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German Pages 229 Year 1999
ROBERTO CHARLES FEITOSA DE OLIVElRA
Das Denken der Endlichkeit und die Endlichkeit des Denkens
Philosophische Schriften Band 37
Das Denken der Endlichkeit und die Endlichkeit des Denkens Untersuchungen zu Hegel und Heidegger
Von
Roberto Charles Feitosa de Oliveira
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Feitosa de Oliveira, Roberto Charles: Das Denken der Endlichkeit und die Endlichkeit des Denkens : Untersuchungen zu Hegel und Heidegger I von Roberto Charles Feitosa de Oliveira. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Philosophische Schriften; Bd. 37) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08998-7
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08998-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Begleitet von der ermutigenden Unterstützung vieler Freunde (im besonderen zu nennen sind Dan Pasca, Vera Giraud, Claudia Köhrrnann, Sophia Marzolffund Caroline Welsh) und verschiedener Dozenten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ist diese Arbeit entstanden. Ihnen mein herzlicher Dank. Besonders dankbar bin ich meiner Betreuerin, Frau Prof. Dr. Ute Guzzoni, die mir gezeigt hat, wie das, was zu denken ist, anders gedacht werden kann. Die kritische und freundliche Hilfsbereitschaft von Herrn Prof. Dr. Walter Bruno Berg hat ebenfalls zur Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen. Zu erwähnen sind auch Alwin Letzkus und Susanne Lüdtke, die das Manuskript mit viel Geduld korrigiert haben. Meinem treuesten Leser Joel Shapiro möchte ich fiir die zahlreichen Gespräche, Anregungen und Provokationen danken. Die finanzielle Unterstützung wurde durch CNPq (Brasilien) und DAAD (Deutschland) übernommen. Für die Betreuung meines Aufenthaltes in Deutschland ist den Mitarbeitern des DAAD zu danken und insbesondere Frau Helga Wahre, die bei vielen Gelegenheiten äußerst hilfreich war.
Roberto Charles Feitosa de Oliveira
Für Beatriee
Inhaltsverzeichnis Einleitung .......................................................... 13 I. Kapitel: Das Schicksal der Endlichkeit in Hegels Geschichte der Philosophie
Fragestellung . ....................................................... 19 LI. Hegels Problem: le dilemme morlel .................................... 1.1. Die Geschichtlichkeit der Philosophie ............................. 1.2. Die Reinheit des Denkens ....................................... 1.3. Der dilemme mortel ...........................................
20 20 22 24
1.2. Hegels LÖSWlg: Die Metaphysik der Zeit ................................ 2.1. Die Bewegung des Konkreten ................................... 2.2. Hegels 'Metaphysik der Zeit' ..................................... 2.3. Der Geist als Pluralität .........................................
27 27 30 35
1.3. Das Schicksal der Endlichkeit in der Geschichte der Philosophie . ............ 36 3.1. Der Kampf zwischen Endlichkeit Wld Unendlichkeit ................. 36 3.2. Der Anfang Wld sein Anfang .................................... 39 3.3. Die AufhebWlg der Zeit ........................................ 43
Ausblick ............................................................ 45 11. Kapitel: Heideggers Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie
Einblick ............................................................ 48 II.1. Der philosophierende Trieb ......................................... 49 11.2. Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie ............... 2.1. Dasein Wld Tradition .......................................... 2.1.1 Das Privileg des Daseins ................................. 2.1.2. Das vulgäre Verständnis der Tradition ...................... 2.1.3. Das vulgäre Verständnis der Destruktion .................... 2.2. Destruktion Wld AneignWlg ..................................... 2.2.1. Destruktion als Methode ................................. 2.2.2. Destruktion als Selektion? ................................
53 53 53 57 60 63 63 64
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Inhaltsverzeichnis 2.3. Destruktion lll1d Endlichkeit ..................................... 2.3.1. Die Endlichkeit als Ursprllllg der Geneigtheit lll1d des Triebes .... 2.3.2. Das Heimweh als Grlllldstimmlll1g der Philosophie ............ 2.3.3. Der Sinn der eigentlichen Destruktion .......................
66 66 71 73
II.3. Heideggers Destruktion von Hegels Zeitbegriff .......................... 74 Ausblick ............................................................ 81 1. Destruktion lll1d Aufheblll1g ...................................... 81 2. Destruktion lll1d Ende der Tradition ................................ 84 Exkurs über Heideggers Ex-cursus von 1933 ................................ 1. Das Geheinmis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschick lll1d Schicksal: Determinismus? ............................ 3. Was haben wir damit zu tlll1? .....................................
86 86 86 91
III. Kapitel: Todesgedanken Richtlinien .......................................................... 95 III.1. Hegels Kampf gegen den Tod ....................................... 95 Einblick ........................................................ 95 1.1. Logik des Todes .............................................. 96 1.1.1. Trauer ............................................... 96 1.1.2. Die ursprüngliche Krankheit .............................. 99 1.2. Nostalgie ................................................... 101 1.3. Er-Innerllllg ................................................ 106 1.3.1. Furcht .............................................. 110 1.3.2. Unglück ............................................. 113 Zwischenbemerklll1g ............................................. 115 III.2. Heideggers Phänomenologie der Todesmodi ........................... 2.1. Der Tod des Man ............................................ 2.2. Der Tod des Anderen ......................................... 2.2.1. La severite de l'authentique .............................. 2.2.2. Dabeisein ............................................ 2.2.3. Versetztsein .......................................... 2.3. Mein Tod .................................................. 2.3.1. Aneignlll1g des Todes .................................. 2.3.2. Vereinzellll1g ......................................... 2.3.3. Der Tod des 'Mein' .....................................
117 117 124 124 125 127 130 130 132 134
Allsblick ........................................................... 138
Inhaltsverzeichnis
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IV. Kapitel: Zur Endlichkeit der Liebe Das Andere lieben / denken ............................................ 140 IV.1. Dialektik der Liebe .............................................. 1.1. Eine gute Empfindung ........................................ 1.2. Gegen den Spiegel ........................................... 1.3. Reichtum und Armut ......................................... 1.4. Von der Bewußtlosigkeit zum Selbstbewußtsein .................... 1.5. Erkennendes Anerkennen ......................................
142 142 144 146 147 149
IV.2. Geschlechterliebe und Geschlechtsdifferenz ........................... 2.1. Logik der Differenz .......................................... 2.2. Das äußerliche Herz .......................................... 2.3. Die Prosa der Welt ...........................................
150 150 153 155
IV.3. Fruchtbarkeit der Sterblichen ...................................... 158 IV.4. Gemeinschaft der Liebenden ....................................... 163 4.1. Geschwisterliebe ............................................. 163 4.2. Das Mahl der Liebe .......................................... 168 Anders lieben / Anders denken .......................................... 172 V. Kapitel: Vom Denken der Endlichkeit zur Endlichkeit des Denkens Einblick ........................................................... 178 V.1. Vom Lachen und Denken .......................................... 1.1. Das Ernste des Denkers ....................................... 1.2. Das Lachen als Verleiblichung des Geistigen ....................... 1.3. Wer denkt abstrakt? .......................................... 1.4. Le/au rire .................................................. 1.5. Entwurf eines 'lachenden Denkens' als endliches, konkretes Denken ..... Zwischenbemerkung .............................................
179 179 180 182 187 189 191
V.2. Unterwegs zu einem 'endlichen Denken' .............................. 2.1. Die Konkretion des Seins ...................................... 2.1.1. Konkretion des Geistes versus Konkretion des Daseins ........ 2.1.2. Ontische und ontologische Konkretion ..................... 2.1.3. Wahre versus falsche Konkretion ......................... 2.2. Die 'Wegkreuzung' mit Hegel in der 'Sinnlichen Gewißheit' ........... 2.2.1. Die mitgehende Geduld ................................. 2.2.2. Die Konstruktion der Unmittelbarkeit ......................
192 192 192 194 195 197 197 199
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Inhaltsverzeichnis 2.2.3. 'Wegkreuzung' ........................................ 2.2.4. Subjektivität und 'Subjektität' ............................ 2.3. Das 'Herausdrehen' aus der Metaphysik ........................... 2.3.1. Die Rätselhaftigkeit der Befindlichkeit ..................... 2.3.2. Der Überfall der Stimmungen ............................ 2.3.3. Die Gestinunheit des Verstehens .......................... 2.3.4. Die verstehende Sinnlichkeit .............................
201 203 205 205 207 209 210
Ausblick: Zur Sinnlichkeit des Denkens ................................... 212
Schluß bemerkungen ................................................. 214 Literaturverzeichnis ................................................. 217 Personenreghter .................................................... 225 Sachregister ........................................................ 227
Abkürzungen I. Hegel W.: W.l: W.2: W4: W5-6: W7: W.8-1O: WI6-17: W.18-20:
Werke in zwanzig Bänden. Frühe Schriften (1793-1801) Jenaer Schriften (1801-1807) Nürnberger und Heidelberger Schriften (1808-1817) Wissenschaft der Logik (1813-1816/1831) Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1821 ff.) Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1805 ff.)
Einzelausgaben: Ästh.:
B. :
EGPh.: Phän.: N.: Realphil.: VG.:
Vorlesungen über die Ästhetik (1820 ff.), nach der zweiten Ausgabe H. Hothos (1842) Briefe von und an Hegel Einleitung in die Geschichte der Philosophie (1822) Phänomenologie des Geistes (1807) Theologische Jugendschriften, hrsg. von H. Nohl. Jenaer Realphilosophie. I: Die Vorlesungen von 1803/04. 11: Die Vorlesungen von 1805/06. Die Vernunft in der Geschichte
II. Heidegger GA: GA.l: GA.9: GA.15: GA.20: GA.22: GA.24: GA.26: GA.29/30: GA.32:
Gesamtausgabe. Frühe Schriften (1912-1916) Wegmarken (1919-1961) Seminare (1951-1973) Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegrijft (SS 1925) Grundbegriffe der antiken Philosophie (SS 1926), Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927) Metaphysiche Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (SS 1928) Die Grundbegriffe der Philosophie. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit (WS 1929/30) Hegels Phänomenologie des Geistes (WS 1930/31)
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GA.39: GA.56157: GA.58: GA.59: GA.61: GA.65: GA.68: GA. 79:
Abkürzungen
Hölderlins Hymnen 'Germanien' und der 'Rhein' (WS 1934/35) Zur Bestimmung der Philosophie (1919) Grundprobleme der Phänomenologie (WS 1919-20) Phänomenologie der Anschauung und des Ausdruks (SS 1920) Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (WS 1921/22) Beiträge zur Philosophie (1936-38) Hegel (1938/39) Bremer und Freiburger Vorträge (1949-1957)
Einzelausgaben:
KM: Nietzsche: SZ: RR:
Kant und das Problem der Metaphysik (1929) Nietzsche- Vorlesungen (1936-41) Sein und Zeit (1927) Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (Rektoratsrede)
III. Andere
AK: KSA:
Kant, I.: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: 1968. Nietzsche, F.: Kritische Studien Ausgabe, hrsg. von G. Colli 1 M. Montinari, MiinchenlBerlinlNew York: 1988.
Einleitung Thema der vorliegenden Arbeit ist das Verhältnis zwischen Denken und Endlichkeit. Einerseits soll hier über einige Grundaspekte der Endlichkeit reflektiert, andererseits aber auch die Frage untersucht werden, wie 'endliches Denken' überhaupt zu kennzeichnen ist. Ich gehe davon aus, daß das Wesen des Menschen sich als Endlichkeit konstituiert und daß eine der Aufgaben des Denkens darin besteht, sich darauf zu besinnen. Die Kategorie der 'Endlichkeit' ist mehrdeutig: sie zeigt sich unter anderem in Geschichtlichkeit, Sterblichkeit und Sinnlichkeit, sie bezieht sich auch auf Begrenztheit, Veränderlichkeit, Mannigfaltigkeit und Abhängigkeit, und von hier aus wird ihr auch traditionell der negative Charakter von Unvollkommenheit und Unselbständigkeit verliehen. Das, was endlich ist, ist zugleich mangelhaft; das, was mangelhaft ist, muß ausgeschlossen oder verdrängt bzw. 'erlöst' werden. Die Namen Hegel und Heidegger stehen fiir zwei unterschiedliche Initiativen, mit dieser Tradition zu brechen: bei Hegel wird die Endlichkeit nicht mehr ausgegrenzt, sondern ins Absolute integriert; bei Heidegger wird die Endlichkeit nicht mehr untergeordnet, sondern zum Maßstab des Denkens erhoben; beide versuchen, jeweils auf ihre Art, den Begriff 'neu' zu deuten. Der Gang dieser Dissertation besteht zunächst darin, Hegels und Heideggers Auffassungen der Endlichkeit darzustellen bzw. gegenüberzustellen, um deutlich zu machen, unter welchen Aspekten es beiden gelingt bzw. nicht gelingt, Endlichkeit anders und neu zu denken. Bevor wir mit den Untersuchungen anfangen, soll eine vorläufige Bemerkung über die Art der Auseinandersetzung gemacht werden, die ich hier mit Hegel und Heidegger führen will. Eine der Schwierigkeiten der Kontrastierung zwischen zwei Autoren ist die ständige Versuchung, die zu befragende Sache in ein einfaches Polarisierungs schema zu zwingen: Hegel, der als größter Denker der Unendlichkeit gilt, versus Heidegger, der sich selbst als Endlichkeitsdenker versteht. Solche Interpretationsmodelle sind in ihrer Oberflächlichkeit zum Scheitern verurteilt. Wir werden sehen, daß viele der Bestimmungen, die Hegel mit dem Titel der Endlichkeit belegt und kritisiert, wie etwa Abstraktheit, Fixierung oder Einseitigkeit, auch in Heideggers Denken negativ beurteilt werden. Viele Merkmale allerdings, die Hegel unter der Bezeichnung 'wahre Unendlichkeit' hervor-
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Einleitung
hebt, wie Z.B. die Zusammengehörigkeit von Sein und Nichts, Geist und Zeit oder Selbstheit und Andersheit erscheinen bei Heidegger unter dem Index echter Endlichkeit wieder. Der große Unterschied zwischen beiden Denkern in ihrer Beziehung zur Endlichkeit liegt weniger in einer Haltung pauschaler Ablelmung bzw. Anerkennung ihr gegenüber, als vielmehr in ihren unterschiedlichen Strategien, ein nicht-abstraktes bzw. nicht-metaphysisches Verständnis der Endlichkeit zu gewinnen. 'Abstrakt' nennt Hegel nicht nur ein Denken, das bloß fixierte Oppositionen kennt, sondern auch ein Denken, das sich unfahig zeigt, die Widersprüche der Wirklichkeit auszuhalten. Schon in seinem ersten bedeutenden Text, der sogenannten DijJerenzschriji (1801), äußert er seine Absicht, die kantische Opposition zwischen Endlichem und Unendlichem in ihren verschiedenen Formen (d.h. in den Antinomien von Vernunft und Sinnlichkeit, Ich und Welt, Freiheit und Notwendigkeit) aufzulösen (Vgl. W2, S.21). Die Auflösung der Antinomien geschieht aber nicht in einer Geste der Versölmung, als hannonische Synthese der Gegensätze, sondern Hegels dialektisches Verfahren besteht vielmehr darin, die Gegensätze ins Äußerste zu treiben, damit sie in ihrer Unhaltbarkeit zusammenstürzen. Die Polarisierungen sollen so weit radikalisiert werden, bis die Umkehrbarkeit der jeweiligen Pole entlarvt ist und sie sich in ihrer grundsätzlichen Wechselwirkung erweisen. Hegel interpretiert im weiteren Verlauf seines Denkens die Antinomien der Metaphysik als 'Entzweiungen' einer zugrundeliegenden Totalität, deren Wiederherstellung er zur Aufgabe seiner Philosophie macht. Das Denken, wie er es begreift, darf sich weder von ihrer Zerrissenheit gefangennehmen und einschüchtern lassen, noch versuchen, sie einfach zu überspringen. Denken heißt, die 'Er-Innerung' der Totalität zu üben, d.h. sich auf den Trieb einzulassen, der aus der Erfahrung der Zerrissenheit entsteht und nach der ursprünglichen Einheit, aus welcher die Oppositionen hervorgehen, strebt. Das Entscheidende in einer Auseinandersetzung mit Hegelliegt genau darin, diesen totalisierenden Charakter der 'Einheit' zu problematisieren. Man weiß, daß es sich nicht um eine Art von ruhiger Identität handelt, die aus einer Bereinigung der Differenz entsteht. Hegels 'Einheiten' sind eher von Unruhe geprägt: das 'Werden' als Einheit von Sein und Nicht-Sein; das 'Leben' als Einheit von Individuellem und Allgemeinem; das 'Absolute' als Einheit von Identität und Differenz. Die 'reine Identität', welche sich in der Ausgrenzung der Differenz konstituiert, bleibt abstrakt verhaftet, weil nämlich in der Struktur einer Entgegensetzung gefangen. Hegel versucht, 'Einheit' im spekulativen Sinn zu denken, d.h. als die Zusammengehörigkeit von Identität und Differenz. Die Idee einer spekulativen Einheit ist das Kriterium, an dem sich die Unterscheidung zwischen wahrer und
Einleitung
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schlechter Unendlichkeit in der Wissenschaft der Logik herausbildet. Die 'schlechte Unendlichkeit' hat viele Gestalten, sie zeigt sich entweder als die radikale Trennung zwischen Endlichem und Unendlichem, in der endlosen Alternanz zwischen beiden, oder in der Reduktion des einen auf das andere (Vgl. W.5, S.151-156). Die 'wahre Unendlichkeit' soll beides, Endliches und Unendliches, in sich fassen, ohne daß eines über das andere herrscht. Die hier vorliegende Untersuchungen werfen die Frage auf, ob die spekulative Einheit tatsächlich dem Unendlichen keinen Vorrang gegenüber dem Endlichen einräumt. Obwohl Hegel das Problem der menschlichen Endlichkeit nicht vernachlässigt, bleibt fragwürdig, ob es ihm gelingt, sie nicht 'metaphysisch' zu denken. Es ist bekannt, daß der Name 'Metaphysik' bei Heidegger für eine geschichtliche Amnesie des Denkens steht, in dem die Frage nach dem 'Sein als solchem' mit der Frage nach dem 'Sein des Seienden' verwechselt wurde. Es gibt einen Wesenszusammenhang zwischen dem Vergessen der Seinsfrage und dem Vergessen der Endlichkeit. Schon in Sein und Zeit (1927) ging es darum, die Seinsfrage durch eine Analyse der grundsätzlichen Endlichkeit des Daseins neu in Erinnerung zu rufen. Diese 'Wiederholung' der Seinsfrage besteht aber für Heidegger nicht nur darin, bloß an das Vergessene zu erinnern, sondern sie geschieht vielmehr als Reflexion selbst auf die Frage, wie überhaupt Vergessen und Erinnern möglich sind. Daß das Dasein vergessen kann, und ferner, daß es vergessen kann, daß es vergißt, setzt voraus, daß das Dasein immer schon in einem Verhältnis zum Sein steht. Das Wesen dieses ursprünglichen Seinsverhältnisses gründet in der Geworfenheit des Daseins in die Welt, auf die es inuner schon angewiesen ist, letztlich also in der Endlichkeit seiner Existenz. Die Seinsvergessenheit dagegen ist ein Ausdruck der Vergessenheit, in der diese Endlichkeit des Daseins verborgen bleibt. Deshalb versucht Heidegger eine Art 'Wiedererinnerung', in der die Endlichkeit als das 'Innerste' und das 'Eigenste' der Existenz nicht nur begriffen, sondern auch erfahren wird. Heidegger hat sich mehrmals zu einer gewissen Verwandtschaft seines Denkens mit dem Hegels bekannt; dieser habe in seinem 'spekulativen Satz' gewissermaßen auch das Differieren zwischen Sein und Seiendem vollzogen, freilich ohne es als ontologische Differenz zu thematisieren. Viel öfter jedoch mußte er die Überschätzung dieser Verwandtschaft dementieren, um die radikale Verschiedenheit der Voraussetzungen beider Denkweisen zu betonen. Ist der Gedanke der Endlichkeit bei Heidegger eine verwandelte Aneignung von Hegels Begriff der 'wahren Unendlichkeit'? Oder liegt in ihm vielmehr eine gnadenlose Ablehnung der idealistischen Struktur EndlicheslUnendliches vor?
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Einleitung
Hegels Auffassung der Endlichkeit birgt zwar vielfältige, doch immer auch limitierte Möglichkeiten in sich, und zwar immer in Bezug auf die Unendlichkeit: Opposition, Trennung, Inversion und Alternanz zwischen beiden oder deren einfache Unbestimmheit. Was Hegel nicht denken kann, ist die Kategorie der Endlichkeit ohne einen Gegensatz, der sie sowohl eingrenzt als auch konstituiert. Was Heideggers Ansatz dagegen kennzeichnet, ist der Versuch, das Endliche ohne das Unendliche zu denken, oder besser gesagt, ohne es zu verunendlichen. Eine kritische Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Standpunkten, so wie ich sie verstehe, soll einerseits die Momente hervorheben, in denen die spekulative Strategie der Aufhebung der Endlichkeit nicht funktioniert und in denen somit die Grenzen der Dialektik hervortreten, andererseits aber soll auch überprüft werden, ob es nicht Momente gibt, in denen auch das Denken Heideggers seinen eigenen, von ihm gesetzten Maßstäben nicht optimal entspricht. Darüber hinaus ist zu betonen, daß die Durchführung diese Gegenüberstellung zwischen Hegel und Heidegger nicht das einzige Anliegen dieser Arbeit ist. Sie soll gleichsam als Ausgangspunkt dafür dienen, die These zu belegen, daß eine Radikalisierung des Gedankens der Endlichkeit einen Wandel im Denken selbst hervorbringen muß. Das Leitmotiv der hier vorliegenden Untersuchungen zu Hegel und Heidegger ist daher im Übergang vom 'Denken der Endlichkeit' zur 'Endlichkeit des Denkens', d.h. in der Ausarbeitung der Frage zu suchen, was es bedeutet, wenn das Denken sich nicht nur mit der Endlichkeit beschäftigt, sondern sich selbst auf diese einläßt und sich in ihr zu bestimmen versucht. Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: In den Kapiteln I und II wird die Frage erörtert, wie Hegel und Heidegger die Geschichtlichkeit der Philosophie betrachten, und inwiefern dabei das Denken selbst als geschichtliches erfahren wird. Aufzuklären gilt, wie die unterschiedlichen Weisen, in denen Hegel und Heidegger sich der philosophischen Tradition nähern, mit ihren jeweiligen Auffassungen der menschlichen Endlichkeit zusammenhängen. Im ersten Kapitel wird dargelegt, wie es Hegel anband seiner 'Metaphysik der Zeit' gelingt, daß sich die 'Geschichte der Philosophie' von einer Bürde zur Bedingung der Möglichkeit für die Philosophie wandelt. Gegen die übliche Auffassung, daß erst seit Hegel die Philosophie geschichtlich gedacht werden kann, werfe ich die Frage auf, ob nicht ein grundsätzlicher Zwiespalt in seiner Strategie festzustellen ist: das Denken, so wie Hegel es vorstellt, konstituiert sich zwar durch die Angewiesenheit au/seine Geschichte, durch seine Endlichkeit, aber tendiert zugleich dahin, sich von dieser Angewiesenheit zu befreien und un-endlich zu werden. Im zweiten Kapitel wird untersucht, inwieweit Heideggers Bestimmung der Geschichtlichkeit der Philosophie mit seinem Verständnis der Geschichtlichkeit
Einleitung
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des Daseins zusammenhängt. Erläutert wird zunächst seine scharfe Einsicht, daß die Endlichkeit des Daseins den Ursprung des Denkens - ob metaphysisch oder nicht - konstituiert. Dabei ist zu problematisieren, ob und wie es Heidegger gelingt, die Aufgabe einer 'Destruktion der Geschichte der Ontologie' mit der Ansicht zu versöhnen, daß die 'Tendenz' zur Seinsvergessenheit ursprünglich zum Sein des Daseins selbst gehört. Durch die Gegenüberstellung der Auffassungen über den Zusammenhang von Geist und Zeit (Hegel) bzw. von Dasein und Zeit (Heidegger) soll in Kapitel I und 11 verdeutlicht werden, wie ein 'endliches Denken' mit seiner eigenen Geschichtlichkeit umgeht. Diesem Ziel dient auch der 'Exkurs', in dem ich die Hypothese entwickle, daß Heideggers politische Verwicklungen 1933 als vorübergehender Rückfall in ein 'nicht-endliches Denken' zu betrachten sind. In Kapitel III, IV und V geht es darum, Hegels und Heideggers Reflexionen über die Sterblichkeit, den Bezug zum Anderen und die Sinnlichkeit zu untersuchen, um den Unterschied zwischen einem einfachen 'Denken der Endlichkeit' und einem 'endlichen Denken' deutlicher zu machen. Im III. Kapitel wird gefragt, welcher Sinn dem Tod im Denken beider Autoren zukommt. Zunächst stellt sich dabei die Frage, ob und in welchem Maße Hegels Deutung des 'Lebens' als 'Kreislauf zwischen Einzelnem und Allgemeinem' letztlich nicht doch nur einen Versuch darstellt, dem Tod selbst auszuweichen. Der von Heidegger aufgewiesene Zusammenhang von Sterben und Vereinzelung soll dem entgegengehalten werden. Die Frage, die dabei aufgeworfen wird, ist, warum in Heideggers Thanatologie, im Gegensatz zu der Hegels, die Problematik von 'meinem eigenen Tod' dem 'Tod des Anderen' gegenüber bevorzugt bleibt, und welche ethischen Konsequenzen damit einbezogen werden können. Das IV. Kapitel handelt vorwiegend von der Art und Weise, wie bei Hegel die Andersheit des Anderen gedacht wird. Als Leitfaden dient die Entwicklung seiner Auffassung des Miteinanderseins in der Liebe. Hegel denkt das Phänomen der Liebe dialektisch, d.h. als eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich mit dem Anderen zu 'vereinigen'. Was fiir eine Erfahrung des Anderen jedoch in der Vereinigung impliziert ist, soll dabei näher betrachtet werden. Hier konzentriere ich mich auf die Darstellung der 'Dialektik der Liebe' bei Hegel, als ein eindeutiges Beispiel dafür, wie die Endlichkeit in seinem System zwar nicht vernachlässigt, jedoch unterdrückt und entkräftet wird. Dagegen unternehme ich den Versuch, die Liebe anders zu denken, nämlich als den radikalen Index der menschlichen Endlichkeit. Da die Liebe nicht nur als ein Bezug zum Anderen, sondern zugleich als das Andere der Vernunft gilt, dient ihre Analyse auch zum Anlaß, das Verhältnis zwischen Denken und Sinnlichkeit neu zu überdenken. Dies wird das Thema des 2 Feitosa
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Einleitung
letzten Kapitels dieser Dissertation sein. Ausgehend von Hegels und Heideggers Auffassungen der Kategorien 'abstrakt' und 'konkret' werden die jeweiligen Weisen untersucht, wie beide Philosophen das Sinnliche auslegen. Dabei wird sich zeigen, daß der Übergang von einem 'Denken der Endlichkeit' zu einem Denken, das sich selbst als endlich versteht, nur dann gelingen kann, wenn dieses Denken bereit ist, seine eigene Sinnlichkeit anzuerkennen und anzunehmen.
I. Das Schicksal der Endlichkeit in Hegels Geschichte der Philosophie Fragestellung Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch sondern rational d.i. apriori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählungen sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie. Was hat die Denker unter den Menschen vermocht über den Ursprung das Ziel und das Ende der Dinge in der Weit zu vernünftein. War es das zweckmäßige in der Welt oder nur die Kette der Ursachen und Wirkungen oder war es der Zweck der Menschheit selbst wovon sie anfingen? I. Kant (Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik)
Ich beginne mit einer Anmerkung, die Heidegger nachträglich in sein KantBuch (1929) eingerugt hat und die folgendermaßen lautet: ,,»Endliches Denken ist eine Tautologie, so wie runder Kreis. Was heißt: das Denken ist endlich?«"(KM, S.249). Es ist bekannt, daß eine Tautologie einen Sachverhalt durch eine doppelte, meistens überflüssige Äußerung wiedergibt. Normalerweise fragt man nicht nach etwas Evidentem, außer wenn diese Evidenz noch verborgen ist. Ich nehme also diese Anmerkung Heideggers zum Anlaß, noch einmal die Frage zu bedenken, was 'endliches Denken' heißt. Endlich-sein bedeutet unter anderem angewiesen- oder gebunden-sein. Wenn behauptet wird, daß das Denken endlich sei, dann wird dadurch angedeutet, daß das Denken immer schon von einem Anderen als ihm selbst bedingt ist: zunächst von seinen Gegenständen, dann aber auch von der Leiblichkeit und Sinnlichkeit, von ideologischen und kulturellen Umständen und, was mich hier als erstes interessiert, von seiner eigenen Geschichte. Die Philosophie, oder besser gesagt das Denken, ist endlich, insofern es von seiner Vergangenheit abhängig ist.
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I. Kapitel: Das Schicksal der Endlichkeit
Hege! gebührt das Verdienst, als erster die Radikalität dieser Tatsache erkannt zu haben'. Wer heute aber Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie liest, will weniger etwas über die Philosophiegeschichte selbst erfahren, als vielmehr durch die Analyse der Art und Weise, wie er diese Geschichte sah und deutete, einen speziellen Zugang zu seinem Denken gewinnen. Diesem Ansatz liegen zwei auseinanderstrebende Überzeugungen zugrunde. Einerseits geht man davon aus, daß Hegels Denken einen Versuch repräsentiert, die Philosophie geschichtlich zu denken, d.h. die Tradition ernst zu nehmen und mit ihr ins Gespräch zu kommen. Andererseits stößt man sich an der schwer nachvollziehbaren Einordnung der verschiedenen Philosophien in die Bewegung der Logik des Begriffs. Meiner Ansicht nach hängen diese unterschiedlichen Einstellungen damit zusammen, daß Hegel selbst ein ambivalentes Verhältnis zur Endlichkeit des Denkens hat. Im folgenden wird also die Ambivalenz untersucht, welche das Schicksal der Endlichkeit in Hegels Geschichte der Philosophie kennzeichnet2•
1.1. Hegels Problem: le dilemme mortel 1.1. Die Geschichtlichkeit der Philosophie
Warum soll der Begriff 'Geschichte der Philosophie', der heute als selbstverständliche Notion in den einführenden Disziplinen der akademischen Philosophie gilt, als ein philosophisches Problem betrachtet werden? Man muß anmerken, daß die Problematik nicht unmittelbar in der Philosophiegeschichtsschreibung selbst liegt, denn es gab schon seit Aristoteles mehrere Versuche, die chronologische Folge der verschiedenen Philosophien darzustellen. Das Problem ist vielmehr, daß die Art und Weise, wie diese Geschichte dargestellt wird, schon die verschiedeI Bei J. Flay heißt es z.B.: "Thinkers before Hegel never thematized the tradition. They may have adressed one or another problem in terms of one or another philosopher in order to lay the problematic for their own thought, but this did not give us the thematization of metaphysics as such" ("Hegel, Heidegger, Derrida: Retrieval as Reconstruction, Destruction, Deconstruction", in: Ethics and Danger -Essays on Heidegger and Continental Thought, S. 20). 2 Es gibt schon zahlreiche Sekundärliteratur, die von verschiedenen Standpunkten aus versucht, Hegels Auffassung der Geschichte der Philosophie zu erörtern (Siehe insbesondere die gnmdlegenden Untersuchungen von K. Düsing: Hegel und die Geschichte der Philosophie, Dannstadt: 1983 und V. Hösle: Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt: 1984). Ich will mich hier auf die noch nicht berücksichtigte Hypothese konzentrieren, daß die Möglichkeit einer 'Geschichte der Philosophie' und deren Auflösung bei Hegel mit seiner eigentümlichen Auffassung der Endlichkeit (bzw. Un-Endlichkeit) zusammenhängt.
1.1. Hegels Problem: !e dilemme morte!
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nen Auffassungen des philosophischen Denkens, der Wahrheit und der Zeit widerspiegelt. Als Schelling z.B. seine Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie 1827 (vier Jahre vor Hegels Tod) in München hielt, hatte er vor, seinen Studenten eine historische Propädeutik zur Philosophie anzubieten. Obwohl auch Schelling die Philosophie als eine stetige Entwicklung in der Zeit auffaßte, ist seine 'Geschichte der Philosophie' nur ein Bericht über die mißlungenen Versuche der Philosophen, die Wahrheit zu erreichen. Die vergangenen Formen des Philosophierens haben ihren Wert, laut Schellings Vorbemerkung zu den Vorlesungen, lediglich als Kontrastpunkt oder als negatives Beispiel gegenüber dem authentischen (seinem) Denken: "Wenn es endlich, um die Wahrheit schätzen und beurteilen zu lernen, notwendig ist, auch den Irrtum zu kennen, so ist eine solche Darstellung wohl die beste und sanfteste Art, dem Anfanger den Irrtum, der überwunden werden soll, zu zeigen"'. Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie sollten dagegen den Zweck erfüllen, die Philosophie, "wie sie in der Zeit nacheinander erscheint" kennenzulernen (EGPh, S.79)·. Es handelt sich um eine sozusagen 'affirmative
, F.W.J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, S. 29. Ich bin der Ansicht, daß Schellings Auffassung der Philosophiegeschichte als einer 'negativen Propädeutik zur Philosophie' mit seiner Identitätsphilosophie zusammenhängt, welche keinen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen zuläßt (Vgl. z.B. Drsl.: "Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus" [1795], in: Werke, Bd.3, S.83-84). Über die unterschiedliche Auffassung des Endlichen bei Hegel und Schelling siehe D. Henrich: "Absoluter Geist und Logik des Endlichen", in: Hege! in Jena, S.103-118. • Bekanntlich hielt Hegel seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zum ersten Mal in Jena (Wintersemester 1805-1806). Nach Rosenkranzs Bericht, hat Hegel diese Vorlesungen in seinen späteren Vorträgen (Heidelberg und Berlin) nicht wesentlich verändert, sondern sie nur verbessert und ergänzt (Vgl. K Rosenkranz: Hege!s Leben [1844], S.201). Jedoch darf die aktuelle Form des Textes nicht als ein einheitliches Werk gelesen werden, er stellt vielmehr ein mixtum compositum aus verschiedenen Quellen dar (Hegels Manuskripte, Nachschriften und Zusammenfassungen von Schülern). Gewöhnlicherweise wird nach der Ausgabe von KL. Michelet (1833-1836) zitiert. Michelet verfügte über heterogene Quellen, die teilweise verloren gegangen sind. Er ordnete diese verschiedenen Quellen, zwar ohne Rücksicht auf die verschiedenen Jahrgänge der Vorlesungen, aber in einer so sinnvollen Weise, daß der Text die Form eines konzipierten Buches bekam. 1940 wurde die Einleitung zu den Vorlesungen neu von J. Hoffmeister veröffentlicht. Die neue Ausgabe beinhaltet neu gefundene Quellen und strukturiert die Texte nach chronologischen Gesichtspunkten, aber einige von Michelet benutzte Materialien (das sogenannte Jenaer Heft, z.B.) standen nicht mehr zur Verfügung. Die Hegel-Forschung ist sich über die Vorteile und die Grenzen bei der Ausgaben noch nicht einig (Siehe hierzu den Beitrag von P. Gamiron und F. Hogermann: "Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie", in: Hege/-Studien, S.IIO-119, Bd. 26, Bonn: 1991). Ich habe mich entschieden,
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I. Kapitel: Das Schicksal der Endlichkeit
Propädeutik' der Philosophie, weil Hegel die Ansicht vertritt, daß die Geschichte der Philosophie nicht nur eine bloße chronologische Darstellung der vergangenen Philosophien sei, sondern daß diese Geschichte schon an sich philosophisch ist. Der Begriff der Geschichte der Philosophie war damals keinesfalls selbstverständlich; seine Schwierigkeit lag darin, zu erklären, wie es möglich ist, daß die Philosophie, die es mit der Wahrheit zu tun hat, so viele verschiedene Gestalten in der Geschichte annimmt. Obwohl dieses Problem scheinbar nur rein methodologische Bedeutung hat, interessiere ich mich für die ontologische Dimension dieser Frage: Es handelt sich um die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie, d.h. inwiefern das Denken auf seine Geschichte angewiesen ist. Die Auflösung dieser Frage hängt bei Hegel damit zusammen, ob und wie Endlichkeit und Unendlichkeit zueinander gehören. 1.2. Die Reinheit des Denkens
Hegels Betrachtungsweise der Endlichkeit und der Unendlichkeit bestimmt entscheidend seine Auffassung von der Einzigartigkeit der Philosophie und deren Geschichte im Kontrast zu den anderen Hervorbringungen des menschlichen Geistes. Jene Begriffe stehen bei Hegel immer im Zusammenhang mit anderen Denkbestimmungen, die sich teilweise auschließen und teilweise ergänzen: Endlichkeit heißt Abhängigkeit, Beschränktheit, Besonderheit, Zufälligkeit, Zeitlichkeit, Fixierbarkeit, 'abstrakte Negativität', Sinnlichkeit, usf.; Unendlichkeit heißt Freiheit, Grenzenlosigkeit, Allgemeinheit, Notwendigkeit, Ewigkeit, Bewegung, 'absolute Negativität', Geistigkeit, usw. Der Ausdruck 'endliches Denken' stellt für Hegel keineswegs eine Tautologie dar, aber auch kein Paradoxon, sondern eher eine Ungenauigkeit. Während Heidegger das Wort 'Denken' für eine bestimmte Art des Philosophierens reserviert, des nach-metaphysischen nämlich, pflegt Hegel von verschiedenen Arten des Denkens zu sprechen. In der Einleitung in die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wird das Denken generell als das Wesentliche oder Substantielle im Menschen definiert, und insofern steht Hegel in Einklang mit dem seit Aristoteles traditionellen Verständnis des Menschen als (tjJov AOyOV exov. Das Denken ist das Wesen des Menschen, was ist aber hier das Wesen des Denkens? mit beiden Editionen zu arbeiten, die hier folgendennaßen zitiert werden: W. 18-20 - Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in 3 Bänden (auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 (diese Ausgabe folgt, abgesehen von einigen kleinen Abweichungen, der Kompilation Michelets); und: EGPh - Einleitung in die Geschichte der Philosophie (Hoffmeister).
1.1. Hegels Problem: le dilemme mortel
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Das Wesentliche im Denken wird bei Hegel gerade in seinem unendlichen Charakter festgelegt; d.h. darin, daß das Denken, unabhängig von allem anderen sich selbst bestimmt. Wenn das Denken sich mit einem Inhalt außerhalb seiner selbst beschäftigt, erscheint es Hegel als eine Art verendlichtes Denken, dessen Wesen als unfrei beschrieben wird: "Sofern nun der Gegenstand gegeben ist, ist der Gedanke, das Selbstbewußtsein, das Ich nicht frei; es ist ein Anderes als der Gegenstand; er ist nicht Ich; Ich bin also nicht bei mir, d.h. Ich bin nicht frei" (EGPh, S.83). Die Freiheit des Denkens hängt bei Hegel mit seiner 'Unabhängigkeit' zusammen, weil die zahlreichen Gegenstände, die schon gegeben sind, einschränkend auf das Denken wirken. Ausgehend vom Postulat der Unabhängigkeit, läßt sich leicht verstehen, warum dem Denken überhaupt ein höherer Stellenwert eingeräumt wird als z. B. dem Begehren: "Im Begehren u. dgl. ist das Allgemeine, was darin ist, mit vielem Besonderen, Sinnlichen vermischt. Dagegen haben wir es beim Denken mit dem Allgemeinen allein zu tun" (EGPh., S.84). Im Denken steht der Mensch in vorzüglicher Weise der Freiheit näher, dennoch gibt es viele verschiedene Arten von Denken, die sich gerade in dem Maß voneinander unterscheiden, wie sie der Sinnlichkeit verhaftet bzw. von ihr befreit sind. Die Würde des Denkens hängt bei Hegel mit dem Grad seiner Reinheit zusammen und ausgehend von dieser wird dann eine Rangordnung der verschiedenen Produktionen des Geistes etabliert. Kunst, Religion und Wissenschaft sind Formen des verendlichten oder unreinen Denkens, weil sie mehr oder weniger auf die Anschauung, das Empfinden, das Vorstellen, angewiesen, oder besser gesagt, von diesen 'kontaminiert' sind. Die Philosophie allein ist die 'höchste Blüte' der Gestalt des Geistes, weil sie angeblich von aller sinnlichen Bestimmung befreit ist. Sie ist 'das freie, unbeschränkte, reine Denken' (ibid., S.83). Merkwürdigerweise setzt Hegel nicht Gefiihle, Anschauungen, Vorstellungen dem Denken gegenüber, sondern versteht sie als unvollkommene Formen des Denkens selbst. Er vertritt die idealistische Ansicht, daß "alles dies seine Wurzel im Denken habe" (S.82). Das Wesen des Sinnlichen liegt im Geist. Auf diese Weise wird die Sinnlichkeit bei Hegel zwar nicht von der Vernunft ausgeschlossen, dem Begriff jedoch untergeordnet'. Das wahre Denken ist das unendliche , In der Enzyklopädie liest man, daß: ,,»nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu«, - in dem ganz allgemeinen Sinne, daß der voü