Das Galiläa der Heiden: Untersuchungen zur Galiläakonzeption im Matthäusevangelium. Dissertationsschrift 9783161590726, 9783161590733, 3161590724

Der Ausdruck "Galiläa der Heiden" (Mt 4,15 bzw. Jes 8,23) wurde lange als zutreffende Beschreibung der religiö

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German Pages 557 [572] Year 2021

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Titel
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Galiläa im Alten Testament und in den Schriften des Frühjudentums
1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa
1.1.1 Zur Herkunft und Bedeutung des Namens Γαλιλαία
1.1.2 Die Grenzen von Galiläa im ersten Jahrhundert n.Chr
1.2. a גָּלִיל im Masoretischen Text (MT)
1.2.1. a גָּלִיל im Buch Josua
1.2.2. a גָּלִיל im Buch der Chronik (1. Chronik 6,61)
1.2.3. a גָּלִיל in den Königebüchern (1. Könige 9,11; 2. Könige 15,29)
1.2.4 Jesaja 8,23–9,6
1.3 Γαλιλαία in der Septuaginta (LXX)
1.3.1 Stellen, an denen die LXX gegen den MT mit Γαλιλαία übersetzt
1.3.2 Stellen in den Spätschriften, die Γαλιλαία bieten
1.4 Jes 8,23b–9,6 in der LXX
1.4.1 Zur Übersetzung des Jesajabuches in der LXX
1.4.2 Vergleich zwischen LXX und MT
1.4.3 Zur Deutung der Unterschiede zwischen den Textformen
1.4.4 Ausblick auf das NT (Mt 4,12–17)
1.5 Zusammenfassung
1.6 Galiläa bei Josephus
1.6.1 Zur Person des Josephus
1.6.2 Hinweise zu Galiläa bei Josephus
1.7 Galiläa in der rabbinischen Literatur
1.7.1. Zur Topografie
1.7.2 Die Frage nach der Toraobservanz
1.8 Fazit und Ausblick
2. Galiläa der Heiden – ein heidnisches Galiläa? Ein forschungsgeschichtlicher Überblick
2.1 Um 1890 – Erste Untersuchungen zu Galiläa
2.2 Emil Schürer und die Vorstellung von einem heidnisch geprägten Galiläa
2.2.1 Schürers Ituräa These
2.2.2 Zeitpunkt der These Schürers
2.2.3 Rezeption der These Schürers
2.2.4 Zusammenfassung
2.3 Albrecht Alt und die Vorstellung eines jüdisch geprägten Galiläa
2.3.1 Rezeption der These Alts
2.3.2 Sean Freyne
2.3.3 Richard A. Horsley
2.3.4 Zusammenfassung
2.4 Die Zeit des Nationalsozialismus
2.4.1 Galiläa als Herkunftsland eines nichtjüdischen Jesus
2.4.2 Johannes Leipoldt
2.4.3 Walter Grundmann
2.4.4 Emanuel Hirsch
2.4.5 Zusammenfassung
2.5 „The New Archaeology“
2.5.1 Vier Fragestellungen
2.5.2 Studie von Zvi Gal
2.5.3 Studie von Uzi Leibner
2.5.4 Zusammenfassung
2.6 Ernst Lohmeyer und eine theologische Deutung von Galiläa
2.6.1 Zur Person von Ernst Lohmeyer
2.6.2 Zur Theologie Ernst Lohmeyers
2.6.3 Lohmeyers Studie „Galiläa und Jerusalem“
2.6.4 Zur Rezeption des Ansatzes von Ernst Lohmeyer
2.6.5 Zusammenfassung
2.7 Galiläa in der sog. „Third Quest“ der historischen Jesusforschung
2.7.1 Die erste Phase der historischen Jesusforschung
2.7.2 Die zweite Phase der historischen Jesusforschung
2.7.3 Die dritte Phase bzw. die „Third Quest“ der historischen Jesusforschung
2.7.4 Jesus – ein (kynischer) Wandercharismatiker?
2.8 Fazit und Ausblick
3. Einleitungsfragen zum Matthäusevangelium
3.1 Eine Verhältnisbestimmung der synoptischen Evangelien
3.1.1 Zur synoptischen Fragestellung
3.1.2 Kritische Einwände
3.1.3 Fazit
3.2 Zur Datierung der ersten beiden Synoptiker
3.2.1 Zur Datierung des Markusevangeliums
3.2.2 Zur Datierung des Matthäusevangeliums
3.2.3 Neuere Fragestellungen
3.3 Zur Verfasserfrage des Matthäusevangeliums
3.4 Zum Entstehungsort des Matthäusevangeliums
3.5 Zusammenfassung
4. Die geografischen Angaben bei Matthäus und Markus
4.1 Methodologische Überlegungen
4.1.1 Zur Hermeneutik
4.1.2 Zur Vorgehensweise
4.2 Die Gliederung des Markus- und Matthäusevangeliums
4.2.1 Gliederung des Markusevangeliums
4.2.2 Gliederung des Matthäusevangeliums
4.3 Der Befund hinsichtlich der geografischen Angaben bei den Synoptikern
4.3.1 Methodisches Vorgehen
4.3.2 Synoptische Darstellung des Befundes
4.3.3 Geografische Angaben im Markusevangelium
4.3.4 Geografische Angaben im Matthäusevangelium
5. Exegese der geografischen Angaben im Matthäusevangelium
5.1 Textabgrenzung, Gliederung und Verarbeitung von Quellen in Mt 1–4
5.1.1 Textabgrenzung
5.1.2 Gliederung von Matthäus 1–4
5.1.3 Verarbeitung von Quellen in Mat 1–2
5.2 Geografische Angaben in Mt 1–2
5.2.1 Mt 1,1–17
5.2.2 Mt 1,18–25
5.2.3 Mt 2,1–12
5.2.4 Mt 2,13–25
5.2.5 Fazit zu den geografischen Angaben in Mt 1–2 und Ausblick
5.3 Geografische Angaben in Mt 3–4
5.3.1 Mt 3,1–12
5.3.2 Mt 3,13–17
5.3.3 Mt 4,1–11
5.3.4 Mt 4,12–25
5.3.5 Fazit zu den geografischen Angaben in Mt 3–4 und Ausblick
5.4 Galiläa in der Passions- und Ostergeschichte (Mt 26–28)
5.4.1 Galiläa in der matthäischen Passionsgeschichte
5.4.2 Geografische Angaben in der markinischen und matthäischen Passionsgeschichte
5.4.3 Mt 26,30–35
5.4.4 Matthäus 28,1–8
5.4.5 Matthäus 28,9.10
5.4.6 Matthäus 28,16–20
5.4.7 Fazit zu den geografischen Angaben in Mt 26–28
6. Ertrag und Ausblick
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Autorenregister
Orts- und Namensregister
Sachregister
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Das Galiläa der Heiden: Untersuchungen zur Galiläakonzeption im Matthäusevangelium. Dissertationsschrift
 9783161590726, 9783161590733, 3161590724

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich)

Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

550

Michael Schröder

Das Galiläa der Heiden Untersuchungen zur Galiläakonzeption im Matthäusevangelium

Mohr Siebeck

Michael Schröder, geboren 1963; Studium der Ev. Theologie; 1998 MTh; 1997 – 2017 Dozent für NT und Griechisch an der Theologischen Hochschule Ewersbach; ab 2018 Pastor der FeG Dautphetal-Dautphe; 2018 Promotion.

ISBN 978-3-16-159072-6 / eISBN 978-3-16-159073-3 DOI 10.1628/978-3-16-159073-3 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

für Gudrun

Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Jahr 2018 von der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund angenommen wurde. Sie wurde für den Druck an wenigen Stellen gekürzt, an anderen hingegen erweitert. Obwohl der Begriff „Galiläa der Heiden“ nur an einer Stelle im Neuen Testament vorkommt, hat sich das Thema im Laufe der Zeit nicht nur als vielschichtig, sondern auch als faszinierend erwiesen. Wenn man auf einen langen Weg zurückblicken kann, so zeigt sich, wie vielen Menschen zu danken ist, die einen begleitet und ermutigt haben. An erster Stelle ist meinem Doktorvater Prof. Dr. Rainer Riesner zu danken. Er hat die Entstehung der Arbeit nicht nur geduldig begleitet, sondern mit vielfältigen Hinweisen und anregender Kritik entscheidende Impulse vermittelt. Von seiner Art, theologisch und historisch zu arbeiten, habe ich enorm profitiert. Gerne denke ich auch an die von ihm geleiteten Doktorandentreffen zurück, bei denen nicht nur der fachliche Austausch im Mittelpunkt stand, sondern auch die persönliche Anteilnahme nicht zu kurz kam. Wenn er und seine Frau, Dr. Cornelia Riesner, ihr Haus öffneten, so waren diese Treffen eine echte Bereicherung! Prof. Dr. Thomas Pola hat dankenswerterweise das Zweitgutachten verfasst. Ihm und Prof. Dr. Karl-Heinrich Ostmeyer, der die Prüfungskommission bei der Disputation vervollständigte, gilt ebenfalls mein aufrichtiger Dank für wertvolle Hinweise. Etliche Rückmeldungen und Anregungen verdanke ich Prof. Dr. Wilfrid Haubeck, Prof. Dr. Andreas Heiser und Prof. Dr. Julius Steinberg (alle TH Ewersbach), mit denen ich viele Jahre auch freundschaftlich zusammenarbeiten konnte. Prof. Dr. Wolfgang Heinrichs (Wuppertal) hat Teile des Manuskriptes gelesen und wichtige Hinweise gegeben, Prof. Dr. Roland Deines (früher Nottingham, jetzt Internationale Hochschule Liebenzell) hat mir einige seiner Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt. Pfarrer Wilhelm Schneider und Beate Schütz haben sich auf die Suche nach Fehlern gemacht und Anregungen für sprachliche Verbesserungen gegeben. Wenn dieses Buch nun zu meiner Freude in der Reihe WUNT II erscheinen kann, so danke ich den Herausgebern, namentlich Herrn Prof. Dr. Jörg Frey, dass sie dieses ermöglicht haben. Zu dem Gelingen haben auch die Mitarbeitenden beim Verlag Mohr Siebeck beigetragen – hier sind besonders

VIII

Vorwort

Jutta Thumm und Tobias Stäbler zu nennen, die bereitwillig manche Frage bei der Erstellung der Manuskript- und Druckvorlage beantworteten. Der wichtigste Dank gilt am Schluss meiner Familie. Unsere vier – inzwischen längst erwachsenen – Kinder haben manchmal staunend zur Kenntnis genommen, was man zu dem Thema „Galiläa der Heiden“ erforschen kann. Dabei haben sie auf manche gemeinsame Zeit verzichtet. Dass wir uns inzwischen an Enkelkindern erfreuen können, empfinden wir als besonderes Geschenk. Ich möchte das Buch meiner Frau Gudrun widmen, mit der ich nun über 30 Jahre verheiratet bin und die viel zu lange auf die Fertigstellung des Buches hat warten müssen. Das, was ich ihr verdanke, lässt sich kaum in Worten ausdrücken. Vielleicht gelingt es in uns in den kommenden Jahren noch öfter, die Stätten in Galiläa zu besuchen, die uns literarisch schon längst ans Herz gewachsen sind. Es mag ein wenig altmodisch klingen, am Ende „soli deo gloria“ zu schreiben. Aber es ist schlicht die Erfahrung, dass es letztlich nicht nur um Texte geht, sondern dass man auf einem Weg zwar von vielen lieben Menschen begleitet, aber von diesem Gott gehalten und getragen wird. Dietzhölztal, im Frühjahr 2021

Michael Schröder

Inhalt Vorwort ...................................................................................................... VII

Einleitung.................................................................................... 1 1. Galiläa im Alten Testament und in den Schriften des Frühjudentums......................................................................... 5 1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa............................................. 5 1.1.1 Zur Herkunft und Bedeutung des Namens Galilai,a ..................... 5 1.1.2 Die Grenzen von Galiläa im ersten Jahrhundert n.Chr. ................. 7 1.2 ‫ גָּ לִ יל‬im Masoretischen Text (MT) ....................................................... 14 1.2.1 ‫ גָּ לִ יל‬im Buch Josua ..................................................................... 14 1.2.2 ‫ גָּ לִ יל‬im Buch der Chronik (1. Chronik 6,61) ............................... 19 1.2.3 ‫ גָּ לִ יל‬in den Königebüchern (1. Könige 9,11; 2. Könige 15,29) .... 21 1.2.4 Jesaja 8,23–9,6 ........................................................................... 28 1.3 Galilai,a in der Septuaginta (LXX) ................................................... 60 1.3.1 Stellen, an denen die LXX gegen den MT mit Galilai,a übersetzt ......................................................... 60 1.3.2 Stellen in den Spätschriften, die Galilai,a bieten ....................... 63 1.4 Jes 8,23b–9,6 in der LXX................................................................... 78 1.4.1 Zur Übersetzung des Jesajabuches in der LXX ........................... 78 1.4.2 Vergleich zwischen LXX und MT .............................................. 80 1.4.3 Zur Deutung der Unterschiede zwischen den Textformen .......... 83 1.4.4 Ausblick auf das NT (Mt 4,12–17) ............................................. 86 1.5 Zusammenfassung ............................................................................. 88

X

Inhalt

1.6 Galiläa bei Josephus ......................................................................... 89 1.6.1 Zur Person des Josephus ............................................................. 90 1.6.2 Hinweise zu Galiläa bei Josephus ............................................... 92 1.7 Galiläa in der rabbinischen Literatur ................................................ 94 1.7.1. Zur Topografie .......................................................................... 94 1.7.2 Die Frage nach der Toraobservanz ............................................. 97 1.8 Fazit und Ausblick ........................................................................... 102

2. Galiläa der Heiden – ein heidnisches Galiläa? Ein forschungsgeschichtlicher Überblick ............................. 105 2.1 Um 1890 – Erste Untersuchungen zu Galiläa .................................. 106 2.2 Emil Schürer und die Vorstellung von einem heidnisch geprägten Galiläa ........................................................... 113 2.2.1 Schürers Ituräa These ............................................................... 114 2.2.2 Zeitpunkt der These Schürers ................................................... 116 2.2.3 Rezeption der These Schürers .................................................. 120 2.2.4 Zusammenfassung .................................................................... 128 2.3 Albrecht Alt und die Vorstellung eines jüdisch geprägten Galiläa ... 128 2.3.1 Rezeption der These Alts.......................................................... 133 2.3.2 Sean Freyne.............................................................................. 135 2.3.3 Richard A. Horsley ................................................................... 138 2.3.4 Zusammenfassung .................................................................... 141 2.4 Die Zeit des Nationalsozialismus ..................................................... 142 2.4.1 Galiläa als Herkunftsland eines nichtjüdischen Jesus ............... 143 2.4.2 Johannes Leipoldt..................................................................... 144 2.4.3 Walter Grundmann ................................................................... 146 2.4.4 Emanuel Hirsch ........................................................................ 151 2.4.5 Zusammenfassung .................................................................... 153 2.5 „The New Archaeology“ ................................................................. 153 2.5.1 Vier Fragestellungen ................................................................ 155 2.5.2 Studie von Zvi Gal ................................................................... 156

Inhalt

XI

2.5.3 Studie von Uzi Leibner............................................................. 162 2.5.4 Zusammenfassung .................................................................... 166 2.6 Ernst Lohmeyer und eine theologische Deutung von Galiläa .......... 166 2.6.1 Zur Person von Ernst Lohmeyer ............................................... 167 2.6.2 Zur Theologie Ernst Lohmeyers ............................................... 168 2.6.3 Lohmeyers Studie „Galiläa und Jerusalem“ .............................. 169 2.6.4 Zur Rezeption des Ansatzes von Ernst Lohmeyer ..................... 174 2.6.5 Zusammenfassung .................................................................... 186 2.7 Galiläa in der sog. „Third Quest“ der historischen Jesusforschung 187 2.7.1 Die erste Phase der historischen Jesusforschung....................... 188 2.7.2 Die zweite Phase der historischen Jesusforschung .................... 191 2.7.3 Die dritte Phase bzw. die „Third Quest“ der historischen Jesusforschung ...................................................... 192 2.7.4 Jesus – ein (kynischer) Wandercharismatiker? ......................... 195 2.8 Fazit und Ausblick ........................................................................... 202

3. Einleitungsfragen zum Matthäusevangelium........................ 205 3.1 Eine Verhältnisbestimmung der synoptischen Evangelien ............... 207 3.1.1 Zur synoptischen Fragestellung ................................................ 207 3.1.2 Kritische Einwände .................................................................. 210 3.1.3 Fazit ......................................................................................... 215 3.2 Zur Datierung der ersten beiden Synoptiker .................................... 215 3.2.1 Zur Datierung des Markusevangeliums .................................... 215 3.2.2 Zur Datierung des Matthäusevangeliums .................................. 221 3.2.3 Neuere Fragestellungen ............................................................ 226 3.3 Zur Verfasserfrage des Matthäusevangeliums ................................. 227 3.4 Zum Entstehungsort des Matthäusevangeliums................................ 230 3.5 Zusammenfassung ........................................................................... 231

XII

Inhalt

4. Die geografischen Angaben bei Matthäus und Markus ........ 233 4.1 Methodologische Überlegungen ...................................................... 235 4.1.1 Zur Hermeneutik ...................................................................... 235 4.1.2 Zur Vorgehensweise ................................................................. 239 4.2 Die Gliederung des Markus- und Matthäusevangeliums .................. 240 4.2.1 Gliederung des Markusevangeliums ......................................... 240 4.2.2 Gliederung des Matthäusevangeliums ...................................... 242 4.3 Der Befund hinsichtlich der geografischen Angaben bei den Synoptikern .......................................................................... 245 4.3.1 Methodisches Vorgehen ........................................................... 245 4.3.2 Synoptische Darstellung des Befundes ..................................... 247 4.3.3 Geografische Angaben im Markusevangelium ......................... 278 4.3.4 Geografische Angaben im Matthäusevangelium ....................... 297

5. Exegese der geografischen Angaben im Matthäusevangelium ............................................................ 307 5.1 Textabgrenzung, Gliederung und Verarbeitung von Quellen in Mt 1–4 ........................................................................... 307 5.1.1 Textabgrenzung ........................................................................ 307 5.1.2 Gliederung von Matthäus 1–4 .................................................. 309 5.1.3 Verarbeitung von Quellen in Mat 1–2 ...................................... 323 5.2 Geografische Angaben in Mt 1–2 .................................................... 326 5.2.1 Mt 1,1–17 ................................................................................. 326 5.2.2 Mt 1,18–25 ............................................................................... 329 5.2.3 Mt 2,1–12 ................................................................................. 329 5.2.4 Mt 2,13–25 ............................................................................... 345 5.2.5 Fazit zu den geografischen Angaben in Mt 1–2 und Ausblick .. 376 5.3 Geografische Angaben in Mt 3–4 .................................................... 378 5.3.1 Mt 3,1–12 ................................................................................. 378 5.3.2 Mt 3,13–17 ............................................................................... 384 5.3.3 Mt 4,1–11 ................................................................................. 386 5.3.4 Mt 4,12–25 ............................................................................... 406

Inhalt

XIII

5.3.5 Fazit zu den geografischen Angaben in Mt 3–4 und Ausblick ................................................................ 435 5.4 Galiläa in der Passions- und Ostergeschichte (Mt 26–28) ............... 436 5.4.1 Galiläa in der matthäischen Passionsgeschichte........................ 437 5.4.2 Geografische Angaben in der markinischen und matthäischen Passionsgeschichte .............................................. 441 5.4.3 Mt 26,30–35 ............................................................................. 443 5.4.4 Matthäus 28,1–8 ....................................................................... 454 5.4.5 Matthäus 28,9.10 ...................................................................... 457 5.4.6 Matthäus 28,16–20 ................................................................... 460 5.4.7 Fazit zu den geografischen Angaben in Mt 26–28 .................... 491

6. Ertrag und Ausblick ............................................................. 495 Literaturverzeichnis ...................................................................... 501

Stellenregister .............................................................................. 532

Autorenregister ............................................................................ 544

Orts- und Namensregister ............................................................... 551

Sachregister ................................................................................. 555

Einleitung In einem der ersten Kapitel seines Jesusbuches stellt Walter Rebell mit Blick auf die Herkunft Jesu fest: „Bethlehem als Geburtsort des Messias liegt vom Alten Testament her nahe (Mi 5,1; vgl. 1Sam 16,1; 17,12); hinzu kommt, daß Galiläa im Vergleich zu Judäa als minderwertiges Gebiet galt (vgl. Mt 4,15) und sich von daher als Geburtsstätte des Messias schlecht eignete.“1 „Minderwertiges Gebiet“ steht in diesem Zusammenhang für die Vorstellung, dass in Galiläa zur Zeit des Neuen Testaments neben Menschen jüdischen Glaubens auch solche lebten, die andere Götter verehrten. Dadurch standen die Bewohner Galiläas im Verdacht, ständig mit Heiden in Kontakt zu sein. Der Hinweis auf Mt 4,15 soll diese Annahme eines teilweise heidnischen Gebietes stützen. Dort zitiert der Evangelist aus dem Jesajabuch und verwendet den Ausdruck Galilai,a tw/n evqnw/n. Diese Genitivverbindung wurde immer wieder als Genitivus qualitatis verstanden, Galiläa sei demnach ein weitgehend heidnisches Gebiet gewesen, Galilai,a tw/n evqnw/n sei die Beschreibung eines tatsächlichen Zustandes und als feststehender Ausdruck zu verstehen. So wird von Angelika Strotmann mit Recht hervorgehoben: „Eine wichtige Rolle in der beschriebenen Wahrnehmung Galiläas [sc. Galiläa als ein Gebiet mit einer halbheidnischen Bevölkerung] spielt die Wendung ‚Galiläa der Heiden‘ in Mt 4,14 [sic!].“2 Dieses Bild von Galiläa wird bis in die neuere Zeit hinein vertreten,3 ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. So hat Mark Chancey das Bild eines 1

WALTER REBELL, Jesus, Waltrop 1993, S. 58. ANGELIKA STROTMANN, Der historische Jesus: eine Einführung, UTB 3553, Paderborn 2012, S. 72. 3 Aus der Fülle der Belege seien hier nur einige genannt: GÜNTHER BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 141988 (Erstauflage 1956), S. 48: „Jesu Heimat ist das halb heidnische, verachtete Galiläa.“ DANIEL MARGUERAT, Jesus von Nazaret, in: Jean-Marie Mayeur / Charles und Luce Pietri / André Vauchez / Marc Venard (Hg.), Die Geschichte des Christentums 1 (Deutsche Ausgabe hg. von Norbert Brox u.a.), Freiburg 2003, S. 17: „Im Ver2

2

Einleitung

teilweise oder mehrheitlich von Heiden bewohnten Landstrichs im Norden Palästinas einen „Mythos“ genannt,4 und bereits zu Beginn der 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden Stimmen laut, diese Vorstellung eines heidnischen Galiläas zu verabschieden.5 Angesichts dieser Kontroverse stellt sich die Frage: Greift Matthäus mit seinem Jesajazitat eine allgemein verbreitete Vorstellung auf, dass die Bevölkerung Galiläas zur Zeit des Neuen Testaments teilweise heidnisch war, oder ist diese Annahme nicht zutreffend? Lässt sich der Ausdruck Galilai,a tw/n evqnw/n als bekannte Redewendung nachweisen oder nicht? Was könnte ihn bewogen haben, auf das „Galiläa der Heiden“ überhaupt Bezug zu nehmen? 1. In der vorliegenden Untersuchung wird zunächst der Frage nachgegangen, ob das Galilai,a tw/n evqnw/n in Mt 4,15 tatsächlich meint, dass dort eine Bevölkerung lebte, die zu einem Teil aus Heiden bestand.6 Um diese Frage zu klären, werden alle relevanten Stellen zu „Galiläa der Heiden“ aus den Schriften des Alten Testaments und des Frühjudentums untersucht.7 Dabei ist die Frage leitend, welches Bild von der Bevölkerung sich zunächst aus den entsprechenden Texten erheben lässt. In der bisherigen Forschung wurden

gleich zu Judäa dürfte es wohl in Galiläa eine liberalere Haltung gegenüber dem Gesetz gegeben haben. Ungeachtet der Judaisierung haftete Galiläa aber auch weiterhin der Ruf der Gottlosigkeit an.“ 4 MARK A. CHANCEY, The Myth of a Gentile Galilee, SNTSMS 118, Cambridge 2002; ders., Greco-Roman Culture and the Galilee of Jesus, SNTSMS 134, Cambrigde 2005. 5 RAINER RIESNER, Jesus als Lehrer, WUNT II/7, Tübingen 21984 (Erstauflage 1981), S. 209: „Die Annahme eines ‚halb heidnischen Galiläa‘ zur Zeit Jesu ist ein wissenschaftlicher Mythos, der endlich aufgegeben werden sollte.“ Etwas pointierter hat Martin Ebner formuliert: „Die Vorstellung von einem ‚Galiläa der Heiden‘ als zutreffende Beschreibung für die ethnische wie kulturelle Situation zur Zeit Jesu, lange Zeit ein Paradigma in der Forschung, ist ein wissenschaftlicher Popanz“ (MARTIN EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 2003, S. 30). Das Buch wurde 2007 unter anderem Titel neu aufgelegt und in einer Sonderausgabe 2016 einem breiteren Publikum zugänglich gemacht (MARTIN EBNER, Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 2016 [2007], das Zitat findet sich jetzt auf S. 35). 6 Die Fragestellung, ob die galiläische Bevölkerung in Gänze aus Heiden bestand, kann hier ausgeklammert werden, da eine solche These nicht ernsthaft vertreten wird. Im Abschnitt zur Forschungsgeschichte wird diese Frage unter 2.5 (Rezeption und Weiterentwicklung der Vorstellung eines weitgehend heidnischen Galiläas in der Zeit des Nationalsozialismus) aufgegriffen. 7 Es gibt einen weiteren Hinweis bei Strabo (Geographica XVI,2,34), der nicht übergangen werden soll. Da aber die zu untersuchenden Texte zu dem Ausdruck Galilai,a tw/n evqnw/n nahezu ausschließlich aus dem Alten Testament und aus den Schriften des Frühjudentums stammen, kann die oben genannte Formulierung entsprechend gewählt werden.

Einleitung

3

zwar die relevanten Stellen immer wieder erwähnt, doch eine eingehendere Analyse steht noch aus.8 2. In einem zweiten Abschnitt wird ein forschungsgeschichtlicher Überblick gegeben, wie die These eines heidnischen Galiläas begründet und rezipiert wurde. Dabei werden auch diejenigen Positionen berücksichtigt, die in deutlicher Abgrenzung zu einer Vorstellung eines heidnischen Galiläas den jüdischen Charakter hervorgehoben haben. Da neben der Untersuchung der schriftlichen Quellen die archäologische Forschung eine immer größere Rolle spielt, werden solche Untersuchungen mit herangezogen, die Aufschluss bei der Beantwortung der Ausgangsfrage geben können. 3. Mit der konkreten historischen Frage ist zugleich ein theologisches Interesse verbunden. Welchen theologischen Akzent wollte Matthäus setzen, als er das Wort des Jesaja zitierte? Was wollte er mit diesem Zitat aus Jes 8,23 dem Leser vermitteln? Lässt sich in anderen Perikopen des Evangeliums ein besonderes Interesse an Galiläa erkennen? Am Schluss seines Evangeliums bestellt Jesus seine Jünger auf einen Berg in Galiläa und gibt ihnen dort den Auftrag, zu allen Völkern zu gehen (Mt 28,16–20). Gibt es also eine besondere matthäische „Galiläa-Konzeption“, die so bei den anderen Evangelisten nicht zu finden ist? Um diesem zweiten Teil der Forschungsfrage nachzugehen, ist es nötig, die entsprechenden geografischen Angaben zu erheben und anschließend zu analysieren. Sie werden dann ins Verhältnis zum Markusevangelium gesetzt, das Matthäus vermutlich vorlag. Die damit notwendige Klärung der Einleitungsfragen wird in der gebotenen Kürze erfolgen und den Ausführungen zu den Ortsangaben vorangestellt. Bei der abschließenden Analyse der Ortsangaben wird der Schwerpunkt auf Galiläa vor allem in den Abschnitten Mt 1–4 sowie 26–28 gelegt.

8

Die grundlegende Arbeit von Chancey ist vor allem historisch angelegt mit einem deutlichen archäologischen Schwerpunkt. Exegetische Fragen, wie beispielsweise die Untersuchung von Jes 8,23, werden weitgehend ausgeblendet.

1. Galiläa im Alten Testament und in den Schriften des Frühjudentums1 1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa 1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa

1.1.1 Zur Herkunft und Bedeutung des Namens Galilai,a Galilai,a ist ein femininer Eigenname, der ursprünglich aus einer anderen Sprache stammt und dann hellenisiert wurde.2 Meist wird er im Neuen Testament mit dem Artikel gebraucht, außer Mt 4,15 und Lk 17,11.3 In der Regel geht man davon aus, dass der griechische Name Galilai,a auf das hebräische ‫ גָּ לִ יל‬bzw. das aramäische ‫ גְּ לִ ילָ א‬zurückgeht.4 Unklar ist, ob der Name bereits im 15. Jahrhundert v. Chr. in einer Auflistung von Städten bei Thutmosis III. verzeichnet ist.5 Dort wird an mehreren Stellen eine Stadt „K-r-r“ erwähnt, wobei „das ägyptische k in diesen Wiedergaben palästinischer Namen gelegentlich dem semitischen g und r entspricht (zumal in dieser hier vorliegenden ‚syllabischen‘ Schreibung rw sehr häufig l).“6 Ob hier allerdings wirklich „Galiläa“ erwähnt wird, bleibt sehr unsicher, zumal nicht klar ist, ob in diesem Verzeichnis wirklich eine Landschaft gemeint ist. So weist Alt mit weiteren Argumenten diese Annahme zurück.7 1 Zur Problematik einer angemessenen Begrifflichkeit, s. WOLFGANG STEGEMANN, Jesus und seine Zeit, S. 25f. Es ist sicher richtig, dass man heute nicht mehr von einem „Spätjudentum“ sprechen kann. Ob man aber den Begriff „Frühjudentum“ wählt oder eher vom „antiken Judentum“ sprechen möchte, hängt von der jeweiligen persönlichen Einschätzung ab. Da der Begriff „Frühjudentum“ im englisch- wie im deutschsprachigen Raum durchgehend zur Anwendung kommt, wird er in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls verwendet. 2 BDR § 562. 3 BDR § 2615. 4 BAUER-ALAND, Sp. 301f. 5 RAFAEL FRANKEL, Art. Galilee / Prehellenistic Galilee, AYBD 2, S. 879–995, S. 879. 6 ALBRECHT ALT, Die Herkunft des Namens Galiläa, in: Palästinajahrbuch 33 (1937), S. 52–88, jetzt in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 2, 21959, S. 363–374, S. 365 Anm. 2. 7 Ebd.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

‫ גָּ לִ יל‬geht auf die Wurzel ‫ גלל‬zurück und bedeutet im Kal „rund sein“, „rollen“ oder auch „wälzen“.8 Paul Joüon führt in seiner Grammatik aus, dass nach dem Muster qátîl des Öfteren von einem Verb ein Adjektiv abgeleitet wird, welches in seiner Bedeutung einem passiven Partizip ähnelt.9 Somit könnte ‫ גָּ לִ יל‬auch mit „das Umrundete“ übersetzt werden. In Verbindung mit „Völkern“ könnte ‫ גָּ לִ יל‬dann mit „das Gebiet, das von anderen Völkern umgeben / umrundet ist“, wiedergegeben werden. Im Alten Testament werden noch andere Wörter verwendet, die ebenfalls von der Wurzel ‫ גלל‬gebildet werden; so das homonyme Wort ‫גָּ לִ יל‬, das in 1Kön 6,34; Hld 5,14 und Est 1,6 verwendet wird und etwa mit „Walze“, „runde Stange“ oder auch „Ring“ übersetzt werden kann10 und das Wort ‫גְּ לִ ילָ ה‬, das wir in Ez 47,8, Jo 4,4 und Jos 13,2 finden. Meist wird dieses mit „Gegend“, „Steinkreis“ oder „Bezirk“ wiedergegeben. Mit der Ableitung des Namens Galiläa von der Wurzel ‫ גלל‬ist meist die Annahme verbunden, es handele sich bei dem Namen ‫ גָּ לִ יל‬um eine Bezeichnung, die von den Herrschern bzw. den Bewohnern des Landes für diese Landschaft selbst gefunden wurde, und zwar aus der Erfahrung heraus, von anderen Völkern umgeben zu sein. Diese Annahme hat Albrecht Alt nachdrücklich hinterfragt. Er stellt die These auf, dass der Name „Galiläa“ auf vorstaatliche Zeit zurückgehe und mit der kanaanäischen Bevölkerung zusammenhänge. Er geht davon aus, dass die Form „Galil“ plus Artikel („hag-galil“) eine Verkürzung des ursprünglichen „gelil hag-gojim“ darstelle. Am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends habe es eine Reihe von kanaanäischen Stadtstaaten gegeben, die von der Küste am Mittelmeer bis zum Gebirge am Jordan das Land besiedelten. Aufgrund der Tatsache, dass sie ring- bzw. kreisförmig siedelten, habe sich dieser Name ergeben, also eine kreis- (oder auch halbkreis-) förmige Siedlung, die dann im Wesentlichen in der Mitte kaum besiedelt war. Im Zuge der Landnahme durch das Volk Israel seien nun diese dünn besiedelten Gebiete von verschiedenen Stämmen Israels in Besitz genommen worden. Alt hält fest: „Das bedeutet, auf den Norden des Westjordanlandes angewandt, eine große Leere in seinem gebirgigen Kern – die Leere, die erst durch die Einwanderung der israelitischen Stämme einigermaßen behoben wurde – und 8

GESENIUS18, S. 218. PAUL JOÜON, A Grammar of Biblical Hebrew, translated and revised by T. Muraoka, Band 1, Teil 1: Orthography and Phonetics, Teil 2: Morphologhy, Subsidia Biblica 14/I, Rom 1993, §88E. 10 GESENIUS18, S. 218, ebenso auch LUDWIG KÖHLER / WALTER BAUMGARTNER, Lexicon in Veteris Testamenti Libros, Leiden 1985, S. 184, und: Konzise und aktualisierte Ausgabe des Hebräischen und Aramäischen Lexikons zum Alten Testament, hg. von WALTER DIETRICH / SAMUEL ARNET, Leiden / Bonn 2013, S. 100. 9

1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa

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eine dichte Fülle an seinen niedrigen Rändern – die Fülle der festen Orte in den Ebenen von Tyrus und Akko im Westen, von Megiddo und Bet-Sean im Süden und im Jordangraben im Osten, mit denen sich die israelitischen Stämme bei und nach ihrer Landnahme ständig auseinanderzusetzen hatten.“11 Damit, so Alt, wurde der Begriff bei den Kanaanäern vorgefunden und von den Israeliten adaptiert. Mit dieser These kann sicherlich gut erklärt werden, warum „Galil“ bzw. „Galiläa“ mit „Kreis“ oder „Bezirk“ wiederzugeben ist, und diese These kann auch plausibel machen, dass die Israeliten vorwiegend das gebirgige Land besiedelten und die Nordstämme Israels von anderen Völkern und Herrschern umgeben waren. Martin Noth hat gegen die These Alts geltend gemacht, dass der Name „gelil hag-gojim“ kaum eine ursprüngliche Fremdbezeichnung gewesen sein könne, da das Wort „‫גוי‬/goj“ außer in den Texten des Alten Testaments nur in den Maritexten, nicht aber in kanaanäischen Schriften vorkomme. Das mache es unwahrscheinlich, dass man „gelil hag-gojim“ dem Sprachschatz der Völker Kanaans entlehnt habe.12 So kann letzten Endes nicht mehr genau geklärt werden, welche ursprüngliche Herkunft „Galiläa“ einmal gehabt hat. Offenbar hängt diese Bezeichnung eng mit der Besiedlung des entsprechenden Landstrichs zusammen. Entweder ist sie im Zusammenhang der kanaanäischen Zeit entstanden, als man ringförmig bzw. kreis- bzw. halbkreisförmig um ein gebirgiges Gebiet herum in den Ebenen siedelte, oder sie stammt vielleicht von den israelitischen Siedlern selbst, da sie sich von anderen Völkern mit einem anderen Glauben umgeben sahen. Es scheint daher angebracht, zunächst einmal dieses Wort mit „Kreis“, „Bezirk“ oder einfach nur „Gegend“ zu übersetzen. Bevor in einem nächsten Schritt alle Stellen untersucht werden sollen, in denen das Wort „Galiläa“ Verwendung findet, ist noch zu klären, welches Gebiet gemeint ist, wenn im Alten wie im Neuen Testament von Galiläa die Rede ist. 1.1.2 Die Grenzen von Galiläa im ersten Jahrhundert n.Chr. Die wichtigsten Hinweise zu Galiläa stammen von Josephus, andere Quellen stehen uns kaum zur Verfügung. In seinem dritten Buch des Jüdischen Krieges schildert er die außerordentliche Fruchtbarkeit des Landes, die mit dazu führte, dass sich dort viele Menschen niederließen, um Ackerbau zu betreiben.13 In diesem Zusammenhang nennt er auch etliche Grenzorte, sodass man sich ein Bild von der Größe des Landes machen kann. Bei einer genaueren

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ALT, Herkunft des Namens Galiläa, S. 369. MARTIN NOTH, Könige 1–16, BK IX/1, Neukirchen-Vluyn 1968, S. 210. 13 Josephus, Bell III,35–43. 12

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Untersuchung wird schnell deutlich, dass es nahezu unmöglich ist, einen genauen Grenzverlauf zu erstellen.14 „Für den, der über keine weiteren Angaben verfügt, sind diese sieben Sätze überaus wertvoll, enthalten sie doch eine ganze Reihe wichtiger Orientierungspunkte. Dennoch gerät in Verlegenheit, wer anhand dieser Daten eine Karte zu zeichnen versucht. Die Schwierigkeit entsteht dadurch, daß Josephus hier in Bell III,3,1 zwar für alle vier Himmelsrichtungen ‚Grenzpunkte‘ benennt, diese aber in der Mehrzahl so allgemein hält, daß sie eine exakte Grenzziehung nicht erlauben.“15

Am sichersten scheint die Ostgrenze zu sein, da hier der Jordan genannt wird; alle anderen Grenzverläufe können nicht präzise nachgezeichnet werden. Welches Bild von der Größe Galiläas lässt sich zunächst in Umrissen erkennen? Galiläa erstreckt sich demnach von der Höhe des Ḥule-Sees südwärts mit dem Jordan als östlicher Grenze. Südlich des Sees Gennesaret, aber nördlich von Skythopolis, verläuft dann die Grenze gen Westen, erreicht aber nicht das Mittelmeer, sondern verläuft nach Norden östlich vom Karmelgebirge, um sich dann wieder Richtung Ḥule-See nach Osten zu erstrecken. Bösen hat in seiner Untersuchung drei Karten aus Bibelatlanten16 verglichen und festgestellt, dass sich die dort angegebenen Grenzverläufe deutlich unterscheiden. Sein eigener Vorschlag17 weicht aber ebenfalls nicht unerheblich von dem neuerer Entwürfe ab.18 Besondere Unsicherheiten sind über den Verlauf der Südgrenze zu verzeichnen,19 diese betreffen vor allem die Frage, 14 Hier sind die grundsätzlichen Bedenken Morelands hinsichtlich des Versuches der Rekonstruktion von Grenzen zu berücksichtigen. „Most ancient borders are extremely hard to trace; they are malleable, arbitrary, and when they are well defined by modern historians their reconstructions are often burdened by assumptions about groups and cultures that mask the complex realities of ancient population settlement, patterns of consumerism and trade, and cultural interaction” (MILTON MORELAND, The Inhabitants of Galilee in the Hellenistic and Early Roman Periods. Probes into the Archaeological and Literary Evidence, in: Jürgen Zangenberg / Harold W. Attridge / Dale B. Martin [Hg.], Religion, Ethnicity, and Identity in Ancient Galilee, WUNT 210, Tübingen 2007, S. 133–159, S. 135). 15 WILLIBALD BÖSEN, Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg 1985, S. 20. 16 LUCAS H. GOLLENBERG, Bildatlas zur Bibel, Gütersloh 31959; JAN H. NEGENMAN, Großer Bildatlas zur Bibel, Gütersloh 1969; YOHANAN AHARONI / MICHAEL AVI-YONAH, The Modern Bible Atlas, London 1979. 17 BÖSEN, Galiläa, S. 26. 18 Hier sind vor allem folgende Werke heranzuziehen: Herders Neuer Bibelatlas; SIEGFRIED MITTMANN / GÖTZ SCHMITT (Hg.), Tübinger Bibelatlas. Auf der Grundlage des Tübinger Atlas des Vorderen Orients (TAVO), Stuttgart 2001; DAVID A. FIENSY / JAMES RILEY STRANGE (Hg.), Galilee in the Late Second Temple and Mishnaic Periods 1: Life, Culture, and Society, Minneapolis 2014, 2: The Archaeological Record from Cities, Towns, and Villages, Minneapolis 2015. 19 Eine eingehende Diskussion des Grenzverlaufes bietet BÖSEN, Galiläa, S. 20–28.

1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa

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ob die Jesreel-Ebene mit zu Galiläa zu rechnen ist oder nicht.20 Es ist aber auch ungeklärt, ob die Grenze bereits in Höhe von Ptolemais (so Bösen21) nach Osten oder noch einige Kilometer weiter nördlich bzw. nordöstlich verläuft (so Fiensy / Strange).22 So ist es nicht verwunderlich, dass sehr viele unterschiedliche Vorschläge zu den Grenzen Galiläas geboten werden. Sieht man von diesen Schwierigkeiten im Detail ab, so zeigt sich bei der Größe des Gebietes eine gewisse Übereinstimmung. Bösen schlägt eine Größe von max. 1600 km² vor,23 Ben-David nimmt eine Ackerfläche von ca. 1500 km² an24 und Hengel und Schwemer sprechen sich ebenfalls für 1600 km² aus.25 Klauser und Bertram setzen die Größe „mit rund 2000 km²“ höher an, was aber darauf zurückzuführen ist, dass sie die Jesreel-Ebene zu Galiläa rechnen.26 James F. Strange beziffert mit Hinweis auf den Macmillan Bibelatlas von Aharoni und Avi-Yonah die Größe mit 2073 km².27 Legt man nun für die Größe Galiläas eine Fläche zwischen 1500 und 2100 km² zugrunde, so zeigt sich, dass es ein sehr überschaubares Gebiet mit einer Ausdehnung von etwa 40 x 40 oder max. 40 x 50 km ist.28

20 Klauser und Bertram nehmen eine größere Ausdehnung des Gebietes von Galiläa an und rechnen die Jesreel-Ebene noch zu Galiläa hinzu, GEORG BERTRAM / THEODOR KLAUSER, Art. Galilaea, RAC 8, Stuttgart 1972, Sp. 796–821, Sp. 797f. 21 BÖSEN, Galiläa, S. 22–24. 22 FIENSY / STRANGE (Hg.), Galilee 1 und 2, Karten 4A und 4B, o.S. (der Karten- und Bildteil wurde ohne Paginierung zwischen S. xvi und xvii eingefügt). 23 BÖSEN, Galiläa, S. 28f. 24 ARYE BEN-DAVID, Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit der Mischna und des Talmud 1, Hildesheim 1974, S. 48: „… denn die Grenzen Galiläas umfaßten nicht mehr als 150.000 Hektar Ackerboden.“ 25 MARTIN HENGEL / ANNA MARIA SCHWEMER, Jesus und das Judentum. Geschichte des frühen Christentums 1, Tübingen 2007, S. 275. 26 BERTAM / KLAUSER, Galilaea, Sp. 797f. 27 JAMES F. STRANGE, The Galilean Road System, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 1, S. 263–271, S. 265. Die Kritik Stranges an Bösen, seine Karten würden das Gebiet um Skythopolis zum Gebiet Galiläas hinzurechnen (JAMES F. STRANGE, ebd. Anm. 7: „Bösen’s maps 10 und 11 show the city territory of Beth Shean-Scythopolis as part of Galilee.“), stimmt so nicht, da die Karte 7 eindeutig aufzeigt, dass die Ebene von Skythopolis auf keinen Fall zum Gebiet von Galiläa zu rechnen ist (BÖSEN, Galiläa, S. 26). Die Kritik könnte darauf beruhen, dass Karte 11 nur sehr unklar die Lage von Skythopolis anzeigt (vgl. BÖSEN, Galiläa, S. 31). 28 Evans geht von einer größeren Ausdehnung Galiläas aus, ohne diese jedoch eingehender zu begründen, CRAIG EVANS, Context, familiy and formation, in: Markus Bockmuehl (Hg.), The Cambridge Companion to Jesus, Cambridge 2001, S. 11–24, S. 11: „Galilee measures some 69 km from the north to south, and some 49 km from east to west.“

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Hinsichtlich der Bevölkerungszahlen liegen uns Angaben von Josephus vor, der die Anzahl der Städte und Dörfer mit 204 beziffert29 und behauptet, in jedem würden mindestens 15000 Menschen leben.30 Die Anzahl der Dörfer wird heute als realistisch eingeschätzt,31 während die Bevölkerungszahl als deutlich zu hoch angesehen wird.32 Die Anzahl der in Galiläa zur Zeit des Neuen Testamentes lebenden Menschen wird meist zwischen 200000 und 300000 geschätzt,33 wobei immer wieder betont wird, wie unsicher solche Zahlen sind und bleiben.34 Jüngst hat Fiensy die Einwohnerzahl Galiläas mit 175000 angegeben, er bezieht sich u.a. auf Arbeiten von Eric Meyers, der wiederum eine Zahl zwischen 150000 und 175000 annimmt.35 Es bietet sich also an, für die Zeit des Neuen Testaments von einer Einwohnerzahl von etwa 200000 auszugehen, wohl wissend, dass wir es mit erheblichen Unsicherheiten zu tun haben. Sollten sich diese Annahmen als belastbar erweisen, und die meisten Forscher legen diese Zahlen bei ihren Untersuchungen zugrunde, so wäre Galiläa zur Zeit des Neuen Testaments ein sehr dicht besiedeltes Gebiet gewesen, das sich vor allem durch Dörfer bzw. kleinere Siedlungen auszeichnete. Traditionell wird angenommen,36 dass es nur zwei Städte gab, die von 29

Josephus, Vita 235. Josephus, Bell III,43. 31 ERIC M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, ZNT 1 (1998), S. 27–39, S. 30: „Nimmt man an, daß in Galiläa etwa 200 Dörfer existiert haben mit ungefähr jeweils 500 Einwohnern, was vernünftig scheint, dann läßt sich die Bevölkerung auf etwa 150000 bis 1750000 Menschen schätzen, wobei die große Mehrheit in Dörfern statt in Städten wohnte, nicht weit von den 200000 Personen, von denen Hoehner spricht.“ Douglas Edwards fasst den Befund zusammen: „The number of villages and towns attested by Josephus comes close to the archaelogical mark“ (DOUGLAS R. EDWARDS, Identiy and Social Location in Roman Galilean Villages, in: Zangenberg / Attridge / Martin (Hg.), Religion, Ethnicity, and Identity in Ancient Galilee, S. 357–374, S. 357). Dieser Befund macht es wahrscheinlich, dass Josephus ein Verzeichnis galiläischer Städte und Dörfer vorgelegen haben könnte, so David Fiensy: „Most residents of Lower Galilee lived in villages. Josephus wrote that there were 204 cities and villages (po,leij kai. kw/mai) in all of Galilee (Life 235). Whether this figure presents an actual count or merely his estimate is unclear, but the precision of the number might suggest the former“ (DAVID FIENSY, The Galilean Villages in the Late Second Temple and Mishnaic Periods, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 1, S. 177–207, S. 177f). 32 So u.a. Hengel und Schwemer, die darin eine „der bei ihm [sc. Josephus] üblichen Übertreibungen“ sehen (HENGEL / SCHWEMER, Jesus und das Judentum, S. 275). 33 So z.B. BÖSEN, Galiläa, S. 58; HENGEL / SCHWEMER, Jesus und das Judentum, S. 275. 34 ERIC M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, S. 30, s. auch S. 37f Anm. 10, wo Meyers bei dieser Fragestellung auf die relevante Literatur verweist. 35 FIENSY, The Galilean Villages, S. 178 (mit weiteren Literaturhinweisen in Anm. 2). 36 Neuere Ausgrabungen legen die Vermutung nahe, dass auch Magdala z.Zt. des Neuen Testaments eine bedeutendere Stadt war als man lange angenommen hat. Einen kurzen 30

1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa

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der Größe her herausragten, Sepphoris und Tiberias.37 Während Sepphoris38 zunächst die Hauptstadt Galiläas war, nahm Tiberias39 nach seiner Gründung um 18–20 n.Chr. diesen Platz ein. Galiläa ist also ein überwiegend dörflich geprägtes Gebiet, in dem die meisten Menschen von der Landwirtschaft bzw. vom Fischfang am See Gennesaret gelebt haben. Bei einer Gesamtgröße von etwa 1500–2100 km² liegen die Dörfer dicht an dicht, und es wird einem durchschnittlichen Einwohner möglich gewesen sein, innerhalb von zwei oder drei Tagesreisen das gesamte galiläische Gebiet zu durchreisen, selbst wenn man unzureichende Straßenverhältnisse annehmen muss.40 Es ist weiterhin zu berücksichtigen, dass die Besiedelung nicht gleichmäßig erfolgte, da zum einen noch zwischen Unter- und Obergaliläa zu unterscheiden und zum anderen innerhalb der beiden Gebiete selbst zu differenzieren ist. In mShevi IX,2 wird der Ort Ḥananja als Grenzort zwischen Ober- und Untergaliläa genannt: „Drei Länder [unterscheidet man] hinsichtlich der Wegschaffung: Judäa, das Ostjordanland und Galiläa. Und je drei Länder [unterscheidet man] in jedem einzelnen: (In Galiläa) das obere Galiläa, das untere Galiläa und das Tal. Von Kefar Ḥananja an nach oben ist alles [Gebiet], in dem man nicht Maulbeerfeigenbäume aufzieht, das obere Galiläa.“41

instruktiven Überblick zu den archäologischen Ergebnissen bietet jetzt: SANDRA INCE, Kulturelle Veränderungen in Galiläa in der hellenistischen und frührömischen Zeit, Kleine Arbeiten zum Alten und Neuen Testament, Waltrop 2017, S. 186–189. Jens Schröter geht in der neuesten Auflage seines Jesusbuches von einem „urbanen Charakter“ dieser Stadt aus (JENS SCHRÖTER, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Biblische Gestalten 15, Leipzig 62017 [Erstauflage 2005], S. 95 Anm. 106) ebenso wie Jürgen Zangenberg (JÜRGEN K. ZANGENBERG, Galiläa und Umgebung als Wirkungsraum, in: Jens Schröter / Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, S. 230–237, S. 233). 37 FIENSY, The Galilean Villages, S. 177. 38 Zu Sepphoris jetzt grundlegend: JAMES F. STRANGE, The Jewel of Galilee, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 2, S. 22–38; ERIC M. MEYERS / CAROL L. MEYERS / BENJAMIN D. GORDON, Residential Area of the Western Summint, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 2, S. 39–52; ZEEV WEISS, From Galilean Town to Roman City, 100 BCE–200 CE, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 2, S. 53–75; JAMES F. STRANGE, The Sepphoris Aqueducts, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 2, S. 76–87. Reed schätzt die Bevölkerungszahl für das erste Jahrhundert auf 8–12000 Menschen; damit wäre Sepphoris deutlich größer als die umliegenden galiläischen Dörfer und Siedlungen, nähme sich aber im Vergleich mit anderen Städten in Palästina immer noch bescheiden aus, s. auch JONATHAN REED, Archaeology and the Galilean Jesus. A Re-examination of the Evidence, Harrisburg 2000, S. 80. 39 Zu Tiberias jetzt grundlegend: KATIA CYTRYN-SILVERMAN, Tiberias, from Its Foundation to the End of the Early Islamic Period, in: Fiensy / Strange (Hg.), Galilee 2, S. 186– 210. 40 BÖSEN, Galiläa, S. 30. 41 mShevi IX,2.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Dieser Ort liegt an einer markanten Bruchlinie, die etwa in der Höhe der nördlichen Spitze des Sees Gennesaret in west-östlicher Richtung verläuft. Südlich davon erheben sich die Hügel bis zu einer Höhe von 600 m über NN, die Berge in Obergaliläa erreichen hingegen eine Höhe von über 1200 m über NN. „Die Grenze [sc. zwischen Ober- und Untergaliläa] bildet ein tiefer Steilabfall, der die Verbindung zwischen beiden Gebieten sehr erschwert. Obergaliläa ist ein Gebirgsplateau, das im Süden am höchsten ist und nach Norden auf ca. 500 m abfällt.“42

Der südliche Teil von Obergaliläa ist gebirgig und war „im Altertum dicht bewaldet“43, er eignete sich daher kaum für eine dichtere Besiedlung, die meisten Siedlungen befanden sich demnach im nördlichen Obergaliläa. Fritz erinnert daran, dass das obere Jordantal bis zum vierten Jahrhundert v.Chr. ebenfalls für eine Besiedlung nicht in Frage kam, da diese Gegend wegen der Wasserläufe ein Sumpfgebiet war.44 Das „geologisch recht kompliziert[e]“45 untere Galiläa bietet zunächst sicherlich insgesamt gute Bedingungen für die Landwirtschaft und somit gute Voraussetzungen für eine Besiedlung, bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass auch Untergaliläa – trotz der geringen Größe – unterschiedlich dicht mit Dörfern überzogen war. Hier spielen die natürlichen Gegebenheiten, allem voran die Versorgung mit Wasser, eine große Rolle bei der Neugründung von Siedlungen. „Thus we have a very striking example of human settlements following the natural potentialities of the country.“46 Wenn sich also zur Zeit des Neuen Testaments in Galiläa etwa 200 Siedlungen mit ungefähr 200000 Einwohnern befanden und Galiläa daher als dicht besiedelt gelten muss, stellt sich die Frage, wie es zu einer solchen Entwicklung kommen konnte, wenn doch, und darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt einzugehen sein, Galiläa über einen langen Zeitraum so gut wie gar nicht besiedelt war. Dieses lässt sich kaum mit dem natürlichen Wachstum einer Bevölkerung erklären. Lassen sich die Verhältnisse zur Zeit des Neuen Testamentes noch einigermaßen und in Umrissen erhellen, so ist der Versuch, sich ein genaueres 42 YOHANAN AHARONI, Das Land der Bibel. Eine historische Geographie, NeukirchenVluyn 1984, S. 27 (Hervorhebung im Original); zur Topografie von Galiläa s. auch: BÖSEN, Galiläa, S. 32–44; SEÁN FREYNE, Galilee from Alexander the Great to Hadrian 323 B.C.E. to 135 C.E. A Study of Second Temple Judaism, Wilmington / Notre Dame 1980, S. 9–16. 43 AHARONI, Land der Bibel, S. 28. 44 VOLKMAR FRITZ, Das Buch Josua, HAT I/7, Tübingen 1994, S. 197. 45 BÖSEN, Galiläa, S. 34. 46 FREYNE, Galilee, S. 11.

1.1 Zum Namen und zum Gebiet von Galiläa

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Bild der Größe und der Bevölkerung Galiläas in alttestamentlicher Zeit zu machen, mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden,47 und das aus mehreren Gründen. Zum einen stehen uns kaum Quellen zur Verfügung, die darüber näheren Aufschluss geben könnten. Zum anderen müsste genau differenziert werden, für welche Zeit Aussagen getroffen werden sollen. Die zunehmende archäologische Erforschung Galiläas zeigt nämlich, dass es im Übergang der Bronze- zur Eisenzeit eine deutliche Veränderung der Besiedelung Galiläas gegeben haben muss;48 ebenso hat die Zeit unter David und Salomo einen erheblichen Aufschwung in der Entwicklung mit sich gebracht. „A significant development in the nature of Israelite settlement in Lower Galilee occurs during the tenth century B.C.E. Under the centralized regimes of King David and King Salomon, a complicated and diverse pattern of settlement emerges.“49 Mit der assyrischen Eroberung hat es wiederum einen gravierenden Einschnitt gegeben, der das Leben der Menschen nachhaltig verändert hat. Es kann an dieser Stelle zunächst festgehalten werden, dass die Besiedlung Galiläas im Laufe der Zeit von markanten Brüchen gekennzeichnet ist. Bei der Frage nach der Größe Galiläas zur alttestamentlichen Zeit lassen sich einige ungefähre Aussagen treffen. „In either case, the name almost 47 Eine Übersicht zu Städten und Dörfern mit ihren Einwohnerzahlen für das achte vorchristliche Jahrhundert, die archäologisch einigermaßen gesichert sind, bietet William Dever. Dever unterscheidet dabei zwischen Hauptstädten (Jerusalem und Samaria), administrativen Zentren (von denen es sieben gab), 11 Städten mit mehr als 1000 Einwohnern, 24 kleineren Städten mit einer Bevölkerungszahl zwischen 300 und 1000, 12 Dörfern mit bis zu 300 Bewohnern und befestigten Wehranlagen („Forts“). Es zeigt sich, dass einige Zahlen sehr unsicher sind (so gibt er Jerusalem mit 12.000 Einwohnern [allerdings mit Fragezeichen] für das siebte Jahrhundert an, was nicht von allen Forschern geteilt wird). Für die nördliche Gegend werden nur Dan, Hazor und Megiddo genannt, die zwischen 1000 und 5000 (aber auch diese Zahl für Dan ist mit einem Fragezeichen versehen) Einwohner haben, ansonsten scheint der nördliche Teil Israels und damit auch Galiläa dünn besiedelt zu sein (WILLIAM G. DEVER, The Lives of Ordinary People in Ancient Israel. Where Archaeology and the Bible intersect, Grand Rapids 2012, S. 47–105). Dever selbst geht von einer Gesamtbevölkerungszahl für Israel von etwa 130000–150000 Bewohnern für das achte vorchristliche Jahrhundert aus, was ein erhebliches Wachstum gegenüber dem zehnten Jahrhundert bedeuten würde, bei dem man in der Regel eine Zahl von 100000 annimmt (DEVER, The Lives of Ordinary People, S. 105). 48 „Frankel documented a major shift in settlement patterns in the 12th century B.C., with some forty Iron I sites now in evidence“ (WILLIAM G. DEVER, Who Were the Early Israelites and Where Did They Come From, Grand Rapids 2003, S. 208). Die Frage, wer diese neuen Siedlungen gründete und ob bzw. wie diese mit der „Landnahme“ zusammenhingen, kann an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. 49 ZVI GAL, Lower Galilee during the Iron Age, American Schools of Oriental Research Dissertation Series 8, Winona Lake 1992, S. 94. Auch wenn dieses Urteil zunächst nur für Untergaliläa gilt, so zeigen sich ähnliche Veränderungen auch für den oberen Teil des Landes.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

certainly originated as a description of the N mountain region of the land of Israel encircled by valleys, the coastal plain to the W, the Jezreel to the S, the Jordan to the E, and the Litani to the N.“50 Diese Angaben decken sich in etwa mit den Grenzbeschreibungen, wie wir sie für die Zeit des Neuen Testamentes erheben können, lediglich im Norden hätte das Land demnach eine etwas größere Ausdehnung gehabt.51

1.2. ‫ גָּ ִליל‬im Masoretischen Text (MT) 1.2 Galiläa im Masoretischen Text

Das in unserer Fragestellung interessierende Wort ‫ גָּ לִ יל‬kommt an folgenden Stellen im AT vor: Jos 20,7; 21,32; 1Kön 9,11; 2Kön 15,29; 1Chr 6,61 sowie Jes 8,23. Gelegentlich findet man noch den Hinweis auf Jos 12,2352, das aber strenggenommen nicht im MT vorkommt; es soll aber bei der Untersuchung mit berücksichtigt werden. Zunächst fällt auf, dass ‫ גָּ לִ יל‬nur an wenigen Stellen im MT vorkommt und nur an zwei Stellen mit einem Artikel näher bestimmt ist.53 In Jes 8,23 lesen wir von ‫גְּ לִ יל ַה גּוֹ ִי ם‬, was in den meisten Bibelübersetzungen mit „Galiläa der Heiden“ wiedergegeben wird. Da auf diese Stelle bei Matthäus ausdrücklich Bezug genommen wird, soll dieser Vers noch eingehender untersucht werden. Es bleibt zunächst festzuhalten, dass eine Erweiterung bzw. Näherbestimmung des Begriffs ‫ גָּ לִ יל‬im MT nur hier an dieser Stelle zu beobachten ist. Hingegen wird an fünf der sechs Stellen ‫ גָּ לִ יל‬mit dem Stamm „Naftali“ verbunden; nur in 1Kön 9,11 fehlt ein entsprechender Hinweis; offenbar ist somit dieser Stammesname eng mit diesem Gebiet verbunden. Da die Stämme Israels an vielen Stellen im AT vorkommen und auch die Verteilung des Landes thematisiert wird (so u.a. sehr ausführlich in Jos 13ff), legt sich die Deutung nahe, dass der unbekanntere Begriff ‫ גָּ לִ יל‬durch das bekanntere „Naftali“ eine Erklärung findet. Ob diese Deutung in die richtige Richtung geht, werden wir später noch einmal aufgreifen. 1.2.1 ‫ גָּ לִ יל‬im Buch Josua An zwei Stellen des Buches Josua wird das Wort ‫ גָּ לִ יל‬sicher gebraucht, bei der dritten Stelle (Jos 12,23) sind sich etliche Ausleger einig, dass man mit

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FRANKEL, Galilee / Prehellenistic Galilee, S. 879. Der Fluss Litani entspringt westlich von Baalbek, fließt dann nach Süden, um einige Kilometer nördlich von Tyrus ins Mittelmeer zu münden. 52 GESENIUS18, S. 218. 53 Die beiden Stellen in den Königebüchern haben ‫ גָּ לִ יל‬mit Artikel. 51

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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der LXX statt „Gilgal“ „Galiläa“ lesen sollte.54 Kap. 12 steht am Ende des ersten Teils des Josuabuches.55 Dieser wird mit einer Liste der besiegten Könige abgeschlossen. Diese Liste umfasst 31 Namen von Ortschaften, die sich z.T. klar lokalisieren lassen.56 Die Lesart des MT mit Gilgal in Vers 23b „zerstöre“ allerdings die bis dahin erkennbare Ordnung, so die gängige Meinung. So nennt Richard Hess drei Gründe, die für die Lesart der LXX sprechen:57 a) Gilgal spielt auch sonst in dem Zusammenhang keine erkennbare Rolle. b) Bei gleichzeitiger Annahme, dass der Ort „Gojim“ eine verkürzte Lesart von Haroschet-Gojim ist, das im Buch der Richter (Ri 4,2.13.16) erwähnt wird, ergibt dann diese Formulierung in der LXX (basile,a Gwim th/j Galilai,aj) einen Sinn, und man kann eine Bestimmung wie in den anderen Versen erkennen. So übersetzt z.B. Fritz in seinem Kommentar: „Der König von Haroschet-Gojim in Galiläa.“58 Ob es sich bei Haroschet-Gojim tatsächlich um einen Ort gehandelt hat, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Für Fritz steht fest: „Haroschet-Gojim in Galiläa ist der Lage nach unbekannt, in jedem Fall handelt es sich um einen Ortsnamen und nicht um die Bezeichnung eines Gebiets.“59 Hess kommt zu einem abweichenden Urteil: „As a shortened form of Haroshet-Haggoyim, it designates a region of royal estates maintained for Pharaohs in the Late Bronze Age in the Jezreel Valley near Megiddo and Taanach.“60 Zudem muss offenbleiben, wie belastbar die Annahme ist, dass „Gojim“ tatsächlich eine verkürzte Form von „HaroschetGojim“ ist. Es gibt nur den Hinweis auf die Stellen im Richterbuch, der not-

54 So u.a. HANS WILHELM HERTZBERG, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, ATD 9, Göttingen 1953, S. 81. 55 Über die Gliederung herrscht (im deutschsprachigen Raum) weitgehend Einigkeit, dass mit Kap. 12 ein deutlicher Einschnitt markiert ist. In den ersten Kapiteln des Buches werde über die Eroberung geschrieben, während ab Kap. 13 die Verteilung des Landes in den Blick gerät. Ob Kap. 23 und 24 einen eigenständigen Teil bilden, ist hingegen unsicher. S. dazu und zur aktuellen Forschungssituation insgesamt: GEORG HENTSCHEL, Das Buch Josua, in: Erich Zenger (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, 8. Auflage hg. von Christian Frevel, Stuttgart 2012, S. 257–268 sowie WALTER DIETRICH, Das Josuabuch, in: Walter Dietrich / Hans-Peter Mathys / Thomas Römer / Rudolf Smend, Die Entstehung des Alten Testaments. Neuausgabe, Theologische Wissenschaft 1, Stuttgart 2014, S. 193–205. 56 S. die Übersicht bei: TRENT C. BUTLER, Joshua 1–12, WBC 7a, Grand Rapids 22014, S. 535–538. 57 RICHARD HESS, Joshua, TOTC, Leicester 1996, S. 228 Anm. 1. 58 FRITZ, Josua, S. 127. Zum selben Ergebnis kommt Knauf in seinem Kommentar; s. ERNST AXEL KNAUF, Josua, ZBK AT 6, Zürich 2008, S. 124. 59 FRITZ, Josua, S. 136. 60 HESS, Joshua, S. 228 Anm. 1.

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wendigerweise mit der Annahme verbunden ist, im MT hätte ursprünglich wirklich Galil für Gilgal gestanden. c) Die beiden vorangehenden Bezeichnungen in Jos 12,22b.23a (Jokneam und Dor) sind mit einer Ortsbezeichnung plus folgendem ְ‫ ל‬und der Angabe eines Gebietes gebildet, in dem sich diese Orte befinden. Galiläa ist in der Tat ein solches Gebiet, Gilgal hingegen nicht. Dieser Hinweis verdient sicherlich Beachtung, es muss aber auch die Annahme zugrundegelegt werden, dass es sich ursprünglich um eine Dreierreihe handelte. Zurückhaltender gegenüber der LXX-Lesart äußert sich Trent Butler: „The meaning of ‫ גוים לגלגל‬Goiim of Gilgal or nations of Gilgal or emended to Goiim of Galilee is uncertain (see Note 23.a). The locality meant here is unknown, though Hess suggests Jiljuliyey (= M.R. 145173), just north to Aphek.“61

Es zeigt sich also, dass die Vermutung, dass mit der LXX Galiläa zu lesen sei, mit einigen Voraussetzungen verbunden ist und auch nicht von allen Auslegern geteilt wird. Es ist eine Annahme, die sich weder belegen noch widerlegen lässt. Selbst wenn man diesem Vorschlag folgt und eine Veränderung vornimmt, ergeben sich kaum konkrete Hinweise zum Verständnis von Galiläa. Ebenso verhält es sich mit den beiden anderen Belegen in Jos 20,7 und 21,32. In Kap. 20 wird über die Einrichtung sog. Asylstädte im ganzen Land berichtet. Martin Noth ging davon aus, dass mit dem Ende von Kap. 19 eine deutliche Zäsur im Josuabuch erreicht ist.62 Die Bestimmung der Asylstädte in Kap. 20 sowie der Bericht über die Verteilung der Levitenstädte in Kap. 21 seien Nachträge, die erst später dem Buch zugewachsen seien.63 Vor allem die Tatsache, dass das Asylrecht nicht wie in früheren Zeiten an Heiligtümer angebunden sei, spreche für ein jüngeres Alter der Texte.64 In 20,7 wird ausgesagt, dass der zur Asylstadt bestimmte Ort Kadesch in Galiläa liegt. Galiläa wiederum wird durch den Zusatz „auf dem NaftaliGebirge“ näher bestimmt. Es könnte vermutet werden, dass der Name Galiläa noch nicht so bekannt war, sodass er mit dieser Erweiterung versehen werden musste. Erst in Verbindung mit dem Namen des Stammes Naftali wäre Gali61

TRENT C. BUTLER, Joshua 1–12, S. 534. MARTIN NOTH, Das Buch Josua, HAT I/7, Tübingen 31953, S. 123. 63 Wie Noth gehen einige Forscher davon aus, dass es eine erste Version des Buches Josua gab bzw. vordeuteronomistische Überlieferungen bereits in spätvorexilischer Zeit existierten (GEORG HENTSCHEL, Josua, S. 261). Diese wurden dann von einer deuteronomistischen Redaktion bearbeitet und erweitert, bevor noch weitere priesterliche Zusätze eingearbeitet wurden. Über die genaue Entstehung des Buches besteht aber weiterhin keine Einigkeit. 64 NOTH, Josua, S. 124. 62

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läa für den Leser genauer zu verorten. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, warum Galiläa hier mit einer Näherbestimmung versehen wird. Im unmittelbaren Zusammenhang dieser Aussage lesen wir vom Gebirge Ephraim (damit ist Samaria gemeint) und von dem Gebirge Juda. Damit sind drei Städte als Asylstädte bestimmt, die für die drei Regionen stehen, die das gesamte Land, nämlich Israel und Juda, ausmachen. Da das Buch Josua als Teil des deuteronomistischen Geschichtswerkes vermutlich in spätvorexilischer, bzw. exilischer und teilweise auch in nachexilischer Zeit entstanden ist,65 so liegt die Zerschlagung des Nordreiches schon länger zurück. Damit berichten, so Noth, diese Abschnitte nicht von der tatsächlichen Bestimmung der Orte als Asylstädte, sondern es geht vielmehr darum, die Wiederherstellung Israels und die Einheit von Nord- und Südreich nicht aus dem Auge zu verlieren.66 Nähere Einzelheiten zu Galiläa erfahren wir aus Jos 20,7 nicht. Das gilt ebenso für die letzte Stelle im Josuabuch. In Kap. 21 wird erzählt, welche Städte für die Leviten bestimmt sind. Für den Stamm Naftali wird festgehalten, dass neben der Asylstadt Kadesch in Galiläa die Orte HammatDor und Katan für die Leviten vorgesehen sind. Die Formulierung lehnt sich eng an 20,7 an und bietet von daher keine zusätzlichen Informationen. Es ist merkwürdig, dass in den Kapiteln 20 und 21 nur der Ort Kadesch als in Galiläa befindlich bezeichnet wird. In 19,37 wird er bereits als Ortschaft des Stammes Naftali erwähnt, ohne die Näherbestimmung Galiläa. Es kann nun kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Kadesch in 12,22 mit dem genannten

65 Zur Frage nach der Entstehung des Josuabuches s. HENTSCHEL, Das Buch Josua, S. 261–263. 66 NOTH, Josua, S. 124. Zur Problematik des deuteronomistischen Geschichtswerks s. den instruktiven Beitrag mit ausführlicher Bibliografie von GEORG BRAULIK, Theorien über das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) im Wandel der Forschung, in: Zenger (Hg.), Einleitung, S. 237–256. Eine gute Einführung in die Problematik bietet auch WALTER DIETRICH, Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk, in: Dietrich / Mathys / Römer / Smend, Entstehung des Alten Testaments, S. 171–192 und ders., Art. Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: RGG4 2, Sp. 688–692. Grundsätzlich lassen sich die Theorien zur Entstehung des deuteronomistischen Geschichtswerkes (DtrG) in ein Block- und in ein Schichtenmodell einteilen (DIETRICH, Deuteronomistisches Geschichtswerk, Sp. 689; dass diese Einteilung einer Ausdifferenzierung bedarf [BRAULIK, Theorien, S. 242–254] ist zu berücksichtigen, kann aber hier vernachlässigt werden, da nur die großen Linien hervorzuheben sind). Das sog. Blockmodell rechnet mit einer ersten, vorexilischen Fassung, die vermutlich bis 2Kön 20 oder 2Kön 23 reichte und vor allem König Josia hervorhebt. Dieser erste Block wurde dann im Exil nicht nur um 2Kön 21–24 (bzw. 23–24) erweitert, sondern im gesamten Werk wurden Ergänzungen (meist mit negativer Färbung) hinzugefügt. Das Schichtenmodell rechnet mit einer Abfassung im Exil, das – ausgehend von einem relativ geringen Grundbestand – sukzessive erweitert worden ist. Ich folge in dieser Arbeit dem ersten Modell.

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Ort in 19,37; 20,7 und 21,32 identisch ist.67 Warum diese Hinzufügung Galiläas in den späteren Kapiteln erfolgt, kann nicht mehr erhellt werden. Dass nur ein Ort Erwähnung findet, der in Galiläa lokalisiert werden kann, überrascht aber noch in anderer Hinsicht. Es werden in allen Ortslisten der Kapitel 19–21 etliche Namen genannt, die sich eindeutig Galiläa zuordnen lassen und sich z.T. direkt am See Gennesaret befinden; diese werden jedoch einzig und allein ihrer Zugehörigkeit zu einem Stammesgebiet wegen aufgeführt. Warum Kadesch eine Ausnahme bildet (nur in Kap. 20 und 21), kann somit kaum erhellt werden. Ein möglicher Schluss könnte sein, dass der Ort Kadesch mit einer anderen Stadt hätte verwechselt werden können. Wenn das zutrifft, dann müsste man aber auch erwarten, dass diese Näherbestimmung bereits in 19,37 aufgeführt worden wäre. Es ist daher eher zu vermuten, dass die Näherbestimmung „Galiläa“ in einer späteren Zeit hinzugefügt worden ist. Das wirft auch die Frage auf, wie historisch belastbar die Angaben in den Ortslisten im Buch Josua sind. An dieser Stelle gehen die Meinungen weit auseinander. Während einige annehmen, diese Listen seien weitgehend alt und könnten aus der frühstaatlichen Zeit stammen, so plädieren andere dafür, dass diese aus nachexilischer Zeit stammen und weitgehend aus theologischen Gründen geschaffen wurden. Eine vermittelnde Position nimmt Dietrich ein, der annimmt, dass Teile der Ortslisten sehr wohl alt sein könnten; diese Verzeichnisse seien aber bis in die exilische Zeit hinein erweitert worden. „Allerdings gehen schwerlich alle in diesen Kapiteln untergebrachten Informationen auf die frühstaatliche Zeit zurück (so Kallai). Vielmehr ist mit sukzessiven Auffüllungen in z.T. noch erheblich späterer Zeit zu rechnen. Man wird freilich nicht so weit gehen müssen wie de Vos, der die Grundlage von Jos 15–19 unter Verweis auf die gerade in späteren PSchichten des Pentateuch so beliebten Listen für eine axiomatische Aufstellung aus (spät-)nachexilischer Zeit hält, in der es um das Land weniger als geografisch-politische Realität denn als geistliche Größe geht.“68

Im Blick auf das Verzeichnis in Jos 19,32–39, wo die Grenzen des Stammes Naftali beschrieben werden, meinen die Ausleger sogar, Teile dieser Angaben könnten aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert stammen. „Die Ortsliste 35–37 [sc. Jos 19,35–37] lässt sich ausnahmsweise datieren. Nur im 8. Jh. v.Chr., also von Joasch bzw. Jerobeam II. bis zur assyrischen Eroberung 733, existierten Kinneret und Hazor gleichzeitig als ‚befestigte Städte‘. Diese Überschrift könnte dem

67 FRITZ, Josua, S. 204: „Kedesch in Galiläa ist mit dem Kedesch von 12,22; 19,37 und 21,32 identisch und hat auf dem Tell Qedes im Norden des isolierten Siedlungsgebietes gelegen“ (Hervorhebung im Original). 68 DIETRICH, Das Josuabuch, S. 203f.

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Original-Dokument entstammen, sie findet sich nur in der historisch-geografischen Behandlung des Stammes Naftali.“69

Butler gibt zu bedenken, dass die Texte des Josuabuches grundsätzlich nicht (zu) schnell in die exilische bzw. nachexilische Zeit datiert werden sollten.70 Es ist also gut möglich, dass die Ortsliste Jos 19,35–37 ein hohes Alter aufweist, aber zu einer einigermaßen gesicherten Angabe, wann die Angabe „Galiläa“ Eingang in die Texte des Buches Josua gefunden hat, werden wir nicht kommen. Genauere Informationen über diesen Landstrich erhalten wir, wie gerade gesehen, ohnehin nicht. Im Duktus des Josuabuches werden die Stämme und ihr Siedlungsgebiet aufgezählt, die Erwähnung von Galiläa ist marginal, und es werden darüber hinaus kaum weitere Sachverhalte aufgezählt. 1.2.2 ‫ גָּ לִ יל‬im Buch der Chronik (1. Chronik 6,61) Der Abschnitt 1Chr 5,27–6,6671 ist für das Verständnis des ersten Teils dieses Werkes von besonderer Bedeutung. In den ersten 10 Kapiteln soll dargelegt werden, dass die wesentlichen Jerusalemer Institutionen des Tempels keine Neuerungen darstellen, sondern seit langem in der Geschichte des Volkes verankert sind. Auch wenn das Königtum in nachexilischer Zeit nicht mehr existiert, so stehen doch das Volk und der Tempel in der Traditionslinie eines

69 KNAUF, Josua, S. 167. Ähnlich, wenn auch in der Tendenz deutlich zurückhaltender, äußert sich FRITZ, Josua, S. 196: „Herkunft und Zeitstellung der Liste sind nicht zu ermitteln. Obwohl in der Provinzeinteilung Salomos 1 R 4,15 der achte Distrikt nach dem Stamm Naftali benannt wird, ist es keineswegs gesichert, daß die Ortsliste die Verhältnisse während der frühen Königszeit spiegelt. Eine Bestandsaufnahme der zum Stammesgebiet von Naftali gehörenden Orte ist auch im Verlauf der Geschichte des Nordreiches denkbar. Allerdings kann ein mögliches offizielles Dokument dann nur aus dem 8. Jh. stammen, da Kinneret während des 9. Jh. nicht bestanden hat.“ Zu Kinneret und seiner Siedlungsgeschichte s. jetzt: VOLKMAR FRITZ, Tell El-Oreme / Kinneret, in: Gabriele Faßbeck / Sandra Fortner / Andrea Rottloff / Jürgen Zangenberg (Hg.), Leben am See Gennesaret. Kulturgeschichtliche Entdeckungen in einer biblischen Region, Mainz 2003, S. 33–42. 70 So BUTLER, Joshua 13–24, WBC 7b, Grand Rapids 22014, S. 215–216. Er kommt bei der Diskussion der Städte für die Leviten (Jos 21) zu dem Schluss: „This present commentator finds no reason people of such late dates in Israel’s history would invent legal materials that so closely fit the sociological and cultural realities of early Israel“ (a.a.O., S. 215). 71 Thomas Willi rechnet die Verse 1Chr 7,1–5 noch mit zu diesem Abschnitt, da er die Ausführungen über Issachar eng an das bindet, was der Chronist über Levi zu sagen hat. „Die zentrale Einheit Israels … baut sich aber nicht nur aus Levi auf. Wenn in 7,1–5 Issachar an Levi, mit der er die Mutter Lea teilt, angeschlossen wird wie Simeon an Juda, dann stellt das unter Beweis, daß Levi ein Stamm Israels wie alle anderen ist“ (THOMAS WILLI, Chronik – 1. Chronik 1–10, BK XXIV/1, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 196, Hervorhebung im Original).

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Königs David. Daher wird in diesen ersten Kapiteln72 großer Wert auf die davidische Linie gelegt. Zugleich soll auch deutlich werden, welcher Wert den Leviten beim kultischen Dienst zukommt.73 Um die Bedeutung des Stammes Levi herauszustellen, werden in diesem Abschnitt ältere Vorlagen aufgegriffen und entsprechend umgearbeitet. In Kap. 6, besonders ist hier der Abschnitt 6,35 (bzw. 39)–66 mit der Landverheißung zu nennen, kann der Chronist auf Jos 21 zurückgreifen, wo ihm eine entsprechende Liste mit Ortsnamen vorlag. Daher gibt es einige Parallelen zu Jos 21, aber auch Abweichungen bei den einzelnen Namen. So haben einige Orte einen anderen Namen und es wird auch die Zahl der Asylstädte deutlich verändert (in den V 42 und 52 ist wahrscheinlich Singular zu lesen;74 dann bleiben nur zwei Asylstädte übrig: Hebron im Süden und Sichem im Gebirge Ephraim im Norden).75 In V. 61 wird dann wieder Kedesch in Galiläa erwähnt samt den Orten Hammon und Kirjatajim, die im Gebiet des Stammes Naftali liegen. Geht man mit der Mehrheit der Forscher aus, konnte die Chronik auf das Buch Josua zurückgreifen76 und hat den Ort „Kedesch in Galiläa“ unverändert übernommen. Da wir bereits beim Buch Josua kaum Informationen erhalten haben, welche Vorstellung mit der Verwendung des Begriffes Galiläa verbunden war, so ist das Ergebnis auch an dieser Stelle eher marginal. Es wird beim Leser der Eindruck vermittelt, dass das Gebiet Galiläa – wie schon im Buch Josua – eng mit dem Stammesgebiet von Naftali zusammenhängt; wei72 Georg Steins nennt sie eine „genealogische Vorhalle“ (GEORG STEINS, Die Bücher der Chronik, in: Zenger [Hg.], Einleitung, S. 313–331, S. 316). 73 S. dazu v.a.: WILLI, 1. Chronik 1–10, S. 196–210. Dort legt er dar, welche theologische Intention der Chronist mit diesem Abschnitt verfolgt. Er lege damit auch einen Grundstein für die spätere Entwicklung, dass das ganze Volk heilig ist und sich dementsprechend verhalten muss. „Die Chr und ihre Auffassung eines durch ‚Levi‘ geprägten Israel liefern die biblischen Voraussetzungen für die spätere Sicht, wonach das ganze jüdische Volk Heiligtumscharakter trägt. Die Anschauung ist besonders für die pharisäische Bewegung und das aus ihr hervorgehende rabbinische Judentum charakteristisch“ (WILLI, 1. Chronik 1–10, S. 201). 74 SARA JAPHET, 1. Chronik, HThKAT, Freiburg 2002, S. 165. 75 Zur ausführlicheren Begründung, warum hier der Singular zu lesen ist: WILLI, 1. Chronik 1–10, S. 195, oder auch JAPHET, 1. Chronik, S. 165f. 76 In der Forschung schwanken die Angaben darüber, wann das Werk der Chronik abgefasst worden ist. Neben wenigen Forschern, die für eine Frühdatierung plädieren, entscheiden sich die meisten Forscher für einen Zeitkorridor, der zwischen dem Ende der persischen und der hellenistischen Zeit liegt. So datiert man das Werk auf das späte vierte vorchristliche Jahrhundert (so u.a. Japhet und Willi) oder einfach „nicht vor dem 3.Jh.“ (STEINS, Die Bücher der Chronik, S. 327). Zur ausführlichen Darstellung der Datierungsvorschläge für die Bücher der Chronik s. STEINS, Die Bücher der Chronik, S. 322–327 und HANS PETER MATHYS, Chronik, in: Dietrich / Mathys / Römer / Smend, Entstehung des Alten Testaments, S. 586–594, hier S. 589–592.

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tere Informationen sind dem Text nicht zu entnehmen. Zudem, so die meisten Ausleger, stammen die meisten Texte der Chronikbücher aus später, also exilischer bzw. nachexilischer, Zeit und können auch deswegen kaum Aufschluss über konkrete historische Sachverhalte liefern. Dabei wird sicherlich damit zu rechnen sein, dass der Chronist Quellen verarbeitet und somit älteres Traditionsgut überliefert hat. Auf das Ganze gesehen dürfte das Werk in wesentlichen Teilen eher jüngeren Datums sein. 1.2.3 ‫ גָּ לִ יל‬in den Königebüchern (1. Könige 9,11; 2. Könige 15,29) Wie bei den Büchern der Chronik, so gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Modellen zur Entstehung des deuteronomistischen Geschichtswerks, dem die beiden Königebücher zugerechnet werden.77 Wir müssen damit rechnen, dass es über einen langen Zeitraum hinweg entstand, dabei aber auf Quellen zurückgreifen und diese einarbeiten konnte. „Insgesamt erweisen sich die Königebücher als echte Redaktionsarbeit. In einem festen Rahmen fügte man Texte ein, die vielfach in die vorexilische Zeit zurückreichen, aber auch lange nach dem Exil noch fortgeschrieben wurden.“78 In den beiden Büchern der Könige wird an zwei Stellen Galiläa verwendet. 1.2.3.1 1. Könige 9,11 In dem kurzen Abschnitt 9,10–14 wird erzählt, wie Salomo zur Hälfte seiner Regierungszeit als König, nachdem er den Auftrag zum Bau des Tempels erfüllt hatte und nachdem auch sein Haus fertiggestellt worden war, das kostbare Holz mit einer Abtretung von 20 Städten an Hiram von Tyrus bezahlte. Dass dieser Abschnitt als nicht einheitlich beurteilt wird79 und vermutlich bearbeitet worden ist, braucht für unsere Fragestellung nicht weiter vertieft zu werden. Wichtig hingegen ist die Einsicht, dass diesem Abschnitt mit hoher Wahrscheinlichkeit „amtliche Unterlagen“80 zugrunde lagen. Noth vermutete sogar ein Verzeichnis mit den Namen aller 20 Städte, die Salomo an Hiram übergab.81 Daher kann man Fritz folgen, der diese Verse formgeschichtlich nicht als Erzählung verstanden wissen will, sondern als Notizen, die an den

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S. dazu Anm. 66 mit den entsprechenden Literaturangaben. GEORG HENTSCHEL, Die Königsbücher, in: Zenger (Hg.), Einleitung, S. 301–312, S. 310. 79 So ERNST WÜRTHWEIN, Die Bücher der Könige – 1. Könige 1–16, ATD 11,1, Göttingen 21985, S. 106f; NOTH, Könige 1–16, S. 209; VOLKMAR FRITZ, Das erste Buch der Könige, ZBK AT 10,1, Zürich 1996, S. 101. 80 WÜRTHWEIN, 1. Könige 1–16, S. 107. 81 NOTH, Könige 1–16, S. 210. 78

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Tempelbaubericht angehängt worden seien.82 Damit haben wir, anders als bei den Stellen in Josua83 und Chronik, eine sehr alte Notiz, die in die frühe Königszeit zurückreichen könnte. Noth geht im Blick auf den Begriff „Galil“ davon aus, dass die Stelle in 1Kön 9,11 „das älteste literarische Vorkommen“84 dieses Ausdrucks ist. Was können wir diesem Text entnehmen? Zunächst einmal wird festgehalten, dass Salomo seine Schulden bei Hiram von Tyrus dadurch beglich, dass er ein Gebiet an ihn abtrat. Ein Gebiet, das zunächst unter der Herrschaft Salomos stand, wurde einem anderen Herrscher übereignet. Dabei kann offenbleiben, ob sich dieser Vorgang tatsächlich so ereignet hat oder ob der Redaktor mit dem Hinweis auf die scheinbar „wertlosen“ Städte Salomo in Schutz nehmen wollte.85 Ebenfalls kann der Blick auf die Parallele in 2Chr 8,1–2 bei unserer Fragestellung unterbleiben, auch wenn dort geschildert wird, dass Hiram 20 Städte an Salomo abtrat!86 Weiterhin ist festzustellen, dass dieses Gebiet mit 20 Städten in der Landschaft „Galil“ liegt, welches auch mit dem Namen „Land Kabul“ bezeichnet wird (1Kön 9,13). Wenn damit die Stadt gemeint ist, die etwa 15 km entfernt von Akko liegt,87 so sind vermutlich die anderen 19 Orte in unmittelbarer Nachbarschaft von Kabul zu suchen. Dieses wird heute meist angenommen. „Immerhin ist mit Kabul ein Anhaltspunkt für die Lage der 20 Orte gegeben, auf die Salomo verzichtet hat; vermutlich haben sie am Westrand des galiläischen Gebirges gelegen. Im Vergleich zu den Städten in der fruchtbaren Ebene hat es sich vermutlich eher um kleinere Ortschaften gehandelt, deren Besitz Hiram im Blick auf die wirtschaftliche Bedeutung nicht befriedigen konnte. Mit dem Hinweis auf das Mißfallen Hirams über das ‚Land Kabul‘ soll Salomo entschuldigt werden: Zwar hat er israelitisches Siedlungsgebiet an 82

FRITZ, 1. Könige, S. 101. Bei Josua ist aber auch damit zu rechnen, dass auch hier eine ältere Notiz bewahrt wurde; in 1Kön 10 scheint diese Wahrwahrscheinlichkeit aber deutlich höher zu sein. 84 NOTH, Könige 1–16, S. 210. 85 So z.B. WÜRTHWEIN, 1. Könige 1–16, S. 107; ALBRECHT ALT, Israels Gaue unter Salomo, in: ders. (Hg.), Alttestamentliche Studien Rudolf Kittel zum 60. Geburtstag dargebracht, Leipzig 1913, S. 1-19, jetzt in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 2, München21959, S. 76–89, S. 84. 86 Zu dieser Stelle mit einer eingehenden Diskussion der Problematik und einer Darstellung der abweichenden Meinungen der Ausleger: RALPH W. KLEIN, 2 Chronicles, Hermeneia, Minneapolis 2012, S. 119f; SARA JAPHET, 2. Chronik, HThKAT, Freiburg 2003, S. 109. Sie erwägt zwar die Möglichkeit, dass die Version in 2Chr eine Ergänzung und nicht eine Korrektur des Berichtes aus 1Kön ist. Dann hätte es sich um eine Art „Gebietstausch“ zwischen den beiden Königen gehandelt. Letztlich resümiert sie dann: „Die Plazierung dieser Information im Kontext sowie das Verhältnis zwischen Salomo und Hiram, wie es der Chronist darstellt, sprechen allerdings eher dafür, daß dieser Abschnitt als Ersatz der Parallelstelle in 1 Kön dienen sollte und nicht als Ergänzung“ (ebd.). 87 Fritz hält fest, dass Kabul in der Nähe des heutigen arabischen Dorfes gleichen Namens liegt; man kann es aber nicht exakt lokalisieren (FRITZ, 1. Könige, S. 102). 83

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einen fremden Herrscher abgetreten, aber es handelt sich sozusagen um minderwertige Orte, auf die Salomo verzichten konnte.“88

Weiter stellt sich die literarkritische Frage, ob die Angabe „Kabul“ erst nachträglich hinzugefügt worden ist oder ursprünglicher Bestandteil des Textes war. Noth konstatiert: „Mit einem Hinweis auf 12.13 [sc. 1Kön 9,12.13], wo das Land Kabul (=kābūl 15 km osö von Akko) mit dem Gebiet der in 11b bezeichneten Städte identifiziert wird, kann diese Frage nicht beantwortet werden, da 12.13 als späterer Zusatz zu beurteilen ist, der nicht sicher eine sachliche Kenntnis von dem durch Salomo abgetretenen Gebiet gehabt hat.“89

Für Noth folgt daraus, dass dieses Gebiet rund um diese Stadt und damit relativ nahe an der Mittelmeerküste eben nicht mit dem „galil“ zu identifizieren ist. Er geht vielmehr davon aus, dass der Gebrauch in 2Kön 15,29 durch die enge Verbindung mit Naftali eher auf das „östliche Obergaliläa“ verweist und damit auf den „Rand des israelitischen Siedlungsgebietes“.90 Doch es liegt nicht nahe, den Hinweis auf Kabul als späteren redaktionellen Zusatz zu bewerten. Der Zusammenhang lässt erkennen, dass Hiram wegen der offensichtlich fehlenden Qualität der Städte, die Salomo ihm überließ, irritiert war. Wenn es sich um Ortschaften handelte, die sich im Westen des (heutigen) Galiläa befanden, so waren es solche, die im beginnenden Bergland eher karge Böden hatten und aus diesem Grund wirtschaftlich eher uninteressant erscheinen mussten. Zudem weist Fritz darauf hin, dass Grabungen in unmittelbarer Nähe zu Kabul den Schluss nahelegen, dass hier im 10. und 9. Jahrhundert eine phönizische Festung war.91 Es scheint also eher so gewesen zu sein, dass Salomo Gebiete mit den darauf befindlichen Dörfern und Städten an Hiram abtrat, die sich im äußersten Westen des „Galil“ befanden. Wenn das zutrifft, dann haben wir einen Hinweis auf die Landschaft, die „Galil“ genannt wird; sie dehnt sich bis nahe an die Mittelmeerküste aus, ohne dass der Küstenstreifen selbst dazugehören würde; im Osten reicht das Gebiet bis an den See Gennesaret und an den Jordan. 1.2.3.2 2. Könige 15,29 In dem Abschnitt 2Kön 15,8–31 werden in aller Kürze fünf Könige Israels geschildert, die auf Jerobeam II. folgen. Nach einem Blick auf die Könige von Juda, Jotam und Ahas (15,32–16,20), wird dann etwas ausführlicher (17,1–6) vom letzten König des Nordreiches, Hosea, erzählt. Einzelheiten 88

FRITZ, 1. Könige, S. 102. NOTH, Könige 1–16, S. 210. 90 NOTH, Könige 1–16, S. 211. 91 FRITZ, 1. Könige, S. 102. 89

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

zum Leben der Könige finden wir nicht, nur das Wesentliche wird herausgearbeitet, dass alle Könige „böse waren in den Augen des Herrn.“92 In 15,27– 31 rückt Pekach in den Mittelpunkt, nachdem zwei Verse vorher sein Aufstand und der Mord an seinem Vorgänger Pekachja berichtet wurde. Da die Schilderungen kurz und knapp ausfallen sowie einen relativ einheitlichen Aufbau haben, wird vermutet, dass hier alte Quellen verarbeitet worden sind. Dieses spräche für eine frühe Phase der Verschriftung der Königebücher. Man bekomme in diesen Versen einen guten Eindruck davon, wie die deuteronomistische Grundschrift (DtrG) ursprünglich gestaltet gewesen sein könnte, so Würthwein.93 Wir haben es also vermutlich mit einem alten Traditionsstück zu tun, das kaum oder wenig von einer redaktionellen Arbeit gestaltet worden ist. Dennoch meint Würthwein, dass in Kap. 15,29 bei den Ortsangaben sowohl der Hinweis auf „Gilead und Galiläa“ sekundär ist wie auch die (offenbar zu einem noch späteren Zeitpunkt erfolgte) Hinzufügung von „das ganze Land Naftali“. Der Grund sei in den mehreren Etappen zu suchen, in denen der assyrische König das Land eroberte und es sukzessiv zu Provinzen seines Landes machte. „V. 29 gibt also in seiner heutigen, allmählich gewachsenen Gestalt summarisch das unter Pekach Verlorene, ohne es auf die verschiedenen Feldzüge zu verteilen.“94 Etwas anders urteilt Noth, der nur den Hinweis auf Naftali als sekundäre Ergänzung ansehen möchte. Insgesamt sei diese Notiz „wohl aus dem 8.Jh. v.Chr.“95 Mit dem Hinweis auf die Parallelstellen im Buch Josua und 1. Chronik, wo ja an drei Stellen der Hinweis auf Naftali erfolgte, geht er vermutlich davon aus, dass dieses deuteronomistischer Sprachgebrauch sei und demnach ein Hinweis auf eine spätere Hinzufügung. Zunächst ist zu fragen, ob eine solche literarkritische Scheidung wirklich wahrscheinlich ist. Könnte es nicht auch sein, dass gerade der Hinweis auf den Stamm Naftali auf eine sehr frühe Zeit verweist? Wir hatten ja gesehen, dass offensichtlich der Stammesname älter als die Bezeichnung Galiläa ist. Nun wird gelegentlich eingewendet, mit der Einteilung in 12 Stämme hätte man in späterer Zeit eine Verteilung des verheißenen Landes in idealtypischer Weise in frühere Zeiten zurückprojiziert, die Vorstellung mit den damit verbundenen theologischen Implikationen an sich sei aber erst für eine spätere

92

Nach Elberfelder Übersetzung. WÜRTHWEIN, 1. Könige 17 – 2. Könige 25, S. 377. 94 WÜRTHWEIN, 1. Könige 17 – 2. Könige 25, S. 384. 95 NOTH, Könige 1–16, S. 210. 93

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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Zeit anzunehmen.96 Ein Abschnitt in 1Kön 4 mag helfen zu klären, ob der Name Naftali für ein hohes Alter sprechen kann. In 1Kön 4,7–1697 haben wir eine Liste mit Provinzen und deren Gouverneuren überliefert. Es wird berichtet, wie Salomo eine Reform durchführte und neue Provinzen in Israel einführte und diese mit entsprechenden Verwaltern versah.98 Diese Neuordnung scheint der Notwendigkeit geschuldet, ein durch Eroberungen größer gewordenes Land besser und vor allem effektiver zu verwalten.99 Es gibt eine Reihe von Gründen, die auf ein hohes Alter dieser Liste hindeuten. Zum einen haben wir eine nüchterne Aufzählung von Gebieten und Namen der jeweiligen Verwalter; es sind kaum erläuternde Zusätze zu erkennen, die auf eine spätere Entstehung hindeuten könnten. Zum anderen fällt bei der Nennung der Gouverneure auf, dass einige nicht mit ihrem Namen genannt werden, sondern einfach nur als „Sohn von X“ bezeichnet werden. Die Erklärung, es könnte sich um unvollständige Texte handeln,100 ergibt wenig Sinn, da der Text ansonsten einen geschlossenen Eindruck vermittelt und keine weiteren textlichen Schwierigkeiten bietet. Alt hat in einem Aufsatz darauf hingewiesen, dass es in Kanaan (bzw. für Ugarit kann es nachgewiesen werden) üblich war, königliche Beamte auf diese Weise zu titulieren.101 Salomo hat offensichtlich eine in der damaligen Umwelt gängige und nachweisbare Praxis für seine Neustrukturierung Israels als „kanaanitisches Kulturerbe“102 übernommen. Auch dieses verweist in die frühe 96 Eine gute Einführung in die Problemstellung der Landnahme bietet jetzt: CHRISTIAN FREVEL, Geschichte Israels, Studienbücher Theologie 2, Stuttgart 2016, S. 87–92. Ebenfalls zu beachten ist die Untersuchung von William Dever (WILLIAM G. DEVER, Who Were The Early Israelites and Where Did They Come From?, Grand Rapids 2003). 97 Eigentlich könnte man auch die ersten Verse des Kapitels mit hinzunehmen, da diese ebenfalls eine Liste bilden, die uns über eine Veränderung bzw. Erweiterung des Beamtenapparates unter Salomo informiert. Auch diese Liste kann ein hohes Alter beanspruchen. Der Einfachheit halber konzentriere ich mich auf die Verse 7–16. 98 Immer noch grundlegend zu dieser Fragestellung: ALBRECHT ALT, Israels Gaue unter Salomo, S. 76–89. 99 So z.B. Herders Neuer Bibelatlas, S. 136: „Durch diese Einrichtung sollte das Land wesentlich besser kontrolliert werden.“ 100 WÜRTHWEIN, 1. Könige 1–16, S. 44: „Man hat dies früher so zu erklären versucht, daß die Liste dem Verfasser, der sie in die Geschichte Salomos aufnahm, in beschädigtem Zustand vorlag, so daß die am rechten Rand stehenden Namen nicht mehr lesbar waren.“ Er selbst weist dieses zurück und schließt sich den Ausführungen Alts an. 101 ALBRECHT ALT, Menschen ohne Namen, Archiv Orientálni 18 (1950), S. 9–24, jetzt in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 3, hg. von Martin Noth, München 1959, S. 199–213. 102 WALTER DIETRICH, Die frühe Königszeit in Israel, Biblische Enzyklopädie 3, Stuttgart 1997, S. 173. Er schließt sich dieser Deutung von Alt ebenso an wie Würthwein (1. Könige 1–16, S. 44f), und beide gehen davon aus, dass hier nicht nur eine Praxis der

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Königszeit und kann als spätere Ergänzung kaum erklärt werden. Des Weiteren kann man noch auf die 12 Provinzen selbst verweisen, die sich alle im „Nordreich“103 befanden. Juda wird nicht erwähnt, vermutlich deshalb, weil dieser anders als die Stämme im Norden nicht zur Unterstützung des Königshauses herangezogen wurde. Kann man daraus schließen, dass das Südreich Juda von dieser Neuordnung gar nicht betroffen war, weil es bevorzugt behandelt wurde?104 Es ist zumindest so, dass wenige Kapitel später von einem Aufstand Israels gegen Juda berichtet wird, da man nicht mehr bereit war, die hohen Abgaben, die von Salomo einst gefordert wurden, nach Jerusalem zu senden (1Kön 12,4f). Es zeigt sich ein tiefes Zerwürfnis zwischen den beiden Landesteilen, das letzten Endes kurz darauf in die Teilung mündete. Es spiegeln sich in diesem Text also Erfahrungen, die deutlich in eine frühe Zeit verweisen und bei einer späteren Redaktion kaum verständlich erscheinen. Zuletzt kann man darauf verweisen, dass die einzelnen Provinzen nicht einheitlich benannt werden. Teilweise werden die Städte herausgehoben, die in diesem Gebiet liegen, bei anderen wird der Stammesname verwendet105 und einige werden eher nach geografisch-topografischen Erwägungen bezeichnet. Es ist also kein einheitliches „Konzept“ zu erkennen, was deutlich gegen eine spätere redaktionelle Überarbeitung spricht, da dann ein übergeordnetes Schema zu erwarten gewesen wäre. Diese Gründe lassen es wahrscheinlich werden, dass die uns vorliegende Liste in ihrem Grundbestand aus frühköniglicher Zeit stammt. So werden hier Ernennung übernommen wird, sondern dass Salomo auch „kanaanitische Gaue“ mit kanaanitischen Beamten einrichtet. Dietrich formuliert etwas anders und meint, dass diese „Männer ohne Namen“ in den „kanaanitisch dominierten Provinzen Dienst taten“ (DIETRICH, a.a.O., S. 174). Bei vier der fünf Provinzen mag das auch zutreffen, da sie sich im Grenzbereich zu den kanaanitischen Nachbarn befinden, aber für die erstgenannte Provinz (Gebirge Ephraims) trifft das eben nicht zu, was Würthwein auch selbst anmerkt (a.a.O., S. 44). Gerade aber dieser ersten zentralen Provinz kommt eine erhebliche Bedeutung zu. Sie kann nicht als „kanaanitisch dominiert“ verstanden werden, sodass dieser Deutung nicht der Vorzug zu geben ist. Es ist eher davon auszugehen, dass Vertraute aus dem Umfeld Salomos (es werden zwei Schwiegersöhne in 1Kön 4,11.15 erwähnt) eingesetzt werden. Dass einige der neu eingerichteten Provinzen auch in kanaanitisches Gebiet hineinragten, dürfte davon unbenommen sein. 103 Es ist sicherlich anachronistisch, an dieser Stelle bereits von „Nord- bzw. Südreich“ zu sprechen, da die Teilung des Landes erst später unter Jerobeam bzw. Rehabeam erfolgte. Da aber so deutlicher wird, um welche Gebiete es sich handelt, soll diese Begrifflichkeit an dieser Stelle Verwendung finden. 104 WÜRTHWEIN, 1. Könige 1–16, S. 45. 105 Die meisten Ausleger gehen davon aus, dass in 4,19 mit der LXX „Gad“ statt „Gilead“ zu lesen sei, s. dazu die Kommentare von Würthwein (1. Könige 1–16, S. 42) und Noth (Könige 1–16, S. 58). Dann würden fünf Stämme namentlich erwähnt. Ein sechster „Ephraim“ wird mit dem Ausdruck „Gebirge“ verbunden.

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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im Blick auf unsere Fragestellung drei Stämme im Bereich des Nordens genannt, die (in Teilen) das spätere Galiläa ausmachen: Issachar, Ascher und vor allem Naftali. Man kann davon ausgehen, dass man in früher Zeit diese Bezeichnungen verwendete. Ob man dieses auch für die Zeit vor 1000 v.Chr. annehmen kann, muss an dieser Stelle offenbleiben; aber in der frühen Königszeit wurde der Stammesname wahrscheinlich verwendet. Es muss noch abschließend darauf hingewiesen werden, dass der vierte Name für das Gebiet des späteren Galiläa, Sebulon, nicht genannt wird. Noth widmet sich ausführlich dieser Fragestellung und diskutiert verschiedene Lösungsansätze, die aber z.T. mit Eingriffen in den Text operieren, und kommt zu dem Schluss, dass es keine wirklich befriedigende Lösung dieses Problems gibt.106 1.2.3.3 Zusammenfassung Bevor wir uns dem letzten und für die neutestamentliche Fragestellung wichtigsten Vers in Jes 8,23 zuwenden, sollen die wichtigsten Ergebnisse festgehalten werden. Das Wort ‫ גָּ לִ יל‬wird nur an wenigen Stellen im AT verwendet. Es wird damit eine Landschaft bezeichnet, deren genaue Lage und Größe wir heute nicht mehr rekonstruieren können. Das Kerngebiet lag nahe des Sees Gennesaret und zugleich westlich des Jordans. Es reichte vermutlich bis knapp über den Ḥule-See im Norden; gen Westen dürfte die Stadt „Kabul“ die Grenze sein. Der Küstenstreifen hingegen war vermutlich eher kanaanitisches Gebiet. Es ist auffallend, dass meist bei der Verwendung des Namens ‫ גָּ לִ יל‬der Stammesname Naftali hinzutrat. Dieser wird wesentlich häufiger im AT genannt und ist damit auch dem Leser eher als Nordstamm bekannt. Es ist daher anzunehmen, dass Naftali als erklärender Zusatz, als Erläuterung für den offenbar weniger bekannten Begriff ‫ גָּ לִ יל‬zu verstehen ist, auch wenn beide Gebiete nicht deckungsgleich sind. Dazu müsste man Teile anderer Stammesgebiete hinzufügen. Da aber Naftali nahezu vollständig im Gebiet des „Galil“ gelegen haben dürfte, bot sich dieser Name für eine Identifizierung des ‫ גָּ לִ יל‬an. Die Vorstellung der Stammesgebiete dürfte damit älter als die Bezeichnung ‫גָּ לִ יל‬ sein, da diese nie alleine steht (bis auf 1Kön 9,11) und sonst kaum Verwendung findet. Zudem ist es ratsam, sich von der Vorstellung einer klaren Grenzziehung zu verabschieden, da man sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht an Wegmarken, sondern eher an topografischen Gegebenheiten orientiert haben dürfte (Täler, Flussverläufe etc.). Man hat offenbar ‫ גָּ לִ יל‬in Verbindung mit „Naftali“ als ein Gebiet im Norden identifiziert, das zugleich 106

NOTH, Könige 1–16, S. 73f.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

auch die Grenze des Landes Israel markierte, also im Sinne einer nördlichen Grenzregion verstanden wurde. 1.2.4 Jesaja 8,23–9,6 Es wird schnell deutlich, dass der Stelle aus dem alttestamentlichen Prophetenbuch Jesaja für unsere Fragestellung eine wichtige Rolle zukommt. Zum einen wird die Stelle in Mt 4,15 zitiert, und zum anderen ist es der einzige Beleg im masoretischen Text für die Wendung ‫גְּ לִ יל ַה גּוֹ ִי ם‬. Daher sollen diese Verse (wobei der Schwerpunkt auf 8,23b liegen wird) an dieser Stelle eingehender untersucht werden. 1.2.4.1 Jesaja 8,23–9,6 im Kontext der Kapitel 1–12107 Es war am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts lange üblich, das Buch Jesaja in Proto- (Kap. 1–39), Deutero- (Kap. 40–55) und Tritojesaja (Kap. 56–66) zu unterteilen.108 Damit verbunden war die Überlegung, dass diese Abschnitte relativ einheitlich geprägt sind und keine weiteren Entwicklungsprozesse durchlaufen haben. In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung aber mehr und mehr gezeigt, dass die jeweiligen „Bücher“ über einen längeren Zeitraum hinweg erweitert und bearbeitet wurden. Das gilt insbesondere für Protojesaja, bei dem heute angenommen wird, dass über mehrere Jahrhunderte hinweg an diesem Werk gearbeitet wurde. Ein Konsens, welche Teile auf die historische Person des Propheten zurückgehen und welche Abschnitte bzw. Verse und Satzteile späteren Redaktoren zugeschrieben werden können, ist dabei nicht erkennbar. Im Gegenteil, neben der „Minimalposition“, das nur wenige Sätze dem Propheten Jesaja zugeschrieben werden können (neben 8,1.3f.16 handelt es sich vor allem um den Abschnitt 6,1–8) gibt es einige Forscher, die größere Abschnitte mit dem Wirken des Propheten Jesaja im achten Jahrhundert v.Chr. in Verbindung bringen.109 Mehrheitlich

107 Einen aktuellen Forschungsüberblick mit z.T. ausführlicher Bibliografie samt einer Einführung in das Prophetenbuch bieten u.a.: HANS-WINFRIED JÜNGLING, Das Buch Jesaja, in: Zenger (Hg.), Einleitung, S. 521–547; WALTER DIETRICH, Das Jesajabuch, in: Dietrich / Mathys / Römer / Smend, Entstehung des Alten Testaments, S. 300–334; ULRICH BERGES / WILLEM BEUKEN, Das Buch Jesaja. Eine Einführung, UTB 4647, Göttingen 2016; KONRAD SCHMID, Art. Jesaja / Jesajabuch, RGG4 4, Sp. 451–456; PETER HÖFFKEN, Jesaja. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2004. Ganz grundlegend für die Fragen der literarischen Schichtung und der Endgestalt des Jesajabuches ist die Studie von Ulrich Berges (ULRICH BERGES, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt, HBS 16, Freiburg 1998). 108 BERGES / BEUKEN, Jesaja, S. 13–14. 109 JÜNGLING, Das Buch Jesaja, S. 536.

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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geht man heute davon aus, dass sich in einigen Abschnitten die Erfahrung des syrisch-ephraimitischen Krieges (734–732 v.Chr.) sowie die Eroberung weiter Teile des Nordens durch die Assyrer (732 bzw. 722 v.Chr.) spiegeln.110 Im Blick auf die Gliederung von Jes 1–39 besteht weitgehender Konsens, dass die ersten 12 Kapitel eine Einheit bilden.111 Diese Einheit sei aber erst nach einem längeren Prozess erreicht worden, die ältesten Teile bilden die Abschnitte 1,21–26; 2,12–17 sowie der längere Abschnitt 6,1–8,18. Dieser war bereits von Karl Budde (dort allerdings noch in der Abgrenzung von Kap. 6,1–9,6) als eine zusammenhängende „Denkschrift“ tituliert worden, die von Jesaja selbst nach dem syrisch-ephraimitischen Krieg für seine Jünger verfasst worden sei.112 Die Annahme einer solchen Denkschrift wurde breit rezipiert, wobei der jeweilige Grundbestand, der auf Jesaja selbst zurückgeht, sehr unterschiedlich bestimmt worden ist. Es wurden aber auch Stimmen laut, die ganz grundsätzlich eine Aufgabe der These forderten,113 zudem meldeten sich Forscher zu Wort, die zwar prinzipiell an einer solchen Grundschrift festhielten, aber davon ausgingen, dass es keine direkte Verbindung zum Wirken eines Jesaja im achten Jahrhundert v.Chr. gebe.114 Die Verfasser von Protojesaja hätten „unter dem Einfluß der deuteronomistischen Theologie“ gestanden.115 In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die an der Existenz einer „Denkschrift“116 festhalten, auch wenn nicht mit Sicherheit geklärt werden kann, welche Teile von Kap. 6,1–8,18 auf den Propheten Jesaja zurückgehen. Diese Verse bildeten aber das Grundgerüst, an das sich nach und nach weitere Teile anschlossen. Es muss aber festgehalten werden, dass die Frage einer Denkschrift einer „der kontroversesten Probleme der Jesajaforschung“ darstellt.117 Für einen Teil der neueren Forschung ist exemplarisch

110

S. dazu die grafische Übersicht von Berges, wo er den jeweiligen Abschnitten die (vermutete) Entstehungszeit zuordnet (BERGES, Das Buch Jesaja, S. 548–550). 111 Dieses wird u.a. schlüssig und prägnant bei Berges und Beuken begründet (BERGES / BEUKEN, Jesaja, S. 50–51). Zum Aufbau von Protojesaja s. JÜNGLING, Das Buch Jesaja, S. 523–530. 112 S. dazu: JÖRG BARTHEL, Prophetenwort und Geschichte. Die Jesajaüberlieferung in Jes 6–8 und 28–31, FAT 19, Tübingen 1997, S. 37–43. 113 Barthel weist in diesem Zusammenhang vor allem auf Henning Graf Reventlow hin (BARTHEL, Prophetenwort, S. 39). 114 Einer der prominentesten Vertreter ist Otto Kaiser, der seine Sicht in einem allgemein verständlichen Kommentar darlegte (OTTO KAISER, Das Buch des Propheten Jesaja, Kap. 1–12, ATD 17, Göttingen 51981, S. 19–27.117). 115 KAISER, Jesaja 1–12, S. 20. 116 Die Begrifflichkeit ist an dieser Stelle nicht einheitlich. Neben „Denkschrift“ finden wir auch die Begriffe „Grundschrift“ und „Immanuelsschrift“. 117 SCHMID, Art. Jesaja / Jesajabuch, Sp. 454.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

auf den Kommentar von Willem Beuken hinzuweisen. 118 Er nimmt an, dass Protojesaja im Wesentlichen zwei Sammlungen von Orakelsprüchen zugrundeliegen, die in den Kapiteln 1–12 sowie in dem Abschnitt 28–32 zu finden sind.119 Für den ersten Teil von Jesaja greift er die These einer Grundschrift auf, die er allerdings „Immanuelsschrift“ nennt, die sich von 6,1 bis 8,18 erstreckt; es sei eine „Komposition aus ursprünglichen Einzelüberlieferungen.“120 Diese Immanuelsschrift sei zwar mehrfach überarbeitet, in ihrer Grundstruktur aber nicht mehr entscheidend verändert worden. In einem weiteren Schritt wurde diese Immanuelsschrift dann durch Kapitel 5 und 8,19–9,6 erweitert, d.h. um die Grundschrift wurde zu einer späteren Zeit ein erster Kreis gelegt.121 Dabei konnten die Redaktoren auch auf Material zurückgreifen, das von dem Propheten selbst oder aus seinem unmittelbaren Umfeld stammte.122 Damit würde auch Jes 8,23–9,6 (und somit die Aussage von dem Galiläa der Heiden) zu dieser Erweiterung gehören, die relativ bald an die Denkschrift angefügt wurde. Diese Erweiterung könne mit der Zeit des Josia verbunden werden, wenn auch die endgültige Redaktion „nachexilischen Schreiberschulen“ zu verdanken sei.123 Damit greift Beuken, wie andere Forscher auch, die These von Hermann Barth auf, die der Forschung viele Impulse vermittelt hat.124 Barth geht davon aus, dass bestimmte Texte, in denen die Großmacht Assur im Hintergrund steht, zur Zeit des Königs Josia entscheidend redigiert wurden. Er schlug dafür die Zeit um bzw. kurz nach 610 v.Chr. vor. Im Blick auf unseren Abschnitt kommt er zu dem Ergebnis: „Für die Datierung von Jes 8,23b und somit von 8,23b–9,6 im ganzen ergibt sich aus der vorgelegten Interpretation des Verses und unter Berücksichtigung des Ergebnisses unserer Analyse zu den Zeitebenen des Textes ein wichtiger Fixpunkt: terminus a quo ist der Ab-

118

WILLEM A. BEUKEN, Jesaja 1–12, HThKAT, Freiburg 2003. BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 30. 120 Ebd., s. dazu auch: BERGES / BEUKEN, Jesaja, S. 59. Dort legen die Autoren dar, dass die Immanuelsschrift aus drei Szenen bestehe: 6,1–13, 7,1–25 und 8,1–18. Dieses Grundgerüst nennen sie „Triptychon“, das in späterer Zeit von einem zweifachen Rahmen umgeben wurde. 121 Damit kommt er zu einem ähnlichen Ergebnis wie Barthel. Er geht von einer sorgfältigen Komposition von Jes 2–12 aus, die ihren Kristallisationspunkt in der Denkschrift des Jesaja habe (BARTHEL, Prophetenwort, S. 56). 122 BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 31. 123 BEUKEN Jesaja 1–12, S. 32. 124 HERMANN BARTH, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung, WMANT 48, NeukirchenVluyn 1977. 119

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

31

zug der Assyrer aus dem besetzten nördlichen Westjordanland im letzten Drittel des 7. Jh.s.“125

Diese These fand weite Beachtung und wurde im Laufe der Zeit weiter modifiziert und ergänzt.126 Es besteht also z.Zt. ein weitgehender Konsens, dass die Denkschrift die Kapitel 6,1–8,18 umfasst, an die relativ bald, d.h. noch in vorexilischer Zeit, der Abschnitt 8,23–9,6 angefügt wurde. Dieser gehört somit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu den ältesten Teilen des Jesajabuches. Bevor der Vers 8,23 eingehender untersucht wird, ist noch auf zwei weitere Sachverhalte hinzuweisen. So hatte einerseits einige Jahre vor Beuken Hans Wildberger in seiner Auslegung festgehalten, dass der gesamte Abschnitt in seinem Grundbestand auf das Wirken des Propheten im achten vorchristlichen Jahrhundert zurückzuführen sei. „Man wird also mit Alt anzunehmen haben, daß Jesaja die Befreiung der von TiglathPileser unterworfenen Gebiete des Nordreiches ankündet … Bei der Anteilnahme, die man in Jerusalem am Geschick des Nordreiches nahm, hat sein Gebietsverlust zweifellos tiefste Bestürzung ausgelöst. 8,23ab-9,6 ist das Wort, das Jesaja in diese Situation hineingesprochen hat.“127

Zweierlei ist an diesen Ausführungen bemerkenswert. Zum einen wird, und das wird auch bei anderen Kommentaren ebenso gesehen, das Wort in 8,23– 9,6 mit den Ereignissen rund um den assyrischen König (bzw. Könige) in Verbindung gebracht. Deshalb müssen diese Ereignisse genauer betrachtet werden um herauszufinden, in welche konkrete historische Situation diese Worte gesprochen wurden bzw. mit welchen historischen Ereignissen sie verbunden werden. Zum anderen deutet Wildberger an, dass die Erfahrung, die die Menschen im Nordreich gemacht hatten, einen tiefen, vielleicht sogar traumatischen, Eindruck bei den Zeitgenossen im Südreich hinterlassen hat. Über alle Differenzen hinweg war man nach der sog. Reichsteilung dennoch miteinander verbunden, und die Eroberung weiter Teile des sog. Nordreiches, die Tötung vieler Menschen und die Zerstörung vieler Städte und Dörfer müssen im Süden Befürchtungen und Ängste ausgelöst haben, ihnen könne ein ähnliches Schicksal drohen. Es ist auch das Wissen darum, dass Jahwe mit ihnen eine besondere Geschichte hat, das zunehmend von der Angst überlagert wird, diese könne durch die Bedrohung durch die Assyrer zu einem 125 BARTH, Jesaja-Worte, S. 166. Diese zunächst noch etwas ungenaue Datierung wird im Lauf der Untersuchung dahingehend präzisiert, dass diese wohl für den „Anfang des vorletzten Jahrzehnts des 7. Jh.s.“ anzusetzen sei (BARTH, Jesaja Worte, S. 260). 126 JÜNGLING, Das Buch Jesaja, S. 538, s. auch: BARTHEL, Prophetenwort, S. 60. Barthel schließt sich weitgehend „der sorgfältig begründeten These von H. Barth“ an (ebd.). 127 WILDBERGER, Jesaja 1–12, BK X/1, Neukirchen-Vluyn 21980, S. 371.

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Ende gekommen sein. Wir werden diese Fragestellung später noch einmal in den Blick nehmen und fragen, welche Informationen uns die Ergebnisse der Archäologie im Blick auf die Eroberung des Nordreiches durch die Assyrer um 732 bzw. 722 v.Chr. geben und welche Konsequenzen dieses für die Menschen in Juda hatte. Der zweite Sachverhalt betrifft die Beobachtungen, die der Alttestamentler Joseph Blenkinsopp zu dem Abschnitt 8,23–9,6 gemacht hat. Er rechnet in seinem Kommentar zu Protojesaja ebenfalls damit, dass der Schrift Worte des Propheten zugrundeliegen. Diese Worte seien dann in späteren und anderen Situationen neu gehört, verstanden und damit auch aktualisiert worden. Er nennt diesen Prozess „serial interpretation“.128 Man könne eine Stufe der Überarbeitung der Texte mit der Zeit des Königs Josia verbinden, auch wenn letzte Sicherheit im Blick auf die Frage, welche Texte nun genau dieser Redaktionsschicht zuzuweisen sind, nicht zu erreichen ist.129 Bei den Versen Jes 8,23–9,1 kommt er aber zu einer bemerkenswert anderen Akzentuierung als die meisten anderen Ausleger. Blenkinsopp geht davon aus, dass der Grundbestand des Dankliedes auf das achte vorchristliche Jahrhundert zu datieren sei. Der Prophet beschreibe nicht die Hoffnung auf die Geburt eines Nachkommen des Königs David, sondern blicke auf die Geburt des Königs Hiskia, mit dem sich die Hoffnung auf Anbruch besserer Zeiten verbinde. Es sei die Sprache des Liedes, die in diese Zeit verweise. „The language imitates the oratorical and declamatory style of the court and corresponds to aspiration rather than political and military reality. Since, after what has been said about him to date we can scarely suppose the poet is referring to Ahaz (as argued by Hayes and Irvine 1987, 176–84), the only remaining candidate would be Hezekiah.“130

Einer der wichtigsten Gründe bei dieser Argumentation ist die Aufzählung der geografischen Gebiete in 8,23. Es sei auffällig, dass offenbar nicht das gesamte Nordreich erobert worden ist, so fehle der Hinweis auf das Gebiet rund um Samaria. Damit setze der Text eine Situation voraus, die nach 732 und vor 722 v.Chr. anzusetzen sei. Dementsprechend deutet Blenkinsopp auch die beiden Zeilen in 8,23b anders, als man es normalerweise bei den Exegeten findet. Er übersetzt: „At that time the earlier ruler treated with contempt the territory of Sebulon and Naphtali, and the later one oppressed the way of the sea, the land across the Jordan, Galilee of the nations.”131 Nach seiner Auffassung blickt der Prophet mit beiden Aussagen auf Ereignisse im Leben des Volkes zurück. Damit grenzt sich Blenkinsopp deutlich von den 128

JOSEPH BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, AB 19, New York u.a. 2000, S. 91. BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 91f. 130 BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 249. 131 BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 245. 129

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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meisten anderen Forschern ab, die das Verb im ersten Teil von 8,23b mit einem Vergangenheitstempus übersetzen, während der zweite Teil futurisch und damit als Gegensatz verstanden wird. Nach diesem Verständnis, so Blenkinsopp, handele es sich vermutlich um militärische Niederlagen, also Ereignisse, die beide bereits in der Vergangenheit liegen. Das erste Ereignis (Auseinandersetzungen im Gebiet von Sebulon und Naftali) hängen entweder mit Hazael oder mit Ben Hadad zusammen, während der zweite Teil auf die Ereignisse um Tiglat-Pileser III. bzw. Salmanassar V. anspielt.132 Im Blick auf unsere Fragestellung lässt sich zunächst festhalten, dass der Abschnitt 8,23b–9,1 in wesentlichen Teilen nicht auf exilische oder nachexilische Verfasser zurückgeht, sondern Material enthält, das mit dem Wirken des Propheten Jesaja zu verbinden ist. Das gilt in besonderer Weise von den geografischen Angaben in 8,23b, die damit spätestens für das siebte, wahrscheinlich aber eher für das achte Jahrhundert v.Chr. anzusetzen sind. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass diese Texte in späteren Zeiten immer wieder neu gelesen und neu interpretiert („Relecture“) wurden; das wird von keinem der Ausleger bestritten.133 Gerade die Form dieses Abschnitts mit seinen eher unpräzise erscheinenden Hoffnungen auf einen besonderen Herrscher, mit dem eine neue Zeit beginnen wird, lädt dazu ein, neu gehört und aktualisiert zu werden. Ulrich Berges bringt es gut auf den Punkt: „Die historisierende Notiz in 8,23b verarbeitet das Motiv des Dunkels (8,22.23a) zum Ausgangspunkt des nachfolgenden Königsliedes (9,1–6), das als Epilog die Denkschrift beschließt. Im Hintergrund steht die Annexion der nördlichen Gebiete Ephraims durch Tiglatpileser im Jahr 733 v.Chr. (2 Kön 15,29), zu denen auch Galiläa gehörte. Das Lied zur Geburt bzw. zur Inthronisation des königlichen Kindes unterstreicht, dass auch diese Gebiete einmal wieder aus der Dunkelheit zum hellen Licht finden werden.“134

Für unsere Fragestellung ergibt sich die Notwendigkeit, die Aussagen in 8,23 eingehender zu untersuchen und zu fragen, ob die beiden Aussagen in einem Gegensatz stehen (Gerichts- und Heilswort) oder ob beide Teile auf negative Erfahrungen in der Geschichte zurückblicken.

132

BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 247. So ausdrücklich auch Blenkinsopp: „Needless to say this does not determine the date of composition“ (BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 249). 134 ULRICH BERGES, Jesaja. Der Prophet und das Buch, Biblische Gestalten 22, Leipzig 2010, S. 68. 133

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

1.2.4.2 Zur Frage der Textabgrenzung und der Form Es ist in der alttestamentlichen Wissenschaft unumstritten, dass der Abschnitt mit Kap. 9,6 gut nach hinten abgegrenzt ist.135 Mit 9,7 beginnt eindeutig ein neuer Abschnitt, der sich an einen bestimmten Adressaten (Ephraim) richtet. Während Beuken136 diesen Abschnitt direkt im Anschluss an 9,6 kommentiert, nehmen Wildberger137 und Blenkinsopp138 eine Umstellung vor. Diese Umstellungen unterscheiden sich im Detail, machen aber zugleich deutlich, wie klar der Einschnitt nach 9,6 beurteilt wird. So deutlich die Abgrenzung des Abschnitts nach hinten ist, so unklar ist die Frage, ob und wie 8,23b139 zu den folgenden Versen zu ziehen ist.140 Während in der älteren Forschung häufiger die Meinung vertreten wurde, dass erst mit 9,1 ein neuer Abschnitt beginne, so wird heute meist angenommen, 8,23b sei nicht von 9,1–6 abzutrennen.141 Beuken sieht sogar einen größeren Zusammenhang und fasst die Verse 8,19–9,6 zusammen, wobei er für 8,23b einen Wechsel der Blickrichtung konstatiert.142 Deutlich anders gelagert ist der Kommentar von Oswalt, der einen Abschnitt 8,11–9,6 bestimmt und auch bei der Kommentierung keinen Einschnitt zwischen 8,23a und 8,23b erkennen kann.143 Blenkinsopp weist darauf hin, dass 8,23a die Verse 8,19–22 an den dann folgenden Ab-

135

So u.a. KAISER, Jesaja 1–12, S. 117. Eine ausführliche Begründung für eine entsprechende Abgrenzung gibt BARTHEL, Prophetenwort S. 228–233. 136 BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 258ff; aber auch er vermerkt, dass 9,7–10,4 zu einer Ringkomposition um die Immanuelsschrift gehört und durch das Motiv der ausgestreckten Hand ein Spiegelbild zu 5,25–29 ist und sich 10,1–4 so an die Weherufe in 5,8–24 anschließt (s. S. 258). 137 WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 203ff. 138 BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 208ff. 139 Eigentlich ist die Abgrenzung mit 8,23b sehr unpräzise und müsste – so z.B. Barth – eigentlich 8,23aa2bb lauten. Er schlägt um der besseren Lesbarkeit willen vor, die Schreibweise 8,23b beizubehalten (s. BARTH, Die Jesaja-Worte, S. 9 Anm. 13 und S. 142 Anm. 1). Eine im Detail etwas andere Schreibweise hat z.B. Wildberger, indem er 8,23ab notiert (s. WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 362 ff); Beuken nennt 8,23bb (BEUKEN, Jesaja 1– 12, S. 244). 140 Vgl. dazu mit der entsprechenden Literatur bis etwa 1976 (s. BARTH, Die JesajaWorte, S. 142f). 141 So z.B. Wildberger und Blenkinsopp in ihren Kommentaren; ebenso auch Barth in seiner Untersuchung: „Wir gehen somit von einer Einheit 8,23b–9,6 aus, ohne dabei zu übersehen, daß die an dieser Stelle im Vorwege durchgeführte Abgrenzung der Bestätigung und Absicherung durch die folgende eingehende Behandlung des Textes bedarf“ (BARTH, Die Jesaja-Worte, S. 143). 142 BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 244. 143 JOHN S. OSWALT, The Book of Isaiah 1–39, NIC, Grand Rapids 1986, S. 229ff, besonders S. 239.

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schnitt 8,23b–9,6 anbindet.144 Er sieht zu Recht, dass auch die vorigen Verse nicht außer Acht gelassen werden können und dass die Einleitung in 8,23 mit der Präposition ‫ כי‬überleitende Funktion hat.145 Es ist daher hilfreich, die Textabgrenzung so vorzunehmen, dass mit 8,23b ein neuer Abschnitt beginnt. Die Form des Textes wird in der Regel meist als Danklied bestimmt. Die Gründe, die Barth im Anschluss an Crüsemann anführt, können überzeugen. So weise dieses Lied u.a. eine doppelte Sprechrichtung auf, indem wir „eine Anrede an Jahwe und Rede über ihn“146 konstatieren können. Außerdem hat die hebräische „Partikel ‫ כי‬einen festen Platz im Danklied des einzelnen.“147 Auch in den Kommentaren wird dieser Abschnitt als Danklied eines Einzelnen bezeichnet.148 Nach dieser kurzen Einführung müssen nun vor allem zwei Fragestellungen geklärt werden. a) In welchem Verhältnis stehen die beiden Halbsätze in 8,23b? Sind sie adversativ formuliert, oder soll die zweite Aussage die erste verstärken? Wer oder was ist Subjekt des Satzes? b) Wie sind die geografischen Angaben in 8,23 zu verstehen? Worauf beziehen sie sich? Zudem muss geklärt werden, was mit „Galiläa der Heiden“149 gemeint ist? 1.2.4.3 Verhältnis der Satzglieder in Jesaja 8,23b Jesaja 8,23

(‫מוּצק לָ הּ‬ ָ ‫) ִכּי ל ֹא מוּ ָ ף לַ ֲא ֶשׁר‬ ‫כּ ֵ ת ָה ִראשׁו ֺן ֵה ַקל ַא ְר ָצה זְ ֻבלוּן וְ ַא ְר ָצה‬ ‫נַ ְפ ָתּלִ י וְ ָה ַא ֲחרוֹן ִה ְכ ִבּיד ֶדּ ֶר) ַה ָיּ ם ֵ ֶבר‬ ‫ַה ַיּ ְר ֵדּן גְּ לִ יל ַה גּוֹ ִי ם‬

Jesaja 8,23 (eigene Übersetzung) 8,23a (Denn Entrinnen gibt es nicht für den, der von ihm bedrängt ist.) 8,23b In jener Zeit hat der frühere [Herrscher] das Land Sebulon und das Land Naftali erniedrigt, und der spätere hat dem Weg am Meer, das Land am Jordan und dem Kreis der Völker eine Last auferlegt.

Bei der Untersuchung von 8,23b fällt sehr schnell auf, dass die beiden Sätze nahezu identisch aufgebaut sind. Nach der Einleitung mit ‫כּ ֵ ת‬, ָ die nur im ersten Satz zu finden ist, folgt jeweils eine Zeitangabe, die meist mit „früher“ bzw. „später“ wiedergegeben wird. Hier ist zu fragen, ob sich ‫ ָכּ ֵ ת‬mit den Zeitangabe ‫ ָה ִרשׁו ֺן‬und ‫ ָה ַא ֲחרו ֺן‬zu einer „präziseren“ Zeitangabe (im Sinne 144

BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 246. Ebd. 146 BARTH, Die Jesaja-Worte, S. 149. 147 BARTH, Die Jesaja-Worte, S. 150. 148 So z.B. WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 365–367, mit gründlicher Auseinandersetzung früherer Thesen von Duhm und Alt. 149 Ich folge mit dieser Formulierung zunächst den gängigen Bibelübersetzungen an dieser Stelle. 145

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

von „am Anfang“ bzw. „am Ende“150) verbindet oder nicht. Weiterhin muss geklärt werden, ob sich die Einleitung ‫ ָכּ ֵ ת‬auf beide Sätze bezieht und wie die Partikel ‫ ְכּ‬auf das Nomen ‫ ֵ ת‬zu beziehen ist. Dann folgt jeweils ein Verb, das im Perfekt gebildet wird und im Hifil verwendet wird. Dabei ist zu fragen, welche Bedeutung die beiden Verben an dieser Stelle haben. Versteht man diese Verben adversativ, so hat das erhebliche Implikationen für das Verständnis des gesamten Satzes. Sollte ‫ כבד‬aber das erste Verb ‫ קלל‬verstärken, so verschiebt sich ebenfalls der Sinn in einem nicht unerheblichen Maße. Abgeschlossen werden die beiden Sätze mit zwei bzw. drei Ortsangaben. Stehen diese Angaben in einem Verhältnis zueinander, oder wie sind sie zu verstehen? a) Der Satzanfang mit ‫ָכּ ֵ ת‬ Zunächst ist unsicher, wie die Partikel ‫ ְכּ‬zu verstehen ist. Manche übersetzen sie als Vergleichspartikel „wie“ und kommen so u.a. dazu, dass sich die beiden Satzteile adversativ gegenüberstehen. „Wie die frühere Zeit … so bringt die spätere Zeit“151 oder „wie die frühere Zeit … so bringt die künftige …“152. Ernst Jenni weist jedoch darauf hin, dass ‫כּ‬hier ְ in Verbindung mit ‫ֵ ת‬ nicht als Vergleichspartikel übersetzt werden kann, sondern keinen Bedeutungsunterschied zu den Partikel ‫ ְבּ‬oder ְ‫ ל‬hat.153 Es müsse dann einfach mit „um diese Zeit“ oder mit „jetzt“ übersetzt werden.154 Für die Auffassung von Jenni spricht, dass ‫ ָכּ ֵ ת‬zwar tatsächlich mit anderen Zeitangaben verbunden werden kann, dann aber z.B. in der Wendung „morgen um diese Zeit“ o.ä. Außerdem komme ‫ ָכּ ֵ ת‬so noch an vier weiteren Stellen im AT vor, bei denen man mit „um diese Zeit“ bzw. „jetzt“ übersetzen könne.155 Einer der Gründe, warum man die Zeitangabe ‫ ֵ ת‬nicht mit den beiden folgenden ‫ ָה ִראשׁו ֺן‬und ‫ ָה ַא ֲחרו ֺן‬verbinden kann, liegt darin, dass ‫ ֵ ת‬feminin ist und sich daher nicht mit ‫ ָה ִראשׁו ֺן‬verbinden lässt, so ausdrücklich Blenkinsopp156, der folgerichtig mit „at that time“ übersetzt und ‫ָה ִראשׁו ֺן‬ bzw. ‫ ָה ַא ֲחרו ֺן‬zum Subjekt des Satzes macht. Das fehlende Nomen ergänzt er aus dem sachlichen Zusammenhang und kommt zu dem Schluss, dass hier auf das Handeln eines bzw. mehrerer Herrscher angespielt wird (the earlier ruler … the later one), der bzw. die dem Nordreich schweren Schaden zugefügt 150

So z.B. BARTH, Die Jesaja-Worte, S. 141. BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 234. 152 WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 363. 153 ERNST JENNI, Art. ‫ ֵ ת‬, THAT 2, Sp. 370–385, Sp. 373. 154 Ebd.; Jenni verweist allerdings auch darauf, dass Wildberger in seinem Kommentar ‫ ֵ ת‬mit dem folgenden ‫ ִראשׁו ֺן‬bzw. ‫ ַא ֲחרו ֺן‬verbindet. Jenni lehnt diese Verbindung ab. 155 Es handelt sich um die Stellen: Num 23,23; Ri 13,23; Ri 21,22 und Hi 39,18, s. JENNI, Art. ‫ ֵ ת‬, Sp. 373. 156 BLENKINSOPP, Isaiah 1–39; S. 246. 151

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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haben.157 Barth sieht die Schwierigkeit, dass ‫ ֵ ת‬eigentlich feminin ist und so nicht mit ‫ ָה ִראשׁו ֺן‬verbunden werden kann, er verweist seinerseits u.a. auf Stellen wie Ez 7,7.12, wo ‫ ֵ ת‬masculin gebraucht wird.158 b) Die beiden Verben ‫ קלל‬und ‫כבד‬ Bei der Beantwortung der Frage, ob die beiden Sätze in 8,23b adversativ oder verstärkend gemeint sind, kommt der Untersuchung der beiden Verben ‫ קלל‬und ‫ כבד‬besondere Bedeutung zu. Die Wurzel ‫ קלל‬kommt an 128 Stellen im AT vor, 79 Belege entfallen davon auf das Verb. Im Kal (12 Belege) bedeutet es „leicht sein, klein sein“, im Hifil (13 Vorkommen) bedeutet es „gering achten“ bzw. „verachten“.159 Die Bedeutung ist nicht umstritten, sodass der Sinn des ersten Satzes von 8,23b klar ist. Es geht um ein Handeln, das den Stämmen Sebulon und Naftali Schaden zufügt. Da das Verb im Perfekt gebraucht wird, kommt als Übersetzung eine Form der Vergangenheit infrage. Mit dieser Aussage wird auf ein bereits geschehenes Ereignis zurückgeblickt. Das, was den beiden Stämmen im Norden Schaden zufügte, hat sich in der Vergangenheit ereignet. Man kann dann davon ausgehen, sollte die bisherige Analyse zutreffend sein, dass die Worte in Verbindung mit der Person und dem Wirken des Propheten Jesaja stehen. Das, worauf hier angespielt wird, muss sich also in einer Zeit im achten Jahrhundert (oder auch davor!) ereignet haben. Deutlich unklarer ist die Bedeutung des zweiten Verbs ‫כבד‬. Es kommt als Verb an 114 Stellen im AT vor, im Kal (23 Stellen) hat es die Bedeutung „schwer sein“, „schwer werden“, im Piel (38 Vorkommen) wird es in der Regel mit „ehren“ oder „jemandem Bedeutung verleihen“ übersetzt. Im Hifil wird es hingegen an 17 Stellen im AT verwendet.160 An 14 Stellen ist die Bedeutung eindeutig negativ. Da wird einem „eine Last auferlegt“ oder „jemandem das Herz schwergemacht“ bzw. „das Herz verstockt“. Eine weitere Stelle (2Chr 25,19) ist nur auf den ersten Blick positiv gemeint („Ehre bekommen“), der Zusammenhang macht jedoch schnell klar, dass es sich um einen Vorwurf des Joas an Amazja handelt.161 Die einzige Stelle, in der ‫כבד‬ 157

BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 245. BARTH, Jesaja-Worte, S. 143f Anm. 10. 159 CARL-ALBERT KELLER, Art. ‫קלל‬, THAT 2, Sp. 641–647, Sp. 643. 160 Ex 8,11; 8,28; 9,34; 10,1; 1Kön 12,10; 12,14; Jes 6,10; 8,23; 47,6; Jer 30,19; Hab 2,6; Sach 7,11; Kla 3,7; Neh 5,15; 2Chr 10,10.14; 25,19. 161 „Du sagst: Siehe, ich habe Edom geschlagen! Und darum erhebt sich dein Herz, noch mehr Ehre zu genießen [‫ לְ ַהכְ ִבּיד ַ ָתּה‬.‫ לִ ְבּ‬.‫ת־אדו ֺם וּנְ ָשׂ ֲא‬ ֱ ‫ית ֶא‬ ָ ִ‫]א ַמ ְר ָתּ ִה נֵּ ה ִהכּ‬. ָ Bleib nun in deinem Haus! Wozu willst du dich mit dem Unglück einlassen? (Übersetzung: Elberfelder Bibel). Japhet übersetzt an dieser Stelle das Verb direkt mit „verhärten“: „Du sprichst: Sieh da, du hast Edom geschlagen, und dein Herz hat sich erhoben zu verhärten …“ (JAPHET, 2. Chronik, S. 310). 158

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

im Hifil eindeutig positiv verwendet wird, ist Jer 30,19. Dort spricht Jahwe durch seinen Propheten zu seinem Volk, dass er das Leid in Freude verwandeln wird. Aus dem Gerichtshandeln heraus wird sich Gott als der erweisen, der seinem Volk Heil schenken wird. In der Tat liegt hier eine klare sachliche Parallele vor, geht es doch auch in Jes 8,23b–9,6 darum, dass eine Zeit angekündigt wird, in der sich der Herr wieder heilvoll seinem Volk zuwenden wird. Es ist daher nachvollziehbar, wenn bei der Übersetzung von 8,23b auf die Stelle bei Jeremia verwiesen wird. „… was ‫ הכביד‬angeht, so ist aus semantischen Gründen nicht wahrscheinlich, daß das ‚Schwer-Machen‘ von Territorien und somit anderen Personen anders denn im positiven Sinne gemeint sein kann, wie es im übrigen auch der Gebrauch von ‫ כבד‬Hifil in Jer 30,19 nahelegt.“162

Trotzdem muss kritisch gefragt werden, ob die einzige Stelle mit positiver Konnotation ausreicht, um hier den zweiten Satz von Jes 8,23b als adversativen Parallelismus zum ersten Satz zu verstehen, der dem Gericht im ersten Teil das Heilshandeln in einem zweiten Teil entgegenstellt. Zudem muss man festhalten, dass in mittelbarem Zusammenhang zu unserem Vers ‫ כבד‬Hifil auch in Kap. 6,10 vorkommt.163 In der Berufungsvision164 hört der Prophet den Auftrag, das Herz der Menschen zu „verfetten“, die „Ohren schwer zu machen“ und die „Augen zu verkleben“, damit sie nicht mehr hören und nicht zur Einsicht kommen. Es handelt sich also um ein klares Gerichtswort an das Volk Gottes. Legt man die Annahme zugrunde, dass wir in Jes 6,1–8,18 eine Grundschrift vor uns haben,165 die in einem ersten Schritt um Kap. 5 und Kap. 8,19–9,6 erweitert wurde, so ist anzunehmen, dass 6,10 als auch 8,23b in einem engeren zeitlichen Kontext entstanden. Es ist nicht auszuschließen, dass neben dem eindeutig negativ verstandenen ‫ כבד‬Hifil in 6,10 auch 8,23b als ein Wort des Gerichts zu verstehen ist. Ebenfalls umstritten ist die Übersetzung der Perfektformen in 8,23b. Während sich die Exegeten nahezu einig sind, dass ‫ ֵה ַקל‬ein Ereignis beschreibt, das mit einem entsprechenden Vergangenheitstempus übersetzt werden muss, so weichen die Übersetzungen von ‫ ִה ְכ ִבּיד‬erheblich voneinander ab. Diese Unterschiede lassen sich vor allem darauf zurückführen, ob man einen antithetischen Parallelismus in 8,23b erkennt oder nicht. Wenn man einen sol162

BARTH, Jesaja-Worte, S. 144f. Zur Problematik dieses gesamten Abschnitts unter der besonderen Fragestellung der Verstockung, s. BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 164–167. 164 Nach Beuken können wir auch den Abschnitt 6,1–11 wie folgt unterteilen: In den Versen 1–7 wird uns die Vision Jesajas geschildert, während wir in den folgenden Versen über eine Audition unterrichtet werden (BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 163). 165 S. dazu auch die Ausführungen in 1.2.3.1. 163

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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chen konstatiert, so steht dem Gerichtshandeln im ersten Teil ein Heilshandeln im zweiten Teil gegenüber. Jesaja kündigt dann eine Zeit an, in der sich Jahwe seinem Volk im Norden wieder gnädig zuwenden werde, dementsprechend müsse man dann ‫ ִה ְכ ִבּיד‬futurisch übersetzen. „Es passt zur Logik des Vergleichs, wenn beide Verben im qatal stehen, obwohl das erste ‫‚ הקל‬hat Schmach gebracht‘ auf die wirkliche Vergangenheit zurückweist, während das zweite ‫‚ ִה ְכ ִבּ יד‬bringt zu Ehren‘ die Zukunft als bereits vollzogen präsentiert (perfectum propheticum).“166

Wildberger übersetzt an dieser Stelle ebenfalls futurisch und betont, eine solche Übersetzung sei möglich, „weil durch die Geburt des königlichen Kindes die Wende grundsätzlich bereits in Gang gekommen ist.“167 Barth nimmt ebenfalls an ,dass die beiden Aussagen in 8,23b168 adversativ formuliert sind, betont aber im Anschluss an Alt169, dass das Perfekt auch im zweiten Teil mit einem Vergangenheitstempus übersetzt werden muss. Dabei geht er davon aus, dass mit dem ‫ ִה ְכ ִבּיד‬bereits auf das Ende der Assyrerherrschaft zurückgeblickt wird. Die einst so bedrohlich wirkende Macht hat sich inzwischen geschlagen geben müssen. In der ersten Zeile von 8,23b blickt also „der Prophet“ (bzw. die redaktionelle Überarbeitung) auf das Gerichtshandeln an Naftali und Sebulon zurück, die zweite Zeile kann bereits durch den Niedergang der assyrischen Großmacht bezeugen, dass Jahwe heilvoll gehandelt hat. Bei dieser Auslegung wird zu fragen sein, ob die historischen und archäologischen Befunde diese Annahme unterstützen oder nicht, denn es muss zu erwarten sein, dass nicht nur der Niedergang Assurs eingetreten ist, sondern auch, dass das Volk im Norden dieses Handeln Gottes auch selbst erfahren hat, sollte diese Annahme zutreffend ein. Ansonsten ergibt die Formulierung, dass das Gebiet, das schwer geschlagen worden ist, wieder zu Ehren gebracht werden soll (bzw. gebracht worden ist), wenig Sinn. Es wird noch zu zeigen sein, dass der gesamte nördliche Teil von Israel mit hoher Wahrscheinlichkeit nach den Kriegszügen von Tiglat-Pileser III. zu einem großen Teil entvölkert war und dass dieser Zustand auch lange angehalten hat. Wenn man mit Barth davon ausgeht, dass Jahwe das Volk durch das Ende der Assyrer wieder zu Ehren gebracht haben soll, so hat es zu dieser Zeit kaum Menschen in diesem 166

BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 244f (Hervorhebungen im Original). WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 372. 168 BARTH, Jesaja-Worte, S. 147 Anm. 38. 169 ALBRECHT ALT; Jesaja 8,23–9,6. Befreiungsnacht und Krönungstag, in: W. Baumgartner u.a. (Hg.), Festschrift Alfred Bertholet zum 80. Geburtstag, Tübingen 1950 S. 29– 49, jetzt in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 2, München 21959, S. 206–225, S. 212 Anm. 1: „Daß von den Perfekten das erste eine Vorvergangenheit und erst das zweite die Vergangenheit bezeichnet, die dann in 9,1ff weiter geschildert wird, hebt die stilistische Übereinstimmung nicht auf.“ 167

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

gebeutelten Landstrich gegeben, die dieses als gnadenvolles göttliches Handeln hätten deuten können. Der Vorschlag von Blenkinsopp verdient Beachtung.170 Er geht davon aus, dass die beiden Aussagen in 8,23b nicht antithetisch formuliert worden sind. Beide Aussagen handeln von einem Gericht an dem Nordreich, und beide Aussagen beziehen sich auf unterschiedliche Ereignisse. Dieser Vorschlag hat vor allem für sich, dass ‫ כבד‬Hifil so übersetzt wird wie in nahezu allen Vorkommen im AT (es wird eine Last auferlegt). Außerdem kann er – wie noch zu zeigen sein wird – am besten mit den historischen und archäologischen Zeugnissen in Einklang gebracht werden. Auch im Blick auf einen weiteren Punkt hat dieser Vorschlag seine Vorzüge. Barth insistiert – mit Recht – darauf, dass sich bei einem antithetischen Verständnis die einzelnen Satzglieder und damit auch die geografischen Angaben entsprechen müssen. So wie in der Vergangenheit ein bestimmtes Gebiet geschlagen wurde, so wird genau dieses Land erfahren (bzw. hat erfahren), wie Jahwe helfend eingreifen wird. „Voller Schwierigkeiten steckt 8,23b. Grundlegend muß davon ausgegangen werden, daß der Vers in zwei parallele Zeilen gebaut ist, in den sich ‫הראשׁון‬ und ‫האחרון‬, dann ‫ הקל‬und ‫ הכביד‬und schließlich die geographischen Angaben entsprechen.“171 Dabei fällt in 8,23b nicht nur auf, dass im ersten Teil zwei und im zweiten Teil drei geografische Angaben gemacht werden. Zum anderen wird der Fall des gesamten Nordreichs gar nicht erwähnt. Warum wird Samaria als Hauptstadt nicht genannt? Gerade wenn man wie Barth eine Redaktion um 620 v.Chr. annimmt, die für die zweite Hälfte in 8,23b verantwortlich sein soll, müsste man eigentlich den Hinweis auf den Fall von Samaria erwarten, zumal die damit verbundenen Ereignisse (Verbannung weiter Teile der Bevölkerung und Zerstörung vieler Städte und Dörfer) nicht nur bei den Bewohnern des Nordreiches, sondern auch bei der Bevölkerung des „Bruderstaates“ im Süden großes Entsetzen hervorgerufen haben dürfte! Damit sind wir bei einem letzten Punkt der Analyse von 8,23b angelangt, nämlich bei der Frage nach den geografischen Angaben in diesem Vers. 1.2.4.4 Klärung der geografischen Angaben 1.2.4.4.1 Naftali und Sebulon Mit Naftali und Sebulon werden zwei Namen von Stämmen des Volkes genannt. Unter dem Begriff „Stamm“ versteht man heute meist „politische Zusammenschlüsse von Sippen, die ihrerseits territorial definierte Endogamiegemeinschaften einer ganz oder überwiegend bäuerlichen Bevölkerung dar170 171

BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 245ff. BARTH, Jesaja-Worte, S. 143.

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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stellen …“172 Das bedeutet, dass zum einen mehrere Familien zu einer Sippe gehören, die i.d.R. durch Blutsgemeinschaft miteinander verbunden sind. Einige dieser Sippen können sich dann zu einem Stamm zusammenschließen, wobei diese Gemeinschaft überwiegend nicht durch Verwandtschaft gekennzeichnet ist, sondern durch gemeinsame Interessen und Absichten. In der alttestamentlichen Wissenschaft geht man heute meist davon aus, dass einige dieser Verbände/Stämme in vorstaatlicher Zeit zunächst im Ostjordan- und später im Westjordanland siedelten. Ob diese Phase der Besiedelung zunächst friedlich geschah oder ob man mit kriegerischen Mitteln dieses Land eroberte, kann heute nicht mehr geklärt werden. Das von Martin Noth für den Bereich der Geschichte Israels entwickelte Modell der Amphiktyonie173 geht davon aus, das eine Zahl von 12 Stämmen in das Land einwanderte, die durch die Verehrung an einem gemeinsamen Heiligtum verbunden waren. Es gab ein gemeinsames Kultobjekt („Lade“), das die Identität stiftete. Dieses Modell hatte zunächst breite Zustimmung erfahren, wurde aber in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zurückgewiesen. Ein wesentlicher Kritikpunkt war der Hinweis auf das Deboralied, das nach allgemeiner Auffassung als einer der ganz wenigen Texte im AT wenigstens in seinen Grundzügen174 in die vorstaatliche Zeit zurückreicht. Aber dieses Lied kennt nur 10 Stämme. „Der Textzusammenhang läßt keine andere Auffassung zu als die, daß mit dieser Zehnzahl alle Stämme genannt sind, die zur Beteiligung am Krieg gegen die Feinde aufgerufen wurden.“175 Ein weiterer Kritikpunkt weist auf dem Umstand hin, dass trotz der zentralen Stellung des salomonischen Tempels an vielen Orten des Landes Heiligtümer stehen und diese verehrt werden; ein zentrales Heiligtum, dass die unterschiedlichen Stämme zusammengehalten hätte, könne daher nicht angenommen werden. Man geht daher heute davon aus, dass in vorstaatlicher Zeit einige Stämme in das Land einwanderten und sich später zu einem Staatsgebilde zusammenschlossen. In der Königszeit habe man dann die Zwölfzahl der Stämme hervorgehoben, frühere Angaben und Quellen entsprechend überarbeitet und die Zeit vorher in einen geschichtlichen Rahmen gestellt; so konnte man diese Zeit theologisch deuten. Dieser Prozess bedingte auch eine Anzahl unterschiedlicher Angaben, die sich nicht in Übereinstimmung bringen lassen.

172 173

ERNST AXEL KNAUF, Art. Stämme Israels, RGG4 7, Sp. 1676–1678, Sp. 1676. MARTIN NOTH, Das Modell der 12 Stämme Israels, BWANT 4, Folge 1, Stuttgart

1930. 174

Ri 5,12–17.18b.19–22.24–30, VOLKMAR FRITZ, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., Biblische Enzyklopädie 2, Stuttgart 1966, S. 122. 175 FRITZ, Die Entstehung Israels, S. 122.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

So „lassen sich zwei Gruppen von Stämmelisten unterscheiden: das genealogische System und das geografische System. Zum ersten Schema gehören Gen 29,31–30,12 mit 35,16–20; 35,22–26; 46,8–25; Ex 1,2–4; 1Chr 2,1.2; 27,16–22. Das zweite Schema findet sich nur in den priesterlichen oder der Priesterschrift nahestehenden Texten Num 1,5–15.20–47; 2,3–31; 7,12–83; 10,14–28; 13,4–15; 26,5–51.“176

Dabei sei das genealogische System das ältere der beiden, da hier Juda noch keine Rolle spielt; Juda habe erst später an Bedeutung gewonnen. Das System der Stämme Israels gehe damit auf frühe Erfahrungen zurück, da sich das Volk aus mehreren solcher Gruppen gebildet habe, das sogenannte Zwölfersystem sei aber eine spätere Deutung.177 Diese komplexe Entwicklung bringe es nun mit sich, dass auch die jeweiligen Angaben zu den Siedlungsgebieten der einzelnen Stämme nicht mehr genau bestimmt werden können, zumal etliche Angaben zu Städten archäologisch weder verifiziert noch falsifiziert werden können. Zu einem etwas anderen Urteil kommt Zvi Gal. Auch wenn die kritischeren neuen Modelle im Blick auf die Landnahme zu nachvollziehbaren Urteilen kommen, so dürfe man die in den biblischen Erzählungen enthaltenen geografischen Angaben „nicht ohne weiteres ignorieren“.178 Neben Sebulon habe Naftali bei der Besiedlung Galiläas eine Hauptrolle gespielt. Im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts v.Chr. haben diese beiden Stämme, die „nicht aus der sesshaften kanaanäischen Bevölkerung hervorgingen“,179 zunächst in Untergaliläa gesiedelt, während die kanaanäischen Stadtstaaten in „den das gebirgige Galiläa umgebenden Tälern“ lebten.180 Diese besondere Stellung der beiden Stämme scheint in der weiteren Überlieferung bewahrt worden zu sein und wird vielleicht auch in der Wortwahl in Jes 8,23b abgebildet. Die Stämme Naftali und Sebulon gehören also zu den Stämmen, die im Norden des Landes siedeln. Fritz nennt sie zusammen mit Issachar und Ascher die „galiläischen Stämme“.181 Damit wird angezeigt, dass das Hauptsiedlungsgebiet dieser Stämme das spätere Galiläa umfasst und sicherlich an 176

FRITZ, Die Entstehung Israels, S. 123. So ausdrücklich Knauf: „Wie aus dem Zehnstämme-Israel des Nordens unter Einbezug Judas ein Zwölfstämme-Israel werden muß, zeigt 1Kön 11,30–32. Das System der zwölf S. ist frühestens unter den Omriden entstanden (Gad besetzt, Juda ein Vasall Israels) und spätestens bei der Schlußredaktion der Tora (Pentateuch) im ausgehenden 5.Jh v.Chr. Daß es künstlich ist, zeigen seine Varianten nach Umfang und Anordnung der S. …“ (KNAUF, Stämme Israels, Sp. 1678). 178 ZVI GAL, Die Besiedlung des unteren Galiläa und der Ränder der Jesreel-Ebene durch israelitische Stämme im Licht archäologischer Quellen, ThQ 186 (2006), S. 80–95, S. 80. 179 GAL, Die Besiedlung des unteren Galiläa, S. 94. 180 GAL, Die Besiedlung des unteren Galiläa, S. 91. 181 FRITZ, Die Entstehung Israels, S. 135. 177

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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der einen oder anderen Stelle auch darüber hinausragt; aber weder Naftali noch Sebulon noch beide Stämme zusammen können für den gesamten Norden bzw. Galiläa stehen. Eigentlich müsste man noch Dan erwähnen, der zunächst im Südwesten siedelte, dann aber nach etlichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit einem Teil der Bevölkerung in den Norden wanderte und im Gebiet nördlich/nordöstlich des Ḥule-Sees bzw. im Quellgebiet des Jordan und damit nördlich von Naftali sesshaft wurde.182 „Eine nennenswerte geschichtliche Rolle hat der ganz am Rande wohnende Stamm Dan nicht gespielt.“183 Deshalb kann er bei den weiteren Überlegungen übergangen werden. Ein Blick in die Bibellexika bzw. in Bibelatlanten zeigt, dass die dort beschriebenen Grenzen der jeweiligen Stämme z.T. deutlich voneinander abweichen. Mit Fritz kann man für das Gebiet von Naftali (nach Jos 19,32– 39) festhalten: „Der Beschreibung des Stammesgebietes in Jos 19,32–39 liegt eine Ortsliste zugrunde, das Territorium umfaßte das östliche Galiläa, das obere Jordantal war ein weitgehend unbesiedeltes Sumpfgebiet. Im Norden reichte es bis Kadesch (Qedes), im Süden bis zum Ende des Sees Gennesaret, im Westen schloss es den östlichen Teil des Sahl Baṭṭōf mit ein. Das Gebiet von Naphtali grenzte im Osten an den See Gennesaret und an den Jordangraben, im Süden an die Gebiete von Issachar und Sebulon und im Westen an das von Ascher.“184 Das Gebiet von Sebulon (nach Jos 19,10–16), das sich im Südwesten an Naftali anschloss, „umfasste vermutlich einen Teil von Südgaliläa und die nördliche Jesreel-Ebene.“185 Genauere Angaben lassen sich nicht machen. Das Gebiet von Issachar (Jos 19,18–20) lag südlich des Sees Gennesaret und westlich des Jordans und damit im südlichen Teil von Untergaliläa. Das Gebiet von Ascher „schloß u.a. den Karmel ein, die Ebenen von 182 „Seine erste Ansiedlung lag zwischen den Gebieten von Ephraim, Benjamin und Juda (Jos 19,40ff). Von den Amoritern, die selber vom W her von den Philistern und anderen Seevölkern bedrängt wurden, in das Bergland zurückgedrängt, wanderte die Mehrzahl der Daniter nach N, wo sie nahe der Jordanquelle eine neue Heimat fanden (Jos 19,47; Ri 1,34; 18,1ff)“ (F.F. BRUCE, Art. Dan, GBL 1, S. 250). Zu den Berichten in Ri 17 und 18 s. jetzt den grundlegenden Kommentar von WALTER GROß, Richter, HThKAT, Freiburg 2009, besonders die Seiten 746–795. Groß kommt zu dem Schluss: „Daß hinter Ri 18 Erinnerungen an eine nur hier erwähnte Landnahme der Daniten im Norden stecken, bleibt möglich, kann aber nicht bewiesen werden (K.L. Noll, City), und jedenfalls müsste offenbleiben, wie die Daniten konkret von ihrem Zug nach Norden erzählt haben oder wie andere davon erzählten“ (a.a.O., S. 795). 183 MARTIN NOTH, Die Welt des Alten Testaments. Einführung in die Grenzgebiete der alttestamentlichen Wissenschaft, Sammlung Töpelmann, Berlin 1940, zitiert nach der Taschenbuchausgabe Freiburg 1992 (mit verändertem Untertitel: Eine Einführung, Nachdruck der vierten, veränderten Auflage von 1962), S. 68. 184 FRITZ, Die Entstehung Israels, S. 135. 185 FRITZ, Die Entstehung Israels, S. 132.

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Akko und Jesreel.“186 Wie weit sich das Gebiet an der Küste gen Norden erstreckte, ist äußerst unsicher, in manchen Karten reicht es bis weit über Tyrus hinaus, während Fritz und andere festhalten, dass im „Norden die Höhe von Rās en- Nāqūra nicht überschritten wurde“187, ähnlich äußert sich auch Baltzer.188 Mit diesen Hinweisen wird deutlich, dass vermutlich der größte Teil des späteren Galiläa im Stammesgebiet von Naftali lag, aber auch die anderen Stammesgebiete deckten einen Teil von Galiläa ab. Wenn nun in Jes 8,23b im ersten Teil auf die Stämme von Naftali und Sebulon verwiesen wird, so wird erkennbar, dass sie nur einen Teil des sog. Nordreiches abdecken. Es fällt weiterhin auf, dass mit den beiden Gebieten zwar ein Teil des Landes westlich des Jordans erwähnt wird, der gesamte Küstenstreifen findet aber keine Erwähnung. Bei aller Unsicherheit über die exakten Grenzen der Stammesgebiete müssen wir uns aber auch vor Augen halten, dass die Gebiete im alttestamentlichen Kontext einigermaßen klar bestimmt sind und daher auch von den Adressaten der Botschaft gut lokalisiert werden konnten. 1.2.4.4.2 „Weg am Meer“, „Land jenseits des Jordans“ und „Galiläa der Heiden“ Bei Jes 8,23b wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass die Satzglieder in einem „synonymen Parellelismus membrorum“189 zueinander stehen. Träfe das zu, so müssten sich aber die jeweiligen topografischen Angaben in etwa entsprechen. Da die erste Zeile zwei, die zweite hingegen drei Angaben hat, wurden in der Vergangenheit mehrere Vorschläge gemacht, wie diese Gleichheit wiederherzustellen ist. Alt schlug vor, neben dem Subjekt (Jahwe nach ‫)ה ַקל‬ ֵ in der ersten Zeile eine Ortsangabe zu ergänzen, um ein Gegenüber zur zweiten Zeile zu schaffen.190 So müsse man ‫ ַה ָשּׁרו ֺן‬und ‫ גִּ לְ ַ ד‬ergänzen. Diese Rekonstruktion könne dann „große Wahrscheinlichkeit“191 für sich beanspruchen. Mit diesem doch recht umfangreichen Eingriff in den Textbestand erhält man „fünf gepaarte Zweier, genau wie in jeder der vier Strophen von 9,1–6 …“192 Einen anderen Weg beschreitet Barth, der einen Vorschlag

186

KLAUS BALTZER, Art. Asser, BHH 1, Sp.141. FRITZ, Die Entstehung Israels, S. 134. 188 BALTZER, Art. Asser, Sp. 141: „Dort erstreckte es sich etwa von rās en-nāqūra (der Tyrischen Leiter) im Norden bis nahr ez-zerqā im Süden.“ 189 ALT, Befreiungsnacht und Königstag, S. 210. 190 ALT, Befreiungsnacht und Königstag, S. 210ff. 191 ALT, Befreiungsnacht und Königstag, S. 211. 192 ALT, Befreiungsnacht und Königstag, S. 212. 187

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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von Otto Procksch193 aufgreift und nur einige kleinere Eingriffe in dem Konsonantenbestand vornimmt. Dieser Vorschlag bezieht sich vor allem auf die zweite Zeile von 8,23b und versteht die mittlere der drei Ortsangaben als eine Ergänzung bzw. Erläuterung zur ersten und stellt so die „Gleichheit“ bei den topografischen Angaben wieder her. So kann Barth am Ende diesen Vers wie folgt verstehen: „‚das Land Sebulon und das Land Naphtali‘ entspricht (dem Gebiet) der ‚Straße zum Meer‘ zwischen dem ‚Land jenseits des Jordan‘ und dem ‚Galil Gojim‘ im süd(west)lichen Nordpalästina.“194 Somit würde sich nach Barth das Heilshandeln in der zweiten Zeile von 8,23b genau auf das Gebiet erstrecken, das zuvor das Gericht erlebt hatte. Ein gravierender Nachteil dieser These und auch der These von Alt besteht in der Konjektur beim hebräischen Text; es gibt weder in der LXX noch in der Vulgata noch in anderen alten Übersetzungen Hinweise darauf, die diese Vermutung stützen würden. Zudem ist die Voraussetzung grundlegend, die Angaben in den beiden Zeilen müssten sich in irgendeiner Weise entsprechen. Es ist zunächst angemessen, den Text in seiner vorliegenden Gestalt zu verstehen und erst dann mit Konjekturen zu arbeiten, wenn der vorliegende Konsonantenbestand wenig bzw. keinen Sinn ergibt. Wie bereits dargelegt wurde, zeigen u.a. die Arbeiten von Blenkinsopp u.a., dass der jetzt vorliegende Text ohne weitere Konjekturen gut verstehbar ist und es keinen ausreichenden Anhalt für Veränderungen im Konsonantenbestand gibt. In der zweiten Zeile von 8,23b haben wir drei geografische Angaben, die jeweils aus zwei Gliedern bestehen. Die erste Angabe ‫ ֶדּ ֶרך ַה ָיּ ם‬wird in der Regel mit „Weg am Meer“ wiedergegeben, auch wenn Dalman mit Berufung auf die LXX und die „pal. syrische Überlieferung“ die Übersetzung „Weg zum Meer“195 vorschlägt. Der damit verbundenen Ansicht, es könne sich um die „via maris“ handeln, erteilt Dalman aber eine klare Absage.196 Barth folgt ihm in der Übersetzung, hält aber an einer Identifizierung mit der Via Maris fest,197 während die meisten Ausleger heute die traditionelle Übersetzung 193

OTTO PROCKSCH, Jesaja I, KAT IX, Leipzig 1930, S. 142–144. BARTH, Jesaja-Worte, S. 161. 195 GUSTAF DALMAN, Orte und Wege Jesu, Schriften des Deutschen Palästina-Instituts 1, Gütersloh 31924, S. 135. 196 DALMAN, Orte und Wege, S. 135 Anm. 1: „Nach Thomsen, ZDPV 1917, S. 33f. hätte die Via Maris ihre Fortsetzung über Tiberias nach Skythopolis gehabt, was aber zu Jes 8,23 nicht stimmt und auch sonst nicht wahrscheinlich ist.“ 197 BARTH, Jesaja-Worte, S. 159f: „Unter diesen Umständen ist die häufig vorgenommene Gleichsetzung mit der Saronebene, was ‚Weg am Meer‘ erfordert, schon aus semantischen Gründen problematisch. Nun besteht schon seit langem der Vorschlag, Jes 8,23b von der via maris des Mittelalters, die von Damaskus durch das nördliche Ost- und Westjordanland nach Akko führte, her zu verstehen. Da sich der Name ‚Weg zum Meer‘ zu 194

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„Weg am Meer“ bevorzugen.198 In der Regel ist damit das Gebiet am Mittelmeer gemeint, dass „vom Berg Karmel in südlicher Richtung bis nach Jafo, vielleicht sogar bis nach Aschdod“199 reichte. Die zweite Angabe ‫ ֵ ֶבר ַה ַיּ ְר ֵדּן‬lässt sich als „das jenseitige Jordanland“ übersetzen. Je nach Standpunkt kann es das West- oder auch das Ostjordanland meinen. Da hier aber eindeutig vorausgesetzt werden kann, dass der Schreiber aus der Perspektive westlich des Jordans formuliert, ist davon auszugehen, dass in Jes 8,23b das Ostjordanland gemeint ist.200 Schwieriger ist wieder die letzte Angabe zu deuten. Was meint der Text mit ‫ ?גְּ לִ יל ַה גּוֹ ִי ם‬Zunächst fällt auf, dass in vielen Bibelübersetzungen ‫ גָּ לִ יל‬mit „Galiläa“ bzw. „Galiläa der Heiden“ wiedergegeben wird. Wir hatten bereits bei der Übersicht, an welcher Stelle ‫ גָּ לִ יל‬im AT verwendet wird, gesehen, dass es nur an wenigen Stellen Verwendung findet. Allein von diesem lexikalischen Befund stellt sich die Frage, ob man ‫ גָּ לִ יל‬dann einfach mit „Galiläa“ übersetzen kann. Beuken macht unter Hinweis auf eine Arbeit von Greger deutlich, dass sich „Galiläa“ als Eigenname erst in der persischen Zeit, also nach der endgültigen Redaktion des Buches, durchgesetzt habe.201 Wir hatten oben bereits gesehen, dass der Abschnitt 8,23b–9,6 auf einer alten Überlieferung beruht, und damit kommt auch den geografischen Angaben ein hohes Alter zu. Welche Gebiete sind mit diesen drei Angaben gemeint? Gibt es eine Möglichkeit, diese geografisch genauer zu beschreiben? Seit vielen Jahren herrscht die Meinung vor, mit den drei Namen seien assyrische Provinzen

einer derartigen Route aufs beste fügt und die Bedeutsamkeit eines solchen Verkehrsweges bereits für die alte Zeit als gegeben angesehen werden kann, ist die genannte These durchaus wahrscheinlich.“ 198 So z.B. WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 373. Er übersetzt mit Meerstraße und meint damit das Gebiet an der Küste. Wildberger lehnt die Identifikation mit der Via Maris ab, weil sie anachronistisch zu sein scheint und die Straße „von Damaskus durch das Ostjordanland und Galiläa“ meint (ebd.); ebenso auch BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 245. Dieser bekräftigt zwar, dass man damit das Gebiet der via maris meine, fügt aber hinzu, dass damit das Gebiet an der Küste gemeint sei. Auch wenn hier ein wenig Konfusion über die Identifikation mit dieser antiken Straße zu herrschen scheint, ist man sich doch darin einig, dass mit diesem Ausdruck das Gebiet des Küstenstreifens am Mittelmeer beschrieben wird, so auch Blenkinsopp, der mit „the way of the see“ übersetzt und davon ausgeht, dass damit das Gebiet an der Mittelmeerküste gemeint ist (BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 245.247). 199 BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 245. 200 Barth weist zwar auf entsprechende Literatur hin (BARTH, Jesaja-Worte, S. 158 Anm. 111), in der eine gegenteilige Position vertreten wird; nimmt man aber Kommentare als Seismografen der Forschung wahr, so wird deutlich, dass hier nahezu alle neueren Werke das Ostjordanland annehmen (so beispielsweise WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 362). 201 BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 245.

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gemeint, die nach der Eroberung des Landes 732 bzw. 722 v.Chr. eingerichtet wurden. Diese These geht vor allem auf eine Arbeit von Emil Forrer zurück, der sie 1920 publiziert hatte.202 Darin analysierte er die entsprechenden assyrischen Quellen und kam zu dem Schluss, dass es auf dem Gebiet von Israel und in den Nachbarregionen sechs Provinzen gegeben habe (Hauran, Gilead, Karnim, Megiddo, Samaria und Dor), von denen vier in etwa dem Gebiet von Israel entsprochen hätten (Megiddo, Samaria, Dor und Gilead im Ostjordanland).203 Dieser These wurde von Anton Jirku204 widersprochen; doch bereits ein Jahr später verteidigte in derselben Zeitschrift Albrecht Alt die Grundzüge der Forrerschen These:205 „Das System der drei assyrischen Provinzen von 734ff. und der vierten hinzukommenden Provinz von 722 auf dem Boden des Reiches Israel tritt bei aller Mangelhaftigkeit der bis jetzt verfügbaren assyrischen und biblischen Nachrichten doch schon aus ihnen so deutlich hervor und fügt sich zudem als verbindendes Glied so gut zwischen die vorangegangenen und die folgenden politischen und administrativen Gestaltungen der gleichen Territorien ein … Ich hoffe im Gegenteil gezeigt zu haben, daß man über Jirkus skeptische Einstellung zu dem ganzen Problemkomplex mit Notwendigkeit hinwegkommt, wenn man sich in den heute erreichbaren quellenmäßigen Tatbestand mit der nötigen Sorgfalt historischgeografischer Betrachtungsweise vertieft, und kann nur dringend wünschen, daß die unentbehrliche weitere Arbeit an diesen wichtigen Dingen von der gegebenen Grundlage aus ohne Hemmungen vonstatten gehe.“206

Diese angemahnte weitere Arbeit hat Alt dann einige Jahre später selbst geleistet und diese These bei Jes 8,23b angewendet.207 Dabei kommt er zu dem Schluss, dass dem hebräischen ‫ ֶדּ ֶר) ַה ָיּ ם‬die Provinz Dor, dem ‫ ֵ ֶבר ַה ַיּ ְר ֵדּן‬die 202

EMIL FORRER, Die Provinzeinteilung des assyrischen Reiches, Leipzig 1920. S. auch: EPHRAIM STERN, Archaeology of the Land of the Bible II: The Assyrian, Babylonian, and Persian Periods (732–332 B.C.E.), AYBRL, New Haven / London 2009, S. 11. 204 ANTON JIRKU, Der angebliche assyrische Bezirk Gileʽad, ZDPV 51(1928), S. 249– 253. Es handelt sich dabei aber nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der These Forrers, sondern vielmehr um eine grundlegende methodische Kritik. Er schließt seinen kurzen Beitrag mit einem geradezu vernichtenden Urteil: „Ich hielt es für notwendig, diese aufklärenden Angaben zu machen. Denn die Palästina-Forschung, vor allem was ihre topographische und territorialgeschichtliche Seite betrifft, tritt jetzt in ein neues Stadium; und es wäre gut, wenn von Anfang an Methoden vermieden würden, die nicht mit peinlichster Sorgfalt größten Wert auf den richtigen sachlichen Unterbau legen“ (JIRKU, a.a.O., S. 253). 205 ALBRECHT ALT, Das System der assyrischen Provinzen auf dem Boden des Reiches Israel, ZDPV 52 (1929), S. 220–242, jetzt in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 2, München 21959, S. 188–205. 206 ALT, Das System der assyrischen Provinzen, 204f. 207 ALT, Jesaja 8,23–9,6. Befreiungsnacht und Krönungsnacht, S. 206–225. 203

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Provinz Gilead und dem ‫ גְּ לִ יל ַה גּו ֺ ִי ם‬Megiddo entspreche. Neben einigen sprachlichen Anklängen kann Alt plausibel machen, dass diese Gebiete in etwa denen entsprechen, die von den Assyrern erobert wurden. So verwundert es nicht, dass sich heute etliche Kommentare darauf (z.T. ohne Nennung der Arbeiten von Forrer und Alt) berufen.208 Diesem recht breiten Konsens ist nun in den letzten Jahren mit einiger Skepsis begegnet worden. Diese entzündet sich vor allem an der Frage, ob wir ein solch festes System von vier bzw. sechs Provinzen in diesem Gebiet tatsächlich voraussetzen können. Lassen die Quellen eine solche Interpretation zu? Ephraim Stern macht mit einem Hinweis auf die Arbeit von Ephʾal darauf aufmerksam,209 dass wir mit einiger Sicherheit nur von zwei Provinzen ausgehen können, nämlich Megiddo und Samaria. Vielleicht könne man eine dritte („Dor“) hinzurechnen, da 1995 ein entsprechender assyrischer Text veröffentlicht wurde, der Dor erwähnt, aber eine gesicherte Entscheidung lässt sich nicht fällen. Stern geht in seiner Darstellung davon aus, dass die archäologischen Forschungen es durchaus zulassen, bei Dor von einer Provinzhauptstadt zu sprechen. „Before the publication of this document, the problem of Dor as capital of a separate province was the topic of a long and intensive dispute. The matter was finally resolved by the results of the recent archaeological excavations in the ancient city, where important Assyrian finds have been recovered, lending support to the idea that Dor was a provincial capital in those days, now confirmed by the recent publication.”210

Eine Provinz Gilead im Transjordanland, die ehemaliges israelitisches Gebiet umfasst haben soll, erkennt Stern nicht. Noch etwas skeptischer als Stern will Weippert nur von zwei assyrischen Provinzen zu dieser Zeit wissen. Nach der Eroberung Samarias gab es auf dem Gebiet Israels nur Megiddo und Samaria. Dor, auch wenn sie Provinzhauptstadt gewesen sein sollte, gehörte vorher nie und auch später nicht zu Israel. Eine Provinz Gilead im ehemals israelitischen Ostjordanland sei ebenfalls nicht wahrscheinlich.211 Diese berechtigten kritischen Rückfragen nach einem ausdifferenzierten Provinzsystem auf dem Gebiet des Nordreiches machen deutlich, dass es kaum möglich ist, die drei geografischen Angaben in der zweiten Zeile von Jes 8,23b konkret mit drei 208 So z.B. WILDBERGER, Jesaja 1–12, S. 372f; BEUKEN, Jesaja 1–12, S. 245; BLENKINSOPP, Isaiah 1–39, S. 247 und auch JOHN D.W. WATTS, Isaiah 1–33, WBC 24, Waco 1985, S. 135. Oswalt erklärt in seinem Kommentar die geografischen Angaben so gut wie gar nicht, während Barth sich in seiner Untersuchung von den Ergebnissen von Alt und Forrer distanziert, s. dazu BARTH, Jesaja-Worte, S. 161–165. 209 I. EPHʾAL, The Assyrian Domination of Palestine, WHJP (1979), 276–289, opus cit. bei: STERN, Archaeology, S. 11f. 210 STERN, Archaeology, S. 12. 211 MANFRED WEIPPERT, Historisches Textbuch zum Alten Testament, GAT 10, Göttingen 2010, S. 310.

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assyrischen Provinzen zu verbinden. Es bleibt die Einsicht, dass der Prophet mit diesen Angaben ein Gebiet beschreibt, das nur einen Teil des ehemaligen Nordreiches umfasst. Es ist auffällig, dass Samaria keine Erwähnung findet; das wäre aber, wenn die Stadt und das sie umgebende Gebiet gemeint gewesen wäre, zu erwarten gewesen. Samaria war das wirtschaftliche und politische Zentrum.212 Das lässt weiterhin den Schluss zu, dass sich die Angaben von 8,23b auf eine Zeit zwischen 732 und 722 v.Chr. beziehen. Dass wir deutlich zwischen den Ereignissen von 732 und 722 zu differenzieren haben, wurde bereits oben angedeutet. Das soll nun in einem weiteren Schritt dargelegt werden. 1.2.4.5 Die Eroberung Israels durch die Assyrer 1.2.4.5.1 Vorgeschichte bis 732 Israel hat unter Jerobeam II.(787–747)213 eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte und Stabilität erlebt. Dass sich dieses kleine Land in dieser Zeit relativ ungestört entwickeln konnte, lag auch mit daran, dass die Hegemonialmächte, allen voran Assur, Zeiten der Schwäche erlebten und von innenpolitischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet war. Mit der wirtschaftlichen Prosperität ging offenbar eine Entwicklung einher, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer wurden. „Der Aufschwung förderte die schon länger in Gang befindliche soziale Zerklüftung des Volkskörpers in Reich und Arm, Herren und Sklaven, Großgrundbesitzer und landarme oder landlose Bauern.“214 Die Botschaft des Propheten Amos gewährt uns einen kleinen Einblick in die gesellschaftliche Situation in dieser Zeit. Nahezu zeitgleich mit dem Tod Jerobeams II. endete auch die innerassyrische Krise durch die Thronbesteigung Tiglat-Pilesers III. (745–727). Er forcierte wieder eine aggressive Expansionspolitik, die unter seinen direkten Vorgängern zum Erliegen gekommen war. Dabei veränderte er aber das Vorgehen in einigen wichtigen Punkten. Um die eigene Macht zu stärken, beschnitt er die Befugnisse der Statthalter in den großen Provinzen und führte stattdessen viele kleine Verwaltungsbezirke ein. Dort setzte er Verwalter ein, die in einem starken 212 Zur Geschichte und Bedeutung von Samaria s. DONALD J. WISEMAN, Art. Samaria, GBL 3, S. 1325–1327; REINHARD PUMMER, Art. Samaria, The Eerdmans Dictionary of Early Judaism, S. 1181–1184. Einen guten Überblick zu den archäologischen Ergebnissen vermittelt der Beitrag der New Encyclopedia of Archaeological Excavations in the Holy Land: NAHMAN AVIGAD, Art. Samaria (City), NEAEHL 4, S. 1300–1310. 213 Die Angaben zu Jahreszahlen folgen HERBERT DONNER, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2, ATD Ergänzungsreihe 4/2, 32001 (1986), S. 508–515. 214 DONNER, Geschichte Israels, S. 314.

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Maße von der Zentralgewalt abhängig waren. Zudem wollte er die eroberten Länder nicht nur als Vasallen betrachten, sondern die eroberten Gebiete in das eigene Staatswesen nachhaltig eingliedern. Donner führt aus, dass er in drei Phasen vorging.215 Zunächst sollten die angrenzenden Völker in ein Vasallenverhältnis gebracht werden, in dem ihnen die militärische Macht der Assyrer und die damit verbundene Einsicht in die eigene Ohnmacht vor Augen geführt werden sollten. Staaten, die sich ohne weitere kriegerische Auseinandersetzung den Assyrern ergaben, hatten einen jährlichen Tribut zu entrichten und mussten ggf. Soldaten für die assyrische Armee stellen. Sollten sich Anzeichen für eine Untreue ergeben, so griffen die Assyrer in einem zweiten Schritt sofort militärisch zu, entfernten den missliebigen Herrscher und setzten einen neuen Anführer ein, der ihnen untertan war. Mit diesem Eingreifen verband sich nicht selten auch ein Eingriff in die territoriale Integrität des Vasallenstaates; es wurden Gebietsabtrennungen vorgenommen und Provinzen neu errichtet bzw. Gebiete in bestehende Provinzen eingegliedert. Sollte sich nach diesen Maßnahmen noch weiter Widerstand zeigen, so wurde die bis dahin gültige Ordnung völlig zerschlagen und das Gebiet wurde zu einer assyrischen Provinz mit allen damit verbundenen Konsequenzen. „Flankierende Maßnahmen im 3. Stadium: Errichtung neuer Festungen, Ansiedlung von Militärkolonien, vor allem aber die Deportation der einheimischen und die zwangsweise Ansiedlung einer fremden Oberschicht … Assyrien hoffte, daß sich das auf diese Weise entstandene Völkergemisch leichter würde regieren und unter Kontrolle halten lassen.“216 Gerade dieser letzte Punkt, dass Teile der Bevölkerung deportiert wurden und andere Völker in diesem Gebiet angesiedelt wurden, hat für das weitere Schicksal Israels eine erhebliche Bedeutung. Nur wenige Jahre nach seiner Thronbesteigung wandte sich Tiglat-Pileser III. gegen Aram bzw. Damaskus und brachte das Land unter seine Kontrolle. Sicherlich hat Damaskus 738 v.Chr. Tribut an Assur gezahlt und wurde so zum Vasall, vielleicht sogar schon zwei Jahre vorher. 2Kön 15,19 lässt vermuten, dass sich in diesem Zusammenhang auch Menahem von Israel dem assyrischen König unterwarf und so zum tributpflichtigen Vasall von TiglatPileser III. wurde. Damit dürfte um 738 v.Chr. die Eigenständigkeit Israels weitgehend zu einem Ende gekommen sein. Nach dem Tode Menahems im selben Jahr („Menachem war der letzte israelitische König, der einen natürli-

215

DONNER, Geschichte Israels, S. 328; Schoors folgt ihm in seiner Darstellung (ANSCHOORS, Die Königreiche Israel und Juda im 8. und 7. Jahrhundert v.Chr. Die assyrische Krise, Biblische Enzyklopädie 5, Stuttgart 1998, S. 93). 216 DONNER, Geschichte Israels, S. 328.

TON

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chen Todes starb.“)217 änderten sich die Verhältnisse in den kommenden Jahren rasch. Beschleunigt wurden die Ereignisse durch eine dramatische Fehleinschätzung der Lage durch Damaskus und Israel. Die beiden Herrscher, Rezin218 und Pekach, sahen eine gute Gelegenheit, das assyrische Joch abzuschütteln. Dazu suchten sie den Schulterschluss mit Ahas von Juda, der sich aber diesem Ansinnen entzog. Daraufhin versuchten Rezin und Pekach, mit militärischen Mitteln Ahas ab- und einen anderen Herrscher (Jes 7,6: „Sohn Tabeals“) einzusetzen. Es kam zum sog. syrisch-ephraimitischen Krieg, in dessen Folge Ahas den assyrischen König um Hilfe anrief und sich so zum Vasall machte (2Kön 16,7). Es kam um das Jahr 734 v.Chr. also zu einem Aufstand Israels und Damaskus gegen Assur und zugleich geriet Juda in die Abhängigkeit von Tiglat-Pileser III. Es kann nicht ganz geklärt werden, ob der syrisch-ephraimitische Krieg vor dem Zug Tiglat-Pilesers III. nach Philistäa (s.u.), gleichzeitig oder sogar später als dieser stattfand. Die exakte Reihenfolge kann bei unserer Fragestellung aber außer Acht gelassen werden.219 1.2.4.5.2 Die Eroberung durch Tiglat-Pileser III. Aus assyrischen Quellen erfahren wir, dass sich Tiglat-Pileser III. im Jahr 734 nach Westen wandte und einen Kriegszug nach Gaza unternahm. Der Herrscher von Gaza floh zunächst nach Ägypten, kehrte dann zurück und wurde von Tiglat-Pileser entgegen der sonstigen Gepflogenheiten wieder in sein Amt eingesetzt. Über die Gründe dieses ungewöhnlichen Handelns kann man nur spekulieren. Donner nimmt an, dass sich das Gebiet kaum hätte kontrollieren lassen, wenn man es in die zweite Phase des Vasallenstatus überführt hätte.220 Der Text selbst gibt nur den Hinweis, dass er Gaza zu einem Handelsplatz für Assur gemacht hat. Das könnte zumindest darauf schließen lassen, dass es ihm vor allem auf stabile Verhältnisse ankam, um dieses Vorhaben nicht zu gefährden.221 Ob und wie Tiglat-Pileser III. dabei auch mit seinen Truppen durch Israel marschieren musste, kann nicht mehr geklärt werden; es ist aber anzunehmen, dass die angrenzenden Länder mit 217

SCHOORS, Die Königreiche Israel und Juda, S. 94 Die einfache herkömmliche Schreibweise wird hier beibehalten; eigentlich müsste man den Namen mit „Rázyān“ wiedergeben. 219 S. dazu bereits: ALBRECHT ALT, Tiglathpilesers III. erster Feldzug nach Palästina, in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 2, S. 150–162; zur Gesamtdarstellung des syrisch-ephraimitischen Krieges s. DONNER, Geschichte Israels, S. 334–347. 220 DONNER, Geschichte Israels, S. 337. 221 „In seine Stellung setzte ich ihn wieder ein. Sein […] … machte ich zum Handelsplatz des Landes Assyrien“ (zitiert nach: WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 292). 218

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ihren Herrschern sehr wohl von diesem Kriegszug Kenntnis hatten und einen Eindruck von der Stärke des assyrischen Heeres gewinnen konnten. Durch die bereits oben angesprochene Auflehnung von Damaskus und Israel gegen Assur kam es dann in der Folgezeit in den Jahren 733 und 732 v.Chr. zu Feldzügen gegen diese beiden Länder. In assyrischen Quellen wurde festgehalten, wie hart und grausam Tiglat-Pileser III. vorging. Die syrischen Vornehmen lässt er pfählen und zur Abschreckung im Land herumzeigen. Er nimmt nicht nur das Vieh mit, er lässt vermutlich z.T. auch die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstören. „Obstbepflanzungen ohne Zahl schlug ich ab und ließ keine einzige(n) übrig …“222 Auch wenn der Text an dieser Stelle primär von den Pflanzungen des Königs spricht, so ist damit zu rechnen, dass mit dieser Aktion der Bevölkerung nachhaltig geschadet werden soll. Wie gründlich und grausam die Assyrer vorgingen, zeigt folgender Hinweis: „591 Orte der 16 Distrikte des Landes Aram zerstörte ich (und machte sie) Sintfluthügeln gleich.“223 In den Überlieferungen (Annalen 18 und 24) zur Eroberung großer Teile Israels wird festgehalten, wie viele Gefangene deportiert werden. Dabei weichen die Zahlen in den beiden Darstellungen voneinander ab, und auch der fragmentarische Charakter dieser Quellen führt zu einigen Unsicherheiten bei der Übersetzung. In den Annalen 18 werden die Zahlen „625 Gefangene der St[adt …] a [… x Gefangene der Stadt] Hinatuna, 650 Gefangene der Stadt … ku … [… … x Gefangene der Stadt Ia]bat, 656 Gefangene der Stadt Sa[… … x Gefangene der] Städte Aruma und Marum [… …]“224 genannt, während in den Annalen 24 neben den Zahlen 226, 400 und 656 (ohne dass die Angaben der Städte zueinander passen) vor allem eine Gesamtzahl von 13520 genannt wird.225 Die Städte, die in diesen Quellen genannt werden, lassen sich zum überwiegenden Teil Galiläa zuordnen. Aharoni kommt zu dem Schluss: „Alle Städte dieses Abschnitts [sc. der entsprechende Abschnitt in den Annalen 18], die einigermaßen sicher identifiziert werden können, liegen in Galiläa.“226 Dieser Auffassung sind auch Lawson Younger und Stern, auch wenn letzterer die Gesamtzahl der Exulanten mit 13200 angibt.227 Diese Angaben stimmen mit dem Bericht in 2Kön 15,29 überein: „In den Tagen Pekachs, des Königs von Israel, kam Tiglatpileser, der König von Assur, und nahm Ijon ein und Abel222

WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 293. WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 293. 224 WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 293. 225 K. LAWSON YOUNGER JR., The Deportatios of the Israelites, JBL 117 (1998), S. 201–227, S. 210f mit Rückgriff auf eine Arbeit von Tadmor. 226 YOHANAN AHARONI, Das Land der Bibel, S. 390. 227 STERN, Archaeology, S. 43. 223

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Bet-Maacha und Jonaoch und Kedesch und Hazor und Gilead und Galiläa, das ganze Land Naftali, und führte die Bewohner gefangen fort nach Assur.“228 Es ist festzuhalten, dass der assyrische König (vermutlich in mehreren Kampagnen) einen großen Teil des Landes Israel erobert hat; nur ein kleiner Teil rund um Samaria bzw. das ephraimitische Bergland verblieb unter israelitischer Herrschaft. Es ist den Forschern zuzustimmen, wenn sie dieses Gebilde einen „Rumpfstaat“229 nennen, der nach 732 v.Chr. übrig blieb. Wie stark das Mittel der Deportation gerade bei Tiglat-Pileser III eingesetzt wurde, zeigt die Einschätzung Veenhofs: „So schätzt man, daß allein während Tiglatpilesers III. Regierung bei an die vierzig verschiedenen Anlässen mehr als eine halbe Million Menschen deportiert wurden. Diese Deportationen hatten auch den Zweck, den nationalen Widerstand zu brechen und entvölkerte Städte neu zu besiedeln.“230

Zwei Fragen, die aber aufs Engste zusammenhängen, gilt es nun zu bedenken. Zum einen fällt auf, dass die assyrischen Quellen (wie auch die biblischen Texte) zwar von einer großangelegten Wegführung der Bewohner des Landes berichten. Wir finden aber keinen Hinweis auf eine Wiederansiedlung von Deportierten aus anderen Ländern, die die Assyrer unter ihre Herrschaft gebracht hatten. Gibt es Hinweise auf eine solche Wiederansiedlung? Zum anderen ist danach zu fragen, wie die Zahlen, die wir in den Quellen finden, zu bewerten sind. Wir werden diese Fragen aufgreifen, wenn wir uns einen Überblick über die Entwicklung bis zur Eroberung Samarias verschafft haben. 1.2.4.5.3 Die Zeit bis 722 Wie gerade gezeigt, haben die Ereignisse um das Jahr 732 v.Chr. erhebliche Veränderungen für die Menschen in Israel gebracht. Sie wurden von den Assyrern militärisch besiegt, viele Städte wurden zerstört und große Teile des Landes wurden ihnen weggenommen. Der bisherige König Pekach, selbst durch Ermordung seines Vorgängers Pekachja an die Macht gekommen, verlor die Königswürde durch einen pro-assyrischen Aufstand, der von Hosea angeführt wurde (s. auch 2Kön 15,30). Der Reststaat Israel blieb weiterhin Vasall von Tiglat-Pileser III., und Hosea musste Tribut entrichten. Über die folgende Zeit bis zum Jahr 724 bzw. 722 v.Chr. verfügen wir über so gut wie 228

Nach Elberfelder Übersetzung. Belege bei: SCHOORS, Die Königreiche Israel und Juda, S. 95: „Rumpfstaat Ephraim“; ebenso DONNER, Geschichte Israels, S. 344. 230 KLAAS VEENHOF, Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexander des Großen, GNT 11, Göttingen 2001, S. 251. 229

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keine Quellen, sodass man nur vermuten kann, dass man zwar in relativer Ruhe lebte, die Erfahrungen, die infolge der Eroberung allerdings gemacht wurden, tiefe und bleibende Eindrücke hinterlassen haben müssen. Donner formuliert mit Recht: „Tiglatpilesers III. Eingriff in das Gefüge der Kleinstaaten auf der Landbrücke hatte eine nachhaltig lähmende Wirkung auf die Emanzipationsgelüste der Vasallen. Es war die Ruhe nach dem Sturm.“231 Etwa im Jahr 724 v.Chr. stellte dann Hosea seine Zahlungen an Assur ein und nahm offenbar Verhandlungen mit dem ägyptischen König auf. Er hielt die Zeit für gekommen, einen Aufstand gegen den assyrischen König Salmanassar V. zu wagen. Vielleicht reihte er sich damit in einen größeren Aufstand ein, der in dieser Zeit im Gange war. Josephus berichtet uns von Kriegszügen gegen Syrien und Phönizien, die ebenfalls in diesen Jahren durchgeführt wurden,232 vielleicht hoffte Hosea auch auf Unterstützung durch Ägypten.233 Was seine Beweggründe auch gewesen sein mögen, der Aufstand endete in einem Desaster. 1.2.4.5.4 Die Eroberung Samarias durch Salmanassar V. / Sargon II.234 Salmanassar V., der erst wenige Jahre zuvor (727 v.Chr.) assyrischer König geworden war, nahm die Herausforderung umgehend an und konnte den israelitischen König Hosea vermutlich schnell festnehmen, noch bevor die eigentliche Belagerung der Hauptstadt Samaria begann, so jedenfalls der Be-

231

DONNER, Geschichte Israels, S. 344. Josephus, Ant IX,277–291, besonders 283ff. 233 So z.B. vermutet es SCHOORS, Die Königreiche Israel und Juda, S. 95. Donner konstatiert: „Man begreift nicht, wie er dazu kam, ausgerechnet 724 einen Aufstand zu riskieren. Zwar besitzen wir keine Inschriften Salmanassers V., aber es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, daß das neuassyrische Großreich in einer innen- oder außenpolitischen Krise gesteckt hätte“ (DONNER, Geschichte Israels, S. 345). Von daher relativiert sich der Hinweis von Josephus. 234 In den Darstellungen werden öfters beide Namen genannt, wenn es um die Eroberung Samarias geht. Das liegt u.a. daran, dass wir sowohl von Salmanassar V. als auch von Sargon II. entsprechende Nachrichten haben, dass beide die Stadt eroberten. Es hat in der Vergangenheit etliche Versuche gegeben, diesen komplexen Sachverhalt aufzulösen. Tadmor vermutete z.B., dass Salmanassar V. die Stadt belagerte, der Fall der Stadt sei aber unmittelbar nach seinem Tod erfolgt, sodass dieser Erfolg beiden Herrschern zugeschrieben werden konnte. Diese und andere Versuche haben allerdings noch nicht zu einer zufriedenstellenden Lösung geführt, sodass wir an dieser Stelle der Einfachheit halber bei Salmanassar V. bleiben, der den Aufstand niederschlug und die Belagerung und Eroberung von Samaria einleitete. Zu dieser Diskussion s. jetzt mit entsprechenden Hinweisen auf die Literatur: WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 296–298. 232

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

55

richt in 2Kön 17,1–6, dem im Wesentlichen die Forschung folgt.235 Für unsere Fragestellung sind die beiden assyrischen Quellen wichtig, die von der Eroberung Samarias berichten. Zum einen handelt es sich um eine Chronik, in der schlicht vermerkt ist, dass Salamanasser V. die Stadt Samaria eroberte.236 In einem weiteren Text wird über die Eroberung durch Sargon II. berichtet. Dort heißt es: „[Die Leu]te von [S]amaria, die mit einem mir [feindl]ichen König [gegenseit]ig übereingekommen waren, (mir) nicht (mehr) zu dienen [(und?)] Abgaben [nicht (mehr) zu bez]ahlen, nahmen den Kampf mit mir auf. [I]n der Kraft der großen Götter, meiner Herren, kämpf[te] ich [m]it ihnen [und] 27280 Menschen237 zusammen mit [ihren] Str[eitwagen] und den Göttern, ihren Helfern, rechnete ich [als] Beute. 200 Streitwagen (für) [meine] könig[liche] Truppe hob ich unter ihnen aus und den Rest von ihnen siedelte ich inmitten des Landes Assyrien an. Die Stadt Samaria stellte ich wieder her und machte (sie) mehr als früher. Menschen (anderer) Länder, die Beute meiner Hände, brachte ich hinein […].“238

Dieser Text ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich. Zum einen wird die Eroberung und Zerstörung Samarias geschildert. Ebenso soll die Nachwelt über die Deportation einer großen Menschenmenge unterrichtet werden. Darin gleicht diese Nachricht der über die Eroberung, die etwa zehn Jahre zuvor geschehen ist. Damit dürfte deutlich sein, dass die Assyrer bei der Niederschlagung von Aufständen keine Gnade kannten und massiv mit aller Härte vorgingen. Zum anderen unterscheidet sich dieser Text über die Eroberung Samarias markant von der des Nordteils von Israel 734 bzw. 732 v.Chr. Hier wird ausdrücklich über die Neugründung der Stadt informiert. Dass diese besser bzw. größer als die vorige Siedlung gewesen sein soll, kann man vermutlich der Darstellungsweise anlasten. Der König möchte sich in ein gutes Licht stellen, indem er das Vorige durch etwas Größeres und Schöneres ersetzt. Dass es eine Neugründung gab, kann hingegen nicht bezweifelt werden. Zudem wird ausdrücklich vermerkt, dass Menschen aus anderen Ländern in und um Samaria angesiedelt wurden. Einen solchen Hinweis finden wir über die Eroberung durch Tiglat-Pileser III. nicht. Damit stellt sich die Frage, ob ein solcher Vermerk einfach „ausgefallen“ ist, wir aber dennoch annehmen

235 SCHOORS, Die Königreiche Israel und Juda, S. 95; DONNER, Geschichte Israels, S. 346; WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 296. 236 „Am 25. Tebet setzte sich Salmanasser in Assyrien (und in Akkad) auf den Thron. Er eroberte Samaria“ (zitiert nach: WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 301). 237 In der Edititon von Weippert findet sich an dieser Stelle ein Hinweis auf eine Prunkinschrift, in der über die Eroberung Samarias berichtet wird. Dort werden die Zahlen 27290, 27280 und 24280 genannt, s. WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 301 Anm. 39, sowie der Text dieser Inschrift, der auf Seite 302 geboten wird. 238 Zitiert nach: WEIPPERT, Historisches Textbuch, S. 301.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

können, dass diese Art von Politik nicht nur von Salmanassar V. bzw. Sargon II. angewandt wurde, sondern auch für die Zeit von Tiglat-Pileser III. anzunehmen ist. In diese Richtung denkt Donner, wenn er schreibt: „Er [sc. Tiglat-Pileser III.] deportierte die städtische Oberschicht der eroberten Gebiete ‚nach Assur‘, während die bodenständige Landbevölkerung im Lande blieb und nach geläufiger assyrischer Praxis eine neue, fremde Oberschicht erhielt.“239

Hier wird das Szenario geschildert, dass nur ein Teil der im Lande lebenden Menschen deportiert wurde, während der überwiegende Teil bleiben konnte, aber eine neue Führungsschicht „erhielt“. Dieses ist wie gesagt für Samaria und das ephraimitische Bergland belegt, aber nicht für die anderen Landesteile, die 732 erobert wurden. Dieses deckt sich auch mit den biblischen Angaben. In 2Kön 15,29 wird nur erzählt, dass der assyrische König die Gefangenen deportieren ließ; in 2Kön 17,24ff wird hingegen erwähnt, wie der König aus Assur Menschen aus anderen Ländern in Samaria und Umgebung ansiedelte; es werden nur die „Städte Samarias“ erwähnt (2Kön 17,29). Eine solche Darstellung, wie wir sie bei Donner finden, kann also nur so gewonnen werden, dass man die klaren Aussagen zu Samaria auf die Ereignisse zehn Jahre zuvor überträgt. Dies ist jedoch so nicht möglich. In einer grundlegenden Studie hat Zvi Gal den archäologischen Befund für eine Besiedlung des Gebietes von Untergaliläa in der Eisenzeit erhoben bzw. ausgewertet.240 Auf diese Arbeit wird später noch einzugehen sein;241 an dieser Stelle sollen schon einmal einige wichtige Ergebnisse festgehalten werden. Gal konstatiert, dass das Gebiet von Untergaliläa im zehnten vorchristlichen Jahrhundert eine erste Blüte erlebte. 15 befestigte Städte wurden errichtet, sodass man für diese Zeit eine dichtere Besiedlung annehmen kann.242 Bereits Mitte des neunten Jahrhunderts könne man dann allerdings beobachten, dass einige Städte aufgegeben worden sind; die Gründe seien in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Aramäern zu suchen. Ende dieses Jahrhunderts und in der Folgezeit bis zur Regentschaft Jerobeams II. sei wieder eine deutliche Erholung zu verzeichnen. „Ten new settlements were built, which is 37 percent of all known cities in eighth-century B.C.E. Lower Galilee.“243 Diese neuerliche Phase einer prosperierenden Bevölkerung kam dann allerdings an ein abruptes Ende. Genau in der Phase der Regentschaft von Tiglat-Pileser III. kann man beobachten, dass viele Siedlungen 239

DONNER, Geschichte Israels, S. 339. ZVI GAL, Lower Galilee during the Iron Age, American Schools of Oriental Research Dissertation Series Band 8, Winona Lake, 1992. 241 S. Abschnitt 2.6.2. 242 GAL, Lower Galilee, S. 106. 243 GAL, Lower Galilee, S. 107. 240

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

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zerstört und aufgegeben wurden. Gal untersuchte auch die in den assyrischen Quellen genannten Zahlen der Deportierten für das Gebiet von Galiläa bzw. Untergaliläa (s.o.: Es werden die Zahlen 625, 650 und 656 für einzelne Ortschaften genannt). Diese Zahlen stimmen mit der Größe der damals dort existierenden Ortschaften überein. Wenn man eine durchschnittliche Bewohnerzahl von 40 Einwohner pro Dunam244 annehme, so bedeuten die Zahlen, dass in verschiedenen Ortschaften nicht mehr als die genannte Zahl von Menschen lebte. Es bleibt daher nur der Schluss, dass in etlichen Orten die gesamte Bevölkerung deportiert worden ist. Selbst die in den Quellen genannte Zahl von 13520 Deportierten füge sich, so die Feststellung Gals, gut in die Ergebnisse der Ausgrabungen in Untergaliläa ein.245 Noch gravierender sind aber die Ergebnisse für die Zeit nach den Ereignissen rund um die Eroberung durch Tiglat-Pileser III. Die Ausgrabungen zeigen, dass Untergaliläa für lange Zeit kaum besiedelt war, viele Ortschaften sind aufgegeben worden und wurden teilweise erst sehr viel später oder auch nie wieder aufgebaut. Insgesamt zeigt sich so ein Bild, dass die Eroberung und Zerstörung durch den assyrischen König umfassend war. Städte wurden, anders als Samaria, nicht wieder neu besiedelt, es wurden demnach auch keine neuen Siedler nach Galiläa gebracht. Diese Ergebnisse, die Gal für Untergaliläa herausgearbeitet hat, haben sich in den folgenden Jahren auch für andere Gebiete wie Obergaliläa, aber auch darüber hinaus, bestätigt. Stern hält fest: „In the former, all evidence points to the fact that the entire region was destroyed and never repopulated by the Assyrians (except, perhaps, for the provincial capital of Megiddo“246 und später: „The Assyrian conquest of the Galilee, the large valleys, and the land of Samaria brought with it the general destruction of all Israelite settlements and the deportation of most of their inhabitants.“247 Auch in der 2013 erschienenen Neubearbeitung des Herderschen Bibelatlas wird jetzt festgehalten, dass „das Gebiet des ehemaligen Nordreiches … zu großen Teilen entvölkert [wurde].“248 Es zeigt sich, dass man bei der Eroberung des Nordreiches durch die Assyrer deutlich differenzieren muss. Die Politik eines Tiglat-Pilesers III. weicht in nicht unerheblichem Maße von der seines Nachfolgers ab. Während ersterer 734 bis 732 die ehemaligen Gebiete des Nordreiches eroberte, die Städte 244

Ein Dunam ist ein altes Flächenmaß und kann unterschiedlich groß sein. Das metrische Dunam entspricht einer Größe von 1000m² und wird heute z.T. bei Ausgrabungen in Israel und Jordanien verwendet. Diese Größe liegt auch den Ausführungen von Gal zugrunde. 245 GAL, Lower Galilee, S. 109. 246 STERN, Archaeology, S. 43. 247 STERN, Archaeology, S. 46. 248 Herders Neuer Bibelatlas, S. 211.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

zerstörte und Menschen in die Verbannung führte und somit weithin entvölkerte Gebiete zurückließ, ging sein Nachfolger zwar mit ebenso großer Härte gegen die Aufständischen vor, baute aber zerstörte Städte wieder auf und sorgte mit der Ansiedlung anderer Volksgruppen zumindest dafür, dass keine „verbrannte Erde“ zurückblieb. Man muss also das Vorgehen Tiglat-Pilesers III. und seiner Nachfolger differenziert betrachten.249 Über die Gründe, warum Tiglat-Pileser III. Galiläa anders behandelte als Salmanasser V. bzw. Sargon II. später Samaria, kann man nur spekulieren. Es mag an der Randlage Galiläas und seiner wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit gelegen haben, sodass ein Wiederaufbau nur Ressourcen gekostet, aber keinen Vorteil gebracht hätte; aber über Vermutungen kommen wir an dieser Stelle nicht hinaus.250 Die Einsicht, dass das Gebiet von Galiläa nach der Zerstörung für einen längeren Zeitraum entvölkert war (und es auch für lange Zeit blieb!), hat erhebliche Konsequenzen für das weitere Nachdenken über Galiläa, da viele Aussagen über ein „heidnisches Galiläa“ unter der Voraussetzung getroffen wurden, in Israel seien im achten Jahrhundert v.Chr. etliche Fremdvölker von den Assyrern angesiedelt worden. Wegen dieser grundsätzlichen Bedeutung werden wir später noch einmal ausführlich auf dieses Thema eingehen.251 1.2.4.5.5 Folgerungen Im Folgenden sollen einige Schlüsse aus dem oben Genannten dargelegt werden. a) Die Ereignisse der Jahre 734/732 v.Chr. stellen einen großen Bruch in der Geschichte des Nordreiches dar. Weite Teile des Landes wurden erobert; viele Städte und Siedlungen fielen der Zerstörung anheim. Ganze Landstriche sind durch die Eroberer entvölkert worden. Dabei handelt es sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung; das Bild der Verwüstung bot sich über einen langen Zeitraum hin. Eine Hoffnung auf (kurzfristige) Besserung der Lage oder gar eine schnelle Wende zum Besseren konnte sich nicht ergeben. Der größte Teil des Landes erlebte eine Katastrophe bisher ungeahnten Ausmaßes. Etwas Hoffnung konnte sich nur für das ephraimitische Bergland, also das Gebiet rund um Samaria, ergeben; aber auch hier haben Zerstörung, der Tod vieler Menschen und die Deportation Tausender aus dem Land die Menschen verstört und deprimiert. Man kann für Israel von einer tiefen Depression sprechen. „Für viele israelitische Städte bedeutete die assyrische Erobe249

So in besonderer Weise YOUNGER, The Deportations of the Israelites, S. 224–227. Zu möglichen Gründen s. YOUNGER, The Deportations of the Israelites, S. 224f. 251 S. die Ausführungen in Abschnitt 2.6. 250

1.2 Galiläa im Masoretischen Text

59

rung das absolute Ende. Andere vegetierten als bescheidene dörfliche Siedlungen noch für einige Zeit dahin, um dann für die nächsten Jahrhunderte von der Landkarte Galiläas zu verschwinden.“252 b) Wir hatten gesehen, dass bei der Analyse von Jes 8,23b–9,6 viele Forscher davon ausgehen, dass diese Worte eine erneute Zuwendung Jahwes zum Ausdruck bringen. Man hat in den Worten „am Ende hat er das Land wieder zu Ehren gebracht“ einen Rückblick auf göttliches Handeln gesehen, das sich im Niedergang des assyrischen Reiches manifestiert habe. Wenn aber nun festgestellt werden kann, dass weite Gebiete des ehemaligen Israels über einen langen Zeitraum hinweg, und damit auch deutlich über die Zeit Josias hinaus, entvölkert blieben oder nur mit spärlichen Siedlungen versehen waren und somit für den Betrachter weiter ein Bild des Elends abgaben, so sind doch Zweifel an dieser Übersetzung und damit auch an der Deutung von Jes 8,23b angebracht. Sicherlich ist der Untergang Assurs von allen Bewohnern der unterdrückten und beherrschten Länder dankbar begrüßt worden, aber der Gedanke, dass damit das verwüstete Land des Nordens wieder zu Ehren gebracht worden wäre, erscheint doch mehr als fraglich. Auf dem Hintergrund des archäologischen Befundes ist doch vermutlich eher zu verstehen, dass in Jes 8,23b auf bereits erfolgte Zerstörungen zurückgeblickt wird. Diesem Volk, das nun durch diese Katastrophen in der Finsternis wandelt, wird nun angesagt, dass es dennoch eine Hoffnung haben kann – gegen alle äußeren Gegebenheiten. c) Bei den bisherigen Fragestellungen haben wir uns vor allem auf Israel und sein Schicksal konzentriert. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass das Südreich Juda ebenfalls von allen diesen Ereignissen berührt worden ist. Die Ereignisse rund um den syrisch-ephraimitischen Krieg führten vor Augen, wie König Ahas in diesen Konflikt mit Assur hineingezogen werden sollte. Er hatte um Schutz bei Tiglat-Pileser nachgesucht und wurde so zu dessen Vasallen. Beide Staaten waren eng miteinander verflochten, und das, was dem einen geschah, konnte dem anderen nicht verborgen bleiben. Stellt man dann noch in Rechnung, dass durch das Schicksal Israels sich Flüchtlinge auf den Weg nach Süden machten, um in Juda Schutz zu suchen, wird schnell klar, dass die Menschen in und um Jerusalem sehr gut über die Ereignisse im Norden Bescheid wussten und ein Bild vor Augen hatten, wie Assur mit Aufständischen umgeht. Diese Wanderungsbewegungen können heute gut archäologisch verifiziert werden.

252

MICHAEL WEIGL, Galiläa in der assyrischen und babylonisch-persischen Zeit, in: Faßbeck / Fortner / Rottloff / Zangenberg (Hg.), Leben am See Gennesaret, S. 77–79, S. 77.

60

1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

„Nach dem Feldzug Sanheribs kamen offensichtlich in der ersten Hälfte des 7. Jh.s noch mehr Flüchtlinge nach Jerusalem, denn die Ausgrabungen auf dem ‚Zionsberg‘, im armenischen Garten und in der Zitadelle zeigen, dass die Besiedlung damals den ganzen südwestlichen Hügel erfaßte. Den Bevölkerungszuwachs in Juda kann man auch mit dem Ausbau anderer Städte wie Tell el-Hesi oder mit Neugründungen wie En-Gedi und Hirbet Qumran am Toten Meer, Tel ʿIra, Tel Malhata und Aroer im nördlichen Negeb nachweisen.“253

Es ist anzunehmen, dass solche Wanderungsbewegungen auch in der Zeit eines Tiglat-Pilesers vorkamen und Menschen sich auf die Flucht nach Süden aufmachten und in Juda eine neue Heimat fanden. Es ist damit weiterhin anzunehmen, dass die Bevölkerung von Juda durch solche Flüchtlinge über die Kriegsgräuel der Assyrer und über die Lage im Lande im Bilde war. d) Damit stellt sich auch noch einmal die Frage nach den Adressaten von Jes 8,23b–9,6. Unbeschadet der Beantwortung der Frage, ob man diese Worte weitgehend direkt auf das Wirken des Propheten Jesaja zurückführt oder darin ein Ergebnis späterer Redaktoren z.B. in der Zeit des Josia zu erkennen glaubt, sie richten sich an die Bevölkerung von Jerusalem bzw. damit von Juda. Ihnen gelten diese Worte, die zunächst von Ereignissen im Nordreich handeln. Sollten diese Worte in der Tat auf Jesaja zurückgehen, so formuliert er eine Botschaft der Hoffnung im Angesicht einer vollkommen erscheinenden Niederlage. Hören wir Worte aus der Zeit des Josia, so sagen diese angesichts einer nahezu einhundert Jahre dauernden Depression und Entvölkerung, dass diese Erfahrung nicht das letzte Wort sein wird. Es ist eine Verheißung an die Bevölkerung Judas, dass weiterhin eine Hoffnung für das Volk in der Finsternis besteht. Es ist somit ein Wort an Juda, dass das Heil für Gesamtisrael noch nicht verloren ist.

1.3 Galilai,a in der Septuaginta (LXX) 1.3 Galiläa in der Septuaginta

1.3.1 Stellen, an denen die LXX gegen den MT mit Galilai,a übersetzt Nehmen wir die Verwendung des Begriffes Galilai,a in der LXX in den Blick, so ergibt sich ein anderer Befund als bei der Frage des Gebrauchs von ‫ גָּ לִ יל‬im MT. Als erstes ist festzustellen, dass an allen sechs Stellen, wo im MT ‫ גָּ לִ יל‬steht, mit Galilai,a übersetzt wird. Daneben wird aber an fünf weiteren Stellen „Galiläa“ erwähnt, wo es im MT nicht steht: Jos 12,23, Joel 4,4 , Ez 47,8, Jes 33,9 sowie 1Kön 9,12. Die Josuastelle hatten wir bereits

253

SCHOORS, Die Königreiche Israel und Juda, S. 72.

1.3 Galiläa in der Septuaginta

61

untersucht und festgestellt,254 dass die LXX Variante vermutlich die ursprüngliche Lesart ist.255 In Joel 4,4 wird im MT von den Bezirken der Philister (‫ )גְּ לִ ילו ֺת ְפּלָ ֶשׁת‬gesprochen, die LXX versteht ‫ גְּ לִ ילו ֺת‬als Landschaftsbezeichnung und übersetzt daher mit Galilai,a avllofu,lwn. Eberhardt und von Stockhausen weisen in ihren Erläuterungen und Kommentaren zur LXX Fassung des Buches mit Recht darauf hin, dass auch an anderen Stellen das hebräische ‫( גָּ לִ יל‬mit der Bedeutung Bezirk) in der LXX mit Galilai,a übersetzt wird. Als Belege führen sie Jes 8,23; Ez 47,8 und 4Kön 15,29 an.256 Man kann daher mit Recht vermuten, dass man das hebräische Wort missverstanden hat und statt „Bezirk“ mit „Galiläa“ übersetzte. Dennoch bleibt auffällig, dass hier die hebräische Pluralform mit einer Singularform wiedergegeben wird. Das scheint mir, wenn ich recht sehe, das einzige Mal zu sein, wo dieses so geschieht. Das könnte auch darauf schließen lassen, dass man hier bewusst mit der Landschaftsbezeichnung „Galiläa“ übersetzt hat. Eine solche Annahme bleibt jedoch reine Vermutung, da ein Grund für eine solche Änderung nicht ersichtlich ist. Dass diese Änderung sekundär ist, braucht kaum Erwähnung zu finden. Einige Kommentatoren verzichten sogar darauf, die LXX überhaupt zu erwähnen.257 Diese Änderung durch den Übersetzer258 des Buches Joel könnte durch die so entstehende Verbindung mit dem Wort avllo,fuloj bedingt sein. Sie kommt an einer weiteren Stelle in der LXX vor, auf die wir noch einzugehen haben. Schauen wir auf die Vulgata-Fassung an dieser Stelle, so lesen wir: „verum quid vobis et mihi Tyrus et Sidon et omnis terminus Palestinorum“. Damit wird erkennbar, dass sich die lateinische Überlieferung eng an die hebräische Fassung hält, ein Hinweis auf Galiläa ist nicht zu erkennen. Es muss also offenbleiben, warum der bzw. die Übersetzer der LXX die hebräische Wendung ‫ גְּ לִ ילו ֺת ְפּלָ ֶשׁת‬mit „Galiläa der Fremdstämmigen/Philister“ statt mit „Bezirke der Philister“ wiedergab. Der Targum folgt an dieser Stelle dem MT und übersetzt: „What are you reckoned before me O 254

S. die Ausführungen in Abschnitt 1.2.1. Jos 12,23 wird in diesem Abschnitt nicht mehr genauer analysiert, da dieses bereits in Abschnitt 2.1 erfolgte. Auch wenn mit der LXX statt „Gilgal“ „Galiläa“ zu lesen ist, so sind damit kaum Hinweise zum Verständnis von Galiläa verbunden. 256 BARBARA EBERHARDT / ANNETTE VON STOCKHAUSEN, Joel, in: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare 2, S. 2381–2387, S. 2386. 257 Das fällt besonders bei Hans Walter Wolff auf, der sich sonst in seiner Auslegung sehr intensiv um die Textkritik kümmert und die relevanten Stellen i.d.R. ausführlich diskutiert; vgl. WOLFF, Dodekapropheton 2: Joel / Amos, BK XIV/2, Neukirchen-Vluyn 3 1985, S. 87f. 258 Es kann dabei sicherlich nicht ausgeschlossen werden, dass mehrere Personen an der Arbeit der Übersetzung beteiligt waren. 255

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Tyre and Sidon, and all the districts of the Philistines?“259 Diese Hinweise machen es sehr wahrscheinlich, dass die LXX an dieser Stelle den MT missverstanden oder bewusst verändert hat. Ebenso wird auch in Ez 47,8 das Wort ‫( גָּ לִ יל‬Bezirk) in der LXX mit Galilai,a wiedergegeben. Da in der LXX-Übersetzung in 47,8 eine weitere Ortsangabe ‫ ֲ ָר ָבה‬, womit in diesem Zusammenhang „Steppe“260 gemeint sein dürfte, mit „VArabi,a“ bezeichnet wird, kann man davon ausgehen, dass hier eine bewusste Änderung vorgenommen wurde. Zwei in ihrer Bedeutung offenbar nicht ganz klare hebräische Ausdrücke finden so ihre Entsprechung in zwei konkreten Ortsangaben, mit denen der Übersetzer und der Leser genauere Vorstellungen verbinden konnten. Ein Blick auf die Vulgata an dieser Stelle macht schnell deutlich, dass man sich hier an die (bzw. eine) hebräische Textvorlage gehalten hat („… et ait ad me aquae istae quae egrediuntur ad tumulus sabuli261 orientalis et descendunt ad plana deserti“). In Jes 33,9 übersetzt die LXX die Landschaftsangabe ‫ ָבּ ָשׁן‬mit Galilai,a. Ob hier einfach nur der Versuch gemacht wird, „Unverständliches zu vermeiden“262, kann man durchaus kritisch hinterfragen. So wird auch an anderen Stellen von „Basan“ gesprochen (Am 4,1 oder auch Dt 32,14 u.a.), sodass man die Kenntnis dieses Namens und den damit gegebenen Sachverhalt

259

TJoel 4,4 zitiert nach: The Targum of the Minor Prophets, translated, with a Critical Introduction, Apparatus, and Notes by KEVIN J. CATHCART and ROBERT P. GORDON, The Aramaic Bible Band 14, Wilmington 1989. In dieser Ausgabe werden alle Zusätze und Abweichungen, die der Targum gegenüber dem masoretischen Text hat, in Kursivschrift geboten. („In this translation wherever the Targum is different from, or additional to, the Masoretic text this is indicated by italics“, a.a.O., S. 19.) Diese Schriftauszeichnung wurde in der vorliegenden Arbeit bei allen Zitaten dieser Ausgabe übernommen. Es ist an hier ein Wort der Begründung anzuführen, warum an dieser (und anderen Stellen) der Targum herangezogen wird. Beate Ego hat deutlich gemacht, dass der Targum „für die Auslegungsgeschichte des AT bedeutsam [ist], da diesen Texten entnommmen werden kann, wie das Judentum der ersten nachchristl. Jh. die biblischen Trad. deutete“ (BEATE EGO, Art. Targum, DNP 12/1, Sp. 25f, Sp. 26 und dies., Art. Targumforschung, RGG4 8, Sp. 40f). Auch wenn man sicherlich zwischen den verschiedenen Targumim deutlich unterscheiden muss (Onqelos, Neofiti, Pseudo-Jonathan, Jonathan), die sich teilweise eng an den MT anlehnen, diesen aber auch paraphrasiert und gelegentlich gegen den ursprünglichen Sinn verändert haben (und die zu verschiedenen Zeiten abgefasst bzw. redigiert wurden), so spiegeln sich in diesen Texten Diskussionen um theologische Themen, die teilweise zur Zeit des Neuen Testaments geführt wurden. 260 So ZIMMERLI, Ezechiel 25–48, S. 1186. 261 Mit sabulum ist ein grobkörniger Sand oder Kies gemeint, s. GEORGES, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Hannover / Leipzig, 81913. In der Verbindung mit tumulus (Erdhügel) wird deutlich, dass man wesentlich näher an der hebräischen Fassung ist. Dasselbe gilt auch für die zweite Ortsangabe. 262 HANS WILDBERGER, Jesaja 28–39, BK X/3, Neukirchen-Vluyn 1982, S. 1295.

1.3 Galiläa in der Septuaginta

63

durchaus voraussetzen kann. Baltzer u.a. nehmen an, dass die Angabe „Galiläa“ besser zu dem Ort Karmel passe.263 Also können wir auch an dieser Stelle davon ausgehen, dass die Übersetzer eine bewusste Änderung des Textes vornahmen, um eine bessere Verständlichkeit bei den Lesern zu erreichen. Eine letzte Sicherheit lässt sich aber nicht erreichen. Wiederum bestätigt sich das Bild, dass die Vulgata auch an dieser Stelle nicht von der LXX Fassung beeinflusst ist, sondern klar dem MT folgt („et concussa est Basan et Carmelus“). In 1Kön 9,11 wird sowohl im MT als auch in der LXX Galiläa erwähnt.264 Salomo hatte 20 Städte an Hiram als Bezahlung für die Baustoffe abgetreten, die dieser für den Bau des Tempels geliefert hatte. Während der MT in Kap. 9,12 berichtet, dass Hiram sich die Städte ansieht, fügt die LXX den erklärenden Zusatz kai. evporeu,qh eivj th.n Galilai,an an,265 der aber sachlich keine neuen Informationen bietet. Überblickt man die fünf genannten Stellen, an denen gegen den MT mit Galilai,a in der LXX übersetzt wird, so zeigt sich, dass die Übersetzer deutlich den Wortlaut der hebräischen Textfassung verändert haben. Das mag der Situation geschuldet sein, dass die Angaben ihnen und dem intendierten Leser bzw. Hörer unverständlich erschienen, sodass sie für sie den Text abänderten und bekanntere Ortsangaben einfügten. Dabei gingen sie nicht willkürlich vor, sondern haben „Galiläa“ dort eingefügt, wo es ihnen passend erschien. Gerade das Beispiel aus Ez 47,8 macht deutlich, wie gleich zwei Angaben so verändert wurden, dass eine bessere Verständlichkeit erreicht werden sollte. Man kann daraus schließen, dass „Galiläa“ als Landschaftsbegriff einem lesenden Publikum bekannt war, das vermutlich zunächst in Ägypten zu vermuten ist. Das bedeutet, dass die Juden in Ägypten mit den geografischen Gegebenheiten in Palästina so vertraut waren, dass „Galiläa“ bei ihnen das Bild eines Gebietes im Norden entstehen ließ; genaue Grenzverläufe dürften damit nicht verbunden gewesen sein, wohl aber grobe Umrisse. 1.3.2 Stellen in den Spätschriften, die Galilai,a bieten Haben wir uns bisher nur den Texten zugewandt, die zum Korpus des MT gehören, so blicken wir nun auf die übrigen Schriften der LXX. Hier ergibt sich folgender Befund: Galilai,a kommt an 15 Stellen in den sog. Spätschriften des AT vor, davon entfallen 11 Belege allein auf das erste Makkabäer263

KLAUS BALTZER / JÜRGEN KABIERSCH / KLAUS KOENEN / ARIE VAN DER KOOIJ / FLORIAN WILK, Esaias / Isaias / Das Buch Jesaja, in: Septuaginta Deutsch, Erläuterungen und Kommentare 2, S. 2593. 264 S. dazu auch die Ausführungen in Abschnitt 2.3.1. 265 S. dazu: SIMON J. DEVRIES, 1 Kings, WBC 12, Waco 1985, S. 130.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

buch (wobei davon wiederum sieben in 1Makk 5 vorkommen), zwei Stellen sind im Buch Judit zu finden, und die beiden letzten Belege finden wir im Buch Tobit. In aller gebotenen Kürze soll nun auf die jeweiligen Stellen eingegangen werden. Dabei sollen zunächst die (wahrscheinlich) ältesten Belege an den Anfang gestellt werden. 1.3.2.1 Galilai,a im Buch Tobit Bevor wir die beiden Stellen im Buch Tobit untersuchen, müssen zunächst zwei grundlegende Fragen beantwortet werden. a) Da der griechische Text in mehreren, sehr unterschiedlichen Fassungen vorliegt, muss geklärt werden, welche dieser Textformen die wahrscheinlich ursprüngliche ist. b) In Qumran wurden einige Fragmente des Buches Tobit in aramäischer und hebräischer Sprache gefunden,266 die die Frage neu aufkommen ließen, ob dem griechischen Text eine semitische Fassung als Vorlage diente. a) Das Buch Tobit liegt in drei griechischen Fassungen vor. Die erste Version (G1), auch als Kurzform bezeichnet, wird vor allem durch die Codices Alexandrinus, Vaticanus und Venetus repräsentiert und zeichnet sich durch ein „flüssiges Griechisch“267 aus; die zweite Version (G2), durch Codex Sinaiticus und die Minuskelhandschriften 319 und 910 bezeugt, ist an etlichen Stellen ausführlicher als G1 und ist durch etliche Semitismen gekennzeichnet.268 Die dritte Version G3 ist nicht vollständig (Tobit 6,9–12,22) und ist offenbar eine Mischform aus G1 und G2 und scheidet auch aus diesem Grund als älteste Textform aus. In der Forschung war lange umstritten, ob G1 oder G2 älter ist.269 In den letzten Jahren hat sich die These deutlich durchgesetzt, in der Langfassung G2 die wahrscheinlich ursprüngliche Textform zu erkennen. Damit hätte G1 den längeren Text an einigen Stellen gekürzt bzw. paraphrasiert und die vorliegenden Semitismen weitgehend beseitigt. Letzte Sicherheit ist aber an dieser Stelle nicht zu erreichen.270 Für unsere Fragestellung ist

266 Es handelt sich um die Fragmente 4Q196–200. Die Fragmente 4Q196–199 (bzw. 4QpapTobaar; 4QTobbar; 4QTobcar; 4QTobdar) sind in Aramäisch verfasst, während 4Q200 (bzw. 4QTobehebr) in hebräischer Sprache geschrieben wurde; zu den einzelnen Fragmenten versehen mit einer Übersicht, welchen Text das jeweilige Fragment bietet: BEATE EGO, Buch Tobit, JSHRZ II/6, Gütersloh 1999, S. 876–879). 267 EGO, Buch Tobit, S. 875. 268 EGO, Buch Tobit, S. 875 269 S. dazu mit ausführlicher Angabe der Literatur: EGO, Buch Tobit, S. 875f. 270 S. dazu: REIMUND LEICHT, Art. Tobit / Tobitbuch, RGG4 8, Tübingen 2005, Sp. 426: „Durch die Aufnahme in die griech. Bibel (Textfassung des Codex Sinaiticus vermutlich

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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dieses insofern von Belang, da Tob 1,5 nur in der Langfassung vorkommt und die zweite Stelle Tob 1,2 im Blick auf Galilai,a unterschiedlich wiedergegeben wird. Wir werden demnach die Fassung G2 für die weiteren Überlegungen zugrundelegen. b) Über eine dem griechischen Text zugrundeliegende hebräische oder aramäische Version wurde schon längere Zeit diskutiert, nicht zuletzt aufgrund der vielen Semitismen in G2. Durch die Textfunde in Qumran wurde es nun noch wahrscheinlicher, dass diese Erzählung ursprünglich in einer semitischen Sprache verfasst worden ist. Es zeichnet sich in der Forschung ein Bild ab, das Beate Ego so zusammenfasst: „Wenn aufgrund dieser wenigen Hinweise auch keine definitive Entscheidung gefällt werden kann, so kommt der Annahme eines aramäischen Originals insgesamt wohl größere Plausibilität zu. Dies wiederum spricht für die Annahme, wonach die Tobiterzählung aufgrund der in diesem Buch verhandelten Thematik in der östlichen Diaspora entstanden ist.“271

Zum Schluss dieser einleitenden Überlegungen ist noch nach dem Alter des Buches zu fragen. Es zeigt sich, dass die Meinungen in der Forschung zu dieser Frage erheblich divergieren. Einige datieren eine Erstabfassung ins fünfte Jahrhundert, andere sind deutlich vorsichtiger und neigen dazu, dass es im dritten oder zweiten Jahrhundert v.Chr. verfasst worden ist.272 Man ist sich jedoch einigermaßen sicher, was den terminus ad quem angeht. Da in dieser Schrift kaum Hinweise auf eine rigide Religionspolitik zu finden sind, wie sie in der Makkabäerzeit erkennbar ist, ist die Abfassung vor etwa 170 v.Chr. anzusetzen, eine Zeit um 200 scheint als Abfassungszeit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzunehmen zu sein.273 Wie oben erwähnt, kommt Galilai,a an zwei Stellen im Buch Tobit vor. Es handelt sich um Tob 1,2 und 1,5. Zu Beginn des Kapitels wird der Protagonist der Geschichte, Tobit, als ein Jude vorgestellt, der zwar fern der Heimat lebt, aber dennoch von untadeliger Herkunft ist und sich auch sonst nichts zu Schulden hat kommen lassen. Seiner Herkunft nach ist er dem Stamme Naftali zuzuordnen. Auch wenn sich nicht alle genannten Orte genau lokalisieren lassen („Buch der Geschichte Tobiths, […] der in den Tagen Enemessaros, des Königs der Assyrer, in die Gefangenschaft geführt wurde, aus Thisbe, das älter als die kürzere des Codex Alexandrinus und des Vaticanus) erlangte das T. [sc. Tobitbuch] jedoch Bedeutung für den christlichen Kanon (auch Vetus Latina, Vulgata).“ 271 EGO, Buch Tobit, S. 881 272 EGO, Buch Tobit, S. 899 mit der Auflistung von möglichen Datierungsversuchen. 273 So mit einigen guten Gründen EGO, Buch Tobit, S. 899f: Es „scheinen sich Argumente zu verdichten, die eine Datierung in das späte dritte bzw. frühe zweite Jahrhundert plausibel machen.“

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

südlich von Kydios (in) Naphtali in Obergaliläa, oberhalb von Asser, nordwestlich von Phogor liegt.“274), so wird deutlich, dass Tobit aus Galiläa stammt. Es fällt auf, dass hier die Landschaftsbezeichnung „Galilai,a“ durch eine zusätzliche Angabe „a;nw“ präzisiert wird. Tobit stammt demnach aus „Obergaliläa“. Wenn wir recht sehen, ist das der älteste Hinweis darauf, dass man die Landschaft Galiläa weiter ausdifferenziert. Das lässt darauf schließen, dass dieser Raum zunehmend an Bedeutung gewinnt, sodass es angeraten erscheint, genauere Angaben zu machen. Offensichtlich scheinen auch die Leser über diese Begrifflichkeit Bescheid zu wissen. Die Kurzfassung (G1) von Tobit lässt diese Präzisierung weg und spricht nur von Galiläa. In Tob wird u.a. ein Ort Kudiwj th/j Nefqalim erwähnt, der in der Regel mit dem Ort Kadesch identifiziert wird.275 Er wird im AT u.a. Jos 12,23; 19,37; 20,7; Ri 4,6.9.10 erwähnt. Er liegt etwa 7 bis 8 Kilometer nordwestlich des Ḥule-Sees. Die Angabe, der Heimatort des Tobit liege südlich von Kadesch in Naftali, könnte darauf hindeuten, dass der Verfasser des Buches damit die Grenze von Obergaliläa und damit auch die Grenze des Gebietes, in dem die jüdische Bevölkerung lebt, markiert. Der Blick in die Vulgata an dieser Stelle verrät, dass diese deutlich von der griechischen Fassung (G2) abweicht und eher eine paraphrasierende Übersetzung zu sein scheint.276 In der Frage nach der Ortsangabe (Tob 1,1) folgt sie erstaunlicherweise aber dem präzisierenden „Obergaliläa“. Stellt man die beiden Texte synoptisch nebeneinander, so zeigen sich Unterschiede, aber auch die erstaunliche Übereinstimmung in diesem Detail. 1 bi,bloj lo,gwn Twbiq tou/ Twbihl tou/ Ananihl tou/ Adouhl tou/ Gabahl tou/ Rafahl tou/ Ragouhl evk tou/ spe,rmatoj Asihl evk fulh/j Nefqalim

1 Tobias ex tribu et civitate Nephtalim quae est in superioribus Galileae277 supra Naasson post viam quae ducit ad occidentem in sinistro habens civitatem Sephet.

2 o]j hv|cmalwteu,qh evn tai/j h`me,raij Enemessarou tou/ basile,wj tw/n VAssuri,wn evk Qisbhj h[ evstin evk dexiw/n Kudiwj th/j Nefqalim evn th/| a;nw Galilai,a| u`pera,nw Asshr ovpi,sw o`dou/ dusmw/n h`li,ou evx avristerw/n Fogwr

2 cum captus esset in diebus Salmanasser regis Assyriorum in captativate tamen positus viam veritatis non deseruit.

Die doch reichhaltigen Ortsangaben im griechischen Text werden in der Vulgata auf nur zwei Begriffe reduziert: „Naassos“ und „Obergaliläa“. Die zwei274

Zitiert nach: Septuaginta Deutsch. EGO, Buch Tobit, S. 916. 276 EGO, Buch Tobit, S. 882. 277 Nach Georges steht der Komparativ von superus (superior) für „weiter oben, höher befindlich = der obere Teil von etwas“ (GEORGES, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, S. 2952). 275

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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te Stelle finden wir in Tob 1,5 allerdings nur in G2. In einem einleitenden biografischen Rückblick beklagt Tobit, wie nahezu alle aus dem Hause Israel vom rechten Glauben abgekommen waren. So haben selbst seine engsten Verwandten dem Bild gehuldigt, das König Jerobeam hat aufstellen lassen, so auch auf den Bergen Galiläas (evpi. pa,ntwn ovre,wn th/j Galilai,aj). Die Vulgata folgt an dieser Stelle weder genau G1 noch G2, sondern bietet eine eigene Version; der Hinweis auf Galiläa entfällt hier jedoch. Weitere Informationen im Blick auf die Verwendung von Galilai,a sind dem Text nicht zu entnehmen. 1.3.2.2 Galilai,a im Buch Judit Das Buch Judit weist eine komplexe Entstehungsgeschichte auf, die heute kaum noch zu erhellen ist. Umstritten ist die Frage, ob der griechischen Fassung eine hebräische Vorlage zugrundelag und sie damit als Übersetzung zu betrachten ist,278 oder ob der LXX Text eine eigenständige Größe ist, der keine Übersetzung aus dem Hebräischen darstellt.279 Auch andere alte Übersetzungen können zur Klärung dieser Frage kaum etwas beitragen, da diese Fassungen den Text z.T. grundlegend bearbeiten.280 Recht einheitlich wird hingegen die Entstehungszeit des Buches datiert. Es ist vermutlich am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden, da das Buch eine politische Situation voraussetze, die während der Hasmonäerzeit gegeben zu sein scheint. So leben die Juden in der Küstenregion und in Galiläa noch nicht unter jüdischer Herrschaft, dieses ist erst mit den Eroberungen eines Aristobul bzw. Alexander Jannäus gegeben.281 In den Versen 7ff des ersten Kapitels wird erzählt, wie der assyrische König Nebukadnezar, der in Ninive residiert,282 Boten in alle Länder schickt, um Unterstützung für einen Kriegszug einzufordern. Dabei wird u.a. in Vers 8 ein Gebiet im Norden Israels beschrieben: 278

So u.a. IRINA WANDREY, Art. Judith / Judithbuch, RGG4 4, Tübingen 2001, Sp. 647. Vor allem Helmut Engel plädiert dafür, dass der Text „Original- und nicht Übersetzungsgriechisch“ sei (HELMUT ENGEL, Das Buch Judit, in: Zenger [Hg.], Einleitung, S. 362–375, S. 368). 280 So vor allem bei der Vulgata. S. dazu und zu den weiteren grundlegenden Einleitungsfragen zum Buch: ERICH ZENGER, Das Buch Judit, JSHRZ I/6, Gütersloh 1981, S. 429–448. 281 So datieren übereinstimmend ENGEL, Das Buch Judit, S. 371, ZENGER (mit einem Verweis auf die Einleitung von Eißfeldt), Judit, S. 431, und auch WANDREY, Judith / Judithbuch, Sp. 647. 282 Engel weist mit Recht darauf hin, dass diese „anachronistische Darstellung eine parabolische bzw. paradigmatische Verdichtung“ sei (ENGEL, Judith, Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare 1, S. 1297–1315, S. 1300). 279

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Jdt 1,7f: kai. avpe,steilen Naboucodonosor basileu.j VAssuri,wn evpi. pa,ntaj tou.j katoikou/ntaj th.n Persi,da kai. evpi. pa,ntaj tou.j katoikou/ntaj pro.j dusmai/j tou.j katoikou/ntaj th.n Kiliki,an kai. Damasko.n kai. to.n Li,banon kai. VAntili,banon kai. pa,ntaj tou.j katoikou/ntaj kata. pro,swpon th/j parali,aj 8 kai. tou.j evn toi/j e;qnesi tou/ Karmh,lou kai. Galaad kai. th.n a;nw Galilai,an kai. to. me,ga pedi,on Esdrhlwn.

Es ist von den Völkern des „Karmels und Gileads“ sowie von „Obergaliläa und der großen Ebene Jesreels“ die Rede. Die Angaben beschreiben ein Gebiet zunächst in West-Ost-Richtung und schließlich in Nord-Süd-Richtung. Dabei werden die Grenzen benannt. Damit ist „Obergaliläa“ als die nördliche Grenze eines Gebietes,283 in dem die Juden zu Hause sind, benannt; weitere Gebiete werden in den folgenden Versen erwähnt. Damit haben wir in Jdt 1,8 die zweite Nennung (nach Tob 1,2) von Obergaliläa, und hier werden offenbar die Siedlungsgrenzen der jüdischen Bevölkerung beschrieben. Es wird beim Leser damit vorausgesetzt, dass er mit dieser Angabe auch ein bestimmtes Gebiet, zumindest in groben Umrissen, verbinden kann. Wir hatten bei Tob 1,2 gesehen, dass dort der Ort Kadesch genannt wird und als mögliche nördliche Grenze von (Ober-)Galiläa angesehen werden kann. Dieser Ort wird zwar bei Judit nicht erwähnt, die parallelen Formulierungen zu Obergaliläa (a;nw Galilai,a) scheinen aber doch eine gemeinsame Vorstellung von Galiläa, jedenfalls in Umrissen, vorauszusetzen. Die zweite Stelle Jdt 15,5 steht im Zusammenhang mit der Erzählung, dass das feindliche Heer wegen des Todes ihres Anführers Holofernes von Furcht und Schrecken übermannt kopflos flüchtet und von den bisher Unterdrückten verfolgt und geschlagen wird. Dabei werden einige Orte genannt, die heute nur schwer oder gar nicht zu identifizieren sind. Aus vielen Gegenden des Landes, eben auch aus Gilead und Galiläa, verfolgten die Israeliten284 das feindliche Heer bis nach Damaskus. Auf welcher möglichen Route die Soldaten flohen, kann ebenfalls nicht mehr erhoben werden; das hängt davon ab, ob man die Stadt „Baitylua“ (bzw. „Betulia“) mit Jerusalem identifiziert285 oder ob sie für die Stadt Sichem steht286 oder ob man sie für einen Ort hält, dessen genaue Lage man bis heute nicht ermitteln kann. Je nach Beantwortung dieser 283 So auch ZENGER, Judit, S. 452: „Die Anordnung der vier Angaben ist nach Art eines flächendeckenden Kreuzes: Karmel und Gilead sind Außenpunkte in W – O-Richtung, Obergaliläa und Jesreel in N – S-Richtung; auch hier liegt wie in 1,7 das Verfahren Außenpunkt – Gegenpunkt – (hier: doppelt bezeichnet) Mitte vor.“ 284 Wörtlich: Judith 15,3.5: oi` ui`oi. Israhl. 285 So nachdrücklich ERICH ZENGER , Judit, S. 435: „Von daher ist es am wahrscheinlichsten, daß mit dem Hauptort des Geschehens Betulia eigentlich Jerusalem gemeint ist.“ 286 BRUCE METZGER, Art. Bethulia, BHH 1, Sp. 234: „Keine Ortschaft dieses Namens ist bekannt, und die meisten Forscher nehmen an, es handele sich um einen Decknamen, vielleicht für Sichem.“

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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Frage versucht man, die Ortsangaben in Kap. 15 zu deuten. So bleibt im Blick auf unsere Fragestellung nur die Einsicht, dass neben Gilead (d.h. Gebiete im Ostjordanland) Galiläa genannt wird, vermutlich wiederum als Repräsentant des Nordens der von Juden bewohnten Gebiete. 1.3.2.3 Galilai,a im 1. Makkabäer Das erste Buch der Makkabäer beschreibt mit deutlicher Sympathie die Ereignisse rund um den Priester Mattatias und seine Söhne, die sich gegen die Überfremdung des jüdischen Glaubens wehren und einen bewaffneten Aufstand anführen, dem Erfolg beschieden ist und der zu der Herrschaft der Hasmonäer führt. Dem griechischen Text von 1. Makkabäer lag ein hebräischer Text zugrunde, der aber nicht erhalten ist.287 Die Entstehung des Buches wird in der Regel auf das Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts bzw. auf die Wende zum ersten Jh. datiert. Schunck plädiert für 120 v.Chr.,288 Engel nimmt eine Zeit um 100 v.Chr. an,289 ebenso Jonathan Goldstein290. Michael Tilly lässt die Frage der genauen Datierung in seinem jüngst erschienenen Kommentar offen und nennt als terminus a quo eine bereits länger andauernde Regierungszeit des Johannes Hyrkanos I. und als terminus ad quem die Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahr 63 v.Chr. Demnach wäre eine Abfassungszeit um die Wende vom zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrhundert denkbar, vielleicht auch ein wenig später.291 Einer der Hauptgründe für diesen Datierungsvorschlag ist bei allen Auslegern die positive Haltung den Römern gegenüber, die in dem Buch zum Ausdruck gebracht wird und die spätestens mit dem Auftreten von Pompeius so nicht mehr vorstellbar ist. Das bedeutet, dass alle drei Bücher der sog. Spätschriften des AT (Tobit, Judit, 1Makkabäer), in denen „Galiläa“ vorkommt, etwa um 100 v.Chr. vorlagen. Im Blick auf das erste Makkabäerbuch haben wir 11 Belegstellen, wobei die Verteilung nicht gleichmäßig über das ganze Buch erfolgt; alleine sieben Vorkommen haben wir in Kap 5 (5,14.15.17.20.21.23.55), die restlichen vier Stellen verteilen sich auf die Kapitel 10 (10,30), 11 (11,63) und 12 (12,47.49). Zunächst fällt auf, dass bei nahezu allen Stellen (Ausnahme: 1Makk 5,15) eine Konstruktion mit Präposition + Artikel + Galiläa im jeweiligen von der 287 Zur Textgeschichte des Buches s. KLAUS-DIETRICH SCHUNCK, 1. Makkabäerbuch, JSHRZ I/4, Göttingen 1980 sowie HELMUT ENGEL, Die Bücher der Makkabäer, in: Zenger (Hg.), Einleitung, S. 387–404, S. 389. 288 SCHUNCK, 1. Makkabäerbuch, S. 291f. 289 ENGEL, Die Bücher der Makkabäer, S. 394f. 290 JONATHAN A. GOLDSTEIN, I Maccabees, AB 41, Garden City 1976, S. 62–64. 291 MICHAEL TILLY, 1. Makkabäer, HThKAT, Freiburg 2015, S. 48.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Präposition abhängigen Kasus vorliegt.292 Damit wird deutlich, dass an allen Stellen Galiläa als eine Landschaftsbezeichnung verwendet wird, die dazu dient, bestimmte Handlungen oder Ereignisse zu lokalisieren. Dieses geschieht mit einem hohen Maß an Selbstverständlichkeit und in Kap 5 zudem mit einer Häufigkeit, die darauf schließen lässt, dass der Verfasser des Buches bei den Lesern eine Vertrautheit mit den geografischen und topografischen Gegebenheiten voraussetzen kann. Die einzige Stelle, die deutlich anders formuliert ist und auch mit einer wichtigen Ergänzung versehen wurde, ist 1Makk 5,15: le,gontej evpisunh/cqai evpV auvtou.j evk Ptolemai,doj kai. Tu,rou kai. Sidw/noj kai. pa/san Galilai,an avllofu,lwn tou/ evxanalw/sai h`ma/j. In aller Regel wird der entsprechende Ausdruck mit „Galiläa der Heiden“ bzw. „das ganze heidnische Galiläa“293 oder auch „das ganze Galiläa der Fremden“294 wiedergegeben. Hervorzuheben ist dabei, dass in beigefügten Ergänzungen und Kommentaren in diesem Zusammenhang meist darauf hingewiesen wird, dass Galiläa eben zu dieser Zeit einen nur geringen jüdischen Bevölkerungsanteil aufwies, also ein weitgehend heidnisches Land war, in dem nur noch wenige jüdische Siedler ihre Heimat hatten.295 Der Gesamtzusammenhang im ersten Makkabäerbuch weist 292 In 1Makk 10,30 ist zwischen Präposition und Artikel noch eine weitere Ortsangabe eingefügt; an der Art der Konstruktion ändert das aber nichts: avpo. th/j Samari,tidoj kai. Galilai,aj. 293 SCHUNCK, 1. Makkabäerbuch, S. 319. 294 Zitiert nach: Septuaginta Deutsch, jetzt auch bei TILLY, 1. Makkabäer, S. 143.145. 295 Diese Beurteilung findet sich nicht nur in älteren Werken, sondern wird bis in die jüngste Zeit hinein so festgehalten. Schunck konstatiert: „Galiläa wies in hellenistischer Zeit als Folge der Ereignisse seit 722 v.Chr. nur noch einen geringen jüdischen Bevölkerungsanteil auf“ (SCHUNCK, 1. Makkabäer, S. 319). In den Erläuterungen zur Lutherbibel ist zu lesen: „Galiläa ist der Name des nördlichsten Teils des westjordanischen Gebirges nördlich der Ebene Jesreel, das in hellenistischer Zeit nur noch einen geringen jüdischen Bevölkerungsanteil aufwies“ (Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen. Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers mit Einführungen und Erklärungen, Stuttgart 2005, S. 1305, Hervorhebung im Original). Es kann sein, dass auch der Erklärungstext zu dieser Stelle aus der Feder von Klaus Dietrich Schunck stammt, der neben anderen als Kommentator der Apokryphen genannt wird (a.a.O., 7*). In seinem Kommentar zu den Makkabäerbüchern führt Werner Dommershausen aus: „Mit dem oberen Galiläa ist das westjordanische Gebirge nördlich der Ebene von Jesreel gemeint, das nur noch einen geringen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte“ (WERNER DOMMERSHAUSEN, 1 Makkabäer / 2 Makkabäer, NEB, Würzburg 1980, S. 41). In jüngster Zeit schrieb Michael Tilly in seinen Anmerkungen zur deutschen Septuagintaausgabe zu dieser Stelle: „Der Ausdruck [sc. Galilai,a avllofu,lwn] reflektiert die multiethnische und multireligiöse Zusammensetzung der Bevölkerung des nördlichen Landesteils Galiläa bereits in seleuk. Zeit“ (MICHAEL TILLY, Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare 1, Stuttgart 2011, S. 1361). In dem vor kurzem erschienenen Kommentar zu 1Makk heißt es: „Ein synchroner zweiter Botenbericht bringt die tödliche Bedrohung der in Galiläa als Minderheit le-

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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auch stark auf eine solche Situation hin. Es wird erzählt, dass Simon die Feinde besiegt und die jüdische Bevölkerung aus Galiläa nach Judäa bringt, so vor allem 1Makk 5,23! Das alles scheint das Bild eines heidnischen Galiläas zu bestätigen. In einem späteren Kapitel werden wir noch eingehender die archäologischen Ergebnisse sichten, die sich mit der Frage der Besiedlung in Galiläa auseinandersetzen. An dieser Stelle muss zunächst eine andere Frage geklärt werden. Ein „Galiläa der Heiden“ wird bereits in Jes 8,23b erwähnt. Dort heißt es im Text aber: „Galilai,a tw/n evqnw/n“, während hier Galiläa durch das Wort „avllofu,lwn“ näher bestimmt wird. Werden diese beiden Ausdrücke einfach synonym gebraucht? 1.3.2.3.1 Zum Befund von „avllo,fuloj“ Das Wort avllo,fuloj kann am besten mit „stammesfremd“ bzw. „ausländisch“296 oder auch mit „von einem anderen Stamm“297 und daher später mit „heidnisch“ wiedergegeben werden. Im Bereich des Neuen Testaments kommt es nur in Act 10,28 (bzw. auch Act 13,19 in einer schlecht bezeugter Variante298) vor. Im Alten Testament hingegen haben wir eine Fülle von Belegen. Wörter mit dem Stamm „avllo,ful*“ finden wir in 280 Versen mit insgesamt 322 Vorkommen. Es fällt auf, dass an den allermeisten Stellen das Wort avllo,fuloj für die Philister steht; dieses gilt besonders für die Bücher Richter, Samuel, Könige und Chronik. Die meisten Belege entfallen auf diese Bücher; aber avllo,fuloj wird auch bei den Propheten für die Philister verwendet. Das erstaunt umso mehr, da es ein eigenes Wort für die Philister gibt (Fulistiim). In der Genesis, im Buch Exodus und bei Josua wird es verwendet, aber mit dem Buch der Richter setzt eine Veränderung ein, was allerdings keinen Rückschluss darauf zulässt, warum dieser Wechsel in der Bezeichnung vollzogen wird. Der Befund im Buch Richter zeigt eine weitere Besonderheit. In Richter 10,6.7.10 werden jeweils die Philister erwähnt, in benden Judäer durch ihre nichtjüdischen Nachbarn zum Ausdruck und motiviert gemeinsam mit dem vorausgehenden Brief das Eingreifen des Judas (vgl. Ijob 1,13–19)“ (MICHAEL TILLY, 1. Makkabäer, S. 144). Diese Beispiele lassen erkennen, dass man von diesem Ausdruck auf die tatsächlichen Gegebenheiten zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrhunderts (bzw. sogar auf die seleukidische Zeit!) schließt. In der Tat sind die Schilderungen dazu angetan, eine jüdische Minderheit und eine heidnische Majorität zu vermuten. Ob es tatsächlich ein heidnisches Galiläa gegeben hat, ist noch genauer zu prüfen. 296 BAUER-ALAND, Sp. 79. 297 WILHELM PAPE, Griechisch Deutsches Handwörterbuch 1, Braunschweig 31880, S. 107. 298 Statt th.n gh/n auvtw/n lesen D*syh** und mae: th.n gh/n tw/n avllofu,lwn.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

dem sog. A-Text werden sie mit „avllo,fuloi“ und im sog. B-Text hingegen mit „Fulistiim“ bezeichnet.299 Gleiches trifft für Ri 13,1.5 und 14,2 zu. In Ri 3,3 werden sie hingegen sowohl im A- als auch im B-Text mit „avllo,fuloj“ benannt, bei allen anderen Stellen im Richterbuch wird nur noch avllo,fuloj verwendet. Dieser neue Sprachgebrauch „wird prägend in allen weiteren Schriften und findet sich in den älteren Geschichtsbüchern, aber auch in Psalmen und Propheten (erst in Jesus Sirach steht wieder Philister).“300 Weiterhin erstaunt, dass der eigentliche Name Fulistiim insgesamt nur an 24 Stellen im AT Verwendung findet.301 Das zugrundeliegende hebräische Wort ‫ פלשׂתים‬wird über 200-mal im AT verwendet. Warum der „Wechsel“ bei der Übersetzung vorgenommen wird, den wir im Richterbuch beobachten können und der sich wie ein roter Faden durchzieht, kann kaum beantwortet werden.302 Dieser Befund könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Philister stellvertretend für alle anderen Fremdstämmigen stehen. Die Philister wären damit eine „Verkörperung“ der Heiden. Sollte dieses zutreffen, so kann man erklären, wie in 1Makk 5,15 aus einem „Galilai,a tw/n evqnw/n“, das wir in Jes 8,23b finden, nun ein Galilai,a avllofu,lwn wird. Das Galiläa bzw. der Kreis der Völker wird als heidnisch aufgefasst und dementsprechend mit einem anderen Ausdruck für Heiden wiedergegeben. Man kann also davon ausgehen, dass beide Ausdrücke synonym verwendet werden können. Dann stellt sich aber eine weitere Frage: Gibt es Hinweise darauf, dass entweder einer der beiden Begriffe oder auch einer allein so geprägt war, dass man davon ausgehen kann, dass mit dem Ausdruck „Galiläa der Heiden“ den Lesern der damaligen Zeit ein klares Bild vor Augen stand, wenn sie dieses lasen? War es ein festgefügter Begriff? In welchen Schriften aus der Zeit vor dem Neuen Testament finden wir einen der beiden Ausdrücke? 1.3.2.3.2 Befund für Galilai,a avllofu,lwn Durchsucht man den Thesaurus linguae graecae,303 so gibt es in der erfassten Literatur nur 14 Belege für Galilai,a avllofu,lwn; einer davon entfällt auf die 299 Zur Textgeschichte und zum Verhältnis des griechischen zum hebräischen Text s. JÜRGEN KABIERSCH / SIEGFRIED KREUZER / THOMAS SCHMELLER, Das Buch der Richter, in: Septuaginta Deutsch, Erläuterungen und Kommentare 1, S. 658–663. 300 KABIERSCH / KREUZER / SCHMELLER, Das Buch der Richter, S. 664. 301 Es handelt sich um folgende Stellen: Gen 10,14; 21,32.34; 26,1.14.15.18; Ex 13,17; 15,14; 23,31; Jos 13,2.3.5; Ri 10,6.7.11; 13,1.5; 14,2; 1Makk 3,24; OdSal 1,14; Sir 46,18; 47,7; 50,26. 302 Dazu: KABIERSCH / KREUZER / SCHMELLER, Das Buch der Richter, S. 664f. 303 URL: www.tlg.uci.edu, eingesehen im März und August 2014; es wurden nur Stellen berücksichtigt, in denen Galilai,a und avllo,fuloj in einem unmittelbaren Zusammenhang

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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Stelle in 1Makk und eine weitere Belegstelle ist Joel 4,4. Wie wir bereits gesehen hatten,304 lautet die Übersetzung des hebräischen Textes: „Bezirke der Philister“. Der Übersetzer der LXX hat das hebräische ‫ גְּ לִ ילָ ה‬offenbar als Landschaftsbezeichnung „Galiläa“ verstanden und das Wort ‫ ְפּלִ ְשׁ ִתים‬verständlicherweise mit dem avllo,fuloj übersetzt. Daher dürfte diese Stelle entweder auf einem Missverständnis beruhen oder als bewusste Neuinterpretation bezeichnet werden. Die restlichen 12 Belege sind allesamt Stellen aus den Schriften der Kirchenväter (u.a. Procopius305 und Cyrill von Alexandrien mit mehreren Belegen306) Bei acht der zwölf Stellen handelt es sich dabei um das Zitat aus Joel 4,4; teils wird nur ein Teil des Verses, teils wird der gesamte Vers zitiert. Allen gemeinsam ist aber, dass sie den folgenden Teil wortwörtlich aus der LXX bieten: „kai. ti, kai. u`mei/j evmoi, Tu,roj kai. Sidw.n kai. pa/sa Galilai,a avllofu,lwn.“ Bei den anderen vier Stellen handelt es sich ebenfalls um Zitate, Anspielungen oder um eine Auslegung biblischer Texte. Keine der Belegstellen stammt aus der Zeit des NT oder gar aus der vorchristlichen Zeit. Wenn also Galilai,a avllofu,lwn verwendet wird, dann in Zitation des Propheten Joel oder in Anlehnung daran. Es ergibt sich daraus, dass wir damit bis auf die beiden Stellen in der LXX, von der die eine (Joel 4,4) vielleicht sogar auf einem Missverständnis beruhen könnte, keinerlei Hinweise darauf haben, dass der Ausdruck Galilai,a avllofu,lwn in irgendeiner Weise bekannt war. Damit bleibt noch offen, ob stattdessen der Ausdruck Galilai,a tw/n evqnw/n als bekannt vorauszusetzen ist oder nicht. Der TLG zeigt bei einer Suche der Begriffe Galilai,a und e;qnoj 93 Stellen an,307 bei denen der Landschaftname direkt mit dem zweiten Begriff e;qnoj verbunden ist, in aller Regel steht das Substantiv im Genitiv Plural (Galilai,a tw/n evqnw/n). Daneben gibt es 14 weitere Stellen, in denen die beiden Begriffe in einem Satz verwendet werden, ohne dass sie in einer direkten Beziehung stehen müssen (meist dann Galilai,a in Verbindung mit e;qnh).

stehen und aufeinander bezogen sind. Selbst wenn man diese Verbindung lösen sollte, so kommt nur eine weitere Stelle hinzu (Theodor von Mopsuestia, Expositio in Psalmos), zum Thesaurus s. auch: LUCI BERKOWITZ / KARL A. SQUITIER, Thesaurus linguae graecae Canon of Greek Authors and Works, Oxford ³1990. 304 S. Abschnitt 1.3.1. 305 Procopius, Commentarii in Isaiam Cap. XXIII (PG 87,2, Sp. 2184). 306 So beispielsweise Cyrill von Alexandrien, Commentarius in xii prophetas minores XXXIX (PG 71, Sp. 302). 307 URL: www.tlg.uci.edu, eingesehen im März und August 2014; es wurden nur Stellen berücksichtigt, in denen Galilai,a und evqno,j in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen und aufeinander bezogen sind.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

1.3.2.3.3 Befund für Galilai,a tw/n evqnw/n Von den 93 Fundstellen befindet sich je eine im AT bzw. NT;308 es handelt sich um Jes 8,23b bzw. Mt 4,15, wo ja diese Prophetenstelle zitiert wird. Alle anderen 91 Stellen stammen aus der Zeit der Alten Kirche, sind also der Rezeptionsgeschichte der biblischen Bücher zuzuordnen. Das zeigt sich daran, dass an etlichen Stellen ausdrücklich auf den Propheten Jesaja Bezug genommen wird, oder es wird durch die Hinzufügung von „Sebulon“ und „Naftali“ kenntlich gemacht, dass hier ein Bezug zu den Stellen der Schrift hergestellt wird; etliche Belege dafür finden wir u.a. in Origenes „demonstratio evangelica“.309 Besonders aufschlussreich ist eine Stelle bei Gregor von Nyssa. In seiner 15. Homilie zum Hohelied schreibt er: „Er [sc. Natanael] berücksichtigte demnach beides und stellt in Rechnung, daß einerseits das Mysterium, das Höhle, Windeln und Krippe betrifft, in Davids Bethlehem stattfinden sollte wegen des Heilsplans der Geburt im Fleisch, das andererseits Galiläa – Galiläa ist eine Region der Heidenvölker – dereinst nach dem Logos benannt werden würde …“310

Gregor zitiert offensichtlich entweder Mt 4 oder Jes 8 und unterstreicht damit den seiner Meinung nach heidnischen Charakter Galiläas. Diese und andere Stellen sind ein Beleg dafür, dass man bereits in der Alten Kirche diese Stellen so verstand, dass eine Aussage über den Zustand Galiläas gemacht werden. Dass etliche dieser Belege in Kommentaren zu biblischen Büchern zu finden sind, unterstreicht noch einmal, dass wir es hier mit der Wirkungsgeschichte von Texten zu tun haben. Von biblischen Texten311 abgesehen, finden wir keinen einzigen Hinweis auf Literatur, wo das Galilai,a tw/n evqnw/n eigenständig behandelt worden ist. Zudem muss festgehalten werden, dass die Mehrzahl der Nachweise aus christlicher Zeit und aus der Feder von Theologen stammt. Hinweise aus vorchristlicher Zeit sind, bis auf die Jesajastelle, nicht vorhanden! Dieses Bild bestätigt sich auch, wenn wir die 14 Stellen betrachten, in denen der Landschaftsname Galilai,a mit dem Nominativ Plural von e;qnoj in einem mittelbaren Zusammenhang steht. Elf von ihnen entstammen wiederum 308 Angaben nach Thesaurus linguae graece, URL: www.tlg.uci.edu, eingesehen im März und August 2014; es wurden nur Stellen berücksichtigt, in denen Galilai,a und evqno,j in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen und aufeinander bezogen sind. 309 Euseb, demonstratio evangelica, 2,1,23; 7,1,133; 7,1,154 u.a.m. (GCS Eusebius 6, Leipzig 1923). 310 Gregor von Nyssa, Homilien zum Hohenlied, Homilie 15 Proömium, FC 16/3, Freiburg u.a. 1994, S. 771. 311 Der Einfachheit halber soll die Formulierung „biblische Texte“ bzw. „Bezugnahme auf biblische Texte“ beibehalten werden, auch wenn wir für das dritte und vierte Jahrhundert nur mit großer Zurückhaltung formulieren können.

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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der patristischen Literatur, zwei Belege finden wir im ersten Makkabäerbuch, und eine Stelle ist bei Strabo belegt. Der überwiegende Teil nimmt damit ebenfalls aus christlicher Perspektive Bezug auf die Schriften des Alten bzw. Neuen Testaments. Die Stelle bei Strabo312 könnte in der Tat zunächst darauf hindeuten, dass in Galiläa eine Bevölkerung lebte, die teilweise nichtjüdischen Glaubens war. Strabo schreibt: „pro.j qala,tth de. h` Sirbwni.j ta. Polla. kate,cei kai. h` sunech.j me,cri ~Ierosolumwn (kai. ga.r tau/ta pro.j qala,tth| evsti,n\ avpo. ga.r tou/ evpinei,ou th/j VIo,pphj ei;rhtai @759(4# o[ti evsti.n evn o;yei%) tau/ta me.n proja,rktia\ ta. po,lla dV w`j e[kasta, evstin u`po. fu,lwn oivkou,mena miktw/n e;k te Aivguti,wn evqnw/n kai. VArabi,wn kai. Foinik$ik%w/n\ toiou/toi ga.r oi` th.n Galilai,an e;contej kai. to.n Filade,lfeian kai. Sama,reian $h]n ~Hrw,dhj Sebasth.n evpwno,masen%) ou[tw dV o;ntwn miga,dwn h` kratou/sama,lista fh,mh tw/n peri. to. i`ero.n to. evn toi/j ~Ierosolu,moij pisteuome,nwn Aivgupti,ouj avpofai,nei tou.j progo,nouj tw/n nu/n VIoudai,wn legomene,nwn“313

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Strabo davon ausgeht, dass die jüdische Bevölkerung eigentlich überwiegend ägyptischer Herkunft ist, seitdem sie vor langer Zeit von einem ehemaligen ägyptischen Priester Mose nach Palästina gebracht wurde. Im Laufe der Jahre habe sich dann diese Bevölkerung mit arabischen und phönizischen Stämmen vermischt. Diese Meinung ist auch bei einem Chairemon zu finden, mit dem sich Josephus auseinanderzusetzen hatte.314 Wenn man allerdings dieser These eines ägyptischen Ursprungs des jüdischen Volkes nicht folgt, so trägt dieser Hinweis bei Strabo bei der Frage nach einer heidnischen bzw. teilweise heidnischen Bevölkerung nichts aus.

312 Strabo von Amaseia lebte etwa von 64 v.Chr. bis 24 n.Chr. Seine beiden Hauptwerke (~Istorika. ~Upomnh,mata und Geografika,) sind wichtige Geschichtswerke und wurden teilweise ausführlich von Josephus rezipiert, s. dazu: Flavius Josephus, Contra Apionem Buch I. Einleitung, Text, Textkritischer Apparat, Übersetzung und Kommentar von DAGMAR LABOW, BZWANT 167, Stuttgart 2005, S. 231f. 313 Strabon, Geographica XVI,2,34, zitiert nach: Strabons Geographika mit Übersetzung und Kommentar, Buch XIV–XVII, hg. von STEFAN RADT, Göttingen 2005, S. 338f. Die Übersetzung von Radt lautet: „Beim Meer nimmt der Sirbonis-See den größten Teil ein sowie das anschließende Land bis Jerusalem (denn auch dies liegt beim Meer: haben wir doch gesagt [759,4] dass es von dem Hafenplatz Iope aus zu sehen ist). Dies liegt im Norden; das meiste aber wird im einzelnen von Stämmen aus bewohnt die aus ägyptischen, arabischen und phönizischen Völkern gemischt sind: so ist es nämlich bestellt mit den Bewohnern von Galiläa, Jericho, Philadelphia und Samareia (das Herodes Sebaste zubenannt hat). Während sie jetzt so vermischt sind, macht es der vorherrschende der über das Heiligtum in Jerusalem geglaubten Berichte die Vorfahren der heute ‚Judäer‘ Genannten zu Ägyptern.“ 314 Josephus, Ap I,288–303, s. dazu: DAGMAR LABOW, Josephus, Contra Apionem, Buch I, S. 288–310.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Es bleiben damit letztendlich nur zwei Stellen übrig, zum einen die Stelle aus 1Makk 5, die in der Tat a) aus der vorchristlichen Zeit stammt und b) Aussagen über eine mögliche Zusammensetzung der Bevölkerung macht. Die zweite Stelle finden wir bei Josephus in seinen Jüdischen Altertümern.315 In 1Makk 5,21–23 heißt es: „kai. evporeu,qh Simwn eivj th.n Galilai,an kai. sunh/yen pole,mouj pollou.j pro.j ta. e;qnh kai. sunetri,bh ta. e;qnh avpo. prosw,pou auvtou/ 22 kai. evdi,wxen auvtou.j e[wj th/j pu,lhj Ptolemai,doj kai. e;peson evk tw/n evqnw/n eivj triscili,ouj a;ndraj kai. e;laben ta. sku/la auvtw/n 23 kai. pare,laben tou.j evk th/j Galilai,aj kai. evn Arbattoij su.n tai/j gunaixi.n kai. toi/j te,knoij kai. pa,nta o[sa h=n auvtoi/j kai. h;gagen eivj th.n Ioudai,an metV euvfrosu,nhj mega,lhj.316

Der Text ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen, und darauf wurde oben bereits hingewiesen, wird im fünften Kapitel geschildert, wie Judas und Simon erste größere militärische Erfolge verzeichnen können. Es wird damit auf einen Konflikt zwischen Juden und den Völkern in Gilead (1Makk 5,9) und Ptolemais, Tyrus, Sidon und aus dem Galiläa der Heiden (1Makk 5,15) verwiesen, der in bestimmten Gebieten des Landes eskaliert. Neben dem Ostjordanland wird auch ausdrücklich Galiläa genannt, welches Emissäre sendet, um Hilfe zu erbitten. Zum anderen wirft die Wortwahl eine Frage auf, die auch noch einmal den Ausdruck Galilai,a avllofu,lwn (1Makk 5,15) betrifft. Im ersten Makkabäerbuch finden wir das Wort e;qnoj an 82 Stellen. Während es im Singular317 meist für das Volk Israel verwendet wird und positiv konnotiert ist, wird es an 47 Stellen im Plural318 gebraucht, und damit sind meist die Heiden bzw. die heidnischen Völker mit gemeint. Der Verfasser des Buches hat also an vielen Stellen seiner Darstellung ganz bewusst den Plural e;qnh als Bezeichnung für Heiden verwendet, so auch in 1Makk 5,22. Wenn er also Galiläa als eine Gegend kennzeichnen will, die durch eine heidnische Bevölkerung gekennzeichnet ist, so stellt sich die Frage, warum er dieses nicht durch eine Verbindung von Galilai,a mit tw/n e;qnwn macht, zumal er diesen Ausdruck in Jes 8,23 vorfinden konnte. Galilai,a tw/n e;qnwn wäre in 1Makk 5,15 als Bezeichnung für ein heidnisches Galiläa sehr viel naheliegender gewesen als Galilai,a avllofu,lwn! Betrachten wir den Inhalt der Verse 1Makk 5,21–23, so wird in diesen der Kampf von Judas und seinen Anhängern gegen die Heiden geschildert und 315

Josephus, Ant XII,331. „Und Simon ging nach Galiläa und griff in vielen Gefechten die Heiden an, und die Heiden wurden vor ihm aufgerieben. Und er verfolgte sie bis zum Tor von Ptolemaïs, und von den Heiden fielen nahezu 3000 Mann, und er machte Beute bei ihnen. Und er nahm die Leute aus Galiläa und in Arbatta mitsamt den Frauen und den Kindern und all ihrer Habe, und brachte sie mit großer Freude nach Judäa“ (zitiert nach: Septuaginta Deutsch). 317 e;qnoj: 10, e;qnouj: 12 und e;qnei 13 Belege. 318 e;qnh: 29, e;qnwn: 13 und e;qnesin 5 Belege. 316

1.3 Galiläa in der Septuaginta

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wie er ein Heer von 3000 Menschen tötet und reiche Beute macht. Zugleich weist der Text darauf hin, dass die Gegner bis zum Küstenstreifen verfolgt werden. Mit der Wendung „e[wj th/j pu,lhj Ptolemai,doj“ ist vermutlich gemeint, dass man die Gegner bis Ptolemais / Akko verfolgte, die Stadt selbst aber nicht erobern konnte. Obwohl die erfolgreiche Vertreibung vermeldet werden kann, weist der Schreiber doch darauf hin, dass die Juden in diesem Gebiet gen Süden gebracht, also evakuiert worden sind. Hier entsteht eine gewisse Spannung, die der Text erzeugt. Wenn man nun so erfolgreich war, dass man die Feinde vertreiben konnte, warum musste man dann die jüdische Bevölkerung mit großer Freude nach Juda bringen? Verblieben noch so viele Gegner im Lande, dass man Racheakten vorbeugen wollte, oder blieb Galiläa oder zumindest ein Teil davon für eine gewisse Zeit weitgehend unbewohnt? Oder haben wir es hier bei dieser Schilderung mit Übertreibungen zu tun, sodass nicht alle Feinde vertrieben werden konnten und auch nicht alle Bewohner evakuiert werden mussten? Chancey merkt an, dass der Bericht in 1Makk sehr knapp gehalten ist und keinerlei Details verrät. Das könnte darauf hindeuten, dass dem Verfasser des Buches keine Quellen zur Verfügung standen, die er hätte aufgreifen und verarbeiten können. „Thus, 5:9–23 may reflect the author’s glorification of the Maccabees more than historical ecents.“319 Der Text allein gibt offensichtlich keine befriedigende Antwort, wie die Situation in Galiläa war. Wir werden später noch auf die Ergebnisse der Archäologie eingehen müssen, um zu sehen, ob und welche Einsichten sich hier ergeben können.320 Wir halten zunächst fest, dass es in 1Makk in der Tat einen Hinweis darauf gibt (zusammen mit 1Makk 5,15, wo ja von dem Galilai,an avllofu,lwn die Rede war), dass Galiläa in vorchristlicher Zeit ein zum Teil oder vielleicht sogar vorwiegend von Heiden bewohntes Gebiet war bzw. gewesen sein könnte. Wir hatten aber auch gesehen, dass die Wortwahl Fragen aufwirft, die zwar kaum zu beantworten sind, aber doch zur Vorsicht mahnen, hier vorschnell einen klaren Hinweis auf ein heidnisches Galiläa zu finden. Zudem ist dieser Bericht über das Wirken Simons in Galiläa so komprimiert und mit so groben Strichen gezeichnet, dass sich kaum belastbare Hinweise auf die Zusammensetzung der Bevölkerung in Galiläa finden lassen. Die letzte Stelle, die es noch zu erwähnen gilt, finden wir bei Josephus, Ant XII,331. Dort heißt es: avnaginwskome,nwn de. tw/n evpistolw/n tou,twn kavk th/j Galilai,aj a;ggeloi paragi,gnontai shmai,nontej evpisunh/cqai tou.j evk 319

CHANCEY, Myth, S. 40; ähnlich auch EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit, S. 31 Anm. 9. 320 S. dazu Abschnitt 2.6.

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1. Galiläa im AT und in den Schriften des Frühjudentums

Ptolemai