115 83 13MB
German Pages [240] Year 2000
HYPOMNEMATA 131
V&R
HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN
Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones / Günther Patzig/ Christoph Riedweg / Gisela Striker
HEFT 131
V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
TOBIAS REINHARDT
Das Buch E der Aristotelischen Topik Untersuchungen zur Echtheitsfrage
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Verantwortliche Herausgeberin: Gisela Striker
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Reinhardt, Tobias: Das Buch E der Aristotelischen Topik: Untersuchungen zur Echtheitsfrage / Tobias Reinhardt. [Verantw. Hrsg.: Gisela Striker], Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Hypomnemata; 131) ISBN 3-525-25228-5
© 2000, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt
1. Einleitungsteil
1.1. Vorbemerkung . . . 1.2. Forschungsgeschichte . . . 1.3. Die Aristotelische Topik . . . 1.4. Die Kriterienfrage . . . . . . 1.5. Das System der Prädikationsklassen . . . . 1.6. Inklusive Auffassung des i&iov . . . . 1.7. Das 'i&iov in seiner Umgebung . . . 1.8. 'íóiov und tóotoq . . . . . . . 1.9. Der Begriff des Kcdßji; . . . . . 1.10. Die dialektische Terminologie . . 1.11. Formgeschichte des fünften Buches . . . 1.12. Anticipado 1.13. Die Beispiele und Anweisungen der dem Bearbeiter zugewiesenen TÓJtoq-Teile . . . . . 1.14. Bearbeitung und Verarbeitung . . . . 1.15. Formverwandtes im Corpus Aristotelicum . 1.16. Die Sprache des fünften Buches . 1.17. Die Topik nach Aristoteles . . . . 1.18. Zusammenfassung und Ergebnis . .
.
.
.
.
11 13 17 23 25 29 31 37 47 61 68 80 88 94 99. 102 106 112
2. Einzelbetrachtungen
2.1. Einleitende Bemerkung
.
2.2. Textabschnitte zum Wirken des Bearbeiters 2.2.1. TÓ3tO£ 1 2.2.2. TÓJtoq 9
.
.
117
120 132
Inhalt
6 2.2.3. xöxoq 18 2.2.4. xönoq 12 2.2.5. Tootoq 17 2.2.6. töxoq 37 2.2.7. TÖJtoi 40 und 41 2.2.8. xöxoq 49
136 145 152 157 166 172
2.3. Textabschnitte zum aristotelischen Kern 2.3.1. xöxoq 14 2.3.2. TÖJtcx^ 15 2.3.3. TÖtfoi 21 und 23 2.3.4. Töoto; 28
176 183 189 204
3. Literaturverzeichnis 4. Stellenverzeichnis
.
.
.
.
.
.
209 229
Vorwort
Diese Untersuchung wurde am Institut für Klassische Philologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main begonnen. Dort erfuhr ich von Professor Gustav Adolf Seeck freundliche Förderung. Professor Oliver Primavesi wies mich auf das fünfte Buch der Topik als möglichen Untersuchungsgegenstand hin. Eva-Maria und Lutz Lenz gaben mir Rat und Unterstützung. Professor Gisela Striker danke ich dafür, das Buch gelesen, mit mir diskutiert und zur Aufnahme in die Hypomnemata vorgeschlagen zu haben. Professor Michael Frede erklärte sich bereit, als e v a T c r u K Ö q zu agieren, und war dabei sehr großzügig mit seiner Zeit. Auch Professor Jacques Brunschwig habe ich für ermutigende Kritik zu danken. Den anderen Herausgebern der Hypomnemata danke ich für die Aufnahme der Untersuchung in ihre Reihe. Das Manuskript wurde im Frühjahr 2000 am Corpus Christi College in Oxford fertiggestellt, wo ich mit Unterstützung der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung sowie der FazitStiftung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an meinem nächsten Vorhaben arbeite. Dem Jowett Copyright Trust und seinem Sekretär, Professor Jasper Griffin, danke ich für die Übernahme der Druckkosten. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, denen diese Arbeit gewidmet sei.
Oxford, im Juli 2000
T. Reinhardt
D i e TÖJtoi in Top.
E
Die TÖ3ioi des fünften Buches werden hier, um die weitere Bezugnahme zu vereinfachen, numeriert, lokalisiert und nach einem in Abschnitt 1.11. vorzustellenden Muster klassifiziert.
129bl-29 (Typ 1) 129b30-130al4 (Typ 1) 130al5-130a28 (Typ 1) 130a29-130bl0 (Typ 1) 130bl 1-22 (Typ 1) 130b23-37 (Typ 1)
25. 26. 27. 28. 29. 30.
135a9-19 (Typ 2) 135a20-135b6 (Typ 3) 135b7-16 (Typ 4) 135bl7-26 (Typ 4) 135b27-136a4 (Typ 4) 136a5-13 (Typ 4)
7. 130b38-131all (Typ 1) 8. 131al2-26 (Typ 1) 9. 131a27-131b4 (Typ 1) 10. 131b5-18 (Typ 1) 11. 131 bl9-36 (Typ 1) 12. 131b37-132a9 (Typ 1) 13. 132al0-21 (Typ 1) 14. 132a27-132b7 (Typ 3) 15. 132b8-18 (Typ 3)
31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49.
136al4-28 (Typ 4) 136a29-136b2 (Typ 4) 136b3-14 (Typ 3) 136bl5-22 (Typ 4) 136b22-32 (Typ 4) 136b33-137a7 (Typ 4) 137a8-20 (Typ 4) 137a21-137b2 (Typ 4) 137b3-13 (Typ 3) 137b 14-27 (Typ 4) 137b28-138a3 (Typ 4) 138a4-12 (Typ 4) 138al3-20 (Typ 4) 138a21-29 (Typ 4) 138a30-138b5 (Typ 4) 138b6-15 (Typ 4) 138b 16-22 (Typ 4) 138b27-139a8 (Typ 2) 139a9-20 (Typ loo2)
1. 2. 3. 4. 5. 6.
16. 132b 19-34 (Typ 2) 17. 132b35-133all (Typ 2) 18. 133al2-23 (Typ 3) 19. 133a24-34 (Typ 3) 20. 133a35-133bl4 (Typ 3) 21. 133bl5-134a4 (Typ 5) 22. 134a5-17 (Typ loo2) 23. 134al8-25 (Typ 5) 24. 134a26-135a8 (nicht klassifiziert)
1.1. V o r b e m e r k u n g In den vergangenen dreißig Jahren ist es zu einer für die Aristotelesforschung zentralen Frage geworden, welche Bedeutung die Dialektik im aristotelischen Denken und Philosophieren hat. Um derartige Fragen diskutieren zu können, muß die Echtheit des wichtigsten Bezugstextes unstrittig sein. Während für die Bücher A-A und Z - 0 der Topik die Situation klar ist, ist einem schon im vorigen Jahrhundert im Hinblick auf das fünfte Buch geäußerten Verdacht der Unechtheit bislang nicht nachgegangen worden. Selbst die intensive Forschung der letzten Zeit hat diese Frage, von unbewiesenen Meinungsäußerungen abgesehen, völlig unbeantwortet gelassen. Die vorliegende Untersuchung, deren Aufbau hier einführend beschrieben und begründet werden soll, prüft die Echtheit des fünften Buches der aristotelischen Topik. Sie ist gegliedert in einen Einleitungsteil und eine Analyse einzelner Textpassagen, in der die systematisch geordneten Aussagen der Einleitung in detaillierten Interpretationen belegt werden sollen. Die hier vertretene Hauptthese lautet, daß das Buch E der Topik auf echtem Material basiert, welches von einem anderen als Aristoteles bearbeitet und ausgedehnt wurde. Um Textpassagen in der Topik einem Bearbeiter zuweisen zu können, muß man ein möglichst genaues Bild von dem haben, was man für aristotelisch zu halten hat. Es wäre erfreulich, wenn in den Versuchen, dieses möglichst genaue Bild zu erarbeiten, ein Nutzen der Studie gesehen werden könnte, der über ihre unmittelbare Zielsetzung hinausweist. Der Einleitungsteil beginnt mit einem Überblick über den Stand der Forschung (1.2.), der neben der bloßen Versammlung von zum Thema geäußerten Meinungen das Ziel hat, die Positionen deutlich werden zu lassen, von denen aus die Echtheit des fünften Buches behauptet oder bestritten worden ist. Danach wird das grundsätzliche Verständnis der Topik benannt, das den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet: die Topik ist ein Handbuch für das in Piatons Akademie gepflegte dialektische Übungsgespräch, die sogenannte yv^vaata. Von daher ergeben sich bestimmte Kriterien für eine sinnvolle Echtheitsprüfung, die von den in solchen Fällen üblichen und vor allem von den von früheren Interpreten angesetzten verschieden sind (1.3. und 1.4.). Die in einer yu|ivaoia diskutierbaren Sätze
12
Abschnitt 1.1.
teilt Aristoteles nach der Relation, in der in diesen Sätzen die Prädikate zu ihren Subjekten stehen, in vier Klassen - die Prädikationsklassen - ein, nämlich Akzidens-, Genus-, iöiov- und Definitionsprädikation. "IöiovPrädikationen stellen diejenige Gruppe von Sätzen dar, in denen durch das Prädikat dem betreffenden Subjekt eine ihm eigentümliche Eigenschaft zugesprochen wird, die ihm allein zukommt. Den Töia ist das fünfte Buch gewidmet. Da aber das 'töiov als Bestandteil eines Systems nicht für sich betrachtet werden kann, soll in den Abschnitten 1.5. bis 1.7. das System der Prädikationsklassen aus der Perspektive des Y6iov vorgestellt werden, um eine Art Erwartungshorizont für die weitere Untersuchung zu gewinnen. Abschnitt 1.8. behandelt die Frage, inwiefern durch die TÖJtoi des fünften Buches l'öiov-Prädikationen in besagtem Übungsgespräch als definitionsgemäß bzw. nicht definitionsgemäß erwiesen werden können. Das fünfte und das sechste Buch der Topik zeigen die Gemeinsamkeit, daß beide in den Kapiteln 2f. sogenannte Kcdwq-TÖrtoi versammeln, die zur Prüfung von 'iöiov- und Definitions-Prädikationen nach bestimmten formalen Kriterien anleiten; diese Kriterien werden im Abschnitt 1.9. beschrieben, miteinander verglichen und jeweils auf ihre sachliche Rechtfertigung hin betrachtet. Der Kernteil der Einleitung wird dann von den Abschnitten 1.10. bis 1.15. gebildet, in denen der von uns postulierte Bearbeiter nachgewiesen und seine Tätigkeit beschrieben werden soll; dabei wird auch eine Rekonstruktion des Bearbeitungsprozesses sowie der Vorlage versucht, von welcher der Bearbeiter ausging. Da ein dialektisches Übungsgespräch letztendlich innerhalb eines gewissen Rahmens immer gleich abläuft, unterliegt die Darstellung in der Topik terminologischen Fixierungen; im Abschnitt 1.10. werden einige dieser Termini vorgestellt und auf ihre Verwendung in der gesamten Topik hin untersucht. Dies geschieht zur Absicherung unserer Feststellungen im Abschnitt 1.11., in dem alle Torax des fünften Buches auf fünf Formmuster zurückgeführt werden; ein unkundig ergänzender Eingriff des Bearbeiters ist dabei für zwei dieser Typen, d.h. für 19 von 49 Tootoi nachzuweisen. Dieser Nachweis ist deshalb möglich, weil der Text in diesen Fällen entweder Situationen voraussetzt, die im dialektischen Übungsgespräch unmöglich sind, oder schlechthin gar nicht kohärent als Beschreibung irgendeiner konkreten Situation gelesen werden kann. Im Abschnitt 1.12. wollen wir fragen, wieso die in 1.11. festgestellten Anomalien in der Formulierung zahlreicher TÖJtot. zum l'öiov bisher fast völlig übersehen wurden; dabei werden wir auch denkbaren Versuchen einer konservativen Deutung dieser xottoi nachgehen.
Vorbemerkung
13
Im Abschnitt 1.13. werden die von uns als ergänzt inkriminierten Textpartien inhaltlich geprüft; im Zuge dieser Betrachtung wird erkennbar werden, daß sich die Ergebnisse der Formuntersuchung und die der inhaltlichen Prüfung wechselseitig stützen. Da man anzunehmen hat, daß Aristoteles selbst mehrfach und in größeren zeitlichen Abständen Überarbeitungen des Materials vorgenommen hat, aus dem die uns vorliegende Topik entstanden ist, soll im Abschnitt 1.14. die von uns behauptete Bearbeitung von dieser Art der Überarbeitung abgesetzt werden; wir meinen dort ferner zeigen zu können, daß sich im fünften Buch neben der Bearbeitung auch eine aristotelische Überarbeitung des zugrundeliegenden Materials - ganz ähnlich wie in den übrigen Büchern der Topik - nachweisen läßt. Im Abschnitt 1.15. dann wird nach mit dem fünften Buch Formverwandtem im Corpus Aristotelicum gesucht und ein formal zumindest vergleichbarer Fall genannt. Im Abschnitt 1.16. folgen Bemerkungen zur Sprache des fünften Buches. Abschnitt 1.17. fragt, wie sich der von uns behauptete Bearbeitereingriff mit der vermutlichen späteren Entwicklung der Topik vereinbaren läßt. Am Ende des Einleitungsteils stehen eine zusammenfassende Schlußfolgerung und eine Beschreibung des Bearbeiters. Für die Auswahl der genauer zu analysierenden Textpartien sei auf den Beginn des zweiten Hauptteils verwiesen.
1.2. Forschungsgeschichte Soweit wir sehen können, sind Zweifel an der Echtheit des Buches E der Topik erstmals im Jahre 1 8 8 3 von J. H. KIRCHMANN in seiner mit Anmerkungen versehenen Übersetzung der Topik vorgebracht worden; er schreibt:1 „ ... Man wird hier bald bemerken, dass der Styl in diesem Buche erheblich gegen den der früheren Bücher absticht; einfache Gedanken werden mit einer Weitschweifigkeit und Schwerfälligkeit vorgetragen, welche gegenüber dem sonst überaus bündigen Styl des Ar. ausserordentlich auffallt. Dies zeigt sich schon hier und zieht sich durch das ganze Buch fort; auch selbst die Gedanken sind oft so trivial, dass man Mühe hat, dieses Buch als die eigene Arbeit des Ar. anzuerken-
1
KIRCHMANN ( 1 8 8 3 ) 6 7 f .
14
Abschnitt 1.2.
nen; indess ist ein solcher Zweifel bis jetzt von keinem Commentator erhoben worden..." In mehrfacher Hinsicht sind bereits KlRCHMANNs Äußerungen charakteristisch für die gelehrte Auseinandersetzung mit dem fünften Buch der Topik; denn abgesehen von seinen beschreibenden Feststellungen zur Sache führt er auch eine für die spätere Diskussion kennzeichnende Argumentationsfigur ein, nämlich die der Formulierung von Zweifeln an der Verfasserschaft des Aristoteles als Andeutung. Inhaltlich war KIRCHMANN, der nur Anmerkungen zu seiner Übersetzung geben wollte, nicht darum bemüht, im einzelnen seinem Verdacht nachzugehen; so sind die Einwände, die er bei einzelnen Passagen macht, bald stilistischer Art, bald kurze Versuche, einzelne Gedanken mit bekannten Lehren des Aristoteles in Verbindung zu setzen, und bald von der Warte des sogenannten „gesunden Menschenverstandes" geäußert. Im Jahre 1907 promovierte dann J. PFLUG in Leipzig mit einer Arbeit über das fünfte Buch der Topik, in der er die Unechtheit des ganzen Buches behauptete. Seiner Auffassung nach war ein von Aristoteles selbst verfaßtes Buch über die Yöiov-Prädikation ausgefallen und durch eine von einem nicht näher (zeitlich wie namentlich) bestimmbaren philosophus Peripateticus verfaßte Eigenkomposition zum Thema ersetzt worden. Der von PFLUG postulierte Verfasser soll dann die anderen zentralen Bücher der Topik sowie die S. E. als Vorlage benutzt haben. PFLUGS methodisches Vorgehen ist, wie zu erwarten, ein zweifaches. Einerseits will er durch Vergleiche von Textabschnitten beweisen, daß viele Tojtoi des fünften Buches mit aristotelischen Äußerungen zu verwandten Themen an anderer Stelle inhaltlich nicht in Einklang zu bringen sind. Dabei versucht er meist zu zeigen, daß in den anderen Büchern der Topik verwandte Vorstellungen im fünften Buch in einer simplifizierten und damit entstellten Weise verwendet werden. Hier reicht ihm oft die Feststellung dieser Simplifikation als Argument gegen die Echtheit aus, so daß er häufig nicht fragt, ob derartige Vereinfachungen, wo sie bestehen, innerhalb des fünften Buches inhaltlich motiviert sein könnten. Andererseits zeigt er in einer sprachlichen Untersuchung, daß Wortwahl und Wortverwendung im fünften Buch sich deutlich von der der anderen Bücher abheben. Die so erzielten Ergebnisse sind in der Tendenz zutreffend; es wird aber klar werden, daß PFLUG sie mit seinen Schlußfolgerungen viel zu stark belastet.
Forschungsgeschichte
15
Niemand hat PFLUGS kühner Hypothese folgen wollen; doch stimmt die Zurückhaltung nachdenklich, mit der man üblicherweise gegenteilige Auffassung bekundet. In der Forschung ist PFLUGS Untersuchung nie angemessen gewürdigt worden, da niemand auch nur in Ansätzen versucht hat, seine Argumentation nachzuvollziehen, um etwa für tatsächlich bestehende Widersprüche und Merkwürdigkeiten alternative Erklärungen zu finden. Den Ergebnissen seiner sprachlichen Untersuchung folgt man üblicherweise, ohne jedoch aus ihnen grundsätzliche Konsequenzen zu ziehen. In GoHLK.Es Aufsatz Untersuchungen zur Topik des Aristoteles (1928) erlebte die Forschung zum fünften Buch dann einen Sturz von der mit PFLUG erreichten Höhe; GOHLKE kann weder PFLUG noch KIRCHMANN gekannt haben. 1 Seine Äußerungen nicht nur zum fünften Buch der Topik sind oft erstaunlich; als ein Beispiel für den völlig willkürlichen Umgang mit dem Text sei hier nur seine Behauptung genannt, die KaXcog-TÖftoi des fünften Buches (E2-3) dienten allein dem Zweck, dreizehn zu anderen Zwecken ausgearbeitete Definitionen, von denen in einem Verzeichnis der aristotelischen Schriften bei Diogenes Laertios die Rede ist, „... hier unterbringen zu können ,..".2 Die Ka^cöq-xöjtoi des sechsten Buches seien dann lediglich eine Fortführung dieses Schemas. COLLI äußert in seiner mit Erläuterungen versehenen Übersetzung des aristotelischen Organon Bedenken gegenüber PFLUGS Unechtheitsthese und macht mehrfach konservative Deutungsvorschläge, nimmt jedoch isolierte spätere Intrusionen in den Text an und glaubt deshalb an eine „... composizione complessa e stratificata"; 3 einige Interpretationsprobleme, die im folgenden zu lösen sein werden, sind zuerst (und oft allein) von COLLI mit voller Klarheit gesehen worden.
Im Jahr 1967 erschien BRUNSCHWlGs mit Anmerkungen versehene BudeAusgabe der ersten vier Bücher der Topik. In der umfangreichen Einleitung nimmt der Verfasser wiederholt auch zum fünften Buch Stellung, das allerdings immer in einer vorsichtigen Weise, so daß seine Position zum Thema kaum genau bestimmt werden kann. Dies ist bemerkenswert, weil er ja eine Gesamtdeutung der Topik geben will, in der dem fünften Buch eigentlich 1 Er erklärt auch explizit (457), sich die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur erlassen zu haben; stattdessen ist er „...durch die mehrfache Lektüre der Topik zu ganz überraschenden Ergebnissen geführt worden." 2 GOHLKE (1928) 462. 3
COLLI ( 1 9 5 5 ) 9 5 7 .
16
Abschnitt 1.2.
ein Ort zugewiesen werden müßte. Die Art und Weise, in der er erstmals auf PFLUGS Hypothese hinweist, ist bezeichnend. p. XV (n. 1): „Plus près de nous, J. Pflug (De Aristotelis Topicorum libro quinto, Leipzig, 1908) a nié l'authenticité du seul livre V, avec des arguments dont plusieurs ne laissent pas d'impressionner." p. LXXIV: „ ... le livre V, notamment, présente un violent contraste avec les autres livres, par son caractère exceptionellement formulaire et mécanique: s'il est de la main d'Aristote [Fußnote: Ce dont a douté J. Pflug], il n'a certainement pas été rédigé entre le livre IV et le livre VI." p. LXXIX: „C'est seulement dans le livre du propre qu'on en rencontre un nombre appréciable [sc. von Vertretern eines bestimmten Typs von Argumentationsmustern]; ce trait s'ajoute à ceux qui donnent à ce livre V une physionomie assez exceptionelle pour que l'on ait pu mettre son authenticité en doute." Vergleicht man BRUNSCHWIGS um Unverbindlichkeit bemühte Aussagen mit denen, die SAINATI1 im ersten Teil seiner Storia dell'Organon Aristotelico macht, so hat man den Eindruck, es werde von verschiedenen Werken gesprochen. Für SAINATI bildet das fünfte Buch eine klare Einheit mit den Büchern A und Z; er fährt fort (118): „... e, d'altronde, la sua problematica, esposta in termini sostanzialmente aristotelici, è chiaramente presupposta dallo schéma della teoria dei predicabili, offerto dal libro A." Allerdings will SAINATI isoliert das erste Kapitel für unecht erklären, unter anderem deshalb, weil es ohne Bezug zum Rest des Buches sei. Diese Feststellung ist zwar richtig, impliziert aber angesichts der offensichtlichen Nähe von A5 und E l nicht zwangsläufig Unechtheit. 2 VERBEKE (1968) widmet dem Begriff des ïôiov in der Topik einen Aufsatz. Dabei beläßt er es bei einem Hinweis auf den Gesprächsbezug des Werkes und deutet dann das ïôiov als Summe aller Qualifizierungen, die im fünften Buch und in anderen Schriften des Aristoteles ausgesprochen werden. Widersprüche, die sich dabei ergeben müßten, harmonisiert er mehr oder weniger gewaltsam; durch die Unterlassung einer Stellungnahme und die Art seiner Untersuchung erscheint das Buch bei ihm als zweifellos echt. Auch BARNES (1970) läßt in seinem wichtigen Aufsatz Property in Aristotle's Topics keine Zweifel über seine Meinung entstehen; er hält das 1 SAINATI 1(1968) 116-123. 2 Eines seiner sprachlichen Argumente ist, daß in El,129al3 das Adverb JtávroTs verwandt werde, welches COLLI 949 unter Berufung auf LLDDELL-SCOTT für historisch unmöglich in einem Aristoteles-Text erklärt habe. Bemerkenswerterweise nennt LIDDELL-SCOTT s.v. jtávrote auch E.N. 1166a28.
Forschungsgeschichte
17
fünfte Buch für aristotelisch und ist der Auffassung, daß die Absonderlichkeiten des Textes PFLUGS „extravagante Hypothese" ( 1 3 7 ) nicht rechtfertigen. Es wird im folgenden erkennbar werden, daß bei BARNES' Spezialuntersuchung von Verwendungstypen des Begriffs Yöiov gerade aufgrund der gewählten Perspektive viele Schwierigkeiten gar nicht erst in den Blick geraten. Als SAINATI den ersten Band seiner Geschichte des aristotelischen Organon publizierte, kannte er BRUNSCHWIGS Ausgabe noch nicht; in seinem Fortsetzungsband (SAINATI II ( 1 9 7 3 ) 1 0 1 , n. 1 0 4 ) bezichtigt er B R U N SCHWIG eines rigiden Schematismus, der zwangsläufig zur Athetierung des gesamten fünften Buches fuhren müßte. Diese Konsequenz ergibt sich keineswegs aus BRUNSCHWIGS systematischen Überlegungen. Die vorerst letzte Äußerung zum Thema hat wiederum BRUNSCHWIG ( 1 9 8 6 ) 1 4 7 n. 2 gemacht, der gegen SAINATI II darauf besteht, in seiner Ausgabe weder die Unechtheit des fünften Buchs behauptet noch Auffassungen geäußert zu haben, die diese Behauptung implizieren. Doch auch hier vermeidet er eine klare positive Stellungnahme. Der Forschungsstand läßt sich also dahingehend zusammenfassen, daß man dem fünften Buch sprachlich-stilistische Auffälligkeit bescheinigt und bis auf K I R C H M A N N und PFLUG mit unterschiedlich großer Entschiedenheit seine Echtheit vertritt. Angesichts der Tatsache, daß in jüngster Zeit einige grundlegende Untersuchungen zur Topik vorgelegt wurden, 1 scheint es geboten, die noch immer unausgemachte Frage wieder aufzugreifen und das fünfte Buch in das nunmehr geschärfte Gesamtbild einzupassen.
1.3. Die Aristotelische Topik Die Topik ist lange als ein stark akademisch beeinflußtes Werk erkannt, d. h. als ein Werk, das den Schulbetrieb der platonischen Akademie und die Interessen dieser Umgebung reflektiert. Aus naheliegenden Gründen gab es in der Akademie ein klares Bewußtsein für die philosophischen Möglichkeiten des Zwiegesprächs, was unter anderem zur Entstehung eines institutionalisierten Übungsgespräches führte, der sogenannten yt)|ivaaia. 2 Die
1 2
PRIMAVESI ( 1996), SMITH ( 1997), SLOMKOWSKI (1997). Vgl. etwa DE PATER (1965), MORAUX (1968), RYLE(1968).
18
Abschnitt 1.3.
Topik stellt eine analytische Aufarbeitung dieser Übungspraxis dar, und ihr Ziel ist es, eine Methode für das erfolgreiche Argumentieren dort zu liefern. Doch da jenes Übungsgespräch nicht als Selbstzweck betrieben wurde, sah Aristoteles analog für seine Analyse unmittelbare und mittelbare Nutzanwendungen vor; auf letztere soll am Ende dieses Abschnitts eingegangen werden. Die Topik ist die Methode des dialektischen Syllogismos, d.h. einer zwingenden Argumentation im dialektischen Übungsgespräch. 1 Die Identifikation von dialektischem Syllogismos und zwingender Argumentation im dialektischen Übungsgespräch wird dadurch nahegelegt, daß Aristoteles die dialektische Prämisse als ¿qcottioic; evöo^oq definiert. 2 Denn durch den Fragecharakter ist der Bezug der Topik auf Frage- und Antwort-^oyoi festgelegt, 3 und im Kreis der Frage- und Antwort-^oyoi 4 erfüllt allein das Übungsgespräch die Forderung nach Endoxalität der verwendeten Sätze. Im dialektischen Übungsgespräch finden sich jeweils zwei Personen zusammen, wobei die eine Fragen stellt und die andere antwortet; der Frager legt dem Antworter eine Wahlfrage der Form „Ist B A oder nicht?" vor (otQÖßXrina),5 woraufhin sich der Antworter für eine der beiden möglichen Positionen zu entscheiden hat. Der Frager muß dann den Antworter widerlegen: Hat der Antworter sich für den verneinenden Satz entschieden, so ist es Aufgabe des Fragers, den bejahenden Satz als sein Argumentationsziel zu verfolgen, d.h. gegen den Widerstand des Antworters die Beziehung zwischen A und B als bestehend zu erweisen bzw. herzustellen (KaxaaKeud^eiv); im umgekehrten Fall muß der Frager versuchen, die vom Antworter behauptete Verknüpfung von A und B als nicht bestehend zu erweisen bzw. aufzuheben (ävaoicem^siv, avatgeiv). Durch die anfängliche Entscheidung des Antworters ist dem Frager also die Schlußfolgerung vor1 Unter einem cruXXoyLa|x6i; versteht Aristoteles eine konkrete Argumentation, in der eine Schlußfolgerung aus mindestens zwei von dieser Schlußfolgerung verschiedenen Prämissen gefolgert wird {Top. A I , 100a25-7; An. Pr. A I , 24bl8-20). Unter dieser Definition sind sowohl die durch töitoi zu verwirklichenden dialektischen Argumentationen, die in Top. behandelt werden, unterzubringen als auch die von der späteren Tradition als „kategorisch" bezeichneten oi>XXoYia|ioi, die Gegenstand von An. Pr. sind. 2 An.pr. A l , 2 4 a 2 4 f . 3 Nichts deutet darauf hin, daß es sich bei der Bestimmung der dialektischen Prämisse als Frage um eine bloße Redeweise oder lediglich um den Ausdruck einer Möglichkeit handelt; der spätere Gebrauch von egortctv im Sinne von „argumentieren" ist ein erst von der Verwendungsweise in der Topik abgeleiteter. 4 Lehr-, Übungs- und Streitgespräch; Top. ©5, 159a25-37. 5 A4, 101b32f.
Die Aristotelische Topik
19
gegeben, auf die er auszugehen hat. Die Sätze der Form „B ist A", die in solchen Übungsgesprächen diskutiert werden, teilt Aristoteles nach dem Verhältnis des Prädikats zu seinem Subjekt in vier Klassen ein, die sogenannten Prädikabilien oder - sachlich angemessener - Prädikationsklassen (Akzidens-, Genos-, 'iöiov und Definitions-Prädikation). Um zu der auf die beschriebene Weise vorgegebenen Schlußfolgerung zu gelangen, muß der Frager zunächst auf den Zielsatz führende Prämissen ermitteln und diese in Form einer Entscheidungsfrage dem Antworter zur Zustimmung anbieten (jtQOteiveLv);1 wenn der Antworter eine Prämisse zugestanden hat (TiOevai, 6iö6vai), gilt sie als „genommener Satz" (X,fjijH.6yov 'iöiov elvai' oü yäg &vrucaTT|YOQT|{>f|oeTai toO
JtgdynaToq.
52
Abschnitt 1.9.
tottoi als Methoden zu prüfen, „ei mgiorai nev, H^l KaXöq 6' ö g i a r a i " (139a34f.), natürlich nur noch erklärungsbedürftiger, weil kaum zu sehen ist, inwiefern in diesem Fall überhaupt definiert worden sein soll. Ein anderer Ka^räq-Tootoq - Z3, 140b27ff. - scheint keine sachlich relevanten Einwände gegen Definitionsprädikationen zu liefern, sondern vielmehr künstliche, ja sophistisch wirkende. Dort soll der Frager überprüfen, ob in der Thesis H(A, B) derselbe Begriff mehrfach enthalten sei in der Weise, daß aus dem Subjekt B ein Begriff entfaltet werden kann, der in A explizit enthalten ist. Wenn also zum Beispiel die emöu(iia als öge^ig fjöeot; definiert werde, sei diese Bestimmung verletzt, da jegliche emfru^ia ein f|6i) zum Ziel habe. Da nun aber Definiens und Definiendum TCUJTÖV,1 d.h. alternative Bezeichnungen derselben Sache von identischer Bedeutung seien und mithin austauschbar sein müßten, sei im Beispielsatz implizit die emihinia als ÖQe^iq f)öeo? f)6eoq (sc. und deshalb nicht Ka^coq) bezeichnet. Auf diesen Gedanken folgt eine Korrektur (140b31f.): Tatsächlich werde fiöti nur einmal von emÜD|iia prädiziert, so daß der ursprünglich kritisierte Satz doch unanstößig sei. Festzuhalten ist, daß in dem TOJTOq vor der Korrektur der oben formulierte instrumentelle Charakter der KaA-cöq-TOJtOL sachliche Gesichtspunkte in den Hintergrund drängt. Dies muß umso mehr gelten, als dasselbe argumentative Vorgehen in S. E. 13, 173a31-173bl6 als TÖ jtoifjoai d&o^eaxfioai r ö v JTQ0AÖIAX£YÖ|I£V0V bezeichnet wird und somit klar als sophistisch einzustufen ist.2 Man sieht hier, daß die nicht allein aus den Bezügen des Frage- und Antwort-A,6yo