeberkündigung. Dies kann – je nach mitgliedstaatlichem Recht – die Zubilligung einer Entschädigung oder Schadenersatz wegen Auflösungsverschuldens einschließen. Beruht die Änderung auf einer zulässigen Änderung der Arbeitsbedingungen, so ist die Situation eher mit einer betriebsbedingten Kündigung vergleichbar, da der Erwerber mit der Modifikation der Arbeitsbedingungen ebenso wie im Falle einer unternehmerischen Entscheidung, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes führt, in nicht vorwerfbarer Weise von seiner unternehmerischen Freiheit Gebrauch macht. In einem solchen Fall kommt eine analoge Behandlung zu dem Fall einer arbeitgeberseitigen Kündigung aus betrieblichen Gründen in Betracht, was – wiederum je nach nationalem Recht – beispielsweise einen Anspruch auf Abfindung oder sonstige Entlassungsentschädigung und Fortzahlung der Vergütung bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nach sich ziehen kann.6 Als weitere Folge der arbeitgeberseitigen Beendigungsfiktion ist etwa die Aufrechterhaltung von Ansprüchen auf Sondervergütungen (z.B. trotz der Eigenkündigung Behandlung als „good leaver“ im Rahmen von Bonusregelungen) oder auf Sozialleistungen (z.B. keine Sperrzeit beim Bezug von Arbeitslosengeld) denkbar.7 Angesichts der durch Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL nur teilweise angestrebten Harmonisierung lässt sich der Norm allerdings keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten entnehmen, eine besondere Entschädigung 1 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 257. 2 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 82; Felsner, Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen von Unternehmensübernahmen, S. 275; ähnlich Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche bei Betriebsübergang, S. 71; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 257; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 125 f. 3 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 234. 4 Vgl. auch die vom BAG v. 5.2.1997 – 10 AZR 553/96, NZA 1998, 158 (159 f.) angenommenen Grundsätze zur Zumutbarkeit der Weiterarbeit beim Betriebserwerber. 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 234. 6 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 234. 7 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 84.
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Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens
§ 11
Rz. 156
wegen der fingierten arbeitgeberseitigen Kündigung einzuführen.1 Vielmehr geht es lediglich um eine Gleichstellung der Rechtsfolgen im Hinblick auf die sich ansonsten nach dem nationalen Recht ergebenden Ansprüche. Im deutschen Recht existiert keine mit Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL unmittelbar vergleichbare Regelung. Allerdings hat die Vorschrift aufgrund der Möglichkeit des Arbeitnehmers, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses nach § 613a Abs. 6 BGB unter Verbleib des unveränderten Arbeitsverhältnisses beim Veräußerer zu widersprechen, in Deutschland auch nur einen relativ begrenzten Anwendungsbereich. Denn hier bedarf es ohnehin einer Kündigung durch den Veräußerer, falls dieser nach dem Übergang des Arbeitsplatzes über keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit für den widersprechenden Arbeitnehmer verfügt.
153
Gegen Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL würde es aber verstoßen, wenn der Umstand eines Widerspruches stets per se als ein zum Ausschluss von Sozialplanleistungen führendes Verhalten bewertet würde.2 Insofern geht die h.M. mit Recht davon aus, dass ein solcher Leistungsausschluss unzulässig ist, wenn dem widersprechenden Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erwerber ausnahmsweise unzumutbar ist, weil der Übergang zu einer wesentlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führen würde.3 Damit wird Art. 4 Abs. 2 BÜ-RL entsprochen. Keine unionsrechtlichen Bedenken bestehen vor dem Hintergrund auch gegen die Annahme,4 dass ein Abfindungsanspruch nach Treu und Glauben entfällt, falls der Widerspruch nur erklärt wird, um an Sozialplanleistungen des Veräußerers zu partizipieren.
154
V. Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens Art. 5 BÜ-RL ermöglicht es den Mitgliedstaaten, bestimmte Abweichungen von Bestand- und Inhaltsschutz der Richtlinie und damit eine erhebliche Absenkung des Schutzes zu Lasten der Arbeitnehmer vorzusehen, falls es in einem Insolvenzverfahren zu dem Übergang der betroffenen wirtschaftlichen Einheit kommt.
155
1. Entwicklung und Zweck der Einschränkungsmöglichkeit des Richtlinienschutzes Ursprünglich kannte die Betriebsübergangsrichtlinie keine Ausnahmevorschriften für den Sonderfall eines Betriebsübergangs in der Insolvenz. Erstmals in der Rs. Abels wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, die uneingeschränkte Wahrung der Arbeitnehmerrechte auch bei einem Betriebsübergang im Rahmen eines Konkurs- oder Insolvenzverfahrens zu gewährleisten.5 Hier wurde zu Recht die Gefahr gesehen, dass eine unmodifizierte Anwendung des Arbeitnehmerschutzes, insbesondere der Art. 3 und 4 BÜ-RL, letztlich nachteilige Auswirkungen im Hinblick auf den Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze haben kann, da diese potentielle Erwerber von einem Kauf des Unternehmens bzw. Betriebes zu annehmbaren Bedingungen für die Gläubiger und von einer Fortsetzung der betrieb1 EuGH v. 27.11.2008 – Rs. C-396/07, Slg. 2008 I-8907 – Rz. 22; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 85. 2 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 88. 3 BAG v. 5.2.1997 – 10 AZR 553/96, NZA 1998, 158 (159 f.); v. 22.7.2003 – 1 AZR 575/02, AP § 112 BetrVG Nr. 160, Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, §§ 112, 112a – Rz. 161. 4 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 109 m.w.N. 5 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, 469 – Rz. 8–29.
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Rz. 157
Betriebsübergang
lichen Aktivitäten abhalten könne.1 Infolgedessen können sämtliche Arbeitsplätze verloren gehen, was der beabsichtigten Wirkung der Richtlinie widerspricht.2 157
Diese Bedenken wurden vom EuGH aufgegriffen, der zugunsten der Mitgliedstaaten in ständiger Rechtsprechung davon ausging, dass im Insolvenzverfahren Ausnahmen von dem an sich zwingenden Schutz der Richtlinie vorgesehen werden können.3 Dies begründete der Gerichtshof u.a. damit, dass angesichts der besonderen Vorschriften, die in vielen Mitgliedstaaten für Insolvenzverfahren gelten, eine ausdrückliche Vorschrift über die Anwendung der Richtlinie in Insolvenzfällen aufgenommen worden wäre, wenn der Unionsgesetzgeber diese hier unverändert hätte zur Anwendung bringen wollen.4 Die vom EuGH hierzu entwickelten Grundsätze haben mit der Reform der Betriebsübergangsrichtlinie im Jahr 1998 (zunächst Art. 4a RL 98/50/EG) weitgehend Eingang in die Richtlinie gefunden und sind heute in Art. 5 BÜ-RL kodifiziert. Diese Vorschrift hat dementsprechend zum Ziel, den Übergang sanierungsbedürftiger Unternehmen zu erleichtern sowie den Verlust sämtlicher Arbeitsplätze als Folge einer uneingeschränkten Anwendung der zwingenden Schutzvorschriften des Art. 3 und 4 BÜ-RL zu vermeiden. Diese Zielsetzung wird auch in ErwGr. 7 BÜ-RL angesprochen. 2. Ermächtigung zum Ausschluss des Inhalts- und Bestandsschutzes (Art. 5 Abs. 1 BÜ-RL)
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Gemäß Art. 5 Abs. 1 gelten die Art. 3 und 4 BÜ-RL grundsätzlich nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter Aufsicht einer öffentlichen Stelle bzw. eines behördlich ermächtigten Insolvenzverwalters ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde. Allerdings können die Mitgliedstaaten die Geltung von Art. 3 und 4 BÜ-RL vorsehen oder deren Eingreifen im Insolvenzverfahren in ihrem nationalen Recht abmildern.
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Anders als die frühere Rechtsprechung des EuGH schließt Art. 5 Abs. 1 BÜ-RL lediglich die zwingende Anwendung der Kernbestimmungen des Art. 3 und 4 BÜ-RL aus. Im Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 1 BÜ-RL erfordert die Richtlinie daher weder einen Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber, noch sind die Arbeitnehmer im Hinblick auf den Übergang durch das spezielle Kündigungsverbot gem. Art. 4 BÜ-RL geschützt. Im Übrigen bleiben die restlichen Artikel der Betriebsübergangsrichtlinie von dem Ausnahmetatbestand des Art. 5 Abs. 1 BÜ-RL unberührt. Dies gilt insbesondere für Art. 6 und 7 BÜ-RL, allerdings unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 BÜ-RL.5 1 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, 469 – Rz. 21; s. auch die Begründung des Änderungsvorschlags der Kommission v. 8.9.1994, COM (94), 300 final. 2 Vgl. etwa GA Slynn v. 8.11.1984 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, 469 sowie die Begründung des Änderungsvorschlags der Kommission v 8.9.1994, COM (94), 300 final, Rz. 22. 3 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, I 469 – Rz. 8 ff.; v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 – Wendelboe, Slg. 1985, 457 – Rz. 10 f.; v. 7.2.1985 – Rs. 179/83 – Industriebond, Slg. 1985, 511 – Rz. 7; 7.2.1985 – Rs. 186/83 – Botzen, Slg. 1985, 519 – Rz. 9; v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 – Rz. 21 ff.; v. 7.12.1995 – Rs. C-472/93 – Spano, Slg. 1995, I-4321 – Rz. 24 f.; v. 12.3.1998 – Rs. C-319/94 – Dethier, Slg. 1998, I-1061 – Rz. 21 ff.; v. 12.11.1998 – Rs. C-399/96 – Europièces, Slg. 1998, I-6979 – Rz. 27 ff. 4 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, I-469 – Rz. 17; v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 – Wendelboe, Slg. 1985, I-457 – Rz. 10 f.; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 92. 5 Vgl. Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 244 f.; Bergwitz, DB 1999, 2005 (2007).
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Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens
§ 11
Rz. 163
Im Hinblick auf den Anwendungsbereich der Ausnahmebestimmungen des Art. 5 differenziert die Richtlinie zwischen Verfahren, die zur Liquidation des Veräußerers führen, und sonstigen Sanierungsverfahren, die zur Gesundung und Fortführung des Unternehmens führen sollen. Nur falls das Verfahren nach seiner Zielrichtung zur Liquidation des bisherigen Arbeitgebers führen soll, ist nach Art. 5 Abs. 1 BÜ-RL ein vollständiger Ausschluss des Bestands- und Inhaltsschutzes aus Art. 3 und 4 BÜ-RL zulässig.1 Zudem ist erforderlich, dass das Verfahren der Aufsicht einer öffentlichen Stelle unterliegt und die Entmachtung des Schuldners zur Folge hat.2
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3. Optionale Einschränkungen einzelner Schutzbestimmungen a) Ermächtigung in Art. 5 Abs. 2 BÜ-RL Sieht das nationale Recht die Anwendung der Art. 3 und 4 BÜ-RL im Insolvenzverfahren im Grundsatz vor, können die Mitgliedstaaten gem. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a BÜ-RL den Übergang von fälligen Verbindlichkeiten des Veräußerers aus den Arbeitsverhältnissen auf den Erwerber ausschließen, sofern diese Verbindlichkeiten vor dem Übergang bzw. vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind und ein der Richtlinie 80/987/EWG3 zumindest gleichwertiger Schutz für diese Verbindlichkeiten besteht. Auch Änderungen der Arbeitsbedingungen sind nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b BÜ-RL zugelassen, sofern diese dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen. Auf die Zielrichtung des Insolvenzverfahrens kommt es hierbei nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 BÜ-RL nicht an, so dass diese Einschränkungsmöglichkeit des gewöhnlichen Richtlinienschutzes aus Art. 3 Abs. 1 BÜ-RL auch gilt, falls das Verfahren nicht zur Liquidation des Veräußerers führen soll. Damit wird die ursprüngliche Richtlinienauslegung durch den EuGH modifiziert, der für Sanierungsverfahren ursprünglich von einer uneingeschränkten Anwendung der Richtlinie ausging.4
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Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 BÜ-RL schließen sich im Lichte ihres Normzwecks, den Mitgliedstaaten im Insolvenzfall zum Zweck des Erhalts von Arbeitsplätzen eine flexiblere Handhabung der Richtlinienumsetzung zu ermöglichen, nicht gegenseitig aus, d.h. die Mitgliedstaaten können sowohl über eine gegebenenfalls eingeschränkte Anwendung von Art. 3 und 4 BÜ-RL im Rahmen von insolvenzbedingten Liquidationssachverhalten als auch über eine alternative oder kumulative Nutzung der in Art. 5 Abs. 2 BÜ-RL zugelassenen Einschränkungen von Art. 3 BÜ-RL im Rahmen von sanierenden Insolvenzverfahren entscheiden.5
162
b) Ermächtigung in Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL Mitgliedstaaten, die bereits am 17.7.1998 über nationale Regelungen gem. Art. 5 Abs. 2 Buchst. b BÜ-RL verfügten, können diese Vorschriften beibehalten und auf Unternehmen anwenden, die sich in einer wirtschaftlich prekären Lage befinden. Zu1 Vgl. EAS/Joussen, B 7200 Rz. 93; s. auch EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 – Abels, Slg. 1985, 469 – Rz. 17; v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 – Wendelboe, Slg. 1985, 457; v. 7.2.1985 – Rs. 179/83 – Industriebond, Slg. 1985, 511; v. 7.2.1985 – Rs. C-186/83 – Botzen, Slg. 1985, 519. 2 EuGH v. 25.7.1991 – Rs. C-362/89 – D’Urso, Slg. 1991, I-4105 Rz. 9; EAS/Joussen, B 7200 Rz. 93 m.w.N. 3 Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. Nr. L 283 v. 28.10.1980, S. 23. 4 EAS/Joussen, B 7200 Rz. 96. 5 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 246 f.; wohl auch Franzen, RdA 1999, 361 (367 f.).
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§ 11
Rz. 164
Betriebsübergang
dem muss das Bestehen einer solchen Notlage von einer zuständigen öffentlichen Stelle bescheinigt werden und unter gerichtlicher Aufsicht stehen. 4. Pflicht zu Sanktionen bei Missbrauch von Insolvenzverfahren (Art. 5 Abs. 4 BÜ-RL) 164
Schließlich müssen die Mitgliedstaaten gem. Art. 5 Abs. 4 BÜ-RL gegen eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Insolvenzverfahren vorgehen, die darauf gerichtet ist, die durch die Richtlinie eingeräumten Arbeitnehmerschutzrechte zu umgehen.
VI. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die Rechtsstellung und Funktion der Arbeitnehmervertretungen und ihre Mitglieder 165
Der individualrechtliche Schutz der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang wird durch Art. 6 BÜ-RL ergänzt. Dieser sichert im Grundsatz die Kontinuität der Interessenvertretung der Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang.1 Zudem sieht Art. 6 BÜ-RL vor, dass für die Arbeitnehmervertreter aufgrund ihres Amtes im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang keine Nachteile entstehen dürfen. 1. Schutz der Arbeitnehmervertretung nach Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL
166
Gemäß Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL darf die Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter durch den Betriebsübergang nicht beeinträchtigt werden, solange die übergegangene Einheit im Zuge der Übertragung ihre Selbständigkeit behält. Ist dies nicht der Fall, treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit die vom Übergang betroffenen Arbeitnehmer, die vor dem Übergang vertreten wurden, während des Zeitraums, der für die Neubildung oder Neubenennung der Arbeitnehmervertretung erforderlich ist, im Einklang mit dem Recht oder der Praxis der Mitgliedstaaten weiterhin angemessen vertreten werden.
167
Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL findet keine Anwendung, wenn gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten oder durch Vereinbarung mit den Vertretern der betroffenen Arbeitnehmer die Bedingungen für die Neubestellung der Vertreter der Arbeitnehmer oder die Neubildung der Vertretung der Arbeitnehmer erfüllt sind, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL. a) Begriff der Arbeitnehmervertretung
168
Was unter dem Begriff der Arbeitnehmervertretung zu verstehen ist, lässt sich der Richtlinie nicht unmittelbar entnehmen. Allerdings weist der Richtlinienvorschlag der Kommission aus dem Jahre 1974 darauf hin, dass eine Arbeitnehmervertretung eine Gruppe von Personen ist, die aufgrund Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten oder nach Gemeinschaftsrecht (jetzt: Unionsrecht), aufgrund von Kollektivverträgen oder in sonstiger Weise dazu geeignet sind, die Interessen der Arbeitnehmer im Unternehmen gegenüber dem Arbeitgeber wahrzunehmen.2
169
Zudem verweist Art. 2 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL der Betriebsübergangsrichtlinie bei der Bestimmung des Begriffs „Arbeitnehmervertretung“ auf die Rechtsvorschriften und Praxis der Mitgliedstaaten. Die Konkretisierung des Begriffs bleibt somit den Mit1 Vgl. auch Memorandum der Kommission zu den erworbenen Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, KOM (1994) 85 endg., NZA 1997, 697 (700). 2 Abgedruckt in: RdA 1975, 124 (125).
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Arbeitnehmervertretungen
§ 11
Rz. 171
gliedstaaten überlassen.1 Arbeitnehmervertreter, die Mitglieder eines Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des Unternehmens sind, sind hier nicht erfasst.2 Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL betrifft somit lediglich Vertretungsorgane auf der Ebene der betrieblichen Mitbestimmung. Anders als in der ursprünglichen Fassung der Richtlinie3 nimmt Art. 2 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL die Arbeitnehmervertretungen im Bereich der Unternehmensmitbestimmung nicht mehr ausdrücklich aus. Damit wird aber lediglich eine formale Angleichung an Art. 1 Buchst. b BÜ-RL der Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG bezweckt und keine materielle Erweiterung des Bedeutungsgehalts von Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL.4 Ob tarifvertraglich errichtete Vertretungsorgane Arbeitnehmervertretungen i.S.d. Art. 6 BÜ-RL sind, ist umstritten. Nach einer Auffassung werden tarifvertraglich begründete Arbeitnehmervertretungen von der Richtlinie nicht geschützt. Als Argument hierfür wird angeführt, dass Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Sinne der Richtlinie lediglich solche Regelungen umfassen, die von staatlicher Seite erlassen oder anderweitig mit staatlicher Autorität versehen sind.5 Zudem gehe aus der Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der auf tarifvertragliche Arbeitnehmervertretungen im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL ausdrücklich Bezug nimmt, hervor, dass dem Unionsgesetzgeber bereits bei Erlass der Betriebsübergangsrichtlinie die Existenz tarifvertraglich begründeter Arbeitnehmervertretungen bekannt war.6 Weiterhin sei der Bestand solcher Arbeitnehmervertretungen bereits aufgrund der Pflicht des Erwerbers zur Aufrechterhaltung von Kollektivregelungen gem. Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL gewährleistet, so dass eine weitere über Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL begründete Bestandsschutzgarantie entbehrlich sei.7
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Allerdings ist die Ausklammerung tarifvertraglich errichteter Arbeitnehmervertretungen aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL, der nicht zwischen gesetzlich und kollektivvertraglich begründeten Arbeitnehmervertretungen differenziert, nicht überzeugend.8 Auch der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, der auch aufgrund einer Vereinbarung errichtete Vertretungsorgane als Arbeitnehmervertretung i.S.d. Art. 6 BÜ-RL explizit erfasst, bestätigt diesen Ansatzpunkt.9 Eine Einschränkung des Art. 6 BÜ-RL auf gesetzlich begründete Arbeitnehmervertretungen hat der Unionsgesetzgeber trotz mehrmaliger Novellierung der Betriebsübergangsrichtlinie 1998 und 2001 nicht vorgenommen. Zudem führt die andere Ansicht zu einer Schutzlücke, da Art. 3 Abs. 3 BÜ-RL für Kollektivverhandlungen über Vertretungsstrukturen mangels inhaltlicher Regelungen für die Arbeitsverhältnisse nicht gilt.
171
1 S. die Begründung zu Art. 7 des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125); vgl. EAS/Oetker/ Schubert, B 8300 Rz. 446 f. 2 Begründung des Änderungsvorschlags der Kommission vom 8.9.1994, COM (94) 300 final, Rz. 33; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 161. 3 Nach Art. 2 Buchst. c RL 77/187/EWG waren die Vertreter der Arbeitnehmer nach den Vorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten zu bestimmen, mit Ausnahme der Mitglieder der Verwaltung-, Leitungs- oder Aufsichtsorgane von Gesellschaften, die diesen Organen in bestimmten Mitgliedstaaten als Arbeitnehmervertreter angehören. 4 Vgl. v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 117; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 88 f.; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 447, 462; s. auch die Begründung des Änderungsvorschlags der Kommission v. 8.9. 1994, COM (1994), 300 final, Rz. 33. 5 Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 161 m.w.N. 6 S. die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses ABl. C 255 v. 7.11.1975, S. 29. 7 Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 162. 8 Vgl. EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 448. 9 Ebenso EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 448.
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§ 11 172
Rz. 172
Betriebsübergang
Fraglich ist, ob ein Wirtschaftsausschuss als Organ der Arbeitnehmervertretung i.S.d. Betriebsübergangsrichtlinie gilt.1 In dieser Hinsicht ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL wenig ergiebig, da er nur auf die Rechtsvorschriften und Praxis der Mitgliedstaaten verweist. In ihrer Funktion sind die Arbeitnehmervertreter zur Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen gegenüber dem Arbeitgeber verpflichtet.2 Der Wirtschaftsausschuss hingegen ist lediglich eine Koordinierungs- und Schaltstelle zwischen dem Unternehmer und dem Betriebsrat als eigentlichem Interessenvertreter der Arbeitnehmer.3 Dem Wirtschaftsausschuss obliegen somit die Beratung wirtschaftlicher Angelegenheiten mit dem Unternehmer, Unterrichtung und Unterstützung des Betriebsrats und nicht die unmittelbare Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen. Er ist lediglich ein Hilfsorgan des Betriebsrats und dürfte damit von Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL nicht erfasst sein.4 b) Erhalt der Selbständigkeit der übertragenen Einheit
173
Voraussetzung für die Kontinuität der Arbeitnehmervertretung ist, dass das Unternehmen, der Betrieb oder der Unternehmens- bzw. der Betriebsteil seine Selbständigkeit behält. Nach der Neufassung der Richtlinie beschränkt sich der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 BÜ-RL nicht mehr auf den Übergang des Betriebes als Ganzes.5 Auch Betriebsteile werden vom Schutz der Kontinuität der Arbeitnehmervertretung im Zuge des Betriebsübergangs erfasst, wenn diese bereits vor Betriebsübergang über eine verselbständigte Organisation und Leitung verfügten.6
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Die Selbständigkeit der übertragenen Einheit bleibt nach ihrem Übergang dann aufrechterhalten, wenn die übertragene Einheit selbständig funktionieren kann und nicht in einer größeren und komplexeren funktionellen Einheit aufgeht.7 Bei Eingliederung in einen anderen Betrieb oder bei Verschmelzung verliert die übertragene Einheit ihre Selbständigkeit.8
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Im deutschen Betriebsverfassungsrecht bleibt nach einem Betriebsübergang der Betriebsrat als Organ bestehen, wenn der Betrieb seine Identität weiterhin behält.9 Mit dem unionsrechtlichen Begriff der Selbständigkeit übereinstimmend ist die Wahrung der Identität im Sinne des deutschen Betriebsverfassungsrechts dann gegeben, wenn der Betrieb oder der verselbständigte Betriebsteil geschlossen den Inhaber wechselt und nach Betriebsübergang seine Organisationsstruktur in der bis-
1 Ablehnend Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 95; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 179 ff.; a.A. Schreiber, RdA 1982, 137 (145). 2 Vgl. Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1075, 124 (125). 3 Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 179. 4 BAG v. 18.11.1980 – 1 ABR 31/78, AP § 108 BetrVG 1972 Nr. 2; v. 15.3.2006 – 7 ABR 24/05, AP § 118 BetrVG 1972 Rz. 79. 5 Zur alten Rechtslage s. v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 118. 6 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 449. 7 Begründung des Änderungsvorschlags der Kommission v. 8.9.1994, COM (1994), 300 final, Rz. 37; Memorandum der Kommission zu den erworbenen Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, KOM (1994), 85 endg., NZA 1997, 697 (700). 8 Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 88; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 161; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 450. 9 Vgl. v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 285; Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, § 1 Rz. 138.
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Grau/Hartmann
Arbeitnehmervertretungen
§ 11
Rz. 179
herigen Form nicht verliert.1 Daran fehlt es, wenn der Betrieb in einen beim Erwerber bereits bestehenden Betrieb eingegliedert oder mit einem solchen zu einer neuen organisatorischen Einheit verschmolzen wird. Dies führt zum Erlöschen der Ämter der bisherigen Betriebsratsmitglieder, wobei dann gegebenenfalls ein Übergangs- und Restmandat zum Tragen kommt (§§ 21a, 21b BetrVG).2 c) Aufrechterhaltung von Rechtsstellung und Funktion der Arbeitnehmervertreter Rechtsfolge des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL ist die Sicherung der Rechtsstellung und Funktion der Arbeitnehmervertreter oder der Vertretung im Zuge des Betriebsübergangs. Da die Richtlinie lediglich eine teilweise Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften bezweckt, soll sich der Umfang des Funktionsschutzes des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL grundsätzlich nach den nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften richten.3
176
Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 unterliegt den Einschränkungen aus Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 und 3 BÜ-RL. Der Grundsatz der Kontinuität der Vertretungsfunktion ist danach unanwendbar, wenn nach dem Recht oder der Praxis der Mitgliedstaaten die Bedingungen für die Neubestellung oder Neubildung der Arbeitnehmervertreter erfüllt sind, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL. Das kommt etwa dann vor, wenn sich die Arbeitnehmerzahl im Zuge des Betriebsübergangs erhöht, z.B. durch Aufnahme von Arbeitnehmern des neuen Betriebsinhabers. Allerdings darf es sich bei den nationalen Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL zur Neubestellung und Neubildung der Arbeitnehmervertretung nicht um solche handeln, die einen Betriebsübergang generell und automatisch mit der Rechtsfolge der Auflösung und Neubestellung der Arbeitnehmervertretung verbinden.4
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Der Funktionsschutz des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 findet eine weitere Einschränkung in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 BÜ-RL. Danach greift der Bestandschutz für die Arbeitnehmervertretung im Umkehrschluss dann nicht ein, wenn der Veräußerungsvorgang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens durchgeführt wird.5 Die Mitgliedstaaten sind allerdings verpflichtet, in Insolvenzfällen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, die eine angemessene Vertretung bis zur Neuwahl oder Neubenennung von Arbeitnehmervertretern sicherstellen.
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d) Gewährleistung einer Vertretung bei Verlust der Selbständigkeit der übertragenen Einheit (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 4 BÜ-RL) Mit der Neufassung der Betriebsübergangsrichtlinie durch die RL 98/50/EG wurde in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 4 BÜ-RL ein Übergangs- oder Restmandat eingefügt. Danach haben die Mitgliedstaaten bei Verlust der Selbständigkeit der übertragenen Einheit Maßnahmen zu treffen, die ein vertretungsloses Zwischenstadium verhindern. Der Verlust der Selbständigkeit des übergehenden Betriebs- oder Betriebsteils darf nicht ein Entfallen des betriebsverfassungsrechtlichen Schutzes der vom Veräußerungsvorgang betroffenen Arbeitnehmer zur Folge haben,6 soweit es um den Zeitraum geht, der für 1 Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, § 1 Rz. 140 ff.; Richardi/Thüsing, BetrVG, 14. Aufl. 2014, § 21 Rz. 28; Löwisch, BB 1990, 1698; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 327. 2 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 457. 3 S. die Begründung zu Art. 7 des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125); EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 448. 4 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 118 f.; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 452. 5 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 453; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 97. 6 Krause, NZA 1998, 1201 (1203).
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179
§ 11
Rz. 180
Betriebsübergang
die Neubildung oder Neubestellung der Arbeitnehmervertretung nach dem Recht oder der Praxis der Mitgliedstaaten erforderlich ist. Eine vorläufige Fortsetzung der bisherigen Arbeitnehmervertretung im Betrieb ist nicht erforderlich, sondern lediglich eine angemessene Vertretung soll gewährleistet werden. 180
Art. 6 Abs. 1 UAbs. 4 BÜ-RL ordnet die Aufrechterhaltung einer angemessenen Übergangsvertretung lediglich für den Fall an, dass die übertragene Einheit ihre Selbständigkeit nicht behält. Bleibt die Selbständigkeit des übergegangenen Betriebs oder Betriebsteils hingegen erhalten und ordnet das nationale Recht die Neubildung der Arbeitnehmervertretung anstatt des Grundsatzes der Mandatsfortführung i.S.d. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL an, so stellt sich die Frage, ob diese Vorschrift eine ausreichende Repräsentierung der Arbeitnehmer bis zur Konstituierung dieser neuen Vertretung nach der Richtlinie sichern kann.1 Zwar ist der Wortlaut nicht erfüllt. Zur Vermeidung einer Schutzlücke ist Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL aber analog anwendbar.
181
Art. 6 Abs. 1 UAbs. 4 BÜ-RL findet seine Umsetzung in § 21a BetrVG, der ein Übergangsmandat des Betriebsrats bei der Spaltung eines Betriebes oder der Zusammenfassung von Betrieben oder Betriebsteilen vorsieht. Die Vorschrift gilt auch im Falle von § 613a BGB, wenn es zu einem Betriebsteilübergang und damit verbunden zu der Spaltung des bisherigen Betriebes kommt.
182
Bei einem (privatisierenden) Betriebsübergang gibt das deutsche Recht kein Übergangsmandat vor, da es in den meisten Personalvertretungsgesetzen an eine dem § 21a BetrVG entsprechende Regelung fehlt. Ob § 21a BetrVG in diesem Fall analog anwendbar ist, ist umstritten.2 Eine direkte Anwendung der Richtlinie auf privatisierende Betriebsübergänge scheidet jedenfalls aus, da eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien unter Privaten unzulässig ist.3 2. Nachwirkender Individualschutz der Mandatsträger (Art. 6 Abs. 2 BÜ-RL)
183
Erlischt das Mandat der Vertreter der vom Übergang betroffenen Arbeitnehmer übergangsbedingt, also wenn die übergehende Einheit ihre Selbständigkeit verliert oder bei Insolvenz, ordnet Art. 6 Abs. 2 BÜ-RL für die Arbeitnehmervertreter die Weitergeltung der nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten vorgesehenen Schutzmaßnahmen an.4 Darunter kann u.a. der nachwirkende Kündigungsschutz für ehemalige Mitglieder der Arbeitnehmervertretung fallen oder nationale Schutzbestimmungen über einen Entgeltschutz.5 Durch den nachwirkenden Schutz werden die Arbeitnehmervertreter vor Benachteiligungen durch den Arbeitgeber wegen ihrer Stellung nicht nur während ihrer Amtszeit, sondern auch noch darüber hinaus bis zum Ablauf eines angemessenen Zeitraumes nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht bewahrt. Die Betriebsübergangsrichtlinie sieht somit keinen eigenen Schutzmechanismus vor, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten zum nachwirkenden Schutz zugunsten der Mandatsträger.6 Der Sinn und Zweck des Art. 6 1 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 347. 2 Ablehnend Besgen/Langner, NZA 2003, 1239 (1240); Blanke, ZfPR 2001, 242; Löwisch/ Schmidt-Kessel, BB 2001, 2162. 3 EuGH v. 26.2.1985 – Marschall – Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 – Rz. 48; v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 – Rz. 108 f. 4 Vgl. EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 455; Blainpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rz. 473; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 91. 5 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 119. 6 Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 99.
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Information und Konsultation
§ 11
Rz. 187
Abs. 2 BÜ-RL liegt (indirekt) in der Absicherung der betrieblichen Interessenvertretung.1 Art. 6 Abs. 2 BÜ-RL lässt sich nicht dahingehend interpretieren, dass Arbeitnehmervertreter, deren Mandat erlischt, den gleichen Schutz genießen sollen wie amtierende Arbeitnehmervertreter.2 Vielmehr sollen Arbeitnehmervertreter mit aufgrund des Betriebsübergangs beendetem Mandat den gleichen Schutz genießen, der nach dem Recht der Mitgliedstaaten allgemein für ehemalige Arbeitnehmervertreter gilt.3
184
VII. Information und Konsultation Art. 7 BÜ-RL regelt die Pflichten des Betriebsveräußerers und -erwerbers zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter bei einem Betriebsübergang. Hierbei wird der kollektive Schutz als Ergänzung zum individuellen Schutz der Richtlinie gesehen und soll diejenigen nachteiligen Auswirkungen ausgleichen, die durch das System des individuellen Rechtsschutzes nicht hinreichend berücksichtigt werden.4
185
1. Überblick und Struktur der Informations- und Konsultationsvorschriften Art. 7 BÜ-RL folgt in seiner Struktur einem Regel-Ausnahme-Schema: Die Abs. 1 und 2 regeln das sog. Grundmodell, während Abs. 3 unter bestimmten Voraussetzungen eine Abweichung mit eingeschränkten Anforderungen durch die Mitgliedstaaten gestattet (sog. Ausnahmemodell).5 In beiden Umsetzungsvarianten handelt es sich um von den Mitgliedstaaten zu gewährleistende Mindestbedingungen, d.h. weitergehende Informations- und Konsultationserfordernisse nach dem jeweiligen Recht oder der Praxis der Mitgliedstaaten bleiben möglich (vgl. auch Art. 8 BÜ-RL).
186
Im Grundmodell des Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 BÜ-RL sind sowohl Veräußerer als auch Erwerber zur Information und Konsultation der Vertreter ihrer jeweiligen von einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer über den Zeitpunkt bzw. den geplanten Zeitpunkt des Übergangs, den Grund für den Übergang, die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Arbeitnehmer und die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen verpflichtet. Der Veräußerer muss den Vertretern seiner Arbeitnehmer diese Information vor dem Vollzug des Übergangs übermitteln, während der Erwerber verpflichtet ist, den Vertretern seiner Arbeitnehmer diese Informationen rechtzeitig zu erteilen, auf jeden Fall aber bevor diese Arbeitnehmer von dem Übergang hinsichtlich ihrer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen unmittelbar betroffen werden, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 und 3 BÜ-RL. Ziehen Veräußerer bzw. Erwerber Maßnahmen hinsichtlich ihrer Arbeitnehmer in Betracht, so müssen die Vertreter ihrer Arbeitnehmer rechtzeitig zu diesen Maßnahmen konsultiert werden, um eine Übereinkunft anzustreben, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 2 BÜ-RL.
187
1 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 341. 2 Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 163. 3 Ebenso v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 119; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 162 f.; Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 39; Wenking, Der Betriebsübergang im europäischen und deutschen Recht, S. 35. 4 S. die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Kommissionsvorschlag, ABl. C 255 v. 7.11.1975, S. 27; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 25; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 175; Wenking, Betriebsübergang im europäischen Arbeitsrecht, S. 35. 5 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 466; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 24 Rz. 87; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1131); Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 28 ff.; Franzen, RdA 2002, 258 (269 f.); Oetker, NZA 1998, 1193 (1195).
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§ 11
Rz. 188
Betriebsübergang
188
Im Ausnahmemodell des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL können die Mitgliedstaaten die Verpflichtungen gemäß den Abs. 1 und 2 auf Fälle beschränken, in denen der vollzogene Übergang eine Betriebsänderung hervorruft, die wesentliche Nachteile für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer zur Folge haben kann. Dies gilt allerdings nur sofern die nationalen Bestimmungen vorsehen, dass die Arbeitnehmervertreter eine Schiedsstelle anrufen können, um eine Entscheidung über die hinsichtlich der Arbeitnehmer zu treffenden Maßnahmen zu erhalten.
189
Eine weitere Einschränkungsmöglichkeit sieht Art. 7 Abs. 5 BÜ-RL vor. Die Mitgliedstaaten können die Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 1 bis 3 BÜ-RL auf Unternehmen oder Betriebe beschränken, die hinsichtlich der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer die Voraussetzungen für die Wahl oder Bestellung eines Kollegiums als Arbeitnehmervertretung erfüllen. Hiernach sind die Mitgliedstaaten befugt, Schwellenwerte für die Errichtung einer mehrköpfigen Arbeitnehmervertretung zu schaffen und Unternehmen oder Betriebe von der Informations- und Konsultationspflicht auszunehmen, die aufgrund ihrer geringen Beschäftigtenzahl nur über eine einzige Person als Arbeitnehmervertreter verfügen.
190
Neben dem Grund- und Ausnahmemodell kennt die Betriebsübergangsrichtlinie eine subsidiäre individuelle Information der Arbeitnehmer. Nach Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL sehen die Mitgliedstaaten vor, dass die Arbeitnehmer bei fehlender Möglichkeit einer Vertretung im Betrieb oder Unternehmen vor dem Betriebsübergang informiert werden, wobei der Informationskatalog nach dem Richtlinienwortlaut dem des Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL entspricht.
191
Schließlich gelten die in Art. 7 Abs. 1 bis 3 und Abs. 5 bis 7 BÜ-RL genannten Verpflichtungen gem. Art. 7 Abs. 4 BÜ-RL unabhängig davon, ob die zum Übergang führende Entscheidung vom Arbeitgeber oder einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wird.
192
Da ohne Arbeitnehmervertretung der Sinn und Zweck des Art. 7 BÜ-RL leerlaufen würde, ist der Betriebsübergangsrichtlinie nach der Rechtsprechung des EuGH zugleich zu entnehmen, dass die Mitgliedstaaten Regelungen zu schaffen haben, wonach die Einrichtung einer betrieblichen Interessenvertretung der Arbeitnehmer möglich ist.1 2. Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter im sog. Grundmodell (Art. 7 Abs. 1 und 2 BÜ-RL) a) Informationspflicht des Veräußerers und Erwerbers
193
Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL sieht eine Information der Arbeitnehmervertreter sowohl des Veräußerers als auch des Erwerbers bei einem bevorstehenden Übergang einer wirtschaftlichen Einheit vor. Adressaten der Informationspflicht sind damit die beiden Betriebsübertragungsparteien jeweils im Hinblick auf die bei ihnen bestehende und zuständige Vertretung. Der Begriff der Arbeitnehmervertreter bestimmt sich hierbei nach nationalem Recht, Art. 2 Abs. 1 Buchst. c BÜ-RL.
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Im Hinblick auf den Zeitpunkt der Information unterscheidet die Richtlinie in Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 und 2 BÜ-RL zwischen den Anforderungen für den Veräußerer einerseits und für Erwerber andererseits. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Informationspflicht zum Tragen kommen soll, wenn faktische Auswirkungen des Über1 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. I-1994, 2435 – Rz. 26; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 486; Oetker, NZA 1998, 1193 (1196).
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Information und Konsultation
§ 11
Rz. 196
gangs auf die Lage der Arbeitnehmer absehbar sind. Auf den Zeitpunkt des Abschlusses des dem Übergang zugrunde liegenden Rechtsgeschäftes kommt es dabei nicht zwingend an.1 Dieser ist aber insofern von Bedeutung, als etwaige sich aus den geplanten Vereinbarungen zwischen Veräußerer und Erwerber ergebende Maßnahmen Gegenstand der Konsultation nach Art. 7 Abs. 2 BÜ-RL sein können. Daher kann die Unterrichtungspflicht bereits im Vorfeld des Vertragsabschlusses greifen, sobald sich etwaige Planungen des Veräußerers oder Erwerbers mit Auswirkungen auf die Arbeitnehmer hinreichend konkretisiert haben. Der Veräußerer muss daher den bei ihm bestehenden Arbeitnehmervertretern die erforderlichen Informationen vor der endgültigen Entscheidung über die Betriebsübertragung übermitteln bzw. nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 BÜ-RL spätestens vor dem Vollzug des Übergangs.2 Der Erwerber hat die Informationsverpflichtung aus Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL umzusetzen, bevor die Arbeitnehmer von dem Übergang hinsichtlich ihrer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen unmittelbar betroffen werden (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 und 3 BÜ-RL). Diese Unterscheidung erklärt sich dadurch, dass etwaige Auswirkungen der Betriebsübertragung auf die Stammbelegschaft des Erwerbers bzw. die von ihm zu ergreifenden personellen oder organisatorischen (Integrations-) Maßnahmen oft erst nach dem Vollzug des Übergangs konkret absehbar sind.3 Zudem ist es keineswegs zwangsläufig, dass es tatsächlich zu derartigen Umstrukturierungsmaßnahmen beim Veräußerer mit Auswirkungen auf dessen Belegschaft kommt. Gegenstand der Informationspflicht sind gem. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 BÜ-RL die folgenden Angaben:
195
– der Zeitpunkt bzw. der geplante Zeitpunkt des Übergangs, – der Grund für den Übergang, – die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer – sowie die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen. Eine Kasuistik des EuGH zur Präzisierung dieser zum Teil relativ vagen Informationstatbestände existiert bislang nicht. Letztlich beurteilt sich diese nach den im Einzelfall gegebenen konkreten Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und die jeweils geplanten Maßnahmen unter Berücksichtigung des Zwecks der Information, welche vor allem der Ermöglichung der Konsultation über die geplanten Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf die Arbeitnehmer dient. Im Hinblick auf die Angabe des Grundes für den Übergang zeigt die englische („reason for the transfer“) bzw. französische Fassung („motif du transfert“) der Richtlinie, dass es hier nicht um die zugrunde liegende rechtsgeschäftliche Grundlage, sondern um die maßgeblichen unternehmerischen Gründe für den Übergang geht.4 Die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs gehen ohnehin ineinander über; im Regelfall wird der Schwerpunkt bei der Information über die rechtlichen Folgen liegen, aus denen sich dann die anderen Folgen ableiten. Unter den Begriff der in Aussicht genommenen Maßnahmen wird jede von dem Veräußerer oder Erwerber herbeigeführte bzw. entsprechend ge1 Anders der damalige Vorschlag des Wirtschafts- und Sozialausschusses im Rahmen der Richtlinienentstehung, ABl. C 255 v. 7.11.1975, S. 30. 2 Vgl. v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 119 f.; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 175. 3 Vgl. Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 175. 4 S. im Zusammenhang mit § 613a Abs. 5 BGB BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, NZA 2010, 89 (92); v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268; v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 87; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 324; Hohenstatt/Grau, NZA 2006, 1273.
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§ 11
Rz. 197
Betriebsübergang
plante erhebliche Änderung der rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Situation der betroffenen Arbeitnehmer gefasst, so dass hier von einer weiten Auslegung auszugehen ist.1 b) Konsultation hinsichtlich in Betracht gezogener Maßnahmen 197
Art. 7 Abs. 2 BÜ-RL normiert eine zusätzliche Konsultationspflicht, die zur Informationspflicht hinzutreten kann. Danach sind die Arbeitnehmervertreter sowohl vom Veräußerer als auch vom Erwerber mit dem Ziel einer Übereinkunft über die hinsichtlich ihrer jeweiligen Arbeitnehmer zu treffenden Maßnahmen zu konsultieren. Die Konsultationspflicht greift nach dem Richtlinienwortlaut ein, falls Veräußerer und Erwerber Maßnahmen hinsichtlich ihrer Arbeitnehmer in Betracht ziehen. Im Hinblick auf den Arbeitnehmerschutz als Zielsetzung der Richtlinie ist der Begriff der Maßnahme in einem weiten Sinne zu verstehen und umfasst, wie schon oben angedeutet, alle vom Veräußerer oder Erwerber im Zuge des Übergangs bewusst oder unbewusst herbeigeführten Änderungen der wirtschaftlichen, rechtlichen oder sozialen Lage der Arbeitnehmer im Betrieb oder Unternehmen, die sich nicht unerheblich zum Nachteil der Arbeitnehmer auswirken können.2 Das In-Aussicht-Nehmen setzt eine gewisse Planungsreife und Entschlossenheit des Arbeitgebers voraus.3
198
Gegenstand der Beratung sollen bereits in Betracht gezogene Maßnahmen sein, was zu dem Schluss führen könnte, dass das Konsultationsverfahren bereits zu einem früheren Zeitpunkt einzusetzen hat als die Information nach Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL.
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Nach h.M. bestehen aber keine Unterschiede zwischen dem Zeitpunkt der Information und der Konsultation nach Art. 7 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BÜ-RL,4 was unter dem Gesichtspunkt des Zweckzusammenhangs der Information und Konsultation überzeugend erscheint. Zudem findet sich beispielsweise in der englischen Fassung der Richtlinie der semantische Unterschied zwischen „in Aussicht genommenen“ und in Betracht gezogenen Maßnahmen nicht wieder, da dort in Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 BÜ-RL einheitlich von „envisaged measures“ gesprochen wird. Der EuGH tendiert allerdings in anderen Zusammenhängen zur Annahme einer sehr frühzeitigen Pflicht zur Einleitung der Konsultation mit den Arbeitnehmervertretern.5 Im Gegensatz zu Art. 7 Abs. 2 BÜ-RL sah Art. 8 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs zur Betriebsübergangsrichtlinie aus dem Jahr 1974 noch vor, dass das Konsultationsverfahren dann eingeleitet werden soll, wenn nach der subjektiven Einschätzung der Arbeitnehmervertreter der Eindruck entstand, dass der bevorstehende Übergang die Interessen der Arbeitnehmer nachteilig berührt.6 1 Vgl. zum (weiten) Maßnahmebegriff EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 170; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 12; Franzen, RdA 2002, 258 (265); Oetker, NZA 1998, 1193 (1194). 2 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 170; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 121; Nowak, EWG-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (sog. VredelingRichtlinie) und ihr Verhältnis zum Arbeitsrecht der BRD, 1985, S. 121; Wenking, Der Betriebsübergang im europäischen und deutschen Arbeitsrecht, S. 35; Ziemons, ZIP 1995, 1805 (1807). 3 Vgl. Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 188 f. m.w.N. (Anlehnung an die zu § 111 Satz 1 BetrVG entwickelten Grundsätze). 4 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 478; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 175 f.; Gaul, NZA 1997, 1022 (1026). 5 Vgl. im Kontext der Massenentlassungsrichtlinie EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-230; v. 10.9.2009 – Rs. C-44/08 – Keskusliito, Slg. 2009, I-8188; dazu Grau/Sittard, BB 2011, 1845. 6 Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (127); dazu v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 121.
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Information und Konsultation
§ 11
Rz. 201
Das Konsultationsverfahren zielt entsprechend dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 BÜ-RL auf das Zustandekommen einer Übereinkunft zwischen dem Veräußerer bzw. Erwerber und den jeweiligen Arbeitnehmervertretern hinsichtlich der in Betracht gezogenen Maßnahmen.1 Dies erfordert von beiden Seiten zumindest die Aufnahme eines Dialogs mit dem ernsthaften Willen zur Einigung. Die anzustrebende Übereinkunft ist eine förmliche, rechtlich bindende Vereinbarung, keine bloße Absichtserklärung.2 Art. 7 Abs. 2 BÜ-RL sieht für den Fall der Nichteinigung im Konsultationsverfahren allerdings keine Möglichkeit der Anrufung einer Schiedsstelle vor. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 1974 ging deutlich weiter, da Veräußerer und Erwerber hiernach ihren jeweiligen Arbeitnehmervertretern vor Vollzug des beabsichtigten Betriebsübergangs die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und die für sie geplanten Maßnahmen ausführlich zu erläutern und ihnen für eine anschließende Aussprache sowie auf Antrag für Verhandlungen zur Verfügung zu stehen hatten. Kam innerhalb von zwei Monaten keine Einigung zustande, so sah Art. 8 des Kommissionsvorschlags die Einleitung eines Schiedsverfahren zum Herbeiführen einer verbindlichen Einigung vor.3 Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Praxis der Mitgliedstaaten zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung wurde dieser Vorschlag jedoch wieder fallen gelassen und ist nicht in die Richtlinie übernommen worden.4 Die aktuelle Fassung des Art. 7 Abs. 2 BÜ-RL sieht dementsprechend kein Eskalationsverfahren zur Herbeiführung einer Übereinkunft vor. Ebenfalls lässt sich aus der Betriebsübergangsrichtlinie kein Zwang zum Abschluss einer Übereinkunft zwischen Veräußerer bzw. Erwerber und den Arbeitnehmervertretern herleiten.5 Vielmehr bleibt es den Parteien nach der Richtlinie überlassen, ob sie ein nach nationalem Recht gegebenenfalls vorgesehenes Schiedsverfahren durchführen oder nicht.6
200
3. Ermächtigung zu Einschränkungen der Informations- und Konsultationspflicht a) Das Ausnahmemodell des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL Eine Einschränkung der Information- und Konsultationspflichten sieht das Ausnahmemodell des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL vor. Die Mitgliedstaaten, nach deren Rechtsund Verwaltungsvorschriften die Arbeitnehmervertreter eine Schiedsstelle anrufen können, um eine Entscheidung über hinsichtlich der Arbeitnehmer zu treffende Maßnahmen zu erhalten, können die Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter auf den Fall beschränken, in dem der vollzogene Übergang eine Betriebsänderung hervorruft, die wesentliche Nachteile für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer zur Folge haben kann. Die in Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL vorgesehene Ausnahmeermächtigung gilt lediglich in den Fällen, in denen die Arbeitnehmervertreter nach dem mitgliedstaatlichen Recht eine Schiedsstelle anrufen können, um eine Entscheidung über die hinsichtlich der Arbeitnehmer zu treffenden Maßnahmen zu erhalten. Der Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 („um eine Übereinkunft anzustreben“) und in Abs. 3 1 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 478; Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 97; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 176. 2 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 478; Ziemons, ZIP 1995, 1805 (1806). 3 Begründung des Richtlinienvorschlags, RdA 1975, 124 (125 f.). 4 S. die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABl. C 255 v. 7.11.1975, S. 25 ff.; ausführlich dazu Colneric, FS Steindorff, 1129 (1131). 5 EuGH v. 12.2.1985 – Rs. 284/83 – Dansk Metalarbejderforbund, Slg. 1985, 553; EAS/Oetker/ Schubert, B 8300 Rz. 479; Gaul, NZA 1997, 1022 (1026). 6 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 479; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1131).
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§ 11
Rz. 202
Betriebsübergang
(„um eine Entscheidung … zu erhalten“) sowie die Systematik des Art. 7 BÜ-RL deuten auf die Erzwingbarkeit des Schiedsverfahrens hin.1 Ein erzwingbares Schiedsverfahren stellt den Ausgleich dafür dar, dass der Tatbestand, der zur Information und Konsultation verpflichtet, gegenüber Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL auf Betriebsänderungen eingeschränkt wird.2 202
Sieht das nationale Recht ein erzwingbares Schiedsverfahren vor, darf die Pflicht zur Information und Konsultation auf Fälle beschränkt werden, in denen „der vollzogene Übergang eine Betriebsänderung hervorruft, die wesentliche Nachteile für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer zur Folge haben kann“. Neben der Möglichkeit der Anrufung einer Schiedsstelle im nationalen Recht setzt der Ausnahmetatbestand des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL auch eine Betriebsänderung infolge des Betriebsübergangs voraus. Welche Vorgänge im Einzelnen als Betriebsänderung zu sehen sind, ist grundsätzlich nach mitgliedstaatlichem Recht zu bestimmen.3
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Gegenstand der Information und Konsultation bei einem erzwingbaren Schiedsstellenverfahren im jeweiligen Mitgliedstaat sind nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 BÜ-RL mindestens „die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen“ und nicht der Grund und die Folgen des Übergangs.4
204
Art. 7 BÜ-RL ist in Deutschland in der Form des Ausnahmemodells des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL umgesetzt. Eine grundlegende Änderung der deutschen Rechtsvorschriften zu Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter bei Betriebsänderungen bei Inkrafttreten der Richtlinie war nicht notwendig, zumal Art. 7 BÜ-RL von den Vertretern der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Rat durchgesetzt wurde, da man die bereits bestehenden Unterrichtungs- und Beratungsvorschriften mit dem Betriebsrat bei Betriebsänderungen nicht ändern, sondern an das bereits vorhandene Gesetzesrecht und Rechtsprechung anknüpfen wollte.5 Die Entstehungsgeschichte der Richtlinie erklärt insofern auch die Ähnlichkeit des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL mit § 111 BetrVG.
205
Ob der deutsche Gesetzgeber das Ausnahmemodell lückenlos und damit vollständig richtlinienkonform umgesetzt hat, ist seit langem umstritten.6 Die äußerst facettenreiche Diskussion in allen Einzelheiten aufzuarbeiten ist hier nicht der Platz, so dass im Folgenden nur auf einige ausgewählte Aspekte eingegangen werden soll.
206
Europarechtlich unproblematisch ist, dass die §§ 111 ff. BetrVG nur für Betriebsänderungen gelten, worunter nach zutreffender ganz h.M. nicht bereits ein Betriebsübergang als solcher fällt.7 Die Betriebsübergangsrichtlinie unterscheidet ihrerseits eindeutig zwischen bloßen Betriebsübergängen (Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 BÜ-RL) und solchen Übernahmen, die zugleich mit einer Betriebsänderung verbun1 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 481; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1135); Oetker, NZA 1998, 1193 (1195); a.A. Gaul, NZA 1997, 1022 (1026). 2 Colneric, FS Steindorff, 1129 (1135). 3 Vgl. Wenking, Der Betriebsübergang im europäischen und deutschen Arbeitsrecht, S. 37. 4 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 482. 5 Vgl. EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 483; ferner v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 123, 291; Engels, RdA 52 (55); Franzen, RdA 2002, 258 (260); Hanau, FS Gaul, 287 (303). 6 S. dazu ausführlich EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 488 ff.; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1134); Oetker, NZA 1998, 1193 (1196 f.); Riesenhuber, RdA 2004, 340 (342 ff.). 7 St. Rspr. BAG v. 24.7.1979 – 1 AZR 219/77, DB 1980, 164; v. 21.10.1980 – 1 AZR 219/77, AP Nr. 8 zu § 111 BetrVG 1972; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 330; Debong, EGRichtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 96; Engels, RdA 1978, 52 (55); Oetker, NZA 1998, 1193 (1197).
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Grau/Hartmann
Information und Konsultation
§ 11
Rz. 208
den sind (Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL). Umstritten ist, ob § 111 Satz 3 BetrVG als abschließende Aufzählung von erfassten Betriebsänderungstatbeständen anzusehen ist oder es darüber hinaus nach der Generalklausel des § 111 Satz 1 BetrVG weitere Fälle geben kann. Die Richtlinie steht einer Konkretisierung des unbestimmten Begriffs der Betriebsänderung wie in § 111 Satz 3 BetrVG nicht entgegen, so dass jedenfalls unionsrechtlich nichts gegen eine abschließende mitgliedstaatliche Konkretisierung spricht.1 Der praktische Gehalt dieses Streits ist ohnehin gering, da es kaum Betriebsänderungen gibt, die sich nicht auch unter einen der Tatbestände des § 111 Satz 3 BetrVG subsumieren lassen. Unproblematisch ist im Hinblick auf die in Art. 7 Abs. 5 BÜ-RL vorgesehene Einschränkungsmöglichkeit (vgl. Rz. 209) ferner, dass die Rechte des Betriebsrats nach den §§ 111 ff. BetrVG erst ab einem Schwellenwert von mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern im Unternehmen eingreifen, da der Betriebsrat gem. § 9 Satz 1 BetrVG erst ab dieser Schwelle als Kollegialorgan zu bilden ist. Problematisch im Hinblick auf die deutsche Umsetzung ist, dass nach Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL ein erzwingbares Schiedsverfahren im Falle der Nichteinigung zwischen Arbeitgeber und den Arbeitnehmervertretern vorgesehen ist (vgl. Rz. 201), was angesichts der im Ergebnis fehlenden Erzwingbarkeit des Interessenausgleichs nur für den Sozialplan gegeben ist (§ 112 Abs. 2 bis 4 BetrVG). Im Hinblick hierauf hängt die Richtlinienkonformität davon ab, ob sich die Entscheidung der Schiedsstelle auf die betriebsändernden Maßnahmen als solche erstrecken muss, oder ob es den Anforderungen genügt, falls nur die Entscheidung über den Ausgleich der für die Arbeitnehmer mit den Maßnahmen verbundenen Nachteilen erzwingbar ist. Mit Blick auf den weiten Wortlaut der Richtlinie wird überwiegend von letzterem ausgegangen.2 Dieses Wortlautargument ist aber angreifbar, weil die Richtlinie den Maßnahmenbegriff auch in Art. 7 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 BÜ-RL verwendet und dort allgemein ein weites Verständnis zugrunde gelegt wird (vgl. Rz. 197). Zudem wird das Schutzniveau im Ausnahmemodell bei einer Erzwingbarkeit lediglich der Entscheidung über Ausgleichsmaßnahmen abgesenkt, was aber deswegen nicht zu einem gravierenden Schutzdefizit gegenüber dem im Grundmodell des Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL gewährleisteten Schutz führt, weil im Grundmodell von vornherein keinerlei Erzwingbarkeit einer Übereinkunft zwischen Veräußerer bzw. Erwerber und der jeweiligen Arbeitnehmervertretung angeordnet ist.3 Schließlich spricht nach Inkrafttreten des europäischen Grundrechtekatalogs die in Art. 16 GRC geschützte Unternehmerfreiheit dafür, dass die Betriebsübergangsrichtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den erzwingbaren Schiedsspruch im Ausnahmemodell des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL nur auf Ausgleichsmaßnahmen und damit nur auf den Sozialplan erstreckt.4
207
Zudem sieht § 112a BetrVG in bestimmten Grenzen Ausnahmen von der Sozialplanpflicht bei reinen Personalabbaumaßnahmen und Unternehmensneugründungen vor. Die Europarechtskonformität dieser Ausnahmebestimmungen ist ebenfalls
208
1 Ebenso Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rz. 41 ff.; Bauer, DB 1994, 217 (218); Hanau, ZfA 1974, 89 (93); a.A. Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, § 111 Rz. 44; GK-BetrVG/Oetker, 2014, § 111 Rz. 51; offen gelassen in BAG v. 6.12.1988 – 1 ABR 47/87, AP § 111 BetrVG 1972 Nr. 26. 2 Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 182; Oetker, NZA 1998, 1193 (1197); a.A. Gaul, Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2014, § 28 Rz. 106. 3 Anders noch Grau, ZfA 2005, 647. 4 Ähnlich EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 492; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1134); Debong, EG-Richtlinie über die Wahrung der Arbeitnehmeransprüche beim Betriebsübergang, S. 42; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 182; Oetker, NZA 1998, 1193 (1197).
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§ 11
Rz. 209
Betriebsübergang
umstritten.1 Eine unzureichende Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL läge dann nicht vor, falls diese Ausnahmebestimmungen noch zu der dort vorausgesetzten näheren mitgliedstaatlichen Ausgestaltung der Modalitäten des Schiedsstellenverfahrens zählen würden. Dafür lässt sich anführen, dass es im deutschen Recht im Kern – abgesehen von diesen begrenzten Ausnahmen – bei der Erzwingbarkeit des Schiedsstellenspruchs über den Sozialplan bleibt.2 Zudem ging es dem deutschen Gesetzgeber bei der Schaffung des § 112a BetrVG durch das Beschäftigungsförderungsgesetz vom 26.4.19853 nicht primär um die Beschränkung des Nachteilsausgleichs für die Arbeitnehmer, sondern um Beschäftigungsförderung durch den Abbau von Einstellungs- und Neugründungshindernissen.4 Vor diesem Hintergrund dürfte man eine limitierte Einschränkung der erzwingbaren Sozialplanpflicht wie in § 112a BetrVG im Lichte der Betriebsübergangsrichtlinie noch rechtfertigen können.5 Für § 112a Abs. 1 BetrVG gilt dies zusätzlich aufgrund des Umstandes, dass man die dortigen Schwellenwerte als Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals „für einen wesentlichen Teil der Belegschaft“ sehen kann, welcher nahezu wortlautidentisch in Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL und § 111 Satz 1 BetrVG enthalten ist.6 b) Beschränkung der Informations- und Konsultationspflicht auf Einheiten mit Kollegialorgan als Arbeitnehmervertretung (Art. 7 Abs. 5 BÜ-RL) 209
Eine weitere Einschränkungsmöglichkeit der Informations- und Konsultationspflicht sieht Art. 7 Abs. 5 BÜ-RL vor. Dieser verleiht den Mitgliedstaaten die Befugnis, die Pflichten zur Beteiligung der Arbeitnehmervertreter auf solche Unternehmen und Betriebe zu begrenzen, die hinsichtlich der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer die Voraussetzungen für die Bestellung eines Kollegiums als Arbeitnehmervertreter erfüllen. Die Mitgliedstaaten können danach Schwellenwerte für die Errichtung einer mehrköpfigen Arbeitnehmervertretung schaffen und Unternehmen oder Betrieben von der Informations- und Konsultationspflicht ausschließen, die aufgrund geringer Beschäftigtenzahl nur über einen einzigen Arbeitnehmervertreter verfügen. Diese Privilegierung soll dem erhöhten Flexibilitätsbedürfnis von Kleinbetrieben und dem Schutz der unternehmerischen Freiheit Rechnung tragen.7 Die Einschränkungsmöglichkeit gilt sowohl für das Grundmodell gem. Art. 7 Abs. 1 und 2 BÜ-RL als auch für das Ausnahmemodell des Art. 7 Abs. 3 BÜ-RL. Sofern das mitgliedstaatliche Recht keinen gesetzlichen Schwellenwert für die Errichtung eines Kollegialorgans als Arbeitnehmervertretung vorsieht, müssen die Mitgliedstaaten den Schutz durch Art. 7 Abs. 1 bis 3 BÜ-RL in vollem Umfang gewährleisten.8
1 Dazu v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 330 ff.; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 182 ff.; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1135 ff.). 2 v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 332 f.; Hanau, FS Gaul, 287 (303). 3 BGBl. I, 1985, S. 710. 4 Vgl. Fitting, BetrVG, 27. Aufl. 2014, § 112, 112a Rz. 100; Richardi/Annuß, BetrVG, 14. Aufl. 2014, 112a Rz. 1. 5 Ebenso v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer,S. 332 f.; a.A. EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 503 ff.; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 183; Düwell, FA 2002, 107 (110); Oetker, NZA 1998, 1193 (1199); Riesenhuber, RdA 2004, 340 (344). 6 Ebenso EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 514; a.A. Riesenhuber, RdA 2004, 340 (343). 7 Begründung des Kommissionsentwurfs v. 8.9.1994, BR-Drucks. 869/94, 19 Rz. 41; Colneric, FS Steindorff, 1129 (1133); Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 177; Oetker, NZA 1998, 1193, (1196). 8 S. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435.
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Information und Konsultation
§ 11
Rz. 213
4. Individuelle Information der Arbeitnehmer als Auffanglösung (Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL) Nach Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Bestimmungen über eine individuelle Information der Arbeitnehmer vor dem Betriebsübergang vorzusehen, falls unabhängig vom Willen der Beschäftigten keine Arbeitnehmervertretung in dem Unternehmen oder Betrieb existiert. Die Vorgängervorschrift in Art. 6 Abs. 5 RL 77/187/EWG hatte lediglich bestimmt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass die Arbeitnehmer für den Fall der Nichtexistenz von Arbeitnehmervertretern über den bevorstehenden Übergang zu informieren sind, so dass die Einführung einer solchen Informationspflicht bis zur Änderungsrichtlinie 98/50/EG im Ermessen der Mitgliedstaaten lag.
210
Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL erfasst in erster Linie Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Bildung einer Arbeitnehmervertretung in der vom Übergang betroffenen Einheit im mitgliedstaatlichen Recht nicht erfüllt sind, so dass die Arbeitnehmer unabhängig von ihrem Willen keine Vertretung errichten können. Dies betrifft vor allem Kleinbetriebe (vgl. in Deutschland § 1 Abs. 1 BetrVG). Einheiten, die aufgrund der geringen Beschäftigtenzahl lediglich über einen einzigen Arbeitnehmervertreter verfügen (können), sind aus dem Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL hingegen ausgeschlossen, weil in diesem Fall eine Arbeitnehmervertretung existiert oder jedenfalls errichtet werden könnte.1 Allerdings können die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 5 BÜ-RL diesen Fall von den Informations- und Konsultationsverpflichtungen ausnehmen, so dass dann weder eine kollektive noch eine individuelle Information gewährleistet werden müsste. Da dies mit der Auffangfunktion des Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL2 nicht übereinstimmt, spricht vieles für eine analoge Anwendung der Vorschrift auf diesen Fall.3
211
Mit der individuellen Unterrichtung nach Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL sollen die einzelnen Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, zu dem bevorstehenden Übergang Stellung zu nehmen, wenn eine Arbeitnehmervertretung aufgrund fehlender Voraussetzungen im nationalen Recht nicht gebildet werden kann. Vom Sinn und Zweck her soll die individuelle Unterrichtung der Arbeitnehmer nach Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL ein funktionales Äquivalent zur kollektiven Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter sein,4 was aber nur bedingt überzeugt, da die Information anders als im Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 und 2 bzw. Abs. 3 BÜ-RL nicht auf die Ermöglichung einer Konsultation abzielt.
212
Der Inhalt der Unterrichtung gem. Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL entspricht nach dem Richtlinienwortlaut dem Katalog des Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL. Gegenstand der Unterrichtung der einzelnen Arbeitnehmer ist demnach der Zeitpunkt bzw. der geplante Zeitpunkt des Übergangs, der Grund für den Übergang, die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer sowie die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen. Unterschiede hinsichtlich der Reich-
213
1 Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 410. 2 EuGH v. v. 8.6.1994 -Rs. C-382/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 – Rz. 23; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 332; v. Alvensleben, Rechte der Arbeitnehmer, S. 123; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 28; Löw, Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, S. 177; Bauer/v. Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457 (460 f.); Oetker, NZA 1998, 1193 (1196); Sagan, ZIP 2011, 1641 (1642 f.). 3 Ähnlich Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 410; Bauer/v. SteinauSteinrück, ZIP 2002, 457 (460); Willemsen/Annuß, NJW 1999, 2073 (2080). 4 Sagan, ZIP 2011, 1641 (1642).
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Rz. 214
Betriebsübergang
weite der kollektiven und der individuellen Information können sich allerdings aus dem anders gelagerten Kontext (kein Konsultationserfordernis im Rahmen des Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL) ergeben. 214
In zeitlicher Hinsicht sieht Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL die Unterrichtung vor dem Betriebsübergang vor. Die Modalitäten der Unterrichtung wie z.B. eine bestimmte Form sind in der Richtlinie nicht geregelt und bleiben der Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten überlassen.
215
Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL trifft keine ausdrückliche Regelung zu den Adressaten der Informationspflicht. Konkret stellt sich die Frage, ob nur der Veräußerer seine (übergehenden) Arbeitnehmer oder auch der Erwerber die Arbeitnehmer des aufnehmenden Betriebs zu informieren hat, falls diese von den Auswirkungen des Betriebsübergangs betroffen sind, wie es Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL in kollektiver Hinsicht bei Bestehen einer Arbeitnehmervertretung vorsieht. Aufgrund des Vergleichs mit Art. 7 Abs. 1 BÜ-RL spricht vieles für die letztgenannte Auslegung, sofern beim Erwerber die Voraussetzungen für die Errichtung einer Arbeitnehmervertretung nicht gegeben sind.1
216
In Deutschland ist den Vorgaben von Art. 7 Abs. 6 BÜ-RL durch § 613a Abs. 5 BGB entsprochen, der aufgrund der Geltung auch in betriebsratsfähigen Betrieben über die europäischen Vorgaben hinausgeht. Allerdings sieht das deutsche Recht keine individuelle Unterrichtung der Arbeitnehmer des Erwerbers vor, was bei Auswirkungen des Betriebsübergangs auf deren Beschäftigungsbedingungen und gleichzeitig fehlender Betriebsratsfähigkeit zu einem Defizit gegenüber den Vorgaben der Richtlinie führt. 5. Gewährleistung der Information und Konsultation bei Planung durch Obergesellschaft (Art. 7 Abs. 4 BÜ-RL)
217
Gemäß Art. 7 Abs. 4 UAbs. 1 BÜ-RL ist die Information und Konsultation der Arbeitnehmervertretung auch dann zu gewährleisten, wenn die zum Übergang führende Entscheidung nicht vom Arbeitgeber, sondern von einem diesen beherrschenden Unternehmen getroffen wird. Dadurch soll sichergestellt werden, dass es aufgrund etwaiger übergeordneter Entscheidungsebenen in Konzernen nicht zu einer Verkürzung des Richtlinienschutzes kommt. Schon vor dem durch die Änderungsrichtlinie 98/50/EG eingefügten Art. 7 Abs. 4 BÜ-RL traf Art. 2 Abs. 4 der Massenentlassungsrichtlinie 72/125/EWG in der durch die Änderungsrichtlinie 92/56/EWG geänderten Fassung (heute Art. 2 Abs. 4 ME-RL) eine vergleichbare Regelung.
218
Art. 7 Abs. 4 UAbs. 2 BÜ-RL stellt ergänzend klar, dass die Informations- und Konsultationspflichten nach Art. 7 Abs. 1 bis 3 BÜ-RL auch dann unverändert gelten, wenn die über alle Informationen verfügende und für die Entscheidung zuständige Konzernleitung unter Umständen nicht bereit ist, die erforderliche Information und Konsultation zu gewährleisten.2 6. Gewährleistung der Rechtedurchsetzung (Art. 9 BÜ-RL) und Sanktionen bei Verstoß gegen Informations- oder Konsultationspflichten
219
Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 9 BÜ-RL verpflichtet, in ihre innerstaatlichen Rechtssysteme die erforderlichen Bestimmungen aufzunehmen, um allen Arbeitnehmern und ihren Vertretern, die ihrer Ansicht nach durch die Nichtbeachtung der sich 1 Vgl. Franzen, RdA 2002, 258 (261); Willemsen/Annuß, NJW 1999, 2073. 2 Vgl. Martin, Umsetzung der Unternehmensübergangsrichtlinie, S. 408.
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Information und Konsultation
§ 11
Rz. 220
aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen benachteiligt sind, die Möglichkeit zu geben, ihre Forderungen gerichtlich durchzusetzen. Dadurch wird zugleich sichergestellt, dass der EuGH über die Vorlagepflicht der nationalen Gerichte nach Art. 267 AEUV sein letztinstanzliches Auslegungsmonopol bezüglich des Unionsrechts wahrnehmen kann (vgl. § 1 Rz. 78 f.).1 Die Pflicht zur Gewährleistung der Rechtedurchsetzung war in der ursprünglichen RL 77/187/EWG nicht geregelt und wurde mit der Änderungsrichtlinie 98/50/EG klarstellend in den Richtlinientext aufgenommen. Im Übrigen schreibt die Betriebsübergangsrichtlinie keine speziellen Verfahren oder Sanktionen bei Verstößen gegen die Informations- und Konsultationspflicht vor.2 Die Richtlinie unterliegt jedoch den allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts einschließlich dem Proportionalitäts- und Effektivitätsgrundsatz (vgl. § 1 Rz. 122).3 Nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV haben die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben. Zu diesen Maßnahmen zählt insbesondere das Vorsehen von geeigneten und effektiven Kontrollsystemen zur Sicherstellung einer korrekten Anwendung der auf der Richtlinie beruhenden nationalen Vorschriften.4 Es steht demnach im Ermessen der Mitgliedstaaten darüber zu entscheiden, anhand welcher Mittel und Verfahren Verstöße gegen Art. 7 BÜ-RL sanktioniert werden, solange die Mitgliedstaaten bei Nichteinhaltung der Informations- und Konsultationspflicht eine effektive und verhältnismäßige Sanktion mit abschreckendem Charakter vorsehen.5
1 2 3 4
Schruiff, Betriebsübergangsrichtlinie der EG, S. 52. Vgl. Oetker, NZA 1998, 1193 (1196); Riesenhuber, RdA 2004, 340 (350). Begründung des Kommissionsentwurfs v. 8.9.1994, BR-Drucks. 869/94, 20 Rz. 43. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 – Rz. 55; Oetker, NZA 1998, 1193 (1196); EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 487. 5 EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435; Memorandum der Kommission zu den erworbenen Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, KOM (1994), 85 endg., NZA 1997, 697 (700); Oetker, NZA 1998, 1193 (1196); zur Umsetzung in Deutschland durch die Sanktionsmechanismen des BetrVG s. GKBetrVG/Oetker, 4. Aufl. 2014, § 121 Rz. 8 f. und § 119 Rz. 10 ff. m.w.N.
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§ 12 Europäisches Betriebsverfassungsrecht Rz. I. Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG 1. Gegenstand und Zweck der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
2. Geltungsbereich a) Territorialer Geltungsbereich . . . 9 b) Gemeinschaftsweit operierende Unternehmen und Unternehmensgruppen . . . . . . . . . . . . . 11 3. Wesentliche Begriffsbestimmungen a) Länderübergreifende Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unternehmensgruppe . . . . . . . . c) Arbeitnehmervertreter . . . . . . . d) Zentrale Leitung . . . . . . . . . . . e) Unterrichtung und Anhörung . .
6. EBR kraft Vereinbarung . . . . . . . . a) Regelungsgegenstände der Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitbestimmungsrechte als erweiterter Vereinbarungsinhalt? . c) Vereinbarung zur Schaffung eines alternativen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens . . . . . . . . 7. EBR kraft Gesetzes
109 118 124 133
8. Gerichtliche Konflikte/Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 9. Schutz vertraulicher Informationen 146
23 31 42 46 48
4. Anwendbares Recht . . . . . . . . . . 56 5. Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums als Voraussetzung für die Errichtung eines EBR . . . . . a) Initiative der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . b) Bildung und Tätigkeit des besonderen Verhandlungsgremiums . . c) Informationserhebungsanspruch .
Rz. a) Voraussetzungen für die Bildung eines EBR kraft Gesetzes . . . . . b) Größe und Zusammensetzung des EBR kraft Gesetzes . . . . . . . . . c) Zuständigkeiten und Rechte des EBR kraft Gesetzes . . . . . . . . . d) Amtszeit des EBR kraft Gesetzes
10. Schutz der EBR- und BVG-Mitglieder und Recht auf Fortbildung . . . . . . 159 11. Koordination mit Unterrichtungsbzw. Anhörungsrechten nationaler Arbeitnehmervertretungen . . . . . . 164 12. Anpassungspflicht bei wesentlichen Strukturänderungen . . . . . . . . . . 167 13. Altvereinbarungen . . . . . . . . . . . 182
65 67 71 88
14. Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . 197 II. Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer 2002/14/EG 1. Gegenstand und Zweck . . . . . . . . 201
96
2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . 207
97
3. Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmervertretern . . . . . . . . 216
103
4. Gegenstände des Unterrichtungsund Anhörungsrechts . . . . . . . . . 219
106
5. Vertrauliche Informationen und Schutz der Arbeitnehmervertreter . 228 6. Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . 233
Schrifttum: Ales, Directive 2002/14/EC establishing a general framework for informing and consulting employees in the European Union – Synthesis Report, 2007; Altmeyer, Europäische Betriebsräte – Die aktuellsten Gerichtsurteile, AiB 2007, 503; Annuß/Kühn/Rudolph/ Rupp, EBRG – Europäisches Betriebsrätegesetz, 2014 (zit.: AKRR/Bearbeiter); Bayreuther, Betriebsratswahl für das Luftfahrtpersonal von ausländischen Fluggesellschaften, NZA 2010, 262; Blanke, Europäisches Betriebsräte-Gesetz, 2. Aufl. 2006; Bonin, Die Richtlinie 2002/14/EG zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer und ihre Umsetzung in das Betriebsverfassungsrecht, AuR 2004, 321; Carley/Hall, The Implementation of the European Works Councils Directive, Industrial Law Journal 2000, 103; Däubler/Kittner/Klebe/ Wedde, BetrVG – Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung, 14. Aufl. 2014 (zit.: DKKW/ Bearbeiter); Deinert, Vorschlag für eine europäische Mitbestimmungsrichtlinie und Umsetzungsbedarf im Betriebsverfassungsgesetz, NZA 1999, 800; Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 195. Ergänzungslieferung 2013; Fauser/Nacken, Die Sicherung des Unterrich-
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Müller-Bonanni/Jenner
Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 1
tungs- und Beratungsanspruchs des Betriebsrats aus §§ 111, 112 BetrVG, NZA 2006, 1136; Franzen, Europarecht und betriebliche Mitbestimmung, FS Birk, 2008, S. 97; Franzen, Die EU-Richtlinie 2009/38/EG über Europäische Betriebsräte, EuZA 2010, 180; Giesen, Auskunftspflicht der „zentralen“ Unternehmensleitung zur Errichtung eines Europäischen Betriebsrats – Besprechung des Urteils EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 (Kühne & Nagel), RdA 2004, 307; Giesen, Merkwürdiges Übergangsrecht bei der Reform des Europäischen Betriebsrats, NZA 2009, 1174; Giesen, EU-Richtlinienvorschlag zur Information und Anhörung der Arbeitnehmer, RdA 2000, 298; Goette/Habersack, MünchKomm/AktG Band 1, 3. Aufl. 2008 und Band 7, 3. Aufl. 2012 (zit.: MünchKomm/AktG/Bearbeiter); Hohenstatt/Kröpelin/ Bertke, Die Novellierung des Gesetzes über Europäische Betriebsräte (EBRG): Handlungsbedarf bei freiwilligen Vereinbarungen?, NZA 2011, 1313; Köck, Zur neuen „Europäischen Betriebsverfassung im Arbeitsverfassungsgesetz“, Festschrift Theodor Tomandl zum 65. Geburtstag, 1998, S. 213 (zit.: Köck, FS Tomandl); Kohte, Auf dem Weg zur betrieblichen Informationsverfassung, FS 50 Jahre BAG, 2004, 1219; Kolvenbach/Kolvenbach, Massenentlassungen bei Renault in Belgien, NZA 1997, 695; Konzen, Auswirkungen der europäischen Rechtsentwicklung auf das deutsche Arbeitsrecht, ZfA 2005, 189; Kunz, Das Gesetz über Europäische Betriebsräte, AiB 1997, 267; Küttner, Personalbuch 2014, 21. Aufl. 2014; Lipinski/ Reinhardt, Kein Unterlassungsanspruch bei Betriebsänderungen – auch nicht bei Berücksichtigung der Richtlinie 2002/14/EG!, NZA 2009, 1184; Lorenz/Zumfelde, Der Europäische Betriebsrat und die Schließung des Renault-Werkes in Vilvoorde/Belgien, RdA 1998, 168; Maiß/ Röhrborn, Unterrichtungspflicht des Unternehmers gegenüber dem Wirtschaftsausschuss gem. § 106 BetrVG, ArbAktuell 2011, 341; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 73. Aufl. 2014; Reichold, Durchbruch zu einer europäischen Betriebsverfassung – Die Rahmen-Richtlinie 2002/14/EG zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, NZA 2003, 289; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 15. Aufl. 2013; Schmidt, Betriebliche Arbeitnehmervertretung insbesondere im Europäischen Recht, RdA Beilage zu Heft 5, 12; Schubert, Die Arbeitnehmerbeteiligung bei der Gründung einer SE durch Verschmelzung unter Beteiligung arbeitnehmerloser Aktiengesellschaften, RdA 2012, 146; Stoffels, Die Betriebsverfassung unter dem Einfluss des Europarechts, GS Heinze, 2005, S. 885; Thüsing, Zur neueren arbeitsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, NZA Beilage 2003, 41; Thüsing/Forst, Europäische Betriebsräte-Richtlinie: Neuerung und Umsetzungserfordernisse, NZA 2009, 408; Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2013 (zit.: UHH/Bearbeiter); Völksen, Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei interessenausgleichspflichtigen Betriebsänderungen, RdA 2010, 354; Weiler, Richtlinie zur Information und Konsultation verabschiedet, AiB 2002, 265; Weiss, Arbeitnehmermitwirkung in Europa, NZA 2003, 177; Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/ Weber/Franzen, Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 10. Aufl. 2014 (zit.: GK-BetrVG/Bearbeiter); Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011 (zit.: WHSSS/Bearbeiter); Zimmer, Europäische Solidarität – Beispiele positiver Arbeit Europäischer Betriebsräte, AiB 2003, 620.
I. Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG 1. Gegenstand und Zweck der Richtlinie Die EBR-Richtlinie 2009/38/EG (EBR-RL) vom 6.5.2009 ersetzt unter dem gleichnamigen amtlichen Titel die Richtlinie 94/45/EG des Rates vom 22.9.1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen1.
1 ABl. Nr. L 254 v. 30.9.1994, S. 16. Obwohl die Europäische Gemeinschaft nicht mehr existiert (vgl. § 1 Rz. 15), legt dieser Beitrag den Begriff des „gemeinschaftsweit“ operierenden Unternehmens zugrunde, da er sich nach wie vor in der EBR-RL und im EBRG findet.
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Europäisches Betriebsverfassungsrecht
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Die EBR-Richtlinie 94/45/EG wurde in Deutschland erstmals durch das Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG) vom 28.10.1996 umgesetzt.1 Die durch die Neufassung der EBR-Richtlinie bedingten Änderungen wurden mit der geänderten Fassung des EBRG am 18.6.2011 in deutsches Recht umgesetzt. Die Umsetzung in Deutschland erfolgte damit etwas verspätet, da die Mitgliedstaaten gem. Art. 16 Abs. 1 EBR-RL die Änderungen der neugefassten EBR-Richtlinie bis zum 5.6. 2011 in nationales Recht umzusetzen hatten. Die Überschreitung der Umsetzungsfrist in Deutschland dürfte jedoch praktisch ohne Bedeutung sein, da sich insofern allenfalls Konsequenzen für Vereinbarungen ergeben könnten, die zwischen dem 5.6.2011 und dem 17.6.2011 geschlossen oder geändert wurden.2 Solche Vereinbarungen sind jedoch nicht bekannt geworden.
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Gestützt auf Art. 153 Abs. 1 Buchst. e AEUV zielt die EBR-Richtlinie darauf ab, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Bereich der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer zu unterstützen und zu ergänzen (ErwGr. 9 EBR-RL). Zu diesem Zweck stellt sie europäische Rechtsvorschriften im Bereich der länderübergreifenden Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer auf (ErwGr. 7 EBR-RL).
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Ziel der EBR-Richtlinie ist ausweislich ihres Art. 1 Abs. 1 die Stärkung des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen.3 Hierzu soll gem. Art. 1 Abs. 2 Satz 1 EBR-RL in allen gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen ein Europäischer Betriebsrat (EBR) eingesetzt oder ein anderes Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer geschaffen werden. Zweck der Richtlinie ist damit die Schaffung einer transnational besetzten europaweiten Arbeitnehmervertretung mit einer Zuständigkeit für grenzüberschreitende Angelegenheiten (vgl. Rz. 23 ff.) in grenzüberschreitend operierenden Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, die die nationalen Arbeitnehmervertretungsgremien in den Mitgliedstaaten der EU und den Vertragsstaaten des EWR ergänzen soll. Alternativ ermöglicht die EBR-Richtlinie die Einrichtung eines dezentralen Anhörungs- und Unterrichtungsverfahrens, welches an die Stelle eines EBR als ständiges europaweites Arbeitnehmervertretungsgremium tritt.
5
Anders als bei der Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie4 (UuA-RL) geht es bei der EBR-Richtlinie nicht um die Einführung von Mindeststandards für die Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern bzw. ihren Vertretungen. Vielmehr wird eine zusätzliche Unterrichtungs- und Anhörungsebene in bestimmten – nämlich grenzüberschreitenden (vgl. Rz. 23 ff.) – Angelegenheiten geschaffen. Diese neue Unterrichtungs- und Anhörungsebene schließt freilich nicht aus, dass die jeweilige Angelegenheit auch Unterrichtungs- und Konsultationsrechte auf nationaler Ebene auslöst. Deshalb bedarf es einer Koordination der Unterrichtung und Anhörung auf grenzüberschreitender europäischer und nationaler Ebene (vgl. Rz. 164 ff.).
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Die EBR-Richtlinie beruht auf einem gestuften Regelungssystem. Die Errichtung und Rechte eines EBR sowie das Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung sollen in erster Linie einer unternehmensspezifischen Selbstregulierung überlassen bleiben. Dem1 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 28; AKRR/Annuß, Vorbem. EBRG Rz. 6. 2 HWK/Giesen, EBRG Rz. 7. 3 Vgl. zur Historie der EBR-Richtlinie und ihrer Vorgängerfassung ausführlich AKRR/Annuß, Vorbem. EBRG Rz. 1–5. 4 RL 2002/14/EG des europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der europäischen Gemeinschaft (ABl. Nr. L 80 v. 11.3.2002, S. 29).
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§ 12
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entsprechend können die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite auch ein anderes Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren ohne Schaffung einer transnationalen Arbeitnehmervertretung vereinbaren. In der Praxis überwiegen jedoch Vereinbarungen zur Errichtung eines EBR.1 Nur subsidiär zu der sog. Vereinbarungslösung (Art. 5, 6 EBRRL), wenn sich die Parteien nicht einigen können, greift eine gesetzliche Auffanglösung zur Einsetzung eines EBR kraft Gesetzes (Art. 7, Anh. I EBR-RL). Derzeit gibt es etwa 1.050 aktive Europäische Betriebsratsgremien.2 Diese sind überwiegend für Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen mit Sitz des herrschenden Unternehmens in Deutschland, den USA, im Vereinigten Königreich und in Frankreich errichtet.3
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Mit der Verabschiedung der EBR-RL 2009/38/EG4 am 6.5.2009 erfolgte die lang erwartete Revision der Alt-Richtlinie von 1994 (Richtlinie 94/45/EG). Die Neufassung der EBR-Richtlinie ist am 6.6.2009 in Kraft getreten. Die Vorarbeiten daran erfolgten parallel zu denen an der SE-Richtlinie 2001/86/EG und sollten helfen, die Nachteile für die Arbeitnehmer, die aus der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaftsund Unternehmensstrukturen folgen, auszugleichen5. Zu den wesentlichen Änderungen der Neufassung der EBR-Richtlinie gehören6:
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– Eine Konkretisierung der Begriffe „Unterrichtung“ und „Anhörung“ und der mit ihnen verbundenen Verfahren,7 – eine Kodifizierung und Konkretisierung des durch den EuGH geprägten Informationserhebungsanspruchs im Zusammenhang mit der Errichtung eines EBR,8 – eine Koordination mit der Unterrichtung und Anhörung der nationalen Arbeitnehmervertretungen,9 – die Verpflichtung, bei wesentlichen Strukturänderungen auf Unternehmens- oder Konzernebene, Verhandlungen über eine Anpassung der bestehenden Vereinbarungen aufzunehmen.10 2. Geltungsbereich a) Territorialer Geltungsbereich Die EBR-Richtlinie gilt für die 28 Mitgliedstaaten der EU und die drei Vertragsstaaten des EWR (Island, Liechtenstein und Norwegen). Alle erfassten Staaten sind gem. Art. 11, 16 EBR-RL verpflichtet, für ihre jeweiligen Territorien (zum anwendbaren Recht vgl. Rz. 56 ff.) die Richtlinie durch nationale Rechtsvorschriften umzusetzen.11 1 Die Angabe beruht auf der Statistik des European Trade Union Institute (etui), s.: www.ewcdb.eu/documents/freegraphs/2013_05_DE.pdf (Stand: 1.6.2014). 2 Die Angabe beruht auf der Statistik des etui, s.: www.worker-participation.eu/EuropeanWorks-Councils/Facts-Figures (Stand: 1.6.2014). 3 Die Angabe beruht wiederum auf den Statistiken des etui, s.: www.worker-participation.eu/ European-Works-Councils/Facts-Figures (Stand: 1.6.2014). 4 ABl. Nr. L 122 v. 16.5.2009, S. 128. 5 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 153 AEUV Rz. 77. 6 Vgl. die Übersicht über die durch die Neufassung der Richtlinie eingeführten Neuerungen bei Giesen, NZA 2009, 1174 (1174 f.). 7 HWK/Giesen, EBRG Rz. 8. 8 HWK/Giesen, EBRG Rz. 8. 9 Giesen, NZA 2009, 1174 (1175). 10 Vgl. DKKW/Däubler, Vorbem. EBRG Rz. 16. 11 HWK/Giesen, EBRG Rz. 24.
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Die Befugnisse und Zuständigkeiten der Europäischen Betriebsräte bzw. die alternativen Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung gem. Art. 1 Abs. 6 EBR-RL erstrecken sich im Fall eines gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens auf alle in den Mitgliedstaaten belegenen Betriebe des Unternehmens, im Fall einer gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe auf alle in den Mitgliedstaaten belegenen Betriebe der Unternehmen dieser Gruppe, und zwar unabhängig davon, ob der Rechtsträger des Unternehmens, zu dem der Betrieb gehört, in einem Mitgliedstaat oder einem Drittland ansässig ist. Die EBR-Richtlinie erwähnt Letzteres zwar nicht ausdrücklich. Jedoch folgt dies mittelbar aus Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 EBR-RL, wonach die Leitung des Betriebs eines nicht in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens die Funktion der fingierten zentralen Leitung übernimmt und der EBR-RL unterfällt. Nichts anderes kann insofern für Betriebe von nicht in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen gelten, die zu einer gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe gehören. Eine Ausklammerung von EU/EWR-Betrieben eines Unternehmens mit Sitz in einem Drittstaat würde den Schutzzweck der Richtlinie unterlaufen und zu missbräuchlichen Gestaltungen zur Umgehung der Richtlinienverpflichtungen einladen. Der Begriff des Betriebs i.S.d. EBR-Richtlinie ist dabei nicht gleichzusetzen mit dem betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff. Vielmehr ist der Betriebsbegriff europäisch-autonom i.S.d. Richtlinienzwecke auszulegen.1 Es bedarf hierfür keiner organisatorisch abgrenzbaren Einheit; es genügt die tatsächliche Beschäftigung von Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat.2 b) Gemeinschaftsweit operierende Unternehmen und Unternehmensgruppen
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„Gemeinschaftsweit operierendes Unternehmen“ bezeichnet ein Unternehmen mit mindestens 1.000 Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten mit jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer in mindestens zwei verschiedenen Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a EBR-RL).
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Eine „gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppe“ meint gem. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c EBR-RL eine Unternehmensgruppe, die (i) „mindestens 1.000 Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten“ hat, (ii) „mindestens zwei der Unternehmensgruppe angehörende Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten“ umfasst, wobei (iii) „mindestens ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen […] mindestens 150 Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat und ein weiteres der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen […] mindestens 150 Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat“ hat.
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Der Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 Buchst. c Spiegelstrich 3 EBR-RL führt zu einer Diskrepanz im Anwendungsbereich der Richtlinie für gemeinschaftsweit operierende Unternehmen einerseits und gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppen andererseits: Die Qualifikation als gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppe setzt nach dem Wortlaut der EBR-Richtlinie voraus, dass mindestens zwei Unternehmen der Gruppe mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten jeweils mindestens 1 Vgl. zum Betriebsbegriff des EBRG AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 7 m.w.N. 2 AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 7 mit dem Hinweis, dass eine tatsächliche Beschäftigung von Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat ausreiche, soweit diese Arbeitnehmer nicht vollständig dem Arbeitsrechtsstatut eines anderen Mitgliedstaats unterstehen. Danach sollen Fälle temporärer Entsendungen in einen Mitgliedstaat ausgenommen werden, d.h. nicht zur Begründung eines Betriebs i.S.d. EBR-Richtlinie in dem aufnehmenden Mitgliedstaat herangezogen werden können.
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150 Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigen. Damit wird dem Wortlaut nach eine Unternehmensgruppe mit mehreren Tochtergesellschaften, die aber nur zusammen 150 oder mehr Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat beschäftigen, nicht erfasst, da die Unternehmen in diesem Fall nicht jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigen.1 Für ein gemeinschaftsweit operierendes Unternehmen kommt es hingegen (denklogisch) nicht darauf an, dass unterschiedliche Rechtsträger jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigen. Ob der Richtliniengeber insoweit tatsächlich eine Differenzierung zwischen gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppen und gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen beabsichtigt hat, ist fraglich. Sinn und Zweck der Richtlinie sprechen dafür, dass es auch bei Unternehmensgruppen nicht darauf ankommt, welche Rechtsträger der Unternehmensgruppe die 150 Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat beschäftigen, und dass mindestens 150 Arbeitnehmer, die insgesamt bei einem oder in der Summe bei verschiedenen gruppenangehörigen Unternehmen in einem Mitgliedstaat beschäftigt sind, genügen. Eine am Sinn und Zweck orientierte Auslegung scheitert jedoch derzeit an der Grenze des Richtlinienwortlauts, so dass es bis auf Weiteres auf die Beschäftigung von mindestens 150 Arbeitnehmern durch ein gruppenangehöriges Unternehmen in einem Mitgliedstaat und von mindestens 150 Arbeitnehmern eines anderen gruppenangehörigen Unternehmens in einem anderen Mitgliedstaat ankommt. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c EBR-RL wurde durch den deutschen Gesetzgeber in § 3 Abs. 2 EBRG mit geringfügiger Abweichung entsprechend dem Richtlinienwortlaut umgesetzt und wirft mithin dieselbe vorgenannte Auslegungsproblematik2 auf. Anders als die EBR-Richtlinie stellt § 3 Abs. 2 EBRG darauf ab, dass der Unternehmensgruppe „… mindestens zwei Unternehmen mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten angehören, die jeweils3 mindestens je 150 Arbeitnehmer in verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigen.“ Nach der Richtlinie müssen zwei der Unternehmensgruppe angehörende Unternehmen jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer in jeweils einem Mitgliedstaat beschäftigen, wobei es sich um verschiedene Mitgliedstaaten handeln muss. Der Wortlaut der EBR-Richtlinie verlangt dabei nicht, dass die beiden der Unternehmensgruppe angehörenden Unternehmen mit jeweils mindestens 150 Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat ihren Sitz in einem Mitgliedstaat haben. Nach dem Wortlaut der Richtlinie scheint es folglich zu genügen, wenn ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat mindestens 150 Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat beschäftigt. Allerdings ist zweifelhaft, ob der Richtliniengeber bewusst eine derartige Regelung treffen wollte. Möglicherweise hat der Richtliniengeber auch bei der dritten Voraussetzung implizit vorausgesetzt, dass es sich um Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat handeln muss. Die Richtlinie ist daher insoweit unklar. Jedenfalls steht der eindeutige Wortlaut des § 3 Abs. 2 EBRG einer Auslegung im vorgenannten Sinne entgegen. Es genügt daher nicht zur Begründung einer gemeinschaftsweiten
1 HWK/Giesen, EBRG Rz. 27, vgl. den dort genannten Beispielsfall 2. Mit Blick auf den Sinn und Zweck der Regelung wird für die deutsche Umsetzungsvorschrift in § 3 Abs. 2 EBRG teilweise eine korrigierende Auslegung im Sinne einer Bejahung einer gemeinschaftsweiten Tätigkeit auch in diesem Fall befürwortet, so DKKW/Däubler, § 3 EBRG Rz. 5 und AKRR/Annuß, § 3 EBRG Rz. 6. 2 Vgl. DKKW/Däubler, § 3 EBRG Rz. 4 ff., der sich für eine am Sinn und Zweck der Regelung orientierte korrigierende Auslegung ausspricht; ebenso AKRR/Annuß, § 3 EBRG Rz. 6. 3 Hervorhebung diesseits.
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Tätigkeit, wenn ein gruppenangehöriges Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat mindestens 150 Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat beschäftigt.1 15
Aus Art. 3 Abs. 6 UAbs. 2, Art. 4 Abs. 2–4 EBR-RL folgt, dass die EBR-Richtlinie auch für Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU bzw. des EWR und für Unternehmensgruppen mit herrschendem Unternehmen außerhalb der EU bzw. des EWR gilt, wenn die vorgenannten Arbeitnehmerschwellenwerte in den Mitgliedstaaten erreicht sind (vgl. Rz. 60 ff.).
16
Für die Berechnung der Schwellenwerte nach der Richtlinie kommt es gem. Art. 2 Abs. 2 EBR-RL auf die nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten berechnete Zahl der im Durchschnitt während der letzten zwei Jahre beschäftigten Arbeitnehmer, einschließlich der Teilzeitbeschäftigten, an (zum Arbeitnehmerbegriff unten vgl. Rz. 44). Für diese Zwecke sollte im Zweifel die Summe der je Tag während der letzten zwei Jahre beschäftigten Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat (zu bestimmen nach dem jeweils einschlägigen mitgliedstaatlichen Recht) durch die Zahl der auf die letzten zwei Jahre entfallenden Tage, d.h. 730 bzw. ggf. 731, dividiert werden.2
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Die nationale Umsetzungsvorschrift des § 4 EBRG stellt auf die Zahl der im Durchschnitt während der letzten zwei Jahre beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 5 Abs. 1 BetrVG ab. Die leitenden Angestellten i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG werden daher in Deutschland für die Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Bildung eines EBR nicht mitberücksichtigt. Mit der Richtlinie ist das vereinbar, weil diese auf die nationalen „Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ verweist. Im nationalen Betriebsverfassungsrecht werden leitende Angestellte bei der Ermittlung, ob der Schwellenwert des § 1 Abs. 1 BetrVG für die Bildung eines Betriebsrats erreicht ist, ebenfalls nicht mitgezählt.
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Die wohl herrschende Meinung zu § 4 EBRG will entgegen dem Wortlaut der Vorschrift nicht auf die durchschnittliche Arbeitnehmerzahl der letzten zwei Jahre, sondern auf den letzten Beschäftigtenstand vor der Einleitung des Verfahrens zur Bildung eines EBR abstellen, wenn es in der letzten Zeit vor dem Berechnungsstichtag erhebliche Änderungen gegeben hat.3 Zum Teil wird für das deutsche Umsetzungsrecht vertreten, dass auch Schätzungen zulässig seien.4 Da diese beiden Vorgehensweisen dem Richtlinienwortlaut widersprechen und zudem zu Rechtsunsicherheit führen, ist bei ihrer Anwendung jedoch Vorsicht geboten, wenngleich sie im Interesse einer praktischen und effizienten Handhabung der Berechnung liegen mögen.5
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Die EBR-Richtlinie regelt nicht, was geschieht, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bildung eines EBR entfallen, beispielsweise weil die Beschäftigtenschwellenwerte unterschritten werden. Die Regelung dieser Frage ist daher den nationalen Rechtsordnungen überlassen. 1 A.A. AKRR/Annuß, § 3 EBRG Rz. 5. 2 HWK/Giesen, EBRG Rz. 17; AKRR/Annuß, § 4 EBRG Rz. 1 in Bezug auf die deutsche Umsetzungsvorschrift, der sich in diesem Zusammenhang bei der Ermittlung der Beschäftigtenzahlen für eine Tagesendbetrachtung ausspricht. 3 Fitting, Übersicht EBRG Rz. 21; vgl. weitere Nachweise bei HWK/Giesen, EBRG Rz. 17; EAS/ Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 51 ff., nach denen bei dauerhaften, erheblichen Veränderungen sogar zukünftige Entwicklungen mitberücksichtigt werden sollen; a.A. AKRR/Annuß, § 4 EBRG Rz. 3. 4 DKKW/Däubler, § 4 EBRG Rz. 2; AKRR/Annuß, § 4 EBRG Rz. 1. 5 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 17.
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Rz. 25 § 12
Auch das deutsche Umsetzungsrecht enthält zu dieser Frage keine Regelung. Zum Teil wird angenommen, die EBR-Vereinbarung gelte dann als freiwillige Vereinbarung, die von Schwellenwerten unabhängig sei, fort.1
20
Nach anderer, vorzugswürdiger Ansicht wird der EBR-Vereinbarung mit dem Entfallen der gesetzlichen Grundlage für die Errichtung eines EBR die Grundlage entzogen. Der zentralen Leitung steht dann nach den allgemeinen Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage2 ein Recht zur fristlosen Kündigung zu.3
21
Eine „EBR-Unternehmensgruppe“ innerhalb einer „EBR-Unternehmensgruppe“ ist nach der EBR-Richtlinie nicht vorgesehen. Der Europäische Betriebsrat wird nach der Vorstellung des Richtliniengebers nur auf der höchsten Ebene der Unternehmensgruppe gebildet4 (allerdings kann es bei wesentlichen Strukturänderungen vorübergehend zur Existenz mehrerer Europäischer Betriebsräte innerhalb einer Unternehmensgruppe kommen vgl. Rz. 177 ff.). Dies folgt aus der Definition der Unternehmensgruppe, wonach diese durch das herrschende Unternehmen bestimmt wird. Dies berührt freilich nicht die Parteiautonomie, so dass die Parteien im Vereinbarungswege die Errichtung mehrerer Europäischer Betriebsräte innerhalb einer Unternehmensgruppe vorsehen können.5
22
3. Wesentliche Begriffsbestimmungen a) Länderübergreifende Angelegenheiten Länderübergreifende Angelegenheiten sind gem. Art. 1 Abs. 4 EBR-RL solche, die das gemeinschaftsweit operierende Unternehmen oder die gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppe insgesamt oder mindestens zwei der Betriebe oder der zur Unternehmensgruppe gehörenden Unternehmen in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten betreffen.
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Damit fallen nur Angelegenheiten mit grenzübergreifendem Charakter in den Zuständigkeitsbereich des EBR.6 Die Frage, ob eine Angelegenheit grenzüberschreitenden Charakter hat, wirft in der Praxis erhebliche Auslegungsschwierigkeiten auf. Zweifelsohne nicht länderübergreifend i.S.d. EBR-Richtlinie sind Maßnahmen, die sich auf einen Staat beschränken, und zwar in dem Sinne, dass die unternehmerische Entscheidung in diesem einen Mitgliedstaat getroffen und umgesetzt wird. Umgekehrt ist eine Situation, in der das herrschende Unternehmen über Maßnahmen entscheidet, die sich unmittelbar auf die Beschäftigung in zwei weiteren Mitgliedstaaten auswirken, und den Tochterunternehmen Anweisungen zur Umsetzung erteilt, als grenzübergreifende Angelegenheit zu qualifizieren.7 Zweifelhaft ist die Charakterisierung als länderübergreifend jedoch, wenn die unternehmerische Entscheidung in einem Staat getroffen und in nur einem anderen Staat umgesetzt wird.
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Für das deutsche Umsetzungsrecht, d.h. für § 1 Abs. 2 Satz 1 EBRG, nimmt die wohl herrschende Meinung an, dass der grenzübergreifende Charakter auch in die-
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1 Blanke, § 18 EBRG Rz. 17. 2 Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 25 ff. 3 DKKW/Däubler, § 18 EBRG Rz. 22; HWK/Giesen, EBRG Rz. 86; Erbs/Kohlhaas/Wache, § 18 EBRG Rz. 8. 4 HWK/Giesen, EBRG Rz. 28. 5 HWK/Giesen, EBRG Rz. 28. 6 HWK/Giesen, EBRG Rz. 67. 7 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 67.
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sem zuletzt genannten Fall gegeben ist.1 Von diesem Verständnis ging offenbar auch die Bundesregierung aus. In ihrer Begründung zum Entwurf des Zweiten EBRG-Änderungsgesetz heißt es, dass eine grenzübergreifende Angelegenheit vorliegt, „[…] wenn Entscheidungen der zentralen Leitung, die sich auf die Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen oder Unternehmensgruppen auswirken, außerhalb des Mitgliedstaats getroffen werden, in dem sie beschäftigt sind.“2 Für Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen mit Sitz der zentralen Leitung außerhalb der EU bzw. des EWR regelt § 2 Abs. 2 Satz 2 EBRG, dass der Europäische Betriebsrat nur in „[…] solchen Angelegenheiten zuständig ist, die sich auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten erstrecken, soweit kein größerer Geltungsbereich vereinbart wird.“ Dies wird im deutschen Schrifttum dahin interpretiert, dass es genügt, wenn sich die Angelegenheit, die außerhalb der EU/des EWR entschieden wird, auf nur einen Mitgliedstaat auswirkt.3 26
Ob ein so weitgehender Zuständigkeitsbereich des EBR vom Richtliniengeber beabsichtigt war, ist fraglich. Die EBR-Richtlinie ist insoweit mehrdeutig. Gemäß ErwGr. 11 EBR-RL sollen die Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten an die länderübergreifende Struktur der Unternehmen angepasst werden, damit es nicht zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer kommt, die von Entscheidungen ein und desselben Unternehmens bzw. ein und derselben Unternehmensgruppe betroffen sind. Wenn die unternehmerische Entscheidung in einem Staat getroffen und in nur einem anderen Staat umgesetzt wird, droht aber keine Ungleichbehandlung von Belegschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten i.S.d. ErwGr. 11 EBR-RL, da die Auswirkungen der Entscheidung nur die Belegschaft in einem Mitgliedstaat treffen. ErwGr. 12 EBR-RL könnte jedoch für die weite Zuständigkeit des EBR angeführt werden: Es sind geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die Arbeitnehmer gemeinschaftsweit operierender Unternehmen oder Unternehmensgruppen angemessen informiert und angehört werden, wenn Entscheidungen, die sich auf sie auswirken, außerhalb des Mitgliedstaats getroffen werden, in dem sie beschäftigt sind.
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ErwGr. 16 EBR-RL ist insoweit unklar. Danach sollten zur Feststellung des länderübergreifenden Charakters einer Angelegenheit sowohl der Umfang ihrer möglichen Auswirkungen als auch die betroffene Leitungs- und Vertretungsebene berücksichtigt werden. Dabei sollen Angelegenheiten als länderübergreifend zu qualifizieren sein, die das Unternehmen oder die Unternehmensgruppe insgesamt oder aber mindestens zwei Mitgliedstaaten betreffen. Des Weiteren bestimmt ErwGr. 16, dass dazu auch Angelegenheiten gehören, die ungeachtet der Zahl der betroffenen Mitgliedstaaten für die europäischen Arbeitnehmer hinsichtlich der Reichweite ihrer möglichen Auswirkungen von Belang sind oder die die Verlagerung von Tätigkeiten zwischen Mitgliedstaaten betreffen. Damit wollte der Richtliniengeber allerdings nur Angelegenheiten einbeziehen, die zunächst unmittelbar nur einen Mitgliedstaat betreffen, die aber aufgrund ihrer mittelbaren Auswirkungen einen grenzüberschreitenden Charakter erhalten.
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Nach ErwGr. 15 EBR-RL muss für die Arbeitnehmer und ihre Vertreter die Unterrichtung und Anhörung auf der je nach behandeltem Thema relevanten Leitungs- und 1 So HWK/Giesen, EBRG Rz. 67 mit weiteren Nachweisen zum Streitstand; vgl. auch Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1314). 2 BT-Drucks. 17/4808, 9. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 68, WHSSS/Hohenstatt, D Rz. 242; a.A. AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 6.
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Vertretungsebene gewährleistet sein, wozu Zuständigkeiten und Aktionsbereiche des EBR von denen einzelstaatlicher Vertretungsgremien abgegrenzt werden und sich auf länderübergreifende Angelegenheiten beschränken müssen. Dementsprechend regelt Art. 12 Abs. 1 EBR-RL, dass die jeweiligen Zuständigkeiten und Aktionsbereiche der nationalen Arbeitnehmervertretungen einerseits und des EBR andererseits beachtet werden müssen. Eine derartige Abgrenzung würde nicht erreicht, wenn der Europäische Betriebsrat auch für Angelegenheiten zuständig wäre, die sich nur auf die Beschäftigung in einem Mitgliedstaat auswirken. Die Tatsache, dass die Entscheidung darüber in einem anderen Mitgliedstaat gefällt wird, bewirkt nicht automatisch, dass die Zuständigkeiten der nationalen Arbeitnehmervertretung entfallen. Es käme daher bei der oben genannten weiten Auslegung des Zuständigkeitsbereichs des EBR zu einer deckungsgleichen Überschneidung der Aktionsbereiche bei Angelegenheiten, die in einem Mitgliedstaat entschieden und in nur einem anderen umgesetzt werden.
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Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe gegen eine weite Auslegung des Zuständigkeitsbereichs des EBR in dem Sinne, dass eine Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat getroffen und in einem anderen Mitgliedstaat umgesetzt wird, zuständigkeitsbegründend wirkt. Wäre dies der Fall, würde praktisch bei jedem länderübergreifend tätigen Unternehmen bzw. jeder länderübergreifend tätigen Unternehmensgruppe jede Entscheidung der zentralen Leitung, die sich lediglich auf einen Betrieb in einem anderen Mitgliedstaat bezieht, die Zuständigkeit des EBR begründen. Diese bestünde neben der Zuständigkeit der nationalen Arbeitnehmervertretung, so dass es stets zu einer Überschneidung der Zuständigkeiten käme. Überdies besteht in einer solchen Situation kein Bedürfnis nach einer grenzüberschreitenden Regelung im Rahmen einer grenzüberschreitenden Arbeitnehmerbeteiligung, da lediglich die Belegschaft in einem Mitgliedstaat betroffen ist. Es ist Aufgabe der nationalen Gesetzgeber, etwaige Informationsdefizite, die sich daraus ergeben können, dass Entscheidungen auf Gesellschafterebene bzw. der Ebene des herrschenden Unternehmens getroffen werden, durch entsprechende Regelungen im nationalen Betriebsverfassungsrecht auszugleichen. Schließlich spricht auch der Wortlaut der EBR-Richtlinie in ErwGr. 16 EBR-RL gegen eine derart weite Auslegung, da Mitgliedstaaten nur „betroffen“ sind, wenn sich eine Maßnahme in ihnen auswirkt.1 Die Tatsache, dass eine Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat getroffen wird, macht diesen nicht zu einem betroffenen Mitgliedstaat.
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b) Unternehmensgruppe Die EBR-Richtlinie versteht unter Unternehmensgruppen solche, die aus einem herrschenden und einem oder mehreren abhängigen Unternehmen bestehen; vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b EBR-RL. Dabei definiert Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 EBR-RL den Begriff des herrschenden Unternehmens als ein Unternehmen, das – z.B. aufgrund von Eigentum, finanzieller Beteiligung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln – einen beherrschenden Einfluss auf ein anderes, sog. abhängiges, Unternehmen ausüben kann.
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Die Fähigkeit, einen beherrschenden Einfluss auszuüben, gilt gem. Art. 3 Abs. 2 EBR-RL bis zum Beweis des Gegenteils als gegeben, wenn ein Unternehmen in Bezug auf ein anderes Unternehmen direkt oder indirekt
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(i) die Mehrheit des gezeichneten Kapitals dieses Unternehmens besitzt, oder 1 AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 6.
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(ii) über die Mehrheit der mit den Anteilen am anderen Unternehmen verbundenen Stimmrechte verfügt, oder (iii) mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des anderen Unternehmens bestellen kann. 33
Maßgebend für die Feststellung, ob ein Unternehmen ein herrschendes Unternehmen ist, ist das Recht des Mitgliedstaats, dem das Unternehmen unterliegt, Art. 3 Abs. 6 UAbs. 1 EBR-RL. Unterliegt das Unternehmen nicht dem Recht eines Mitgliedstaats, so ist das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem der Vertreter des Unternehmens oder, in Ermangelung eines solchen, die zentrale Leitung desjenigen Unternehmens innerhalb einer Unternehmensgruppe ansässig ist, das die höchste Arbeitnehmerzahl aufweist, Art. 3 Abs. 6 UAbs. 2 EBR-RL.
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Für den Fall, dass mehrere der in Art. 3 Abs. 2 EBR-RL genannten Vermutungstatbestände für unterschiedliche Unternehmen erfüllt sind, sieht Art. 3 Abs. 7 EBR-RL eine Kollisionsregel vor. Danach gilt das Unternehmen, welches das unter Art. 3 Abs. 2 Buchst. c EBR-RL genannte Kriterium erfüllt, als herrschendes Unternehmen, solange nicht der Beweis erbracht ist, dass ein anderes Unternehmen einen beherrschenden Einfluss ausüben kann. Nach der EBR-Richtlinie gibt damit der Beherrschungstatbestand „Organbestellungsrechte“ den Ausschlag.
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§ 6 Abs. 1 und 2 EBRG setzen diese Richtlinienvorgaben um und bestimmen, dass ein Unternehmen, das zu einer gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe gehört, als herrschendes Unternehmen gilt, wenn es unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss auf ein anderes Unternehmen derselben Gruppe (abhängiges Unternehmen) ausüben kann. Auf die Rechtsform des herrschenden und abhängigen Unternehmens kommt es dabei nicht an.1 Ein beherrschender Einfluss wird vermutet, wenn ein Unternehmen in Bezug auf ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar (i) mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des anderen Unternehmens bestellen kann oder (ii) über die Mehrheit der mit den Anteilen am anderen Unternehmen verbundenen Stimmrechte verfügt oder (iii) die Mehrheit des gezeichneten Kapitals dieses Unternehmens besitzt. Erfüllen mehrere Unternehmen eines der vorgenannten Kriterien, bestimmt sich das herrschende Unternehmen nach Maßgabe der in § 6 Abs. 2 Satz 1 EBRG bestimmten Rangfolge.
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Die Definition der europarechtlichen Unternehmensgruppe i.S.d. EBR-Richtlinie entspricht im Wesentlichen der Definition in § 17 Abs. 1 AktG,2 wonach für die Abhängigkeit eines Unternehmens genügt, dass „ […] ein anderes Unternehmen (herrschendes Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss [auf das abhängige Unternehmen] ausüben kann.“ Während der Konzernbegriff des § 18 Abs. 1 AktG die Zusammenfassung eines herrschenden und eines oder mehrerer abhängiger Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens voraussetzt, verzichtet der europäische Begriff der Unternehmensgruppe auf das Merkmal der einheitlichen Leitung; es genügt die Möglichkeit eines Unternehmens, Lei1 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 38; HWK/Giesen, EBRG Rz. 19. 2 Ebenso AKRR/Annuß, § 6 EBRG Rz. 5; vgl. auch EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 39, die von einem Unterfall eines verbundenen Unternehmens gem. § 15 AktG sprechen; a.A. bzw. etwas unpräzise HWK/Giesen, EBRG Rz. 20, der im Prinzip die Grundsätze des § 18 Abs. 1 AktG anwenden will.
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
Rz. 41 § 12
tungsmacht auszuüben, um als herrschendes Unternehmen qualifiziert zu werden.1 Unter Berufung auf die Richtliniendefinition in Art. 3 Abs. 1 EBR-RL („… oder sonstiger Bestimmungen“) ist in der deutschen Kommentarliteratur umstritten, ob die Möglichkeit beherrschenden Einflusses i.S.d. EBRG weiter als § 17 Abs. 1 AktG zu verstehen ist, so dass auch lediglich schuldrechtliche Vertragsbeziehungen, z.B. Lieferanten-, Kunden-, Lizenz-, Franchise- oder Darlehensverträge, die Einflussnahmemöglichkeit begründen könnten, oder ob es sich – nach u.E. vorzugswürdiger Ansicht – um eine institutionell abgesicherte, d.h. gesellschaftsrechtlich vermittelte Einwirkungsmöglichkeit handeln muss.2 Der Gleichordnungskonzern i.S.d. § 18 Abs. 2 AktG wird von der EBR-Richtlinie nicht erfasst, da es hier an der Abhängigkeit fehlt.3
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Dies hat auch das BAG in seinem Beschluss vom 30.3.20044 so gesehen und die Anwendung des EBRG auf Gleichordnungskonzerne i.S.d. § 18 Abs. 2 AktG abgelehnt.5
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Umstritten ist, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen bei Gemeinschaftsunternehmen bzw. Joint Ventures eine mehrfache Gruppenzugehörigkeit angenommen werden kann.
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Die Begründung des Gesetzesentwurfs zum EBRG in der Fassung vom 28.10.1996 lehnt eine Einbeziehung von Gemeinschaftsunternehmen in den europäischen Unternehmensgruppenbegriff ab, wenn die Muttergesellschaften im gleichen Umfang (50/50) beteiligt sind und auch im Übrigen kein beherrschender Einfluss festgestellt werden kann.6 Wenn sich die Gesellschafter durch einen Konsortialvertrag oder in sonstiger Weise zur gemeinsamen Ausübung von Leitungsmacht verbunden haben, wird allerdings im nationalen Mitbestimmungsrecht von der herrschenden Meinung eine mehrfache Konzernzugehörigkeit angenommen.7 In diesem Fall wird man auch von einer mehrfachen Gruppenzugehörigkeit i.S.d. § 6 Abs. 1 EBRG ausgehen müssen, weil die gemeinschaftliche Ausübung von Konzernleitungsmacht das Bestehen einer gemeinschaftlichen Beherrschungsmöglichkeit voraussetzt.8
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Nach teilweise vertretener Ansicht soll die Definition der Unternehmensgruppe in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, c EBR-RL auch Gemeinschaftsunternehmen einschließen, solange das Merkmal der Abhängigkeit des Gemeinschaftsunternehmens von den Muttergesellschaften erfüllt ist. Unter diesen Umständen solle dann jeder bei den herr-
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1 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 39; vgl. auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 19 f., der im Prinzip die Bedingungen des § 18 Abs. 1 AktG auch auf den europäischen Konzernbegriff anwenden will und gleichzeitig konstatiert, dass die Möglichkeit des beherrschenden Einflusses ausreicht. 2 Siehe ausführlich zum Streitstand AKRR/Annuß, § 6 EBRG Rz. 5 f., der sich im Ergebnis für das Erfordernis einer institutionell abgesicherten Einflussnahmemöglichkeit ausspricht. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 20; Blanke, § 6 EBRG Rz. 4 f.; Fitting, Übersicht EBRG Rz. 29; Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 47; MüArbR/Joost, Bd. 2, § 274 Rz. 16 f. 4 BAG v. 30.3.2004 – 1 ABR 61/01, NZA 2004, 863. 5 GK-BetrVG/Oetker, § 6 EBRG Rz. 2; Blanke, § 6 EBRG Rz. 5. 6 BT-Drucks. 13/4520, 20; so auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 19; vgl. auch EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 41 m.w.N. 7 UHH/Ulmer/Habersack, § 5 MitbestG Rz. 46; Bayer in MünchKomm/AktG, § 18 AktG Rz. 43. 8 A.A. AKRR/Annuß, § 6 EBRG Rz. 11, wonach paritätische Gemeinschaftsunternehmen lediglich als herrschende Unternehmen, nicht aber als abhängige Unternehmen in Betracht kommen sollen.
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§ 12
Rz. 42
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
schenden Unternehmen gebildete Europäische Betriebsrat das Gemeinschaftsunternehmen erfassen.1 Dies werde durch ErwGr. 10 EBR-RL gestützt, wonach „[i]m Rahmen des Funktionierens des Binnenmarkts […] ein Prozess der […] Joint Ventures und damit einhergehend eine länderübergreifende Strukturierung von Unternehmen und Unternehmensgruppen statt[findet].“ Diese Auffassung ist nach vorzugswürdiger Ansicht abzulehnen, da die Richtlinie von nur einer Gruppenzugehörigkeit ausgeht2 und eine doppelte Repräsentation von Arbeitnehmern durch verschiedene Europäische Betriebsräte zu einer Überrepräsentation und ggf. praktischen Problemen führen würde, wenn die Europäischen Betriebsräte in den Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In Betracht käme allenfalls eine differenzierende Lösung, wie sie für die Konzernzurechnung nach § 5 Abs. 1 MitbestG im nationalen Mitbestimmungsrecht vertreten wird. Danach erfolgt eine doppelte Zurechnung der Arbeitnehmer eines Gemeinschaftsunternehmens an beide Mutterunternehmen nur dann, wenn die einheitliche Leitung der beiden Muttergesellschaften – z.B. durch einen Konsortialvertrag – vertraglich abgesichert ist.3 c) Arbeitnehmervertreter 42
Arbeitnehmervertreter sind nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d EBR-RL die nach den Rechtsvorschriften und/oder den Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten vorgesehenen Vertreter der Arbeitnehmer.
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Im deutschen Umsetzungsrecht sind mit dem Begriff der Arbeitnehmervertreter die nach dem Betriebsverfassungsgesetz gebildeten Arbeitnehmervertretungsgremien gemeint.4 Dies folgt indirekt aus § 4 Satz 1 EBRG, wonach in „Betrieben und Unternehmen des Inlands […] sich die im Rahmen des § 3 zu berücksichtigenden Arbeitnehmerzahlen nach der Anzahl der im Durchschnitt während der letzten zwei Jahre beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 5 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes“ errechnen. Wenn sich für Zwecke des EBRG die im Inland erfassten Arbeitnehmer nach Betriebsverfassungsrecht richten, muss dies konsequenterweise gleichermaßen für ihre Vertreter gelten. Dies wird ferner durch § 36 Abs. 2 EBRG bestätigt. Diese Vorschrift differenziert zwischen örtlichen Arbeitnehmervertretern und Sprecherausschüssen.
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Der Arbeitnehmer-Begriff wird von der EBR-Richtlinie nicht definiert. Auch fehlt ein ausdrücklicher Verweis auf die nationalen Arbeitnehmerbegriffe. Im Ergebnis bedeutet das Schweigen der Richtlinie, dass sie keinen eigenen europäischen Arbeitnehmerbegriff zugrunde legt.5 Wer als Arbeitnehmer anzusehen ist, richtet sich dementsprechend nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats (vgl. Rz. 57 u. § 1 Rz. 107 ff.). Dies folgt indirekt auch aus Art. 2 Abs. 2 EBR-RL, wonach für die Zwecke der Richtlinie „die Beschäftigtenschwellen nach der entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten berechneten Zahl der im Durchschnitt während der letzten zwei Jahre beschäftigten Arbeitnehmer, einschließlich der Teil1 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 42; so auch DKKW/Kittner, § 6 EBRG Rz. 7 zum deutschen Umsetzungsrecht; a.A. HWK/Giesen, EBRG Rz. 20 unter Hinweis auf den Willen des deutschen Gesetzgebers, für jedes Unternehmen nur eine einzige Gruppenzugehörigkeit anzuerkennen. 2 So auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 20 in Bezug auf § 6 EBRG. 3 Vgl. UHH/Ulmer/Habersack, § 5 MitbestG Rz. 51; MüArbR/Wißmann, § 279 Rz. 16. 4 HWK/Giesen, EBRG Rz. 16. 5 Vgl. AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 4, der im Grundsatz eine europarechtlich autonome Begriffsbestimmung für vorzugswürdig zu halten scheint, jedoch die Umsetzung des deutschen Gesetzgebers im Sinne eines nationalen Arbeitnehmerbegriffs anerkennt.
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Rz. 47 § 12
Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
zeitbeschäftigten, festgelegt“ wird. Dieser Verweis ist sowohl als Verweis auf das jeweilige mitgliedstaatliche Recht in Bezug auf die Zählweise als auch in Bezug auf die Qualifizierung als Arbeitnehmer zu verstehen.1 Dabei ordnet die Richtlinie die vollständige Berücksichtigung von Teilzeitkräften – d.h. nach Köpfen – an.2 Dementsprechend regelt § 2 Abs. 4 EBRG, dass das EBRG „für die Berechnung der Anzahl der im Inland beschäftigten Arbeitnehmer (§ 4), […], auch dann [gilt], wenn die zentrale Leitung nicht im Inland liegt.“ Nach § 4 Satz 1 EBRG sind die in Betrieben des Inlands beschäftigten Arbeitnehmer für Zwecke des Beschäftigtenschwellenwerts solche i.S.d. § 5 Abs. 1 BetrVG. Teilzeitbeschäftigte sind dabei wie Vollzeitbeschäftigte zu zählen.3 Es kommt daher auf Kopfzahlen, nicht auf Vollzeitarbeitsplätze („FTE“) an. Für die Frage, inwieweit besondere Arbeitsverhältnisse (beispielsweise Arbeitnehmer in Mutterschutz, freigestellte Arbeitnehmer, Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist) mitzählen, gelten die Grundsätze des Betriebsverfassungsrechts für die dort geregelten Schwellenwerte. Leitende Angestellte i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG zählen im Inland nicht mit für die Berechnung der Schwellenwerte des § 3 EBRG und damit für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des EBRG. Leitende Angestellte können aber gem. § 11 Abs. 4 EBRG zu Mitgliedern des BVG bestellt werden. Der Begriff des Betriebs i.S.d. § 4 EBRG ist dabei nicht i.S.d. betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriffs zu verstehen; vielmehr ist der Begriff europäisch-autonom i.S.d. EBR-Richtlinie zu bestimmen4 (vgl. Rz. 10).
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d) Zentrale Leitung Zentrale Leitung bezeichnet gem. Art. 2 Abs. 1 Buchst. e EBR-RL die zentrale Unternehmensleitung eines gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder bei gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppen die zentrale Unternehmensleitung des herrschenden Unternehmens.
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Etwas abweichend definiert § 1 Abs. 6 EBRG die zentrale Leitung i.S.d. EBRG als „ein gemeinschaftsweit tätiges Unternehmen oder das herrschende Unternehmen einer gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe.“ Das EBRG versteht damit unter der zentralen Leitung den Rechtsträger des Unternehmens als natürliche oder juristische Person und nicht das für das Unternehmen tätige Organ.5 Nach anderer Ansicht soll das jeweilige nach der Unternehmensverfassung zuständige Organ die zentrale Leitung sein.6 Letzteres scheint zwar dem Wortlaut der Richtliniendefinition eher gerecht zu werden. Allerdings dürfte die Wortlautgrenze des § 1 Abs. 6 EBRG einer Interpretation in diesem Sinne entgegenstehen. Nach einer vermittelnden Ansicht soll der Begriff der zentralen Leitung im EBRG abhängig vom konkreten Normzusammenhang zu verstehen sein, d.h. teilweise i.S. eines Verweises auf die der Leitungsebene angehörenden Personen (so etwa im Fall des § 1 Abs. 5 Satz 1 EBRG betreffend den Gesprächspartner im Rahmen der Anhörung) und anderer Stelle i.S. eines Verweises auf den Rechtsträger (so etwa im Fall des § 39 Abs. 1 EBRG betreffend die Kostentragungspflicht).7 Letztlich handelt es
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1 2 3 4 5 6 7
HWK/Giesen, EBRG Rz. 17. Köck, FS Tomandl, S. 213 (220) . HWK/Giesen, EBRG Rz. 17. AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 7. HWK/Giesen, EBRG Rz. 21; AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 16. MüArbR/Joost, § 274 Rz. 28. AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 14, 16.
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§ 12
Rz. 48
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sich bei dieser Problematik um eine Frage der Aktiv- und Passivlegitimation und damit im Ergebnis um eine Frage der Durchsetzungsmodalitäten, die dem nationalen Recht überlassen sind. Nach der Konzeption des EBRG ist – wie auch sonst im Regelfall nach deutschem Recht – das Unternehmen aktiv- bzw. passivlegitimiert und damit zu verklagen.1 Daher dürfte die Abweichung in der Definition der zentralen Leitung gleichwohl richtlinienkonform sein. e) Unterrichtung und Anhörung 48
Der Begriff der Unterrichtung wird durch Art. 2 Abs. 1 Buchst. f EBR-RL definiert als „die Übermittlung von Informationen durch den Arbeitgeber an die Arbeitnehmervertreter, um ihnen Gelegenheit zur Kenntnisnahme und Prüfung der behandelten Frage zu geben; die Unterrichtung erfolgt dabei zu einem Zeitpunkt, in einer Weise und in einer inhaltlichen Ausgestaltung, die dem Zweck angemessen sind und es den Arbeitnehmervertretern ermöglichen, die möglichen Auswirkungen eingehend zu bewerten und gegebenenfalls Anhörungen mit dem zuständigen Organ des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe vorzubereiten“.
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§ 1 Abs. 4 EBRG enthält eine nahezu wortlautidentische Definition des Begriffs Unterrichtung. Das EBRG überlässt zwar die Erfüllung dieser Informationspflicht der zentralen Leitung oder einer anderen geeigneten Leitungsebene. Inhaltlich bedeutet dies allerdings keine relevante Abweichung von dem Richtlinienbegriff. In beiden Fällen handelt es sich um die Erfüllung von Arbeitgeberpflichten i.S.d. Richtliniendefinition.
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Anhörung bezeichnet gem. Art. 2 Abs. 1 Buchst. g EBR-RL „die Einrichtung eines Dialogs und den Meinungsaustausch zwischen den Arbeitnehmervertretern und der zentralen Leitung oder einer anderen, angemesseneren Leitungsebene zu einem Zeitpunkt, in einer Weise und in einer inhaltlichen Ausgestaltung, die es den Arbeitnehmervertretern auf der Grundlage der erhaltenen Informationen ermöglichen, unbeschadet der Zuständigkeiten der Unternehmensleitung innerhalb einer angemessenen Frist zu den vorgeschlagenen Maßnahmen, die Gegenstand der Anhörung sind, eine Stellungnahme abzugeben, die innerhalb des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe berücksichtigt werden kann“.
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§ 1 Abs. 5 EBRG übernimmt diese Definition (mit geringfügiger Abweichung) für das deutsche Umsetzungsrecht. Während die EBR-Richtlinie auf die Einrichtung eines Dialogs und den Meinungsaustausch „zwischen den Arbeitnehmervertretern und der zentralen Leitung oder einer anderen, angemesseneren Leitungsebene“ abstellt, ist nach § 1 Abs. 5 EBRG die zentrale Leitung oder einer andere „geeignete Leitungsebene“ das Gegenüber im Rahmen der Anhörung. Inhaltlich hat dieser Formulierungsunterschied jedoch keine Auswirkungen. Eine andere Leitungsebene ist nur dann geeignet, wenn sie i.S.d. EBR-Richtlinie unter Berücksichtigung der Gesamtumstände für Zwecke des Anhörungsverfahrens angemessener als die zentrale Leitung erscheint.2
1 HWK/Giesen, EBRG Rz. 21. 2 AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 14.
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Rz. 55 § 12
Beide Definitionen sind in dieser Ausführlichkeit erst mit der Neufassung der Richtlinie in die EBR-Richtlinie aufgenommen worden.1 Sie basieren auf dem gemäß ErwGr. 8 EBR-RL i.V.m. Art. 151 Satz 1 AEUV erklärten Ziel der EBR-Richtlinie, den sozialen Dialog zu fördern.
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Die Vorgaben über die Art und Weise der Unterrichtung und Anhörung erinnern an die Unterrichtungs- und Beratungspflicht gegenüber dem Wirtschaftsausschuss gem. § 106 BetrVG. Gleichwohl sind die Begriffe autonom auszulegen, da der europäische Richtliniengeber nicht an das Betriebsverfassungsrecht gebunden ist.2
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Bedeutsam für die ordnungsgemäße Erfüllung der Unterrichtungs- und Anhörungspflicht ist insbesondere der Zeitpunkt, der so gewählt sein muss, dass die zentrale Leitung die Meinung des EBR noch sinnvoll berücksichtigen und abwägen kann, bevor eine endgültige Umsetzungsentscheidung getroffen wird.3 Es muss ein echter Dialog in der Sache ermöglicht werden, nicht nur eine schweigende Entgegennahme von Kommentaren der Arbeitnehmerseite zu einem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung des Unternehmens bereits endgültig getroffen worden ist. Die zentrale Leitung darf aber ohne Verstoß gegen ihre Pflichten Entscheidungen unter dem Vorbehalt der ordnungsgemäßen Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerseite treffen. Dieses Vorgehen bietet sich insbesondere für börsennotierte Unternehmen bei ad hoc mitteilungspflichtigen Angelegenheiten an, deren Geheimhaltung trotz der Verschwiegenheitspflicht der EBR-Mitglieder (vgl. Rz. 146 ff.) faktisch nicht sichergestellt werden kann.
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Andererseits dürfen die Unterrichtungs- und Anhörungsrechte des EBR auch nicht die Entscheidungsprozesse des Unternehmens verlangsamen, wie ErwGr. 22 EBR-RL deutlich macht. Danach hat die Unterrichtung zu einem Zeitpunkt, in einer Weise und in einer inhaltlichen Ausgestaltung zu erfolgen, die dem Zweck angemessen sind, „[…] ohne den Entscheidungsprozess in den Unternehmen zu verlangsamen.“ Dies wird ferner durch die subsidiär anwendbaren Auffangregelungen in Abs. 3 UAbs. 3 und 4 Anh. I EBR-RL bestätigt, wonach Sitzungen zur Unterrichtung und Anhörung über außergewöhnliche Umstände unverzüglich auf der Grundlage eines Berichts der zentralen Leitung oder einer anderen geeigneten Leitungsebene innerhalb der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe zu erfolgen haben, zu dem der EBR „binnen einer angemessenen Frist“ seine Stellungnahme abgeben kann, während diese Sitzung die Rechte der zentralen Leitung unberührt lassen soll. Das bedeutet, dass sich ein EBR nach seiner Unterrichtung über die beratungspflichtige Angelegenheit nicht unangemessen lange Zeit nehmen darf, um hierzu eine Stellungnahme oder sonstige Äußerung abzugeben.4 Nach Ablauf einer angemessenen Frist darf die Unternehmensleitung die Maßnahme auch ohne vorherige Anhörung des EBR umsetzen, ohne dass darin ein Verstoß gegen die Anhörungspflichten der Richtlinie zu erblicken wäre.
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1 Der Begriff der Anhörung war bereits in der Richtlinie 94/45/EG definiert, jedoch ohne dabei die Anforderungen an die Modalitäten der Anhörung i.S.d. Neufassung der Richtlinie festzulegen. 2 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 14. 3 Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1314 f.). 4 Vgl. hierzu Barnard, EU Employment Law, S. 669, die darauf hinweist, dass es sich bei der subsidiären Auffangregelung um einen Kompromiss handelt, der darauf gerichtet ist, Verzögerungseffekte für das Unternehmen durch zahlreiche Konsultationssitzungen zu vermeiden.
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§ 12
Rz. 56
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
4. Anwendbares Recht 56
Die EBR-Richtlinie gilt wie alle EU-Richtlinien im Grundsatz nicht unmittelbar und bedarf der Umsetzung in nationales Recht (vgl. § 1 Rz. 113 ff.). Sie enthält keine umfassende Kollisionsregel zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf sämtliche Regelungsmaterien, sondern sieht über den Richtlinientext verteilt vereinzelte Bestimmungen über die jeweils maßgebliche Rechtsordnung vor.
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Im Ausgangspunkt richtet sich das anzuwendende Recht nach dem Sitz der zentralen Unternehmensleitung. Dies folgt aus der Definition der zentralen Leitung in Art. 2 Abs. 1 Buchst. e EBR-RL, welche auf den der Geschäftsführung angehörenden Personenkreis abstellt,1 sowie aus Art. 7 Abs. 1 EBR-RL und indirekt auch aus Art. 3 Abs. 6 UAbs. 2 EBR-RL. Nach diesem Recht richtet sich insbesondere das Verfahren zur Bildung des EBR, das Verhandlungsverfahren einschließlich der Bildung, Größe und Zusammensetzung des besonderen Verhandlungsgremiums, die Anforderungen an eine EBR-Vereinbarung sowie die subsidiär geltende Auffangregelung für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen.2 Daneben greifen für einzelne Regelungsbereiche ergänzend die Rechtsvorschriften der übrigen Mitgliedstaaten, in denen das Unternehmen bzw. die Unternehmensgruppe Arbeitnehmer beschäftigt, insbesondere was die Bestellung und Entsendung von Mitgliedern für das besondere Verhandlungsgremium aus den jeweiligen Mitgliedstaaten angeht (vgl. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a EBR-RL vgl. Rz. 75 ff.). Dies gilt entsprechend für die Wahl bzw. Benennung der Mitglieder eines EBR nach der subsidiär anwendbaren Auffangregelung (vgl. Abs. 1 Buchst. b UAbs. 2 Anh. I EBR-RL). Auch in diesem Fall werden die Vertreter der einzelnen Mitgliedstaaten nach dem Recht des Mitgliedstaats gewählt oder ernannt, in dem sie tätig sind. Ferner richten sich der Arbeitnehmerbegriff und die Ermittlung der Zahl der Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat (z.B. für die Feststellung der Schwellenwerte) sowie der Begriff der Arbeitnehmervertreter nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht (vgl. Art. 2 Abs. 2 EBR-RL).
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§ 2 Abs. 1 EBRG regelt den Geltungsbereich des EBRG und bestimmt, dass es „für gemeinschaftsweit tätige Unternehmen mit Sitz im Inland und für gemeinschaftsweit tätige Unternehmensgruppen mit Sitz des herrschenden Unternehmens im Inland“ gilt. Der Unternehmenssitz ist dabei nach dem tatsächlichen Sitz des Unternehmens zu bestimmen.3 Dies folgt aus der Richtliniendefinition der zentralen Leitung in Art. 2 Abs. 1 Buchst. e EBR-RL4 sowie aus Art. 7 Abs. 1 EBR-RL. Danach kommt es auf den Sitz der zentralen Unternehmensleitung, d.h. der Geschäftsführung, an (vgl. auch Rz. 57). Gemäß § 2 Abs. 4 EBRG gilt das EBRG ferner „[…] für die Berechnung der Anzahl der im Inland beschäftigten Arbeitnehmer (§ 4), den Auskunftsanspruch gegen im Inland ansässige Unternehmen der Unternehmensgruppe (§ 5 Abs. 2 und 3), die Bestimmung des herrschenden Unternehmens (§ 6), die Weiterleitung des Antrags (§ 9 Abs. 2 Satz 3), die gesamtschuldnerische Haftung des Arbeitgebers (§ 16 Abs. 2), die Bestellung der auf das Inland entfallenden Arbeitnehmervertreter (§§ 11, 23 Abs. 1 bis 5 und § 18 Abs. 2 i.V.m. § 23) und die für sie geltenden Schutzbestimmungen (§ 40) sowie für den Bericht gegenüber den örtlichen Arbeitnehmervertretungen im Inland (§ 36 Abs. 2) auch dann, wenn die zentrale Leitung nicht im Inland liegt.“
1 2 3 4
Vgl. auch AKRR/Annuß, § 1 EBRG Rz. 14. Vgl. Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (106, 110). AKRR/Annuß, § 2 EBRG Rz. 2; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 34. Vgl. AKRR/Annuß, § 2 EBRG Rz. 2, der diesen Schluss ferner aus Art. 4 Abs. 1 EBR-RL zieht.
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Rz. 62 § 12
Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
Auch das EBRG enthält damit keine vollständige und umfassende Kollisionsregel. Ob sich ein bestimmter Aspekt nach dem EBRG richtet oder ausländischem Umsetzungsrecht unterliegt, muss deshalb der jeweiligen Sachnorm und der Systematik entnommen werden. Beispielsweise ist die Frage, nach welchem Recht sich das Neuverhandlungsverfahren im Falle einer wesentlichen strukturellen Änderung richtet, nicht explizit geregelt. Aus der Regelungssystematik folgt jedoch, dass wiederum das EBR-Umsetzungsrecht des Sitzstaats des gemeinschaftsweit tätigen Unternehmens bzw. des herrschenden Unternehmens der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe maßgeblich ist.
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Im Falle von gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen oder Unternehmensgruppen, deren zentrale Leitung außerhalb der Mitgliedstaaten liegt, übernimmt gem. Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1, Abs. 3 EBR-RL ein gegebenenfalls zu benennender Vertreter innerhalb der Mitgliedstaaten („Europazentrale“) die Funktion der zentralen Unternehmensleitung für Zwecke des EBR-Rechts. In diesem Fall ist das nationale EBR-Umsetzungsrecht des Mitgliedstaats, in dem der Vertreter ansässig ist, „führend“. Wenn es keinen mitgliedstaatlichen Vertreter der zentralen Unternehmensleitung gibt, gilt gem. Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2, Abs. 3 EBR-RL die Leitung des Betriebs oder des zur Unternehmensgruppe gehörenden Unternehmens mit der höchsten Anzahl von Beschäftigten in einem Mitgliedstaat als zentrale Leitung (sog. fingierte zentrale Leitung, vgl. Art. 4 Abs. 4 EBR-RL). Der zentralen Leitung wird damit durch die Auswahl eines Vertreters eine Rechtswahlmöglichkeit und damit eine gewisse Gestaltungsmöglichkeit eingeräumt, die für die Praxis bedeutsam sein kann, da sich die nationalen Umsetzungsrechte im Detail durchaus unterscheiden. Darüber hinaus dürfte die zentrale Leitung damit die Möglichkeit haben, jederzeit einen anderen Vertreter zu benennen und hierdurch einen Wechsel des anwendbaren Rechts herbeizuführen.1
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Maßgebend für die Feststellung, ob ein Unternehmen einer gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe ein herrschendes Unternehmen ist, ist gem. Art. 3 Abs. 6 EBR-RL das Recht des Mitgliedstaats, dem das Unternehmen unterliegt. Unterliegt das Unternehmen nicht dem Recht eines Mitgliedstaats, so ist das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem der Vertreter des Unternehmens oder, in Ermangelung eines solchen, die zentrale Leitung desjenigen Unternehmens innerhalb einer Unternehmensgruppe ansässig ist, das die höchste Anzahl von Arbeitnehmern aufweist.
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§ 2 Abs. 2 EBRG weicht konzeptionell von Art. 4 Abs. 2 EBR-RL ab. § 2 Abs. 2 EBRG bestimmt für den Fall, dass die zentrale Leitung nicht in einem Mitgliedstaat liegt, die Anwendbarkeit des EBRG in folgender Abstufung: Besteht eine nachgeordnete Leitung für in Mitgliedstaaten liegende Betriebe oder Unternehmen, findet das EBRG Anwendung, wenn die nachgeordnete Leitung im Inland liegt. Gibt es keine nachgeordnete Leitung, findet das Gesetz Anwendung, wenn die zentrale Leitung einen Betrieb oder ein Unternehmen im Inland als ihren Vertreter benennt. Wird kein Vertreter benannt, findet das Gesetz Anwendung, wenn der Betrieb oder das Unternehmen im Inland liegt, in dem verglichen mit anderen in den Mitgliedstaaten liegenden Betrieben des Unternehmens oder Unternehmen der Unternehmensgruppe die meisten Arbeitnehmer beschäftigt sind. Die vorgenannten Stellen gelten gem. § 2 Abs. 2 Satz 4 EBRG als zentrale Leitung. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 EBRG ist die Benennung eines Vertreters ausgeschlossen, wenn es eine nachgeordnete Leitung in einem Mitgliedstaat gibt.
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1 WHSSS/Hohenstatt, D Rz. 254, in Bezug auf § 2 Abs. 2 Satz 2 EBRG.
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§ 12
Rz. 63
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
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Die EBR-Richtlinie erwähnt das Konzept einer „nachgeordneten Leitung“ nicht. Sie geht vielmehr alternativ von einem benannten Vertreter oder der Leitung des Betriebs oder des Unternehmens mit der höchsten Anzahl von Beschäftigten als fiktiver zentraler Leitung aus. Es könnten daher Zweifel an der Richtlinienkonformität des § 2 Abs. 2 EBRG angemeldet werden.
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Allerdings spricht die EBR-Richtlinie auch keine expliziten sachlichen Beschränkungen in Bezug auf die Ernennung eines Vertreters aus. Mit Blick auf die Ersatzfunktion des Vertreters für die in einem Drittstaat ansässige zentrale Leitung ist jedoch anzunehmen, dass der Vertreter Leitungsaufgaben und -entscheidungen tatsächlich wahrnehmen und ausüben können muss.1 Versteht man die nachgeordnete Leitung gem. § 2 Abs. 2 EBRG als Vertreter i.S.d. Art. 4 Abs. 2, Abs. 3 EBRRL, muss diese quasi als „geborener“ Vertreter der zentralen Leitung kraft ihrer Stellung als Europaleitung tatsächlich Leitungsaufgaben und -entscheidungen wahrnehmen und ausüben. Eine rein gesellschaftsrechtliche europäische Zwischenholding genügt für diese Zwecke nicht, wenn diese nicht auch tatsächliche Leitungsfunktionen i.S. eines europäischen zentralen Managements ausübt. Wird das Konzept der nachgeordneten Leitung richtlinienkonform i.S. eines Vertreters gem. Art. 4 Abs. 2, Abs. 3 EBR-RL interpretiert, muss es der im Drittstaat ansässigen zentralen Leitung – wenn mehrere Unternehmen bzw. Betriebe in Betracht kommen – unbenommen bleiben zu bestimmen, welche Leitung als Vertreter für Zwecke des EBRG gelten soll. Auf der Grundlage der vorgenannten Interpretation dürfte § 2 Abs. 2 EBRG trotz der konzeptionellen Abweichung von der Richtlinie als richtlinienkonform anzusehen sein.2 5. Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums als Voraussetzung für die Errichtung eines EBR
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Das Verfahren zur Bildung eines EBR (bzw. zur Schaffung eines alternativen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens) ist in Art. 5 EBR-RL geregelt. Voraussetzung für die Einrichtung eines EBR oder eines alternativen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens ist danach zunächst die Bildung eines sog. besonderen Verhandlungsgremiums (BVG).
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Das BVG hat gem. Art. 2 Abs. 1 Buchst. i EBR-RL die Aufgabe, mit der zentralen Leitung die Einsetzung eines EBR oder die Schaffung eines anderen Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer nach Art. 1 Abs. 2 EBR-RL auszuhandeln. a) Initiative der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite
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Eingeleitet wird das Verfahren zur Bildung des BVG gem. Art. 5 Abs. 1 EBR-RL entweder durch eine Initiative der zentralen Leitung oder einen schriftlichen Antrag von mindestens 100 Arbeitnehmern oder ihrer Vertreter aus mindestens zwei Betrieben oder Unternehmen in mindestens zwei verschiedenen Mitgliedstaaten. Es genügt also ein Antrag von insgesamt 100 Arbeitnehmern, die sich auf zwei Betriebe oder Unternehmen aus zwei verschiedenen Mitgliedstaaten verteilen (z.B. Antrag von 30 Arbeitnehmern eines Betriebs in Deutschland und 70 Arbeitnehmern eines Betriebs 1 A.A. AKRR/Annuß, § 2 EBRG Rz. 6, der für die Benennung eines Vertreters genügen lassen will, dass er als Ansprech- und Verhandlungspartner für die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen zur Verfügung steht. 2 So im Ergebnis auch Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 42.
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Rz. 74 § 12
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in Frankreich). Für die Schriftform dürfte die Unterschrift von 100 Arbeitnehmern auf verschiedenen Urkunden mit der Formulierung des Antrags ausreichen. Im Interesse der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie wäre es übertrieben zu verlangen, dass eine einzige Urkunde über die mitgliedstaatlichen Grenzen hinweg in den Betrieben/ Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten zur Unterschrift zirkulieren muss. Die Formulierung des Antrags muss auch nicht identisch sein, solange klar ist, dass die Anträge sich auf dasselbe Ziel – nämlich die Errichtung eines EBR oder eines anderen Verfahrens zur grenzüberschreitenden Unterrichtung und Anhörung für eine bestimmte Unternehmensgruppe bzw. ein bestimmtes Unternehmen – beziehen und sie in einem hinreichenden zeitlichen Zusammenhang gestellt werden. Die Arbeitnehmerzahlen aus mehreren Anträgen können dann addiert werden.1 Gemäß § 41 Abs. 6 Satz 2 EBRG kann das Antragsrecht auch von einem auf Grund einer Altvereinbarung bestehenden Arbeitnehmervertretungsgremium vor Auslaufen der entsprechenden Vereinbarung ausgeübt werden.
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Auch wenn die Voraussetzungen für die Einrichtung eines EBR vorliegen (d.h. insbesondere die Schwellenwerte erfüllt sind), besteht ohne eine entsprechende Initiative keine Pflicht zur Errichtung eines EBR. Wenn von keiner Seite eine Initiative zur Verhandlung über die Bildung eines EBR unternommen wird, kommt es auch nicht zur Einrichtung eines EBR kraft Gesetzes.
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Der Antrag gem. Art. 5 Abs. 1 EBR-RL bewirkt zugleich den Beginn der Drei-JahresFrist gem. Art. 7 Abs. 1 Spiegelstrich 3 EBR-RL, nach deren erfolglosem Ablauf das Verhandlungsverfahren spätestens endet und ein EBR gemäß den subsidiären Vorschriften des Anhang I EBR-RL (EBR kraft Gesetzes) zu errichten ist.2
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b) Bildung und Tätigkeit des besonderen Verhandlungsgremiums Im Falle einer entsprechenden Initiative der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite wird gem. Art. 5 Abs. 2 EBR-RL ein BVG eingesetzt.
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Aufgabe des BVG ist es gem. Art. 5 Abs. 3 EBR-RL, mit der zentralen Leitung in einer schriftlichen Vereinbarung den Tätigkeitsbereich, die Zusammensetzung, die Befugnisse und die Mandatsdauer des oder der EBR oder die Durchführungsmodalitäten eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer festzulegen. Dabei müssen die zentrale Leitung und das BVG nach Art. 6 Abs. 1 EBR-RL „im Geiste der Zusammenarbeit verhandeln, um zu einer Vereinbarung über die Modalitäten der Durchführung der in Art. 1 Abs. 1 EBR-RL vorgesehenen Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer zu gelangen.“
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Das BVG ist keine ständige Einrichtung. Mit dem Ende der Verhandlungen (durch Abschluss einer Vereinbarung, Scheitern der Verhandlungen oder infolge eines Nichtverhandlungs- oder Abbruchbeschlusses des BVG gem. Art. 5 Abs. 5 EBR-RL) erlischt das Gremium, da seine Tätigkeit beendet ist. Eines Auflösungsbeschlusses des BVG bedarf es insoweit nicht.3
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Die Größe des BVG richtet sich nach der Zahl der in den Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe. Pro Mitgliedstaat vermittelt jeder Anteil der in diesem Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer, der 10 % der Ge-
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1 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 40. 2 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 40. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 37.
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samtzahl der in allen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer entspricht, oder ein Bruchteil dieser Tranche Anspruch auf einen Sitz im BVG, Art. 5 Abs. 2 Buchst. b EBR-RL. Das bedeutet, dass zunächst auf jeden Mitgliedstaat, in dem Arbeitnehmer des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe beschäftigt sind, ein Sitz im BVG entfällt. Ein Betrieb i.S.d. Betriebsverfassungsrechts ist nicht erforderlich; es genügt, dass in einem Mitgliedstaat nur ein einziger Arbeitnehmer beschäftigt ist.1 Die Sitzzahl erhöht sich für jede volle 10 % der Gesamtbelegschaft in den Mitgliedstaaten um jeweils einen weiteren Sitz. 75
Die Wahl bzw. Bestellung der auf diese Weise ermittelten Zahl der BVG-Mitglieder je Mitgliedstaat erfolgt gemäß dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Umsetzungsrecht, Art. 5 Abs. 2 Buchst. a UAbs. 1 EBR-RL. Hier weisen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zur Umsetzung der EBR-Richtlinie zum Teil erhebliche Unterschiede auf.
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So werden die BVG-Mitglieder beispielsweise in Deutschland und Österreich durch die nationalen Betriebsräte gewählt bzw. bestellt. In Italien und Schweden sind regelmäßig die Gewerkschaften zuständig. Eine Urwahl der Arbeitnehmer ist in Großbritannien (es sei denn, es gibt ein sog. „consultative committee“, welches die Belegschaft in Großbritannien für Informations- und Konsultationszwecke repräsentiert), Finnland, Irland und Norwegen vorgesehen. In Belgien, den Niederlanden und Dänemark sind primär die Betriebsräte zuständig, jedoch finden in Dänemark ersatzweise alternative Bestellungsmechanismen Anwendung (etwa durch Vertreter zur Sicherung der Gesundheit und Arbeitssicherheit, Gewerkschaften oder mittels einer Urwahl, wenn es keine Arbeitnehmervertreter gibt). In Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland sind in erster Linie die Gewerkschaften für die Bestellung verantwortlich, wobei es auch hier unter bestimmten Umständen zu einer abweichenden Zuständigkeit kommt.2
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In diesem Zusammenhang sieht Art. 5 Abs. 2 Buchst. a, UAbs. 2 EBR-RL weiter vor, dass die Arbeitnehmer der Unternehmen und/oder Betriebe, in denen unabhängig vom Willen der Arbeitnehmer keine Arbeitnehmervertreter vorhanden sind, selbst Mitglieder für das BVG wählen oder benennen dürfen. Das bedeutet, dass bei Fehlen einer (nationalen) Arbeitnehmervertretung – weil die nationalen Voraussetzungen für deren Einrichtung nicht erfüllt sind – die Arbeitnehmer in dem betreffenden Mitgliedstaat ihre BVG-Mitglieder unmittelbar wählen (Urwahl) oder bestellen können müssen. Im Umkehrschluss verlangt die EBR-Richtlinie eine solche unmittelbare Wahl oder Bestellung jedoch nicht, wenn die Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat trotz Vorliegens der einschlägigen nationalen Voraussetzungen keine Arbeitnehmervertretung gebildet haben. In einem solchen Fall gestattet die EBR-Richtlinie, dass in diesem Mitgliedstaat keine BVG-Mitglieder gewählt werden. Fraglich ist, ob es richtlinienkonform ist, wenn das mitgliedstaatliche Recht für jeden Fall des Fehlens einer nationalen Arbeitnehmervertretung (d.h. auch, wenn eine solche aufgrund schlichter Untätigkeit der Arbeitnehmer fehlt) eine Urwahl vorsieht. Einerseits ließe sich argumentieren, dass der Richtliniengeber in einem solchen Fall keine Repräsentation der Belegschaft des betreffenden Mitgliedstaats im BVG vorsehen wollte mit der Folge, dass eine dennoch erfolgende Repräsentation den Einfluss der BVG-Mitglieder der anderen Mitgliedstaaten schmälern würde. Allerdings ist zweifelhaft, ob der Richtlini1 Vgl. Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1315). 2 Vgl. zu den nationalen Bestellungsverfahren Fulton (2013) Worker representation in Europe, abrufbar auf www.worker-participation.eu/National-Industrial-Relations; s. auch die Übersicht über die Bestellungsverfahren bei Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (111; 123 f. für Großbritannien).
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engeber tatsächlich eine derartige Regelungsabsicht hatte. Es spricht mehr dafür, dass in diesem Punkt Regelungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung besteht und die Mitgliedstaaten insofern auch über die Richtlinie hinausgehen können. Dies folgt aus dem systematischen Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 2 Buchst. a UAbs. 1 EBR-RL. Danach ist die Festlegung des Verfahrens zur Wahl oder Benennung der BVG-Mitglieder dem mitgliedstaatlichen Recht überlassen. Nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 EBRG werden die auf Deutschland entfallenden BVGMitglieder in gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen vom Gesamtbetriebsrat (§ 47 BetrVG) bestellt. Besteht nur ein Betriebsrat, so bestellt dieser die Mitglieder des BVG. In gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppen werden sie von der jeweils höchsten vorhandenen Arbeitnehmervertretung bestellt, d.h. in erster Linie durch den Konzernbetriebsrat, wenn es einen solchen nicht gibt, in einer gemeinsamen Sitzung der Gesamtbetriebsräte, und wenn es auch solche nicht, gibt, in einer gemeinsamen Sitzung der Einzelbetriebsräte. Besteht neben dem Konzernbetriebsrat noch ein in ihm nicht vertretener Gesamtbetriebsrat oder Betriebsrat, ist der Konzernbetriebsrat um deren Vorsitzende und um deren Stellvertreter zu erweitern; die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter gelten insoweit als Konzernbetriebsratsmitglieder. Dies gilt entsprechend für Gesamtbetriebsräte: Besteht neben den Gesamtbetriebsräten bzw. einem Gesamtbetriebsrat noch mindestens ein in ihnen bzw. in ihm nicht vertretener Betriebsrat, nehmen der Vorsitzende dieses Betriebsrats und dessen Stellvertreter an der Bestellungssitzung teil; der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter gelten dann wiederum insoweit als Gesamtbetriebsratsmitglieder. Die Bestellung in einer gemeinsamen Sitzung mehrerer Einzelbetriebsräte erfolgt ebenfalls in einer stimmgewichteten Abstimmung analog § 47 Abs. 7 BetrVG. Wenn nur ein Gesamtbetriebsrat oder nur ein Einzelbetriebsrat besteht, so hat dieser die Mitglieder des BVG zu bestellen. Theoretisch würden daher bei Bestehen nur eines inländischen Betriebsrats in einer gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe die auf das Inland entfallenden BVG-Mitglieder durch die Mitglieder dieses einzig vorhandenen Betriebsrats bestellt.
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Im Unterschied zu § 8 Abs. 7 SEBG, der die Wahl der BVG-Mitglieder für das Verhandlungsverfahren im Rahmen einer SE-Gründung regelt, sieht das EBRG keine Möglichkeit einer Urwahl vor,1 und zwar auch nicht für den Fall, dass unabhängig vom Willen der Arbeitnehmer kein Betriebsrat besteht, namentlich weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bildung eines Betriebsrats nach Betriebsverfassungsrecht nicht erfüllt sind.
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Allerdings verlangt Art. 5 Abs. 2 Buchst. a UAbs. 2 EBR-RL, dass die Mitgliedstaaten für Fälle, in denen unabhängig vom Willen der Arbeitnehmer keine Arbeitnehmervertreter vorhanden sind, die Arbeitnehmer selbst ihre Mitglieder für das BVG wählen oder benennen dürfen. Mit Blick auf diese Richtlinienvorgabe bestehen insoweit Zweifel an der Richtlinienkonformität des § 11 EBRG. In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 5 Abs. 2 Buchst. a UAbs. 3 EBR-RL zwar weiter, dass durch „Unterabs. 2 […] die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, die Schwellen für die Einrichtung eines Gremiums zur Vertretung der Arbeitnehmer vorsehen, nicht berührt“ werden. Es ist fraglich, wie diese Richtlinienaussage zu verstehen ist. Möglicherweise sollte hiermit ausgedrückt werden, dass eine Urwahlmöglichkeit nicht vorgesehen werden muss, wenn die nationalen
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1 Ebenso das österreichische Umsetzungsrecht, s. hierzu Köck, FS Tomandl, S. 213 (225).
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Europäisches Betriebsverfassungsrecht
Schwellen für die Bildung einer Arbeitnehmervertretung nicht erfüllt sind.1 Nach u.E. vorzugswürdiger Interpretation wollte der Richtliniengeber dies in Art. 5 Abs. 2 Buchst. a UAbs. 3 EBR-RL nicht zum Ausdruck bringen, sondern damit nur klarstellen, dass die EBR-Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht auferlegt, ihre nationalen Rechtsordnungen betreffend die Errichtung von nationalen Arbeitnehmervertretungsgremien im Hinblick auf die erforderlichen Schwellenwerte anzupassen. 81
Da das EBRG den Fall des Fehlens einer Arbeitnehmervertretung nicht regelt und insofern der Auslegung keine Wortlautgrenze gezogen ist, dürfte dementsprechend eine richtlinienkonforme ergänzende Auslegung möglich sein (vgl. § 1 Rz. 153 f.). Danach muss in Fällen, in denen im Inland kein Betriebsrat besteht, weil die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nicht erfüllt sind, für die im Inland beschäftigten Arbeitnehmer eine Urwahlmöglichkeit gegeben sein.2
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Wenn hingegen die betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerte für die Errichtung eines Betriebsrats erfüllt sind und die Arbeitnehmer gleichwohl keinen Betriebsrat gebildet haben, besteht keine Veranlassung, im Interesse der Richtlinienkonformität eine Urwahl zu ermöglichen, da Art. 5 Abs. 2 Buchst. a UAbs. 2 EBR-RL lediglich dann eine unmittelbare Wahl verlangt, wenn in Betrieben oder Unternehmen „unabhängig vom Willen der Arbeitnehmer“ keine Arbeitnehmervertreter vorhanden sind.
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Zu Mitgliedern des BVG können im Inland gem. § 11 Abs. 4 EBRG auch leitende Angestellte i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG bestellt werden. Eine Mindestrepräsentation der leitenden Angestellten oder von Gewerkschaftsvertretern im BVG ist jedoch nicht vorgesehen.
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Ferner regelt § 11 Abs. 5 EBRG, dass Frauen und Männer entsprechend ihrem zahlenmäßigen Verhältnis bestellt werden sollen. Eine Bestellung, die dieser Vorgabe widerspricht, ist jedoch sanktionslos, da es sich um eine bloße Sollvorschrift handelt.3
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Nachdem sich das BVG konstituiert hat, beruft die zentrale Leitung gem. Art. 5 Abs. 4 EBR-RL eine Sitzung mit dem BVG ein, um Verhandlungen über eine Vereinbarung zur Einrichtung eines EBR (bzw. der Schaffung eines alternativen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens) aufzunehmen. Wie viele Sitzungen die zentrale Leitung und das BVG benötigen, um zu einer Vereinbarung zu gelangen, bleibt den Parteien überlassen. Die Zusammensetzung des BVG und der Beginn der Verhandlungen sind der zentralen Leitung und den örtlichen Unternehmensleitungen sowie den zuständigen europäischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden mitzuteilen, Art. 5 Abs. 2 Buchst. c EBR-RL. Die Richtlinie regelt dabei nicht explizit, wem diese Mitteilung obliegt. Da jedoch auch die zentrale Leitung und die örtlichen Unternehmensleitungen zu informieren sind, dürfte die Mitteilung der Arbeitnehmerseite, d.h. dem BVG obliegen.
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Vor und nach jeder Sitzung mit der zentralen Leitung ist das BVG gem. Art. 5 Abs. 4, UAbs. 2 EBR-RL berechtigt zu tagen, ohne dass Vertreter der zentralen Leitung zugegen sind, und dabei die erforderlichen Kommunikationsmittel zu nutzen.
1 In diesem Sinne AKRR/Rudolph, § 11 EBRG Rz. 18. 2 So auch EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 98 mit dem Hinweis, dass eine Nachbesserung des EBRG mit Blick auf den geringen Anwendungsbereich nur formale Bedeutung hätte. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 44.
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
Rz. 89 § 12
Das BVG kann gem. Art. 5 Abs. 4 UAbs. 3 EBR-RL „bei den Verhandlungen Sachverständige seiner Wahl hinzuziehen, zu denen Vertreter der kompetenten [gemeint ist wohl der „zuständigen“1] anerkannten Gewerkschaftsorganisationen auf Gemeinschaftsebene gehören können, um sich von ihnen bei seiner Arbeit unterstützen zu lassen. Diese Sachverständigen und Gewerkschaftsvertreter können auf Wunsch des BVG den Verhandlungen in beratender Funktion beiwohnen.“
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c) Informationserhebungsanspruch Gemäß Art. 4 Abs. 4 EBR-RL ist jede Leitung eines zu einer gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe gehörenden Unternehmens sowie die zentrale Leitung oder die fingierte zentrale Leitung i.S.d. Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 EBR-RL des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe dafür verantwortlich, die für die Aufnahme von Verhandlungen gem. Art. 5 EBR-RL erforderlichen Informationen, insbesondere die Informationen in Bezug auf die Struktur des Unternehmens oder der Gruppe und die Belegschaft, zu erheben und an die Parteien, auf die die Richtlinie Anwendung findet, weiterzuleiten. Diese Verpflichtung betrifft insbesondere die Angaben zu der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c EBR-RL erwähnten Beschäftigtenzahl. Schuldner dieses sog. Informationserhebungsanspruchs ist gem. Art. 4 Abs. 4 EBR-RL jede Leitung eines zu der Unternehmensgruppe gehörenden Unternehmens sowie die zentrale Leitung und eine fingierte zentrale Leitung, d.h. nicht nur die zentrale Leitung, sondern jede Leitung eines gruppenangehörigen Unternehmens ist zur Auskunftserteilung verpflichtet. Die Arbeitnehmervertretungen können daher gegenüber ihrer Unternehmensleitung einen umfassenden Informationsanspruch geltend machen mit der Folge, dass diese die erforderlichen Informationen von den übrigen gruppenangehörigen Unternehmen beschaffen muss.2
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Gemäß § 5 Abs. 1 EBRG ist Gläubiger des Informationserhebungsanspruchs jede Arbeitnehmervertretung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 Buchst. d EBR-RL. Damit ist jede nach deutschem oder ausländischem mitgliedstaatlichen Recht gebildete Arbeitnehmervertretung anspruchsberechtigt.3 In Deutschland erstreckt sich dies auf den Konzern-, Gesamt- und Einzelbetriebsrat; der Sprecherausschuss ist keine Arbeitnehmervertretung i.S.d. EBRG.4 Gewerkschaftsvertreter oder gewerkschaftliche Vertrauensleute sind ebenfalls nicht erfasst.5 Schuldner des Auskunftsanspruchs gegenüber der inländischen oder ausländischen Arbeitnehmervertretung ist gem. § 5 Abs. 1 EBRG die zentrale Leitung. Daneben gewährt § 5 Abs. 2 EBRG einem inländischen Betriebsrat oder Gesamtbetriebsrat einen zusätzlichen Auskunftsanspruch gegenüber der örtlichen Betriebs- oder Unternehmensleitung (i.S. seines jeweiligen arbeitgeberseitigen Gegenübers6). Der Konzernbetriebsrat hingegen hat
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1 Die englische Fassung der EBR-Richtlinie spricht hier von „competent recognised Community-level trade union organisations“ (Hervorhebung diesseits). Die Übersetzung als „kompetente“ Gewerkschaftsorganisationen ist hier nicht ganz passend. Zutreffender wäre die Übersetzung mit „zuständigen“ gewesen. 2 Vgl. Barnard, EU Employment Law, S. 666, unter Hinweis auf EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 – ADS Anker, Slg. 2004, I-6803 – Rz. 56, 59 = NZA 2004, 1167. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 30; AKRR/Annuß, § 5 EBRG Rz. 5. 4 HWK/Giesen, EBRG Rz. 30. 5 HWK/Giesen, EBRG Rz. 30; AKRR/Annuß, § 5 EBRG Rz. 5; a.A. DKKW/Däubler, § 5 EBRG Rz. 2. 6 HWK/Giesen, EBRG Rz. 33.
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Europäisches Betriebsverfassungsrecht
keinen Auskunftsanspruch nach § 5 Abs. 2 EBRG gegen die örtliche Leitung.1 Die örtliche Leitung ist dann verpflichtet, die erforderlichen Informationen und Unterlagen bei der zentralen Leitung einzuholen. § 5 Abs. 3 EBRG statuiert eine Informationserhebungspflicht für alle im Inland ansässigen Unternehmen der Unternehmensgruppe und eine im Inland ansässige zentrale Leitung.2 Daraus folgt ein Informationserhebungsanspruch des den Arbeitnehmervertretungen – nach inländischem oder ausländischem Umsetzungsrecht – auskunftsverpflichteten (im Inland oder in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen3) Unternehmens gegenüber anderen Unternehmen der Unternehmensgruppe, wobei dieser Anspruch auch geltend gemacht werden kann, bevor eine Arbeitnehmervertretung ihrerseits ihren Anspruch aus § 5 Abs. 1 EBRG (bzw. nach einem anderen mitgliedstaatlichen Umsetzungsrecht) geltend macht.4 Die Arbeitnehmervertretungen haben jedoch gemäß dem Wortlaut und der Systematik des § 5 EBRG unmittelbar keinen Anspruch aus § 5 Abs. 3 EBRG gegenüber den anderen Unternehmen.5 Die entsprechende Verpflichtung der in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen zur Auskunftserteilung richtet sich nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Umsetzungsrecht.6 90
Inhalt der Verpflichtung der Arbeitgeberseite aus Art. 4 Abs. 4 EBR-RL ist die Erhebung und Übermittlung der für die Aufnahme von Verhandlungen zur Bildung eines EBR erforderlichen Informationen. Dies sind insbesondere die durchschnittliche Gesamtzahl der Arbeitnehmer und ihre Verteilung auf die Mitgliedstaaten, die einzelnen Unternehmen und Betriebe, aber auch die Struktur des Unternehmens bzw. der einbezogenen Unternehmensgruppe.7 Ferner dürfte sich der Informationserhebungsanspruch auch auf die Bezeichnung und Anschrift ausländischer Arbeitnehmervertretungen erstrecken.8
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Gemäß dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 EBR-RL greift die Informationspflicht an sich nur bei Anwendbarkeit der EBR-Richtlinie, d.h. bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Errichtung eines EBR. Der EuGH hat sich in diesem Zusammenhang bereits dreimal mit deutschen Fällen befasst, in denen es um den Auskunftsanspruch von betrieblichen Interessenvertretungen gegenüber dem Arbeitgeber im Zuge der Vorbereitung einer EBR-Gründung ging. Die Interessenvertretungen, die eine EBR-Gründung beabsichtigten, wollten klären lassen, ob die Voraussetzungen für eine Gründung nach dem EBRG gegeben sind. In allen Fällen9 verweigerte die zentrale Leitung die für die EBR-Gründung erforderlichen Auskünfte. Der EuGH entschied in allen drei Fällen, dass es „aus Gründen der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie […] unerlässlich [ist], den betroffenen Arbeitnehmern Zugang zu den Informationen zu verschaffen, auf Grund derer sie feststellen können, ob sie einen Anspruch auf Aufnahme von Verhandlungen zwischen der zentralen Leitung […] und ihren eigenen 1 2 3 4 5 6 7 8
AKRR/Annuß, § 5 EBRG Rz. 7. AKRR/Annuß, § 5 EBRG Rz. 9. Vgl. AKRR/Annuß, § 5 EBRG Rz. 8 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung. HWK/Giesen, EBRG Rz. 34. HWK/Giesen, EBRG Rz. 34. Vgl. AKRR/Annuß, § 5 EBRG Rz. 9. HWK/Giesen, EBRG Rz. 22. Rose, Die Rechtsprechung zum Auskunftsanspruch vor EBR-Gründung, Veröffentlichung der Hans-Böckler-Stiftung, November 2005, abrufbar unter: http://www.boeckler.de/pdf/ mbf_ebr_auskunftsanspruch_2005.pdf (Stand: 8.7.2014). 9 EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 – Bofrost, Slg. 2001, I-2579 = NZA 2001, 506; v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 – Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787 = NZA 2004, 160; v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 – ADS Anker, Slg. 2004, I-6803 = NZA 2004, 1167.
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Vertretern haben.“1 Diese Rechtsprechung wurde zwar nicht vollends in den Wortlaut der Neufassung des Art. 4 Abs. 4 EBR-RL inkorporiert. Allerdings wollte der Richtliniengeber dem EuGH auch keine Absage erteilen. Sie wird von der Richtlinie vielmehr vorausgesetzt, so dass zur Sicherung der praktischen Anwendbarkeit die Informationserhebungspflicht gem. Art. 4 Abs. 4 EBR-RL auch zur Prüfung der grundsätzlichen Anwendbarkeit der EBR-Richtlinie greift.2 In der Regel wird gerade in kritischen Fällen die Gewissheit über die (Un-)Anwendbarkeit der EBR-Richtlinie erst dann bestehen, wenn die Informationen erhoben und übermittelt wurden, d.h. der Anspruch faktisch erfüllt wurde. Daher ist Art. 4 Abs. 4 EBR-RL gemäß dem Effetutile-Grundsatz dahingehend auszulegen, dass auch in Fällen der Anwendungsungewissheit ein Auskunftsanspruch besteht. Nur so kann die praktische Wirksamkeit der Richtlinie gemäß dem Grundsatz des effet utile ermöglicht werden.3 Dafür spricht auch ErwGr. 25 EBR-RL, wonach die Verantwortung eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe bei der Übermittlung der zur Aufnahme von Verhandlungen erforderlichen Informationen derart festzulegen ist, dass die Arbeitnehmer in die Lage versetzt werden festzustellen, ob das Unternehmen oder die Unternehmensgruppe gemeinschaftsweit operiert, und die zur Abfassung eines Antrags auf Aufnahme von Verhandlungen nötigen Kontakte zu knüpfen. Das BAG hat den Informationsanspruch – bereits vor Neufassung der EBR-Richtlinie und des EBRG – entsprechend auch für den Fall anerkannt, dass die Anwendbarkeit des EBRG mit einer gewissen tatsächlichen Wahrscheinlichkeit gegeben ist.4
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Auch eine fingierte zentrale Leitung gem. Art. 4 Abs. 4 EBR-RL unterliegt in vollem Umfang der Informationserhebungspflicht. Damit setzt die Richtlinie die Rechtsprechung des EuGH aus den Entscheidungen Kühne & Nagel5 sowie ADS Anker6 um. Die Unternehmen hatten sich bis zur Entscheidung durch den EuGH darauf berufen, dass ihre Konzernmütter, die außerhalb des EU/EWR-Gebietes ansässig waren, keine Informationen an sie weitergäben, so dass auch sie selbst keine Auskünfte erteilen könnten.7
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Das BAG hat folgerichtig den Grundsatz aufgestellt, dass der Auskunftsanspruch nicht der Einwendung der Unmöglichkeit aus § 275 Abs. 2 BGB unterliege. Vielmehr könne sich die fingierte zentrale Leitung auch der Hilfe Dritter zur Erfüllung des Anspruchs bedienen. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung umgesetzt, indem er den Wortlaut des § 5 EBRG an Art. 4 Abs. 4 EBR-RL angepasst hat. Nunmehr handelt es sich nicht um eine Auskunfts-, sondern um eine Informationserhebungspflicht (vgl. § 5 Abs. 3 EBRG), die auch die fingierte zentrale Leitung trifft.8
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1 Vgl. hierzu Rose, Die Rechtsprechung zum Auskunftsanspruch vor EBR-Gründung, Veröffentlichung der Hans-Böckler-Stiftung, November 2005, abrufbar unter: www.boeckler.de/pdf/ mbf_ebr_auskunftsanspruch_2005.pdf (Stand: 8.7.2014). 2 HWK/Giesen, EBRG Rz. 35. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 35. 4 BAG v. 30.3.2004 – 1 ABR 61/01, NZA 2004, 863. 5 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 – Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787 = NZA 2004, 160; vgl. hierzu ausführlich Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 28 Rz. 84 ff. 6 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 – ADS Anker, Slg. 2004, I-6803 = NZA 2004, 1167. 7 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 – Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787 = NZA 2004, 160; nachfolgend dazu BAG 29.6.2004 – 1 ABR 32/99, NZA 2005, 118; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 – ADS Anker, Slg. 2004, I-6803; Giesen, RdA 2004, 307; Hanau/Steinmeyer/Wank/ Hanau, § 19 Rz. 52 f.; Thüsing, NZA-Beilage zu Heft 16/2003, 41. 8 Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 RL 2009/38/EG; vgl. auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 22.
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Rz. 95
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
Obgleich ein im EU/EWR-Ausland ansässiges herrschendes Unternehmen nicht den Verpflichtungen der EBR-Richtlinie bzw. der nationalen Umsetzungsgesetze unterfällt, besteht faktisch ein Zwang zur Auskunftserteilung auch für diese Gesellschaften, da die fingierte zentrale Leitung einer umfassenden Verantwortung unterliegt und im Rahmen ihrer Informationserhebungspflicht ggf. auch bei der nicht-europäischen Konzernmutter Informationen einholen muss, um ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen. Will das herrschende Unternehmen eine Pflichtverletzung durch und Sanktionen gegen seine Tochtergesellschaft vermeiden, muss sie daher die benötigten Informationen bereitstellen. 6. EBR kraft Vereinbarung
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Ein EBR bzw. ein anderes Verfahren zur grenzüberschreitenden Unterrichtung und Anhörung ist vorrangig von der zentralen Leitung des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe und dem arbeitnehmerseitig gebildeten BVG in einer Vereinbarung auszuhandeln. Die Parteien sind dabei gemäß dem Grundsatz der Gestaltungsfreiheit im Wesentlichen frei, wie sie die grenzüberschreitende Unterrichtung und Anhörung ausgestalten wollen.1 Sie können dabei der besonderen Situation und Struktur des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe Rechnung tragen. Allerdings müssen sie den Vorgaben des Art. 6 EBR-RL gerecht werden. a) Regelungsgegenstände der Vereinbarung
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Die EBR-Richtlinie macht Vorgaben hinsichtlich der Regelungsgegenstände der Vereinbarung. Eine EBR-Vereinbarung hat danach folgende Themen zu adressieren und regeln: – die von der Vereinbarung betroffenen Unternehmen der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe oder Betriebe des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens (Art. 6 Abs. 2 Buchst. a EBR-RL); – die Zusammensetzung des EBR, die Anzahl der Mitglieder, die Sitzverteilung, wobei soweit als möglich eine ausgewogene Vertretung der Arbeitnehmer nach Tätigkeit, Arbeitnehmerkategorien und Geschlecht zu berücksichtigen ist, und die Mandatsdauer (Art. 6 Abs. 2 Buchst. b EBR-RL); – die Befugnisse und das Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren des EBR sowie die Modalitäten für die Abstimmung zwischen der Unterrichtung und Anhörung des EBR und der einzelstaatlichen Arbeitnehmervertretungen gemäß den Grundsätzen des Art. 1 Abs. 3 EBR-RL (Art. 6 Abs. 2 Buchst. c EBR-RL); – der Ort, die Häufigkeit und die Dauer der Sitzungen des EBR (Art. 6 Abs. 2 Buchst. d EBR-RL); – gegebenenfalls die Zusammensetzung, die Modalitäten für die Bestellung, die Befugnisse und die Sitzungsmodalitäten des innerhalb des EBR eingesetzten engeren Ausschusses (Art. 6 Abs. 2 Buchst. e EBR-RL); – die für den EBR bereitzustellenden finanziellen und materiellen Mittel (Art. 6 Abs. 2 Buchst. f EBR-RL); – das Datum des Inkrafttretens der Vereinbarung und ihre Laufzeit, die Modalitäten für die Änderung oder Kündigung der Vereinbarung und gegebenenfalls die Fälle, in denen eine Neuaushandlung erfolgt, und das bei ihrer Neuaushandlung anzuwendende Verfahren, gegebenenfalls auch bei Änderungen der Struktur des gemein1 HWK/Giesen, EBRG Rz. 53.
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
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schaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe (Art. 6 Abs. 2 Buchst. g EBR-RL); – die Modalitäten für die Abstimmung zwischen der Unterrichtung und Anhörung des EBR und der einzelstaatlichen Arbeitnehmervertretungen (Art. 12 Abs. 2 EBR-RL). Daneben impliziert Art. 13 Satz 1 EBR-RL, dass eine Vereinbarung Anpassungsbestimmungen für den Fall einer wesentlichen Strukturänderung des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe enthalten kann, jedoch nicht zwingend enthalten muss. Zwar sieht ErwGr. 28 EBR-RL vor, dass die Vereinbarungen über die Einrichtung und Arbeitsweise der Europäischen Betriebsräte die Modalitäten für ihre Änderung, Kündigung oder gegebenenfalls Neuverhandlung enthalten „müssen“, „insbesondere für den Fall einer Änderung des Umfangs oder der Struktur“ des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe. Daraus wird man jedoch aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Art. 13 Satz 1 EBR-RL kein zwingendes Regelungserfordernis in Bezug auf strukturelle Änderungen ableiten können.
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Gemäß § 17 Satz 2 EBRG muss sich die Vereinbarung auf alle in den Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer erstrecken, in denen das Unternehmen oder die Unternehmensgruppe einen Betrieb hat. Dabei haben sich die Parteien nach § 17 Satz 3 EBRG darüber zu verständigen, ob die grenzübergreifende Unterrichtung und Anhörung durch die Errichtung eines oder mehrerer EBR oder durch ein anderes Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer erfolgen soll.
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Der deutsche Umsetzungsgesetzgeber hat die Vereinbarungsinhalte zur Errichtung eines EBR nahezu wortlautidentisch mit den Richtlinienvorgaben in § 18 Abs. 1 Satz 2 EBRG geregelt. Danach soll in der Vereinbarung insbesondere Folgendes geregelt werden:
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– die Bezeichnung der erfassten Betriebe und Unternehmen, einschließlich der außerhalb des Hoheitsgebietes der Mitgliedstaaten liegenden Niederlassungen, sofern diese in den Geltungsbereich einbezogen werden; – die Zusammensetzung des EBR, Anzahl der Mitglieder, Ersatzmitglieder, Sitzverteilung und Mandatsdauer; – die Aufgaben und Befugnisse des EBR sowie das Verfahren zu seiner Unterrichtung und Anhörung; dieses Verfahren kann auf die Beteiligungsrechte der nationalen Arbeitnehmervertretungen abgestimmt werden, soweit deren Rechte hierdurch nicht beeinträchtigt werden; – Ort, Häufigkeit und Dauer der Sitzungen; – die Einrichtung eines Ausschusses des EBR einschließlich seiner Zusammensetzung, der Bestellung seiner Mitglieder, seiner Befugnisse und Arbeitsweise; – die für den EBR zur Verfügung zu stellenden finanziellen und sachlichen Mittel; – eine Klausel zur Anpassung der Vereinbarung an Strukturänderungen, die Geltungsdauer der Vereinbarung und das bei ihrer Neuverhandlung, Änderung oder Kündigung anzuwendende Verfahren, einschließlich einer Übergangsregelung. Der vorgenannte Katalog an Vereinbarungsinhalten stellt jedoch lediglich eine SollVorschrift dar, während Art. 6 Abs. 2 EBR-RL keine Sollregelung statuiert, sondern von zwingenden Vereinbarungsinhalten ausgeht. Es bestehen daher Zweifel an der Richtlinienkonformität des § 18 Abs. 1 Satz 2 EBRG.1 Teilweise wird jedoch ver1 Schmidt, RdA-Beilage zu Heft 5/2001, 12; a.A. GK-BetrVG/Oetker, § 18 EBRG Rz. 2; Hanau/ Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 77, der jedoch § 18 EBRG als „Muss-Vorschrift“ auslegt.
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Rz. 102
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
treten, dass eine richtlinienkonforme Auslegung möglich sei, wonach die „wesentlichen“ in Art. 6 Abs. 2 EBR-RL festgelegten Punkte geregelt sein müssen. Bei offenen Punkten könne auf die subsidiären gesetzlichen Regelungen zurückgegriffen werden.1 Eine Unwirksamkeit bei Fehlen einzelner Regelungspunkte wird dabei nicht angenommen. Dem ist zuzustimmen. Einer anderen Auslegung steht die klare Wortlautgrenze der Sollregelung in § 18 Abs. 1 Satz 2 EBRG entgegen. 102
Die EBR-Richtlinie regelt nicht, welche Rechtsfolgen eine Vereinbarung nach sich zieht, die nicht sämtliche von der EBR-Richtlinie vorgesehenen Vereinbarungsinhalte enthält. Es ist den nationalen Umsetzungsrechtsordnungen überlassen, wie eine inhaltlich mangelhafte Vereinbarung zu behandeln ist (vgl. Rz. 141). In Betracht kommt insofern insbesondere, die relevanten Vereinbarungsmängel durch einen Rückgriff auf die subsidiär anwendbaren Auffangregelungen zu schließen. Die theoretisch ebenfalls denkbare Rechtsfolge einer Gesamtunwirksamkeit der Vereinbarung2 erscheint bei Fehlen einzelner Regelungspunkte übertrieben und unangemessen. Teilweise wird auch vertreten, dass nur eine vollständige Vereinbarung eine solche i.S.v. §§ 17, 18 EBRG darstelle und das BVG daher so lange weiter bestehe, bis die Vereinbarung entsprechend vervollständigt wurde oder bis wegen Fristablaufs gem. § 21 Abs. 1 EBRG ein EBR kraft Gesetzes zu errichten sei.3 b) Mitbestimmungsrechte als erweiterter Vereinbarungsinhalt?
103
Fraglich ist, ob im Rahmen einer EBR-Vereinbarung über die Unterrichtungs- und Anhörungsrechte hinaus auch Mitbestimmungsrechte i.S. eines Zustimmungserfordernisses bzw. Mitentscheidungsrechts für den EBR begründet werden könnten. Zum Teil wird vertreten, dass solche Vereinbarungen außerhalb des EBR-rechtlichen Regelungsrahmens stehen und sich ihre Zulässigkeit nach nationalem Recht richte.4
104
Nach deutschem Recht bestünde keine Möglichkeit, Mitbestimmungsrechte eines EBR (i.S. eines Zustimmungserfordernisses zu der geplanten unternehmerischen Maßnahme) kraft Vereinbarung zu statuieren, da dem BVG hierfür die Legitimation fehlt.5 Das BVG hat gem. § 8 Abs. 1 EBRG entsprechend der Richtliniendefinition in Art. 2 Abs. 1 Buchst. i EBR-RL lediglich die Aufgabe, die Einsetzung eines EBR oder die Schaffung eines anderen Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer auszuhandeln. Gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 EBR-RL werden die Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer so festgelegt und angewandt, dass ihre Wirksamkeit gewährleistet ist „und eine effiziente Beschlussfassung des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe ermöglicht wird“. Gegenstand der EBR-Richtlinie ist die grenzüberschreitende Unterrichtung und Anhörung in diesem Sinne. Daneben geht auch die Richtliniendefinition in Art. 2 Abs. 1 Buchst. g EBR-RL („unbeschadet der Zuständigkeit der Unternehmensleitung“) von einer alleinigen Entscheidungszuständigkeit der Unternehmensleitung aus. Die Schaffung eines Gremiums, welches darüber hinaus die Befugnis hätte, über die Durchführung einer seitens der Unternehmensleitung geplanten 1 So HWK/Giesen, EBRG Rz. 53, 55. 2 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 56 für das deutsche Umsetzungsrecht, der diese Rechtsfolge annimmt, wenn die Vereinbarung (z.B. aufgrund eines Verfahrensfehlers bei ihrem Abschluss) rechtswidrig ist. Das BVG solle dann weiter im Amt bleiben und eine neue Vereinbarung schließen können. 3 AKRR/Rupp, § 17 EBRG Rz. 17. 4 HWK/Giesen, EBRG Rz. 70; DKKW/Däubler, § 18 EBRG Rz. 13. 5 HWK/Giesen, EBRG Rz. 70; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 147.
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Maßnahme (mit) zu entscheiden, würde den sachlichen Anwendungsbereich der EBR-Richtlinie verlassen und die Rechtsmacht des BVG gem. § 8 Abs. 1 EBRG bzw. Art. 2 Abs. 1 Buchst. i i.V.m. Art. 1 Abs. 2 EBR-RL überschreiten.1 Die EBR-Vereinbarung selbst kann auch Fragen der Durchsetzung von Rechten aus der Vereinbarung regeln. Insbesondere könnte sie eine – ausdrückliche oder konkludente – Rechtsgrundlage für einen durch Leistungsklage durchsetzbaren Erfüllungsanspruch auf Unterrichtung und Anhörung beinhalten.2 Ein Anspruch auf Unterlassung von Maßnahmen, bezüglich derer ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren noch nicht stattgefunden hat oder abgeschlossen ist, besteht ohne eine ausdrückliche Regelung in der EBR-Vereinbarung nicht3, sofern nicht ausnahmsweise das anwendbare nationale Recht einen Unterlassungsanspruch gewährt, wie dies z.B. in Frankreich der Fall ist.4 Die Richtlinie selbst sieht nämlich keine Sanktionen vor, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten in Art. 11 Abs. 2 EBR-RL dazu, angemessene Maßnahmen zu treffen. Ein Unterlassungsanspruch ist insofern nicht die einzig mögliche und effektive Sanktion. Denkbar wäre etwa auch ein Bußgeld als Sanktion.
105
c) Vereinbarung zur Schaffung eines alternativen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens Die zentrale Leitung und das BVG können in schriftlicher Form den Beschluss fassen, anstelle eines EBR ein oder mehrere Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren einzurichten, Art. 6 Abs. 3 UAbs. 1 EBR-RL. Hierbei wird kein neues Arbeitnehmervertretungsgremium errichtet. Vielmehr agieren dabei die existierenden nationalen Arbeitnehmervertretungen als Unterrichtungs- und Anhörungsadressat.
106
In der Vereinbarung zur Etablierung eines solchen grenzüberschreitenden Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens ist dann festzulegen, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Zusammensetzung die (nationalen) Arbeitnehmervertreter das Recht haben, zu einem Meinungsaustausch über die ihnen übermittelten Informationen zusammenzutreten, Art. 6 Abs. 3 UAbs. 2 EBR-RL. Gemäß Art. 6 Abs. 3 UAbs. 3 EBR-RL erstreckt sich die Informationspflicht bei einem solchen alternativen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren insbesondere auf länderübergreifende Angelegenheiten, welche erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben. Dem Wortlaut nach bezieht sich dies nur auf die Unterrichtungspflicht. Allerdings dürfte Art. 6 Abs. 3 UAbs. 3 EBR-RL dahin teleologisch zu erweitern sein, dass auch ein entsprechendes Anhörungsrecht der Arbeitnehmervertreter besteht. Das alternative Verfahren tritt an die Stelle eines EBR. Es ist deshalb nicht ersichtlich, weshalb die Arbeitnehmer im Rahmen eines alternativen Verfahrens weniger Rechte haben sollten als im Fall der Errichtung eines EBR.5
107
Für Vereinbarungen, die ein alternatives Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren vorsehen, gelten die Inhaltsvorgaben des Art. 6 Abs. 2 Buchst. b (Zusammensetzung des EBR), Buchst. c (Befugnisse des EBR), Buchst. d (Ort, Häufigkeit und Dauer der Sitzungen des EBR), Buchst. e (Zusammensetzung, Bestellungsmodalitäten, Befugnisse und Sitzungsmodalitäten des engeren Ausschusses) und Buchst. f (finanzielle und materiellen Mittel des EBR) EBR-RL folglich nicht. Um ein effektives alternati-
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1 2 3 4
AKRR/Rupp, § 17 EBRG Rz. 19. HWK/Giesen, EBRG Rz. 71. Blanke, § 33 EBRG Rz. 24. Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 71 zum deutschen Umsetzungsrecht; LAG Köln v. 8.9.2011 – 13 Ta 267/11, AiB 2011, 126. 5 So auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 87.
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Rz. 109
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
ves Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren zu schaffen, ist allerdings davon auszugehen, dass auch eine solche Vereinbarung einen Mindestinhalt analog Art. 6 Abs. 2 EBR-RL aufweisen muss. Insbesondere die zu beteiligenden nationalen Arbeitnehmervertreter, die Modalitäten und Gegenstände des Verfahrens, die Kostentragung sowie die Bereitstellung finanzieller und sachlicher Mittel sollten daher geregelt sein.1 7. EBR kraft Gesetzes a) Voraussetzungen für die Bildung eines EBR kraft Gesetzes 109
Gemäß Art. 7 Abs. 1 EBR-RL finden die subsidiären Vorschriften, sog. Auffangregelungen, Anwendung, wenn (i) die zentrale Leitung und das BVG einen entsprechenden Beschluss fassen, (ii) die zentrale Leitung die Aufnahme von Verhandlungen binnen sechs Monaten nach dem ersten Antrag gem. Art. 5 Abs. 1 EBR-RL verweigert oder (iii) binnen drei Jahren nach dem entsprechenden Antrag keine Vereinbarung gem. Art. 6 EBR-RL zustande kommt und das BVG keinen Beschluss gem. Art. 5 Abs. 5 EBR-RL gefasst hat, keine Verhandlungen zu eröffnen oder bereits eröffnete Verhandlungen zu beenden.
110
Das EBRG setzt diese Vorgaben in § 21 Abs. 1 Satz 1, 2 im Einklang mit der Richtlinie um. § 21 Abs. 1 Satz 3 EBRG stellt ergänzend klar, dass die Regeln zum Eingreifen der gesetzlichen Auffanglösung auch dann gelten, wenn die Initiative zur Bildung eines EBR von der zentralen Leitung ausgeht. Art. 7 Abs. 1 EBR-RL setzt dies als selbstverständlich voraus.
111
Zu § 21 Abs. 1 Satz 1 EBRG wird z.T. die Ansicht vertreten, die beharrliche Weigerung der zentralen Leitung, die von § 5 Abs. 1 EBRG geforderten Informationen zur Verfügung zu stellen, stehe der Weigerung, Verhandlungen aufzunehmen gleich.2 Diese Ansicht widerspricht sowohl der Systematik der EBR-Richtlinie wie auch des EBRG, die dem BVG in Art. 4 Abs. 4 EBR-RL bzw. § 5 Abs. 1 EBRG für den Fall, dass sich die zentrale Leitung weigert, die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, einen klagbaren Auskunftsanspruch einräumen. Die gerichtliche Durchsetzung dieses Informationsanspruchs ist die in der Richtlinie und dem EBRG vorgesehene Reaktion auf eine Weigerung der zentralen Leitung, nicht das Eingreifen der gesetzlichen Auffangregelungen.3
112
Die Mehrzahl der EBR in der Praxis beruht auf einer Vereinbarungslösung. Der Auffangregelung kommt aber gleichwohl eine große Bedeutung zu, da sie als Auffangtatbestand die Verhandlungspositionen der Verhandlungsparteien determiniert. Vor dem Hintergrund der Auffangregelungen des Anhang I der EBR-Richtlinie verhandeln die Parteien ihre maßgeschneiderte EBR-Vereinbarung.4
113
In Art. 7 Abs. 1 EBR-RL nicht ausdrücklich vorgesehen, in der Sache aber unzweifelhaft ist, dass das BVG und die zentrale Leitung die Bildung eines EBR nach näherer Maßgabe der gesetzlichen Auffangregelungen vereinbaren können. Bei dem auf dieser Grundlage errichteten Gremium handelt es sich allerdings streng genommen nicht um einen EBR kraft Gesetzes, sondern um einen EBR kraft Vereinbarung, der lediglich in seiner näheren Ausgestaltung den gesetzlichen Auffangregelungen entspricht. 1 Vgl. insoweit zum deutschen Umsetzungsrecht in § 19 EBRG: HWK/Giesen, EBRG Rz. 87. 2 Blanke § 21 EBRG Rz. 7; Kunz, AiB 1997, 267; a.A. GK-BetrVG/Oetker, § 21 EBRG Rz. 7; EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 168. 3 EAS/Oetker/Schubert, B 8300 Rz. 168. 4 Vgl. Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (105).
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§ 12
Rz. 120
Dies gilt gleichermaßen für die deutsche Richtlinienumsetzung in § 21 Abs. 1 EBRG.1
114
Ein EBR kraft Gesetzes ist auch zu errichten, wenn nach einer strukturellen Änderung i.S.d. Art. 13 Abs. 1 EBR-RL, die zur Neuverhandlung verpflichtet, keine Einigung zustande kommt oder ein anderer Tatbestand aus Art. 7 Abs. 1 EBR-RL eingreift. Dies folgt aus der Verweisung auf Art. 5 EBR-RL in Art. 13 EBR-RL.
115
Im nationalen deutschen Umsetzungsrecht ergibt sich diese Rechtsfolge aus §§ 37 Abs. 4, 21 Abs. 1 EBRG.2
116
In allen Varianten setzt Art. 7 Abs. 1 EBR-RL für die Errichtung eines EBR kraft Gesetzes entweder eine Initiative der Arbeitnehmerseite oder der zentralen Leitung zur Errichtung eines EBR voraus. Ohne eine solche Initiative kann es nicht zur Bildung eines EBR kraft Gesetzes kommen. Dies gilt auch im Falle wesentlicher struktureller Änderungen.
117
b) Größe und Zusammensetzung des EBR kraft Gesetzes Der EBR kraft Gesetzes setzt sich gem. Abs. 1 Buchst. b Anh. I EBR-RL aus Arbeitnehmern des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe zusammen, die von den Arbeitnehmervertretern aus ihrer Mitte oder, in Ermangelung solcher Vertreter, von der Gesamtheit der Arbeitnehmer gewählt oder benannt werden. Personen, die nicht in einem Arbeitsverhältnis mit dem gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen oder einem Unternehmen der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe stehen (z.B. externe Gewerkschaftsvertreter), können nicht Mitglied eines EBR kraft Gesetzes sein. Gewählt oder benannt werden die Mitglieder des EBR kraft Gesetzes nach den Vorschriften des jeweils einschlägigen nationalen Rechts. Anders als bei den Mitgliedern des BVG sieht die EBR-Richtlinie für die Wahl der Mitglieder des EBR kraft Gesetzes bei Fehlen einer Arbeitnehmervertretung eine Urwahl vor, ohne dabei wie bei den BVG-Mitgliedern darauf abzustellen, aus welchen Gründen eine solche Arbeitnehmervertretung fehlt. D.h. auch bei Fehlen einer Arbeitnehmervertretung „abhängig vom Willen der Arbeitnehmer“, weil die Belegschaft eine solche trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nicht gewählt bzw. bestellt hat, soll nach dem Wortlaut der EBR-Richtlinie eine Urwahl ermöglicht werden.
118
Das EBRG setzt Abs. 1 Buchst. b Anh. I EBR-RL in §§ 22 Abs. 1, 23 um. Danach werden die auf das Inland entfallenden EBR-Mitglieder entsprechend der Wahl der auf das Inland entfallenden BVG-Mitglieder bestellt (vgl. Rz. 75 ff.).3
119
Die Vorgabe aus Abs. 1 Buchst. b Anh. I EBR-RL (deutsche Fassung), dass die Mitglieder des EBR kraft Gesetzes „aus der Mitte“ der bestehenden Arbeitnehmervertretungen zu wählen sind, hat in §§ 22 Abs. 1, 23 EBRG keinen Niederschlag gefunden. Sie dürfte jedoch auf einem Missverständnis im Rahmen der Übersetzung der Richtlinie beruhen. Die englische Fassung des Abs. 1 Buchst. b Anh. I EBR-RL bestimmt: „The European Works Council shall be composed of employees of the Community-scale undertaking or Community-scale group of undertakings elected or appointed from their number by the employees’ representatives or, in the absence thereof, by the entire body of employees.“ Die Satzstellung der Richtlini-
120
1 DKKW/Däubler, § 18 Rz. 4. 2 DKKW/Bachner, § 21 Rz. 3 ff.; GK-BetrVG/Oetker, § 37 Rz. 2; vgl. Fitting, Übersicht EBRG Rz. 100 ff. 3 Fitting, Übersicht EBRG Rz. 74; GK-BetrVG/Oetker, § 23 Rz. 3.
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Rz. 121
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enbestimmung in der englischen Fassung macht klar, dass sich die Vorgabe „from their number“ auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer des gemeinschaftsweit tätigen Unternehmens bzw. der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe bezieht und nicht auf die Arbeitnehmervertreter. 121
Auch eine Urwahl der Mitglieder des EBR kraft Gesetzes für den Fall, dass in den gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen bzw. der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe im Inland keine Arbeitnehmervertretung besteht, ist in § 23 EBRG nicht vorgesehen.1 Das Gesetz setzt vielmehr voraus, dass zumindest ein Betriebsrat besteht. Der Gesetzgeber des EBRG ging offenbar von einer Deminimis-Regelung aus, d.h. dass, wenn ein Betriebsrat nicht gebildet wurde, die Arbeitnehmer in Deutschland nicht im EBR kraft Gesetzes vertreten sein müssen. Hierbei bestehen Zweifel an der Richtlinienkonformität (vgl. zu der ähnlichen Frage betreffend die BVG-Mitglieder oben vgl. Rz. 79–81).2 Fehlt eine Arbeitnehmervertretung im Inland, haben die Arbeitnehmer im Inland in ergänzender richtlinienkonformer Auslegung die Möglichkeit, ihre EBR-Mitglieder durch unmittelbare Wahl zu ermitteln, da Abs. 1 Buchst. b Anh. I EBR-RL bestimmt, dass die EBR-Mitglieder „in Ermangelung solcher Vertreter von der Gesamtheit der Arbeitnehmer gewählt oder benannt werden“. 3 Dies gilt anders als bei der Wahl der BVG-Mitglieder nicht nur für die Fälle, „in denen unabhängig vom Willen der Arbeitnehmer keine Arbeitnehmervertreter vorhanden sind“ (vgl. Rz. 118).
122
Die Richtlinie würde auch eine Wahl leitender Angestellter i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG zulassen. § 23 Abs. 6 EBRG gestattet demgegenüber dem zuständigen Sprecherausschussgremium lediglich die Entsendung eines leitenden Angestellten, der mit Rederecht an den Sitzungen zur Unterrichtung und Anhörung des EBR kraft Gesetzes teilnehmen darf, aber selbst kein Mitglied des Gremiums ist. Die Entsendung ist zudem an die Bedingung geknüpft, dass dem EBR kraft Gesetzes mindestens fünf im Inland tätige Arbeitnehmer angehören.4
123
Gemäß Abs. 1 Buchst. c Anh. I EBR-RL werden die Mitglieder des EBR kraft Gesetzes entsprechend der Zahl der in jedem Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer gewählt oder bestellt, so dass ein Mitgliedstaat für jeden Anteil der in diesem Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer, der 10 % der Gesamtzahl der in allen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer entspricht, oder für einen Bruchteil dieser Tranche Anspruch auf einen Sitz hat. Einfacher lässt sich die Sitzverteilungsregel dahin fassen, dass auf jeden Mitgliedstaat, in dem Arbeitnehmer beschäftigt werden, mindestens ein Sitz entfällt und sich die Sitzzahl für jede volle 10 % aller in den Mitgliedstaaten tätigen Arbeitnehmer um einen weiteren Sitz erhöht.5 c) Zuständigkeiten und Rechte des EBR kraft Gesetzes
124
Die Zuständigkeiten des EBR kraft Gesetzes beschränken sich auf länderübergreifende Angelegenheiten i.S.d. Art. 1 Abs. 4 EBR-RL (vgl. Rz. 23 ff.). Dies ergibt sich aus der Verweisung auf Art. 1 Abs. 3 EBR-RL in Abs. 1 Buchst. a Anh. I EBR-RL. 1 Blanke, § 23 Rz. 1, der sich allerdings auf der Grundlage einer richtlinienkonformen Auslegung für die Möglichkeit einer Direktwahl ausspricht. 2 GK-BetrVG/Oetker, § 23 Rz. 3. 3 So auch AKRR/Kühn, § 23 EBRG Rz. 9 f. 4 DKKW/Bachner, § 23 Rz. 2; GK-BetrVG/Oetker, § 23 Rz. 8; Fitting, Übersicht EBRG Rz. 74; Blanke, § 23 Rz. 6; Küttner/Eisemann, Europäischer Betriebsrat Rz. 14. 5 Thüsing/Forst, NZA 2009, 408 (411).
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Rz. 130
Gemäß Abs. 2 Anh. I EBR-RL ist der EBR kraft Gesetzes befugt, einmal jährlich mit der zentralen Leitung zum Zwecke der Unterrichtung und Anhörung auf der Grundlage eines von der zentralen Leitung vorgelegten Berichts über die Entwicklung der Geschäftslage und die Perspektiven des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe zusammenzutreten.1 Die Unterrichtung (vgl. Rz. 48) bezieht sich dabei gem. Abs. 1 Buchst. a Satz 2 Anh. I EBR-RL insbesondere auf die Struktur, die wirtschaftliche und finanzielle Situation sowie die voraussichtliche Entwicklung der Geschäfts-, Produktionsund Absatzlage des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe.
125
Die jährliche Anhörung bezieht sich gem. Abs. 1 Buchst. a Satz 3 Anh. I EBR-RL insbesondere auf die Beschäftigungslage und ihre voraussichtliche Entwicklung, auf die Investitionen, auf grundlegende Änderungen der Organisation, auf die Einführung neuer Arbeits- und Fertigungsverfahren, auf Verlagerungen der Produktion, auf Fusionen, Verkleinerungen oder Schließungen von Unternehmen, Betrieben oder wichtigen Teilen dieser Einheiten und auf Massenentlassungen.
126
Der nationale Gesetzgeber hat diesen Katalog von Unterrichtungs- und Anhörungsgegenständen in § 29 EBRG nahezu wortlautgetreu übernommen.2 Nicht übernommen hat er die Vorgabe aus Abs. 2 Anh. I EBR-RL, dass die jährliche Unterrichtung auf der Grundlage eines von der zentralen Leitung vorgelegten Berichts erfolgt.3 Die zentrale Leitung hat jedoch gem. § 29 Abs. 1 EBRG dem Begriff der Unterrichtung aus § 1 Abs. 4 EBRG zufolge rechtzeitig4 die für eine ordnungsgemäße Unterrichtung und Anhörung erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Damit ist dem Anliegen des Abs. 2 Anh. I EBR-RL Genüge getan.
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Treten außergewöhnliche Umstände ein oder werden Entscheidungen getroffen, die erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben, insbesondere bei Verlegung oder Schließung von Unternehmen oder Betrieben oder bei Massenentlassungen, hat der engere Ausschuss oder, falls nicht vorhanden, der EBR kraft Gesetzes gem. Abs. 3 Satz 1 Anh. I EBR-RL das Recht, darüber unterrichtet zu werden.5 Er hat gem. Abs. 3 Satz 2 Anh. I EBR-RL ferner das Recht, auf Antrag mit der zentralen Leitung oder anderen geeigneten, mit Entscheidungsbefugnissen ausgestatteten Leitungsebenen innerhalb des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe zusammenzutreten, um unterrichtet und angehört zu werden. Wird das Unterrichtungs- bzw. Anhörungsrecht durch den engeren Ausschuss wahrgenommen, dürfen an der Sitzung mit dem engeren Ausschuss gem. Abs. 3 Satz 3 Anh. I EBR-RL auch die Mitglieder des EBR kraft Gesetzes teilnehmen, die von den Betrieben und/oder Unternehmen gewählt worden sind, welche unmittelbar von den infrage stehenden Umständen oder Entscheidungen betroffen sind.6
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Die nationale Umsetzungsvorschrift des § 30 EBRG entspricht diesen Vorgaben in vollem Umfang.
129
Gemäß Art. 11 Abs. 1 EBR-RL haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass die von den nationalen Umsetzungsgesetzen erfassten Unternehmen, Arbeitnehmer und
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Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 91; Blanke, § 32 Rz. 1. GK-BetrVG/Oetker, § 29 Rz. 1. GK-BetrVG/Oetker, § 29 Rz. 6. Vgl. zum Begriff „rechtzeitig“ DKKW/Däubler, § 29 Rz. 57; GK-BetrVG/Oetker, § 24 Rz. 10 ff. Vgl. zum nationalen Recht Fitting, Übersicht EBRG Rz. 90; GK-BetrVG/Oetker, § 30 Rz. 2 ff. Vgl. zum nationalen Recht Fitting, Übersicht EBRG Rz. 91.
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§ 12
Rz. 131
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Arbeitnehmervertreter den in der Richtlinie festgelegten Verpflichtungen tatsächlich nachkommen.1 Dies schließt gem. Art. 11 Abs. 2 EBR-RL geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung ein, insbesondere Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, mit deren Hilfe die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchgesetzt werden kann.2 131
Diesen Verpflichtungen ist der nationale Gesetzgeber mit dem Erlass der Straf- und Bußgeldvorschriften der §§ 42 ff. EBRG, die auch für den EBR kraft Gesetzes gelten, nachgekommen. Insbesondere der Bußgeldtatbestand des § 45 Abs. 1 Nr. 2 EBRG und der Straftatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 42 EBRG sind hier relevant. §§ 29, 30 EBRG vermitteln darüber hinaus einen Erfüllungsanspruch auf Unterrichtung und/oder Anhörung3, der vor den ArbG gem. § 2a Nr. 3b ArbGG im Beschlussverfahren geltend zu machen ist. Örtlich zuständig ist das Gericht, in dessen Bezirk sich die zentrale Leitung befindet, auf deren Ebene der EBR kraft Gesetzes eingerichtet ist; § 82 Abs. 2 Satz 1 ArbGG.
132
Ein Unterlassungsanspruch bis zum Abschluss des Unterrichtungs- bzw. Anhörungsverfahrens steht dem EBR kraft Gesetzes ebenso wenig zu wie dem EBR kraft Vereinbarung.4 Ein solcher Anspruch ist weder im EBRG, noch in der EBR-RL vorgesehen (vgl. Rz. 140 ff.). d) Amtszeit des EBR kraft Gesetzes
133
Der EBR kraft Gesetzes ist eine Dauereinrichtung ohne feste Amtszeit. Dies ist in der Richtlinie nicht ausdrücklich angesprochen, ergibt sich aber mittelbar aus dem Fehlen einer die Amtszeit begrenzenden Regelung.5 Die Amtszeit der Mitglieder des EBR kraft Gesetzes ergibt sich aus den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen, die deren jeweilige Wahl oder Benennung regeln.
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Die Amtszeit der für das Inland entsandten Mitglieder des EBR kraft Gesetzes hat der Gesetzgeber in § 32 Abs. 1 EBRG auf vier Jahre festgesetzt. Versäumen die nach § 23 Abs. 1 bis 3 EBRG für die Wahl der auf das Inland entfallenden Mitglieder im EBR kraft Gesetzes zuständigen Arbeitnehmervertretungsgremien es, rechtzeitig vor dem Ende der Amtszeit neue Mitglieder zu wählen, werden die betreffenden Sitze mit dem Ende der Amtszeit der amtierenden Mitglieder vakant bis die zuständigen Arbeitnehmervertretungen neue Mitglieder wählen.
135
Neben dem Ende der Amtszeit kann die Mitgliedschaft im EBR kraft Gesetzes auch aus anderen Gründen enden, z.B. durch Abberufung gem. § 23 Abs. 4 EBRG oder das Ausscheiden des Unternehmens, zu dem das Mitglied in einem Arbeitsverhältnis steht, aus der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe.6 Zum nationalen Recht wird z.T. die Ansicht vertreten, das Ende des Arbeitsverhältnisses bewirke für sich genommen noch nicht das Ende der Mitgliedschaft im EBR kraft Gesetzes.7 Das überzeugt weder nach der Richtlinie noch nach dem nationalen Umsetzungsrecht. Mitglied des EBR kraft Gesetzes können gem. § 22 Abs. 1 EBRG bzw. Abs. 1 Buchst. b Anh. I EBR-RL nur Arbeitnehmer des gemeinschafts1 2 3 4
DKKW/Däubler, § 29 Rz. 2. Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 99. HWK/Giesen, EBRG Rz. 110; Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 99. GK-BetrVG/Oetker, § 30 Rz. 13; Fitting, Übersicht EBRG Rz. 90a; AKRR/Kühn, § 30 EBRG Rz. 25; a.A. DKKW/Bachner, § 30 Rz. 6. 5 Fitting, Übersicht EBRG Rz. 76; GK-BetrVG/Oetker, § 32 Rz. 2. 6 DKKW/Däubler, § 32 Rz. 2; Fitting, Übersicht EBRG Rz. 76; GK-BetrVG/Oetker, § 32 Rz. 3. 7 HWK/Giesen, EBRG Rz. 102.
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Rz. 139
weit tätigen Unternehmens bzw. der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe sein. Das Ende des Arbeitsverhältnisses mit dem gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen bzw. mit einem gruppenangehörigen Unternehmen der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe führt daher zum Verlust einer Mitgliedschaftsvoraussetzung, nämlich der arbeitsvertraglichen Verbindung zu dem relevanten Unternehmen bzw. der relevanten Unternehmensgruppe.1 Infolgedessen endet nach zutreffender Ansicht die EBR-Mitgliedschaft automatisch, es sei denn, es wird ohne zeitliche Unterbrechung ein neues Arbeitsverhältnis in demselben Mitgliedstaat mit einem anderen gruppenangehörigen Unternehmen begründet. Nach richtigem Verständnis endet die Mitgliedschaft im EBR kraft Gesetzes ferner mit dem nicht nur vorübergehenden Wechsel des Arbeitnehmers in einen anderen Mitgliedstaat. Dies ergibt sich daraus, dass die Mitglieder des EBR kraft Gesetzes Repräsentanten der nationalen Belegschaft sind, aus der sie stammen.
136
Gemäß Abs. 1 Buchst. f Anh. I EBR-RL hat der EBR kraft Gesetzes vier Jahre nach seiner Einrichtung zu prüfen, ob eine Vereinbarung nach Art. 6 EBR-RL ausgehandelt werden soll.2 Fasst das Gremium einen entsprechenden Beschluss, so gelten die Art. 6, 7 EBR-RL entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des BVG der EBR kraft Gesetzes tritt. Kommt in den Verhandlungen keine Einigung mit der zentralen Leitung zustande oder greift ein anderer in Art. 7 Abs. 1 EBR-RL genannter Tatbestand, so bleibt der EBR kraft Gesetzes im Amt.3 Kommt demgegenüber eine Vereinbarung gem. Art. 6 EBR-RL zustande, endet die Amtszeit des EBR kraft Gesetzes.4 Zum Zeitpunkt, in dem die Amtszeit des EBR kraft Gesetzes endet, verhält sich die Richtlinie nicht.
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§ 33 Satz 3 EBRG bestimmt, dass das Amt des EBR kraft Gesetzes endet, wenn eine Vereinbarung nach § 17 EBRG geschlossen worden ist. Das dürfte allerdings nicht in dem Sinne zu verstehen sein, dass die Amtszeit des bestehenden EBR mit dem Abschluss der Vereinbarung endet. Das wäre schon deshalb unpraktikabel, weil dann eine zeitliche Lücke zwischen dem Ende der Amtszeit des EBR kraft Gesetzes und der Konstituierung eines EBR kraft Vereinbarung entstünde. Nach richtigem Verständnis bleibt der EBR kraft Gesetzes im Amt, bis der EBR kraft Vereinbarung konstituiert ist. Die Richtlinie ist mangels ausdrücklicher Regelung der Frage für dieses Verständnis offen.5
138
8. Gerichtliche Konflikte/Durchsetzung Gerichtliche Konflikte um die Bildung oder die Rechte eines EBR sind laut einer Untersuchung des European Industrial Relations Observatory (EIRO) aus dem Jahr 2004 selten. Die meisten Fälle seien bisher aus Frankreich und Deutschland gemeldet.6 Wie der EIRO-Report berichtet, stand in Frankreich die Frage „rechtzeitiger Unterrichtung und Anhörung“ des EBR im Mittelpunkt gerichtlicher Konflikte. In Deutschland ging es vorwiegend um Auskunftsansprüche, die zur Vorbereitung der 1 AKRR/Kühn, § 32 EBRG Rz. 6. 2 GK-BetrVG/Oetker, § 33 Rz. 8; Blanke, § 37 Rz. 1; vgl. zum nationalen Recht Fitting, Übersicht EBRG Rz. 80; Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 87. 3 GK-BetrVG/Oetker, § 33 Rz. 8; Blanke, § 37 Rz. 6. 4 GK-BetrVG/Oetker, § 33 Rz. 9; Fitting, Übersicht EBRG Rz. 80. 5 Blanke, § 37 Rz. 7; a.A. GK-BetrVG/Oetker, § 33 Rz. 9. 6 Siehe die Zusammenfassung der Hans-Böckler-Stiftung: http://www.boeckler.de/3980.htm (Stand: 8.7.2014).
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EBR-Gründung dienten. Nach dem Berichtszeitraum des EIRO-Reports hat die Rechtsprechung zu Themen Europäischer Betriebsräte zugenommen.1 140
Bedeutsam ist insbesondere die Frage, ob der Unterrichtungs- und Anhörungsanspruch eines EBR mittels eines Anspruchs auf Unterlassung der beabsichtigten unternehmerischen Maßnahmen durchgesetzt werden kann. Die EBR-Richtlinie verhält sich zu dieser Frage nicht.
141
Sie überlässt diese Regelungsmaterie vielmehr den nationalen Umsetzungsgesetzgebern. Gemäß Art. 11 Abs. 2 EBR-RL müssen die Mitgliedstaaten für den Fall der Nichteinhaltung der Richtlinie geeignete Maßnahmen vorsehen und insbesondere gewährleisten, dass Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren vorhanden sind, mit deren Hilfe die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchgesetzt werden kann. Ferner gibt Art. 16 Abs. 1 Satz 1 EBR-RL den Mitgliedstaaten auf, Vorkehrungen zu treffen, um jederzeit in der Lage zu sein, die der EBR-Richtlinie entsprechenden Ergebnisse zu gewährleisten.
142
Es ist daher – wie regelmäßig bei der Umsetzung von Richtlinien – den nationalen Rechtsordnungen überlassen, die Durchsetzung der Unterrichtungs- und Anhörungsrechte zu regeln.2 Hierbei sollten die entsprechenden innerstaatlichen Durchsetzungsmodalitäten der nationalen Arbeitnehmervertretungen den Maßstab bilden, d.h. die Verletzung von Richtlinienvorgaben sollte Rechtsfolgen analog dem nationalen Recht bei vergleichbaren Verstößen gegen nationales Recht nach sich ziehen.3 Die Rechtsfolgen im Falle einer Verletzung von Richtlinienvorgaben müssen dabei wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein (vgl. § 1 Rz. 122).
143
Die Frage, ob dem EBR ein Unterlassungsanspruch bezüglich der Durchführung der unternehmerisch geplanten Maßnahmen zusteht, solange das Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren nicht abgeschlossen ist, stellte sich insbesondere in Frankreich des häufigeren. In dem Fall Renault4 aus dem Jahr 1997 untersagten französische Gerichte dem Automobilhersteller, einen belgischen Standort vor Konsultation des EBR zu schließen. Ein Unterlassungsanspruch wurde anerkannt, obwohl er in der EBR-Vereinbarung bei Renault nicht vorgesehen war. Bei OTIS5 in Frankreich wurde 1998 ein zusätzliches Treffen des EBR mit der zentralen Leitung zwecks Unterrichtung gerichtlich durchgesetzt. Bei Panasonic6 in Frankreich schließlich gab die erste Instanz einer Unterlassungsklage wegen Verletzung der Unterrichtungs- und Anhörungspflicht statt. In der zweiten Instanz scheiterte der Anspruch an verfahrensrechtlichen Aspekten. Ein Unterlassungsanspruch des EBR wurde im Jahr 2008 auch vom höchsten französischen Gericht im Fall Gaz de France7 bestätigt.
1 Übersicht der Hans-Böckler-Stiftung: http://www.boeckler.de/3980.htm (Stand: 8.7.2014). 2 Vgl. Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (106): „[…] the nature of the enforcement mechanisms to ensure compliance with the Directive is also a matter for each Member State.“ 3 Vgl. auch Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (116). 4 Vgl. Kolvenbach/Kolvenbach, NZA 1997, 695; Lorenz/Zumfelde, RdA 1998, 168. 5 Vgl. Blanke, § 32 EBRG Rz. 39; Zimmer, AiB 2003, 620; Altmeyer, AiB 2007, 503. 6 Vgl. Blanke, § 32 EBRG Rz. 39; Zimmer, AiB 2003, 620; Altmeyer, AiB 2007, 503. 7 Cour de Cassation v. 16.1.2008, No. P 07-10.597 – Gaz de France.
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 146
Im Fall British Airways1 war die belgische Arbeitsgerichtsbarkeit in 2006 zu einem entsprechenden Ergebnis gekommen.2 In der deutschen Kommentarliteratur wird teilweise vertreten, dass sich ein Unterlassungsanspruch aus der Pflicht zur effektiven Umsetzung der EBR-Richtlinie ergebe.3 Dies überzeugt nicht. Maßstab sollten die Rechte und Sanktionen bei einer Verletzung von vergleichbaren Unterrichtungs- und Anhörungsrechten nationalen Vertretungsgremien sein (vgl. § 1 Rz. 121). Im deutschen Betriebsverfassungsrecht wären am ehesten die Beteiligungsrechte des Wirtschaftsausschusses gem. § 106 BetrVG mit denen eines nach dem EBRG gebildeten EBR vergleichbar. Einem Wirtschaftsausschuss steht nach überzeugender herrschender Ansicht kein Unterlassungsanspruch für den Fall einer Verletzung seiner Beteiligungsrechte zu.4 Zudem würde ein Unterlassungsanspruch die Beteiligungsrechte des EBR in die Nähe eines Mitbestimmungsrechts rücken. Ein solches würde jedoch den Gegenstand der EBR-Richtlinie und des EBRG überschreiten (vgl. Rz. 103 ff.). Mit ähnlicher Begründung hat auch das LAG Köln zu Recht einen Unterlassungsanspruch eines EBR wegen einer Verletzung von Unterrichtungs- und Anhörungsrechten im Zusammenhang mit einer Betriebsstilllegung abgelehnt.5 Die Anhörung des EBR war in dem zugrunde liegenden Fall zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem bereits mit der Umsetzung der Betriebsstilllegung begonnen worden war. Darüber hinaus waren dem EBR nicht die erforderlichen schriftlichen Unterlagen vorab zur Verfügung gestellt worden. Dennoch lehnte das LAG Köln einen Unterlassungsanspruch mit der Begründung ab, dass im EBRG eine dem § 23 Abs. 3 BetrVG entsprechende Regelung fehle. Es sehe lediglich ein Bußgeld nach § 45 EBRG vor. Eine Übertragung der für das Betriebsverfassungsgesetz entwickelten Grundsätze sei nicht möglich. Insbesondere fehle es an einer Vergleichbarkeit der Anhörungsund Unterrichtungsrechte eines EBR mit den Mitbestimmungsrechten gem. § 87 Abs. 1 BetrVG, bei denen ein Verstoß einen Unterlassungsanspruch zur Folge habe. Ähnliches gelte für die Übertragung der Grundsätze über einen Unterlassungsanspruch im Fall des § 111 BetrVG, sofern man diesen überhaupt anerkenne, denn ein solcher stehe im Zusammenhang mit dem Interessenausgleich, einem Mitwirkungsrecht, welches dem EBRG fremd sei.
144
Bei der Wahl geeigneter Rechtsfolgen, um die praktische Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten, haben die Mitgliedstaaten auch die Intentionen des Richtliniengebers zu berücksichtigen. Dabei ist insbesondere ErwGr. 22 EBR-RL zu beachten. Danach setzt die Unterrichtung i.S.d. Richtlinie voraus, dass sie „[…] zu einem Zeitpunkt, in einer Weise und in einer inhaltlichen Ausgestaltung erfolgt, die dem Zweck angemessen sind, ohne den Entscheidungsprozess in den Unternehmen zu verlangsamen.“ Diese Erwägung des Richtliniengebers spricht deutlich gegen einen Unterlassungsanspruch bei ungenügender oder nicht ausreichend frühzeitiger Unterrichtung.
145
9. Schutz vertraulicher Informationen Gemäß Art. 8 Abs. 1 EBR-RL müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass den Mitgliedern des BVG und des EBR (bzw. den Arbeitnehmervertretern im Rahmen eines an1 ArbG Brüssel v. 6.12.2006, No. 73/06 – British Airways. 2 Vgl. die Rechtsprechungsübersicht der Hans-Böckler-Stiftung zu den genannten Fällen unter: www.boeckler.de/3980.htm (Stand: 8.7.2014). 3 Schaub/Koch, § 256 Rz. 22; Blanke, § 33 EBRG Rz. 24; DKKW/Däubler, Vorbemerkung EBRG Rz. 23; a.A. u.a. GK-BetrVG/Oetker, § 30 EBRG Rz. 4 m.w.N. 4 ErfK/Kania, § 106 BetrVG Rz. 18; Maiß/Röhrborn, ArbAktuell 2011, 341. 5 LAG Köln v. 8.9.2011 – 13 Ta 267/11, AiB 2012, 126.
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§ 12
Rz. 147
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
deren Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens) sowie den sie gegebenenfalls unterstützenden Sachverständigen nicht gestattet wird, ihnen ausdrücklich als vertraulich mitgeteilte Informationen an Dritte weiterzugeben. 147
Nach § 35 Abs. 2 EBRG sind die Mitglieder und Ersatzmitglieder eines EBR verpflichtet, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen wegen ihrer Zugehörigkeit zum EBR bekannt geworden und von der zentralen Leitung ausdrücklich als geheimhaltungsbedürftig bezeichnet worden sind, nicht zu offenbaren und nicht zu verwerten. Dies gilt auch nach dem Ausscheiden aus dem EBR. Die Verpflichtung gilt nicht gegenüber Mitgliedern eines EBR und den örtlichen Arbeitnehmervertretern der Betriebe oder Unternehmen, wenn diese auf Grund einer Vereinbarung oder nach § 36 EBRG über den Inhalt der Unterrichtungen und die Ergebnisse der Anhörungen zu unterrichten sind, gegenüber den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat sowie Dolmetschern und Sachverständigen, die zur Unterstützung herangezogen werden. Die Vertraulichkeitspflicht wird gem. § 35 Abs. 3 EBRG auf die Mitglieder und Ersatzmitglieder des BVG, die Arbeitnehmervertreter im Rahmen eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung nach § 19 EBRG, die Sachverständigen und Dolmetscher sowie die örtlichen Arbeitnehmervertreter ausgedehnt. Auch die Ausnahmen von der Pflicht zur Vertraulichkeit gelten gem. § 35 Abs. 4 EBRG entsprechend für das BVG gegenüber Sachverständigen und Dolmetschern sowie für die Arbeitnehmervertreter im Rahmen eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung gegenüber Dolmetschern und Sachverständigen, die vereinbarungsgemäß zur Unterstützung herangezogen werden, und gegenüber örtlichen Arbeitnehmervertretern, sofern diese nach der Vereinbarung über die Inhalte der Unterrichtungen und die Ergebnisse der Anhörungen zu unterrichten sind.
148
Die Verwertung eines Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses entgegen § 35 Abs. 2 Satz 1 oder 2 EBRG, jeweils auch i.V.m. § 35 Abs. 3 EBRG stellt gem. § 43 EBRG einen Straftatbestand dar, der mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden kann.
149
Bedenklich erscheint, ob die gegenständliche Umsetzung in § 35 Abs. 2 EBRG der Richtlinienvorgabe in Art. 8 Abs. 1 EBR-RL hinreichend gerecht wird. Die Richtlinie erstreckt den Vertraulichkeitsschutz auf „ausdrücklich als vertraulich mitgeteilte Informationen“. Der gegenständliche Vertraulichkeitsschutz ist damit weiter gefasst als der enge Begriff der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nach deutschem Recht. Der Wortlaut der Richtlinie legt nahe, dass ein gewisses (wenn auch überprüfbares) Einschätzungsermessen der Unternehmensseite bei der Klassifizierung als geheimhaltungsbedürftige Informationen anzuerkennen ist. Vor diesem Hintergrund bestehen Zweifel an der Richtlinienkonformität des § 35 Abs. 2 EBRG.1
150
Die Verpflichtung zur Vertraulichkeit besteht gem. Art. 8 Abs. 1 UAbs. 3 EBR-RL unabhängig vom Aufenthaltsort der genannten Personen und selbst nach Ablauf ihres Mandats weiter. Der Vertraulichkeitsschutz ist daher nicht wie eine Wettbewerbsbeschränkung territorial – etwa auf die EU und den EWR – begrenzt.
151
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EBR-RL sieht jeder Mitgliedstaat vor, dass die in seinem Hoheitsgebiet ansässige zentrale Leitung in besonderen Fällen und unter den in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegten Bedingungen und Beschränkungen Informationen nicht weiterleiten muss, wenn diese die Arbeitsweise der betroffenen 1 A.A. AKRR/Rupp, § 35 EBRG Rz. 7, nach dessen Ansicht der deutsche Gesetzgeber das berechtigte Interesse an der Geheimhaltungspflicht in zulässigerweise konkretisiert hat.
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 158
Unternehmen nach objektiven Kriterien erheblich beeinträchtigen oder ihnen schaden könnten. Dabei gestattet es Art. 8 Abs. 2 UAbs. 2 EBR-RL den Mitgliedstaaten, diese Befreiung von einer vorherigen behördlichen oder gerichtlichen Genehmigung abhängig zu machen. Gemäß § 35 Abs. 1 EBRG besteht daher die Pflicht der zentralen Leitung, über die vereinbarten oder die gesetzlichen Unterrichtungsangelegenheiten zu unterrichten, nur soweit dadurch nicht Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe gefährdet werden. Eine behördliche oder gerichtliche Befreiung wird vom deutschen Umsetzungsgesetz nicht vorausgesetzt.
152
Die Umsetzung der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Schutz vertraulicher Informationen variiert. So wird beispielsweise im anglo-amerikanischen Rechtskreis der Schutz von Unternehmensinformationen tendenziell groß geschrieben. Dementsprechend erfolgte die Richtlinienumsetzung in Großbritannien und Irland weitgehend im Unternehmensinteresse, indem der Kreis geschützter vertraulicher Informationen weit gezogen wird bzw. dem Unternehmen ein gewisser Ermessensspielraum bezüglich der Klassifizierung als vertraulich zugestanden wird.1
153
Die deutsche Umsetzungsregelung hingegen beschränkt das Vertraulichkeitsprivileg auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Dies entspricht im Wesentlichen der Einschränkung der Unterrichtungspflicht gegenüber einem Wirtschaftsausschuss gem. § 106 Abs. 2 BetrVG2 (wobei es bei der zuletzt genannten Norm für eine Einschränkung der Unterrichtungspflicht zusätzlich auf eine konkrete Gefährdung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse ankommt)3.
154
Damit kommt dem anwendbaren Recht in Bezug auf den Schutz vertraulicher Informationen, welches sich nach dem Sitz der zentralen Leitung richtet4, in der Praxis eine große Bedeutung zu.
155
Die Regelungen zum Schutz vertraulicher Informationen gem. Art. 8 EBR-RL gelten sowohl für EBR-Mitglieder (und Arbeitnehmervertreter im Rahmen eines anderen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens) kraft Vereinbarung als auch für EBR-Mitglieder kraft Gesetzes.5
156
Gemäß Art. 11 Abs. 3 EBR-RL haben die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Art. 8 EBR-RL Verfahren vorzusehen, nach denen die Arbeitnehmervertreter auf dem Verwaltungs- oder Gerichtsweg Rechtsbehelfe einlegen können, wenn die zentrale Leitung sich auf die Vertraulichkeit der Informationen beruft oder diese – ebenfalls nach Art. 8 – nicht weiterleitet.
157
Ein solches Verfahren ist bei Sitz der zentralen Leitung im Inland von § 2a Abs. 1 Nr. 3b ArbGG erfasst.
158
1 Vgl. Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (118, 119). Siehe beispielsweise Regulation 24 (1) der The Transnational Information and Consultation of Employees Regulations 1999 (UK) geändert durch die Transnational Information and Consultation of Employees (Amendment) Regulations 2010, sowie section 15(3) der irischen Umsetzungsvorschriften durch den Transnational Information and Consultation of Employees Act 1996, geändert durch die European Communities (Transnational Information and Consultation of Employees Act 1996) (Amendment) Regulations 2011 (S.I. No. 380 of 2011). 2 HWK/Giesen, EBRG Rz. 64. 3 Fitting, § 106 BetrVG Rz. 44 f.; DKKW/Däubler, § 106 BetrVG Rz. 62. 4 Köck, FS Tomandl, S. 213 (235). 5 Vgl. Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1316) zur deutschen Umsetzung.
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§ 12
Rz. 159
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
10. Schutz der EBR- und BVG-Mitglieder und Recht auf Fortbildung 159
Die Mitglieder des BVG, eines EBR (kraft Vereinbarung oder kraft Gesetzes) und die Arbeitnehmervertreter im Rahmen eines anderen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens genießen gem. Art. 10 Abs. 3 EBR-RL den gleichen Schutz und gleichartige Sicherheiten wie die Arbeitnehmervertreter nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten des Landes, in dem sie beschäftigt sind. Dies gilt gem. Art. 10 Abs. 3, UAbs. 2 EBR-RL insbesondere für die Teilnahme an den Sitzungen des BVG, des EBR und an allen Sitzungen im Rahmen eines anderen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens sowie für die Lohn- und Gehaltsfortzahlung an die Mitglieder, die Beschäftigte des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe sind, für die Dauer ihrer durch die Wahrnehmung ihrer Aufgaben notwendigen Abwesenheit.
160
In diesem Zusammenhang regelt § 40 EBRG, dass für die im Inland beschäftigten EBR-Mitglieder (kraft Vereinbarung oder kraft Gesetzes), BVG-Mitglieder und Arbeitnehmervertreter im Rahmen eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung die §§ 37 Abs. 1–5, 78, 103 BetrVG sowie § 15 Abs. 1 und Abs. 3–5 KSchG entsprechend gelten.
161
Gemäß Art. 10 Abs. 4 EBR-RL müssen die BVG- und EBR-Mitglieder in dem Maße, wie dies zur Wahrnehmung ihrer Vertretungsaufgaben in einem internationalen Umfeld erforderlich ist, Schulungen erhalten, ohne dabei Lohn- bzw. Gehaltseinbußen zu erleiden.
162
Gemäß § 38 Abs. 1 EBRG kann der EBR (oder sein engerer Ausschuss) Mitglieder zur Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen bestimmen, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit des EBR erforderlich sind. Dieses Recht gilt gem. § 38 Abs. 2 EBRG entsprechend für das BVG und seine Mitglieder. Die Erforderlichkeit richtet sich nach § 37 Abs. 2 BetrVG und bezieht sich bei den BVG-Mitgliedern auf den eng begrenzten Zweck der Verhandlung einer Gründungsvereinbarung für einen EBR bzw. ein anderes Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren.1 Für Fortbildungen gilt gem. § 40 Abs. 1 Satz 2 EBRG § 37 Abs. 6 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 BetrVG entsprechend, d.h. sie können ohne Vergütungseinbußen an Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen.2 Nach der Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung sollen derartige Fortbildungen auch Sprachkurse beinhalten können.3
163
§ 38 EBRG gilt für alle – d.h. auch die nicht inländischen – EBR-Mitglieder, wenn auf das Unternehmen oder die Unternehmensgruppe das EBRG Anwendung findet.4 11. Koordination mit Unterrichtungs- bzw. Anhörungsrechten nationaler Arbeitnehmervertretungen
164
Gemäß Art. 12 Abs. 1 EBR-RL ist die Unterrichtung und Anhörung des EBR mit der Unterrichtung und Anhörung der einzelstaatlichen Vertretungsgremien der Arbeitnehmer abzustimmen, wobei die jeweiligen Zuständigkeiten und Aktionsbereiche sowie die Grundsätze des Art. 1 Abs. 3 EBR-RL zu beachten sind. Dabei geht Art. 12 Abs. 2 EBR-RL davon aus, dass die Modalitäten für diese Abstimmung zwischen 1 2 3 4
HWK/Giesen, EBRG Rz. 39. AKRR/Rupp, § 40 EBRG Rz. 16. BT-Drucks. 17/4808, 12. Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1316).
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 168
der Unterrichtung und Anhörung des EBR und der nationalen Arbeitnehmervertretungen in erster Linie durch eine Vereinbarung festgelegt werden. Nur für den Fall, dass solche Modalitäten nicht durch Vereinbarung geregelt sind, haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 12 Abs. 3 EBR-RL vorzusehen, dass der Prozess der Unterrichtung und Anhörung sowohl im EBR als auch in den einzelstaatlichen Vertretungsgremien der Arbeitnehmer stattfindet, wenn Entscheidungen geplant sind, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können.
165
In diesem Zusammenhang bestimmt § 1 Abs. 7 EBRG, dass die Unterrichtung und Anhörung des EBR spätestens gleichzeitig mit der der nationalen Arbeitnehmervertretungen durchzuführen ist. Bei systematischer Betrachtung dürfte diese Bestimmung stets Geltung beanspruchen, d.h. unabhängig von einer etwa abweichend lautenden EBR-Vereinbarung. Die Vereinbarkeit dieser Regelung mit Art. 12 Abs. 2 Satz 1 EBR-RL ist allerdings zweifelhaft, weil die Richtlinie von einer uneingeschränkten Vereinbarungsfreiheit hinsichtlich der Modalitäten für die Abstimmung mit den nationalen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren ausgeht, so dass auch eine andere Art der Koordination der Unterrichtungs- und Anhörungspflichten auf den beiden Ebenen möglich erscheint. Dafür und für die Priorität einer Vereinbarung spricht auch ErwGr. 37 EBR-RL. Danach bedarf es aus „Gründen der Effizienz, der Kohärenz und der Rechtssicherheit einer Abstimmung zwischen den Richtlinien und den im Gemeinschaftsrecht und im einzelstaatlichen Recht und/oder den einzelstaatlichen Gepflogenheiten festgelegten Ebenen der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer. Hierbei muss der Aushandlung dieser Abstimmungsmodalitäten innerhalb jedes Unternehmens oder jeder Unternehmensgruppe Priorität eingeräumt werden. Fehlt eine entsprechende Vereinbarung und sind Entscheidungen geplant, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können, so muss der Prozess gleichzeitig auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene so durchgeführt werden, dass die jeweiligen Zuständigkeiten und Aktionsbereiche der Vertretungsgremien der Arbeitnehmer beachtet werden.“1
166
12. Anpassungspflicht bei wesentlichen Strukturänderungen Mit der Neufassung der EBR-Richtlinie wurde in Art. 13 EBR-RL eine Anpassungspflicht im Falle von Strukturänderungen eingeführt. Wenn sich die Struktur des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe wesentlich ändert und entsprechende Bestimmungen in den geltenden Vereinbarungen fehlen oder Konflikte zwischen den Bestimmungen von zwei oder mehr geltenden Vereinbarungen bestehen, hat die zentrale Leitung gem. Art. 13 EBR-RL von sich aus oder auf schriftlichen Antrag von mindestens 100 Arbeitnehmern oder ihrer Vertreter in mindestens zwei Unternehmen oder Betrieben in mindestens zwei verschiedenen Mitgliedstaaten die Verhandlungen gem. Art. 5 EBR-RL, d.h. Neuverhandlungen über eine EBR-Vereinbarung, aufzunehmen.
167
Der Begriff der wesentlichen Strukturänderung wird durch die EBR-Richtlinie nicht definiert. ErwGr. 40 EBR-RL nennt als Beispiele „Fusion, Übernahme oder Spaltung“. ErwGr. 28 EBR-RL stellt den Fall einer „Änderung des Umfangs“ des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe einer „Änderung der Struktur“ des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe gegenüber.2 Daraus kann gefolgert werden, dass das bloße
168
1 Hervorhebungen diesseits. 2 Franzen, EuZA 2010, 180 (195).
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§ 12
Rz. 169
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
organische Wachstum eines Unternehmens bzw. einer Unternehmensgruppe keine Strukturänderung darstellt.1 169
Die deutsche Umsetzung beinhaltet in § 37 Abs. 1 Satz 2 EBRG eine Konkretisierung anhand von Beispielen. Danach gelten als wesentliche Strukturänderungen insbesondere – Zusammenschluss von Unternehmen oder Unternehmensgruppen, – Spaltung von Unternehmen oder der Unternehmensgruppe, – Verlegung von Unternehmen oder der Unternehmensgruppe in einen anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat oder Stilllegung von Unternehmen oder der Unternehmensgruppe, – Verlegung oder Stilllegung von Betrieben, soweit sie Auswirkungen auf die Zusammensetzung des EBR haben können.
170
Nach richtiger Ansicht ist der Begriff der strukturellen Änderung eng auszulegen.2 Zwar nennt ErwGr. 40 EBR-RL als Beispielsfälle eine Fusion, Übernahme oder Spaltung. Allerdings folgt hieraus nicht, dass diese Fälle zwangsläufig und in jedem Fall eine wesentliche Strukturänderung begründen.3 Vielmehr ist der Erwägungsgrund in dem Sinne zu verstehen, dass die genannten Umwandlungsfälle in der Regel, aber nicht ausnahmslos eine wesentliche Strukturänderung darstellen. Der Richtliniengeber wollte sicher nicht eine Neuverhandlung für den Fall anordnen, dass in einer Unternehmensgruppe zwei arbeitnehmerlose Gesellschaften verschmolzen werden. Im Ergebnis sollte der Begriff der wesentlichen Strukturänderung eng und im Lichte des Sinn und Zwecks der Richtlinie interpretiert werden. Im Interesse einer effektiven und beständigen Vertretung der Arbeitnehmer ist davon auszugehen, dass nur solche Änderungen in der Struktur des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe, die eine grundlegende Veränderung gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen bei der Bildung des EBR bewirken, eine Neuverhandlungspflicht auslösen. Eine solche Änderung muss sich zumindest auf die Zusammensetzung des EBR auswirken. Dies allein genügt jedoch nicht. Vielmehr muss die Zusammensetzung des EBR derart berührt werden, dass an dem bestehenden EBR bzw. einer bestehenden EBR-Vereinbarung nicht sinnvoll festgehalten werden kann. Dies dürfte beispielsweise dann der Fall sein, wenn mehr als die Hälfte der Zahl der bestehenden Mitglieder des EBR ersetzt oder hinzugewählt werden oder wegfallen müsste.
171
Folgt man dieser engen Interpretation der Richtlinie, so sind die Beispielsfälle in § 37 Abs. 1 Nr. 1–3 EBRG richtlinienkonform restriktiv auszulegen und nicht 1 Franzen, EuZA 2010, 180 (195); a.A. Thüsing/Forst, NZA 2009, 409 (411). 2 Ebenso AKRR/Rudolph, § 37 EBRG Rz. 7 ff.; abweichend zum nationalen Recht: Hayen, DGBBundesvorstand, Neufassung der Euro-Betriebsräte-Richtlinie, Ausgewählte Aspekte ihrer Auslegung und nationalen Umsetzung, S. 10 (abrufbar unter: www.worker-participation.eu/Euro pean-Works-Councils/Recast-Directive/Further-Resources, Stand: 11.7.2014), der alle Vorgänge nach dem deutschen UmwG sowie die Änderung des Umfangs des Unternehmens/der Unternehmensgruppe, namentlich auch durch den bloßen Erwerb von Mehrheitsbeteiligungen an dem und durch das Unternehmen als strukturelle Änderung erfassen will. 3 Im Zusammenhang mit dem nationalen Umsetzungsrecht wird teilweise ein Vergleich mit § 18 Abs. 3 SEBG gezogen, vgl. Franzen, EuZA 2010, 180 (195), der dabei jedoch darauf hinweist, dass die strukturelle Änderung i.S.d. EBR-Richtlinie eine wesentliche sein muss, während die strukturelle Änderung bei § 18 Abs. 3 SEBG geeignet sein muss, Beteiligungsrechte zu mindern. Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1316) gehen davon aus, dass § 37 EBRG inhaltlich anders zu verstehen sei als § 18 Abs. 3 SEBG.
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 174
i.S.v. zwingenden Regelbeispielen zu verstehen, die stets eine wesentliche Strukturänderung begründen.1 Nach richtigem Verständnis müssen die in § 37 Abs. 1 Satz 2 EBRG genannten Beispielfälle daher eine gewisse Wesentlichkeitsschwelle erreichen.2 Es wäre nicht sinnvoll, jeden solchen Umwandlungsvorgang – selbst unter Beteiligung von arbeitnehmerlosen oder von ihrer Arbeitnehmerzahl her unbedeutenden Gesellschaften – zum Anlass für ein langwieriges und aufwendiges Neuverhandlungsverfahren zu nehmen. Regelmäßig und in kurzen Abständen durchzuführende Neuverhandlungen – jeweils inklusive neuer BVG-Bildung – würden das Anliegen der EBR-Richtlinie, eine dauerhafte und handlungsfähige transnationale Arbeitnehmervertretung zu schaffen, unterlaufen. Zwar hat der jeweils bestehende EBR gem. Art. 13 UAbs. 3 EBR-RL (vgl. auch § 37 Abs. 3 EBRG) ein Übergangsmandat während der Neuverhandlungen. Allerdings stehen während des Übergangsmandats häufig Fragen der Selbstkonstituierung3 und -organisation im Mittelpunkt. Der Begriff der wesentlichen Strukturänderung in § 37 Abs. 1 EBRG ist daher teleologisch zu reduzieren.4 In der deutschen Kommentarliteratur wird insoweit vorgeschlagen, die in § 37 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 EBRG geforderte Voraussetzung, dass sich die Maßnahme auf die Zusammensetzung des EBR auswirken kann, auch für andere Strukturänderungen zugrunde zu legen.5 Allerdings ist zweifelhaft, ob diese Auslegung dem Richtlinienzweck hinreichend Rechnung trägt. Denn eine Veränderung der Kennzahlen für die EBR-Zusammensetzung kann gerade in größeren Konzernen häufig und schnell eintreten, so dass durch dieses Kriterium allein noch keine hinreichende Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 37 Abs. 1 EBRG zur Erhaltung einer gewissen Beständigkeit und effektiven Handlungsfähigkeit des transnationalen Arbeitnehmervertretergremiums erreicht wird. Vielmehr ist – wie oben (vgl. Rz. 170) dargelegt – darauf abzustellen, ob eine grundlegende Veränderung gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen bei der Bildung des bestehenden EBR vorliegt, die die Zusammensetzung des EBR derart berührt, dass an dem bestehenden EBR bzw. der bestehenden EBR-Vereinbarung nicht sinnvoll festgehalten werden kann.6
172
Aufgrund der verbleibenden Auslegungsfragen und Meinungsverschiedenheiten ist der Praxis anzuraten, diejenigen Fälle einer Strukturänderung, die eine Anpassungspflicht auslösen sollen, abschließend sowie möglichst konkret und klar in der EBRVereinbarung zu regeln.7
173
Fehlt eine einschlägige Anpassungsregelung für wesentliche Strukturänderungen in der EBR-Vereinbarung, greift die gesetzliche Neuverhandlungspflicht gem. Art. 13 EBR-RL. Danach wird auf Initiative der zentralen Leitung oder auf schriftlichen An-
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1 Ebenso AKRR/Rudolph, § 37 EBRG Rz. 7; vgl. auch Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1317), die vorschlagen, in bestimmten Fällen lediglich eine Neuverhandlung der Regelungen zur Zusammensetzung des EBR vorzusehen. 2 HWK/Giesen, EBRG Rz. 76. 3 HWK/Giesen, EBRG Rz. 76. 4 Vgl. auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 77. 5 So HWK/Giesen, EBRG Rz. 77 f. 6 Ähnlich – allerdings immer noch etwas weitergehend als nach diesseitiger Ansicht – AKRR/ Rudolph, § 37 EBRG Rz. 9, der eine Strukturänderung dann für wesentlich hält, wenn sie durch die Vereinbarung nicht mehr abgedeckte Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft hat. Dies soll dann der Fall sein, wenn die Parteien unter den neuen Bedingungen und unter Berücksichtigung der von den Parteien zu beachtenden Grundsätze die Arbeitnehmerbeteiligung anders geregelt hätten. 7 Vgl. auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 81 für das deutsche Umsetzungsrecht.
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§ 12
Rz. 175
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
trag von mindestens 100 Arbeitnehmern oder ihrer Vertreter in mindestens zwei Unternehmen oder Betrieben in mindestens zwei verschiedenen Mitgliedstaaten ein neues BVG gebildet, mit dem die zentrale Leitung über eine neue EBR-Vereinbarung verhandelt. Der bestehende EBR ist selbst nicht initiativberechtigt.1 Allerdings gehören dem neu gebildeten BVG zusätzlich mindestens drei Mitglieder der von der Strukturänderung betroffenen bestehenden EBR an (vgl. Art. 13 UAbs. 2 EBR-RL). 175
Führen die Neuverhandlungen nicht zu einer Einigung, bleibt es nicht etwa bei der bestehenden EBR-Vereinbarung. Vielmehr greift dann die gesetzliche Auffangregelung gem. Art. 7 i.V.m. Anh. I EBR-RL. Dies folgt aus der Rechtsfolgenverweisung in Art. 13 Satz 1 EBR-RL auf Art. 5 EBR-RL. In analoger Anwendung des Art. 7 EBR-RL gelangen daher die gesetzlichen Auffangregelungen (Anh. I EBR-RL) zur Anwendung, wenn (i) die zentrale Leitung und das BVG einen entsprechenden Beschluss fassen (Art. 7 Abs. 1 Var. 1 EBR-RL), (ii) die zentrale Leitung die Aufnahme von Verhandlungen binnen sechs Monaten nach dem Antrag auf Anpassung verweigert (Art. 7 Abs. 1 Var. 2 EBR-RL) oder (iii) wenn binnen drei Jahren nach dem entsprechenden Antrag keine Vereinbarung gem. Art. 6 EBR-RL zustande kommt und das BVG keinen Beschluss nach Art. 5 Abs. 5 EBR-RL gefasst hat (Art. 7 Abs. 1 Var. 3 EBR-RL).
176
Für das deutsche Umsetzungsrecht ist diese Rechtsfolge explizit in § 37 Abs. 4 EBRG angeordnet.
177
Während der Neuverhandlungen hat der bestehende bzw. die bestehenden EBR ein Übergangsmandat. D.h. es gelten grundsätzlich weiterhin die bestehenden EBR-Vereinbarungen, wobei die bestehenden EBR spezielle Regelungen für ein solches Übergangsmandat festlegen können (vgl. Art. 13 UAbs. 3 EBR-RL „[…] entsprechend den in einer Vereinbarung zwischen diesem/diesen [d.h. dem bestehenden bzw. den bestehenden Europäischen Betriebsräten] und der zentralen Leitung festgelegten etwaigen Absprachen.“). Dieses Übergangsmandat besteht gem. dem Wortlaut von Art. 13 Unterabs. 3 EBR-RL nur „während der Verhandlungen“. Damit ist aber auch die Phase der Neubildung des BVG gemeint. Alles andere wäre sinnwidrig. Das Übergangsmandat endet nach dem Wortlaut in dem Zeitpunkt, in dem die Neuverhandlungen abgeschlossen sind.2 Allerdings dürfte dies weit auszulegen sein, so dass die Richtlinie einer nationalen Umsetzung nicht entgegensteht, die das Übergangsmandat bis zur Konstituierung des neuen EBR fortbestehen lässt.
178
§ 37 Abs. 3 EBRG bestimmt – geringfügig, aber richtlinienkonform von der Richtlinie abweichend (vgl. Rz. 177) –, dass für die Dauer der Verhandlung jeder von der Strukturänderung betroffene EBR „bis zur Errichtung eines neuen EBR“ im Amt bleibt (Übergangsmandat), und dass mit der zentralen Leitung vereinbart werden kann, nach welchen Bestimmungen und in welcher Zusammensetzung das Übergangsmandat wahrgenommen wird. Kommt es nicht zu einer solchen besonderen Vereinbarung mit der zentralen Leitung nach § 37 Abs. 3 Satz 2 EBRG, wird das Übergangsmandat durch den jeweiligen EBR entsprechend der für ihn im Unternehmen oder in der Unternehmensgruppe geltenden Regelung wahrgenommen. Je nach Art der wesentlichen strukturellen Änderung und der dadurch geschaffenen neuen Gruppenstruktur kann es bei einem Übergangsmandat zweier oder mehr bestehender EBR zu einer Duplizierung von Beteiligungsrechten nach den 1 Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 83. 2 So auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 84 mit dem Hinweis, dass die EBR-Vereinbarung dem bisherigen EBR ein zusätzliches Übergangsmandat für die Zeit zwischen Abschluss der Verhandlungen und Konstituierung des neuen EBR einräumen kann.
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Müller-Bonanni/Jenner
Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 182
verschiedenen übergangsweise fortbestehenden EBR-Vereinbarungen kommen.1 Das Übergangsmandat endet auch, wenn das BVG einen Beschluss nach § 15 Abs. 1 EBRG fasst (Beschluss, keine Verhandlungen aufzunehmen oder diese zu beenden). Solange streitig ist, ob die Voraussetzungen für Neuverhandlungen gem. Art 13 EBR-RL vorliegen, oder das Initiativrecht zur Aufnahme von Verhandlungen durch die Berechtigten nicht ausgeübt wird, gilt die bisherige EBR-Vereinbarung weiter. Eines Rückgriffs auf das Übergangsmandat bedarf es insoweit nicht.2 Solange das Initiativrecht zur Aufnahme von Neuverhandlungen nicht ausgeübt wird bzw. im Streitfall nicht rechtskräftig bestätigt wird, gilt eine bestehende EBR-Vereinbarung weiter und bleibt der bestehende EBR im Amt.
179
Eine wesentliche strukturelle Änderung kann beispielsweise im Falle einer Fusion zweier Unternehmensgruppen, die jeweils einen EBR haben, zu einem parallelen Übergangsmandat beider EBR führen. Aus praktischen Gründen empfiehlt sich für einen solchen Fall eine spezielle „Übergangsvereinbarung“ i.S.d. Art. 13 UAbs. 3 EBRRL. Häufig wird es naheliegen, übergangsweise ein gemeinschaftliches Gremium zu bilden, das sich aus Mitgliedern beider EBR zusammensetzt. In der Praxis scheitern derartige Vereinbarungen aber häufig daran, dass keine Seite die Verhandlungen über eine neue EBR-Vereinbarung präjudizieren will. Die bestehenden EBR wollen regelmäßig die jeweils stärksten Rechte aus den bestehenden Vereinbarungen fortschreiben; die zentrale Leitung ist an einer Konsolidierung auf niedrigerem Niveau interessiert.
180
Die gesetzliche Neuverhandlungspflicht greift auch ein, wenn im Falle von Strukturänderungen mehrere EBR-Vereinbarungen einschlägig sind, die sich widersprechende Anpassungsregelungen enthalten. Für diesen Fall wird teilweise empfohlen, Kollisionsregeln in die EBR-Vereinbarungen aufzunehmen, um auf diese Weise Widersprüche zwischen den einschlägigen Anpassungsbestimmungen auszuräumen.3 Derartige Kollisionsregeln sollen für den Fall wesentlicher struktureller Änderungen, die von der eigenen und der „fremden“ EBR-Vereinbarung (unterschiedlich) erfasst werden, vorsehen, dass ausschließlich die EBR-Vereinbarung des im EU/EWR-Gebiet arbeitnehmerstärkeren Unternehmens bzw. der arbeitnehmerstärkeren Unternehmensgruppe Anwendung findet.4 Dies löst jedoch nicht das Problem „kollidierender Kollisionsregeln“. Die Kollisionsregel der einen EBR-Vereinbarung kann nicht die Kollisionsregelung der anderen EBR-Vereinbarung überwinden. Wenn beide Vereinbarungen nicht ausnahmsweise deckungsgleiche Kollisionsregeln enthalten, wird daher dennoch ein Neuverhandlungsverfahren stattzufinden haben. Das Verfahren zur Neuverhandlung richtet sich nach dem Umsetzungsrecht des Sitzstaates des (neuen) herrschenden Unternehmens.
181
13. Altvereinbarungen Gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EBR-RL gelten die sich aus der EBR-RL ergebenden Verpflichtungen nicht für gemeinschaftsweit operierende Unternehmen und gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppen, in denen (i) eine für alle Arbeitnehmer geltende Vereinbarung oder Vereinbarungen, in der bzw. in denen eine länderübergreifende Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vorgesehen ist, gem. 1 2 3 4
AKRR/Rudolph, § 37 EBRG Rz. 31. So HWK/Giesen, EBRG Rz. 85. HWK/Giesen, EBRG Rz. 82. So der Vorschlag von HWK/Giesen, EBRG Rz. 82.
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§ 12
Rz. 183
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 94/45/EG (bzw. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 97/74/EG) abgeschlossen wurde bzw. wurden oder (ii) solche Vereinbarungen wegen Veränderungen in der Struktur der Unternehmen oder Unternehmensgruppen angepasst wurden. 183
Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EBR-RL führt damit die bereits in Art. 13 der EBR-Richtlinie 94/45/EG vorgesehene Privilegierung sog. Altvereinbarungen, die bis zum 22.9.1996 geschlossen wurden, fort. Für diese gilt auch die aktuelle EBR-RL grundsätzlich nicht. Allerdings verpflichtet Art. 14 Abs. 1 EBR-RL die Mitgliedstaaten, die in Art. 13 EBR-RL vorgesehenen Regelungen zu strukturellen Änderungen auch für Altvereinbarungen in nationales Recht umzusetzen. Dies ergibt sich aus dem Einleitungssatz zu Art. 14 Abs. 1 EBR-RL („Unbeschadet des Art. 13 […]“).
184
Dieser Verpflichtung ist der nationale Gesetzgeber in §§ 41 Abs. 1 Satz 1, 37 EBRG nachgekommen.
185
Ebenfalls privilegiert sind gem. Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EBR-RL Vereinbarungen, die vor dem 15.12.1999 von Unternehmen und Unternehmensgruppen geschlossen wurden, die auf Grund der Einbeziehung von in Großbritannien und Nordirland liegenden Betrieben und Unternehmen erstmalig die Voraussetzungen für die Errichtung eines EBR erfüllten.
186
Eine Analyse bestehender Altvereinbarungen hat gezeigt, dass sich bei diesen in bestimmten Bereichen eine gängige Praxis herausgebildet hat. Dies betrifft insbesondere den auf Information und Konsultation gerichteten Zweck und Gegenstand, die Beratungsgegenstände, die Zahl der ordentlichen Sitzungen sowie Regelungen in Bezug auf außerordentliche Sitzungen zur Beratung außergewöhnlicher Umstände. Die Regelungen erinnern oftmals an die Auffangregelungen der Richtlinie, obgleich diese auf Altvereinbarungen keine Anwendung finden. Ein bedeutender Unterschied, den Altvereinbarungen im Vergleich zu den Auffangregelungen der Richtlinie (und folglich auch den neueren, der Richtlinie unterworfenen Vereinbarungen) aufweisen, betrifft die Einbindung von Gewerkschaften in Form von Gewerkschaftsvertretern in dem Gremium oder Rechten der Gewerkschaften bei der Bestellung der EBR-Mitglieder.1 Ferner sehen zahlreiche Altvereinbarungen EBR in der Form gemischter Gremien vor, die sich aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammensetzen.2 Große Unterschiede in der Ausgestaltung der Altvereinbarungen zeigen sich in den Regelungen zur Wahl bzw. Bestellung der EBR-Mitglieder sowie in der Sitzverteilung auf die Mitgliedstaaten.3
187
Voraussetzung für die Qualifizierung als Altvereinbarung ist, dass die Vereinbarung (i) vor dem 22.9.1996 (bzw. dem 15.12.1999) geschlossen (nicht zwingend bereits – etwa durch Bestellung der EBR-Mitglieder – umgesetzt)4 wurde, (ii) sich auf alle Arbeitnehmer des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe erstreckt und (iii) ein Verfahren zur länderübergreifenden Unterrichtung und Anhörung vorsieht. Vereinbarungen, die die vorgenannten Voraussetzungen nicht erfüllen, sind keine Altvereinbarungen. Sie unterfallen in vollem Umfang der EBR-Richtlinie. Die Anforderungen des § 41 Abs. 1 Satz 2 EBRG an den persönlichen Geltungsbereich von Vereinbarungen aus der Zeit bis zum 22.9.1996 (bzw. 15.12.1999) für
188
1 2 3 4
Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (108). Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (108). Vgl. Carley/Hall, Industrial Law Journal 29 (2000), 103 (108). HWK/Giesen, EBRG Rz. 124.
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Müller-Bonanni/Jenner
Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 191
die Qualifizierung als Altvereinbarung sind nicht vollständig deckungsgleich mit denjenigen des Art. 14 Abs. 1 EBR-RL. Während Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EBR-RL i.V.m. Art. 13 Abs. 1 RL 94/45/EG verlangt, dass die Vereinbarung für alle Arbeitnehmer des gemeinschaftsweit tätigen Unternehmens bzw. der gemeinschaftsweit tätigen Unternehmensgruppe gilt, verlangt § 41 Abs. 1 Satz 2 EBRG, dass die Vereinbarung sich auf alle in den Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer erstreckt und Arbeitnehmern in denjenigen Mitgliedstaaten eine angemessene Beteiligung an der Unterrichtung und Anhörung ermöglicht, in denen das Unternehmen oder die Unternehmensgruppe einen Betrieb hat. Werden in einem Mitgliedstaat nur einzelne Arbeitnehmer beschäftigt (z.B. ein einzelner Arbeitnehmer in einem Repräsentationsbüro), müssen diese also gem. § 41 Abs. 1 Satz 2 EBRG nicht in das Verfahren zur Unterrichtung und Anhörung einbezogen sein.1 Vom Zweck des Art. 14 Abs. 1 EBR-RL her gesehen, dürfte diese Abweichung sich im Rahmen der Richtlinie bewegen. § 41 Abs. 3 und Abs. 4 EBRG sehen Sonderregeln für die nachträgliche Einbeziehung von Arbeitnehmern in den Geltungsbereich und die Anpassung der Vereinbarung vor: Erfasst die am Stichtag (22.9.1996 bzw. 15.12.1999) bestehende Vereinbarung nicht alle Arbeitnehmer, konnten die Parteien deren Einbeziehung innerhalb einer Frist von sechs Monaten, also bis zum 21.3.1997 bzw. 14.6.2000 nachholen. Außerdem konnten und können am Stichtag bestehende Vereinbarungen auch zeitlich unbegrenzt an Änderungen der Struktur des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe sowie der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer angepasst werden, ohne ihre Qualität als Altvereinbarung einzubüßen. Dies gilt jedoch gem. § 41 Abs. 4 Halbs. 2 EBRG nicht, sofern es sich um Anpassungen aufgrund wesentlicher Strukturänderungen i.S.d. § 37 EBRG handelt.
189
Eine Altvereinbarung muss nicht zwingend die Errichtung eines EBR vorsehen. Sie kann auch eine andere Art der grenzübergreifenden Unterrichtung und Anhörung regeln. Es muss sich lediglich um ein funktionierendes System der Unterrichtung und Anhörung im weiteren Sinne handeln.2 Die Begriffe Unterrichtung und Anhörung der EBR-Richtlinie finden insoweit keine Anwendung.3 Diese Anforderungen können nicht für die Klassifizierung als ein länderübergreifendes Unterrichtungs- und Anhörungssystem i.S.d. Art. 14 EBR-RL herangezogen werden. Andernfalls würde die Privilegierung von Altvereinbarungen leer laufen. Die in einer Altvereinbarung vorgesehene Unterrichtung und Anhörung ist daher im weiten Sinne im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch zu verstehen. Danach müssen Informationen zur Verfügung gestellt werden und es muss ein Dialog zwischen den Beteiligten vorgesehen sein.4
190
Wer Partei einer Altvereinbarung sein kann, wird durch Art. 14 Abs. 1 EBR-RL, 13 RL 94/45/EG nicht vorgegeben. Auf Arbeitgeberseite muss daher nicht zwingend die zentrale Leitung gehandelt haben.5 Es genügt, wenn ein anderes Unternehmen der Unternehmensgruppe gehandelt hat, solange die Anforderungen zum Geltungsbereich und zum Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren erfüllt sind. Auf Seiten der Arbeitnehmer muss die Vereinbarung nicht durch ein BVG geschlossen worden sein. Die Handelnden (typischerweise eine Arbeitnehmervertretung oder Gewerkschaft) müssen
191
1 2 3 4 5
HWK/Giesen, EBRG Rz. 127; AKRR/Rupp, § 41 EBRG Rz. 12 f. Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 126. So auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 129 für das deutsche Umsetzungsrecht in § 41 EBRG. HWK/Giesen, EBRG Rz. 129. A.A. wohl HWK/Giesen, EBRG Rz. 128 für § 41 EBRG: der oder die Handelnden müssten Vertretungsmacht für die zentrale Leitung gehabt haben.
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§ 12
Rz. 192
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
auch keine volle Repräsentativität besessen haben.1 Problematisch könnten mit Blick auf das Demokratieprinzip allenfalls Vereinbarungen sein, die durch Vertreter einer Minderheit der Arbeitnehmer geschlossen wurden. Allerdings sieht der Wortlaut des Art. 14 EBR-RL und des Art. 13 RL 94/45/EG insoweit keine Einschränkung vor.2 Richtigerweise kommt es deshalb allein darauf an, ob die Vereinbarung den übrigen Anforderungen des Art. 14 EBR-RL und des Art. 13 RL 94/45/EG genügt.3 Es muss auch nicht lediglich eine Vereinbarung geschlossen worden sein. Wenn für ein Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe mehrere Vereinbarungen geschlossen wurden, können diese ebenfalls privilegiert sein. 192
Es verstößt deshalb nicht gegen Art. 14 Abs. 1 EBR-RL, wenn § 41 Abs. 2 Satz 1 EBRG bestimmt, dass es der Qualifizierung als privilegierte Altvereinbarung nicht entgegensteht, wenn die Vereinbarung auf Seiten der Arbeitnehmer nur von einer im BetrVG vorgesehenen Arbeitnehmervertretung geschlossen wurde.4 Auch § 41 Abs. 2 Satz 2 EBRG, demzufolge eine Mehrzahl von Vereinbarungen privilegiert sein kann, ist richtlinienkonform.5
193
Fraglich ist, ob die Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, für die eine Altvereinbarung gilt, bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung die Voraussetzungen und Schwellenwerte i.S.d. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a bzw. Buchst. c EBR-RL erfüllen müssen. Dies ist richtigerweise abzulehnen. Es widerspräche den Zielsetzungen der Richtlinie, Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, die die Beschäftigtenschwellenwerte gem. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a bzw. Buchst. c EBR-RL knapp unterschreiten, aber eine Vereinbarung zur Einrichtung eines funktionierenden Unterrichtungs- und Anhörungssystems vorgesehen haben, die Privilegierung zu versagen. Aus dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 EBR-RL ergibt sich ebenfalls nicht, dass die Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, für die eine Altvereinbarung gilt, bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses der Altvereinbarung ein „gemeinschaftsweit operierendes Unternehmen“ bzw. eine „gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppe“ i.S.d. EBR-Richtlinie sein müssen.6
194
Eine Ausnahme von der Privilegierung von Altvereinbarungen gilt in Bezug auf die Neuverhandlungspflicht gem. Art. 13 EBR-RL im Falle wesentlicher struktureller Änderungen. Diese Pflicht gilt gem. dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 EBR-RL („Unbeschadet des Art. 13 […]“) auch für Altvereinbarungen.7 Dies wird zwar vereinzelt mit dem Hinweis auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs „unbeschadet“ in Frage gestellt,8 kann jedoch mit Blick auf die englische Fassung der Richtlinie („Without prejudice to Article 13 […]“) nicht ernstlich bezweifelt werden.
195
Fraglich ist, ob eine Anpassung einer Altvereinbarung – sei es aufgrund einer strukturellen Änderung oder aus sonstigen Gründen – dazu führt, dass diese ihre Privilegierung verliert und forthin insgesamt der EBR-Richtlinie und den hierzu ergangenen 1 2 3 4 5 6
Vgl. HWK/Giesen, EBRG Rz. 128 für § 41 EBRG. Vgl. zu dieser Problematik HWK/Giesen, EBRG Rz. 128 m.w.N. In diesem Sinne auch HWK/Giesen, EBRG Rz. 128. AKRR/Rupp, § 41 EBRG Rz. 5. AKRR/Rupp, § 41 EBRG Rz. 7. A.A. offenbar HWK/Giesen, EBRG Rz. 124 in Bezug auf § 41 EBRG, nach dessen Ansicht ein späteres Hineinwachsen in den Anwendungsbereich des EBRG nicht genüge. Die betreffenden Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen müssten vielmehr die Anwendungsvoraussetzungen des EBRG erfüllen. 7 Vgl. Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1317 f.) und HWK/Giesen, EBRG Rz. 9 jeweils in Bezug auf das deutsche Umsetzungsrecht in §§ 41, 37 EBRG. 8 Franzen, EuZA 2010, 180 (196 f.).
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Europäische Betriebsräte-Richtlinie 2009/38/EG
§ 12
Rz. 197
Umsetzungsvorschriften unterfällt. Dies ist abzulehnen. Bereits aus dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EBR-RL folgt, dass auch Altvereinbarungen privilegiert sind, die „[…] wegen Veränderungen in der Struktur der Unternehmen bzw. Unternehmensgruppe angepasst wurden“. Erst recht können sonstige Anpassungen der Altvereinbarung, die lediglich einzelne Regelungen der Vereinbarung ergänzen oder ändern (beispielsweise durch Aufnahme einer Anpassungsklausel für den Fall struktureller Änderungen i.S.d. Art. 13 Satz 1 Halbs. 2 EBR-RL) nicht den Verlust der Privilegierung als Altvereinbarung zur Folge haben.1 Dafür spricht auch Art. 14 Abs. 2 EBR-RL, wonach die betreffenden Parteien einer Altvereinbarung beschließen können, eine Altvereinbarung nach ihrem zeitlichen Ablauf weiter anzuwenden oder zu überarbeiten. Ein solche Verlängerung bzw. Überarbeitung ist auch nach dem 22.9.1996 möglich. Diese Sichtweise wird auch durch ErwGr. 41 EBR-RL gestützt. Solange die Anpassungspflicht nach Art. 13 EBR-RL nicht eingreift, sollen gem. ErwGr. 41 Satz 1 EBR-RL die geltenden Vereinbarungen weiter in Kraft bleiben können, „um deren obligatorische Neuverhandlung zu vermeiden, wenn sie unnötig wäre.“ Gemäß ErwGr. 41 Satz 2 EBR-RL sollen die Verpflichtungen, die sich aus der EBR-Richtlinie ergeben, auf Altvereinbarungen während ihrer Geltungsdauer weiterhin keine Anwendung finden. Dies bedeutet im Ergebnis, dass Altvereinbarungen grundsätzlich so lange außerhalb des Anwendungsbereichs der EBR-Richtlinie bleiben, wie dies die Parteien der Vereinbarung einvernehmlich wünschen,2 und zwar auch nach einer Anpassung oder Ergänzung der Vereinbarung ungeachtet des Ausmaßes einer solchen Änderung. Die Parteien können die Altvereinbarung daher auch einvernehmlich um eine Anpassungsklausel i.S.d. Art. 13 Satz 1 Halbs. 2 EBR-RL zur Regelung wesentlicher struktureller Änderungen ergänzen. Die Altvereinbarung büßt dadurch nicht ihren Charakter als Altvereinbarung ein. Kommt es zu einer wesentlichen strukturellen Änderung, die durch eine Anpassungsklausel der Altvereinbarung geregelt wird, greift entsprechend dem Willen des Richtliniengebers vorrangig die vereinbarte Anpassungsklausel („[…] und fehlen entsprechende Bestimmungen in den geltenden Vereinbarungen […]“). Die gesetzliche Neuverhandlungspflicht gem. Art. 13 EBR-RL greift dann nicht ein.
196
14. Übergangsrecht Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EBR-RL dehnt die Privilegierung auf Vereinbarungen gem. Art. 6 RL 94/45/EG aus, die zwischen dem 5.6.2009, d.h. dem Datum des Erlasses der Neufassung der EBR-Richtlinie, und dem 5.6.2011, d.h. dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, unterzeichnet oder überarbeitet wurden. Dies bedeutet, dass Vereinbarungen, die zwischen dem 5.6.2009 und dem 5.6.2011 geschlossen oder überarbeitet wurden, nicht den zusätzlichen Anforderungen der Neufassung der EBRRichtlinie unterliegen sondern nur an dem alten Recht der Richtlinie 94/45/EG bzw. den hierzu ergangenen Umsetzungsvorschriften zu messen sind. Diese Vereinbarungen müssen gem. Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EBR-RL nicht an das neue Recht angepasst werden. 1 Vgl. auch Hohenstatt/Kröpelin/Bertke, NZA 2011, 1313 (1318), die dies allerdings von dem Ausmaß der nachträglichen Änderungen abhängig machen wollen. A.A. EAS/Sagan, B 1100 Rz. 180, der argumentiert, dass e contrario Art. 14 Abs. 1 Buchst. a Halbs. 2 EBR-RL jede Anpassung, die nicht wegen Veränderungen in der Struktur der Unternehmen oder Unternehmensgruppe erfolgt, der Vereinbarung die Qualifikation als Altvereinbarung entzieht. 2 Franzen, EuZA 2010, 180 (193).
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§ 12
Rz. 198
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
198
Fraglich ist allerdings, für welche Vereinbarungen genau diese Privilegierung gelten soll. Einerseits bestimmt ErwGr. 41 Satz 3 EBR-RL, dass „[…] die vorliegende Richtlinie keine allgemeine Verpflichtung zur Neuverhandlung von Vereinbarungen, die gem. Art. 6 der Richtlinie 94/45/EG zwischen dem 22.9.1996 und dem 5.6.2011 geschlossen wurden“ begründet. Andererseits regelt Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EBR-RL, dass „[…] die sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen nicht für gemeinschaftsweit operierende Unternehmen und gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppen [gelten], in denen […] eine gem. Art. 6 der Richtlinie 94/45/EG abgeschlossene Vereinbarung zwischen dem 5.6.2009 und dem 5.6.2011 unterzeichnet oder überarbeitet wird.“ Da der eindeutige Wortlaut der Richtlinienbestimmungen den Erwägungsgründen vorgeht, ist davon auszugehen, dass das privilegierende Übergangsrecht tatsächlich nur für solche Vereinbarungen gilt, die zwischen dem 5.6.2009 und dem 5.6.2011 geschlossen oder überarbeitet wurden.
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Vereinbarungen, die zwischen dem 22.9.1996 und dem 4.6.2009 unterzeichnet wurden, unterliegen den Maßstäben der neuen EBR-Richtlinie.1 Allerdings konnten auch solche Vereinbarungen in den Genuss der Privilegierung nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EBR-RL kommen, wenn sie in der Zeit zwischen dem 5.6.2009 und dem 5.6.2011 „überarbeitet“ wurden. Damit dürfte jede Form der inhaltlichen oder formellen Änderung oder Ergänzung der Vereinbarung gemeint sein,2 so dass solche die Vereinbarung in dem relevanten Zeitraum bestätigen mit der Folge, dass sie nicht mehr den neuen Anforderungen der Neufassung der EBR-Richtlinie unterfallen.
200
Auch für privilegierte Vereinbarungen aus der Zeit zwischen dem 5.6.2009 und dem 5.6.2011 gilt jedoch – genauso wie für Altvereinbarungen von vor dem 22.9.1996 (bzw. vor dem 15.12.1999) – die Anpassungspflicht wegen wesentlicher struktureller Änderungen gem. Art. 13 EBR-RL. Jedoch gilt auch hier, dass die in einer EBR-Vereinbarung vereinbarten Anpassungsregelungen wegen struktureller Änderungen Vorrang haben vor den gesetzlichen Anpassungsvorschriften. Art. 13 EBR-RL lässt die „entsprechenden Bestimmungen“ der Vereinbarung seinen eigenen Anpassungsregelungen vorgehen.3
II. Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer 2002/14/EG 1. Gegenstand und Zweck 201
Die Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.3. 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (UuA-RL)4 wurde nach vierjähriger politischer Auseinandersetzung erlassen. Sie ergänzt als Rahmenrichtlinie über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (jetzt: Union) die spezifischeren Informations- und Konsultationsrechte der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen und bei Betriebsübergängen sowie die EBRRichtlinie. Sie wurde nach ihrer Verabschiedung als „Durchbruch zu einer europäischen Betriebsverfassung“ gewürdigt.5 Die Frist zur Umsetzung der UuA-Richtlinie lief am 23.3.2005 ab. 1 2 3 4 5
Giesen, NZA 2009, 1174 (1175). Giesen, NZA 2009, 1174 (1176). Giesen, NZA 2009, 1174 (1176, Fn. 13). ABl. Nr. L 80 v. 11.3.2002, S. 29. Reichold, NZA 2003, 289 (299).
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Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung
§ 12
Rz. 207
Die Richtlinie soll den sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern fördern. Der europäische Gesetzgeber versprach sich davon eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und positive beschäftigungspolitische Effekte. Auslöser für die Erarbeitung der Richtlinie war der seinerzeit heftig kritisierte Beschluss eines französischen Automobilherstellers im Jahr 1997, ein Werk in Belgien ohne vorherige Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer zu schließen.1 Diesem Hintergrund verdankt die Richtlinie die inoffizielle Bezeichnung „Renault-Richtlinie“.2
202
Gegenstand der Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie ist gem. Art. 1 Abs. 1 UuA-RL die Schaffung eines allgemeinen Mindeststandards für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer3 zu einer Reihe verschiedener Themen. Die Geltung günstigerer Regelungen auf mitgliedstaatlicher Ebene soll durch sie nicht verhindert werden.4 Vielmehr soll unionsweit das von der Richtlinie vorgesehene „Minimum“ gelten und das Schutzniveau der Richtlinie nicht unterschritten werden.5
203
Die Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten dabei nicht, eine oder mehrere Arten der Arbeitnehmervertretung zu schaffen, sondern setzt deren Existenz voraus.6
204
Die Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie konkretisiert das in Art. 27 GRC garantierte Recht auf Unterrichtung und Anhörung. Der EuGH hat in der Rs. Association de médiation sociale allerdings klargestellt, dass, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung der Richtlinie mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, Art. 27 GRC in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen (vgl. § 1 Rz. 164).7
205
Der deutsche Gesetzgeber sah sich nicht veranlasst, Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie zu ergreifen, weil die geltenden Rechtsvorschriften – insbesondere das BetrVG, das SprAuG sowie die Personalvertretungsgesetze – bereits den Anforderungen der Richtlinie entsprächen.8 In der Literatur werden allerdings einige mögliche Umsetzungsdefizite diskutiert.9
206
2. Anwendungsbereich Der Anwendungsbereich der Richtlinie erstreckt sich optional – je nach mitgliedstaatlicher Ausgestaltung – entweder auf Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten oder Betriebe mit mindestens 20 Beschäftigten.10 Art. 3 Abs. 1 UuA-RL überlässt den Mitgliedstaaten die Entscheidung, ob sie das Unternehmen oder den Betrieb zum Anknüpfungspunkt des sozialen Dialogs machen und wie sie die Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl berechnen wollen.11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Weiler, AiB 2002, 265; s. auch ErwGr. 6 UuA-RL. Weiler, AiB 2002, 265. Vgl. ErwGr. 18 UuA-RL. ErwGr. 18 UuA-RL. ErwGr. 18 UuA-RL. Franzen, FS Birk, 97 (98). EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193 – Rz. 51. Mitteilung der Kommission vom 17.3.2008 über die Überprüfung der Richtlinie 2002/14/EG in der EU, KOM(2008), 146 endg.; s. auch Ales, Synthesis Report 2007, S. 50 ff. Vgl. Reichold, NZA 2003, 289 (292 ff.); Konzen, ZfA 2005, 189 (206 ff.); Franzen, FS Birk, 97 (101 ff.); Richardi/Richardi, Einl. BetrVG Rz. 41a; DKKW/Däubler, Einleitung BetrVG Rz. 253 ff. ErwGr. 19 UuA-RL. Reichold, NZA 2003, 289 (292).
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§ 12
Rz. 208
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
208
Kleinere Einheiten wurden explizit ausgenommen, um einer Behinderung der Gründung und Entwicklung solcher Einheiten durch zu hohe administrative, finanzielle und rechtliche Auflagen entgegenzuwirken. Zum Schutz kleinerer und mittlerer Unternehmen erlaubt die Richtlinie daher den Mitgliedstaaten, Unternehmen mit weniger als 50 bzw. Betriebe mit weniger als 20 Arbeitnehmern auszuklammern.1 Die Methode für die Berechnung der Schwellenwerte können die Mitgliedstaaten bestimmen, sie dürfen jedoch nicht bestimmte Arbeitnehmergruppen völlig unberücksichtigt lassen (z.B. jüngere oder subventioniert beschäftigte Arbeitnehmer).2
209
Die Möglichkeit, in Betrieben mit mindestens fünf aktiv und zugleich drei passiv Wahlberechtigten Betriebsräte zu wählen (§ 1 BetrVG), geht in zulässiger Weise zugunsten der Arbeitnehmer über die Anforderungen der Richtlinie hinaus.3 Die Ausnahme gem. § 130 BetrVG für den öffentlichen Dienst ist unschädlich, soweit entsprechende Regelungen für die Bildung von Personalräten bestehen (z.B. § 12 BPersVG).4
210
Die in Art. 2 Buchst. a und b UuA-RL definierten Begriffe des Unternehmens bzw. des Betriebs erfassen prinzipiell nicht nur die Privatwirtschaft, sondern auch die öffentliche Hand sowie die Kirchen.5
211
Gemäß Art. 3 Abs. 2 UuA-RL können die Mitgliedstaaten – unter Einhaltung der in der Richtlinie festgelegten Grundsätze und Ziele – spezifische Bestimmungen für Unternehmen oder Betriebe vorsehen, die unmittelbar und überwiegend politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung dienen, falls das innerstaatliche Recht Bestimmungen dieser Art zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie bereits enthält.
212
Nach überwiegender Auffassung in der Literatur genießen auch die nicht ausdrücklich genannten kirchlichen Einrichtungen Tendenzschutz in diesem Sinne.6 Die gem. § 118 Abs. 1 BetrVG eingeschränkte Geltung des BetrVG für Tendenzbetriebe ist daher nach einhelliger Auffassung durch den Vorbehalt in Art 3 Abs. 2 UuA-RL gedeckt.7 Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob auch die vollständige Bereichsausnahme für Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen gem. § 118 Abs. 2 BetrVG richtlinienkonform ist. In der Literatur wird dies überwiegend und zu Recht bejaht.8 § 118 Abs. 2 BetrVG beinhaltet eine spezifische Ausprägung der Inanspruchnahme des Tendenzschutzes für Kirchen. Allerdings müssen auch kirchliche Einrichtungen auf Grund des Vorbehalts in Art. 3 Abs. 2 UuA-RL die „Grundsätze und Ziele“ der Richtlinie hinreichend 1 ErwGr. 19 UuA-RL. 2 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05 – CGT u.a., Slg. 2007, I-611 – Rz. 41 = NZA 2007, 193; v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, NZA 2014, 193 – Rz. 29. 3 Reichold, NZA 2003, 289 (292 f.). 4 Die Ausführungen zum nationalen Recht beschränken sich im Folgenden auf das Betriebsverfassungsrecht. 5 Reichold, NZA 2003, 289 (293); s. auch Giesen, RdA 2000, 298 (299). 6 Reichold, NZA 2003, 289 (293); Richardi/Thüsing, § 118 BetrVG Rz. 188a ff.; GK-BetrVG/Weber, § 118 BetrVG Rz. 34 f.; APS/Linck, Mitarbeitervertretung im kirchlichen Bereich Rz. 2; DKKW/Däubler, Einleitung BetrVG Rz. 254. 7 Reichold, NZA 2003, 289 (293); Bonin, AuR 2004, 321 (322); Richardi/Thüsing, § 118 BetrVG Rz. 1a; GK-BetrVG/Wiese, Einleitung BetrVG Rz. 35. 8 Vgl. Reichold, NZA 2003, 289 (293); Bonin, AuR 2004, 321 (322); Richardi/Thüsing, § 118 BetrVG Rz. 188a ff.; APS/Linck, Mitarbeitervertretung im kirchlichen Bereich Rz. 2; GKBetrVG/Weber, § 118 BetrVG Rz. 34 f.; a.A. Weiss, NZA 2003, 177 (183).
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Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung
§ 12
Rz. 217
berücksichtigen. An diesen müssen sich insbesondere die Mitarbeitervertretungsgesetze der beiden großen Kirchen messen lassen.1 Eine grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen ist keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Unterrichtungs- und Anhörungs-Richtlinie.2
213
Nationale Bestimmungen für die Besatzung von Hochseeschiffen können gem. Art. 3 Abs. 3 UuA-RL von den Richtlinienbestimmungen abweichen.3
214
Die auf besondere Situationen bezogenen Informations- und Konsultationsverfahren des Art. 7 Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG (vgl. § 11 Rz. 185 ff.) und des Art. 2 Massentlassungsrichtlinie 98/59/EG (vgl. § 10 Rz. 45 ff.) bleiben gem. Art. 9 Abs. 1 UuA-RL unberührt. Das Gleiche gilt für Unterrichtungs- und Anhörungsrechte auf Basis der Richtlinien über Europäische Betriebsräte (vgl. Rz. 1 ff.), die nur auf grenzüberschreitend tätige Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen Anwendung finden, während die Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie auch rein nationale Sachverhalte erfasst.4
215
3. Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmervertretern Art. 4 UuA-RL statuiert Unterrichtungs- und Anhörungspflichten für den Arbeitgeber. Dabei versteht Art. 2 Buchst. f UuA-RL unter Unterrichtung „die Übermittlung von Informationen durch den Arbeitgeber an die Arbeitnehmervertreter, um ihnen Gelegenheit zur Kenntnisnahme und Prüfung der behandelten Frage zu geben.“ Anhörung bezeichnet nach Art. 2 Buchst. g UuA-RL „die Durchführung eines Meinungsaustauschs und eines Dialogs zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgeber.“ Daraus ergibt sich, dass der Begriff „Anhörung“ nicht als bloß passives Zuhören, sondern vielmehr als „Beratung“ zu verstehen ist.5 Ferner lassen die Definitionen erkennen, dass Unterrichtungs- und Anhörungsrechte i.S.d. Richtlinie nur durch Arbeitnehmervertretungen i.S.v. Art. 2 Buchst. e UuA-RL wahrgenommen werden und nicht durch einzelne Arbeitnehmer.6
216
Mit den nach ihr berechtigten Arbeitnehmervertretern knüpft die Richtlinie an die nach einzelstaatlichen Gepflogenheiten bereits bestehenden Vertretungsgremien an. Arbeitnehmervertreter sind gem. Art. 2 Buchst. e UuA-RL die nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehenen Vertreter der Arbeitnehmer. Daraus wird zu Recht abgeleitet, dass die Richtlinie auch keine mittelbare Pflicht zur Errichtung von Arbeitnehmervertretungen normiert.7 Sieht ein Mitgliedstaat die Möglichkeit zur Errichtung einer Arbeitnehmervertretung vor, machen die Arbeitnehmer davon aber keinen Gebrauch, besteht keine Informations- und Anhörungspflicht des Arbeitgebers gemäß den Anforderungen der Unterrichtungs- und An-
217
1 Siehe dazu Richardi/Thüsing, § 118 BetrVG Rz. 188d. 2 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 153 AEUV Rz. 86; Reichold, NZA 2003, 289 (290) m.w.N. 3 Die §§ 114 ff. BetrVG machen von dieser Ausnahme richtlinienkonform Gebrauch: Bonin, AuR 2004, 321 (322). 4 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Benecke, Art. 153 AEUV Rz. 86. 5 Reichold, NZA 2003, 289 (296); Kothe, FS 50 Jahre BAG, 1219 (1228 f.); Konzen, ZfA 2005, 189 (206); Franzen, FS Birk, 97 (100). 6 Reichold, NZA 2003, 289 (295); a.A. DKKW/Däubler, Einleitung BetrVG Rz. 256. 7 Bonin, AuR 2004, 321 (323); Stoffels, GS Heinze, 885 (898 f.); Franzen, FS Birk, 97 (100); Reichold, NZA 2003, 289 (294 f.); DKKW/Däubler, Einleitung BetrVG Rz. 256; so für den Richtlinienvorschlag KOM(1998) 612 Giesen, RdA 2000, 298 (300); Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 130.
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§ 12
Rz. 218
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
hörungsrichtlinie.1 Dies bestätigt ErwGr. 15 UuA-RL, demzufolge nationale Regelungen unberührt bleiben, wonach die konkrete Wahrnehmung des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung eine kollektive Willensbekundung der Rechtsinhaber erfordert. 218
Daher ist es europarechtlich unbedenklich, wenn das deutsche Recht es den Arbeitnehmern freistellt, ob sie einen Betriebsrat wählen oder nicht.2 Umstritten ist jedoch, ob die Herausnahme der im Flugbetrieb beschäftigten Arbeitnehmer aus dem Geltungsbereich des BetrVG gem. § 117 Abs. 2 BetrVG, für die stattdessen eine Arbeitnehmervertretung auf Tarifvertragsbasis gebildet werden kann, mit der Richtlinie vereinbar ist. Das BAG hat sich zu dieser Frage noch nicht ausdrücklich geäußert. Es hat jedoch in einem Literaturverweis andeutet, dass es zumindest dann von der Unionsrechtskonformität der Norm ausgeht, wenn die Unterrichtungs- und Anhörungsrechte der betroffenen Arbeitnehmer tatsächlich hinreichend tariflich geregelt sind.3 Teilweise wird vertreten, dass das BetrVG in richtlinienkonformer Auslegung auf den Flugbetrieb anwendbar sei, wenn keine tarifliche Regelung besteht.4 Nach überwiegender Auffassung ist eine solche Auslegung jedoch nicht geboten, weil Art. 5 UuA-RL auch den Sozialpartnern Umsetzungsbefugnisse einräumt und die Arbeitnehmer eine Tarifregelung über den Weg des Arbeitskampfes auch gegen den Willen der Arbeitgeberseite herbeiführen können.5 4. Gegenstände des Unterrichtungs- und Anhörungsrechts
219
Die Gegenstände der arbeitgeberseitigen Unterrichtungs- und Anhörungspflichten ergeben sich aus Art. 4 Abs. 2 Buchst. a-c UuA-RL. Sie umfassen – die jüngste Entwicklung und die wahrscheinliche Weiterentwicklung der Tätigkeit und der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens oder des Betriebs (Buchst. a); – die Beschäftigungssituation, Beschäftigungsstruktur und die wahrscheinliche Beschäftigungsentwicklung im Unternehmen oder Betrieb und gegebenenfalls geplante antizipative Maßnahmen, insbesondere bei einer Bedrohung für die Beschäftigung (Buchst. b); – Entscheidungen, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können, einschließlich solcher, die Gegenstand der Betriebsübergangsrichtlinie sind (Buchst. c).
220
In Bezug auf die wirtschaftliche Situation (Buchst. a) reicht eine bloße Unterrichtung aus.
221
Der Zeitpunkt sowie die Art und Weise der Unterrichtung und Anhörung haben nach Art. 4 Abs. 3 und 4 UuA-RL, vereinfacht gesprochen, dem Einzelfall angemessen, zweckmäßig und effektiv zu erfolgen. Die Unterrichtung muss es den Arbeitnehmervertretern dabei ermöglichen, die Informationen angemessen zu prüfen und gegebenenfalls die Anhörung vorzubereiten. 1 Bonin, AuR 2004, 321 (323); Franzen, FS Birk, 97 (100); a.A. Reichold, NZA 2003, 289 (294 f.); DKKW/Däubler, Einleitung BetrVG Rz. 256. 2 Bonin, AuR 2004, 321 (323). 3 BAG v. 24.6.2008 – 9 AZR 313/07, NZA 2008, 1309 – Rz. 38. 4 Fitting, § 117 BetrVG Rz. 6 ff.; für eine verfassungskonforme Auslegung im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG mit gleichem Ergebnis DKKW/Däubler, § 117 BetrVG Rz. 11. 5 LAG Berlin-Bdb.v. 30.10.2009 – 6 TaBVGa 2284/09, BB 2009, 2477 = BeckRS 2009, 74383; LAG Hessen v. 19.9.2006 – 4/9 TaBV 56/06, BeckRS 2007, 41259; GK-BetrVG/Franzen, § 117 BetrVG Rz. 10; Richardi/Thüsing, § 117 BetrVG Rz. 2; a.A. ArbG Cottbus v. 24.9.2009 – 1 BVGa 7/09, BeckRS 2009, 73918; Bayreuther, NZA 2010, 262 (263); Bonin, AuR 2004, 321 (322); ErfK/Kania, § 117 BetrVG Rz. 1.
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Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung
§ 12
Rz. 227
Die Anhörung erfolgt gem. Art. 4 Abs. 4 Buchst. b UuA-RL auf der je nach behandeltem Thema relevanten Leitungs- und Vertretungsebene.
222
Nach Art. 4 Abs. 4 Buchst. e UuA-RL erfolgt die Anhörung zu Entscheidungen, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können (Buchst. c), mit dem Ziel einer – nicht erzwingbaren1 – Vereinbarung über die entsprechenden Entscheidungen des Arbeitgebers.
223
Die Richtlinie statuiert kein Recht der Arbeitnehmervertreter, die Hilfe von Sachverständigen in Anspruch zu nehmen.2
224
Die Unterrichtungs- und Beratungsrechte des Betriebsrats nach dem BetrVG erfüllen die Anforderungen der Richtlinie im Wesentlichen und übertreffen diese sogar regelmäßig (vgl. §§ 81, 82, 90, 92, 92a, 96, 97, 102, 110, 111 BetrVG).3
225
Jedenfalls dann, wenn in einem Unternehmen ein Wirtschaftsausschuss mit Rechten nach § 106 Abs. 2 und 3 BetrVG eingerichtet werden kann, besteht kein Zweifel, dass die Unterrichtungs- und Anhörungsrechte i.S.d. Richtlinie umfassend gewährleistet sind.4 In gegenständlicher Hinsicht dürfte den Unterrichtungs- und Anhörungsrechten gem. Art. 4 Abs. 2 Buchst. a UuA-RL mit § 106 Abs. 2 und 3 BetrVG Genüge getan sein.5 §§ 92 ff., 96 ff. BetrVG dürften die Anforderungen des Art. 4 Abs. 2 Buchst. b UuA-RL erfüllen und die Gegenstände des Art. 4 Abs. 2 Buchst. c UuA-RL dürften durch § 90 und § 111 BetrVG abgedeckt sein.6
226
Da für Zwecke der inländischen Umsetzung zum Teil auf den Wirtschaftsausschuss gem. § 106 BetrVG zurückgegriffen werden muss, werden für den Fall, dass kein Wirtschaftsausschuss besteht, punktuelle Zweifel an der Richtlinienkonformität geäußert.7 Um diesen Rechnung zu tragen, wurde vorgeschlagen, den Schwellenwert nach § 106 Abs. 1 Satz 1 BetrVG für die Einrichtung eines Wirtschaftsausschusses von 100 auf 50 Arbeitnehmer im Unternehmen abzusenken oder den Betriebsrat in Unternehmen mit 50 bis 100 Arbeitnehmern zum Träger der Beteiligungsrechte nach § 106 BetrVG zu machen.8 Der deutsche Gesetzgeber hat diese Anregungen bisher nicht aufgegriffen.9
227
1 Reichold, NZA 2003, 289 (297). 2 Reichold, NZA 2003, 289 (295 f.); Bonin, AuR 2004, 321 (324). 3 Vgl. Reichold, NZA 2003, 289 (298); GK-BetrVG/Wiese, Einleitung BetrVG Rz. 35; GKBetrVG/Oetker, § 111 BetrVG Rz. 5. 4 Reichold, NZA 2003, 289 (298 f.); Bonin, AuR 2004, 321 (324); Konzen, ZfA 2005, 189 (206); Franzen, FS Birk, 97 (102 ff.). 5 Franzen, FS Birk, 97 (102). 6 Franzen, FS Birk, 97 (103), sieht insofern eine Umsetzungslücke im Rahmen des § 111 BetrVG, da nach der Richtlinie auch eine Unterrichtung über Betriebsübergänge, die mit einer wesentlichen Änderung der Arbeitsverträge einhergehen, gefordert sei. Nach deutschem Recht müsse eine solche nicht in jedem Fall erfolgen. Nur wenn eine Änderung der Arbeitsorganisation einhergehe, greife die Unterrichtungspflicht nach § 111 BetrVG. Franzen sieht jedoch in diesen Fällen eine ausreichende Umsetzung durch § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG als gewährleistet. 7 Reichold, NZA 2003, 289 (299); Franzen, FS Birk, 97 (102 f.); zum Richtlinienvorschlag KOM (1998), 612 endg. Deinert, NZA 1999, 800. 8 Reichold, NZA 2003, 289 (299); Bonin, AuR 2004, 321 (324/326); Konzen, ZfA 2005, 189 (206); Franzen, FS Birk, 97 (105). 9 Nach einer großzügigeren Ansicht genügt insoweit eine Umsetzung durch §§ 43 Abs. 2 Satz 3, 110 Abs. 2 BetrVG oder eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 80 Abs. 2, 111 BetrVG, vgl. hierzu Franzen, FS Birk, 97 (102, 106).
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§ 12
Rz. 228
Europäisches Betriebsverfassungsrecht
5. Vertrauliche Informationen und Schutz der Arbeitnehmervertreter 228
Die Mitgliedstaaten haben nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 UuA-RL den Arbeitnehmervertretern gem. den in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegten Bedingungen und Beschränkungen die Weitergabe ihnen im berechtigten Interesse der Unternehmen oder Betriebe ausdrücklich als vertraulich mitgeteilter Informationen an Arbeitnehmer oder unbefugte Dritte zu verbieten. Diese Geheimhaltungspflicht gilt nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 UuA-RL unabhängig vom Aufenthaltsort der Arbeitnehmervertreter und auch noch nach Ablauf ihrer Amtszeit.
229
Die Geheimhaltungspflicht gem. § 79 Abs. 1 BetrVG bezieht sich lediglich auf Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse. In der Literatur wird die Richtlinienkonformität der Norm deshalb zu Recht angezweifelt.1 Es erscheint zweifelhaft, ob der Vorbehalt zugunsten der „in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegten Bedingungen und Beschränkungen“ auch die inhaltliche Reichweite des Vertraulichkeitsschutzes erfasst. Der Wortlaut der Richtlinie legt vielmehr nahe, dass geschützte vertrauliche Informationen nicht auf das enge Verständnis der Betriebsund Geschäftsgeheimnisse beschränkt werden können und dass es einen weiteren Spielraum für die Klassifizierung als vertrauliche Informationen gibt (vgl. die ähnlichen Bedenken in Bezug auf § 35 Abs. 2 EBRG vgl. Rz. 149).
230
Ferner bestimmt Art. 6 Abs. 2 UuA-RL parallel zu der Geheimhaltungspflicht der Arbeitnehmervertreter, dass die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Arbeitgeber in besonderen Fällen und unter Beachtung der in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegten Bedingungen und Beschränkungen nicht verpflichtet sind, eine Unterrichtung vorzunehmen oder eine Anhörung durchzuführen, wenn diese Unterrichtung oder Anhörung nach objektiven Kriterien die Tätigkeit des Unternehmens oder Betriebs erheblich beeinträchtigen oder dem Unternehmen oder Betrieb schaden könnte. Die Konkretisierung des deutschen Gesetzgebers in § 106 Abs. 2 BetrVG („… soweit dadurch nicht Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gefährdet werden …“) erscheint wiederum enger als die Richtlinie, da hiernach die Einschränkung der Unterrichtungs- und Anhörungspflicht des Arbeitgebers nur bei einer Gefährdung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen bestehen soll.
231
Die Mitgliedstaaten tragen gem. Art. 7 UuA-RL dafür Sorge, dass die Arbeitnehmervertreter bei der Ausübung ihrer Funktion einen ausreichenden Schutz und ausreichende Sicherheiten genießen, die es ihnen ermöglichen, die ihnen übertragenen Aufgaben in angemessener Weise wahrzunehmen.2
232
Der Tätigkeitsschutz der Betriebsratsmitglieder nach deutschem Recht genügt insoweit den Anforderungen der Richtlinie (vgl. § 15 KSchG, §§ 37, 38, 78, 103, 119, 121 BetrVG).3 6. Durchsetzung
233
Für den Fall der Nichteinhaltung durch den Arbeitgeber oder durch die Arbeitnehmervertreter haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 8 Abs. 1 UuA-RL geeignete Maßnahmen sowie geeignete Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zur Durchsetzung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen vorzusehen. Ferner verlangt Art. 8 Abs. 2 UuA-RL angemessene Sanktionen im Falle von Verstößen. 1 Reichold, NZA 2003, 289 (297). 2 Vgl. EuGH v. 11.2.2010 – Rs. C-405/08 – Holst, Slg. 2010, I-985 = NZA 2010, 286 – Rz. 46 ff. 3 Reichold, NZA 2003, 289 (298); Bonin, AuR 2004, 321 (327).
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Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung
§ 12
Rz. 235
Das BetrVG enthält ein ausreichendes Instrumentarium, um ein Unterlaufen der Unterrichtungs- und Anhörungsrechte des Betriebsrats effektiv zu verhindern, welches vor den ArbG auch effektiv zur Geltung gebracht werden kann (vgl. §§ 23 Abs. 3, 113, 119, 121 BetrVG).1 Ebenso wird Verstößen gegen die – unzureichend umgesetzte – Geheimhaltungspflicht der Arbeitnehmervertreter durch die Strafandrohung des § 120 BetrVG vorgebeugt.
234
Die Pflicht zur effektiven Umsetzung der Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie wird im Rahmen der fortwährenden Diskussion zu der Frage angeführt, ob dem Betriebsrat bei einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG ein Anspruch auf Unterlassung der Betriebsänderung bis zur Beendigung des Interessenausgleichsverfahren gegen das Unternehmen zusteht, den er gegebenfalls. im Wege einer einstweiligen Verfügung durchsetzen kann.2 Befürworter eines Unterlassungsanspruchs merken an, dass seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie am 23.5.2005 eine richtlinienkonforme Auslegung des § 111 BetrVG für dessen Anerkennung spreche.3 Dieses Argument überzeugt jedoch nicht,4 da die Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie einen solchen Unterlassungsanspruch als Durchsetzungsinstrument nicht verlangt. Die Auswahl geeigneter Durchsetzungsmaßnahmen liegt vielmehr bei den Mitgliedstaaten. Ein Unterlassungsanspruch ist nicht das einzig denkbare und geeignete Mittel zur Durchsetzung der Rechte aus der Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie.
235
1 Reichold, NZA 2003, 289 (299); Franzen, FS Birk, S. 97 (105 f.); Deinert, NZA 1999, 800 (805); Giesen, RdA 2000, 298 (302 f.); einschränkend Hanau/Steinmeyer/Wank/Hanau, § 19 Rz. 134; Bonin, AuR 2004, 321 (327 f.). 2 Vgl. Fitting, § 111 BetrVG Rz. 132 ff.; Richardi/Annuß, § 111 BetrVG Rz. 166 ff.; GK-BetrVG/ Oetker, § 111 BetrVG Rz. 269 ff. 3 LAG München v. 22.12.2008 – 6 TaBVGa 6/08, BeckRS 2009, 74014; LAG Schleswig-Holstein v. 15.12.2010 – 3 TaBVGa 12/10, BeckRS 2011, 68509; v. 20.7.2007 – 3 TaBVGa 1/07, NZA-RR 2008, 244; Kothe, FS 50 Jahre BAG, 1219 (1248 ff.); Fauser/Nacken, NZA 2006, 1136 (1142 f.); Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 BetrVG Rz. 168; Schaub/Koch, § 244 Rz. 29a. 4 Vgl. auch Lipinski/Reinhardt, NZA 2009, 1184; Völksen, RdA 2010, 354 (363 f.); GK-BetrVG/ Oetker, § 111 BetrVG Rz. 279 f.
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§ 13 Das Vorabentscheidungsverfahren Rz. I. Aufgaben der Rechtsprechung in der Europäischen Union . . . . . . .
1
II. Zweck und Bedeutung des Verfahrens nach Art. 267 AEUV . . . . . .
5
III. Vorlageadressat . . . . . . . . . . . . 14 IV. Vorlagegegenstand 1. Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Rz. b) Amtshaftung . . . . . . . . . . . . 61 c) Verfassungsrechtliche Sanktion – Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG63 . 63 d) Nichtvorlage und EMRK . . . . . 67 VII. Vorlagefrage, Vorlagebeschluss und Verfahren 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 68
2. Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . 16
2. Vorlagefrage . . . . . . . . . . . . . . 69
3. Gültigkeitsentscheidungen . . . . . 23
3. Vorlagebeschluss . . . . . . . . . . . 75
V. Vorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . 24
4. Verfahren beim nationalen Gericht
1. Gericht eines Mitgliedstaats i.S.d. Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . 25 2. Erforderlichkeit der Entscheidung durch den EuGH . . . . . . . . . . . 29 3. Ausübung des Vorlageermessens . 34 VI. Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . 39 1. Fehlende Anfechtbarkeit mit Rechtsmitteln . . . . . . . . . . . . . 40 2. Vorlagepflicht bei Abweichung? . . 46 3. Vorlagepflicht bei Nichtanwendung nationalen Gesetzesrechts? . 47 4. Entfallen der Vorlagepflicht im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kategorien und Meinungsstand . b) Begriff des „acte clair“ . . . . . . c) Begriff des „acte éclairé“ . . . . . d) Dritte Kategorie? . . . . . . . . . .
48 49 54 55 59
5. Verstoß gegen die Vorlagepflicht a) Unionsrechtliche Sanktion – Vertragsverletzungsverfahren . . 60
85
VIII. Verfahren beim EuGH . . . . . . . . 91 1. Sprachenregelung . . . . . . . . . . . 92 2. Schriftliches Verfahren . . . . . . . 94 3. Mündliche Verhandlung a) Durchführung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . b) Zweck der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . c) Gang der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Hinweise des EuGH für die mündliche Verhandlung . . . . .
101 102 103 107
IX. Entscheidung des EuGH . . . . . . . 111 X. Wirkung des Urteils 1. Inhaltliche Bindung . . . . . . . . . . 114 2. Zeitliche Bindung . . . . . . . . . . . 117 XI. Gerichtsorganisation im Vorabentscheidungsverfahren . . . . . 120
Schrifttum: Baumeister, Effektiver Individualrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, EuR 2005, 1; Bechtold, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 16.7.1992 – Rs. C-67/91, EuZW 1992, 671; Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014; Bussewitz, Das Vorlageverfahren zum EuGH, FS Etzel 2011, 119; Calliess, Der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes – Auf dem Weg zu einer kohärenten Kontrolle der unionsrechtlichen Vorlagepflicht?, NJW 2013, 1905; Cremer, Vorabentscheidungsverfahren und mitgliedstaatliche Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 1999, 266; Daiber, Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch den EGMR?, EuR 2007, 406; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995; Dörr/Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000), 386; Düsterhaus, Es geht auch ohne Karlsruhe: Für eine rechtsschutzorientierte Bestimmung der zeitlichen Wirkungen von Urteilen im Verfahren nach Art. 234 EG, EuZW 2006, 393; Ehricke, Die Bindungswirkung von Urtei-
710
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Roloff
§ 13
Das Vorabentscheidungsverfahren
len des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, 1997; Everling, Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union, EuR 1997, 398; Fastenrath, BVerfG verweigert willkürlich die Kooperation mit dem EuGH, NJW 2009, 272; Feige, BVerfG und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, 2009; Friedrich, Umfang und Grenzen der Durchsetzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, 2010; Gas, Das ist doch ganz einfach. Oder nicht? Befremdliches vom BVerfG zur Gleichbehandlung, EuZW 2008, 385; Germelmann, Wie weit reicht die Wirkung von Ungültigkeitserklärungen im Vorabentscheidungsverfahren?, EuR 2009, 254; Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2005; Habersack/Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913; Haltern, Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, VerwArch 2005, 311; Heitsch, Prüfungspflichten des BVerfG unter dem Staatsziel der europäischen Integration, EuGRZ 1997, 461; Herrmann, Die Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht in der neueren Rechtsprechung des EuGH, EuZW 2006, 231; Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470; Hirsch, Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof, RdA 1999, 48; Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft II, 2000, S. 889; Hummert, Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, 2006; Kluth, Die Haftung der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtswidrige höchstrichterliche Entscheidungen – Schlussstein im System der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung – Zugleich ein Plädoyer für eine zeitgemäße Reform des deutschen Staatshaftungsrechts, DVBl. 2004, 393; Kohler, Gemeinschaftsrecht und Privatrecht, zur Rechtsprechung des EuGH im Jahre 1995, ZEuP 1996, 452; Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633; Kokott/Dervisopoulos/Henze, Aktuelle Fragen des effektiven Rechtsschutzes durch die Gemeinschaftsgerichte, EuGRZ 2008, 10; Kremer, Staatshaftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht durch letztinstanzliche Gerichte, NJW 2004, 480; Kremer, Gemeinschaftsrechtliche Grenzen der Rechtskraft, EuR 2007, 470; Kube, Verfassungsbeschwerde gegen Gemeinschaftsrecht und Vorlagepflicht des BVerwG nach Art. 234 III EGV, JuS 2001, 858; Lang, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von EuGH-Urteilen im Lichte des Urteils Meilicke, IStR 2007, 235; Leopold/Reiche, Zur Vorlageberechtigung mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden nach Art. 234 EG, EuZW 2005, 143; Lieber, Über die Vorlagepflicht des Art. 177 EWG-Vertrag und deren Missachtung, 1986; Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11; Mutke, Die unterbliebene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof als Revisionsgrund im Verwaltungsprozess, DVBl. 1987, 403; Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkung von EuGH-Entscheidungen, 2009; Obwexer, Staatshaftung für offenkundig gegen Gemeinschaftsrecht verstoßendes Gerichtsurteil, EuZW 2003, 726; Pache, Keine Vorlage ohne Anfechtung?, EuZW 1994, 615; Pache/Burmeister, Gemeinschaftsrecht im verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren, NVwZ 1996, 979; Pache/Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis unterinstanzlicher Gerichte im Vorabentscheidungsverfahren – zugleich ein Beitrag zu Art. 68 I EG, NVwZ 2004, 16; Pechstein, Die Intergouvernementalität der GASP nach Lissabon, JZ 2010, 425; Pechstein, EU-Prozessrecht, 2011; Pescatore, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag und die Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, BayVBl. 1987, 33; Pfeiffer, Keine Beschwerde gegen EuGH-Vorlagen?, NJW 1994, 1996; Rabe, Nach der Reform ist vor der Reform, FS Zuleeg, 2005, S. 195; Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten – Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, NJW 2000, 1889; Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssystems der EU – Entwicklungstendenzen des EuGH zum Supreme Court Europas, ZRP 2000, 52; Roth, Europäisches Recht und nationales Recht, in: 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft II, 2000, 847; Rodi, Vorlageentscheidungen, gesetzlicher Richter und Willkür, DÖV 1989, 750; Schmitz/Krasniqi, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Urteilen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, EuR 2010, 189; Schmira, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004; Schnorbus, Autonome Harmonisierung in den Mitgliedstaaten durch die Inkorporation von Gemeinschaftsrecht, RabelsZ 65 (2001), 654; Sellmann/Augsberg, Entwicklungstendenzen des Vor-
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§ 13
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsverfahren
lageverfahrens nach Art. 234 EGV, DÖV 2006, 533, Skouris, Höchste Gerichte an ihren Grenzen, in FS Starck 2007, S. 991; Skouris, Stellung und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens im europäischen Rechtsschutzsystem, EuGRZ 2008, 343; Terhechte, Temporäre Durchbrechung des Vorrangs des europäischen Gemeinschaftsrechts beim Vorliegen „inakzeptabler Regelungslücken“?, EuR 2006, 828; Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren, 2009; Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997; Ullrich, Internationale Gerichte bzw. Beschwerdeausschüsse und das Vorlageverfahren an den EuGH nach Art. 267 AEUV, EuR 2010, 573; Vedder, Ein neuer gesetzlicher Richter?, NJW 1987, 526; von Arnauld, Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts – Gedanken im Prozess der Konstitutionalisierung Europas, EuR 2003, 191; von Danwitz, Zur Frage der mitgliedstaatlichen Haftung für judikatives Unrecht, JZ 2004, 301; Wägenbaur, Stolpersteine des Vorabentscheidungsverfahrens, EuZW 2000, 37; Wagner, Funktion, praktische Auswirkungen der richterlichen Vorlagen an den EuGH, 2000; Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, Vorträge und Berichte des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht, 2006; Wegener, Rechtsstaatliche Vorzüge und Mängel des Verfahrens vor den Gemeinschaftsgerichten, EuR 2008, Beiheft 3, 45; Wegener/Held, Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EG-Recht durch nationale Gerichte, Jura 2004, 479; Weiß, Die Einschränkung der zeitlichen Wirkungen von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EGV, EuR 1995, 377; Wiedmann, Zeitlos wie ungeklärt: Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG, EuZW 2007, 692; Wölker, Wann verletzt eine Nichtvorlage an den EuGH die Garantie des gesetzlichen Richters?, EuGRZ 1988, 97.
I. Aufgaben der Rechtsprechung in der Europäischen Union 1
Die Europäische Union, ihre Organe und die Mitgliedstaaten unterliegen einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle auf dem Gebiet des Unionsrechts. Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz sichern nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EU im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, wozu auch das sekundäre Unionsrecht zählen kann.1
2
Die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts umfassen dabei auch die Methode der richterlichen Rechtsfortbildung, von welcher der EuGH bei seiner Auslegung nach Sinn und Zweck der Verträge Gebrauch macht.2 Der EuGH hat keine allumfassende Zuständigkeit, er verfügt über die Zuständigkeiten, die ihm im Vertrag eingeräumt werden. Die Rechtsprechung ist damit einer dritten Gewalt im Sinne der Gewaltenteilung angenähert.
3
Die Aufgabe des EuGH und der nationalen Gerichte bei der Kontrolle und Anwendung des Unionsrechts ist aufgeteilt. Beim indirekten Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sind die nationalen Gerichte zuständig, wobei das nationale Recht unionsrechtskonform anzuwenden ist. Bei Fragen zur Auslegung des Unionsrechts ist nach Art. 267 AEUV zu verfahren. Damit werden die nationalen Gerichte jedenfalls inhaltlich zu europäischen Gerichten (vgl. § 1 Rz. 78).3
4
Maßgebliche Normen für die Tätigkeit des EuGH sind neben dem AEUV die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH-Satzg), die auf der Grundlage des Art. 251 Satz 1 AEUV erlassen wurde,4 sowie die Verfahrensordnung (EuGH1 Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV. 2 Wagner, Funktion und praktische Auswirkungen der richterlichen Vorlagen an den EuGH, S. 51. 3 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 741. 4 ABl. Nr. L 228 v. 23.8.2012, S. 1.
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Zweck und Bedeutung des Verfahrens nach Art. 267 AEUV
§ 13
Rz. 7
VerfO).1 Die EuGH-VerfO ist abzugrenzen von der Verfahrensordnung des Gerichts und des Gerichts für den öffentlichen Dienst. Sie besitzen eigene Verfahrensregeln, die bislang aber für das Vorabentscheidungsverfahren ohne Bedeutung sind. Außerdem hat der EuGH Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen2 sowie praktische Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen vor dem Gerichtshof3 erlassen. Diese sind mit weiteren Hinweisen zum Verfahren leicht auf der Internetseite des EuGH zu finden.4
II. Zweck und Bedeutung des Verfahrens nach Art. 267 AEUV Der EuGH sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV. Auch das Vorabentscheidungsverfahren dient dieser Rechtsaufsicht des EuGH.5 Um die Gefahr divergierender Entscheidungen der europäischen Gerichte der Mitgliedstaaten zum Verständnis des Unionsrechts zu vermeiden, wurde das Vorabentscheidungsverfahren eingeführt.6 Es geht um die Sicherstellung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte sowie um die Gültigkeitskontrolle von Unionsrecht.7 Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist das Grunderfordernis eines jeden integrierten Rechtssystems.8 Das Vorabentscheidungsverfahren ist nicht ohne Vorbilder und Entsprechungen in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart.9
5
Der EuGH führt selbst bereits in einer älteren Entscheidung aus, dass das Vorabentscheidungsverfahren von entscheidender Bedeutung dafür ist, dass das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt; es soll gewährleisten, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Auf diese Weise soll es unterschiedliche Auslegungen des Gemeinschaftsrechts verhindern, das die nationalen Gerichte anzuwenden haben; doch zielt der EuGH auch darauf ab, diese Anwendung selbst zu gewährleisten, da er dem nationalen Richter die Möglichkeit gibt, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben können, dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zur vollen Geltung zu verhelfen. Jede Lücke in dem so geschaffenen System würde daher sogar die Wirksamkeit der Vertragsvorschriften und des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts in Frage stellen. In diesem Sinne sind die Vorschriften zu würdigen, nach denen jedes nationale Gericht ohne Unterschied den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen kann, wenn es dessen Entscheidung zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält.10
6
Die Auslegung der Verträge im Vorabentscheidungsverfahren hat damit nicht nur einen objektiven, sondern auch einen einzelrechtsschützenden Charakter. Es ist ein Ausgleich für den fehlenden Einzelrechtsschutz vor dem EuGH.11 Der Einzelrechtsschutz ist allerdings begrenzt, da die einzelnen Parteien kein formelles Antragsrecht
7
1 ABl. Nr. L 265 v. 29.9.2012 in der am 18.6.2013 geänderten Fassung ABl. Nr. L 173 v. 26.6. 2013, S. 65. 2 ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. 3 ABl. L 31/1 v. 31.1.2014. 4 http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7031/. 5 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 742. 6 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 741. 7 HWK/Tillmanns, Art. 267 AEUV Rz. 1. 8 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 44. 9 Vgl. ausführlich Piekenbrock, EuR 2011, 317. 10 EuGH v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 – Rheinmühlen, Slg. 1974, 33 – Rz. 2. 11 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 751.
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§ 13
Rz. 8
Das Vorabentscheidungsverfahren
zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens besitzen. Letztlich bleibt dann nur der Weg zum BVerfG, das in dem fehlenden Vorabentscheidungsverfahren den Entzug des gesetzlichen Richters sehen kann (vgl. Rz. 63 ff.).1 Daneben besteht nach Art. 258 AEUV die Möglichkeit des Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission gegen den Mitgliedstaat, dessen Gericht ein Vorabentscheidungsverfahren trotz entsprechender Pflicht nicht eingeleitet hat.2 Schließlich kann der Verstoß gegen die Vorlagepflicht einen Amtshaftungsanspruch gegen den Mitgliedstaat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht auslösen (vgl. Rz. 61 f.).3 8
Der EuGH ist wie das BVerfG keine Superrevisionsinstanz.4 Er gibt dem nationalen Gericht nur Hinweise über die Auslegung des Unionsrechts, nicht aber zur konkreten Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts. Das ergibt sich schon aus der Natur des Vorabentscheidungsverfahrens, das als reines Zwischenverfahren ausgestaltet ist.5 Der EuGH kann auch keine nationalen Bestimmungen etwa wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht verwerfen oder für ungültig erklären. Er kann allenfalls in bestimmten Fällen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht feststellen, wenn das nationale Gericht hiernach fragt und es um die Kollision mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht geht: Es obliegt grundsätzlich dem nationalen Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, zu gewährleisten und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu garantieren, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt.6
9
Die Aufgabe des EuGH besteht nicht darin, das ausgelegte Recht auf den Sachverhalt anzuwenden, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt. Dies ist vielmehr Sache des nationalen Gerichts, und der Gerichtshof hat somit weder über Tatsachenfragen, die im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits aufgeworfen werden, noch über etwaige Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Auslegung oder Anwendung des nationalen Rechts zu entscheiden. Einiges muss hier noch als ungeklärt bezeichnet werden: So ist etwa unklar und später zu untersuchen, wie weit die Prüfungskompetenz des EuGH reicht, wenn es um die Anwendung seiner Rechtsgrundsätze geht.
10
Das Vorabentscheidungsverfahren ist damit ein Instrument der richterlichen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es das Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen.7 Es ist zudem mittelbar ein Instrument der richterlichen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten. Die Vorlagen aus anderen Mitgliedstaaten oder von anderen Gerichten klären das Unionsrecht soweit auf, dass sich Vorlagen erübrigen und das Unionsrecht nach der Vorstellung des EuGH berücksichtigt werden kann.8
1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 751. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 837. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 837. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 750; HWK/Tillmanns, Art. 267 AEUV Rz. 1. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 745. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 77. EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, NJW 2013, 29 – Rz. 83; Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 749. 8 acte éclairé; Art. 99 VerfO-EuGH.
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Vorlageadressat
Rz. 14 § 13
Das Vorabentscheidungsverfahren ist die bedeutendste Möglichkeit zur Befassung des Gerichtshofs.1 Nahezu zwei Drittel aller neu beim EuGH eingegangenen Verfahren betrafen im Jahr 2012 Vorabentscheidungsverfahren.2 Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug etwa 16 Monate. Für die arbeitsgerichtlichen Verfahren führt die Vorlage damit zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung der richterlichen Entscheidungsfindung und damit zu einer Belastung der Parteien, die stets vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgrundsatzes des ArbGG zu würdigen ist.
11
Deutsche Gerichte nutzen das Vorabentscheidungsverfahren in absoluten Zahlen mit Abstand am häufigsten in der Union, umgerechnet auf Vorlagen pro Einwohner – was den besseren Maßstab liefert – liegen jedoch die Benelux-Staaten und Österreich vor Deutschland:3 Insgesamt gab es von 1952 bis 2013 aus Deutschland 2.050 Vorabentscheidungsverfahren. Der BGH leitete 184, das BVerwG 109, der BFH 295, das BAG 26, das Bundessozialgericht 75 und andere Gerichte 1.361 Vorlageverfahren ein.4
12
Diese Zahl verdeutlicht die Vorreiterrolle des BFH bei deutschen Vorlageverfahren. Die Zahlen verdeutlichen auch, dass das BAG nicht zu den besonders vorlagefreudigen Gerichten zählt, obwohl das Arbeitsrecht sicherlich nicht zu den vom Unionsrecht gering durchdrungenen Rechtsmaterien zählt. Die zurückhaltende Vorlagepraxis des BAG führt wohl auch dazu, dass wiederholt Instanzgerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit den EuGH angerufen haben, um die bestehende Rechtsprechung einer unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts zuzuführen.5 Die zurückhaltende Vorlagepraxis steht in erheblichem Widerspruch zu dem Umstand, dass für 79 % der deutschen Arbeitsrichter EuGH-Entscheidungen in ihrer täglichen Arbeit eine große bis sehr große Rolle spielen.6
13
III. Vorlageadressat Nach Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union nach Maßgabe der Verträge im Wege der Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe. Grundsätzlich ist allein der EuGH sachlich zuständig. Der Gerichtshof tagt in Kammern oder als Große Kammer entsprechend den hierfür in der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorgesehenen Regeln. Nach Art. 256 Abs. 3 AEUV kann das Gericht, und nicht der Gerichtshof für Vorabentscheidungen nach Art. 267 AEUV zuständig sein, wenn dies in der Satzung in festgelegten Sachgebieten geregelt ist. Eine solche Regelung fehlt jedoch bislang.
1 2 3 4 5
Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 741. Jahresbericht des EuGH v. 2013, S. 109. Rösler, EuR 2012, 392. Jahresbericht des EuGH v. 2012, S. 119. Vgl. nur LAG Düsseldorf v. 2.8.2006 – 12 Sa 486/06, NZA-RR 2006, 628; EuGH v. 20.1.2009 – verb. Rs. C-350/06 und C-520/06 – Schultz-Hoff, Slg. 2009, I-179; vgl. zum Vorlageermessen vgl. Rz. 34. 6 Vgl. Roland Rechtsreport 2014, S. 36; Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, S. 45 ff., unterscheiden ausführlich die Gründe für die unterschiedliche Vorlagepraxis der einzelnen Gerichte in den einzelnen Mitgliedstaaten.
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§ 13
Rz. 15
Das Vorabentscheidungsverfahren
IV. Vorlagegegenstand 1. Allgemein 15
Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge und über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Art. 267 Abs. 1 AEUV. Auslegungsfragen spielen im Europäischen Arbeits- und Sozialrecht eine bedeutende Rolle, Gültigkeitsfragen noch nicht. Die Aufzählung ist abschließend. Damit können sämtliche Bestimmungen in Verträgen, Verordnungen und Richtlinien einer Auslegung durch den EuGH zugeführt werden.1 Ob das sekundäre Unionsrecht unmittelbare Wirkung entfaltet, ist unerheblich. Zum primären Unionsrecht zählt auch gem. Art. 6 Abs. 1 EUV die Charta der Grundrechte.2 2. Auslegungsfragen
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Die Auslegung der Verträge sowie der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union ist ein Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens. Davon ist das gesamte primäre und sekundäre Unionsrecht erfasst (vgl. § 1 Rz. 22 ff.).
17
Die Auslegung oder Gültigkeit (rein) nationalen Rechts kann nicht Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens sein.3 Doch auch bei einem rein auf das Inland beschränkten Sachverhalt kann eine Antwort dem vorlegenden Gericht gleichwohl von Nutzen sein, insbesondere dann, wenn das nationale Recht ihm in Rechtsstreitigkeiten vorschreibt, einem anderen Staatsangehörigen die gleichen Rechte zuzuerkennen, die dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats in der gleichen Lage aufgrund des Unionsrechts zustünden.4 Damit lässt der EuGH Auslegungsfragen zu, wenn das nationale Recht unionsrechtliche Bestimmungen außerhalb des ursprünglichen unionsrechtlichen Anwendungsbereichs für anwendbar erklärt.5 Insoweit besteht ein Interesse an der einheitlichen Bestimmung und Auslegung unionsrechtlicher Begriffe.6 Die Anwendung der ausgelegten Unionsrechtsnorm obliegt aber allein dem nationalen und vorlegenden Gericht. Dem EuGH ist es verwehrt, den streitgegenständlichen Sachverhalt unter die ausgelegte Norm zu subsumieren.
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Die Grenze zwischen der Rechtsauslegung, die in die Zuständigkeit des EuGH fällt, und der Rechtsanwendung, für die das nationale Gericht zuständig ist, wird als fließend bezeichnet.7 So kann die Auslegung eines unionsrechtlichen Begriffs so weit in die Einzelheiten gehen, dass dem vorliegenden Richter bei der Subsumtion kein Beurteilungsspielraum mehr verbleibt. Anders ist die Spruchpraxis, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe im Spiel sind. Diese überlässt der EuGH gerne dem Tatsachengericht.8
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Die Gratwanderung zwischen Auslegung und Anwendung kommt schon darin zum Ausdruck, dass der EuGH ohne Beweisaufnahme auf die Akten des nationalen Gerichts konkret Bezug nimmt. Das bringt zum Ausdruck, dass sich der EuGH nicht auf die Auslegung des Unionsrechts beschränkt. Ein Beispiel für die fließenden Grenzen ist die Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der Diskriminierung. So ist in der 1 2 3 4 5 6 7 8
Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 765. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 770. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 767. EuGH v. 20.6.2012 – Rs. C-84/11 – Susisalo u.a., – Rz. 20. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 768. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 768. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 82. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 82.
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Vorlagegegenstand
Rz. 21 § 13
Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG im ErwGr. 15 die Rede davon, dass die Beurteilung von Tatbeständen, die auf eine Diskriminierung schließen lassen, den einzelstaatlichen Gerichten obliegt. Dennoch hat der EuGH insbesondere bei Normprüfungen die Benachteiligung oder Diskriminierung auf der Grundlage der vergleichbaren Situation in aller Regel selbst geprüft.1 Das dürfte jedoch auch an dem Befund liegen, dass es bei dem Begriff der Diskriminierung nicht um einen unbestimmten Rechtsbegriff geht, sondern um die Auslegung eines Rechtsbegriffs, dessen Anwendung nur vor dem Hintergrund der konkreten Tatsachen erfolgen kann. Es wird daher vertreten, dass die Abgrenzung zwischen den Begriffen Auslegung und Anwendung nicht zielführend ist.2 Wegen der Ziele des Vorabentscheidungsverfahrens scheint es mir daher wohl noch zulässig, dem EuGH bei wesentlichen Fragen des Unionsrechts eine Anwendungskompetenz zuzubilligen. Dies ist dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Rechts, den auch das Vorabentscheidungsverfahren sichern soll, und dem Schutz der individuellen Rechtspositionen geschuldet.3 Insbesondere bei Ungleichbehandlungen oder Diskriminierungen wäre es schwer vorstellbar, wenn in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten ähnliche nationale Maßnahmen nicht an demselben Maßstab der Richtlinie 2000/78/EG gemessen würden. Die Auslegung des Unionsrechts muss daher trotz unserer Methodenvorstellungen dann eine Anwendung auf den Einzelfall umfassen. Das gebietet auch die Zusammenarbeit des EuGH mit den nationalen Gerichten. Würde der EuGH wesentliche Fragen als Anwendung im Einzelfall offenlassen, würde dies nur neue Vorlagen provozieren, auf die er dann antworten müsste. Die schwierige Abgrenzung wird auch schon dadurch deutlich, dass die Vorlagefrage in aller Regel dahin lauten wird, ob eine unionsrechtliche Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie bestimmten nationalen Maßnahmen entgegensteht. Die Antwort auf diese Fragen kann nur unter Anwendung des Unionsrechts auf den konkreten Sachverhalt erfolgen.
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Der Begriff der Auslegung deckt jedenfalls auch die Fortbildung des Unionsrechts (vgl. § 1 Rz. 103 ff.).4 Dabei hat der EuGH freilich Grenzen zu beachten: Rechtsfortbildung ist keine Rechtsetzung mit politischen Gestaltungsfreiräumen, sondern folgt den gesetzlich oder völkervertraglich festgelegten Vorgaben. Sie findet hier Gründe und Grenzen. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird. Rechtsfortbildung überschreitet diese Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. Dies ist vor allem dort unzulässig, wo Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder durch die Rechtsfortbildung strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung stattfinden. Eine wesentliche Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auf Unionsebene ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.5
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1 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – Rs. C-152/11 – Odar, NZA 2012, 1435; kritisch der weiterführende Hinweis des BAG v. 23.4.2013 – 1 AZR 916/11, NZA 2013, 980: Der Senat hat offengelassen, ob sich bestimmte Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation befinden. 2 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, S. 39. 3 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, S. 42 ff. 4 Wagner, Funktion und praktische Auswirkungen der richterlichen Vorlagen an den EuGH, S. 56 f. (m.w.N.). 5 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995 – Rz. 64 f.
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§ 13 22
Rz. 22
Das Vorabentscheidungsverfahren
Dies bedeutet zum einen, dass die unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der „Eigenart“ der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen, zu respektieren sind. Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht die Aufgabe des BVerfG, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.1 3. Gültigkeitsentscheidungen
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Zu den Handlungen, deren Gültigkeit überprüft werden kann, zählt das gesamte organgeschaffene sekundäre Unionsrecht. Handlungen sind nicht nur Maßnahmen nach Art. 288 AEUV, sondern auch Innenrechtsakte, Programme der Union und völkerrechtliche Verträge der Union. Offen ist die Rechtslage, wenn der Vorlagegegenstand gleichzeitig Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein kann. Die unbeschränkte Zulassung von Gültigkeitsvorlagefragen von sekundärem Unionsrecht bei gleichzeitiger Möglichkeit einer Nichtigkeitsklage – nur dort stellt sich das Problem – führte dazu, dass die Fristenregelung in Art. 263 AEUV und die besonderen Anforderungen an die Klageberechtigung natürlicher und juristischer Personen aufgeweicht werden könnten.2 Diese Frage hat im Arbeitsrecht in aller Regel keine Bedeutung, da die normativ wirkenden Handlungen der Organe auf dem Gebiet des Arbeitsrechts nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können.
V. Vorlagerecht 24
Nach Art. 267 Abs. 1 Satz 2 AEUV kann ein Gericht eines Mitgliedstaats die Frage über die Auslegung oder die Gültigkeit dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen, wenn ihm eine derartige Frage gestellt wird und es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Der Begriff des „Gerichts eines Mitgliedstaats“ hat für die Vorlageberechtigung erhebliche Bedeutung. 1. Gericht eines Mitgliedstaats i.S.d. Art. 267 AEUV
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Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Stelle um ein „Gericht“ i.S.v. Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie die gesetzliche Grundlage der Stelle, ihre Dauerhaftigkeit, ihre obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch diese Stelle sowie ihre Unabhängigkeit.3 Der EuGH legt den Begriff „Gericht“ als eigenständigen Begriff des Unionsrechts aus. Dabei ist von besonderer Bedeutung, ob der Spruchkörper Rechtsprechung ausübt und daher eine hinreichend enge Beziehung zur öffentlichen Gewalt hat, ohne aber als Verwaltungsbehörde tätig zu werden.4 Zur Bestimmung hat der EuGH einige Kriterien entwickelt, die ein Gericht i.S.d. Art. 267 AEUV aus1 2 3 4
BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995 Rz. 66. Vgl. hierzu ausführlich Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 779 ff. EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-363/11 – Epitropos tou Elegktikou Synedriou – Rz. 18. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 798.
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Vorlagerecht
Rz. 27 § 13
machen. Diese sind nicht als kumulative Voraussetzungen zu prüfen. Manche Voraussetzungen können andere verdrängen. Stets ist aber zu kontrollieren, ob die hinreichende Nähe zur staatlichen Gewalt vorliegt. Die Kriterien lauten: 1. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit; 2. durch oder aufgrund Gesetzes eingerichtete Instanz; 3. ständiger Charakter; 4. obligatorische, nicht gewillkürte Zuständigkeit; 5. streitiges Verfahren bzw. Verfahren mit Entscheidung, die Rechtsprechungscharakter hat; 6. bindende Anwendung von Rechtsnormen und nicht allein nach Billigkeit.1 Der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, bedeutet vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Stelle, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat.2 Außerdem umfasst dieser Begriff zwei weitere Aspekte. Der erste, externe, Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteilens ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreite gefährden könnten. Diese unerlässliche Freiheit von derartigen äußeren Einflüssen erfordert bestimmte Garantien wie die Unabsetzbarkeit, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen. Der zweite, interne, Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht. Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuräumen.3
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Schiedsgerichte sind damit nach der Rechtsprechung des EuGH aufgrund der gewillkürt vereinbarten Zuständigkeit keine vorlageberechtigten Gerichte.4 Es treffe zu, dass die Tätigkeit des in Frage stehenden Schiedsgerichts, wie der Schiedsrichter in seiner Frage hervorgehoben hat, insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit der gerichtlichen Tätigkeit aufweist, als das Schiedsverfahren gesetzlich ausgestaltet ist, als der Schiedsrichter nach Gesetz und Recht zu entscheiden hat und als seine Entscheidung zwischen den Parteien die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils hat und einen Vollstreckungstitel darstellen kann, wenn sie mit der Vollstreckbarerklärung versehen ist. Diese Eigenschaften genügen jedoch nicht, um dem Schiedsrichter die Stellung eines „Gerichts eines Mitgliedstaats“ zu verleihen. In erster Linie sei festzustellen, dass es den Vertragsparteien bei Abschluss der Vereinbarung freistand, die Entscheidung von eventuell auftretenden Rechtsstreitigkeiten den ordentlichen Gerichten zu überlassen oder durch die Aufnahme einer diesbezüglichen Klausel in ihre
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EuGH EuGH EuGH EuGH
v. v. v. v.
19.12.2012 – Rs. C-363/11 – Epitropos tou Elegktikou Synedriou – Rz. 18 f. 19.12.2012 – Rs. C-363/11 – Epitropos tou Elegktikou Synedriou – Rz. 20. 19.9.2006 – Rs. C-506/04 – Wilson, Slg. 2006, I-8613 – Rz. 49–53. 23.3.1982 – Rs. 102/81 – Nordsee, Slg. 1982, 1095.
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§ 13
Rz. 28
Das Vorabentscheidungsverfahren
Vereinbarung den Weg des Schiedsverfahrens zu wählen. Aus den Umständen ergibt sich, dass für die Vertragsparteien weder eine rechtliche noch eine tatsächliche Verpflichtung bestand, ihre Streitigkeiten vor ein Schiedsgericht zu bringen. Zweitens sei festzustellen, dass die deutsche öffentliche Gewalt in die Entscheidung, den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit zu wählen, nicht einbezogen war und dass sie nicht von Amts wegen in den Ablauf des Verfahrens vor dem Schiedsrichter eingreifen kann.1 28
Aus dieser Entscheidung wird abgeleitet, Einigungsstellen i.S.d. § 76 Abs. 1 BetrVG seien keine Gerichte der Mitgliedstaaten i.S.d. Art. 267 AEUV.2 An dieser Sichtweise sind im Bereich der zwingenden Mitbestimmung Zweifel angebracht. Auch das Einigungsstellenverfahren ist gesetzlich ausgestaltet. Die Einigungsstelle hat nach Recht und Gesetz zu entscheiden. Sie ist auch Dritte. Der Spruch der Einigungsstelle hat zwischen den Parteien die Wirkung einer Norm. Anders auch als in der Entscheidung des EuGH in der Sache Nordsee kann anstelle der Einigungsstelle kein Gericht angerufen werden. Es besteht insoweit gerade keine Freiheit, den Weg des Einigungsstellenverfahrens oder des Gerichts zu wählen. Es besteht eine gesetzliche Verpflichtung, bestimmte Regelungs- und Rechtsstreitigkeiten vor die Einigungsstelle zu bringen. Die öffentliche Gewalt ist zudem in die Einsetzung der Einigungsstelle einbezogen. Können sich die Betriebsarten nicht auf einen Vorsitzenden einigen, wird er vom ArbG eingesetzt, § 99 ArbGG. Zu der gesetzlich bestimmten Regelungsfrage hat die Einigungsstelle auch ständigen Charakter, will man den ständigen Charakter der Einigungsstelle nicht schon aus der gesetzlichen Regelung des § 76 BetrVG ableiten. Das Verfahren vor der Einigungsstelle hat überdies streitigen Charakter und beruht auf der Anwendung von Rechtsnormen, nicht allein auf Billigkeit. Denn die Einigungsstelle muss zwingend – wie auch die Betriebsparteien – die Grundsätze von Recht und Billigkeit achten, § 75 BetrVG. In diesem Bereich hat die Einigungsstelle ihren Regelungsrahmen auszuschöpfen. Gegen die Annahme eines mitgliedstaatlichen Gerichts spricht nicht der fehlende Rechtsprechungscharakter der Einigungsstelle, denn sie entscheidet auch in Regelungsstreitigkeiten inzident über Rechtsfragen. Meines Erachtens ist damit die Vorlageberechtigung der Einigungsstelle nicht per se ausgeschlossen. Da die Einigungsstelle auch letztinstanzlich über die Regelungsfrage entscheidet, die Gerichte können den Spruch der Einigungsstelle nur kassieren und nicht abändern, kommt sogar eine Vorlagepflicht in Betracht. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Spruch der Einigungsstelle vor den Arbeitsgerichten angefochten werden kann. Einem tarifrechtlichen Schiedsgericht hat der EuGH die Eigenschaft als „Gericht“ zuerkannt:3 Das tarifvertragliche Schiedsgericht konnte den Streit letztinstanzlich entscheiden und von einer der Parteien angerufen werden, ohne dass es hierfür der Zustimmung der anderen bedarf. Die Zuständigkeit des Gerichts hing folglich nicht von dem Einvernehmen der Parteien ab. Das Gesetz legte die Zusammensetzung fest, die Zahl der von den Parteien zu bestellenden Mitglieder sowie die Bestellung des Obmanns, falls die Parteien sich hierüber nicht einigen. Die Parteien konnten somit nicht frei über die Zusammensetzung des Schiedsgerichts bestimmen. 2. Erforderlichkeit der Entscheidung durch den EuGH
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Das Vorabentscheidungsverfahren kann eingeleitet werden, wenn das nationale Gericht eine Entscheidung über die Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage zum Erlass seines 1 EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 102/81 – Nordsee, Slg. 1982, 1095. 2 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 17. 3 EuGH v. 17.10.1989 – Rs. 109/88 – Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund i Danmark, Slg. 1989, 3199.
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Vorlagerecht
Rz. 32 § 13
Urteils für erforderlich hält. Die Formulierung verdeutlicht bereits, dass hier ein gewisser richterlicher Beurteilungsspielraum besteht. Der EuGH hat diesen noch ausgeweitet, um das Vorabentscheidungsverfahren für die nationalen Gerichte zu vereinfachen und den Individualrechtsschutz zu erhöhen. Der Gerichtshof kann ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.1 Der EuGH kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen entkräften, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.2 Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht.
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Im Grunde kontrolliert der EuGH die Erforderlichkeit nicht, es kommt allein auf die Beurteilung durch das nationale Gericht an, es sei denn, die Fragen sind hypothetisch, etwa weil ein Zusammenhang zwischen der Entscheidung des EuGH und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens ganz offensichtlich nicht besteht. Das kann der Fall sein, wenn sich der Rechtsstreit erledigt hat oder der Vorlagebeschluss nicht hinreichend erkennen lässt, welche tatsächlichen und rechtlichen Umstände dem Ausgangsverfahren zugrunde liegen. Die Erforderlichkeit ist aber auch bei der Auslegung rein nationalen Rechts in innerstaatlichen Sachverhalten gegeben, sofern nur auf das Unionsrecht verwiesen wird. Dies soll der einheitlichen Auslegung dienen.
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Der EuGH ist damit wegen der zentralen Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens zu einer restriktiven Missbrauchskontrolle gelangt.3 Dem Gerichtshof obliegt es, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wird. Denn der Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, verlangt auch, dass das nationale Gericht seinerseits auf die dem Gerichtshof übertragene Aufgabe Rücksicht nimmt, die darin besteht, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben. Hierbei sind auch die erhebliche Belastung und die zunehmende Verfahrensdauer beim EuGH in den Blick zu nehmen. Es genügt, dass sich nicht in Abrede stellen lässt, dass die vom vorlegenden Gericht beantragte Auslegung tatsächlich einem durch die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits bedingten objektiven Bedürfnis entspricht. Dafür genügt es etwa, dass ein Arbeitsvertrag tatsächlich durchgeführt worden ist und seine Anwendung eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts aufwirft. Dass sich die Parteien des Ausgangsrechtsstreits über die Auslegung möglicherweise einig sind, ändert nichts daran, dass dieser Rechtsstreit tatsächlich besteht.4
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EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-470/11 – Garkalns, NVwZ 2012, 1162 – Rz. 18. EuGH v. 28.6.2007 – Rs. C-467/05 – Giovanni Dell’Orto – Slg. 2007, I-5557 – Rz. 40. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 822. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981 – Rz. 36, 38.
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§ 13 33
Rz. 33
Das Vorabentscheidungsverfahren
Der Gerichtshof hat aber auch entschieden, dass das Erfordernis, zu einer für das nationale Gericht nützlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, es gebietet, dass dieses Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Bestimmungen des Unionsrechts gibt, um deren Auslegung es ersucht.1 Dabei genügen Zweifel des nationalen Gerichts bei der Auslegung und an der Gültigkeit des Unionsrechts. Eine Überzeugung von der Unwirksamkeit oder einer bestimmten Auslegung ist nicht erforderlich. Eine Vorlage ist zudem nur möglich, soweit das vorlegende Gericht eine Vorabentscheidung für sein Urteil für erforderlich hält. Es muss nach der Auffassung des Gerichts also auf die Auslegung/Gültigkeit von Unionsrecht ankommen. Die Auslegungsfrage muss entscheidungserheblich sein.2 Die Entscheidungserheblichkeit entfällt m.E. nicht bereits, wenn eine Richtlinie zwischen den Parteien als Privatpersonen nicht unmittelbar gilt und auch eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist.3 Zum einen ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH seine Rechtsprechung zur fehlenden unmittelbaren Geltung von Richtlinien aufgibt. Zum anderen eröffnet ein Auslegungsergebnis des EuGH in aller Regel einen erheblich verstärkten Auslegungsbedarf einer Norm, die der verfassungskonformen Auslegung zumindest gleichsteht. 3. Ausübung des Vorlageermessens
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Die Entscheidung, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, liegt unabhängig davon, ob die Parteien des Ausgangsverfahrens dies angeregt haben, allein beim nationalen Gericht. Das nationale Instanzgericht hat also ein Ermessen, ob es den EuGH anruft. Dafür spielt es auch keine Rolle, ob die Parteien die unionsrechtliche Frage aufgeworfen haben.4 Die Parteien können das Gericht auch nicht hindern, das Vorabentscheidungsverfahren einzuschlagen.5
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Dennoch muss das nationale Gericht vor der Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens sein Ermessen pflichtgemäß ausüben. Dabei hat das ArbG den Parteien das Recht zur Stellungnahme zu gewähren und den Beschleunigungsgrundsatz zu berücksichtigen. Es wird auch berücksichtigen müssen, dass die LAG und das BAG über größere Ressourcen verfügen, um das Vorabentscheidungsverfahren vorzubereiten. Außerdem wird in den höheren Instanzen der Sachverhalt zunehmend geklärt und beim BAG mit der Ausnahme von Verfahrensrügen als feststehend hingenommen, § 559 Abs. 2 ZPO. Dadurch entfällt das Risiko einer erneuten Vorlage im selben Verfahren. Schließlich nimmt die Wahrscheinlichkeit eines das Verfahren erledigenden Vergleichs ab. Nachdem das Gericht einen Vorlagebeschluss gefertigt hat, ist es besonders ärgerlich, wenn sich das Verfahren anderweitig erledigt.
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Der EuGH empfiehlt daher zu recht, dass die Entscheidung über die Vorlage zur Vorabentscheidung erst in einem Verfahrensstadium getroffen wird, in dem das vorlegende Gericht in der Lage ist, den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der Rechtssache zu bestimmen, damit der Gerichtshof über alle Informationen verfügt, die er benötigt, um sich gegebenenfalls davon überzeugen zu können, dass das Unionsrecht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist. Im Interesse einer geordneten Rechtspflege kann es außerdem sinnvoll sein, wenn die Vorlage erst nach streitiger 1 2 3 4
EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, NJW 2013, 29 – Rz. 84. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 819. A.A. BAG 18.9.2003 – 2 AZR 79/02, NZA 2004, 375, 382. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 816; zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der von den Parteien im Verfahren aufgeworfenen Vorlagefrage vgl. Rz. 63 ff. 5 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 817.
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Vorlagepflicht
Rz. 40 § 13
Verhandlung erfolgt.1 Ich würde sogar ergänzen, dass das nationale Gericht in der Lage sein sollte, den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der Rechtssache abschließend zu bestimmen. Im Schrifttum wird im Zweifel wegen des Individualrechtsschutzes eine Vorlage empfohlen.2 Die Nichtvorlage verzögere die unionsrechtliche Klärung. Außerdem könne man damit eine ständige obergerichtliche Rechtsprechung „überwinden“.3 Zudem bestehe zwischen dem Vorlagerecht und der Vorlagepflicht kein Rangverhältnis.4 Diese Auffassung verkürzt das eingeräumte Ermessen stark und stellt die unionsrechtliche Klärung zu sehr in den Vordergrund.
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Auch der Zeitpunkt der Vorlage steht im richterlichen Ermessen. Eine Vorlage ist zwar bereits im Prozesskostenhilfeverfahren zulässig.5 Jedoch sollte i.d.R. auf eine abschließende Klärung der tatsächlichen Verhältnisse geachtet werden.6 Ausnahmsweise bietet sich eine frühe Vorlage an, wenn sich das Gericht einen Hinweis des EuGH auf die zu ermittelnden Tatsachen und das ggfs. hierzu gebotene Vorgehen erhofft.7
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VI. Vorlagepflicht Wird eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet, Art. 267 Abs. 3 AEUV. Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV setzt damit wie Art. 267 Abs. 2 AEUV ebenfalls voraus, dass ein Gericht entscheidet und Zweifel an der Auslegung/Gültigkeit der Norm bestehen. Dies ergibt sich aus dem Verweis in Art. 267 Abs. 3 AEUV auf eine „derartige Frage“. Die Vorlagefrage muss damit auch entscheidungserheblich sein.8 Die Vorlagepflicht führt dazu, dass das nationale Gericht das Verfahren aussetzen muss. Es ist daran gehindert, eine Entscheidung in Kenntnis der Zweifel bei der Auslegung oder der Geltung zu treffen. Übersieht es diese Pflicht, verstößt dies möglicherweise gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, und führt zum Entzug des gesetzlichen Richters.
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1. Fehlende Anfechtbarkeit mit Rechtsmitteln Die Vorlagepflicht besteht, wenn eine Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann. Dabei ist nach allgemeiner Meinung eine konkrete Betrachtung vorzunehmen. Danach kann auch das ArbG letzte Instanz sein, wenn die Berufungssumme nicht erreicht ist und das Gericht die Berufung nicht zulässt.9 Die hiervon abweichende abstrakt-institutionelle Betrachtungsweise entlastet zwar den EuGH, da Untergerichte auch bei unanfechtbaren Entscheidungen nie zur Vorlage verpflichtet wären. Dies verstößt indes gegen den Sinn und Zweck des Art. 267 1 2 3 4 5 6 7
Nr. 19 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (98). Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (98). Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (98). EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 – DEB, Slg. 2010, I-13849. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (100). Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, S. 260, 261. 8 BVerfG v. 29.5.2012 – 1 BvR 3201/11, NZA 2013, 164 – Rz. 31. 9 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 26.
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§ 13
Rz. 41
Das Vorabentscheidungsverfahren
Abs. 3 AEUV, der auf die Wahrung der Rechtseinheit und des Individualrechtsschutzes gerichtet ist. Das gilt auch, wenn die Rüge des Verstoßes gegen Unionsrecht nach nationalem Prozessrecht etwa wegen Verspätung nicht mehr geltend gemacht werden könnte. 41
Zu den Rechtsmitteln gehören alle Rechtsbehelfe, mit denen die Überprüfung einer Gerichtsentscheidung durch ein höheres Gericht erreicht werden kann. Es ist unerheblich, wenn das Rechtsmittel der Zulassung durch das Rechtsmittelgericht bedarf, sofern letzteres vor der Entscheidung über die Zulassung eine umfassende Prüfung der im Interesse der Einheit des Unionsrechts erheblichen Gesichtspunkte vornehmen kann.1 Die Berufung, Revision sowie im Beschlussverfahren die Beschwerde und Rechtsbeschwerde sind damit sicherlich Rechtsmittel im arbeitsgerichtlichen Verfahren.2
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Es wurde diskutiert, ob LAG, wenn sie die Revision oder Rechtsbeschwerde nicht zulassen, zur Vorlage verpflichtet sind. Der Sechste Senat des BAG meint unter Bezugnahme auf Wißmann, dass nach §§ 72a, 92a ArbGG die Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG auch auf die grundsätzliche Bedeutung einer Frage des Unionsrechts gestützt werden kann. Sie sei damit als Rechtsmittel anzusehen. Die Nichtzulassungsbeschwerde war nur in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung kein Rechtsmittel i.S.v. Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil sie anders als jetzt weder auf die grundsätzliche Bedeutung einer Frage des Unionsrechts noch auf einen Verfahrensmangel gestützt werden konnte und der EuGH nicht zu den divergenzfähigen Gerichten gehört. Die Neuregelung hat der Auffassung, dass LAG, die die Revision bzw. die Rechtsbeschwerde nicht zulassen, zu den vorlagepflichtigen Gerichten gehören, die Grundlage entzogen.3 Unschädlich sei es, dass der EuGH nicht zu den divergenzfähigen Gerichten gehöre. Weiche das LAG von Rechtssätzen ab, die der EuGH aufgestellt habe, so dürfte sich hieraus die grundsätzliche Bedeutung der zugrunde liegenden Rechtsfrage ergeben.4 Allerdings kann ein ArbG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlagepflichtig sein, wenn die Berufung nach § 64 ArbGG nicht statthaft ist. Denn hier gibt es kein Rechtsmittel, das zur Zulassung der Berufung führen würde.5
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Dagegen wird eingewandt, dass es sich bei der Nichtzulassungsbeschwerde nicht um ein Rechtsmittel i.S.d. Art. 267 Abs. 3 AEUV handelt. Vor der Entscheidung über die Zulassung habe keine umfassende Prüfung der im Interesse der Einheit des Unionsrechts erheblichen Gesichtspunkte zu erfolgen. So kann das Rechtsmittel mangels Entscheidungserheblichkeit im Sinne des ArbGG nicht zugelassen werden, obwohl die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorläge. Mit der Begründung der Nichtzulassung begründet das LAG zudem auch seine Pflicht zur Vorlage.6 Dass das Revisionsgericht die Revision zulassen muss, ändert nichts daran, dass nach einer konkreten Betrachtung das LAG als letzte Instanz entscheidet.
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Die Ausführungen des EuGH in dieser Frage sind freilich eindeutig: Die Entscheidungen eines nationalen Rechtsmittelgerichts, die von den Parteien bei einem obersten Gericht angefochten werden können, stammen nicht von einem „einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, wie es in Art. 267 AEUV heißt. Der Um1 2 3 4 5 6
Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839. ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 27. BAG v. 8.12.2011 – 6 AZN 1371/11, NZA 2012, 286 – Rz. 14. BAG v. 8.12.2011 – 6 AZN 1371/11, NZA 2012, 286 – Rz. 14. HWK/Tillmanns, Art. 267 AEUV Rz. 12; ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 28 f. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 112.
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Vorlagepflicht
Rz. 46 § 13
stand, dass eine solche Anfechtung nur nach vorheriger Zulassungserklärung durch das oberste Gericht in der Sache geprüft werden kann, führt nicht dazu, dass den Parteien das Rechtsmittel entzogen wird.1 Die Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts und der Individualrechtsschutz werden damit nicht unzuträglich beeinträchtigt, weil und soweit die Beschwerden wegen grundsätzlicher Bedeutung schon dann für begründet erachtet werden, wenn der Sache nach eine Vorlage zum EuGH angezeigt ist.2 Prozessuale Hindernisse allgemeiner Natur dürfen der Nichtzulassungsbeschwerde allerdings nicht entgegengehalten werden.3 Eine Pflicht zur Vorlage besteht auch, wenn das Gericht sekundäres Unionsrecht für ungültig hält und es dieses nicht anwenden will.4 Das gilt nicht im einstweiligen Rechtsschutz. Hat das Gericht im einstweiligen Rechtsschutz erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechts, kann es die Frage unmittelbar im Anschluss an seine Entscheidung dem EuGH vorlegen. Zudem ist es erforderlich, dass die Entscheidung dringlich ist, weil dem Antragsteller ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Schaden droht. Dabei ist aber das Interesse der Union an einer effektiven Umsetzung des Unionsrecht angemessen zu berücksichtigen und die Rechtsprechung des EuGH zum vorläufigen Rechtsschutz zu beachten. Jedes nationale Gericht muss somit ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof richten, wenn es Zweifel an der Gültigkeit eines solchen Rechtsakts hat, und die Gründe angeben, aus denen dieser nach seiner Auffassung ungültig sein könnte.
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2. Vorlagepflicht bei Abweichung? Auch bei bereits erfolgter Auslegung durch den EuGH kann ein anderes Gericht erneut die Vorlagefrage aufwerfen.5 Umstritten ist aber, ob ein Gericht, das nicht letztinstanzlich entscheidet, zur Vorlage verpflichtet ist, wenn es von einer bestehenden Rechtsprechung des EuGH in Auslegungsfragen abweichen möchte. Dagegen wird eingewandt, dass das Gericht nicht an die Rechtsprechung des EuGH gebunden ist. Auch wenn eine Vorlage bei Zweifeln an der Richtigkeit einer durch den EuGH entwickelten Auslegung in der Sache anzuraten ist, dürfte eine Pflicht zur Vorlage – trotz der sich daraus ergebenden Einschränkungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts – mit Rücksicht auf die in Art. 267 Abs. 2 AEUV verankerte sachliche Unabhängigkeit der Untergerichte zu verneinen sein. Andererseits könnte die einheitliche Anwendung des Unionsrechts, insbesondere in Fällen, in denen der EuGH bereits eine Auslegung vorgegeben hat, dazu zwingen, die abweichende Rechtsauffassung sofort dem EuGH vorzulegen. Durch die Vorlage allein würde auch der Zweck des Art. 267 AEUV gewahrt. Denn das mitgliedstaatliche Gericht müsste dann im Vorabentscheidungsverfahren begründen, warum es von der Rechtsprechung des EuGH abweichen will. Nur so wird die Zusammenarbeit zwischen dem EuGH und den Gerichten der Mitgliedstaaten gelebt.6 Das letztinstanzliche Gericht muss in diesem Fall die Frage dem EuGH vorlegen, Art. 267 Abs. 3 AEUV.
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EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839 – Rz. 16. Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 267 AEUV Rz. 26. Vgl. grds. EuGH v. 18.7.2007 – C-119/05 – Lucchini, Slg. 2007, I-6228. HWK/Tillmanns, Art. 267 AEUV Rz. 14. ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 24. A.A. ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 22.
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§ 13
Rz. 47
Das Vorabentscheidungsverfahren
3. Vorlagepflicht bei Nichtanwendung nationalen Gesetzesrechts? 47
In seiner Kücükdeveci-Entscheidung hat der EuGH eine Vorlagepflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte im Fall der Unanwendbarkeit nationaler Gesetze verneint und damit Kritik erfahren, weil die eigene „Nichtanwendungskompetenz“ in Widerspruch zum innerstaatlichen Verwerfungsmonopol des BVerfG steht.1 Es wird eingewandt, eine überzeugende Begründung für diesen unnötigen Eingriff in die wohlausgewogene innerstaatliche Kompetenzverteilung fehle.2 Der EuGH führt jedoch aus: „Die Notwendigkeit, die volle Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 zu gewährleisten, bedeutet, dass das nationale Gericht eine in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallende nationale Bestimmung, die es für mit diesem Verbot unvereinbar hält und die einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich ist, unangewendet lassen muss, ohne dass es verpflichtet oder gehindert wäre, zuvor den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Die dem nationalen Gericht mit Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumte Möglichkeit, den Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung um Auslegung zu ersuchen, bevor es die unionsrechtswidrige nationale Bestimmung unangewendet lässt, kann sich jedoch nicht deshalb in eine Verpflichtung verkehren, weil das nationale Recht es diesem Gericht nicht erlaubt, eine nationale Bestimmung, die es für verfassungswidrig hält, unangewendet zu lassen, wenn sie nicht zuvor vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden ist. Denn nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der auch dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters zukommt, ist eine unionsrechtswidrige nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, unangewendet zu lassen.“3 4. Entfallen der Vorlagepflicht im Einzelfall
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Ausnahmsweise hat der EuGH eine Vorlagepflicht trotz Vorliegens der Voraussetzungen verneint, wenn er die Auslegungsfrage bereits entschieden hat oder die Auslegung des Unionsrechts so offensichtlich ist, dass der EuGH und die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten an dieser Auslegung keinen Zweifel haben. Dabei ist zu beachten, dass der EuGH nur in seltenen Ausnahmefällen eine fehlende Vorlagepflicht zum Anlass nimmt, das Vorabentscheidungsverfahren für unzulässig zu erklären.4 Er prüft das Merkmal der vom nationalen Gericht angenommenen Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsverfahren großzügig. Das hängt auch damit zusammen, dass bereits Art. 267 Abs. 2 AEUV auf die Einschätzung durch das nationale Gericht abstellt. Letztlich spricht auch der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens für eine großzügige Prüfung. Damit gewinnt die ausnahmsweise entfallende Vorlagepflicht ihre Bedeutung vor allem beim Verstoß gegen die Vorlagepflicht nach anderen Kategorien (Entzug des gesetzlichen Richters, Amtshaftung wegen Vertragsverletzung). Denn der EuGH wird sich nicht mit der Nichtvorlage trotz bestehender Vorlagepflicht beschäftigen, da es gegen die Nichtvorlage kein Rechtsmittel des Einzelnen zum EuGH gibt.5 Dem Einzelnen stehen die später zu beschreibenden Möglichkeiten offen (vgl. Rz. 60 ff.). 1 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rz. 53 f.; Bauer/Krieger, NZA 2007, 674. 2 Piekenbrock, EuR 2011, 317 (340 f.). 3 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 – Rz. 53 f. 4 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 21. 5 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 23.
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Vorlagepflicht
Rz. 54 § 13
a) Kategorien und Meinungsstand Etwas überwiegend werden im Schrifttum drei Kategorien unterscheiden, in denen eine Vorlagepflicht entfallen soll:1
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– die betreffende Rechtsfrage ist durch den EuGH in gesicherter Rechtsprechung gelöst, – eine gleichgelagerte Frage zu einer identischen Bestimmung ist bereits vom EuGH beantwortet,2 – Offenkundigkeit und Zweifelsfreiheit der richtigen Anwendung.3 Andere Stimmen unterscheiden zwei Kategorien:4
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– die betreffende unionsrechtliche Bestimmung war bereits Gegenstand einer erschöpfenden Auslegung durch den EuGH; – die richtige Auslegung ist derart offenkundig, dass für einen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Eine weitere Ansicht fasst die Fälle zusammen und verneint eine Vorlagepflicht, wenn das Auslegungsergebnis auch mit Blick auf die Judikatur des Gerichtshofs nicht ernsthaft zweifelhaft sein kann, es sich also um einen acte clair ou éclairé handelt.5
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Eine letzte Ansicht unterscheidet innerhalb des acte clair in zwei Gruppen:6
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– betreffende Rechtsfrage durch den EuGH in gesicherter Rechtsprechung gelöst, – Offenkundigkeit und Zweifelsfreiheit der richtigen Anwendung. Die Verfahrensordnung des EuGH gibt ebenfalls eine Richtung vor: Sie unterscheidet in Art. 99 wie folgt: „Wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.“
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b) Begriff des „acte clair“ Die verschiedentlich als „acte claire“ bezeichnete Kategorie darf sprachlich sauber indes nur als „acte clair“ bezeichnet werden, denn das Wort „acte“ ist im Französischen männlich. Der „acte clair“ hat eine marginale Bedeutung in einer wachsenden Union.7 Entsprechend dieser Doktrin kann ein Vorabentscheidungsersuchen unterbleiben, wenn die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass 1 Vgl. Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV Rz. 47; Fastenrath, NJW 2009, 272 (273); Friedrich, Umfang und Grenzen der Durchsetzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, 2010, S. 40 (41); von der Groeben/Schwarze/Gaitanides, Art. 267 AEUV Rz. 67; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 54; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV Rz. 46. 2 „acte éclairé“. 3 „acte clair“. 4 Bussewitz, FS Etzel, S. 119 (127); Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur, Art. 267 AEUV Rz. 19; Calliess/ Ruffert/Wegener, Art. 267 AEUV Rz. 32; ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 32 f.; Roth, NVwZ 2009, 345 (346 f.). 5 Piekenbrock, EuR 2011, 317 (336). 6 Hailbronner/Wilms/Kischel, 12. Lfg., Art. 267 AEUV Rz. 31 f. 7 Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (99).
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§ 13
Rz. 55
Das Vorabentscheidungsverfahren
für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt.1 Hierzu muss das nationale Gericht davon überzeugt sein, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit besteht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass von den Normen des Unionsrechts verbindliche, aber möglicherweise unterschiedliche Fassungen in allen Amtssprachen der EU bestehen.2 Der Verzicht der EU-Kommission auf ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat wegen mangelhafter Umsetzung einer Richtlinie, das nur auf eine bestimmte Auslegung dieser Richtlinie gestützt werden könnte, führt jedenfalls nicht zu einem „acte clair“.3 Das Problem liegt damit im Begriff der „Gewissheit“ des nationalen Gerichts von der Offenkundigkeit. Hier wird über pragmatische Lösungen bei bloßen Randfragen im Verfahren zum Unionsrecht nachgedacht.4 c) Begriff des „acte éclairé“ 55
Die gleiche Wirkung kann sich für die Grenzen der in Art. 267 Abs. 3 AEUV aufgestellten Verpflichtung ergeben, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs (oder – selten – des Gerichts5) der Europäischen Union vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind.6 Das setzt voraus, dass die unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war.7 Es kommt darauf an, dass zu derselben oder einer wortidentischen Unionsvorschrift die sich in concreto stellende Auslegungsfrage auf der Grundlage eines vergleichbaren Sachverhalts eine Entscheidung des EuGH bereits vorliegt.8 Angesichts auch überraschender Urteile des EuGH wird man mit der Annahme, dass ein Fall gleichgelagert ist, allerdings vorsichtig umgehen müssen.9 Außerdem ist eine erhebliche Abweichung von eigenen Präzedenzentscheidungen des EuGH zu bemerken, was den Anwendungsbereich des „acte éclairé“ per se einschränkt.10 Der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens verlangt dennoch eine handhabbare Definition.
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Die Vorlage in einem gleichgelagerten Fall kann, muss aber nicht, wie der EuGH bereits 1997 entschieden hat, im Rahmen desselben nationalen Rechtsstreits erfolgt sein. Es kommt allein auf den Gegenstand der vormaligen Vorlage an. Die Vorlagepflicht entfällt erst recht, wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen desselben nationalen Rechtsstreits gewesen ist.11 Die Anforderungen an den gleichgelagerten Fall lassen sich beliebig schärfen. Hier ist zu beachten, dass bislang weder das BVerfG noch der EuGH konkrete Vorgaben gemacht haben. Unabhängig davon scheint es eine Entwicklung im BVerfG zu geben, bei der Prüfung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stärker auf die Prü1 St. Rspr., z.B. EuGH v. 15.9.2005 – Rs. C-495/03 – Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151 – Rz. 33. 2 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 – Rz. 16. 3 EuGH v. 22.2.2001 – Rs. C-393/98 – Valente, Slg. 2001, I-1327 – Rz. 16–18. 4 Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, S. 227. 5 Broberg/Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, S. 211. 6 EuGH v. 6.10.1982 – 283/81 – C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 – Rz. 14. 7 EuGH v. 15.9.2005 – Rs. C-495/03 – Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151 – Rz. 33. 8 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 56. 9 Schröder, EuR 2011, 808 Fn. 3. 10 C. Herrmann, EuZW 2009, 413 (415). 11 EuGH v. 4.11.1997 – Rs. C-337/95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013 – Rz. 29, 31.
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Vorlagepflicht
Rz. 60 § 13
fung der Anforderungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV zum „acte éclairé“ durch das letztinstanzliche Gericht einzugehen.1 Ich schließe mich dem Befund von Müller2 an, dass es weiterhin kein formelles Antragsrecht der Prozessparteien für eine Vorlage zum EuGH und keine voll justiziable Überprüfung der stattdessen von Amts wegen zu treffenden Entscheidung über die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens gibt.3
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Die Entscheidung der Dritten Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 29.5.2012 begründet keine Verschärfung der Anforderungen an den „acte éclairé“.4 Die bereits erfolgte Vorlage an den EuGH in einem gleichgelagerten Fall schließt weiterhin die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV aus:5 Ein „acte éclairé“ ist nur gegeben, wenn eine Vorlagefrage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union war. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bislang nicht über die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen entschieden. Das BVerfG hatte am 30.8.2010 noch etwas anders formuliert:6 „Die aufgeworfene Frage ist auch noch nicht in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen.“7 Das sieht auch der EuGH so:8 „So kann die Wirkung, die von einer durch den Gerichtshof in einem früheren Verfahren gegebenen Auslegung ausgeht, doch im Einzelfall den inneren Grund dieser Verpflichtung entfallen und sie somit sinnlos erscheinen lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist.“ Der Begriff der „Vorlagefrage“ im Beschluss des BVerfG vom 29.5.2012 ist unscharf, es geht vielmehr um die auszulegende „unionsrechtliche Bestimmung“.
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d) Dritte Kategorie? Neben der Kategorie des „acte clair“ und des „acte éclairé“ scheint es m.E. noch eine dritte, streng zu trennende und sehr seltene Kategorie zu geben, nämlich der vom EuGH bereits zuvor in gesicherter Rechtsprechung gelösten Rechtsfrage. Sie ist ein seltener Sonderfall des „acte éclairé“.
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5. Verstoß gegen die Vorlagepflicht a) Unionsrechtliche Sanktion – Vertragsverletzungsverfahren Die rechtswidrige Nichtvorlage durch ein nationales Gericht kann eine dem jeweiligen Mitgliedstaat zurechenbare Verletzung des Vertrags darstellen, die von der Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat in den Vertragsverletzungsverfahren der Art. 258 f. AEUV gerügt werden kann. Die Kommission hat allerdings bislang i.d.R. aus Opportunitätserwägungen von einer Klageerhebung wegen unterlassener Vorlage abgesehen.9 Im Hinblick auf die in allen Mitgliedstaaten garantierte Unabhängigkeit der Gerichte und das in Art. 267 AEUV selbst etablierte System der Zusammenarbeit zwischen nationaler und unionaler Gerichtsbarkeit dürfte sich die auf diesem Wege 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Siehe den Überblick bei Müller, EuR 2011, 808 (818, 820). Müller, EuR 2011, 808 (826). Siehe unten Rz. 65 ff. Vgl. BVerfG v. 29.5.2012 – 1 BvR 3201/11, NZA 2013, 164 – Rz. 30. Vgl. BVerfG v. 29.5.2012 – 1 BvR 3201/11, NZA 2013, 164 – Rz. 30. BVerfG v. 30.8.2010 – 1 BvR 1631/08, NJW 2011, 288 – Rz. 56. „acte éclairé“. EuGH v. 27.3.1963 – verb. Rs. C-28 bis C-30/62 – Da Costa u.a., Slg. 1963, 63, 80 f. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (99); zu den wenigen Ausnahmen vgl. Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, S. 14 ff.
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60
§ 13
Rz. 61
Das Vorabentscheidungsverfahren
erreichbare Kontrolle auch rechtlich auf Fälle systematischer, evidenter oder grundsätzlich bedeutsamer Vorlagepflichtverletzungen beschränken müssen.1 Man kann ebenfalls an ein Unterlassen des Gesetzgebers in Fällen der unionsrechtswidrigen Auslegung nationaler Rechtsvorschriften denken. Eine gesetzgeberische Untätigkeit angesichts unionsrechtswidriger Anwendung nationaler Vorschriften durch Gerichte oder Behörden kann eine Vertragsverletzung darstellen.2 b) Amtshaftung 61
Der Gerichtshof hat weiterhin im Urteil Köbler darauf hingewiesen, der Grundsatz, dass ein Mitgliedstaat zum Ersatz der Schäden verpflichtet ist, die dem Einzelnen durch diesem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, gelte für jeden Verstoß gegen das Unionsrecht unabhängig davon, welches Organ dieses Staates durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat.3 Der Gerichtshof hat insbesondere auf die entscheidende Rolle, die die rechtsprechende Gewalt beim Schutz der dem Einzelnen auf Grund unionsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, sowie den Umstand abgestellt, dass ein letztinstanzliches Gericht definitionsgemäß die letzte Instanz ist, vor der der Einzelne die ihm auf Grund des Unionsrechts zustehenden Rechte geltend machen kann; er hat daraus geschlossen, dass der Schutz dieser Rechte gemindert – und die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt – wäre, wenn der Einzelne nicht unter bestimmten Voraussetzungen eine Entschädigung für die Schäden erlangen könnte, die ihm durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden sind, der einer Entscheidung eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts zuzurechnen ist.4
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Auf Grund der Besonderheiten der richterlichen Funktion sowie der berechtigten Belange der Rechtssicherheit haftet der Staat in einem solchen Fall allerdings nicht unbegrenzt. Wie der Gerichtshof entschieden hat, haftet er nur in dem Ausnahmefall, dass das letztinstanzliche nationale Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat. Bei der Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss das mit einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigen, insbesondere das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, gegebenenfalls die Stellungnahme eines Unionsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht durch das in Rede stehende Gericht.5 Daher wird dieses Institut nicht ganz zu Unrecht als stumpfes Schwert bezeichnet.6 c) Verfassungsrechtliche Sanktion – Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG63
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Die pflichtwidrige Nichtvorlage zum EuGH kann den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Bürgers auf den gesetzlichen Richter verletzen. Das BVerfG überprüft hierzu, ob die Vorlagepflicht in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt worden ist. Danach stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das BVerfG beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger 1 2 3 4 5 6
Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 34. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 34. Vgl. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239 – Rz. 31. Vgl. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239 – Rz. 33–36. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239 – Rz. 53–55. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (99).
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Vorlagepflicht
Rz. 65 § 13
Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind.1 Das BVerfG nimmt einen grundrechtswidrigen Verstoß gegen die Vorlagepflicht an, wenn die unionsrechtliche Rechtsfrage nicht zumindest vertretbar beantwortet wird, wenn also das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des EuGH zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht. Dann erscheint die fachgerichtliche Rechtsanwendung des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht mehr verständlich und ist offensichtlich unhaltbar.2 Eine offensichtlich unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht liegt vor, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet.3 Ebenso verstößt ein solches Gericht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn es in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt.4 Das BVerfG lässt i.R.d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch die begründete fehlende Entscheidungserheblichkeit als solche ausreichen und prüft sie zudem autonom selbst.5 Die fehlende Entscheidungserheblichkeit mangels Anwendungsbereichs des Unionsrechts ist freilich zu begründen.
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Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht der Hauptsache den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dabei kommt es für die Prüfung einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.6 Das Fachgericht hat dabei Gründe anzugeben, die zeigen, ob es sich hinsichtlich des europäischen Rechts ausreichend kundig gemacht hat, und so dem BVerfG eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. Satz 2 GG ermöglichen.7 Folglich prüft das BVerfG zunehmend, ob die Anforderungen an einen „acte clair“ oder „acte éclairé“ vorliegen. In der neuesten Rechtsprechung des BVerfG klingen die Anforderungen an die Fachgerichte noch etwas schärfer: Eine Verletzung liegt jedenfalls dann vor, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ willkürlich bejahen. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen, etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren. Auf dieser Grundlage muss sich das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts die vertret-
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1 BVerfG v. 12.12.2012 – 1 BvR 69/09, NJW 2013, 1220; BVerfG v. 15.5.2014 – 2 BvR 324/14, NZA 2014, 838 – Rz. 8. 2 BVerfG v. 25.2.2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268 – Rz. 21. 3 BVerfG v. 15.5.2014 – 2 BvR 324/14, NZA 2014, 838 – Rz. 9. 4 BVerfG v. 15.5.2014 – 2 BvR 324/14, NZA 2014, 838 – Rz. 9. 5 BVerfG v. 29.5.2012 – 1 BvR 3201/11, NZA 2013, 164 – Rz. 31. 6 BVerfG v. 29.5.2012 – 1 BvR 640/11, NVwZ 2012, 1033. 7 BVerfG v. 12.12.2012 – 1 BvR 69/09, NJW 2013, 1220.
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§ 13
Rz. 66
Das Vorabentscheidungsverfahren
bare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch die Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“). Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht von vornherein das Vorliegen einer eindeutigen oder zweifelsfrei geklärten Rechtslage ohne sachlich einleuchtende Begründung bejaht.1 66
Der Einzelne kann die Vorlage zum EuGH nicht durch einen eigenständigen Rechtsbehelf erzwingen.2 Erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach Auffassung des BVerfG dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind. Wegen des Grundsatzes der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde bereits im fachgerichtlichen Verfahren eine Vorlage an den EuGH „angedeutet“ haben.3. Er muss vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen. Die Rüge der Verletzung von Verfahrensgrundrechten, insbesondere Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht mehr im Verfahren der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, wenn nicht zuvor alle Mittel des Prozessrechts genutzt wurden, um diesen Verstoß zu verhindern oder zu beseitigen. Im Rahmen einer Rüge der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erstreckt sich die damit umschriebene Obliegenheit regelmäßig darauf, durch entsprechende Anträge oder Anregungen an das Fachgericht eine Befassung des gesetzlichen Richters zu erreichen. Handelt es sich beim gesetzlichen Richter um den EuGH, ist ein entsprechender Antrag der Beteiligten auf Vorlage allerdings nicht vorgesehen, vielmehr ist ein letztinstanzliches nationales Gericht unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV von Amts wegen gehalten, den EuGH anzurufen. Es genügt daher dem Grundsatz der Subsidiarität, wenn das Vorbringen bei rechtlicher Prüfung durch das Fachgericht eine Vorlage an den EuGH als naheliegend erscheinen lässt.4 Offen ist allerdings, was das BVerfG damit im Ergebnis meint. Die Vorlage eines Gutachtens u.a. zur Frage der Voll- oder Teilharmonisierung des Verbreitungsrechts durch Art. 4 der Urheberrechtsrichtlinie soll den sich aus dem Grundsatz der Subsidiarität ergebenden Anforderungen noch Genüge tun. Es scheint also auszureichen, auf die möglicherweise maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts hinzuweisen. d) Nichtvorlage und EMRK
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Willkürliche Nichtvorlagen an den EuGH können auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellen.5 Die Nichtvorlage ist aus diesem Grund zu erläutern. Der Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt die Auseinandersetzung mit der EMRK und der GRC und der daraus folgenden Vorlagepflicht 1 BVerfG v. 15.5.2014 – 2 BvR 324/14, NZA 2014, 838 – Rz. 10. 2 A.A. Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, S. 218 ff.: Nichtvorlagerüge. 3 BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3427 – Rz. 65 f. 4 BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3427 – Rz. 65 f. 5 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 38.
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Vorlagefrage, Vorlagebeschluss und Verfahren
Rz. 70 § 13
nach Art. 267 Abs. 3 AEUV: So hat es der EGMR als eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gewertet, wenn eine Vorlagepflicht zum EuGH verneint und nicht ausreichend begründet wurde.1 Die Begründung bezieht sich im Rahmen des Art. 267 Abs. 3 AEUV nach Ansicht des EGMR auf die Begründung der Ausnahme von der Vorlagepflicht. Dazu zählt auch die fehlende Entscheidungserheblichkeit.2 Noch allgemeiner kann das willkürliche Unterlassen einer Vorlage auch dann konventionswidrig sein, wenn keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, sondern nur ein Vorlagerecht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV bestanden hat.3 Dies wird wegen des weiten Vorlageermessens jedoch nur sehr selten der Fall sein.
VII. Vorlagefrage, Vorlagebeschluss und Verfahren 1. Allgemeines Das nationale Gericht muss eine Vorlagefrage und einen Vorlagebeschluss fertigen. Die Bedeutung des Vorlagebeschlusses darf nicht unterschätzt werden. So hat selbst der EuGH nicht verbindliche Empfehlungen zum Vorlagebeschluss erlassen.4 Da das Vorabentscheidungsverfahren auf der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Gerichten beruht, hält er es im Interesse einer vollen Wirksamkeit dieses Verfahrens für zweckdienlich, den nationalen Gerichten Empfehlungen zu geben.5 Die Empfehlungen sollen außerdem den dritten Titel der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zum Vorabentscheidungsverfahren6 ergänzen und den mitgliedstaatlichen Gerichten eine Orientierung bieten, wann eine Vorlage zur Vorabentscheidung angebracht ist, und ihnen praktische Hinweise zur Form und zu den Wirkungen einer solchen Vorlage geben.7
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2. Vorlagefrage Die Vorlagefrage ist der Kern des Vorabentscheidungsverfahrens. Die Vorabentscheidungsfragen müssen in einem gesonderten und klar kenntlich gemachten Teil der Vorlageentscheidung, vorzugsweise am Anfang oder Ende, aufgeführt sein. Sie müssen aus sich heraus verständlich sein, ohne dass eine Bezugnahme auf die Begründung des Ersuchens, die den notwendigen Kontext für ein sachgerechtes Verständnis der Tragweite der Rechtssache enthält, erforderlich wäre.8 Die Bedeutung der Vorlagefrage drängt sich wegen des Zwecks des Vorlageverfahrens auf. Es geht um echte Zusammenarbeit.9 Dabei hat der EuGH nicht die Aufgabe, den nationalen Rechtsstreit zu entscheiden, sondern die Vorlagefrage zu beantworten.
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Die Vorlagefrage muss sich stets auf Unionsrecht beziehen und darf nie nach der Zulässigkeit einer nationalen Maßnahme fragen. Es genügt, das Unionsrecht eindeutig kurz zu zitieren.10 Ob es wirklich dienlich ist, bei der Unsicherheit über die anwend-
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1 EGMR v. 20.9.2011 – 3989/07 und 38353/07 – Ullens de Schooten u.a., NJOZ 2012, 2149; vgl. auch Schilling, EuGRZ 2012, 133. 2 EGMR v. 20.9.2011 – 3989/07 und 38353/07 – Ullens de Schooten u.a., NJOZ 2012, 2149 – Rz. 62. 3 Vgl. EGMR v. 8.12.2009 – 54193/07 – Herma, NJW 2010, 3207, 3208 m.w.N. 4 ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. 5 Nr. 5 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. 6 Art. 93 bis 118 Verfahrensordnung. 7 Nr. 6 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. 8 Nr. 26 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. 9 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 844. 10 Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (102).
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§ 13
Rz. 71
Das Vorabentscheidungsverfahren
bare Norm des Unionsrechts schlicht nach der Auslegung des „Unionsrechts“ zu fragen, erscheint mir zweifelhaft.1 Der EuGH legt fehlerhafte Anträge großzügig aus. Eine Beispiel für eine richtige Frage lautet: „Ist Art. 43 II, IV AEUV dahin auszulegen, dass er nationalen Maßnahmen entgegensteht, die anordnen, dass Ausländer keine Beschäftigung in der Rüstungsindustrie aufnehmen dürfen?“ oder: „Ist Art. 7 IV VO 1612/68/EWG vom 7.7.1968 rechtsgültig?“ Allgemeine und hypothetische Fragen sind ausgeschlossen. 71
Es bietet sich an, die Frage in präziser und fallspezifischer Weise zu stellen. Denn die Beantwortung einer zu abstrakt gestellten Frage hilft dem vorlegenden Gericht nicht weiter.2 Die Fragen sind zudem kurz und prägnant zu formulieren, genauso wie der Vorlagebeschluss. Denn er wird in mehrere Sprachen übersetzt und kann bei zu komplizierten Ausführungen und Sätzen zu erheblichen Unklarheiten führen.3
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Genügt der Beschluss diesen Anforderungen nicht, wird der EuGH aus der unvollkommen gefassten Frage des vorlegenden Gerichts die Fragen herausschälen, die eine Auslegung des Vertrags betreffen. Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren.4 Wenn Fragen nicht gefasst oder nicht sinnvoll beantwortet werden können, wird die Vorlage als offensichtlich unzulässig verworfen.5
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Durch geschickte Folgefragen im Vorlagebeschluss lassen sich Unklarheiten, insbesondere hinsichtlich der Rechtsfolgen, vermeiden. Dies ermöglicht dem vorlegenden Gericht vollständige Klarheit, ohne abermals vorlegen zu müssen. Das Gericht kann damit zeigen, dass es die Fragen schon zu Ende gedacht hat. Solche Abläufe sind nur möglich, wenn das nationale Gericht auf Grund früherer Rechtsprechung richtig abgeschätzt hat, wie der EuGH entscheiden dürfte.6 Mit Folgefragen kann überdies eine bestimmte Antwort des EuGH gefördert werden, etwa wenn die zu vermeidende Folgefrage an offenen Punkten der Rechtsprechung ansetzt.7 Einen speziellen Weg geht das BVerfG mit seinem ersten Vorabentscheidungsersuchen aus Januar 20148. Es legt das Unionsrecht selbst – „vorbehaltlich“ einer Auslegung des EuGH aus. Außerdem stellt es die Folgen einer bestimmten Entscheidung des EuGH klar in den Vordergrund, wohl um die Entscheidung zu steuern. Geboten sind stets Fragen zum Vertrauensschutz, da dieser nur in ausdrücklichen Entscheidungen des EuGH anerkannt wird (s. unten Rz. 117 ff.).
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Einem Missverständnis soll hier der Riegel vorgeschoben werden: Der EuGH ist frei darin, die Frage seinen Bedürfnissen anzupassen und auszulegen. Nur Veränderungen des Wesens der Vorlagefrage sind ausgeschlossen.
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Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (102). Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 845 (m.w.N.). Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (101). EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-544/11 – Petersen, Rz. 23. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 851. Zu dieser Technik Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (103). Vgl. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (103). BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13, NJW 2014, 907.
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Vorlagefrage, Vorlagebeschluss und Verfahren
Rz. 78 § 13
3. Vorlagebeschluss Damit der Gerichtshof den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und die darin aufgeworfenen Fragen richtig erfassen kann, sollte das nationale Gericht für jede der vorgelegten Fragen darlegen, inwiefern die erbetene Auslegung zum Erlass seines Urteils erforderlich ist. Die Vorlage umfasst insbesondere den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, die wesentlichen Argumente der Parteien des Ausgangsrechtsstreits, eine kurze Darstellung der Begründung der Vorlage sowie die angeführte Rechtsprechung und die angeführten Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts.1
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Art. 94 EuGH-VerfO enthält hier wichtige Hinweise zur Vorlageentscheidung: Das Vorabentscheidungsersuchen muss außer den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen Folgendes enthalten:
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a) eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen; b) den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung; c) eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. Im Schrifttum wird folgender Aufbau des Vorlagebeschlusses vorgeschlagen:2
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A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens I.
Streitgegenstand
II.
Sachverhalt
III. Nationaler Rechtsrahmen B. Vorlagefragen und Entscheidungserheblichkeit I.
Unionsrechtlicher Rechtsrahmen
II.
Zweifel an Auslegung/Gültigkeit des Unionsrechts
III. Entscheidungsvorschläge des vorlegenden Gerichts IV. Entscheidungserheblichkeit für das Ausgangsverfahren C. Aussetzung des Verfahrens Der Siebte Senat des BAG hat einen seiner letzten Vorlagebeschlüsse wie folgt gegliedert:3 Vorlagefrage Gründe: A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens B. Nationale Vorschriften C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts D. Nationale Rechtsprechung E. Entscheidungserheblichkeit und Erläuterung der Vorlagefragen 1 ABl. Nr. L 265 v. 29.9.2012, S. 1. 2 Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (101). 3 BAG v. 17.11.2010 – 7 AZR 443/09 (A), NZA 2011, 34.
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§ 13
Rz. 79
Das Vorabentscheidungsverfahren
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Die Form der Entscheidung, mit der das Gericht eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof eine oder mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorlegt, richtet sich nach den Verfahrensregeln des nationalen Rechts.1 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Dokument die Grundlage des Verfahrens vor dem Gerichtshof bilden wird und dass der Gerichtshof über Informationen verfügen muss, die es ihm ermöglichen, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben. Außerdem wird nur das Vorabentscheidungsersuchen den Parteien des Ausgangsrechtsstreits und den anderen Beteiligten i.S.d. Art. 23 EuGH-Satzg, insbesondere den Mitgliedstaaten, übermittelt, um ihre etwaigen schriftlichen Erklärungen einzuholen.2 Da das Vorabentscheidungsersuchen in alle Amtssprachen der Europäischen Union übersetzt werden muss, sollte es einfach, klar und präzise abgefasst sein und keine überflüssigen Elemente enthalten.
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Da der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren grundsätzlich die in der Vorlageentscheidung enthaltenen Angaben übernimmt, einschließlich der Namensangaben und personenbezogenen Daten, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, in seinem Vorabentscheidungsersuchen, wenn es dies für erforderlich hält, bestimmte Angaben unkenntlich zu machen oder die von dem Ausgangsrechtsstreit betroffenen Personen oder Einrichtungen zu anonymisieren.3 Nach Art. 95 Abs. 1 EuGH-VerfO wahrt der Gerichtshof diese Anonymität in dem bei ihm anhängigen Verfahren, wenn vom vorlegenden Gericht Anonymität gewährt worden ist. Aufgrund der vom EuGH geübten Praxis, die Verfahren mit den Namen der Parteien zu bezeichnen, dürfte es wegen der abweichenden Praxis vor deutschen ArbG regelmäßig geboten sein, den Vorlagebeschluss wie eine zur Veröffentlichung bestimmte Entscheidung zu anonymisieren.4
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Der Beschluss sollte nach der Vorstellung des EuGH nicht mehr als ungefähr zehn Seiten füllen, um den Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angemessen darzustellen. Trotz der Knappheit muss das Ersuchen jedoch ausführlich genug sein und alle relevanten Informationen enthalten, damit der Gerichtshof und die zur Einreichung von Erklärungen Berechtigten den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits richtig erfassen können.5 Dabei empfiehlt es sich, die Vorlage nicht mit der Wiedergabe dem EuGH bekannter Entscheidungen oder unionsrechtlicher Normen zu belasten, sondern vielmehr nationale Umstände und Bestimmungen sowie die nationale Rechtsprechung darzustellen. Die unionsrechtlichen Bestimmungen sind dem EuGH bekannt und bedürfen nur einer konkreten Bezeichnung.
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Es geht im Vorlagebeschluss darum, bei den Richtern des EuGH Verständnis für die Mechanismen des nationalen Rechts zu wecken. Denn dies ist m.E. ein zentraler Vorwurf an die Entscheidungen des EuGH. Die Darstellung sollte sich daher nicht darin erschöpfen, die Rechtsvorschriften im Wortlaut samt Fundstellen anzugeben. Vielmehr sind Zusammenhänge zu erläutern und die rechtspolitischen Ziele des nationalen Rechtes hervorzuheben. Sodann sollte die einschlägige Rechtsprechung samt Fundstellen kurz dargestellt werden. Es kommt vor, dass der EuGH Nebenbemerkungen zum nationalen Recht missversteht und dem nationalen Gericht mehr beantwortet, als es gefragt hat.6 Es ist zudem stets zu beachten, dass der EuGH nicht dieselben Recherchemöglichkeiten hat wie der nationale Richter. 1 2 3 4 5 6
Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 857. Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Nr. 27 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Vgl. zu eng daher Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (104): Minderjährige oder Tatverdächtige. Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (105 m.w.N.).
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Vorlagefrage, Vorlagebeschluss und Verfahren
Rz. 86 § 13
Das Gericht muss sich außerdem zur Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens äußern. Überdies ist hervorzuheben, dass die Angaben in den Vorlageentscheidungen nicht nur dem Gerichtshof sachdienliche Antworten ermöglichen, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit geben sollen, gem. Art. 23 EuGH-Satzg Erklärungen abzugeben. Der Gerichtshof hat darüber zu wachen, dass diese Möglichkeit gewahrt wird, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Beteiligten aufgrund der genannten Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen – zusammen mit einer Übersetzung in die Amtssprache oder die Amtssprachen des jeweiligen Mitgliedstaats – zugestellt werden, nicht aber etwaige dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelte nationale Verfahrensakten.1
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Das Vorabentscheidungsersuchen und die relevanten Unterlagen2 sind dem Gerichtshof unmittelbar vom nationalen Gericht, das ihn anruft, zu übersenden. Die Sendung ist per Einschreiben an die Kanzlei des Gerichtshofs3 zu richten. Bis zur Zustellung der Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen an das vorlegende Gericht bleibt die Kanzlei des Gerichtshofs mit diesem Gericht in Verbindung und übermittelt ihm Kopien der Verfahrensunterlagen. Der Gerichtshof übermittelt dem vorlegenden Gericht seine Entscheidung. Er begrüßt es, wenn dieses Gericht ihn darüber informiert, wie es auf die Vorabentscheidung im Ausgangsrechtsstreit reagieren wird, und wenn es ihm seine Endentscheidung übermittelt.4
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4. Verfahren beim nationalen Gericht Das nationale Gericht bleibt zwar, insbesondere im Rahmen eines Ersuchens um Prüfung der Gültigkeit, zuständig, einstweilige Maßnahmen zu erlassen;5 die Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens führt jedoch in der Hauptsache dazu, dass das nationale Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt ist.6 Im Interesse eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof und zur Gewährleistung seiner praktischen Wirksamkeit ist das vorlegende Gericht gehalten, den Gerichtshof über alle Verfahrensschritte zu unterrichten, die sich auf die Vorlage auswirken können, insbesondere über die Zulassung weiterer Beteiligter zum Verfahren.7
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Das nationale Gericht setzt das Verfahren nach § 148 ZPO analog aus und legt dem EuGH die Frage vor. Die Aussetzung kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren durch den Vorsitzenden allein erfolgen, § 55 Abs. 1 Nr. 8 ArbGG. Es empfiehlt sich aber, jedenfalls die Vorlagefrage(n) gemeinsam mit den ehrenamtlichen Richtern zu beraten und zu beschließen. Da zudem eine Anhörung der Parteien geboten ist, liegt es nahe, die Vorlage aus einer mündlichen Verhandlung heraus zu beschließen, § 55 Abs. 1 Eingangssatz ArbGG. Jedenfalls bei der Entscheidungserheblichkeit können die ehrenamtlichen Richter ihren Beitrag leisten. Die Bedeutung der Vorlagefrage geht zudem erheblich über § 53 Abs. 1 Satz 1 ArbGG hinaus. Das BAG unterschreibt daher die Vorlageentscheidung auch mit den ehrenamtlichen Richtern des Senats.8
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1 2 3 4 5 6 7 8
EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, NJW 2013, 29 – Rz. 85. Insbesondere gegebenenfalls die Verfahrensakten oder Kopien davon. Rue du Fort Niedergrünewald, L-2925 Luxemburg. ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Nr. 29, 17 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Nr. 29, 17 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Nr. 30 der Empfehlungen ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. Vgl. BAG v. 17.11.2010 – 7 AZR 443/09 (A), NZA 2011, 34.
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§ 13
Rz. 87
Das Vorabentscheidungsverfahren
87
Es ist vor deutschen Gerichten üblich, einen Vorlage- und Aussetzungsbeschluss zu fassen und das Verfahren auszusetzen.1 Die Parteien sind vor dem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss jedenfalls im arbeitsgerichtlichen Verfahren anzuhören, soweit keine Vorlagepflicht besteht. Denn nur dann kann das nationale Gericht sein Ermessen über eine mögliche Vorlage ausüben. Nach Art. 103 Abs. 1 GG haben die Parteien zwar keinen Anspruch auf die vorherige Durchführung einer mündlichen Verhandlung, dennoch ist das Gericht verpflichtet, die Beteiligten des Ausgangsverfahrens über eine von ihm erwogene Aussetzung so rechtzeitig in Kenntnis zu setzen, so dass sie hierzu rechtzeitig Stellung nehmen können. Zwar haben die Parteien die Möglichkeit, sich beim EuGH zu äußern. Es geht aber um die Aussetzung und Vorlage als solche.2 Vielleicht wollen die Parteien in diesem Fall auch einen Vergleich schließen. Insoweit gilt nichts anderes als bei sonstigen Aussetzungsbeschlüssen. Die Anforderungen des § 148 ZPO treten hinter den Anforderungen des Art. 267 AEUV zurück. Maßgeblich sind allein die dortigen Anforderungen. § 148 ZPO ist nur für das Verfahren, nicht aber die Entscheidungsparameter maßgeblich.
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Hat ein Gericht in einer ähnlichen Frage zu entscheiden wie ein vorlegendes Gericht, kann es das Verfahren ebenfalls nach § 148 ZPO aussetzen.3 Eine analoge Anwendung der Norm ist nicht erforderlich, da die Vorabentscheidung in einer anderen Rechtssache ein Rechtsverhältnis im Sinne des Gesetzes ist. Dagegen lässt sich nicht anführen, die Beteiligungsrechte der einzelnen Partei beim EuGH seien hierdurch gefährdet oder der Sachverhalt bleibe unvollständig.4 Das Verfahren beim EuGH zur Auslegung des Unionsrechts ist objektiv. Insoweit gelten dieselben prozessökonomischen Grundsätze wie bei Art. 100 GG.5
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Gegen den Aussetzungsbeschluss dürfte die Beschwerde gem. § 252 ZPO statthaft sein. Sie kann indes nur in krassen Ausnahmefällen Erfolg haben, um die allein vom Gericht zu beurteilende Entscheidungserheblichkeit nicht zu konterkarieren. Der Aussetzungsbeschluss könnte etwa dann aufzuheben sein, wenn das vorlegende Gericht aufgrund einer offensichtlich fehlerhaften materiell-rechtlichen Beurteilung des Streitstoffs zur Annahme der Entscheidungserheblichkeit der Auslegung des Unionsrechts gelangt ist oder die Vorlagefragen aufgrund eines offenkundigen und schwerwiegenden sachlichen Aufklärungsmangels gestellt worden ist.6
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Der EuGH ist hier noch kritischer: Bei der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, kann die dem erstinstanzlichen Gericht durch Art. 267 AEUV eingeräumte selbständige Befugnis, den EuGH anzurufen, in Frage gestellt sein. Das ist der Fall, wenn das Berufungsgericht dadurch, dass es die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, abändert, außer Kraft setzt und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgibt, das ausgesetzte Verfahren fortzusetzen, das vor-
1 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 878. 2 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 31; kritisch Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 882. 3 BAG v. 20.5.2010 – 6 AZR 481/09 (A), NZA 2011, 710. 4 So aber Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (98); Foerster, EuZW 2011, 901. 5 Piekenbrock, EuR 2011, 317 (338). 6 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Art. 267 AEUV Rz. 43.
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Verfahren beim EuGH
Rz. 94 § 13
legende Gericht daran hindern könnte, von der ihm durch den Vertrag eingeräumten Befugnis zur Anrufung des EuGH Gebrauch zu machen.1
VIII. Verfahren beim EuGH Das Verfahren vor dem Gerichtshof gliedert sich in der Regel in ein schriftliches und ein nachfolgendes mündliches Verfahren.2 Für beide ist zunächst die Sprachenregelung von Bedeutung.
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1. Sprachenregelung Es ist deutlich zwischen der Verfahrenssprache, für die die Art. 29 ff. EuGH-VerfO gelten, und der internen Arbeitssprache des Gerichtshofs zu unterscheiden. Bei der internen Arbeitssprache des Gerichtshofs handelt es sich um die Sprache, deren sich die Mitglieder des Gerichtshofs sowie dessen Bedienstete für die praktischen Bedürfnisse der internen Verständigung und der gemeinsamen Arbeit bedienen. Derzeit ist dies das Französische. Folglich werden Aktenstücke, die in einer anderen Sprache als dem Französischen vorgelegt werden, für die Zwecke der internen Arbeit des Gerichtshofs von dessen Dienststellen ins Französische übersetzt.
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Verfahrenssprachen sind alle Amtssprachen der Union. Jedoch hat jede Rechtssache „ihre“ eigene Sprache. Es muss eine Sprache als Verfahrenssprache gewählt werden. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht in verbundenen Rechtssachen, falls für jede dieser Rechtssachen eine andere Verfahrenssprache gilt. In diesem Fall sind alle fraglichen Sprachen als Verfahrenssprachen zugelassen. Die Wahl der Verfahrenssprache ist in Art. 36 EuGH-VerfO eingehend geregelt. In Vorabentscheidungsverfahren ist Verfahrenssprache immer die Sprache des nationalen Gerichts, das den Gerichtshof angerufen hat, Art. 37 Abs. 3 EuGH-VerfO. Auf gebührend begründeten Antrag einer Partei des Ausgangsrechtsstreits kann nach der Anhörung der Gegenpartei des Ausgangsrechtsstreits und des Generalanwalts eine andere der in Art. 36 EuGHVerfO genannten Sprachen für das mündliche Verfahren zugelassen werden.3 Das nationale Gericht muss also keine Übersetzungsarbeit leisten.4 Die Mitgliedstaaten dürfen sich ihrer eigenen Sprache bedienen, wenn sie einem Klage- oder einem Rechtsmittelverfahren als Streithelfer beitreten oder sich an einem Vorabentscheidungsverfahren beteiligen. Die Richter und Generalanwälte unterliegen nicht dieser Regelung über die Verfahrenssprache. Es steht ihnen frei, in der Sitzung Fragen in einer Amtssprache der Union zu stellen, die nicht Verfahrenssprache ist.
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2. Schriftliches Verfahren Art. 23 EuGH-Satzg schreibt vor, dass das Gericht des Mitgliedstaats, das ein Verfahren aussetzt und den Gerichtshof anruft, diese Entscheidung dem Gerichtshof zu übermitteln hat. Der Kanzler des Gerichtshofs stellt diese Entscheidung den beteiligten Parteien, den Mitgliedstaaten und der Kommission zu und außerdem den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, von denen die Handlung, deren Gültigkeit oder Auslegung streitig ist, ausgegangen ist. 1 2 3 4
EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 – CARTESIO, Slg. 2008, I-9641. Art. 20 Abs. 1 EuGH-Satzg. Abs. 3 Satz 1. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (101).
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§ 13
Rz. 95
Das Vorabentscheidungsverfahren
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Binnen zwei Monaten nach dieser Zustellung1 können die Parteien, die Mitgliedstaaten, die Kommission und gegebenenfalls die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, von denen die Handlung, deren Gültigkeit oder Auslegung streitig ist, ausgegangen ist, beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben. Jeder Schriftsatz ist bei der Kanzlei des Gerichtshofs einzureichen, damit er gem. Art. 21 EuGH-VerfO in ein Register eingetragen werden kann. Da das Vorabentscheidungsverfahren kein streitiges Verfahren ist, unterliegt die Einreichung der schriftlichen Erklärungen durch die in Art. 23 der EuGH-Satzg genannten Beteiligten keinen besonderen Formerfordernissen. Wird durch den Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zugestellt, können die Beteiligten daher, wenn sie es wünschen, einen Schriftsatz einreichen, in dem sie zum Ersuchen des vorlegenden Gerichts Stellung nehmen. Der Zweck dieses Schriftsatzes liegt darin, dem Gerichtshof Aufschluss über die Tragweite dieses Ersuchens und insbesondere darüber zu verschaffen, wie die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu beantworten sind. Die sicherste und schnellste Art, ein Verfahrensschriftstück einzureichen, ist die Einreichung im Wege der Anwendung e-Curia. Diese Anwendung, die den drei Gerichten, aus denen sich der Gerichtshof der Europäischen Union zusammensetzt, gemeinsam ist, steht seit 2011 zur Verfügung. Sie ermöglicht es, Verfahrensschriftstücke auf ausschließlich elektronischem Weg einzureichen und zuzustellen, ohne dass es einer Erstellung beglaubigter Kopien des dem Gerichtshof übermittelten Schriftstücks oder dessen zusätzlicher Übersendung auf dem Postweg bedarf. Die Modalitäten des Zugangs zur Anwendung e-Curia und die Voraussetzungen für ihre Nutzung sind im Beschluss des Gerichtshofs vom 13. September 2011 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia sowie in den Voraussetzungen für die Nutzung, auf die der Beschluss verweist, genau beschrieben. Wird ein Verfahrensschriftstück dem Gerichtshof nicht über diese Anwendung übermittelt, kann es auch auf dem Postweg an den Gerichtshof gerichtet werden. Die das Schriftstück enthaltende Sendung ist an die Kanzlei des Gerichtshofs, Rue du Fort Niedergrünewald - L-2925 Luxemburg, zu richten. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 57 Abs. 7 der EuGH-VerfO für die Berechnung der Verfahrensfristen allein der Tag und die Uhrzeit des Eingangs des Originals bei der Kanzlei maßgebend sind. Um eine Verfristung zu vermeiden, wird daher nachdrücklich empfohlen, die fragliche Sendung einige Tage vor Ablauf der für die Einreichung des Schriftstücks gesetzten Frist per Einschreiben oder per Eilbrief zu versenden.2
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In den Fällen nach Art. 267 AEUV stellt der Kanzler des Gerichtshofs die Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats darüber hinaus den Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, die nicht Mitgliedstaaten sind, und der in jenem Abkommen genannten EFTA-Überwachungsbehörde zu, die binnen zwei Monaten nach der Zustellung beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben können, wenn einer der Anwendungsbereiche des Abkommens betroffen ist, Art. 96 EuGH-VerfO. Sieht ein vom Rat mit einem oder mehreren Drittstaaten über einen bestimmten Bereich geschlossenes Abkommen vor, dass diese Staaten Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben können, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof eine in den Anwendungsbereich des Abkommens fallende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, so wird die Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats, die eine solche Frage enthält, auch den betreffenden Drittstaaten zugestellt, die binnen zwei Monaten nach der Zu1 Zuzüglich der pauschalen Entfernungsfrist von zehn Tagen. 2 Vgl. die praktischen Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen vor dem Gerichtshof ABl. L 31/1 v. 31.1.2014.
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Verfahren beim EuGH
§ 13
Rz. 100
stellung beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben können. Art. 96 EuGH-VerfO sieht vor, dass vor dem Gerichtshof Erklärungen im Wesentlichen abgegeben werden von den Parteien des Ausgangsrechtsstreits, den Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und den Organen, von denen die Handlung, deren Gültigkeit oder Auslegung streitig ist, ausgegangen ist. Die Nichtteilnahme am schriftlichen Verfahren hindert nicht an der Teilnahme am mündlichen Verfahren. Der Präsident des Gerichthofs kann auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. In diesem Fall bestimmt der Präsident umgehend den Termin für die mündliche Verhandlung, der den in Art. 23 EuGH-Satzg bezeichneten Beteiligten mit der Zustellung des Vorabentscheidungsersuchens mitgeteilt wird, Art. 105 EuGH-VerfO.
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Der Zweck der schriftlichen Erklärungen besteht darin, Antworten des Gerichtshofs auf die aufgeworfenen Fragen vorzuschlagen und knapp, aber vollständig zu begründen. Es ist wichtig, dass dem Gerichtshof die tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens sowie die einschlägigen Vorschriften des fraglichen nationalen Rechts zur Kenntnis gebracht werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass kein Betroffener die Möglichkeit hat, schriftlich auf die schriftlichen Erklärungen der anderen Betroffenen zu entgegnen. Auf die schriftlichen Erklärungen der anderen Betroffenen kann in der mündlichen Verhandlung entgegnet werden. Im Hinblick darauf werden die schriftlichen Erklärungen nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens und Anfertigung der notwendigen Übersetzungen allen Betroffenen übermittelt. Es wird dringend empfohlen, schriftliche Erklärungen einzureichen, da die Redezeit in der mündlichen Verhandlung streng begrenzt ist.1 Jedoch verbleibt den Betroffenen, die keine schriftlichen Erklärungen abgegeben haben, das Recht, in der mündlichen Verhandlung, sofern eine solche stattfindet, mündliche Ausführungen, insbesondere zur Entgegnung auf schriftlich vorgebrachte Argumente, zu machen.
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Ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft, so kann er nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, dass ohne Schlussanträge des Generalanwalts über die Sache entschieden wird, Art. 20 Abs. 4 EuGHSatzg.
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Die Parteien des Ausgangsrechtsstreits sind diejenigen, die vom vorlegenden Gericht gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften als solche bezeichnet werden. Hinsichtlich der Vertretung und des persönlichen Erscheinens der Parteien des Ausgangsrechtsstreits trägt der Gerichtshof den vor dem vorlegenden Gericht geltenden Verfahrensvorschriften Rechnung. In Vorabentscheidungsverfahren gilt der Grundsatz des Anwaltszwangs in einer etwas modifizierten Form. Jede Person, die im Ausgangsverfahren vor dem vorlegenden Gericht befugt ist, einen Verfahrensbeteiligten zu vertreten und/oder als dessen Beistand aufzutreten, kann dies auch vor dem Gerichtshof tun, Art. 19 EuGH-Satzg. Wenn somit die Verfahrensvorschriften, die auf das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht anzuwenden sind, keine Vertretung vorschreiben, können die Beteiligten des Ausgangsverfahrens selbst schriftliche und mündliche Ausführungen im Vorabentscheidungsverfahren machen. Bestehen Zweifel, ob eine Person eine Partei des Ausgangsrechtsstreits nach dem nationalen Recht vertreten
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1 Nr. 51 Anweisungen ABl. L 31/1 v. 31.1.2014.
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§ 13
Rz. 101
Das Vorabentscheidungsverfahren
kann, so kann sich der Gerichtshof beim vorlegenden Gericht über die anwendbaren Verfahrensvorschriften erkundigen. 3. Mündliche Verhandlung a) Durchführung der mündlichen Verhandlung 101
Die mündliche Verhandlung ist nach der neuen Verfahrensordnung kein Zwang mehr.1 Nach der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof von einer mündlichen Verhandlung absehen. Ist er der Auffassung, dass eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft, so kann er gemäß der Satzung nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, dass ohne Schlussanträge des Generalanwalts über die Sache entschieden wird.2 Etwaige mit Gründen versehene Anträge auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sind innerhalb von drei Wochen, nachdem die Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens an die Parteien oder die in Art. 23 EuGHSatzg bezeichneten Beteiligten erfolgt ist, zu stellen. Diese Frist kann vom Präsidenten verlängert werden. Der Gerichtshof kann auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entscheiden, keine mündliche Verhandlung abzuhalten, wenn er sich durch die im schriftlichen Verfahren eingereichten Schriftsätze oder Erklärungen für ausreichend unterrichtet hält, um eine Entscheidung zu erlassen, Art. 76 Abs. 2 EuGH-VerfO. Der vorstehende Absatz findet keine Anwendung, wenn ein mit Gründen versehener Antrag auf mündliche Verhandlung von einem in Art. 23 EuGH-Satzg bezeichneten Beteiligten, der nicht am schriftlichen Verfahren teilgenommen hat, gestellt worden ist. b) Zweck der mündlichen Verhandlung
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In Vorabentscheidungsverfahren und in anderen Verfahren, in denen das schriftliche Verfahren die Einreichung nur eines Schriftsatzes umfasst, soll die mündliche Verhandlung es den Verfahrensbeteiligten in erster Linie ermöglichen, auf die Argumente zu entgegnen, die von anderen Beteiligten in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebracht worden sind. c) Gang der mündlichen Verhandlung
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Nach dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und der Anfertigung der Übersetzungen legt der Berichterstatter in der allgemeinen Sitzung, an der alle Mitglieder des Gerichtshofs teilnehmen, den Vorbericht vor. In diesem Bericht, der den Beteiligten nicht zugänglich ist, schlägt der Berichterstatter in Abstimmung mit dem Generalanwalt die vom Gerichtshof zu treffenden Verfahrensmaßnahmen und/oder vorbereitenden Maßnahmen vor. Der Gerichtshof gibt einem Vertagungsantrag nur aus schwerwiegenden Gründen statt. Außer bei der Anhörung im Rahmen des Verfahrens der einstweiligen Anordnung müssen die Prozessvertreter beim Auftreten vor dem Gerichtshof eine Robe tragen. Der Gerichtshof hält immer einige Roben für Prozessvertreter zur Verfügung, die ihre Robe vergessen haben.
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Das mündliche Verfahren umfasst u.a. die mündlichen Ausführungen der Beteiligten in der Sitzung und die in öffentlicher Sitzung vorgetragenen Schlussanträge des Generalanwalts. Die aktive Mitwirkung der Prozessvertreter der Beteiligten am Verfahren endet mit der mündlichen Verhandlung. Unter Vorbehalt der Möglichkeit, das 1 Art. 76 EuGH-VerfO. 2 Art. 20 Abs. 5 EuGH-Satzg.
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Verfahren beim EuGH
§ 13
Rz. 109
Verfahren aus außerordentlichen Gründen wieder zu eröffnen, können Erklärungen der Beteiligten im Anschluss an die Schlussanträge nicht zu den Akten genommen werden. Vor Beginn der Sitzung bittet der Gerichtshof die Prozessvertreter üblicherweise zu einer kurzen Unterredung über die Gestaltung der Sitzung. Eventuell weisen der Berichterstatter und/oder der Generalanwalt dabei auf andere Punkte hin, deren Behandlung in den mündlichen Ausführungen ihnen wünschenswert erscheint. Die Sitzung beginnt grundsätzlich mit den mündlichen Ausführungen der Prozessvertreter. Daran schließen sich die Fragen der Mitglieder des Gerichtshofs an. Die Sitzung endet erforderlichenfalls mit kurzen Entgegnungen der Prozessvertreter, die dies wünschen.1
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Es kommt vor, dass die Mitglieder des Gerichtshofs die Prozessvertreter in ihren mündlichen Ausführungen unterbrechen, um bestimmte Punkte klären zu lassen, die ihnen besonders wichtig erscheinen. Der Präsident erklärt nach der Stellung der Schlussanträge des Generalanwalts das mündliche Verfahren für abgeschlossen.
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d) Hinweise des EuGH für die mündliche Verhandlung In der Regel ist die anfängliche Redezeit für jede Partei auf maximal 15 Minuten begrenzt. Soweit die Gleichbehandlung der Parteien gewährleistet ist, kann der Gerichtshof eine Ausnahme von dieser Regeldauer bewilligen. Dazu ist ein Antrag an den Kanzler des Gerichtshofs zu richten, der eingehend zu begründen ist und in dem anzugeben ist, wie viel Redezeit für erforderlich gehalten wird. Dieser Antrag muss spätestens zwei Wochen vor der Sitzung beim Gerichtshof eingehen, um berücksichtigt werden zu können.2
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Die Mitglieder des Gerichtshofs folgen den mündlichen Ausführungen nicht unbedingt in der Sprache, in der sie vorgetragen werden, sondern oft in einer simultan gedolmetschten Fassung. Aus dem Simultandolmetschen ergeben sich Erfordernisse, deren Beachtung im Interesse der Prozessvertreter liegt. Der EuGH hat folgende Hinweise für die mündliche Verhandlung gegeben: Die Dolmetscher sollen dabei helfen, die Ausführungen in einem mehrsprachigen Umfeld wie dem des Gerichtshofs klar, natürlich und flüssig den übrigen Teilnehmern an der mündlichen Verhandlung zu vermitteln. Die Dolmetscher bereiten die Sitzung durch gründliches Aktenstudium sorgfältig vor. Es erschwert die Arbeit der Dolmetscher, wenn ein schnell verlesener Text simultan in eine andere Sprache übertragen werden muss. Daher ist es besser, in gemäßigtem Tempo frei und ungezwungen zu sprechen und den Text nicht zu verlesen.3
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Wenn ein schriftlich ausgefertigter Text verlesen werden soll, empfiehlt es sich, ihn vorab der Direktion Dolmetschen des Gerichtshofs zu übermitteln: per Fax4 oder E-Mail.5 So kann er von den Dolmetschern in die Vorbereitungsarbeit einbezogen werden. Selbstverständlich wird das Plädoyer ausschließlich von den Dolmetschern verwendet; es wird Dritten weder mitgeteilt noch weitergegeben. Es wird in der Sitzung allein das gesprochene Wort übertragen.
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Höchstens fünf Minuten Dauer; Nr. 55 der Anweisungen ABl. L 31/1 v. 31.1.2014. Nr. 52 der Anweisungen ABl. L 31/1 v. 31.1.2014. Nr. 57 der Anweisungen ABl. L 31/1 v. 31.1.2014. Luxemburg + 352 4303 3697. [email protected].
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§ 13 110
Rz. 110
Das Vorabentscheidungsverfahren
Auch handschriftliche Notizen sind hilfreich. Sie sind den Dolmetschern vor der Sitzung in Kopie auszuhändigen. Zitate, Verweise, Zahlen, Namen, Akronyme sollen stets langsam und deutlich ausgesprochen werden.
IX. Entscheidung des EuGH 111
Die Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ergeht durch Urteil,1 es sei denn, die Antwort auf eine Frage kann klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden oder die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage lässt keinen Raum für vernünftige Zweifel. Dann kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.2 In Auslegungsfragen erläutert der EuGH Tatbestand und Rechtsfolge der auszulegenden Norm und die Gründe für oder gegen eine bestimmte Auslegung. Der EuGH äußert sich nicht zum nationalen Recht und auch nicht zu den Auswirkungen seiner Auslegung auf das nationale Recht. In den Gründen legt er detaillierte Auslegungskriterien dar, um dem nationalen Gericht die Prüfung und Anwendung des nationalen Rechts zu erleichtern.3 Legt das nationale Gericht eine Gültigkeitsfrage vor, erklärt der EuGH bestimmte Bestimmungen oder Rechtsakte für gültig oder ungültig. In Gültigkeitsfragen überprüft der EuGH in vollem Umfang die Rechtmäßigkeit des zu überprüfenden Rechtsaktes. Das Urteil ist zu verkünden, die in Art. 23 EuGH-Satzg bezeichneten Beteiligten werden vom Termin der Urteilsverkündung benachrichtigt.4 Das Urteil wird mit dem Tag seiner Verkündung rechtskräftig.5
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Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof ist gerichtskostenfrei. Der Gerichtshof entscheidet nicht über die Kosten der Parteien des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; diese Entscheidung ist Sache des vorlegenden Gerichts.
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Die Begründungen des EuGH werden aus deutscher Sicht vielfach als kryptisch, minimalistisch und unwissenschaftlich bezeichnet. Bei der Kritik gilt es freilich zu beachten, dass der EuGH nur so gut entscheiden kann, wie die Vorlagefrage gefasst ist. Fehlen dort wesentliche tatsächliche Aspekte oder eine wesentliche Fragestellung, kann der EuGH nicht von sich aus hierzu Stellung nehmen. Außerdem lassen sich oft den Schlussanträgen, auf die der EuGH verweist, wissenschaftliche Äußerungen entnehmen. Schließlich ist zu beachten, dass das Entscheidungsgremium mit Juristen aus den unterschiedlichen Ländern der Union besetzt ist und dass in einem deutschen Vorlagefall kein deutscher Richter mitsitzen muss.
X. Wirkung des Urteils 1. Inhaltliche Bindung 114
Urteile des EuGH werden am Tag ihrer Verkündung rechtskräftig. Das Auslegungsurteil bindet „inter partes“ die in derselben Sache im Ausgangsstreitverfahren beteiligten Parteien und die entscheidenden Gerichte, neben dem vorlegenden Gericht also 1 2 3 4 5
Art. 36 EuGH-VerfO. Art. 99 EuGH-VerfO. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 860. Art. 86 EuGH-VerfO. Art. 91 EuGH-VerfO.
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Wirkung des Urteils
§ 13
Rz. 117
auch die Instanzgerichte.1 Für andere Gerichte ist jederzeit eine neue Vorlage mit der gleichen Frage zum EuGH möglich. Das vorlegende Gericht kann in derselben Rechtssache nicht dieselbe Auslegungsfrage erneut vorlegen.2 Eine erneute Befassung des EuGH in derselben Angelegenheit kommt allein zur Klärung neu aufgekommener Fragen oder zur Aufklärung über Unklarheiten der Vorabentscheidung in Frage.3 Ob Gerichte, die von der Rechtsprechung abweichen wollen, unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV die Frage vorlegen müssen, ist darüber hinaus umstritten.4 Soweit die Voraussetzungen einer Vorlagepflicht bestehen, muss vorgelegt werden. Will ein letztinstanzliches Gericht von der Rechtsprechung des EuGH abweichen, muss es natürlich vorlegen. Die Bindungswirkung der Entscheidung des EuGH bezieht sich allein auf die Auslegung des Unionsrechts.5 Die Anwendung der ausgelegten Norm auf den konkreten Sachverhalt verbleibt beim nationalen Gericht. Trifft der EuGH dennoch Aussagen zur Anwendung des Unionsrechts oder des unionsrechtskonform ausgelegten nationalen Rechts auf den Einzelfall, muss eine Bindungswirkung ausscheiden. Das gilt auch dann, wenn die Vorlagefrage unklar gestellt worden ist und die Antwort eine Anwendung auf den Einzelfall erfordert.
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In Gültigkeitsfragen entsteht eine allgemeine Bindungswirkung auch für weitere Verfahren, wenn die Ungültigkeit der Norm festgestellt wurde. Das Verwerfungsmonopol liegt für das Unionsrecht allein beim EuGH. Bei angenommener Gültigkeit durch den EuGH entsteht jedoch keine Bindungswirkung. Denn der EuGH beschränkt sich auf die Prüfung der vorgebrachten Gründe und einiger Gründe von Amts wegen.6 Das spiegelt sich auch in der Tenorierung wider, wenn der EuGH lediglich auf die Prüfung der vorgelegten Fragen abstellt.7
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2. Zeitliche Bindung Die Entscheidung über Auslegungsfragen im Vorabentscheidungsverfahren hat im Grunde keine zeitlichen Wirkungen, da sie keine gestaltende Rechtswirkung zwischen den Parteien entfaltet, sondern nur auf die Auslegung des Unionsrechts erkennt.8 Die Urteile des EuGH wirken damit grundsätzlich auch für die Vergangenheit (vgl. § 1 Rz. 155). Daraus folgt, dass die innerstaatlichen Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor der fraglichen Entscheidung entstanden sind, anwenden müssen. Der EuGH kann die Möglichkeit, sich auf die Auslegung zu berufen, die er einer unionsrechtlichen Bestimmung gegeben hat, nur ausnahmsweise mit Wirkung für alle Betroffenen zeitlich beschränken. Für die Entscheidung über die zeitliche Begrenzung der Unanwendbarkeit einer gegen Primärrecht verstoßenden Norm ist mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die nötige einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten allein der EuGH zuständig. Äußert er sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zu der Frage der Rückwirkung oder zeitlichen Begrenzung seiner Antwort nicht, schließt er damit 1 EuGH v. 24.6.1969 – Rs. 29/68 – Milch-, Fett- und Eierkontor, Slg. 1969, 165 – Rz. 3; Callies/ Ruffert/Wegener, Art. 267 AEUV – Rz. 47. 2 S. auch vgl. Rz. 119 sowie EuGH v. 3.6.1992 – Rs. C-45/90 – Paletta I, Slg. 1992, I-3423 und 2.5.1996 – Rs. C-206/94 – Paletta II, Slg. 1996, I-2357. 3 Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 267 AEUV Rz. 47. 4 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 868. 5 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 149. 6 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 156. 7 Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 867. 8 ErfK/Wißmann, Art. 267 AEUV Rz. 45.
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§ 13
Rz. 118
Das Vorabentscheidungsverfahren
unionsrechtlichen Vertrauensschutz regelmäßig aus. Dafür spricht auch, wenn das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausdrücklich danach gefragt hat, ob dem Vertrauen der Normunterworfenen in die Anwendung innerstaatlicher Gesetze durch eine zeitliche Begrenzung dieser Folge Rechnung getragen werden kann.1 Die Einschränkung muss jedoch in dem Urteil selbst enthalten sein, durch das über das Auslegungsersuchen entschieden wird. Aus dem grundlegenden Erfordernis, dass das Unionsrecht in allen Fällen einheitlich anzuwenden ist, folgt, dass es allein Sache des Gerichtshofes ist, darüber zu entscheiden, ob die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt werden soll.2 Daraus folgt, dass inter partes Vertrauensschutz nur in der ersten Vorabentscheidung gewährt werden kann. Da sich die Frage des Vertrauensschutzes jedoch in Folgeverfahren anderer Parteien stellen kann, scheint mir eine erneute Vorlage angereichert mit der Rückwirkungsfrage – freilich nur auf den Zeitraum bezogen vor der ersten Vorlageentscheidung – nicht per se ausgeschlossen. 118
Bei Auslegungsurteilen kann in absoluten Ausnahmefällen eine Rückwirkung ausgeschlossen werden.3 Das soll möglich sein, wenn die Rechtssicherheit4 oder schwerwiegende Beeinträchtigungen dies erfordern. Es geht dabei um den Schutz in gutem Glauben begründeter Rechtsverhältnisse.5 Die zeitliche Beschränkung muss sich aber unmittelbar aus dem Urteil ergeben. Frühere Entscheidungen zu einer bestimmten Auslegung schließen eine erneute Vorlage auch zum Vertrauensschutz aus.6 Es besteht aber die Möglichkeit bei Ungültigkeitserklärungen die zeitlichen Wirkungen zu begrenzen.7 Der EuGH führt hierzu aus: „Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen. Der Gerichtshof hat auf diese Lösung nur unter ganz bestimmten Umständen zurückgegriffen, namentlich wenn eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und wenn sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen. Ferner rechtfertigen nach ständiger Rechtsprechung die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil für einen Mitgliedstaat ergeben könnten, für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen dieses Urteils.“8
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BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 714/08, NZA 2011, 343. EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 – Denkavit, Slg. 1980, 1205 – Rz. 18. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 873. Vermeidung eines Zustands der Unsicherheit. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 874. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 874. Art. 264 Abs. 2 AEUV analog. EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-525/11 – Mednis, Rz. 42–44, Hervorhebungen diesseits.
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Gerichtsorganisation im Vorabentscheidungsverfahren
§ 13
Rz. 123
Unklarheiten nach der Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren muss das nationale Gericht lösen. Art. 158 EuGH-VerfO und Art. 43 EuGH-Satzg über die Auslegung von Urteilen und Beschlüssen finden keine Anwendung auf Entscheidungen, die in Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens ergehen. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu beurteilen, ob sie sich durch eine Vorabentscheidung für hinreichend unterrichtet halten oder ob es ihnen erforderlich erscheint, den Gerichtshof erneut anzurufen.1
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XI. Gerichtsorganisation im Vorabentscheidungsverfahren Für das Verständnis von Entscheidungen des EuGH auch in Vorabentscheidungsverfahren ist es nicht unerheblich, in welcher Besetzung er entschieden hat. Nach Art. 16 EuGH-Satzg bildet der Gerichtshof aus seiner Mitte Kammern mit drei und mit fünf Richtern. Die Richter wählen aus ihrer Mitte die Präsidenten der Kammern. Die Präsidenten der Kammern mit fünf Richtern werden für drei Jahre gewählt.
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Die Große Kammer ist mit fünfzehn Richtern besetzt. Den Vorsitz führt der Präsident des Gerichtshofs. Der Großen Kammer gehören außerdem der Vizepräsident des Gerichtshofs sowie nach Maßgabe der Verfahrensordnung drei der Präsidenten der Kammern mit fünf Richtern und weitere Richter an. Der Gerichtshof tagt als Große Kammer, wenn ein am Verfahren beteiligter Mitgliedstaat oder ein am Verfahren beteiligtes Unionsorgan dies beantragt. Der Gerichtshof tagt als Plenum, wenn er gem. Art. 228 Abs. 2, 245 Abs. 2, 247 oder Art. 286 Abs. 6 AEUV befasst wird. Außerdem kann der Gerichtshof, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass eine Rechtssache, mit der er befasst ist, von außergewöhnlicher Bedeutung ist, nach Anhörung des Generalanwalts entscheiden, diese Rechtssache an das Plenum zu verweisen. Aus dieser Aufgliederung folgt, dass Entscheidungen der Kammern mit fünf Richtern eine größere Bedeutung haben und dass Entscheidungen der Großen Kammer eine ganz erhebliche Bedeutung zukommt. So hat in der Sache Kücükdevici die Große Kammer entschieden, was der Entscheidung eine große Bedeutung verleiht.2
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Der Gerichtshof verweist alle bei ihm anhängigen Rechtssachen an die Kammern mit fünf – in Vorabentscheidungsverfahren die häufigste Besetzung3 - oder mit drei Richtern, sofern nicht die Schwierigkeit oder die Bedeutung der Rechtssache oder besondere Umstände eine Verweisung an die Große Kammer erfordern, es sei denn, eine solche Verweisung ist gem. Art. 16 Abs. 3 EuGH-Satzg von einem am Verfahren beteiligten Mitgliedstaat oder Unionsorgan beantragt worden.4 Der Spruchkörper, an den eine Rechtssache verwiesen worden ist, kann in jedem Verfahrensstadium beim Gerichtshof anregen, die Rechtssache an einen größeren Spruchkörper zu verweisen.5
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Nach Art. 15 EuGH-VerfO bestimmt der Präsident des Gerichtshofs nach Eingang des verfahrenseinleitenden Schriftstücks so bald wie möglich den Berichterstatter für die Rechtssache. Diese Praxis begegnet im Hinblick auf den Grundsatz des gesetzlichen Richters Bedenken.6
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Art. 104 EuGH-VerfO. EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-2010, 365. Jahresbericht des EuGH 2013, S. 102. Art. 60 Abs. 1 EuGH-VerfO. Art. 60 Abs. 3 EuGH-VerfO. Pechstein, EU-Prozessrecht, Rz. 105 m.w.N.
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§ 13 124
Rz. 124
Das Vorabentscheidungsverfahren
Nach Art. 256 Abs. 3 AEUV ist das Gericht in besonderen in der Satzung festgelegten Sachgebieten für Vorabentscheidungen zuständig. Für die Zukunft ist allerdings nicht unmittelbar mit einer Übertragung von Vorabentscheidungsersuchen auf das EuG zu rechnen.1 Wenn das Gericht aber der Auffassung ist, dass eine Rechtssache eine Grundsatzentscheidung erfordert, die die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berühren könnte, kann es die Rechtssache zur Entscheidung an den Gerichtshof verweisen. Die Entscheidungen des Gerichts über Anträge auf Vorabentscheidung können nach Maßgabe der Bedingungen und innerhalb der Grenzen, die in der Satzung vorgesehen sind, in Ausnahmefällen vom Gerichtshof überprüft werden, wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berührt wird.
1 Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 256 AEUV Rz. 27.
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Stichwortverzeichnis Bearbeiter: Klaus Thölken Fett gedruckte Ziffern verweisen auf das Kapitel, magere Ziffern auf die Randziffern innerhalb des jeweiligen Kapitels.
Abels (EuGH) 11 156 Abfindungen – Altersdiskriminierung 4 96 ff. Abler (EuGH) 11 51 Abtretung – Mindestlohnsätze 5 127 f. Acté éclaire – Vorlagepflicht 13 55 ff. Adeneler (EuGH) 1 147 AGG – Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 4 47 ff. – Schadensersatz/Entschädigung 3 266 ff. Akavan Keskusliitto (EuGH) 10 74 Albron (EuGH) 11 62 ff., 84 Alemo-Herron (EuGH) 11 132 f., 136 Allgemeinverbindliche Tarifverträge – Arbeitnehmerentsendung 5 156 ff. Altersabstandsklauseln – Altersdiskriminierung 4 144 Altersdiskriminierung 3 98 ff.; 4 1 ff. – Prüfungsschema 4 58 – Rechtfertigungsgründe für Benachteiligung 4 14 ff. – Rechtsquellen 4 5 ff. – auf den verschiedenen Stufen des Arbeitsverhältnisses 4 59 ff. Altersgrenzen – allgemeine ~ und Altersdiskriminierung 4 114 ff. – Befristungsgrund 9 149 ff. – besondere ~ und Altersdiskriminierung 4 126 ff. – bei Versorgungswerken und Altersdiskriminierung 4 137 ff. Altersgruppenbildung bei betriebsbedingter Kündigung – Altersdiskriminierung 4 90 ff. Amtshaftung – Verstoß gegen Vorlagepflicht 13 61 f. Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses – Altersdiskriminierung 4 60 ff. Andersen (EuGH) 4 96 ff., 107 ff.
Änderung von Arbeitsbedingungen – Fiktion einer Kündigung bei „verschlechterndem“ Betriebsübergang 11 146 ff. – mögliche ~ bei Betriebsübergang 11 96 Anhörung – Arbeitnehmervertretung 12 201 ff. – Europäische Betriebsräte 12 50 ff. – europäische Sozialpartner 1 62 Anschlussverbot 9 174 ff. Antidiskriminierungsverbände – kollektive Rechtsdurchsetzung 3 280 f. Antirassismusrichtlinie 3 26, 40 ff., 60 ff., 171 ff., 257 ff. Anwendungsvorrang 1 31 ff. Anzeigeverfahren bei Massenentlassung 10 98 ff. – Anzeigepflichtiger 10 123 ff. – Fehler 10 144 ff. – formale Anforderungen 10 127 ff. – Heilung von Fehlern 10 149 ff. – Inhalt 10 108 ff. – Sanktionen nach deutschem Recht 10 147 f. – Sperrfrist 10 141 ff. – Stellungnahme des Betriebsrats 10 116 ff. – Verhältnis zum Konsultationsverfahren 10 134 ff. – zeitlicher Ablauf 10 130 ff. – Zeitpunkt der Anzeige 10 130 ff. – zuständige Behörde 10 105 ff. – zwingende Angaben 10 110 ff. Äquivalenzgrundsatz 1 120 f. Arbeitgeberbegriff – Massenentlassung 10 22 f.; 11 59 ff. Arbeitgeberverbände – Diskriminierungsverbot bei Mitgliedschaft/Mitwirkung 3 55 Arbeitnehmerbegriff 1 107 ff. – Befristungsrecht 9 18 ff. – Betriebsübergang 11 56 ff. – Entgeltgleichheit 3 33 ff. – Europäische Betriebsräte 12 42 ff.
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Stichwortverzeichnis – Leiharbeit 8 15 f., 18 – Massenentlassung 10 14 ff. Arbeitnehmerentsendung – allgemeinverbindliche Tarifverträge 5 156 ff. – Arbeitsbedingungen aus dem Bereich der öffentlichen Ordnung 5 168 ff. – Arbeitserlaubnis 5 38 ff. – Arbeitskollisionsrecht 5 47 ff. – Ausnahmen bei zwingenden Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen 5 146 ff. – und Dienstleistungsfreiheit 5 1 – Entsendesituation 5 86 ff. – gesamtschuldnerische Haftung 5 193 ff. – Günstigkeitsprinzip 5 152 ff. – „harter Kern“ der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen 5 104 ff. – Klage hinsichtlich Mindestarbeitsbedingungen 5 199 f. – Kollisionsrecht 5 58 f.., 64 ff. – Leiharbeit 5 164 ff. – nationale Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen 5 179 ff. – Sozialversicherungspflicht 5 34 ff. – Unternehmenssitz in der EU 5 80 ff. – vorübergehender Charakter der ~ 5 94 ff. Arbeitnehmerfreizügigkeit 1 48 f., 111 – Anwendungsbereich 5 4 – Dienstleistungsfreiheit, Abgrenzung 59 Arbeitnehmerüberlassung – siehe Leiharbeit Arbeitnehmervertretung – Betriebsrat bei Massenentlassung 10 47 ff. – Betriebsübergang siehe Arbeitnehmervertretung bei Betriebsübergang – Durchsetzung der Unterrichtung und Anhörung 12 233 ff. – Europäische Betriebsräte siehe dort – Gegenstand der Unterrichtung und Anhörung 12 219 ff. – Geheimhaltungspflicht 12 228 ff. – Konsultationsverfahren bei Massenentlassung 10 46 ff. – Koordination mit Unterrichtungs- und Anhörungsrechten Europäischer Betriebsräte 12 164 ff. – Leiharbeitnehmer 8 115 ff.
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– Schutz der Arbeitnehmervertreter 12 231 f. – Schwellenwerte, Berücksichtigung von Befristungen 9 194 ff. – Stellungnahme des Betriebsrats bei Massenentlassungsanzeige 10 116 ff. – Tendenzbetriebe 12 211 f. – Unternehmens-/Betriebsgröße 12 207 ff. – Unterrichtung der Entleiher-~ über Leiharbeitnehmereinsatz 8 119 ff. – Unterrichtung und Anhörung 12 201 ff. – Vorschläge bei Massenentlassung 10 82 f. Arbeitnehmervertretung bei Betriebsübergang 11 165 ff. – Arbeitnehmervertretung, Begriff 11 168 ff. – Aufrechterhaltung von Rechtsstellung und Funktion 11 176 ff. – individuelle Information der Arbeitnehmer als Auffanglösung 11 210 ff. – Information 11 185 ff. – Information, Ausnahmemodell 11 186, 188, 201 ff. – Information bei Planung durch Obergesellschaft 11 217 f. – Information, Beschränkung auf Einheiten mit Kollegialorgan 11 209 – Information, Grundmodell 11 186 f., 193 ff. – Konsultation 11 185 ff. – Konsultation, Ausnahmemodell 11 186, 188, 201 ff. – Konsultation bei Planung durch Obergesellschaft 11 217 f. – Konsultation, Beschränkung auf Einheiten mit Kollegialorgan 11 209 – Konsultation, Grundmodell 11 186 f., 197 ff. – nachwirkender Individualschutz der Mandatsträger 11 183 f. – Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter 11 166 ff. – Selbständigkeit der übertragenen Einheit 11 173 ff. – Verlust des Selbständigkeit der übertragenen Einheit 11 179 ff. – Verstöße gegen Informations- und Konsultationspflichten 11 219 f. Arbeitsentgelt – Altersdiskriminierung 4 73
Stichwortverzeichnis – Arbeitszeitrichtlinie, keine Regelung des ~s 6 93 – Diskriminierungsverbot bei Befristung 9 71 ff. – Entgeltgleichheit siehe dort – Leiharbeit, Gleichbehandlung 8 49 f. – Mindestlohnsätze und Arbeitnehmerentsendung 5 118 ff. Arbeitserlaubnis – Arbeitnehmerentsendung 5 38 ff. Arbeitsleistung – Urlaubsanspruch 7 18 ff. Arbeitsplatz – räumliche Entfernung zum ~ als Abweichung iSd. Arbeitszeitrichtlinie 6 245 Arbeitsunfähigkeit 7 34 f. Arbeitsverhältnis bei Betriebsübergang 11 72 ff. – Änderungen des Arbeitsvertrags 11 96 – Arbeitsverhältnis 11 76 f. – Aufhebungsvertrag 11 95 – automatischer Übergang 11 73 ff. – Eintritt des Erwerbers in Rechte und Pflichten 11 85 ff. – erfasste Arbeitsverhältnisse 11 76 ff. – Leih-~ 11 82 ff. – Unabdingbarkeit 11 93 f. – Zuordnung zur wirtschaftlichen Einheit 11 78 ff. Arbeitsvertragsstatut – Eingriffsnormen 5 55 ff. – Entsenderichtlinie 5 58 ff. – Grundsatz der freien Rechtswahl 5 50 – objektive Anknüpfung 5 51 ff. Arbeitszeit – Arbeitnehmerentsendung 5 114 f. – Begriff 6 97 ff. – Begriff des EuGH 6 104 ff. – Eisenbahnverkehr 6 83 – Flugpersonal 6 81 f. – Jugendarbeitsschutz 6 87 ff. – Leiharbeit, Gleichbehandlung 8 45 – Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchst~ 6 94 ff. – mobile Arbeitnehmer 6 71 ff. – Mutterschutz 6 84 ff. – Primärquellen des ~rechts 6 37 ff. – Rechtsquellen des ~rechts 6 31 ff. – Reformvorhaben ~recht 6 338 ff. – Seeleute 6 58 ff. – Straßenverkehr 6 74 ff. – Urlaubsdauer bei Änderung 7 26 ff.
Arbeitszeitrichtlinie 6 1 ff. – Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen 6 221 ff. – allgemeines Benachteiligungsverbot bei Berufen auf ~ 6 334 ff. – Anwendungsbereich 6 50 ff. – Ausstrahlungswirkung 6 326 ff. – Entstehungsgeschichte 6 4 ff. – Ermächtigungsgrundlage 6 44 ff. – Reformvorhaben 6 338 ff. – Sanktionen bei Verstößen 6 326 ff. – Urlaub 7 1 ff. – Zweck 6 2 f. Association de médiation sociale (EuGH) 2 39 Aufhebungsvertrag – Arbeitsverhältnis bei Betriebsübergang 11 95 Aufrechnung – Mindestlohnsätze 5 127 f. Ausgleichsruhezeit 6 236 ff. Auslegung – Contra-legem-Judizieren, Verbot 1 151 ff. – einzelstaatliche ~smethoden 1 149 f. – durch EuGH 13 16 ff. – und Rechtsanwendung, Abgrenzung 13 18 ff. – richtlinienkonforme ~ 1 142 ff. Auslegung des Unionsrechts 1 76 ff. – autonome ~ 1 76 f. – historische ~ 1 96 ff. – Methoden 1 81 ff. – Normzweck 1 100 ff. – Rechtsfortbildung 1 103 ff. – Systematik 1 88 ff. – Wortlaut 1 85 ff. – Zuständigkeit 1 78 ff.
Beamte – Befristungen 9 20 ff. Bedingung – Massenentlassung 10 41 f. Beendigung des Arbeitsverhältnisses – Altersdiskriminierung 4 75 ff. Befristung 9 33 ff. – Anschlussverbot 9 174 ff. – aufeinanderfolgende ~en 9 172 ff. – Diskriminierungsverbot bei Befristung siehe dort – Entfristung 9 177 f., 188
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Stichwortverzeichnis – Höchstdauer 9 167 ff. – Information über freiwerdende unbefristete Arbeitsplätze 9 189, 191 f. – Kettenbefristungen 9 123 ff. – Leiharbeit 9 26 ff. – Massenentlassung 10 41 f. – Maßnahmen zur Missbrauchsvermeidung 9 123 ff. – öffentlicher Dienst und Sanktionen 9 183 ff. – sachlicher Grund 9 135 ff. – Sanktionen bei Ketten 9 179 ff. – Schwellenwert für Arbeitnehmervertretungen 9 194 ff. – Senkung des Schutzniveaus 9 203 ff. – Umsetzungsbestimmungen 9 200 ff. – unionsrechtliche Regelungen 9 12 ff. – Verschlechterungsverbot 9 203 ff. – Zugang zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten 9 190 f., 193 Befristungsrichtlinie – Anwendungsbereich 9 17 ff. – Arbeitnehmer 9 18 ff. – Aufbau 9 6 – Entstehungsgeschichte 9 1 ff. – Rahmenvereinbarung 9 1 ff. – Sinn und Zweck 9 9 ff. – Wirkung 9 8 Begründung des Arbeitsverhältnisses – Altersdiskriminierung 4 60 ff. Behinderung – Begriff 3 90 ff. – Diskriminierungsverbot 3 90 ff. – individuelle Beeinträchtigung 3 94 – Teilhabehindernis am beruflichen Leben 3 95 f. Belästigung/sexuelle Belästigung 3 171 ff. – Belästigung 3 174 ff. – sexuelle Belästigung 3 178 f. Benachteiligungsverbot – bei Berufen auf Rechte der Arbeitszeitrichtlinie 6 334 ff. Bereitschaftsdienst – Arbeitszeitbegriff der Arbeitszeitrichtlinie 6 116 ff. Berg und Busschers (EuGH) 11 97 f. Berufliche Bildung – Zugang für Leiharbeitnehmer 8 112 ff. Berufsausbildungsverhältnis – Nichtgeltung der Befristungsrahmenvereinbarung 9 43 ff.
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Beschäftigungsbedingungen – Betriebszugehörigkeitszeiten bei Befristung 9 104 ff. – Diskriminierungsverbot bei Befristung 9 65 ff. – „harte Kern“ bei Entsenderichtlinie 5 104 ff. Besonderes Verhandlungsgremium – Bildung und Tätigkeit 12 71 ff. – zur Errichtung eines Europäischen Betriebsrats 12 65 ff. – Informationserhebungsanspruch 12 88 ff. – Initiative 12 67 ff. – Schutz der Mitglieder 12 159 ff. Betriebliche Altersversorgung – Altersabstandsklauseln und Altersdiskriminierung 4 144 – Altersdiskriminierung 4 130 ff. – Altersgrenze bei Versorgungswerken und Altersdiskriminierung 4 137 ff. – Beiträge, Staffelung nach Alter und Altersdiskriminierung 4 148 – Betriebsübergang 11 137 f. – ratierliche Berechnung und Altersdiskriminierung 4 141 ff. – Spätehenklauseln und Altersdiskriminierung 4 145 ff. – Unverfallbarkeitsalter und Altersdiskriminierung 4 133 ff. Betriebsbedingte Kündigung – Altersdiskriminierung 4 85 ff. Betriebsbegriff – Massenentlassung 10 24 ff. Betriebsrat – siehe Arbeitnehmervertretung Betriebsübergang – Arbeitnehmerbegriff 11 56 ff. – Arbeitnehmerschutz 11 11 f. – Arbeitnehmervertretung bei Betriebsübergang siehe dort – Arbeitsverhältnis bei Betriebsübergang siehe dort – betriebliche Altersversorgung 11 137 f. – betriebsmittelarme/-reiche Branchen 11 41 ff. – Formen der Übertragung 11 24 ff. – Funktions-/Auftragsnachfolge 11 47 ff. – grenzüberschreitende Sachverhalte 11 67 ff. – Identitätswährung 11 36 ff. – individuelle Information der Arbeitnehmer als Auffanglösung 11 210 ff.
Stichwortverzeichnis – Information der Arbeitnehmervertretung siehe Arbeitnehmervertretung bei Betriebsübergang – Insolvenzverfahren siehe Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens – internationales Privatrecht 11 68 ff. – Kollektivverträge bei Betriebsübergang siehe dort – Konsultation der Arbeitnehmervertretung siehe Arbeitnehmervertretung bei Betriebsübergang – Kündigungsverbot bei Betriebsübergang siehe dort – Leiharbeit 11 62 ff. – räumlicher Anwendungsbereich 11 66 ff. – Rechtsstellung des Veräußerers 11 104 ff. – Reformdiskussion 11 5 – Spaltung 11 33 ff. – tatsächliche Fortführung 11 53 ff. – Übergang auf einen anderen Inhaber 11 21 ff. – Verschmelzung 11 30 ff. – vertragliche Übertragung 11 26 ff. – Widerspruch 11 97 ff. – wirtschaftliche Einheit 11 16 ff. Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens 11 155 ff. – Ermächtigung zum Ausschluss des Inhalts- und Bestandsschutzes 11 158 ff. – optionale Einschränkungen einzelner Schutzbestimmungen 11 161 ff. – Sanktionen bei Missbrauch 11 164 Betriebsübergangsrichtlinie 11 1 ff. – Anwendungsbereich 11 15 ff. – Ermächtigungsgrundlage 11 6 – Richtlinie 77/87/EWG 11 2 – Richtlinie 98/50/EG 11 3 – Richtlinie 2001/23/EG 11 4 – Zielsetzung 11 7 ff. Betriebszugehörigkeitsdauer – Altersdiskriminierung 4 68 ff. – Beschäftigungsbedingungen bei Befristung 9 104 ff. Beweislastverteilung – bei behaupteter Ungleichbehandlung 3 282 ff. Bezugnahmeklauseln – Betriebsübergang 11 128 ff. Bezugszeiträume bei Arbeitszeit – Abweichungen 6 256 ff.
Bostock (EuGH) 2 14 Botzen (EuGH) 11 79 Brandes (EuGH) 7 28 f. Brunnhofer (EuGH) 3 199 Bundesverfassungsgericht – Sanktionierung eines Verstoßes gegen Vorlagepflicht 13 63 ff. – bei Verletzung der Vorlagepflicht an den EuGH und „gesetzlicher Richter“ 2 63 ff.
Carratù (EuGH) 9 39, 67 ff., 78 ff., 202 CGT (EuGH) – Massenentlassung 10 21 Chartry (EuGH) 2 23 Christel Schmidt (EuGH) 11 48 Coleman (EuGH) 3 184 f. Costa (EuGH) 1 18 f. Cruciano Siragusa (EuGH) 2 20, 23
Danosa (EuGH) 7 11; 10 15 Dansk Jurist- og Økonomforbund (EuGH) 4 96 ff. Daseinsvorsorge – als Abweichung iSd. Arbeitszeitrichtlinie 6 248 Datenschutzrichtlinie 2 34 Dauerbeschäftigter – befristet Beschäftigte 9 38 ff. – Begriff 9 38 Decker (EuGH) 3 265 Del Cerro Alonso (EuGH) 9 61, 119 Delahaye (EuGH) 11 75 Della Rocca (EuGH) 9 26 ff. Dienstleistungsfreiheit 1 50; 5 2 ff. – Anwendungsbereich 5 2 ff. – und Arbeitnehmerentsendung 5 1 – Arbeitnehmerfreizügigkeit, Abgrenzung 5 9 – Beeinträchtigung 5 13 ff. – Entsenderichtlinie, Verhältnis 5 31 ff. – Freizügigkeitsregelungen, Verhältnis 5 29 f. – Niederlassungsfreiheit, Abgrenzung 5 10 – Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 5 18 ff. – Richtlinie 5 44 ff. Diskriminierungsverbot bei Befristung – Arbeitsentgelt 9 71 ff.
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Stichwortverzeichnis – Beschäftigungsbedingungen und Betriebszugehörigkeitszeiten 9 104 ff. – in Bezug auf Dauerbeschäftigte 9 38 ff. – Bezugspunkt Beschäftigungsbedingungen 9 65 ff. – Kausalität 9 86 – mittelbare Benachteiligung 9 83 ff. – persönlicher Anwendungsbereich 9 60 ff. – Pro-rata-temporis-Grundsatz 9 96 ff. – Rechtfertigung durch sachlichen Grund 9 87 ff. – Rechtsfolgen bei Verstoß 9 118 ff. – Struktur 9 57 ff. – unmittelbare Wirkung 9 51 ff. – „vergleichbare Situation“ 9 78 ff. – Wechsel in Dauerbeschäftigung 9 61 ff. Diskriminierungsverbot/Gleichbehandlung 1 63 f. – Altersdiskriminierung siehe dort – Antirassismusrichtlinie 3 26 – Anweisung zur Diskriminierung 3 180 ff. – Anwendungsbereich 3 32 ff. – Art. 19 AEUV als eigenständige Kompetenzgrundlage 3 21 ff. – Aufgaben des Nichtdiskriminierungsrechts 3 1 ff. – Aus- und Weiterbildung 3 54 – außerhalb von Beschäftigung und Beruf 3 29 – Behinderung 3 90 ff. – Belästigung/sexuelle Belästigung siehe dort – Berufsberatung 3 54 – Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen 3 47 ff. – Beseitigung der Auswirkungen ungleicher Maßnahmen 3 251 ff. – Beweislastverteilung 3 282 ff. – Diskriminierungsverbot bei Befristung siehe dort – Dreiecksverhältnis 3 184 f. – Entgeltgleichheit siehe dort – Entlassungsbedingungen 3 51 ff. – Erwerbstätigkeit 3 41 ff. – ethnische Herkunft 3 62 ff. – Gemeinsamkeiten zwischen allgemeiner Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung 3 6 ff. – Geschlecht 3 68 ff. – Geschlechterrichtlinie 3 25
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– Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 3 27; 4 47 ff. – Leiharbeit 8 41 ff. – Leiharbeit, Ausnahmen 8 67 ff. – Leiharbeit, Mindestbedingungen 8 61 ff. – Leiharbeit, Vergleichsmaßstab 8 55 ff. – Mann/Frau, Kategorisierung 3 68 f. – mehrdimensionale Diskriminierung 3 101 f. – Merkmale 3 56 ff. – Mitgliedschaft/Mitwirkung in Arbeitnehmer-/Arbeitgeberorganisationen 3 55 – Mittelbare Diskriminierung siehe dort – Nachtarbeit 6 210 ff. – Nichtigkeit diskriminierender Maßnahmen 3 248 ff. – präventive Maßnahmen 3 241 ff. – Primärrecht 3 11 ff. – Prüfungsabfolge 3 16 – Rasse, Begriff 3 60 f. – Rasse und ethnische Herkunft 3 60 ff. – Rechtfertigung von Diskriminierung siehe dort – Rechtsdurchsetzung, individuelle 3 274 ff. – Rechtsdurchsetzung, kollektive 3 280 f. – Religion 3 76 ff. – Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbot siehe dort – Schichtarbeit 6 210 ff. – Schutz vor Viktimisierung 3 271 ff. – Schwangerschaft 3 70 ff. – Selbständige, Gleichbehandlungsrichtlinie 3 28 – sexuelle Ausrichtung 3 86 ff. – Sprache 3 66 – Staatsangehörigkeit 3 24, 67 – Tatbestand der Diskriminierung 3 103 ff. – Transidentität und Intersexualität 3 73 ff. – Unionsgrundrechte 3 11 ff. – Unmittelbare Diskriminierung siehe dort – Unterschiede zwischen allgemeiner Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung 3 9 f. – unterstelltes Merkmal 3 183 – Urlaubsdauer 7 30 f. – Völkerrecht 3 30 f.
Stichwortverzeichnis – Weltanschauung 3 76, 85 – Zugang zur Erwerbstätigkeit 3 44 ff. Dominguez (EuGH) 1 164; 2 30 Draehmpaehl (EuGH) 3 264 f. Dreiecksverhältnis – Diskriminierungsverbot 3 184 f. Drittwirkung – Grundrechte 2 29 ff. – Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grundrechten 2 46
Effektivitätsprinzip 1 120, 122 f. Einheitliche Europäische Akte 1 7 ff. Einstellungshöchstaltersgrenzen – Altersdiskriminierung 4 63 ff. Eisenbahnverkehr – Arbeitszeit, Schutzvorschriften 6 83 Entfristung 9 177 f., 188 Entgeltgleichheit 3 17 ff., 32 ff., 49 f. – Arbeitnehmer 3 33 ff. – Beweislastverteilung bei Entgeltdiskriminierung 3 283 f. – Entgelt 3 36 ff. – Rechtfertigung einer Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts 3 198 ff. – sonstige Arbeitsbedingungen 3 39 – unmittelbare Diskriminierung 3 115 ff. Entlassungsbedingungen – Nichtdiskriminierungsrecht 3 51 ff. Entsenderichtlinie 5 62 ff. – Anwendungsbereich 5 78 ff. – Ausnahmen 5 146 ff. – Ausnahmen vom Anwendungsbereich 5 101 f. – Dienstleistungsfreiheit, Verhältnis 5 31 ff. – „harter Kern“ der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen 5 104 ff. – historische Entwicklung 5 69 ff. – Kollisionsrecht 5 58 f., 64 ff. – nationale Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen 5 179 ff. – Sanktionen 5 190 ff. – Verbindungsbüros 5 173 ff. Erwerbstätigkeit – Nichtdiskriminierungsrecht 3 41 ff. Ethnische Herkunft – Diskriminierungsverbot 3 62 ff. EuGH siehe Gerichtshof der Europäischen Union
Europäische Betriebsräte – alternatives Anhörungs- und Unterrichtungsverfahren 12 106 ff. – Altvereinbarungen 12 182 ff. – Anhörung 12 50 ff. – Anpassungspflicht bei wesentlichen Strukturänderungen 12 167 ff. – anwendbares Recht 12 56 ff. – Arbeitnehmerbegriff 12 42 ff. – Arbeitnehmervertreter 12 42 ff. – besonderes Verhandlungsgremium zur Errichtung 12 65 ff. – gemeinschaftsweit operierende Unternehmen 12 228 ff. – gemeinschaftsweit operierende Unternehmensgruppen 12 228 ff. – gerichtliche Konflikte 12 139 ff. – kraft Gesetzes siehe Europäische Betriebsräte kraft Gesetzes – Koordination mit Unterrichtungs- und Anhörungsrechten nationaler Arbeitnehmervertretungen 12 164 ff. – länderübergreifende Angelegenheiten 12 240 ff. – Mitbestimmungsrechte als erweiterter Vereinbarungsinhalt 12 103 ff. – Mitgliedstaaten und Vertragsstaaten der EWR 12 226 f. – Schulungs- und Bildungsveranstaltungen 12 161 ff. – Schutz der Mitglieder 12 159 ff. – Schutz vertraulicher Informationen 12 146 ff. – Schwellenwerte 12 233 ff. – Übergangsmandat 12 177 ff. – Übergangsrecht 12 197 ff. – Unternehmensgruppe 12 248 ff. – Unterrichtung 12 48 f., 52 ff. – kraft Vereinbarung 12 96 ff. – zentrale Leitung 12 46 f. Europäische Betriebsräte kraft Gesetzes 12 109 ff. – Amtszeit 12 133 ff. – Größe und Zusammensetzung 12 118 ff. – Voraussetzungen für die Bildung 12 109 ff. – Zuständigkeiten und Rechte 12 124 ff. Europäische Betriebsräte-Richtlinie 12 1 ff. – Gegenstand und Zweck 12 1 ff. – Geltungsbereich 12 226 ff. EWG-Vertrag 1 1 ff.
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Stichwortverzeichnis Fälligkeitsregelungen – Mindestlohnsätze 5 125 f. Feryn (EuGH) 3 224 Finalarte (EuGH) 5 22 Flugpersonal – Arbeitszeit, Schutzvorschriften 6 81 f. Francovich (EuGH) 1 160 f. Freizügigkeit – Dienstleistungsfreiheit, Verhältnis 5 29 f. Fuchs/Köhler (EuGH) 4 123 Fuß (EuGH) 6 326
Gavieiro Gavieiro (EuGH) 9 20 f., 106 Gemeinschaftseinrichtungen/-dienste – Begriff 8 102 ff. – Ungleichbehandlung von Leiharbeitnehmern 8 106 ff. – Zugang für Leiharbeitnehmer 8 101 ff. Gemeinschaftsunternehmen – Europäische Betriebsräte 12 39 ff. Georgiev (EuGH) 4 122 Gerichtshof der Europäischen Union – Abweichung durch nationales Gericht 13 46 – Aufgaben 13 2 ff. – Auslegung des Unionsrechts 1 79 – Besetzung des EuGH 13 120 ff. – gesetzlicher Richter iSd. GG 2 63 ff. – Grundrechtsschutz 2 51 ff. – Rechtsfortbildung 1 103 ff. – Vorabentscheidungsverfahren siehe dort Geschlechterrichtlinie 3 25, 40 ff., 68 ff., 171 ff., 257 ff. Gesetzlicher Richter – EuGH als ~ 2 63 ff. Gesundheitsuntersuchungen – Nachtarbeitnehmer 6 201 ff. Gewerkschaften – Diskriminierungsverbot bei Mitgliedschaft/Mitwirkung 3 55 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 3 27, 40 ff., 171 ff., 257 ff.; 4 47 ff. – Alter 3 98 ff. – Behinderung 3 90 ff. – Religion und Weltanschauung 3 76 ff. – sexuelle Ausrichtung 3 86 ff. Gleichbehandlungsrichtlinien 3 13 ff. Grundfreiheiten 1 48 ff.
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Grundrechte – Anwendungsbereich 2 8 ff. – arbeitgeberseitige ~ 2 79 ff. – arbeitnehmerseitige ~ 2 71 ff. – Bindung der EU-Organe 2 9 ff. – Bindung der Mitgliedstaaten 2 12 ff. – Drittwirkung 2 29 ff. – einzelne ~ 2 70 ff. – Entwicklung 2 1 ff. – kollidierende ~ 2 47 – Konkretisierung durch Sekundärrecht 2 38 ff. – Nichtdiskriminierung 3 11 ff. – Prüfungsschema bei Verletzung 2 85 – Rechtsquellen 2 4 ff. – Schutz durch den EuGH 2 51 ff. – unmittelbare Wirkung 2 25 ff. – Verhältnismäßigkeit bei Einschränkung 2 42 ff. – Wesensgehaltsgarantie 2 48 ff. Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung 1 39 Güney-Görres (EuGH) 11 51 f. Günstigkeitsprinzip – Betriebsübergang 11 13 f. – Entsenderichtlinie 5 152 ff.
Haushalt – Befristungsgrund 9 142 ff. Heimann (EuGH) 7 19 f. Hernández (EuGH) 2 23 Herrschendes Unternehmen – Massenentlassung 10 28 f. Hinterbliebenenversorgung – Altersabstandsklauseln und Altersdiskriminierung 4 144 – Spätehenklauseln und Altersdiskriminierung 4 145 ff. Historische Entwicklung – Einheitliche Europäische Akte 1 7 ff. – EWG-Vertrag 1 1 ff. – sozialpolitisches Aktionsprogramm 1 5 f. – Vertrag von Amsterdam 1 12 f. – Vertrag von Lissabon 1 15 ff. – Vertrag von Maastricht 1 10 f. – Vertrag von Nizza 1 14 Hochschule – Befristung 9 152 f. Höchstaltersgrenzen bei Einstellung – Altersdiskriminierung 4 63 ff.
Stichwortverzeichnis Höchstarbeitszeit – durchschnittliche wöchentliche ~ 6 170 ff. – EuGH 6 28 – und Mindestruhezeit 6 147 ff. – tägliche ~ bei Nachtarbeit 6 192 ff. – wöchentliche ~ 6 159 ff. Hörnfeld (EuGH) 4 121 Huet (EuGH) 9 182
Inhaber – Massenentlassung 11 59 ff. Internationales Arbeitsrecht 1 67 – Arbeitnehmerentsendung 5 47 ff., 58 f., 64 ff. – Betriebsübergang 11 68 ff. – Eingriffsnormen 5 55 ff. – Grundsatz der freien Rechtswahl 5 50 – objektive Anknüpfung 5 51 ff. Inuit Tapiriit Kanatami (EuGH) 2 55
Jouini (EuGH) 11 27 Jugendarbeitsschutz – Arbeitszeit, Schutzvorschriften 6 87 ff. Junk (EuGH) 10 32, 35
Kadi (EuGH) 2 11 Katsikas (EuGH) 11 99 Kettenbefristungen 9 123 ff. – öffentlicher Dienst und Sanktionen 9 183 ff. – sachlicher Grund 9 135 ff. – Sanktionen 9 179 ff. – zusätzliche Missbrauchskontrolle 9 154 ff. Klarenberg (EuGH) 11 50 Köbler (EuGH) 13 61 f. Kollektivverträge – Abweichungsinstrument bei Arbeitszeitrichtlinie 6 273 ff. – Leiharbeit, Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz 8 67 ff. – Richtlinien 1 124 Kollektivverträge bei Betriebsübergang 11 107 ff. – Ablösung von Kollektivverträgen 11 119 ff. – Aufrechterhaltung 11 112 ff.
– Bezugnahme auf Kollektivverträge 11 128 ff. – Grenzen/Ende der Aufrechterhaltung 11 115 ff. – Voraussetzungen der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen 11 108 ff. Kollisionsrecht – siehe Internationales Arbeitsrecht Kompetenzabrundungsklausel 1 68 ff. Konsultationsverfahren bei Massenentlassung 10 45 ff. – Arbeitnehmervertretung 10 46 ff. – betriebsübergreifende Maßnahmen 10 52 – Fehler im ~ 10 91 ff. – formelle Anforderungen 10 68 ff. – inhaltliche Anforderungen 10 57 ff. – Konzern 10 75 f. – nationales Recht und Beteiligungsverfahren 10 84 ff. – rechtzeitige Übermittlung von Angaben 10 77 f. – Sachverständige 10 55 f. – Übermittlung einer Abschrift an zuständige Behörde 10 79 f. – Verhältnis zum Anzeigeverfahren 10 134 ff. – Vorschläge der Arbeitnehmervertretung 10 82 f. – zeitlicher Ablauf 10 71 ff. Kontinuität der Dienstleistung oder Produktion – als Abweichung iSd. Arbeitszeitrichtlinie 6 247 Konzern – Konsultationsverfahren bei Massenentlassung 10 75 f. Krankheitsurlaub 7 34 f. Kücük (EuGH) 9 140, 154 ff., 160 Kücükdeveci (EuGH) 1 163; 2 7, 17 f., 38; 3 13; 4 77; 13 47 Kündigungsfristen – Altersdiskriminierung 4 75 ff. Kündigungsschutz – siehe auch Kündigungsverbot bei Betriebsübergang – Entlassungsbedingungen, Nichtdiskriminierung 3 51 ff. – Massenentlassungen im deutschen ~recht 10 8 – nachwirkender bei Betriebsübergang für Mandatsträger 11 183 f.
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Stichwortverzeichnis Kündigungsverbot bei Betriebsübergang 11 139 ff. – fakultative Einschränkung 11 144 f. – Fiktion einer Kündigung bei wesentlich verschlechterten Arbeitsbedingungen 11 146 ff. – Reichweite 11 140 ff.
Landesarbeitsgerichte – Vorlagepflicht EuGH 13 42 ff. Laval (EuGH) 5 162 f. Leiharbeit – Arbeitnehmer 8 15 f., 18 – Arbeitnehmerentsendung 5 164 ff. – Befristungen 9 26 ff. – Begriff 8 20 ff. – Betriebsübergang 11 62 ff., 82 ff. – Einschränkungen und Verbote 8 39 f. – Gleichbehandlungsgrundsatz 8 41 ff. – Gleichbehandlungsgrundsatz, Ausnahmen 8 67 ff. – Übernahme durch Entleiher 8 95 ff. – Ungleichbehandlung bei Gemeinschaftseinrichtungen/-dienste 8 106 ff. – Verbot der nicht vorübergehenden Überlassung 8 23 ff. – Verleiher 8 17 – Vertretung der ~nehmer 8 115 ff. – Zugang zu beruflicher Bildung 8 112 ff. – Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen/-diensten 8 101 ff. – Zugang zur Beschäftigung beim Entleiher 8 89 ff. Leiharbeitsrichtlinie 8 1 ff. – Anwendungsbereich 8 12 ff., 33 ff. – Begriffe 8 15 ff. – Entstehungsgeschichte 8 2 f. – Ermächtigungsgrundlage 8 9 f. – Struktur 8 5 ff. Leitende Angestellte – Massenentlassung 10 21
Mangold (EuGH) 1 163; 2 16; 3 13; 4 37 f. Márquez Samohano (EuGH) 9 152 f. Marshall (EuGH) 1 135 f. Massenentlassung 10 1 ff. – Ablaufplan 10 154 – Anzeigeverfahren bei Massenentlassung siehe dort – Arbeitnehmer 10 14 ff.
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– – – –
Begriff 10 30 ff. deutsches ~srecht 10 7 ff. Inhaber/Arbeitgeber 11 59 ff. Konsultationsverfahren bei Massenentlassung siehe dort – Zweck des ~srecht 10 5 f. Massenentlassungsrichtlinie – Anwendungsbereich 10 13 ff. – Entstehungsgeschichte 10 1 ff. Menschenrechtskonvention, europäische – Verstoßes gegen Vorlagepflicht 13 67 Mindestlohnsätze – siehe auch Arbeitnehmerentsendung – Abtretung/Aufrechnung 5 127 f. – Anrechnung von Vergütungsbestandteilen 5 130 ff. – Arbeitnehmerentsendung 5 118 ff. – Begriff 5 118 ff. – Fälligkeitsregelungen 5 125 f. – öffentliche Auftragsvergabe 5 141 ff. – Vergleich der Entgelte 5 129 ff. Mindestruhezeit – Arbeitszeitrichtlinie 6 94 ff. – und Höchstarbeitszeit 6 147 ff. – tägliche ~ 6 175 Mindesturlaub 7 24 f. Missbrauchsverbot – Befristung 9 55 f. Mittelbare Diskriminierung – Begriff 3 139 – besondere Benachteiligung 3 142 ff., 147 ff. – Eignung der Differenzierung zur Erreichung des legitimen Ziels 3 165 ff. – Entstehungsgeschichte 3 136 f. – Erforderlichkeit der Differenzierung zur Erreichung des legitimen Ziels 3 168 ff. – legitimer Zweck zur Rechtfertigung 3 159 ff. – neutrales Differenzierungskriterium 3 140 f. – Normzweck 3 138 – keine sachliche Rechtfertigung 3 156 ff. – statistischer Nachweis 3 149 ff. – ungleiche Behandlung 3 140 ff. – Vergleichbarkeit 3 143 ff. – Vergleichsgruppen 3 143 ff. – Verhältnismäßigkeit der Differenzierung zur Erreichung des legitimen Ziels 3 164 ff.
Stichwortverzeichnis Mobile Arbeitnehmer – Schutzvorschriften Arbeitszeit 6 71 ff. Mono Car Styling (EuGH) 10 53 Mündliche Verhandlung – EuGH 13 101 ff. Mutterschaftsurlaub 7 36 f. – unmittelbare Diskriminierung 3 134 f. Mutterschutz – Arbeitszeit, Schutzvorschriften 6 84 ff.
Nachtarbeit 6 183 ff., 191 ff. – Abweichungen 6 264 – Ausgleichszeiträume 6 195 ff. – Diskriminierungsverbot 6 210 ff. – Gesundheitsuntersuchungen 6 201 ff. – qualifizierte Schutzmaßnahmen 6 210 ff. – tägliche Höchstarbeitszeit 6 192 ff. – weitere Schutzvorschriften 6 201 ff. Nichtdiskriminierungsrecht – siehe Diskriminierungsverbot/Gleichbehandlung Nichtigkeitsklage 2 51 ff. Niederlassungsfreiheit 1 51 – Dienstleistungsfreiheit, Abgrenzung 5 10 Nierodzik (EuGH) 9 39 NS (EuGH) 2 23
Odar (EuGH) 4 110 ff. Offene Stellen – für Leiharbeitnehmer beim Entleiher 8 89 ff. Öffentliche Auftragsvergabe – Mindestlohnvorgaben und Entsenderichtlinie 5 141 ff. Öffentlicher Dienst – Befristungen 9 20 ff. – Befristungen und Sanktionen 9 183 ff. Organmitglieder – Urlaubsanspruch 7 13 f.
Palacios de la Villa (EuGH) 4 37 f., 117 f. Positive Maßnahmen – Rechtfertigung von Diskriminierung 3 228 ff. Prävention – gegen Diskriminierung 3 241 ff. Prigge (EuGH) 4 16, 129
Pro-rata-temporis-Grundsatz – Diskriminierungsverbot bei Befristung 9 96 ff.
Querschnittsklauseln 1 44
Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge 9 1 ff. Ratierliche Berechnung der Versorgungsanwartschaft – Altersdiskriminierung 4 141 ff. Ratti (EuGH) 1 128 f. Rechtfertigung von Diskriminierung 3 186 ff. – allgemeine Rechtfertigungsgründe 3 195 ff. – Altersdiskriminierung 4 14 ff. – Befristungen, sachlicher Grund 9 87 ff. – berufliche Anforderungen 3 209 ff. – besondere Rechtfertigungsgründe 3 193 f. – Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts 3 198 ff. – Kundenpräferenz 3 224 ff. – mittelbare Diskriminierung 3 156 ff. – positive Maßnahmen 3 228 ff. – Prüfungsstruktur 3 187 ff. – Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften 3 201 ff. – Struktur 3 209 ff. – Verhältnismäßigkeit 3 219 ff. Rechtsangleichung im Binnenmarkt 1 65 f. Rechtsanwendung – und Auslegung, Abgrenzung 13 18 ff. Rechtsetzung 1 38 ff. Rechtsetzungsverfahren – Anhörung der europäischen Sozialpartner 1 62 Rechtsfortbildung – durch Gerichtshof der Europäischen Union 1 103 ff. Rechtsquellen – allgemeine Rechtsgrundsätze 1 23 ff. – Europäische Verträge 1 22 – sekundäres Unionsrecht 1 27 Rechtsschutz – individueller ~ bei Diskriminierung 3 274 ff.
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Stichwortverzeichnis – individueller ~ durch Nichtigkeitsklage 2 52 ff. Religion – Diskriminierungsverbot 3 76 ff. Religionsgemeinschaften – Rechtfertigung für Ungleichbehandlung 3 201 ff. Richtlinien 1 53 f., 113 ff. – Antirassismusrichtlinie 3 26, 171 ff., 40 ff., 60 ff., 257 ff. – Äquivalenzgrundsatz 1 120 f. – Arbeitszeitrichtlinie 6 1 ff. – Arbeitszeitrichtlinie – Urlaub 7 1 ff. – Befristungsrichtlinie 9 1 ff. – Betriebsübergangsrichtlinie 11 1 ff. – Datenschutzrichtlinie 2 34 – Dienstleistungsrichtlinie 5 44 ff. – Effektivitätsprinzip 1 120, 122 f. – Entsenderichtlinie 5 31 ff., 62 ff. – Entsenderichtlinie und Kollisionsrecht 5 58 f. – Europäische Betriebsräte-Richtlinie 12 1 ff. – Frustrationsverbot 1 115 – Geschlechterrichtlinie 3 25, 40 ff., 68 ff., 171 ff., 257 ff. – Gleichbehandlung 4 6 ff. – Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 3 27, 40 ff., 76 ff., 171 ff., 257 ff.; 4 47 ff. – Gleichbehandlungsrecht 3 13 ff. – grundrechtskonkretisierende ~ 1 163 f. – innerstaatliche Wirkungen 1 124 ff. – inzidente Horizontalwirkung 1 139 ff. – Leiharbeitsrichtlinie 8 1 ff. – Massenentlassungsrichtlinien 10 1 ff. – Private 1 135 ff. – Prüfungsschema 1 168 – Rahmen-Richtlinie über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer 12 201 ff. – rechtspolitische Bewertung 1 114 – Sperrwirkung 1 117 – Staatshaftung wegen fehlerhafter Umsetzung 1 160 ff. – Tarifverträge 1 124 – überschießende Umsetzung 1 165 ff. – Umsetzung 1 118 f. – unmittelbare Anwendung 1 125 ff. – Vorwirkung 1 115 f. Richtlinienkonforme Auslegung 1 142 ff. – Contra-legem-Judizieren, Verbot 1 151 ff.
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– einzelstaatliche Auslegungsmethoden 1 149 f. – Vertrauensschutz 1 155 ff. Robinson-Steele (EuGH) 7 38 Rosada Santana (EuGH) 9 69 Rosenbladt (EuGH) 4 119 f. Rufbereitschaft – Arbeitszeitbegriff der Arbeitszeitrichtlinie 6 134 ff. Rüffert (EuGH) 5 142 ff. Ruhendes Arbeitsverhältnis – Urlaubsanspruch 7 20 ff. Ruhepausen 6 178 ff. – Abweichungen 6 263 Ruhezeit 6 140 ff. – Abweichungen von der täglichen ~ 6 261 f. – wöchentliche ~ 6 166 ff., 176 f.
Sach- und Personenschutz – als Abweichung iSd. Arbeitszeitrichtlinie 6 246 Sachlicher Grund bei Befristung 9 135 ff. – Altersgrenze 9 149 ff. – Haushalt 9 142 ff. – Hochschulen 9 152 f. – sozialpolitische Zwecke 9 147 f. – Vertretungsbedarf 9 140 f. – Voraussetzungen 9 136 ff. – zusätzliche Missbrauchskontrolle 9 154 ff. Sachverständige – Konsultationsverfahren bei Massenentlassung 10 55 f. Saisonbetriebe – als Abweichung iSd. Arbeitszeitrichtlinie 6 249 Sanktionen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbot – Anforderungen an die Sanktionen 3 257 ff. – Beseitigung der Auswirkungen ungleicher Maßnahmen 3 251 ff. – Mindestanforderungen 3 239 f. – Nichtigkeit diskriminierender Maßnahmen 3 248 ff. – präventive Maßnahmen 3 241 ff. – primär-/sekundärrechtliche Verbote 3 234 ff. – reaktive Maßnahmen 3 247 ff. – Schadensersatz 3 262 ff.
Stichwortverzeichnis – Schutz vor Viktimisierung 3 271 ff. – Verschlechterungsverbot 3 239 f. Scattolon (EuGH) 11 27, 123 ff. Schadensersatz – bei Ungleichbehandlung 3 262 ff. – Verstöße gegen Arbeitszeitrichtlinie 6 326 ff. Schichtarbeit 6 183 f., 189 ff. – Abweichungen 6 265 – Diskriminierungsverbot 6 210 ff. – qualifizierte Schutzmaßnahmen 6 210 ff., 219 f. Schriftliches Verfahren – EuGH 13 94 ff. Schultz-Hoff (EuGH) 7 48 Schwangerschaft – Diskriminierungsverbot 3 70 ff. – unmittelbare Diskriminierung 3 134 f. Seeleute – Arbeitszeit 6 58 ff. Selbständige – Gleichbehandlung 3 28 Sexuelle Ausrichtung – Diskriminierungsverbot 3 86 ff. Sexuelle Belästigung – siehe Belästigung/sexuelle Belästigung Simmenthal (EuGH) 1 32 Sozialauswahl – Altersdiskriminierung 4 85 ff. Sozialer Dialog 1 71 ff. Sozialkassen – Arbeitnehmerentsendung 5 116 f. Sozialpläne – Altersdiskriminierung 4 99 ff. Sozialpolitik 1 52 ff. – Bereichsausnahmen 1 60 f. – Katalog der Kompetenzen 1 55 ff. Sozialpolitisches Aktionsprogramm 1 5 f. Sozialversicherungspflicht – bei Arbeitnehmerentsendung 5 34 ff. Sozialversicherungspflicht-Verordnung 5 34 ff. Spaltung – Betriebsübergang 11 33 ff. Spätehenklauseln – Altersdiskriminierung 4 145 ff. Sperrfrist – Massenentlassungsanzeige 10 141 ff. Spijkers (EuGH) 11 16, 37 ff. Sprache – Diskriminierungsverbot 3 66 Staatsangehörigkeit – Diskriminierung 3 24, 67
Staatshaftung – fehlerhafte Richtlinienumsetzung 1 160 ff. Stellenausschreibung – Altersdiskriminierung 4 60 ff. Straßenverkehr – Arbeitszeit, Schutzvorschriften 6 74 ff. Subsidiaritätsgrundsatz 1 40 ff. Süzen (EuGH) 11 16 f., 41, 49
Teilzeitarbeit – Urlaubsentgelt 7 43 f. Tendenzbetriebe – Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertretung 12 211 f. Tirol (EuGH) 7 28 f. Tod – Massenentlassung 10 43 f. – Urlaubsabgeltung 7 55 Transparenzgebot 1 119
Übergangsmandat – Europäische Betriebsräte 12 177 ff. Umsetzung von Richtlinien – Prüfungsschema 1 168 – Richtlinien 1 118 f. – überschießende ~ 1 165 ff. Unilever (EuGH) 1 139 Unionsrecht – rechtlicher Charakter 1 18 ff. Unkündbarkeit – Altersdiskriminierung 4 78 ff. Unmittelbare Anwendbarkeit 1 28 ff. – Richtlinien 1 125 ff. Unmittelbare Diskriminierung 3 107 ff. – andere Person in einer vergleichbaren Situation 3 114 ff. – Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal 3 126 ff. – deskriptives Modell zur Feststellung der Vergleichbarkeit 3 118 ff. – Entgeltdiskriminierung 3 115 ff. – Schwangerschaft und Mutterschaft 3 134 f. – Tatbestand 3 110 ff. – verdeckte Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal 3 130 ff. – Vergleichsperson 3 122 ff. – weniger günstige Behandlung 3 111 ff.
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Stichwortverzeichnis Unternehmensgruppe – Europäische Betriebsräte 12 228 ff., 248 ff. – Gemeinschaftsunternehmen 12 39 ff. Unternehmenszugehörigkeitsdauer – Altersdiskriminierung 4 68 ff. Unterrichtung – Arbeitnehmervertretung 12 201 ff. – Europäische Betriebsräte 12 48 f., 52 ff. Unterrichtungs- und Anhörungsrichtlinie 12 201 ff. – Anwendungsbereich 12 207 ff. Unverfallbarkeitsalter bei betrieblicher Altersversorgung – Altersdiskriminierung 4 133 ff. Urlaub 7 1 ff. – Arbeitsleistung 7 18 ff. – Arbeitsverhältnis 7 10 ff. – Befristung 7 47 ff. – Langzeiterkrankung 7 47 ff. – Leiharbeit, Gleichbehandlung 8 47 – Mehrurlaub 7 52 – Rechtsnatur des ~sanspruchs 7 7 ff. – ruhendes Arbeitsverhältnis 7 20 ff. – Übertragung des Anspruchs 7 47 ff. – Wartezeit 7 16 f. – Zeitraum, Festlegung 7 32 ff. Urlaubsabgeltung 7 53 ff. – Tod 7 55 Urlaubsdauer – Altersdiskriminierung 4 74 – Änderung der Arbeitszeit 7 26 ff. – Gleichbehandlung 7 30 f. – Mindesturlaub 7 24 ff. Urlaubsentgelt – Berechnung 7 38 ff. – Fälligkeit 7 45 f. – gewöhnliches Arbeitsentgelt 7 40 ff. – Teilzeittätigkeit 7 43 f.
Valenza (EuGH) 9 110 Van Duyn (EuGH) 1 126 f. Van Gend & Loos (EuGH) 1 28 Verbindungsbüros – nach Entsenderichtlinie 5 173 ff. Verfahrenssprache 13 92 f. Verfassungsrecht – Sanktionierung eines Verstoßes gegen Vorlagepflicht 13 63 ff.
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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 1 43 – bei Grundrechtseinschränkungen 2 42 ff. Verordnungen – Sozialversicherungspflicht-VO 5 34 ff. Verschlechterungsverbot – Befristung 9 203 ff. Verschmelzung – Betriebsübergang 11 30 ff. Verschwiegenheitspflicht – Europäische Betriebsräte 12 146 ff. Vertrag – von Amsterdam 1 12 f. – von Lissabon 1 15 ff. – von Maastricht 1 10 f. – von Nizza 1 14 Vertragsverletzungsverfahren – Verstoß gegen Vorlagepflicht 13 60 Vertrauensschutz – richtlinienkonforme Auslegung 1 155 ff. Vertretung – Befristungsgrund 9 140 f. Viktimisierung – Schutz vor ~ 3 271 ff. Völkerrecht – Arbeitszeitrecht 6 31 ff. – Nichtdiskriminierungsrecht 3 30 f. Von Colson und Kamann (EuGH) 1 142 Vorabentscheidungsverfahren – Adressat 13 14 – Auslegungsfragen 13 16 ff. – Besetzung des EuGH 13 120 ff. – Entscheidung des EuGH 13 111 ff. – Erforderlichkeit der Entscheidung 13 29 ff. – Gegenstand der Vorlage 13 15 ff. – Grundrechte 2 58 ff. – Gültigkeitsentscheidung 13 23 – Verfahren beim EuGH 13 91 ff. – Verfahren beim nationalen Gericht 13 85 ff. – Vorlagebeschluss 13 75 ff. – Vorlageermessen 13 34 ff. – Vorlagefrage 13 69 ff. – Vorlagepflicht siehe dort – Vorlagerecht durch Gericht 13 24 ff. – Wirkung des Urteils 13 114 ff. – Zweck und Bedeutung 13 5 ff. Vorlagebeschluss 13 75 ff. Vorlagefrage 13 69 ff. Vorlagepflicht 13 39 ff. – Abweichung 13 46
Stichwortverzeichnis – – – – –
acté éclaire 13 55 ff. Entfallen im Einzelfall 13 48 ff. fehlende Anfechtbarkeit 13 40 ff. Landesarbeitsgerichte 13 42 ff. Nichtanwendung nationalen Gesetzesrechts 13 47 – Verstoß 13 60 ff.
Wachauf (EuGH) 2 13 Wachdienst – als Abweichung iSd. Arbeitszeitrichtlinie 6 246 Wartezeit – Urlaubsanspruch 7 16 f. Weltanschauung – Diskriminierungsverbot 3 76, 85 Weltanschauungsgemeinschaften – Rechtfertigung für Ungleichbehandlung 3 201 ff.
Werhof (EuGH) 11 131 Wesensgehaltsgarantie 2 48 ff. Widerspruch gegen Betriebsübergang 11 97 ff. Wirtschaftliche Einheit – Betriebsübergang 11 16 ff. – Zuordnung des Arbeitsverhältnisses und Betriebsübergang 11 78 ff. Wirtschaftliche Tätigkeit – Leiharbeit 8 33 ff. Wolf (EuGH) 4 63 Wolff & Müller (EuGH) 5 23
Zitiergebot 1 119 Zusatzversorgung – siehe Betriebliche Altersversorgung
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