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German Pages [161] Year 2016
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Rainer Marten
Endlichkeit Zum Drama von Tod und Leben
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860588
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Rainer Marten Endlichkeit
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
Ob wir das Ende verdrängen, tabuisieren, zumindest scheuen – es holt uns ein: das Ende des Lebens. Mehr noch: Es ist ständig gegenwärtig. Unser Verhältnis zur Endlichkeit, das heißt zu Tod und endlichem Leben, ist unhintergehbar. Das hat den geschichtlichen Menschen zu Selbstdeutungen unterschiedlichster Art geführt. Doch die Frage, die wir – in Anbetracht von Geburt, Liebe und Tod – uns selbst sind, bleibt notwendig offen. Die hier zusammengeführten Antworten von Literatur, Theologie und Philosophie erweisen sich, wie ihre kritische Darstellung zeigt, als Gestaltungen ihrer Unbeantwortbarkeit. Das ist im Drama von Tod und Leben der Moment der Wiedererkennung: Der Mensch, der sich auf seine Endlichkeit besinnt, kommt in vollendeter Selbsterkenntnis zur Einsicht, mehr zu sein, als er weiß und wissen kann. Das ist nicht seine Tragik, nein, das ist die geistig-schöpferische Freiheit zur Bestimmung des Humanum.
Der Autor: Rainer Marten, geb. 1928, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Zuletzt im Verlag Karl Alber sind von ihm erschienen: »Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion« (2005, 2 2009), »Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen« (2009), »Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust« (2012).
https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
Rainer Marten
Endlichkeit Zum Drama von Tod und Leben
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
Für freundschaftliche Begleitung danke ich Winrich Hopp, Christian Strub und Lukas Trabert
2. Auflage 2015 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48600-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86058-8
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Pandora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Adam und Eva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
3. Buddha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
4. Muhammad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
5. Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig« . . . . . . . .
51
7. Karl Barth: »Todeskrankheit« . . . . . . . . . . . . . . .
62
. . . . . . . . . . .
88
8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
9. Giovanni Boccaccio – Gotthold Ephraim Lessing: Die Ringparabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 10. Mit Gott – ohne Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 11. Mysterium fidei – Geheimnis des Lebens . . . . . . . . . . 130 12. Endlichkeit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
5 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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Vorwort
Menschheitsmythen geben von früh an zu erkennen, daß der Mensch nicht mit sich zufrieden ist, nicht mit dem Evolutionsprodukt, das er ist, nicht mit dem Leben, das er zu leben hat. Sie schaffen an einem Menschenbild, das dem geschichtlichen Menschen zeigen will, ursprünglich gar nicht so gemeint gewesen zu sein, wie er jetzt ist, was einschließt, ursprünglich ganz anderen Wesens gewesen zu sein. Greift aber erst einmal die Poesie, die den Menschen von sich selbst befremdet sehen will, dann ist auch schon die Frage gestellt, wer oder was daran schuld ist, daß der Mensch, wie er auf der Erde lebt, zu keiner Zeit und an keinem Ort mit seinem poetischen Selbstentwurf zur Deckung gebracht werden kann. Geben Kinder, die sich an etwas schmerzhaft stoßen, dem die Schuld, woran sie sich gestoßen haben, nicht aber ihrer Ungeschicklichkeit, so ist das nicht Poesie, sondern Zeichen eines in Entwicklung begriffenen Realitätssinns. Die Poesie, aus der die Selbstdiskriminierung des geschichtlichen Menschen sich speist, ist dagegen frei, welche Ursachen sie für den Abgrund bestimmt, der sich zwischen den Menschen, die wir sind, und dem Menschenbild, dem sich die Unzufriedenheit mit Sein und Leben von Unseresgleichen schuldet, auftut. Weiß sie sich an den Grundsatz religiöser Poesie gebunden, daß der Mensch kein Gott ist, dann wird sie in der Regel göttliche Mächte und Kräfte anführen, auf die die Scheidung des Menschen, der wir sind, von dem Menschenbild, dem wir zu unserem Unglück nicht gleichen, zurückgeht. Und es sieht ja in der Tat in den Menschheitsmythen danach aus, daß Gott wie Götter es Menschen nicht 7 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
Vorwort
gönnen, ihnen vollends gleich zu sein. Dabei kehren sie nicht nur hervor, die Unsterblichkeit für sich allein reserviert zu haben, 1 sondern auch über Sein und Leben des Menschen in seiner Sterblichkeit frei zu verfügen. Nun sind aber Menschheitsdichtungen notwendig Geschichtspoesien. Daß der Mensch kein Gott ist, spricht, als poetischer Grundsatz verstanden, keine Statik des Gott-MenschVerhältnisses aus, sondern seine Dynamik. Die Wesensdifferenz ist keine in der Urgeschichte festgemachte Konstante, sondern eine geschichtlich gewordene. Gott und Götter, wie sie erdichtet und geglaubt werden, leben nicht davon, keine Menschen zu sein. Der Mensch ist es, der dichtende und zum Glauben bereite Mensch, der in seiner Selbstpoetisierung befremdlich und schmerzlich erfährt, nicht gottgleich zu sein. So ist es kein Wunder, daß die Geschichte des Menschen durch den Menschen in Gang kommt, nicht durch Gott oder Götter. Die Wesensdifferenz von Gott und Mensch geht, wie die Mythen berichten, als eine gewordene auf den Menschen zurück. Er ist schuldig. Er hat Schuld. Das jedenfalls ist die poetischere und in ihrer Poesie überzeugendere Option im Zuge solcher mythologischen Selbstauslegung. Erzählte »Geschichten« erhalten ihr Gewicht durch Selbstbeteiligung des Menschen am Geschehen. Ist der Mensch mit dem, wie er »jetzt« ist und lebt, nicht zufrieden, steht kein sozialer Unfriede im Fokus, sondern ein als vital empfundener. Denkt er sich das Einst, das seiner Geschichte vorausliegt, und das Einst, das ihr Ende markiert, um sein Jetzt zu diskriminieren und diskreditieren, so muß er es sich selbst zurechnen, daß er jetzt, in der Zeit, das ursprüngliche wie das eschatologische Einst schmerzhaft vermißt. Doch die Poesie trifft auch Vorsorge. Zu seinem Glück entdeckt er dann Tür und Tor, den Zugang zum ursprünglichen Einst neu zu gewinnen: Ist er auch schuld an seiner geschichtlichen Situation, so »Se réservant l’immortalité / À eux seuls!« Gilgameschepos, frz. (trad. aus dem Akkadischen / introd. Jean Bottéro), Paris 1992, 258.
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Vorwort
lassen Schulden sich begleichen, Schuld sich sühnen. Diese poetisch in Gang gebrachte Geschichte menschlicher Selbstbefremdung und Schuldhaftigkeit führt über sein Jetzt hinaus: Entweder wird der geschichtliche Mensch von sich selbst erlöst oder nicht erlöst, das heißt von der Endlichkeit und eben Tödlichkeit seines Lebens. Leben, das sich als Geburt, Liebe und Tod erfährt und bejaht, ist in dieser Geschichte nicht vorgesehen. Die Unzufriedenheit des »jetzigen« Lebens mit sich selbst nimmt ja ihre Kraft aus der Überzeugung, Leben könne allein mit sich selbst zufrieden sein – als schlechtweg todloses. Wie es aber diesen Frieden nicht gibt, so findet auch das Drama von Tod und Leben kein Ende. Jene Unzufriedenen haben die Geschichte des Menschen, die von den Neuinszenierungen seiner Endlichkeit lebt, nicht für sich vereinnahmen können.
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1. Pandora
I. Zeus grollt. 1 Das ist in der hesiodischen Menschheitsdichtung die Ausgangslage des geschichtlichen Menschen. Der mächtigste der griechischen Götter, der einzige, der mit griechischen Stämmen aus dem Norden über die Alpen nach Griechenland kam, 2 ist verärgert, weil er bei den Menschen Feuer sieht, das Prometheus gegen seinen erklärten Willen und dann auch noch heimtückisch ihnen zur Nutzung brachte. Was ist das für eine Art, dem Menschen nicht das Feuer zu gönnen, und, weil er es wider seinen, eines Gottes Willen in Gebrauch genommen hat, ihm sogleich, Heimtücke mit Heimtücke vergeltend, mit Übel, 3 mit Elend und Trauer 4 zu kommen? Ja, das ist divine Art. Göttliche Höchstmacht leidet es nicht, daß bei den ihr gegenüber Ohnmächtigen eitel Wohlgefallen an Sein und Leben herrscht. Diese Macht braucht es, daß signifikant Anderes klar und deutlich seinen Fehl an Macht zu spüren bekommt. Das aber ist nicht der Psychologie des GottMensch-Verhältnisses geschuldet, sondern seiner Poesie. Die Selbstpoetisierung erreicht darin ihr Höchstes, daß sie die Hesiod, Theogonie 568; Werke und Tage 47. Bereits bei der Einwanderung im 2. Jahrtausend v. Chr. wurde Zeus als Vater verehrt, was ein Grund dafür war, daß sich mit ihm monotheistische Vorstellungen verbinden konnten. Siehe Erika Simon, Die Götter der Griechen, 4. neu bearb. Aufl., München 1998, 16 ff. 3 Hesiod, Theogonie 570. 4 Hesiod, Werke und Tage 49. 1 2
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1. Pandora
höchstmögliche Abwertung des Menschen mit seiner höchstmöglichen Aufwertung verbindet. Es wäre keine sonderliche hermeneutische Leistung, die Ursache der Selbstunzufriedenheit in eine Macht zu verlegen, die nicht zur Reichweite des eigenen Selbst gehört. Gott und Götter zu erdichten, die jede Befindlichkeit des Menschen zu verantworten hätten, bedeutete, den Fokus der Auslegung aus den Augen zu verlieren: das Selbst. Zeus grollt. Er sendet Unheil. Warum denn aber nur, wenn doch die Untat des Feuerbringers, eines Titanen, nicht von Menschen angestiftet, vorausgesehen und ausgeführt wurde, freilich für sie von Nutzen war und ist? Das eben ist höhere Poesie: Der geschichtliche Mensch ist für alle Errungenschaften, die zu seinem Wesensverhalten gehören, voll verantwortlich. Was er als »Geschick« erdichtet, als unabwendbar auf ihn Zukommendes, genau das rechnet er sich selbst zu. Der Titan war’s, und was aus dessen Tat zu ihrer Vergeltung folgt, ist dem Gott zuzurechnen, und eben darum war es, so will es die sich im Mythos ereignende Selbstaufklärung, der Mensch selbst. Das ist das Wahrzeichen seiner die Transzendenz nutzenden Selbstauslegung.
II. Der Mensch ist schuld am Wie seiner Existenz. Das ist der schärfste Gedanke, den Mythologie und religiöse Poesie ins Spiel bringen, um sich selbst einen verläßlichen Grund zu verschaffen. Selber schuld zu sein – nichts könnte für Götterdichtung gründender sein, weil nichts für den Menschen beschämender und verpflichtender sein könnte. Dem geschichtlichen Menschen ist damit das Recht, ja die Möglichkeit genommen, sich in seiner jeweiligen Gegenwart als Produkt der Evolution, gerade auch der kulturellen, zu begreifen. Die Erdichtung der Urschuld des Menschen am Wie seiner signifikanten Lebensumstände folgt keinem Belieben. Sie ergibt sich konsequenter12 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
1. Pandora
weise aus der Urpoesie seiner in der Weise des Mythos aufklärenden Selbstauslegung. Die Scheidung von Gott und Mensch, ob von Rhapsoden als erzählte Geschichte gehört oder, wie religiöse Emphatik es beschreibt, im tiefsten Herzen geglaubt, ja existentiell erfahren, ist in ihrer Bedeutung für die sich wissende Identität des Menschen nicht zu überschätzen. Einmal in die Differenz von Unsterblich und Sterblich, Allmächtig und Ohnmächtig verstrickt, sind Menschen von dem Gefühl, ja von der praktischen Gewißheit beherrscht, selbst daran schuld zu sein, wie sie zu leben haben und was das Leben mit ihnen vorhat. Sobald Götter und Menschen sich scheiden, messen sie sich miteinander. Im Griechischen ist es dasselbe Wort: krinein. 5 Sieht jedoch Hesiod in der Konkurrenz unter Menschen einen »guten Streit«, 6 sofern er fruchtbar ist, dann kann eine Konkurrenz zwischen Gott und Mensch zu nichts Gutem führen, weil Gott und Götter dem Menschen unendlich überlegen sind, es sei denn, daß es gut wäre, dem Menschen seine Ohnmacht noch eigens als Stempel aufzudrücken. Der Mensch hätte im Sichmessen mit Gott und Göttern nur dann eine Chance, wenn ihm ein Betrug gelänge. Doch Zeus durchschaut jeden Betrug. Weil aber, wie es der Versuch des Nichtgotts Prometheus, sich mit dem höchsten Gott zu messen, zeigt, dem Ohnmächtigen nur der Betrugsversuch bleibt, kann das Verhältnis von Gott und Mensch in seinem Ursprung allein in einem rechtlichen Konflikt bestehen: Der Frevler wird bestraft, und zwar durch ein Übel (kakon). Die mythologische Selbstdeutung des Menschen, von Gott und Göttern geschieden zu sein, bildet als Kunstwerk ihre eigene Gesetzmäßigkeit aus. Die Erdichtung von Unsterblichen, den Menschen an Macht unendlich Überlegenen, läßt aus der Freiheit poetischer Selbstauslegung kein Belieben werden. Mit dem an der Differenz von Zeit und Ewigkeit, Ohnmacht und Macht 5 6
Hesiod, Theogonie 535. Hesiod, Werke und Tage 24. Vgl. Aischylos, Eumeniden 975.
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1. Pandora
festgemachten Verhältnis von Mensch und Gott hat sich die menschliche Kultur den Einstieg in ein Drama verschafft, für das der Spielraum dramaturgischer Freiheit begrenzt ist. Wie sich Gott und Götter in ihm aufführen und wie der Mensch, steht unausweichlich in einem Bedingungsverhältnis. Zeus grollt. Nein, Gott und Götter müssen nicht grollen. Als notwendig aber wird es sich erweisen, daß das Verhältnis ein affektives ist. Das ist intimste Eigenart seiner lebendigen Dramatik. Zeus vergilt Heimtücke mit Heimtücke. Nein, Gott und Götter müssen sich nicht hinterlistig verhalten. Als notwendig aber wird sich erweisen, daß das Verhältnis ein nach Recht und Gerechtigkeit konfliktträchtiges ist. Poesie, die mit der Scheidung von Gott und Mensch einsetzt, bringt die Urschuld in die Welt. Provokativ formuliert: Mythologische und religiöse Erdichtung von Divinem ist schuld an der ursprünglichen Schuldhaftigkeit des Menschen. Diese aber besteht darin, und das ist die insgeheime Höchstleistung dieser Poesie, daß er an nichts anderem schuld ist als an sich selbst, was allem zuvor heißt: an seinem Wie. Soll die poetische Unterscheidung von Gott und Mensch begründet werden, dann nicht anders als durch eine Verurteilung des Menschen. Die Selbstauslegung des Menschen im Zuge seiner Selbstpoetisierung beginnt als Selbstverurteilung.
III. Göttlicher List zu entgehen, haben die Menschen kein Mittel (amêchanon). 7 Weibliche Schönheit, ist sie außerordentlich, wird unter Menschen als Wunder gefeiert. 8 Der sinnlich-geistig übermächtigenden Faszination von Wundern kann sich niemand entziehen. Um die Schönste freien alle (pantes mnôonto), 7 8
Hesiod, Theogonie 589; Werke und Tage 83. Odyssee 11, 287.
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1. Pandora
die in ihrem Umkreis wohnen. 9 Gegen das Wunder der Schönheit gibt es kein Mittel. Zeus ist perfide genug, sich dieses Wunders zu bedienen, um, vermittelt durch Epimetheus, Menschen ohne Ausnahme nach dem Übel greifen zu lassen. Was er zu erschaffen in Auftrag gibt, ist »ein Wunder zu schauen« (thauma idesthai), 10 aber die außerordentliche Schönheit, die er vorführen läßt, ist nichts als eine List, ein Übel, wenn auch ein schönes Übel (kalon kakon). 11 Das ist Teil des hier herrschenden Konflikts: Täuscht der Mensch, macht er sich schuldig; täuscht Gott, übt er gerechte Strafe. Das gehört ursprünglich zu der durch die Unterscheidung von Gott und Mensch gegründeten Gesetzmäßigkeit und in Gang gebrachten Dramatik, daß Gott rechtlich immer im Vorteil ist, der Mensch aber rechtlich immer das Nachsehen hat. Gott ist immer im Recht, 12 der Mensch immer im Unrecht. Gottes Affekt ist immer der sittlich gute, des Menschen Affekt immer der sittlich schlechte. Diese »Doppel«-Moral hat keinerlei lebensgeschichtlichen Hintergrund, sondern ausschließlich einen poetischen. Sie ist reine Konsequenz der Gott-MenschScheidung. Will Gott dem Menschen übel, weil er dadurch die Unterschiedenheit in poetischer Konsequenz auslebt, dann fügt er ihm nichts anderes zu als das gegebene Wie seiner Existenz. Diese Unterschiedenheit ist ja eben der rechtlich-sittliche Konflikt selbst. Wird, wie es in frühen Kulturen üblich ist, beim MenOdyssee 11, 288. Hesiod, Theogonie 575, 581. 11 Hesiod, Theogonie 585. 12 Sein grundlegendes Unverständnis, daß mit Gott nicht zu rechten ist, formuliert Hiob selbst überraschend klar in einer Mischung aus menschlichem Gerechtigkeitssinn und Gottfrömmigkeit: »(Z)u Gott blickt tränend auf mein Auge, / dass er Recht schaffe / dem Manne gegen Gott, / dem Menschen gegen seinen Freund!« (Hiob 16,20 f.) In der Perspektive des geglaubten Gottes ist das einzig »Gerechte«, was dem Menschen gegenüber Gott zukommt, die bedingungslose Unterwerfung. 9
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1. Pandora
schen der Ausgang von der Identifizierung des Menschen mit dem Mann genommen (anêr = anthrôpos), so kann das an erster Stelle zu nennende Übel nur die Frau sein. Doch der Blick des Mannes auf die Frau kommt nicht an der Schönheit vorbei. Die schöne Böse ist erschaffen, Pandora, die von allen Göttern Beschenkte. Sie birgt das in sich, was sie dem Menschen als das von Gott bestimmte Übel zuträgt. Unter Männern sind fruchtbare Frauen das höchstvermögende Böse und Unheilvolle (pêma). 13 Das kann eine sozial praktizierte Verachtung der Frau spiegeln. Es ist aber die Poesie, die Mann und Mensch nicht Gott sein läßt, die dazu führt, alles, was das Leben in seiner Erhaltung und Reproduktion auszeichnet, als Übel zu bestimmen. Nach diesem Mythos muß der Mensch dazu verführt und dadurch bestraft sein, daß er so ist, wie er ist, und so lebt, wie er lebt. Der Mensch kann dieser Verführung nicht entgehen und damit dieser Strafe und Schuld nicht, denn wie könnte er sonst so sein, wie er ist. Und genau darauf zielt die Poesie.
IV. Die Frau als Strafe, der Mann als der Schuldige, schuld daran, daß Frauen ihn belangen. Was ist das für eine raffinierte Poesie, die so zu der überraschendsten, am meisten das Staunen bereichernden Selbstauslegung des Mannes und Menschen wird? Die betörendste trügerische Schönheit muß es sein, ein göttergemachter Fake vom Feinsten, was den Mann-Menschen sein lebenspraktisches Wie annehmen läßt, allem zuvor den Lebensbezug zur Frau. Der Mann sei selbst schuld am Grundübel und Dilemma seines Lebens, es entweder mit einer Frau zu teilen oder im Alter ohne Pflege durch eine Frau auskommen und beim Tod den
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Hesiod, Theogonie 590–592.
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1. Pandora
Besitz an entfernte Verwandte verteilen lassen zu müssen.14 Das hat er nun von der poetischen Gott-Mensch-Scheidung: Der Mann-Mensch ist schuld, daß er mit bösen Frauen zu tun hat, Altersprobleme bekommt und fatale Todesprobleme dazu. Wollte diese Poesie besagen, der Mann hätte seine guten Zeiten als geschlechtsloses, altersloses und todloses Wesen gehabt, dann wäre sie bloß aberwitzig und nicht einmal tauglich für absurdes Amusement. Doch in diesem Mythos will sich der Mensch ja allein eine Geschichte erzählen, die ihm die Schuld gibt am Zustand seines Existierens und Lebens, mit dem er so unzufrieden ist. Mea culpa, mea culpa – das ist das im Pandoramythos gezeichnete Jammerbild, das der mythisch begabte Mensch sich in sittlicher Selbsterniedrigung vor Augen hält. Zeus grollt, und dadurch wird der Mensch so, wie er ist. Was der Mensch als erstes zum Leben braucht, die Nahrung, wird ihm vom grollenden Zeus verborgen. 15 Das meint nicht mehr und nicht weniger, als daß der seßhafte Mensch zur Landbestellung angehalten ist: Er kann sich nicht leichthin an einem Tag das Nötige für ein ganzes Jahr verschaffen, sondern muß arbeiten und gehörige Lebenszeit darauf verwenden. Die Dichtung wird nicht müde, den Ist-Zustand des Menschen immer neu als Schuld-Stand zu deklarieren. So kommt denn Pandora in der Version der Werke und Tage erst vollends dazu, den Menschen zur Strafe mit all dem zu versehen, was das Leben sowieso mit sich bringt: Mühsal, Krankheit, Schmerzen und eben das Alter. Die Menschen hätten es auch anders haben können, wären sie dem Frevel des Prometheus nicht gefolgt: »Früher lebten die Stämme der Menschen auf der Erde fern und getrennt von Hesiod, Theogonie 591–607. Wird dagegen im Alten Testament die Frau, vom Mann aus gesehen, für »bitterer als der Tod« erklärt (Prediger 7,27), ein Wort, das der Hexenverfolgung Auftrieb gab, dann ist es die Frau, die mit dem »Nichts« (so Luthers Deutung) von Charme und Schönheit (Sprüche 31,30) den Mann zum Ehebruch verführt, nicht aber die reich gelobte tüchtige Herrin des Hauses (Sprüche 31,10–29). 15 Hesiod, Werke und Tage 42, 47. 14
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1. Pandora
allem Übel.« 16 Das muß gesagt sein, damit die Geschichte vom Selbst-schuld-Sein die nötige Plausibilität erhält, versteht sich aber nicht als Aufforderung, von diesem Früher zu träumen, um es nach Möglichkeit wiederzuerlangen. Das Leben ist ein durch Schuld erworbenes Übel. Das ist die alleinige Zielrichtung des Mythos. Eine Revision ist nicht zugelassen, war nicht vorgesehen.
V. Die poetische Scheidung von Gott und Mensch könnte folgenreicher nicht sein. Zum einen hat sie Kulturen des Geistes und des Spirituellen generiert, zum andern hat sie ein Verständnis des Menschen von sich selbst als Mensch hervorgebracht, das es ihm unmöglich macht, die Frage, die er sich selbst ist, mit der nötigen Freiheit zu stellen. Bereits Hesiod zeigt beispielhaft, wie die Erdichtung des von Gott und Göttern geschiedenen und machtvoll belangten Menschen, wird mit dieser Scheidung ernst gemacht, unausweichlich zur Selbstdiskriminierung des Menschen führt. Die Poesie ist selbst zur Büchse der Pandora geworden, sofern das, was aus ihr über den Menschen ausgegossen wird, ihm vollends die Klarheit über sich selbst nimmt.
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Hesiod, Werke und Tage 90–92.
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2. Adam und Eva
I. »Da öffneten sich beiden die Augen und sie sahen, daß sie nackt waren.« 1 Das ist der Augenblick der Pubertät. Mit ihm beginnt in der Genesis die Geschichte des für sich selbst verantwortlichen Menschen. Wie ihr Erzähler es sieht, ist dieser Augenblick der Augenblick der Schuld, genauer gesagt, der Urschuld. Mann und Frau zu sein, geschlechtlich zu sein, zum Zeugen und Gebären bestimmt zu sein, verrät ein offenes und eben schuldiges Auge. Der eine und der andere Mensch haben gemeinsam zu viel gesehen, wenn doch das, was des Menschen ist, ihm zu wissen verboten ist. Jede Erkenntnisfrucht, ob zum Guten oder zum Schlechten, ist dem Menschen »ursprünglich« zu genießen verboten. 2 Überspringt der Mensch seinen mythischen Ursprung und wird er anfänglich geschichtlich, wird er also der geschichtliche Mensch, der er ist, dann ist er auch schon, wie es der Mythos zeigt, schuldig geworden. »Und Gott, der Herr, rief den Adam und sagte zu Adam ›Wo bist du?‹.« 3 Diese Frage ist so dramatisch, weil der Gott des Alten Testaments damit etwas Außerordentliches bekennt: ein Nichtwissen. Dem Menschen in seiner ersten Scham gelingt etwas schier Unmögliches: sich vor Gott zu verstecken. So tief sitzt der Schrecken, in den ihn die Erkenntnis seiner Geschlecht1 2 3
1. Mose 3,7. 1. Mose 2,17. 1. Mose 3,9.
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2. Adam und Eva
lichkeit als die seines ersten Wesenszugs versetzt hat. So beginnt mit der Gemeinsamkeit von Mann und Frau die Einsamkeit des Menschen: Er ist sich selbst überlassen, beginnend mit wechselseitiger Scham als erster Frucht der Erkenntnis eigenen Wesens. Weil jedoch poetisch die Scheidung von Mensch und Gott vorgegeben ist, es also nicht eigentlich um das Verhältnis des einen und anderen Menschen, sondern um das der beiden zu Gott geht, erzählt die Genesis den Augenblick der Pubertät notwendig anders: als den der Scham vor Gott. Gott hat den Menschen ursprünglich, das heißt vor jeder Selbsterkenntnis, ins Paradies »gesetzt«. 4 Er war dazu bestellt, es zu bebauen und zu bewachen. Das gilt auch für des Mannes Männin (Eva): »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe schaffen, die zu ihm passt.« 5 Der paradiesische Mensch ist nicht als geschlechtliches, sondern als gesellig-kooperatives Wesen gemeint. Sieht Heidegger den nachgeschichtlichen, zum Denken berufenen Menschen als zum »Hirten des Seins« bestellt, dann ist im Mythos der Genesis der vorgeschichtlich vorpubertäre Mensch bestellt als Gärtner und Hüter des »Gartens in Eden«. Täten Utopieentwerfer von Sonnenstaaten und Freiheitsreichen gut daran, sich nicht an eine Ausmalung des in ihnen vorgesehenen menschlichen Tagwerks zu machen, so haben es jedenfalls die Autoren der Genesis vermieden, Angaben zu machen, was dem ursprünglichen Menschen im Bereich der vier Flüsse des Paradieses eigentlich an Möglichkeiten des Anbaus und der gärtnerischen Gestaltung vorgegeben war. Soviel nur steht fest, es müßte ein Anbauen und Gestalten ohne jede Mühsal gewesen sein, ein Tun, das keine Anstrengung kennt, wie sie beim Arbeiten üblich ist. Der Mann hat keine Frau, die Frau hat keinen Mann, was das Geschlechtliche betrifft, und beide haben keine Arbeit. Langeweile muß da noch ihren ursprünglichen Sinn gehabt haben: zeitlos 4 5
1. Mose 2,8; 15. 1. Mose 2,18; Zürcher Bibel, Zürich 1955.
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2. Adam und Eva
verweilen. Doch der Augenblick der Pubertät beendet urplötzlich diesen Frieden.
II. Folgt man der Schlange, dann war Gottes Drohung gegen Adam und Eva, sie sollten ja vom »Baum in der Mitte des Gartens« 6 nicht essen, damit sie nicht stürben, 7 eine Leerdrohung. Nicht der Tod der beiden ersten Menschen war vorgesehen für die Untat, sich erste Kenntnis über sich selbst zu verschaffen, sollten sie doch die Erde bevölkern, sondern das »Schicksal« menschlicher Seßhaftigkeit: Mühsal mit dem von Gott und vom Menschen verfluchten Acker, Mühsal bei der Fortpflanzung, was bedeutet, es auf jedem der Wege, für die dem Leben nötige Fruchtbarkeit zu sorgen, schwer zu haben. 8 Daß jedes Einzelwesen aus Erde ist und wieder zu Erde wird, bedeutet nicht den Tod des Menschengeschlechts. Der seßhafte Mensch denkt in Generationen. Daß der Mann sich nicht ewig mit den »Dornen und Disteln« des Ackers zu plagen und die Frau sich nicht ewig den Mühen von Geburt und Aufzucht zu widmen hat, ist eher als ein Geschenk zu verstehen. Seßhaft zu sein und selbstverantwortlich für den Fortgang des Lebens zu sorgen, ist ein selbstverschuldetes Dasein, das Dasein zur Strafe. Es ist weit mehr als bloß interessant, daß seine poetische Selbstauslegung den Menschen diesen Weg wählen läßt, sich über sich selbst aufzuklären. Lebt es sich etwa besser mit Schuld, vielleicht sogar freier, wenn man sich ursprünglich in die Pflicht genommen sieht, Ohnmacht zu demonstrieren und letzte Verantwortung einem höheren, wenn auch Die Genesis kennt zunächst allein einen Baum. Der »Baum des Lebens« ist eine spätere Zutat. Siehe Verf., Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust, Freiburg/München 2012, 23 f. 7 1. Mose 3,3; vgl. 2,17. 8 1. Mose 3,16–19. 6
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2. Adam und Eva
unbegreiflichen Wesen zu übertragen? Ist die Scheidung von Mensch und Gott eine poetische Klugheit von abgründiger Unbewußtheit? Genügt der Tod nicht als Halt und Einhalt des Lebens, so daß religiöse Poesie im geistig Nötigen vergleichbar die erste Rolle spielt wie Nahrung im leibhaft Nötigen? Ist der Mensch, wie Aristoteles den Ausdruck verwendet, religiös-poetisch »von Natur«? Schuld am eigenen Wesen zu sein, am Wie der eigenen Existenz – dieser Gedanke kann nicht in den Geruch der Anmaßung kommen. Schuld ist nicht mit Ursache gleichzusetzen. Schulden haben vielmehr die Eigenart, auch die im Gottesverhältnis erworbene Schuld gehört dazu, abtragbar zu sein, ja mit der Verpflichtung verbunden zu sein, abgetragen zu werden. Wer erdichtet, daß der sein Leben Führende und um den Fortgang des Lebens Besorgte sein Leben als Strafe erlebe, der hat auch schon erdichtet, daß hier über die Annahme der Strafe hinaus an einen Straferlaß zu denken, ja daß der Straferlaß der eigentliche Sinn des sträflichen Lebens sei. Wieder schlägt die Ansicht durch, daß der Mensch, der hinter seiner religiös-poetischen Selbstauslegung steht, mit seinem geschichtlichen Ist-Zustand nicht zufrieden ist. Der Keim ist gelegt, sich als Mensch ein Leben zu erdichten, das nicht von der Art des menschlichen ist.
III. Adam und Eva haben kein Höllenfeuer zu fürchten, 9 auch kein göttliches Feuer, vereint mit Schwefel, von oben. 10 Sie sind kein Volk, das seinen Volksgott eifersüchtig und zornig machen und zu Vernichtungstaten treiben könnte, weil es sich anderer Götter bediente. Der Gott des Paradieses, der sie geschaffen 9 10
5. Mose 32,22. 1. Mose 19,24.
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2. Adam und Eva
und dann des Paradieses verwiesen hat, steht für sie nicht zur Disposition. Keine Ausrottung11 und keine höchste Pein 12 sind angedroht. Zwar haben sie ein Verbot übertreten, aber genau gelesen, besteht ihre Strafe nicht darin, daß ihnen etwas angetan wird, sondern einfach darin, daß sie sind, was sie sind: Geschlechtswesen, Lebenserhaltungs- und Lebensreproduktionswesen. Das ist alles, und das ist es eben auch, was dieser Mythos sich als Selbstauslegung des Menschen vorgenommen hat. Für die, die diese ebenso gewagte wie phantastische Erklärung der Menschwerdung und menschlichen Seßhaftwerdung nur wörtlich nehmen und nicht ihren poetischen Charakter erkennen, beschwört sie eine ernste Gefahr herauf. Etwas nämlich als Schuld oder gar als Urschuld auf sich zu nehmen, das überhaupt keine Schuld ist, kann lebensgefährlich werden: Die selbsthafte Übernahme des Lebens ist in Gefahr. Daß lebensgeschichtliche Umstände wie Krankheit, Armut, Ungerechtigkeit, Krieg das Leben schwer, ja zur »Hölle« machen können, ist allgemeine Erfahrung. Daß aber bereits die basale Mitgift, das Leben zu bestehen, zu gestalten und weiterzugeben samt zuträglichen zeitgeschichtlichen Bedingungen, sie fruchtbar zu machen, eine Strafe sei, ist eine Deutung des Lebens, die auf radikale Entfremdung von ihm zielt. Da Strafen, die sich rein durch das Leben selbst manifestieren, nicht anders als lebenslänglich sein können, kann der von Leben gleich Strafe Überzeugte nur ein großes Ziel kennen: gänzlichen Straferlaß.
Psalm 37,9: »Denn die Bösewichte werden ausgerottet«. Zürcher Bibel. Markus 9,43–48: das »unlöschbare Feuer« (pyr asbestos), das Jesus unverbesserlichen Sündern androht.
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3. Buddha
I. In den überlieferten Legenden von Buddhas Leben fällt die Selbstbezogenheit dieses »Erwachten« auf, bevor er erwacht war und als er erwacht war. Wie ihm das menschliche Leben begegnet und wie er es deutet, ist jede Sozialität ausgeblendet. Will er auch auf keinen Fall sich selbst als Einzelwesen der »höheren Erkenntnis« nach ein Selbst und ein Ich zugestehen, so geht doch seine ganze »Suche« nach dem, was ihn die Lebenswelt verlassen läßt, eine Welt, die er für eine bloße Erscheinungswelt hält, der nichts Bleibendes zugrunde liegt, bis hin zum »Verlöschen« allein ihn selbst an. Die Selbstberufung zum Lehrer von der Erleuchtung hat ihm zwar Schüler eingebracht, mit ihnen aber keine geistige oder geistliche Sozialität. Wer vollends zur Ruhe kommt und verlöscht, tut das, gleichviel wie viele dabei herumsitzen, als ein Einzelner und Einsamer. Liest man die Legende seines Aufbruchs, dann ist der nachmalige Buddha geradezu stolz darauf, wie asozial er bei allen Dienern und Musikspielerinnen im Hause seines Vaters als »unkundiger Weltling« 1 aufwuchs. Es war die Asozialität des unbegrenzten Reichtums. Der Stolz auf den sich ganz um ihn drehenden Luxus ist verbunden mit dem Stolz auf die bis zum
Die Reden Gotamo Buddhos, in: Bernhard Uhde (Hg.), Die Bibel und die Weltreligionen. Religionsgeschichtliche Quellentexte Bd. 8, Stuttgart 1979, 3893.
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3. Buddha
glänzenden schwarzen Haar 2 gelobte jugendfrische Unversehrtheit. Wem es so geht, möchte man denken, dem fehlt nicht nur nichts, sondern der ist auch mehr als zufrieden mit dem, wie es um ihn steht. Das aber soll nun gerade das eigentlich an diesem legendären Jugendlichen zu Lobende und von ihm selbst Gelobte sein, daß er, wie er sich menschliches Leben vor Augen führt, nichts als Leid erkennt, weil nichts als Vergänglichkeit. Der Prinz aus großem Hause in der Blüte seiner Jugend und bei bester Gesundheit kennt nur eine Lebensdevise: »So nicht!«
II. Man glaubt sich in die USA der Gegenwart versetzt zu sehen, wo ältere Menschen als Beleidigung empfunden werden. 3 Buddha ist »bedrückt«, entsetzt und ekelt sich, wenn er einen Anderen gealtert sieht. 4 Das aber hält er nicht für gut, weil er selbst dem Alter »unterworfen« ist und ihm »nicht entrinnen« kann. Also legt er seinen »Jugenddünkel« ab. Eine Akzeptanz des Alters ist damit freilich nicht gegeben. Wie mit dem Alter hält er es auch mit Krankheit und Tod. Bedrückung, Entsetzen und Ekel, dies bei Anderen zu sehen, werden überwunden, um den »Gesundheitsdünkel« und »Lebensdünkel« zum Verschwinden zu bringen. Daß Krankheit eine Form des Lebenserhaltungskampfs ist und der Tod wesentlich zum Leben gehört, wird nicht erkannt, nicht akzeptiert. Zuvor noch geht es gegen die Geburt. Hier fällt erstmals das entscheidende Wort vom »Elend dieses Naturgesetzes«. 5 Alles, was das Leben auf natürliche Weise mit sich bringt, Geburt, Alter, Krankheit und Tod, Die Reden Gotamo Buddhos, 3894. Geraldine Chaplin in einem Interview über Älterwerden, in: Süddeutsche Zeitung vom 31. 3./1. 4. 2012. 4 Die Reden Gotamo Buddhos, 3893. 5 Die Reden Gotamo Buddhos, 3893. 2 3
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3. Buddha
aber auch Schmerz und Schmutz, sei inakzeptabel, und dies schon darum, weil die ganze Lebenswelt als bloße Erscheinungswelt in allen ihren Teilen ein Trugbild sei. Anstatt diese Ereignisse der Wahrheit des Lebens zuzurechnen, gelte es, sie alle als einen Wahn zu löschen. Wer darüber staunt, wie jemand gesunden Sinnes auf die Idee kommen soll, ja kann, zwar zu leben, indem er wandert und sitzt, lehrt und ruht, ißt und Stuhlgang hat, dies Leben aber doch in allen seinen Lebensdaten für ein schlechtes Nichts anzusehen, stößt darauf, daß dieser eigenartige Nihilist allem zuvor nicht mit der Vergänglichkeit zurechtkommt. Diese befremdliche Vorstellung, etwas sei nichtig, weil es vergänglich ist (der Tag der Geburt, der Tag des ersten Kusses, das den Durst löschende Wasser samt Durstlöschen und gelöschtem Durst), hat nicht nur religiöse, sondern auch philosophische Kulturen wie die griechische Ontologie heimgesucht. Bei Buddha ist diese Vorstellung dadurch motiviert, daß für ihn Vergänglichkeit nichts als Leid bedeutet. Um damit zu überzeugen, führt er nicht nur Geburt, Alter, Krankheit und Tod als leidvoll an, sondern auch Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung. 6 Darüber, daß Kummer vergänglich ist, sollte man ja eigentlich erfreut sein. Hat für den Prediger jedes Ding (pragma) seine Zeit: das Pflanzen und Ausreißen, das Weinen und Lachen, 7 dann hat dieser Wechsel in der Gunst der Zeit (kairos) gerade etwas Tröstliches – nichts dauert ewig, nichts ist für immer zu tun und auszuhalten. Doch der auf dem Weg zur Erleuchtung Befindliche sinnt auf Ruhe. Alles Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen bedeutet ihm Leid. Sein pathologisch anmutendes Nein zur Zeit als Garanten der Vergänglichkeit gilt gezielt der Gegenwart, dem Hic et Nunc. Das Ärgernis aber an ihr ist rein
Pali-Buddhismus in Übersetzungen, in: Bernhard Uhde (Hg.), Die Bibel und die Religionen. Religionsgeschichtliche Quellentexte Bd. 8, 3902. 7 Prediger 3,2; 4. 6
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3. Buddha
dies, daß sie lebendig ist. Nur eine Möglichkeit besteht, ihr diesen Stachel zu nehmen: ihr Leben leblos zu machen. Geburt und Tod, Hunger und Sättigung, Morgen und Abend – das alles ist für den Erleuchtung Suchenden und Erleuchtung Findenden das Elend des Naturgesetzes, das Leidvolle des, weil Lebendigen, Vergänglichen, dem es zu entgehen gilt. Anstatt einen Disput anzufachen, warum das alles Elend und Leid sein soll, ist hier allein als entscheidend aufzunehmen, daß die Natur für das Wie des lebendigen Daseins des Menschen verantwortlich gemacht wird, nicht der Mensch. Keine Schuld und Urschuld macht im Buddhismus den Menschen erlösungsbedürftig, sondern sein Nichtzurechtkommen mit der naturgegebenen Vergänglichkeit. Kein Goldenes Zeitalter liegt hinter ihm, kein Paradies, kein wahrer Naturzustand. Nein, er ist nicht Teil eines durch Schuldspruch initiierten Geschichtsdramas. Rein die Welt mit ihrem Trug, ihrer Nichtigkeit und ihrem Leid ist es, die ihn motiviert, etwas zu suchen, das ihn aus dieser Welt verschwinden läßt. Niemand bestraft den Lebenden mit diesem Leben. Es liegt rein im Interesse und in der Möglichkeit des Lebenden selbst, den Weg zwischen Sinneslust und Selbstgeißelung zu nehmen, der sehend macht, Erkenntnis verleiht, zur Ruhe, zum höheren Wissen, zum Erwachen und zum Verlöschen führt.8
III. Der Buddhist trachtet nicht nach einem ganz anderen Leben in einer diese Welt transzendierenden Welt, beginnt mit seiner Erleuchtung kein anderes Leben in einer ganz anderen Welt. Der Wechsel vom Leid zur Leidlosigkeit, von den Gegensätzen zur Gegensatzlosigkeit bedeutet eine Erlösung, die nicht von einer Alt- und Urschuld befreit, um so altes und ursprüngliches Heil
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3. Buddha
zurückzugewinnen. Sie ist in Vollendung nicht mehr und nicht weniger als ewige Erlösung vom Dasein. Damit aber entsagt er auch schon dem Grundsatz religiöser Poesie: Der Mensch ist kein Gott. Die Lehre des Buddha läßt keine Erdichtung der Scheidung von Mensch und Gott zu. Sie wäre schon darum unbrauchbar für ihn, weil, wer unterwegs zur Erleuchtung ist, nicht glaubt und hofft, sondern sucht und findet. Der Buddhismus kennt somit keine transzendente Wahrheit, keine Metaphysik, sondern das, was er sucht und findet, ist erleuchtungsevident. Dadurch erlangt der Buddhist »klare Gewißheit«, erlöst zu sein, 9 während für Juden und Christen Erlösungsgewißheit unbestimmt und unbestimmbar vertagt ist. Die Ausnahmestellung des Erleuchteten ist in den Augen monotheistischer Religionen teuer bezahlt. Zwar hat er in dem, was er erreicht hat, auf vielfache Weise »unvergleichliche Sicherheit« 10 , nämlich geburtslose, alterslose, krankheitslose und unsterbliche Sicherheit, aber er weiß, daß es für ihn nichts zu glauben gibt: nichts vom Mysterium des Glaubens, nichts von der Unbegreiflichkeit eines höchsten Wesens. Die ganze verdeckte Poesie einer monotheistischen Religion entgeht ihm und damit so gut wie alles, was religiöse Existenzen wie die im Judentum und Christentum auszeichnet. Bei aller möglichen situativen Gemeinsamkeit der Glaubenspraxis ist jeder Buddhist seinem Wesen nach ein Einzelner, der geistig für sich handelt. Da er jedes Ich und Selbst von sich weist, kann man ihn nicht gut egoistisch nennen, aber das ist er, solange man seine Selbstverklärung durchschaut. Er ist das nur nicht kopflastig im Sinne einer Geistigkeit nach Art der griechischen Philosophie. Wird das Verwehen und Verlöschen aktuell, dann ist der Erleuchtete im ganzen davon erfaßt, eben auch als Sitzender und Lächelnder.
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IV. Buddha zeigt im Deutschen ein Problem, das genauer ein sachliches ist. Er sagt »Erlöst bin ich« 11 und hat kein Ich. Für ihn hat sich die restlose, spurlose »Aufhebung des Nichtwissens« eingestellt, aber er hat kein Bewußtsein. »Höheres Wissen« und »Erkenntnis« sind sprachlich und gedanklich nicht vermittelbar, wenn niemand, der seiner selbst bewußt ist, geistig Position bezieht. Verlöschen und Verwehen signalisieren für jedes Verstehen, das sich als Verstehen zu rechtfertigen weiß, den Abschied von jedem Verstehen. Es ist sprachliche Emphase, es sind Metaphern, was hier dem Unerhörten und Unerfahrenen Gehör verschaffen soll. Bewußtes Denken, bewußtes Sehen und Hören sind für Aristoteles die energeiai, die Aktivitäten, die Lebendigkeit nachweisen. Für Proust ist Zeichen der Lebendigkeit, gerade auch der künstlerischen als der wahren, die Empfindsamkeit. Man wird sich fragen müssen, ob die bestechende Idee absoluter Leidlosigkeit das buddhistische Suchen auf einen Weg bringt, der in angemessener Reflexion besagt, daß er in die Ahumanität führt, wenn es schon nicht der Tod sein soll, der alles Leiden beendet. Wer dem zu lebenden Leben das Wagnis des Leids nimmt, versieht sich am Wagnis des Lebens. Leid ist nur dann unmöglich, wenn Leben unmöglich ist. Vermutlich versteht der Erleuchtete mehr, als er verstehen kann. Ebenso ist ihm zu unterstellen, daß er mehr erreicht, als er erreichen kann. Die Aufhebung von Geburt und Tod, um nur dies beides aus dem Ganzen der »Leidmasse« 12 zu nennen, ist eine erzählerische Übertreibung ins Verwunderliche, wie es auch eine entsprechende Übertreibung ist, daß einer sieben Tage unter einem Baum sitzt, ohne menschlichen Bedürfnissen nachzukommen. Die »Ruhe« des Erleuchteten spricht aus keiner Erfahrung, die 11 12
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3. Buddha
sich vermitteln läßt, sondern lebt von sprachlicher Emphatik. Die unter Menschen verbreitete Schwierigkeit, mit der Vergänglichkeit zurechtzukommen, durch die Idee einer vollkommenen Erlösung von aller Weltlichkeit und Zeitlichkeit zu beheben, klingt nach mehr, als sich im Glauben hoffen läßt.
V. Griechische Seinslehre von Parmenides bis Aristoteles teilt mit ihrer Auffassung, daß Vergängliches eigentlich Nichtiges ist, das Lebensgefühl Buddhas. Sein wird mit Bleiben (menein) gleichgesetzt. Was nicht bleibt, was vielmehr kommt und geht, verdiene nicht, »Seiendes« genannt zu werden. Es sei Nicht-Seiendes. Wird philosophisch das Zeitliche gegenüber dem erdachten Ewigen durch die absolute Präferenz des Bleibens abgewertet, ja, wie es das Erdenken will, absolut entwertet, dann ist die Diskriminierung des Leiblichen immer schon mitvollzogen, und zwar von der Warte eines vermeinten rein Geistigen aus. Im Buch Lambda der Metaphysik des Aristoteles ist in äußerster Verdichtung nachzulesen, zu welchen theologischen Erdichtungen ein Philosoph fähig ist, wenn er dem, was als »Seiendes« überhaupt nicht nichtig ist, eine letzte Gestalt zu geben gedenkt. Da ist es der ewig seiende und ewig lebendige, auf ewig in lustvollem Sichselbstdenken befindliche Gott, also ein komprimiertes Ganzes aus reinem Sein, reiner Vernunft und reiner Lust, das sich vom Menschen scheidet, der als Zeit- und Leibwesen mit Gott unmöglich mithalten kann. Doch, selber Philosoph, macht Aristoteles gegenüber den Philosophen eine großartige Konzession: Was Gottes Wesensart für immer ist, gelingt uns, uns Philosophen, bisweilen. 13 Da ist sie, die geistige Entrückung des Menschen, die momentane Teilhabe am Ewigen, ihrer Idee nach eine Verquickung von Zeit und Ewigkeit, die man besser 13
Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 1072b25.
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3. Buddha
nicht zu Ende zu denken versucht. Glaubt man der PhilosophGott-Nähe, wie Aristoteles sie anzeigt, dann ist man versucht, von gelebter Metaphysik zu sprechen.14
Nicht von ungefähr bleibt für Ernst Tugendhat, der sich buddhistischer Mystik zuwendet, »Beständigkeit«, der Leitgedanke griechischer Ontologie, von maßgeblicher Bedeutung. Den Anstoß, das eigene Selbst zu relativieren, um »Seelenfrieden« zu finden, geben ihm frühgriechische Philosophie und Dichtung (Pindar) mit ihrer Sicht auf Vergänglichkeit als etwas für den Menschen Ausweglosem. Das bewußte Erleben von Vergänglichkeit und Tod sei ein grundsätzliches Elend. Werde aber Leben »als beschwerlich (um nicht zu sagen: unerträglich) empfunden« (»Leben als solches«!), muß Menschen »der Gedanke, aufzuhören zu leben, unerträglich erscheinen«, dann gelte es einen »Ausweg« zu suchen. Den aber biete Mystik, nicht zuletzt buddhistische. Die Begründung dieser Zuwendung vollendet konzeptuell seine Entsozialisierung von Ich und Tod, die offensichtlich seinem Temperament entgegenkommt. Das Asoziale, wie es sich bei Buddhas Weg der Erleuchtung abzeichnet, heißt bei Tugendhat Sichtranszendieren, Selbstlosigkeit, Interesselosigkeit und eben Seelenfrieden, alles solipsistische Haltungen, die dem Selbst dazu verhelfen, der »Sinnlosigkeit« des Lebens zu entgehen und für einen Moment der Entrückung den Sinn des Lebens im »Frieden mit sich selbst« zu finden. In »universal verstandener Liebe« und »universell mitleidig« als seine höchste Reflexionsstufe bleibe das entrückte Selbst nicht selbstisch auf sich bezogen. Selbstisch sei allein die Liebe, wie sie als Liebe und Gegenliebe unter Einzelnen statthat, Liebe, die das Leben weitergibt als immer neu vergängliches. Überwinde sie Einsamkeit, dann bleibe das unbefriedigend, weil »fragil«. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, München 2003; ders., Spiritualität, Religion und Mystik, Zürich 2005, Nachdruck in: Klaus Jacobi (Hg.), Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit, Freiburg 2012, 161–173; ders., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007. 14
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4. Muhammad
I. Der Koran im ganzen, Sure um Sure, ist durchzogen von der Alternative »Glauben oder Leugnen«, »Vertrauen oder Zweifeln«. Der Korangläubige läßt sich von keinem Außenstehenden davon überzeugen, daß er, was die heilige Schrift des Islam lehrt und zum Gesetz macht, weder glaubt noch leugnet, dem weder vertraut noch es bezweifelt. Das Unterlaufen der Alternative ist für ihn unmöglich, weil der Korangläubige ihn nicht als Uninteressierten und Nichttangierten passieren läßt. Dem Gott Muhammads folgen oder nicht folgen, an ihn glauben oder nicht an ihn glauben – anderes kommt nicht in Betracht. Abgesehen vom Sprachklang der in Originalsprache gesprochenen Surenverse springt bei der Übersetzungslektüre des im Koran kodierten Islam dem Leser keine sonderliche gedankliche und bildhafte Poesie ins Auge.1 Zwar ist das Einladende zu dieser Religion reichhaltig entfaltet. Von der »eröffnenden« Sure 1 an preist jede Sure die Barmherzigkeit des einen Gottes und seine Großzügigkeit im Belohnen des Glaubens. Aber ebenso reich wird im Koran die Unnachsichtigkeit und Härte seines Strafgerichts gepriesen. Keine Schuld und Urschuld wird bestraft, sondern einfach das Ausbleiben der »hingebenden Unterwerfung«. Denn die ist fünfmal am Tag rituell zu bezeugen. Was Kermani demonstriert überzeugend, wie die Musik des gesprochenen Koranworts alles diskursiv zu Erfassende übertönt. Einzig der gläubig hörenden Versenkung offenbare sich Gottes Mund. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, 4. Auflage, München 2011.
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4. Muhammad
ein Hiob nur einmal tut, um sich mit dem Gott, der nicht mit sich rechten läßt, zu versöhnen und das reichlich zurückzuerhalten, was ihm in seinem unmöglichen Rechtsstreit mit Gott genommen worden war, ist hier tägliche, fast stündliche Pflicht. Die Religion des Islam ist so eine effektive Disziplinierungsreligion für ihre Gläubigen, für die aber, die nicht dieser Religion angehören, ist es eine mit Bestrafung drohende Religion. Was Muhammad als neue Version und mit ihr als Korrektur des seiner Ansicht nach durch Judentum und Christentum verfälschten Abrahamglaubens in Worte gefaßt und als Tatsache und Gesetz festgelegt hat, ist eine schlanke, ja einfältige Religion, geeignet, Menschen, die für ihr Leben einen Halt und für ihr alltägliches Lebensverhalten Zügel der Mäßigung von hinreichender Durchsetzungskraft nötig haben, Selbstverantwortung und Eigenregiment zu ersetzen. Der Glaube mit seinem Ausblick auf Auferstehung und paradiesisches Leben ist aufs engste mit Gehorsam verknüpft. Die Moscheen verstehen sich als »Niederwerfungsstätten«. 2 Die strenge Disziplinierung der Gläubigen gilt jedoch nicht allein dem Einzelnen in seiner Einzelnheit, sondern hat auch eine gewichtige soziale Komponente: die Verpflichtung, sich hilfreich dem Anderen zuzuwenden. Die Almosenverpflichtung läßt sich als eine Güterverteilung von hoher sozialer Effizienz wahrnehmen.
II. Es ist ein außerordentlicher Fall, daß eine Scheidung von Gott und Mensch, von absolutem Herrschaftsanspruch und absolutem Gehorsam, nicht zu einer Abwertung des Menschen führt, ja nicht einmal menschliche Selbstunzufriedenheit spiegelt. Das Dieser Ausdruck wird in der Koranübersetzung von Ahmad Milad Karimi (Der Koran, Freiburg 2009) gebraucht. Im folgenden wird nach dieser Übersetzung zitiert.
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4. Muhammad
liegt allem Anschein nach daran, daß Muhammad Gottes Wort vorrangig dazu dient, Gläubige zu disziplinieren und auf die Nichttolerierbarkeit der Ungläubigen einzustimmen. Was einst ein Kritias erwogen hat, Gott als eine höchst kluge Erfindung zu deuten, die sich instrumentalisieren läßt, den eigenen Herrschaftsanspruch durchzusetzen, 3 hätte dann im Islam einen historischen Beleg gefunden. Für eine Indienstnahme Gottes im Islam spricht, daß sich im Koran keine Dramatisierung des menschlichen Geschichtseintritts und Geschichtsganges findet. Es gibt Menschen, und die haben ohne Ausnahme dem einen Gott Gehorsam und Vertrauen zu bezeugen – das genügt. Das versprochene Paradies für die Nur-Gutes-Tuer bedeutet keine Wiedergewinnung von etwas durch Schuld Verlorenem, sondern ist Beispiel für die Generosität göttlicher Vergeltung im Guten. Es ist ein Moment des vorgeführten Do-ut-des-Systems, und zwar der höchste und letzte, freilich nicht im zeithaften Dasein erlebbare Moment. Der Muslim muß sich nicht für sich selbst und vor sich selbst rechtfertigen, sondern allein vor Gott. Gute Taten und hingebende Unterwerfung sind alles, was von ihm verlangt wird. Mehr muß er auch nicht von Gott verstehen, als daß er der Barmherzige, der Eine, der Vollkommene und damit der Ohnegleichen ist, 4 der nur einen Willen kennt: daß man seinem Willen folgt. Die glauben und verrichten gute Werke, erwarten Gärten, unterhalb derer Bäche fließen. Dies der Gewinn, der große. 5 (W)enn ihr helft Gott, wird Er euch helfen. 6
Glaubt der Muslim an den einen Gott und gehört zu diesem Glauben, sich dem Willen des einen Gottes zu unterwerfen, und dies nicht bloß in dem Versuch, gegenüber Gott jeden Eigenwillen fahren zu lassen, sondern in genauester leibhaftiger 3 4 5 6
Kritias, Fragment 25. Wird neuerdings Euripides zugeschrieben. Sure 112. Sure 85,11. Sure 47,7.
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4. Muhammad
Demonstration, gehört dann ebenfalls zu ihm, an die paradiesische Belohnung seines Glaubens und Guttuns zu glauben? Gewiss gibt es für die Gottesfürchtigen Gewinn, Gärten und Rebstöcke und Mädchen, gleichaltrige, mit schwellenden Brüsten, und einen Becher, gefüllt bis zum Rande. 7
Ja, der Belohnungsglaube ist integrativer Bestandteil des Gottesglaubens. Der Islamgläubige hat im Jenseits sinnliche Lüste zu erwarten, nicht geistige. Das ist aber allein für den Mann gesagt. Ein durch ihr Genital begründetes Lob junger Männer ist im Koran nicht zu finden, wohl aber Mädchen mit unzerstörbarer Jungfräulichkeit. Das ist ein großartiger Einfall von ebenso konsequenter wie phantastischer Übertreibung im Sinnlichen. Wollte man dem eine ebenso konsequente Übertreibung im Geistigen zur Seite stellen, dann käme dafür der actus purus in Frage, Thomas von Aquins Wort für den aristotelischen Gedanken einer reinen, mit nichts gemischten Tätigkeit, wie sie sich im reinen Sichselbstdenken Gottes vollziehen soll. 8 Dem, der das diesseitige Leben für das einzige wahrnimmt, wird nachgesagt, daß er sich wie Vieh verhalte: Und die leugnen, genießen und fressen wie das Vieh, und das Feuer wird ihre Bleibe. 9
Dem dagegen, der sich im Diesseits gottesfürchtig verhält, wird im Jenseits das in vollen Zügen zu kosten versprochen, was er »hier« nicht ausleben soll: Wahrlich, die Gottesfürchtigen sind an einer Stätte, einer sicheren, in Gärten mit Quellen. Gekleidet sind sie in Seide und Brokat, einander Sure 78,31. Wollen und können das auch allein Bilder sein, so ist doch ihre Botschaft eindeutig genug. Manch naives Gemüt unter den Lesern und Auswendigsagern des Koran wird sie für bare Münze nehmen. Der christliche Himmel kennt dagegen als Versprechen im wesentlichen allein die Nähe zu Gott, ja die Einheit mit ihm. 8 Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 1072b. Siehe oben S. 30 Anm. 13. 9 Sure 47,12. 7
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4. Muhammad gegenüber. So ist es. Und Wir geben ihnen als Frauen Hu¯rı¯, mit großen Augen. 10
Hu¯rı¯, das sind sie, die Mädchen mit der unzerstörbaren Jungfräulichkeit, die jede Liebesnacht zu einer ersten werden lassen. Etwas, das sich im Diesseits kaum ein Scheich leisten kann, wird im Jenseits zur Wahrheit für jeden, der im Leben den Geboten des Koran nachgekommen ist. So viel dem Mann Gefälliges hat ein Paradies wie das von Angelus Silesius erdichtete nicht zu bieten. Dort ist alles geistiger und geistlicher. Im Paradies des Koran aber sind es geradezu derbe Versuchungen: da wollte man schon hin. Doch ist das nun bloß eine Versuchung im Sinne eines »Schön wär’s« oder ist es gemäß der Rede von »So ist es« eine unumgängliche Tatsache, nämlich angesichts der höchsten Freudenerwartungen eines Muslims ein Muß? Denn der »Gewinn« ist unmöglich eine bloße Verlockung, weil er ein Pflichtteil des Glaubens ist. »Was hat euch gebracht ins Höllenfeuer?« Sie sprechen: »Wir haben nicht zu denen gehört, die das Gebet verrichteten, und wir beköstigten nicht die Armen, und wir schwatzten mit den Schwätzern, und leugneten den Tag des Gerichts, bis uns erreichte die Gewissheit.« 11
Der Tag des Gerichts bedeutet nur eines: die Scheidung von Paradies und Höllenfeuer als die unterschiedlichen ewigen Aufenthaltsorte für die nach ihrem Tun zu Richtenden. Verlangt die Gottesfurcht, um als Furcht gesichert zu sein, den Glauben an den Tag des Gerichts mit der Drohung ewigen Höllenfeuers, dann ist auch das Paradies mit seinen Auspizien höchster sinnlicher Lusterfüllung ein tragender Teil islamischen Glaubens. Die Ausmalung des Erfreulichen ist aber nicht weiter poetisch. Es ist nur das, dessen sich der Gläubige im Diesseits ausdrücklich zu enthalten hat, für das Jenseits nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, und dies auch noch in gesteigertster, eben ver10 11
Sure 44,51–54. Sure 74,42–47.
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4. Muhammad
lockendster, das meint in der im Diesseits allenfalls geträumten Form. So »muß« es sein, wenn nicht unendliche Qual sein soll.
III. Dichtung und Wahrheit – der Autor des Koran ist auf der Hut. Oder sie sagen »Erdichtet hat er.« Nein, sie ist die Wahrheit von deinem Herrn. 12
Dem, der damit überzeugen will, Gottes Wort zu vermitteln, bleibt gar nichts anderes übrig, als fortwährend die Wahrheit all dessen zu behaupten, was er notiert. Dabei kann es gar nicht einfach genug zugehen. Verspricht Gott, wie formuliert, »Gärten der Wonne«, dann kann das nur »ein Versprechen Gottes in Wahrheit!« sein, 13 was bereits kurz darauf zur Wiederholung führt: »Wahrlich, Gottes Versprechen ist wahr«. 14 Daß an soviel »wahrlich« und »wahr« kein Zweifel herankommt, darf sich der »Gesandte Gottes« dank seiner schlagenden demonstratio ad hominem sicher sein: »denn Gott ist die Wahrheit«. 15 Die absolute Voraussetzung für jeden Gottesglauben ist, daß Gott die Wahrheit ist. Soll Glauben im Sinne des von allen Zweifeln freien Vertrauens möglich sein, dann ist von einer Gleichsetzung Gottes mit der Verläßlichkeit (hebr. emeth) Gottes auszugehen, Verläßlichkeit als das hebräische Wort für Wahrheit. 16 Die Wahrheit Gottes ist in jedem Gottesglauben notwendig epistemisch unzugänglich. Jedes Wort, das als Wort Gottes geglaubt wird, ist als solches wahr. So hat die Unterweisung der Gläubigen, wie sie der Koran Sure für Sure durchführt, Sure 32,2. Sure 31,9. 14 Sure 31,33; 35,5 et alibi. 15 Sure 31,30. 16 Siehe Jeremias 10,10: Die Verläßlichkeit Gottes schließt seine Beständigkeit und ewige Lebendigkeit ein. 12 13
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4. Muhammad
gar keine andere Wahl, als in Sachen Wahrheit konsequent appellativ und repetitiv zu verfahren, was auch der Auffassungsgabe des gläubigen Volks gerecht wird. Da sich die Sagekraft des Koran für den Gläubigen dem Mund Gottes verdankt, wirkt sie imperial appellativ. 17 Was als Argument erscheint, ist stets die Explikation von bereits Vorausgesetztem: Halten es Menschen statt mit dem einen Gott mit einer Vielheit von Göttern, damit ihnen vielleicht geholfen wird, dann »nehmen hsie Götteri, deren Fürsprache nichts nützt«, da sie gegen den einen Gott, wenn er ihnen schaden will, nichts vermögen. 18 Mit der reklamierten Evidenz steht es nicht anders: Hast du nicht gesehen, dass die Schiffe fahren auf dem Meer durch die Gnade Gottes, … ? 19
Sieht ein Gläubiger alles, was ihm ins Auge fällt, als durch Gottes Macht, Gnade, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit geschehen und gegeben, dann verdankt er das der Poesie seines Blicks. Das zu Sehende gibt von sich aus nichts davon her. Doch daß ihre Augen anders wahrnehmen, übersehen Gläubige auch sonst: Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt. 20
Fällt das Auge auf Täler und Hügel, blickt es hinauf zu Sonne und Mond, dann sieht es keine Werke Gottes, wenn es nicht zuvor durch den Glauben geleitet ist, daß das alles Werke Gottes sind. Schöpfung ist eine durch und durch poetisch-religiöse Vorstellung, nichts visuell Erfaßbares, auch nichts argumentativ Erschließbares. Sie setzt einen Sinn für Schönheit voraus, für Ord-
17 Bernhard Uhde, Der Islam, in: ders. (Hg.), Die Bibel und die Religionen. Religionsgeschichtliche Quellentexte, 3997 ff. 18 Sure 36,23; 74. 19 Sure 31,31. 20 Römer 1,20. Nach Luther.
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4. Muhammad
nung und eine Bejahung der Welt samt des eigenen Daseins in ihr. Daß der Koran nicht auf Argumente und Evidenzbeweise setzt, um zu überzeugen, sondern ihm dafür Wiederholungen der beanspruchten Wahrheit sowie Warnungen und Strafandrohungen genügen, hat, wie der Erfolg der einmal mehr für alle Menschen als die einzig wahre ausgegebenen Religion zeigt, seine Richtigkeit. Muslimischer Glaube verlangt kein Überzeugtsein durch Gründe, keine abstrakte Gedankenbewegung. Vertrauen und hingebende Unterwerfung sind es, die von sich aus Glaubensgewißheit und inniges Glaubensgefühl erzeugen. Wie der Glaube anempfohlen und befohlen ist, ist er zu nicht mehr und nicht weniger ausersehen, als dem Gläubigen für sein Leben einen durch nichts zu verunsichernden Halt zu gewähren und seinem tendenziell ausufernden Lebensverhalten Einhalt zu gebieten. Vom »Schönhandelnden« werden im wesentlichen drei Dinge verlangt: Verrichten des Gebets, Entrichten der Armenspende, Überzeugtsein vom Jenseits. Dem entspricht die dreifache Disziplinierung: (1) des Tagesverlaufs durch das fünfmalige Sichniederwerfen, (2) des rein den eigenen Begehrlichkeiten gewidmeten Verhaltens durch das Almosengeben, (3) der sinnlichen Diesseits-Zugewandtheit durch die Ausrichtung auf einen Ort ungleich größerer Freuden, als sie zeitlebens möglich sind. Diese diätetische, soziale und moralische Disziplinierung macht den Gläubigen nicht nur tauglich für Gesellschaft und Gemeinschaft, sondern bei Bedarf auch dazu, dem imperialen Machtanspruch der Religion zu dienen. Sich selbst zu beschämen und zu demütigen, weil Mensch zu sein eigentlich nichts ist, das bleibt dem Korangläubigen erspart. Ihm wird keine urgeschichtliche Schuld erzählt, die eines gottgesandten, ja göttlichen Erlösers bedarf. Schuldig freilich macht er sich, versteift er sich auf das Diesseits. Damit das in Kapitalstrafandrohung eingebettete Belohnungssystem zum Zuge kommt, hat er vor allem zu glauben, zu glauben und nochmals zu glauben, daß heißt jederzeit in allem sich dem Willen 39 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
4. Muhammad
Gottes zu unterwerfen und immer die Wonnen im Sinn zu behalten, die der Glaube im Himmel verspricht. So rechtfertigt der geglaubte Gott vorweg den Glauben. Der Gläubige selbst bedarf keiner Rechtfertigung.
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5. Paulus
I. Paulus’ Glaubenswelt ist eine Welt der Gerechtigkeit. Die Einzigartigkeit dieser Welt versteht sich maßgeblich aus ihrer einzigartigen Gerechtigkeit. Diese steht keinem Rechtsempfinden offen, entspricht keiner Vorstellung von Legalität und Legitimität, schon gar keiner geläufigen Rechtspraxis. Losgelöst von all dem, ist sie nur als eine absolute zu verstehen und damit auch nicht zu verstehen. Der Sachverhalt ist, wie stets bei Paulus, klar durchdacht und darum einfach: Gott ist die Gerechtigkeit. Der Mensch ist nur gerecht, sofern er den Gott, der die Gerechtigkeit ist, glaubt. 1 Die Glaubenswelt hat somit zwei Bewohner: den Gläubigen und den Geglaubten. Das Band, das diese Welt zusammenhält, ist der Glaube. Und was wird geglaubt? Eben die Gerechtigkeit Gottes! Der Gottlose (atheos, 2 asebês) ist der Ungerechte (adikos) 3 . Durch den geglaubten Gott ist jeder, der ihn nicht glaubt, ins Unrecht gesetzt. Man kann sagen, daß Gott jeden Ungläubigen ins Unrecht setzt. Bei dieser Setzung aber wird der Gläubige notwendig Mittäter.
Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 32: »Die Sterblichen sprechen, insofern sie […] der Sprache entsprechen«; 254: »Die Sprache spricht«; »Wir hören das Sprechen der Sprache«. 2 Nur Epheser 2,12, hier, um die Beschimpfung der Christen als Gottlose an die »Heiden« zurückzugeben. 3 1. Korinther 6,9. 1
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5. Paulus Denn die Gerechtigkeit Gottes ist im Evangelium geoffenbart – aus Glauben auf Glauben hin. 4
Die Gerechtigkeit Gottes lebt vom Menschen, der im Glauben lebt. Der Glaube an das Evangelium Christi, dieses Vertrauen in die Frohe Botschaft, ist der Ursprung der Gerechtigkeit Gottes. Ebenso aber ist dieser Gerechtigkeitsglaube das Ziel des Glaubens. Die Glaubenswelt als die Welt der absoluten Gerechtigkeit schwingt in sich.
II. Das Vertrauen auf die Frohe Botschaft kommt nicht von ungefähr. Es steht nicht im Belieben des Menschen, der von ihr angesprochen und so mit ihr bekannt und vertraut ist. Er kann zum Beispiel nicht ausprobieren, ob es ihm nützt, von ihr Gebrauch zu machen. Steht es schon nicht in seinem Belieben, sie anzunehmen oder nicht, so ist er in einem verständlichen Sinne nicht einmal frei dazu. Was nämlich wäre eine Freiheit, die sich zwischen »Gehorsam und Ungehorsam« zu entscheiden und das heißt im Angesicht Gottes das Pro oder das Contra zu wählen hätte? Eine Freiheit zur ewigen Verdammnis kann nicht eigentlich Freiheit sein. Die Entscheidung gegen Gott, wohl verstanden als Entscheidung gegen sich selbst, dieser Ungehorsam ist bloße Straffälligkeit, vom Glanz eines selbsthaften Freiheitsgebrauchs fehlt in der Perspektive des Glaubens jede Spur. So hat denn Luther die »Freiheit eines Christenmenschen« konsequenterweise in den Glauben und mit ihm in Gott selbst verlegt: Durch den Glauben fährt er hein Christenmenschi über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in göttlicher Liebe, […]. Sieh, das ist die rechte, geistliche, christliche Frei-
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Römer 1,7. E.Ü.
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5. Paulus heit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. 5
Der im Jahre 2012 neu ernannte Chef der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan faßt sich in dieser Art Rettung christlicher Freiheit kürzer: Die Freiheit der Kinder Gottes ist die Vollendung des Glaubensgehorsams gegenüber Gott. 6
Eine andere Perspektive als die des Glaubens läßt Paulus nicht zu. Unglaube ist für ihn kein möglicher autonomer Standpunkt, sondern ein reines deficiens. 7 Fragt auch ein Petrus, was er denn davon habe, wenn er Christus nachfolge, und er fragt es ihn selbst, 8 dann hat der Gläubige, wie Paulus ihn vorsieht, keine Gelegenheit, sich selbst ins Spiel zu bringen, ganz so, als gäbe es ein Eigenleben neben dem Leben des Glaubens. Das aus der Perspektive der Vernunft vorgesehene autonome Individuum, das sich fragen darf, ob es universelle Vernunftsmoral praktizieren will oder nicht (obwohl doch der kategorische Imperativ, wie Kant ihn zum Herzen des Vernünftigen macht, als impraktikabel erkannt ist), gehört, aufgeklärt, wie es ist, keinem poetisch initiierten Geschichtsdrama an. Es ist sitt5 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: ders., Ausgewählte Schriften Bd. 1 (ed. Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling), 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1983, 263. 6 Süddeutsche Zeitung vom 28./29. 7. 2012. 7 Tugendhat dagegen plädiert für Autonomie, wenn ein menschliches Individuum sich vor die Frage gestellt sieht, ob es der universellen moralischen Gemeinschaft zugehörig sein will oder nicht. (Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1994, 5. Vorlesung »Das plausible Moralkonzept«.) Zwar gibt es, einmal dieser Gemeinschaft zugehörig, im Sinne Kants eine befehlende Vernunft, die Gehorsam verlangt, aber zum einen ist der Gehorchende dann an dem Befehl beteiligt, zum anderen darf er nach Tugendhat erst einmal das »eigene Wohlergehen« ins Spiel bringen, das heißt, er darf sich klar darüber werden, ob der Sprung in eine universelle Gemeinschaft für ihn wirklich gut zu sein verspricht. 8 Matthäus 19,27.
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5. Paulus
lich naiv gemeint. Paulus’ Gläubiger dagegen, der vor der Entscheidung steht, zu gehorchen oder nicht zu gehorchen, ist ein durch Schuldspruch Gezeichneter mit uralter Geschichte. Er kommt aus dem Unglauben, aus dem Ungehorsam. Als Teilhaber am urersten Handeln gegen Gott, eben an der Sünde Adams, ist er vor die Frage gestellt, ob er durch den Glauben an Jesus als den Christus die Erlösung von aller Menschen Urschuld annehmen will oder nicht. Der Philosoph mit Vernunftoption von der Art Kants sieht den Standort des Wählenden nicht in der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, die ja Zweifel aufkommen lassen müßte an seiner Autonomie, sondern stellt ihm ein Leben frei, das in der Sicht des Philosophen die Möglichkeit des Humanum verwirft. Paulus dagegen kann dem durch Adam mit Urschuld Beladenen unmöglich freistellen, sich auf ewig in dieser Schuld einzurichten. Der Apostel glaubt sich von Gott begnadet und beauftragt, bei allen Menschen den »Gehorsam des Glaubens« zu erwirken. 9 Zu glauben – das ist, durch Paulus vermittelt, ein Befehl Christi, keine Einladung, die man ohne Sanktion ausschlagen könnte. Nach dem Gang der Rechtsspruchgeschichte des Glaubens geurteilt, bedeutet das, allen Menschen klarzumachen, daß sie von ihrem Urstande her Ungehorsame und Ungerechte, weil Sünder und wider Gott Handelnde sind. Alle Menschen sind ursprünglich schuldig. Deswegen steht ihnen der Erlösungsglaube nicht frei, sondern ist ihnen befohlen.
III. Paulus nennt sich mit den ersten Worten des Römerbriefs einen Sklaven Christi Jesu. Das ist mit Bedacht gesagt in strengster Gläubigkeit. Die Geschichte seines Glaubens sieht für den Gläu-
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Römer 1,5; 16,26.
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5. Paulus
bigen nichts anderes vor: Er war Sklave, ist Sklave und bleibt Sklave. Freilich wäre diese Geschichte keine Geschichte, wenn sich nicht etwas Entscheidendes änderte: der Sklave von was und von wem. Das Gerechtigkeitsgebäude der von Paulus gezeichneten Glaubenswelt beruht auf urgeschichtlichem menschlichem Unrecht, durch das es ursprünglich in Bewegung gerät. Ohne Ungerechtigkeit des Menschen, die, als widergöttliche, Sündhaftigkeit bedeutet, könnte es keine Gerechtigkeit Gottes geben, wenn diese doch darin besteht, den, der an ihn glaubt, von seiner Sündhaftigkeit und eben Ungerechtigkeit zu befreien, sprich: zu erlösen. Das ist die ganze Geschichte des Glaubens in dem von Paulus entworfenen von Ewigkeit her gültigen Heilsplan Gottes: vom contragöttlichen Sklaven der Ungerechtigkeit zum progöttlichen Sklaven der Gerechtigkeit. Das Sklaventum der Sünde führt zu immer neuer Ungerechtigkeit, das Sklaventum der göttlichen Gerechtigkeit zur Heiligung (hagismos). 10 Der Glaube, der als Gehorsam ein geistig-geistlicher Vollzug ist, zeitigt leibliche Früchte: Befreit von der Sünde ist der Gläubige als Sklave Christi von leibhaftiger Reinheit. Die Glaubenswelt, die sich im Römerbrief auftut, inszeniert ihr Drama rein in sich selbst. Die Ursündentat und das darin offenbare allgemeine menschliche Sklaventum, das der Ungerechtigkeit gegen Gott dient, machen den Glauben nötig. Aber bereits dazu, daß Glaube nötig ist, braucht es Glauben. Mit dem Ende des Dramas verhält es sich ebenso. Die Erlösung von der Sünde macht den Glauben nötig, aber die Erlösung gibt es auch ihrerseits nur, sofern sie geglaubt wird. Der Mensch wird beschuldigt, damit er genötigt werden kann, auch genötigt werden muß, sich zu entschuldigen.
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Römer 6,16–22.
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5. Paulus
IV. Wer nicht an Jesus als den Messias glaubt, könne seinen Unglauben nicht rechtfertigen, wenn das heißt, daß er sich für sein widergöttliches Verhalten nicht entschuldigen könne. 11 Das ist, aus der Perspektive der Binnenweltlichkeit des Christusglaubens geurteilt, richtig. Das zu Glaubende zu verstehen und von dem zu Glaubenden überzeugt zu sein, den Glauben dann aber doch nicht zu vollziehen, ist nicht nur ohne Plausibilität, sondern sachlich falsch. Der Geist des Glaubens widerspräche so sich selbst. Wer mit Adam schuldig wurde, muß mit Christus erlöst werden. Damit ist für den Christen alles gesagt, und zwar verbindlich für die Menschheit: Die Abwendung von der Sünde, die den Tod bedeutet, und die Hinwendung zum Glauben, der das ewige Leben bedeutet, sind ein und dasselbe Muß. Wie Paulus das Drama des Christusglaubens inszeniert, kennt er eigentlich nur zwei Akteure: Adam und Christus. Daß der Mensch in das Drama verwickelt ist, scheint, auf das Ganze gesehen, nur Nebensache zu sein. In den Randbemerkungen Luthers zu Römerbrief 5,16–19 spricht einiges für diese Lesart: Wie Adam vns mit frembder sünde/ on vnser schuld verderbet hat. Also hat vns Christus mit frembder Gnade/ on vnser verdienst/ selig gemacht.
Ohne uns – das Wesentliche geschah ohne uns: unsere Verderbnis und unsere Seligkeit. Doch Luther revidiert sogleich das »ohne uns«, zumindest das »on vnser schuld«, wenn er hinzufügt, daß Adams Sünde »vnser eigen« geworden sei, wie dann freilich auch »Christus Gerechtigkeit«. »Eigen«, die Erbsünde macht Adams Sünde zu unserer eigenen, die Gnade Christi macht dann auch die Gerechtigkeit Christi zu unserer eigenen: Wir sind sündig durch Adam, sind es aber gewesen, weil wir durch Christus selig sind. Das Drama des Christusglaubens hat uns also doch voll belangt, ja wir sind seine Hauptakteure, weil 11
Römer 1,20; 2,1.
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5. Paulus
alles an uns geschieht. Wir sind nicht die primären Akteure, aber wir tragen das, was geschieht, an uns selbst aus. Weil durch Adam alle Menschen ungehorsam und ungerecht waren, mußte eine Kraft kommen, die über die der Menschen hinausliegt, um diesen Ungehorsam und diese Ungerechtigkeit vom Menschen zu nehmen. Jetzt, im Christusglauben, ist der Mensch gehorsam und gerecht. Damit hat eine Gerechtsprechung aller Menschen stattgefunden: Also ist auch durch eines Gerechtigkeit die rechtfertigung des Lebens vber alle Menschen komen. 12
Das Leben des Christusgläubigen ist einzigartig gerechtfertigt, und zwar dadurch, daß er glaubt, den Glauben an Christus und den Gehorsam ihm gegenüber durch die Gnade Christi empfangen zu haben. Da ist der Hinweis naheliegend, wenn auch für den Gläubigen selbst unverständlich, daß ihn auch einzig sein Glaube dazu bringt, diese Rechtfertigung um seines Lebens willen nötig zu haben. Denn das ist der springende Punkt: das Leben. Mit seiner Rechtfertigung wendet sich das Verständnis des Lebens vom mit Seinesgleichen geteilten und gelebten Leben zum seligen und wahren Leben, vom Leben in Leibhaftigkeit zum pneumatischen Leben des Gerechten und Erlösten. Wer dagegen die Herausforderung annimmt, die das geburtliche Leben mit seinem Aufwachsen, Reifen, Sichfortzeugen, Altern und Sterben stellt, bedarf nach der Glaubenslogik des Paulus keiner Rechtfertigung. Nicht daß deswegen der den Christusglauben nicht Teilende vor Selbstgerechtigkeit strotzte. Nein, ihm bleibt das Problem einer Rechtfertigung des Am-Leben-Seins ein Leben lang fremd.
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Römer 5,18. Luther.
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5. Paulus
V. Der Mensch in der Spanne von Adam und Christus – es ist Paulus’ Verdienst, den Glauben ausgelotet zu haben, der diese Spanne trägt, um mit Christus ein eschatologisches Ende zu deuten, in dem der Anfang als solcher aufgehoben und eben zu Ende gebracht ist. Es ist eine Geschichte im Geiste. In ihm hat sie sich ereignet. Wer jetzt noch wartet, wird ewig warten. Als Geschichte der Poesie hat sie nicht in der Zeit stattgefunden, sondern im Glaubensepos. Dichtungen dichten immer weiter. Die Weiterdichtung ist hier die Wiederkehr Christi und das Jüngste Gericht. Beides hat in der Ewigkeit, die von keiner Zeit belangbar ist, immer schon stattgehabt. Wer meint, er könne das nicht verstehen, muß sich sagen lassen, daß Ewigkeit ein rein poetischer Begriff ist, kein physikalischer, auch kein Begriff des bon sens, der uns im Alltag regiert. Woran lag es, daß das für Paulus verbindliche Material, aus dem er seinen Entwurf der Menschheitsgeschichte als christlicher Glaubensgeschichte zu formen hatte, Urschuld und endgültige Erlösung wurden? Die erste Antwort darauf kann nur der Verweis auf die Schöpfung sein. Vielleicht ist sie die zureichende Bedingung dafür, daß es mit dem Verhältnis von Gott und Mensch so kam, wie es der Christusglaube glaubt. Jedenfalls ist sie eine notwendige Bedingung dafür. Und Gott machte den Menschen. Nach dem Bilde Gottes machte er ihn (auton). Und er machte sie (autous) männlich und weiblich. 13 Da bildete Gott den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm Lebensatem ins Gesicht. 14
Dieses zweite Bild, die Formung des Menschen aus weichem Material und eben aus dem »Element«, zu dem er zurückkehrt, indem er wieder zu ihm wird, dürfte das ältere sein. Stellt man sich die Bildung von Lebewesen vor, dann wird man zunächst 13 14
1. Mose 1,27; 5,1 f. 1. Mose 2,7.
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5. Paulus
auch nur an die Art denken, nicht an den Unterschied des Geschlechts und an die Möglichkeit der Reproduktion. Es ist wunderbar, wie der Mensch die Distanz, die er in gelungener Ontogenese zu sich selbst gewonnen hat, geistig ausschöpft. Er erzählt sich seine eigene Geschichte, legt sich selbst aus, und braucht für seinen Eingang in die Geschichte eine höchste Macht und Kraft, einen Bildner, der es dem Künstler gleichtut im Formen, dann aber sich als wahre Lebensmacht erweist, fähig, Leben zu geben, Totes zu beleben. Mit dem Bilden des Menschen beginnt die Unterschiedenheit von Gott und Mensch, beginnt das Drama dieses Unterschieds, beginnt monotheistische Religion. Indem der Mensch den Gott dichtet, der den Menschen bildet, legt er den Grund für die Möglichkeit, die irdische Existenz der Menschen als Gattungswesen zu dramatisieren. Mit der Poesie einer ersten Menschenbildung durch eine höchste Schöpfungsmacht hat der sich seine Geschichte erzählende Mensch schon alles überholt, was in Tragödie und Komödie an Menschlichem zur Aufführung ansteht. Wahres Erstes und wahres Letztes – danach greifen die Erzählungen nicht aus, die sich unter Menschen und im Menschen abspielen. Paradiesischer Adam und eschatologischer Christus – das ist eine nicht zu überbietende Art, aus dem Lebewesen Mensch ein jede Geschichtszeit und jeden Bewegungsraum sprengendes Gerichtsdrama zu machen. Schon die Tora für sich nimmt die Möglichkeit wahr, die erste signifikante menschliche Handlung als eine gegen seinen Bildner gerichtete zu erzählen. Nur so wird das Verhältnis von Mensch und Gott geschichtlich und dramatisch. Wie Paulus die Genesis liest und in die christliche Botschaft einbindet, wird der Gehalt jüdischen Glaubens überboten – mit gewaltigen wirkungsgeschichtlichen Folgen. Jetzt steht nicht mehr die Mühseligkeit des endlichen Lebens im Vordergrund, sondern seine Sündhaftigkeit. Diese aber versteht sich, genau gelesen, nicht aus dem Plural Sünden, der sich aus der Übertretung göttlicher Gesetze ergibt, sondern aus dem Singularetantum Sünde. Die Sünde des Menschseins 49 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
5. Paulus
selbst steht im Blick, durch die wir werden, wie wir sind, und die uns durch Strafe in die Geschichte eingehen läßt: durch die Strafe des Lebens, das durch Geburtlichkeit, Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Geschlechtlichkeit und Endlichkeit, das heißt Tödlichkeit, gezeichnet ist. Wird aber im jüdischen Glauben bei aller messianischen völkischen Erwartung die Strafe der Lebensmühsal eher gelassen hingenommen und ohne Schuldbewußtsein gestorben, so setzt christlicher Glaube alles, aber auch wirklich alles auf die Erlaßbarkeit der Strafe, was in strenger Lesart heißt: auf die Erlösung vom Leben, wie es gelebt wird, durch ein ganz anderes Leben. Es ist das Leben, das nicht »im Fleisch« (en sarki) 15 gelebt wird, sondern in sich selbst (en heautô). 16 Der evangelische Theologe Bultmann nennt es, von Heidegger sprachlich angeregt, das »eigentliche Leben«. 17 Seine Auszeichnung ist die Unvergänglichkeit und Unzerstörbarkeit – ein gottgleiches Leben. So endet die gnadenhafte Rechtfertigung menschlichen Lebens, das urgeschichtlich durch die Schuld widergöttlichen Handelns belastet ist, endgeschichtlich in der Aufhebung des Unterschieds von Gott und Mensch. Das durch den Glauben an Gottes Gerechtigkeit und Gnade geprägte Geschichtsdrama hat sein Ende gefunden. Der von er Schuld erlöste Mensch lebt gleich Gott. Jede Unzufriedenheit mit sich selbst ist unmöglich geworden. Sie wäre Gotteslästerung. Das Wunder an dieser Poesie ist und bleibt, wie sehr sie damit zu überzeugen weiß, keine Poesie zu sein.
Galater 2,20. Johannes 5,26. 17 Rudolf Bultmann, Art. zaô, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. 2 (ed. Gerhard Kittel), unveränderter Nachdruck der Erstauflage von 1935, Stuttgart 1954, 864. 15 16
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
I. Das Dasein sei »ursprünglich«, sei »ständig« schuldig – solange es existiert. Die seinsphilosophische Deutung von Schuldigsein, die Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) entwickelt, spricht von einer Schuld, die niemand auf sich geladen hat und niemand abzutragen hat und abtragen kann, kein Mensch und keine Menschheit. Als Mensch steht ein reines Seinswesen im Blick, »Dasein« genannt. Als »reiner Seinsausdruck« gebraucht, 1 ist damit jedes sachhaltige Was ausgeblendet. Das ist notwendige Voraussetzung für den Entwurf des »existenzialen Solipsismus«, 2 auf dem die Deutung von »Schuld« und »schuldig« basieren soll. Zu Existenz als Seinsweise des Daseins im Sinne »faktischer Konkretion« 3 gehört sehr wohl das Was-Sein. Die »formale existenziale Bestimmung« 4 der Seinsweise des Daseins ist jedoch nicht Existieren, sondern Möglichsein (Seinkönnen). Das ist kein Wechsel vom Konkreten ins Abstrakte, sondern vom
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 18. Auflage, Tübingen 2001, 12. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 188. 3 Zum Verständnis von Sein und Zeit sind die §§ 10 und 11 der Vorlesung SS 1928 von besonderer Bedeutung: Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA Bd. 26, Frankfurt a. M. 1978 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 285. Vgl. S. 283: »Die formal existenziale Idee«. 1 2
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
»faktisch« zum »eigentlich« Konkreten. 5 In präziser Fokussierung kommt so vom Sein des Daseins nichts als sein »daß es ist und zu sein hat« in den Blick. Nur so läßt sich das existenzial verstandene solus ipse sowohl absolut isolieren als auch absolut neutralisieren. Isolation bedeutet dann keine lebenspraktische Absonderung, sondern allein die formale Bestimmung, daß es gänzlich auf sich selbst entworfen, sich selbst überantwortet und überlassen ist. Das ist nur möglich, wenn es weder männlich noch weiblich, weder jung noch alt, weder religiös noch areligiös, sondern in jeder Hinsicht neutral ist. Weder kalt noch warm, sondern lau zu sein, hat keinen guten Leumund.6 Doch das radikal vereinzelte Selbst des Daseins ist ja seinem Sein nach Möglichsein. In seiner »ursprünglichen« Konkretion 7 zeigt sich eine »innere Möglichkeit«, in der die formale Bestimmung des Weder-noch ihren Grund in beidem findet. Das Keines-von-beiden (Ne-utrum) ist dem existenzialen Verstehen nach ein Jedes-von-beiden (Uter-que). Nicht im Sinne einer bloßen Denkmöglichkeit, sondern in dem einer ursprünglichen »Positivität und Mächtigkeit des Wesens« 8 ist das Dasein männlich und weiblich, jung und alt, religiös und areligiös. Es ist, als borgte sich Heidegger die frühe persische Deutung Adams, derzufolge in diesem Urmenschen alles dem Menschen Wesentliche angelegt ist, angefangen mit dem Männlichen und Weiblichen. Ganz deutlich ist bei Heidegger Metaphysik im Spiel. Anstatt auf den bloßen Begriff des »daß es ist und zu sein hat« abgemagert zu sein, weil alle lebenspraktischen Konnotationen fehlen, gilt dem existenzialen Analytiker die Verengung der Sicht ihrem Wesensgehalt nach als wahre Fülle. 5 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, 173 und Kontext. 6 Offenbarung 3,16. 7 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, 173–177. 8 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, 172.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
Dasein, das sich ganz seinem Zu-sein überantwortet weiß, hat ausschließlich dies im Sinn, nicht aber Essen und Trinken, Lieben und Hassen, Glauben und Zweifeln. Nichts darf auch nur den Anschein möglicher Geselligkeit erwecken. Die Vereinzelung ist eine absolute oder sie ist keine. Deutlicher wird das durch die existenziale Bestimmung des seinsmäßig Möglichen von der Art eigentlichen Seinkönnens. Um eigentliche, nicht um faktische Konkretion ist es zu tun, um Möglichsein, das dem Das-eine-oder-das-andere-Sein wesensmäßig vorausliegt. Als Mann oder als Frau da zu sein, besagt für Heidegger eine »Zersplitterung« und »Zerstreuung«.9 Jede lebensteilige Konnotation widerspricht der radikalen Vereinzelung als einer existentialen. So besteht eigentliches Seinkönnen allem zuvor darin, das »daß es ist und zu sein hat« zu übernehmen. Doch das ist nicht alles, es sei denn, es wüßte einer schon mitzuverstehen, was in der Übernahme des »daß es ist und zu sein hat« eigentlich übernommen wird: das Nichtsein, die eigene Unmöglichkeit. Das ist sein eigentliches Können: Das Dasein kann nicht mehr da sein. Jederzeit kann es, die Zeit ist unbestimmt, in Nichtmehr-da-sein »übergehen« und das heißt zu Nicht-mehr-dasein »werden«. Dabei verlangt das existenziale Verständnis des Seinkönnens, das Nicht-mehr-Sein, das der Fall sein kann, als das Möglichsein zu deuten, das die Selbstübernahme des eigenen Seins prägt. Für Heidegger geht es um das zuäußerst Mögliche: um die »eigenste eigentliche Möglichkeit«. 10 So wird das Nicht-mehr-da-sein-Können für das Dasein zu seinem unüberholbaren Sein-Können.
9 10
Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, 173 f. Wörtlicher Beleg: Sein und Zeit, 302.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
II. Antwortet Antigone Kreon: »Nicht zum gemeinsamen Hassen, sondern zum gemeinsamen Lieben bin ich da«, 11 so sagt das Dasein bei Heidegger nicht etwa entsprechend zu sich selbst: »Zum Nicht-mehr-da-sein bin ich da«. Es ist ja eben zum Seinkönnen da, zum Seinkönnen seines »Nicht-mehr-dasein-könnens«. Das Sterbenkönnen wird damit nicht zur Lebensaufgabe erklärt. Soweit er als Philosoph auftritt, hat Heidegger mit lebenspraktischen Vorschlägen nichts zu tun. Nur in einem außerordentlichen Fall können das Philosophische und Lebenspraktische bei ihm konvergieren, wenn er etwa einem schwer verunfallten Schüler ins Krankenhaus schreibt: »Nun muß die Philosophie praktisch werden«. In Anbetracht des Nicht-mehrda-sein-Könnens als des eigensten eigentlichen Seinkönnens stellt sich jetzt aber die Frage, inwiefern das radikal vereinzelte, isolierte und neutralisierte Dasein, das sich in seinem »daß es ist und zu sein hat« in einzigartiger Eigentlichkeit auf sein Nichtmehr-da-sein zu verstehen und zu entwerfen hat, ursprünglich und ständig schuldig sein können soll. Die Antwort darauf führt über den Gedanken der »Nichtigkeit«. Leben wird geboren. Dasein, wie Heidegger es denkt und sagt, wird geworfen. Erkennt das Seinswesen Mensch, daß es ist und zu sein hat, dann versteht es sich als geworfen. Es hat darüber, daß es existiert, nicht selbst verfügt. Daß dem Dasein das Überhaupt seiner Existenz nicht freisteht, läßt seine Geworfenheit als etwas »Nichtiges« verstehen. Als geworfen sei das Dasein nie seiner selbst mächtig. 12 Darum gehöre dieses Nie und Nicht zu seinem Sein. Das Dasein sei nie vor, sondern allein aus seinem Grund, was sein Grundsein als von nichtiger Art erklärt. Doch damit ist die Nichtigkeit des Daseins noch gar nicht ausgeschöpft. Variieren auch die Bestimmungen, wohinein das Da11 12
Sophokles, Antigone 523: outoi synechthein, alla symphilein ephyn. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 284 f.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
sein geworfen ist, dann ist es aber einzigartig in eine unüberbietbare Nichtigkeit geworfen. Ist es, wie in Sein und Zeit zu lesen, in die Existenz, die Welt, die Öffentlichkeit des Man geworfen, dann doch zuerst und zuletzt in den Tod. Tod steht für die »schlechthinnige Nichtigkeit des Daseins«. 13 Das genügt Heidegger, um denken und sagen zu können, daß das Dasein der geworfene und also nichtige »Grund seines Todes« sei. Was als schiere Zumutung erscheint, verliert seine Unverständlichkeit, sobald erinnert wird, daß die Seinsart des Daseins eigentlich das Möglichsein, das Seinkönnen ist. Heidegger legt selbst Fährten, ihn falsch zu verstehen, wenn er, folgt man dem Wortlaut, faktische Möglichkeiten anzeigt, solches also, das so oder anders sein kann, das sein oder nicht sein kann, obwohl er gedanklich allein existenzial bestimmte Möglichkeiten im Blick hat. So ist eben das Dasein in Anbetracht seines eigentlichen Seinkönnens, genau gesprochen, nicht in den Tod geworfen, sondern in das Sein zum Tode. 14 Heidegger hat wohl das christliche »in den Tod gegeben« 15 im Ohr, einen Tod, der eigentlich, weil mit der Verheißung des Auferstandenen verbunden, nicht Tod ist. Heidegger will in Sein und Zeit nichts von Sünde und Auferstehung wissen, aber »Sein zum Tode« ist eben doch der für die endliche Existenz überraschende Gedanke, die Unmöglichkeit der Existenz als Möglichkeit zu denken. Hält man sich das Ergebnis der existenzialen Formalbestimmung des Daseins vor Augen, dann zeigt sich ein Selbstsein, das eigentlich mit nichts anderem als seinem Nichts konfrontiert ist, dies allerdings auf vermögende Weise: Es hält sein Nichts aus, trägt es aus. Nichtiger Grund seiner Nichtigkeit zu Martin Heidegger, Sein und Zeit, 306. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 348. Vgl. S. 329: Im Sein zum Tode bzw. zum Ende ist »das Dasein eigentlich ganz als das Seiende, das es ›geworfen in den Tod‹ sein kann.« 15 2. Korinther 4,11: aei gar hêmeis hoi zôntes eis thanaton paradometha dia Jêsoûn, Luther: »DEnn wir/ die wir leben/ werden jmerdar in den Tod gegeben/ umb Jhesus willen.« 13 14
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
sein, ein Grund, der selbst als Geworfenheit in den Tod zu verstehen ist 16 – genau das soll besagen, daß das Dasein ursprünglich und ständig schuldig ist.
III. Schuld als nicht erfüllte Forderung versteht sich aus einem Nicht im Rahmen des Güter- und Rechtsverkehrs. Die existenziale Deutung von Schuld kennt keine dingliche, rechtliche und sittliche Schuld. Das mit ihr angesprochene Nicht versteht sich allein aus der Seinsweise des Daseins als Sein von Möglichkeit: Das Dasein hat sich nicht selbst ins Dasein gebracht, hat »nicht als es selbst sich zu eigen gegeben«. 17 Ständig bleibt es hinter seinen Möglichkeiten zurück, weil, gibt es die eine und andere Möglichkeit, es jeweils die eine nicht ist. 18 Das sind die »Nichtigkeiten« des existenzial verstandenen solus ipse, die es schuldig sein lassen. Es läßt sich nichts zu Schulden kommen. Ursprünglich schuldig, wie es ist, versteht sich das Schuldigsein als konstitutiv für sein Sein. Weil es ursprünglich schuldig ist, kann es überhaupt erst schuldig sein. Sein Schuldigsein gehört zu seinem eigenen Seinkönnen. Gelingt es Heidegger durch die formale Verbindung der Nichtigkeit, die das Dasein bestimmt, mit der, die das Schuldigsein bestimmt, dem Dasein das Schuldigsein zuzusprechen, dann möchte man kritisch fragen, warum ausgerechnet Endlichkeit die maßgebliche Rolle bei der Frage des Schuldigseins spielt. Die Antwort ist durch den Isolations- und Neutralitätscharakter des Daseins vorgezeichnet. Geht es nämlich um das »mögliche Ganzsein des Daseins« und dabei gezielt um sein »eigentliches Ganzseinkönnen«, dann bleibt für das Verständnis des Wortes 16 17 18
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 308. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 284. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 284 f.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
ganz, das im Mittelhochdeutschen vollkommen, unversehrt, heil bedeutet, allein der Verweis auf das Ende des Daseins: Das Dasein ist »ganz«, wenn es nicht mehr da ist. Aber gerade das Ende kommt in der existenzialen Analyse nicht als ausstehendes Faktum in Betracht, sondern als Seinsmöglichkeit. Um in Momenten seiner Existenz ganz zu sein, bedarf es für das Dasein des Seins zum Ende, mit anderen Worten des Seins zum Tode. Das ist die einzige Möglichkeit, seine Nichtigkeit zu sein und somit schuldig zu sein. Die Selbstheit des Daseins in seinem Ganzseinkönnen ist ohne Andersheit, ohne Alterität. Besteht die Möglichkeit für den Mann, ganz Mann zu sein, in seinem Umgang mit Frauen und Männern, die Möglichkeit für den Kranken, ganz Kranker zu ein, in seinem Umgang mit Pflegern und Therapeuten, dann ist das Dasein, um ganz zu sein, radikal auf sich allein gestellt. Sein eigentliches Ganzseinkönnen einzig und allein im Sein zum Tode zu finden (es versteht sich: zum »eigenen« Tod, der als solcher keinen Schmerz und keine Trauer als auf ihn bezogen möglich macht), zeigt den existenzialen Solipsimus in Höchstform. Das ist eine gute Möglichkeit, Heideggers Existenzialphilosophie von existenzialistischer Philosophie zu unterscheiden. Er fragt eben gerade nicht nach der Möglichkeit des Daseins, ganz da zu sein, nicht nach der höchsten Möglichkeit konkreter faktischer Existenz.
IV. Damit dem Dasein seine radikale Vereinzelung gelingt und zur Gewißheit wird, setzen ihm Gewissen und Angst zu. Wird durch den Ruf des Gewissens »das Selbst […] zu ihm selbst gebracht«, 19 so wird es damit auch schon an sein Schuldigsein erinnert. Heideggers Konzept des Gewissens sieht es nicht als 19
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 273.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
Sachwalter des Sittlichen im Umgang der Menschen miteinander vor. Das Dasein hat niemals Schuld gegenüber Anderen, sondern ist allein in Bezug zu sich selbst schuldig, und dies unaufhebbar, weil zu seinem Wesen gehörig. Ständig schuldig zu sein mit der Möglichkeit, schuldig werden zu können, zeigt das Dasein vor der Wahlmöglichkeit: sich selbst zu wählen oder nicht sich selbst zu wählen. Den Aufruf zum eigensten Selbstseinkönnen zu hören, heißt, sich auf die eigenste Schuld zu verstehen. Will man den Ort erfassen, an dem das Dasein am reinsten gewissenshörig ist, dann kann er nur die absolute Fremde heißen, die Abwesenheit jeder Form von Heimat. Heidegger spricht von der Unheimlichkeit, die das »Un-zuhause« meint. Die Befindlichkeit aber, die Unheimlichkeit erfahren läßt, sei die Angst. In ihr werde es einem »unheimlich«. Man wisse sich durch nichts gehalten. Bodenlosigkeit herrsche, alles sei in der Schwebe. Heidegger erkennt darum in der Angst die »Grundbefindlichkeit« des Daseins. Dem existenzialphilosophisch formierten solus ipse wird zwar auch der Affekt der Freude nachgesagt, doch wie die erdacht ist, handelt es sich um eine »gerüstete«, die mit der »nüchternen« Angst zusammengeht, 20 eine Freude, die sich allein daraus speist, als Selbst von allem geselligen und geteilten Leben befreit, ja von ihm entrückt zu sein. Aus der Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Sein zum Tode geworden, die Angst vor dem Ergreifen der eigensten eigentlichen Möglichkeit. So ist denn das Dasein in seiner Eigentlichkeit ständig nichtig, ständig schuldig, ständig in Angst. Ob Nichtigsein, Schuldigsein oder Sichängsten, jedesmal geht es um das eigenste Seinkönnen. Sagt Heidegger: »Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst«, 21 dann vervollkommnet sich das Bild vom Seinswesen Mensch, das die existenziale Bestimmung zeichnet: Aus der Unheimlichkeit in die Unheimlichkeit geru20 21
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 310. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 266.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
fen, nichtig und Grund einer Nichtigkeit vor das Nichts der Welt gestellt, von Grund auf durch Angst und nichts als Angst gestimmt, weil vom Tode wie vom Sein zum Tode bedroht, macht es sein »daß ist es und zu sein hat« in extremis wahr.
V. Das Dasein kann sich nicht entschulden und entschuldigen, will es nicht und ist auch nicht dazu aufgefordert, weder von anderen Mächten noch von sich selbst. Mit dieser Unmöglichkeit, Unwilligkeit und Befreitheit ist jedem Ansinnen, das Dasein habe sich für sein Da-Sein zu rechtfertigen, der Boden entzogen. Wer sich rechtfertigt, weist eine Schuld von sich, die ihm gegenüber geltend gemacht wird. Doch himmlische und irdische Richter, Gerichtshöfe der Vernunft und der Moral, urteilende und verurteilende Öffentlichkeit jedweder Art sind chancenlos, in Anbetracht des Daseins und seiner Existenz tätig werden zu können. Auch von ihm selbst kann nicht gegen sich selbst die Forderung gestellt werden, sich für sein Da-Sein zu rechtfertigen. Als das solus ipse, das es ist, ist sein Gewissen rein solipsistisch. Der Ruf, der aus dem Unheimlichen ins Unheimliche ruft, ist ein Selbstruf. Indem er das Dasein zu sich selbst aufruft, ruft er es auch schon zu seinem Schuldig- und Nichtigsein auf: das in seinem Sein zu übernehmen, was es seinem Sein nach ist. Da es nicht vor seinem Grund, sondern aus ihm existent ist, 22 seines eigenen Seins also nie von Grund auf mächtig ist, kann es unmöglich seinen Grund verantworten. In der Überantwortung an das »daß es ist und zu sein hat« kann das Dasein zwar dem Selbstruf folgen und insofern gewissenshörig sein. Damit aber übernimmt es für sein Existieren nicht schon eine Verantwortung, durch die es dasselbe im ganzen rechtfertigte. In den Tod als in das Sein zum Tode geworfen, gibt es das Bild von einem 22
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 284. Siehe auch oben S. 54.
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
Wesen, das nichts von einer Bedürftigkeit nach Selbstrechtfertigung und nichts von einer Fähigkeit zu ihr weiß, das aber, betrachtet man dieses Konstrukt der Existenzialontologie von außen, mit traditionellem Pathos gesprochen, sehr wohl nach Erlösung schreit. Wie stark auch in dem so konstruierten Dasein die Differenz von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit gewichtet wird, so reicht doch die reinste Authentizität nicht aus, daß das Dasein sich als Da-Sein rechtfertigte. Wer, wie ich, Heidegger sein nicht von Gott und Religion handelndes Werk Sein und Zeit mit kryptischer religiöser Verve schreiben sieht, erkennt in dem isolierten und neutralisierten, nichtigen und schuldigen, geworfenen und sich ängstenden Selbst keine Negation von Religiosität. Insbesondere das verschiedene Nicht, das seine Nichtigkeit demonstrieren soll, entdeckt die Absicht des Ontologen, zu zeigen, daß der Mensch kein Gott ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß in Sein und Zeit insgeheim an die Rechtfertigung des Seinswesens Mensch durch einen Gott gedacht wäre. Auch ist besser der Assoziation nicht nachzugehen, im existenzial bestimmten Selbst einen Schrei nach Erlösung zu sehen. Viel eher hat es bereits der Autor von Sein und Zeit mit dem Geschick zu tun. Das Werk beginnt mit dem Gedanken der Notwendigkeit einer Wiederholung. 23 Das von ihm gedeutete griechische Denken und das von ihm selbst vorgeführte deutsche Denken werden in eine geschickhafte Beziehung gesetzt. Heidegger arbeitet vom Beginn seines Seinsdenkens an am Gedanken der Erfüllung des Denk- und Seinsgeschicks. Deswegen kann die Skizze, die vom rechtfertigungsunbedürftigen und rechtfertigungsunfähigen Dasein ausgeführt wurde, so stehen bleiben. Etwas anderes ist es, in Heideggers Denken der 30er bis 50er Jahre der geschickhaften Beziehung von Denken und Sein, aber auch von Mensch und Gott nachFür eine ausführliche Darstellung dieser Problematik siehe Verf., Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust, 38 f.
23
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6. Martin Heidegger: »ursprünglich schuldig«
zugehen. Die Frömmigkeit des Denkens etwa, zunächst bestimmt als Fragen, dann als Hören; die Idee einer Stimme des Seins und der Sprache als Herrin; die Ernennung des Menschen zum Hirten des Seins; die Ortung des Menschen im Geviert: als signifikant Sterblicher und signifikant nicht Unsterblicher; als auf der Erde zuhause und signifikant nicht im Himmel; das »den Tod als Tod vermögen«; das Wesen von Technik und Metaphysik als geschickhafter Mächte, die einen Gott erfordern, um die Seinsbestimmung des Menschen zu retten – das alles sind »Wegmarken« eines eschatologisch orientierten Geschickdenkens. Nicht die Rechtfertigung eines Einzelnen, auf sein Seelenheil Bedachten beschäftigt Heideggers Denken, sondern die Erfüllung eines geschickhaften Auftrags, der an ein ethnisch begünstigtes Denken ergangen ist: an das deutsche in der geschickhaften Erbschaft des griechischen. Auch der ins Auge gefaßte letzte Gott, in dem die geschickhafte Beziehung von Denken und Sein, von Mensch und Gott ihre eschatologische Erfüllung finden soll, wird ein ethnisch bestimmter sein. Ob am Ende im Erwähltsein und Berufensein (eklekton und klêton) des deutschen Denkens etwas analog zum durch Gnade Gerechtfertigtsein gemeint war, bleibe dahingestellt.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
I. Blaise Pascal hat seine Not, Zeitgenossen davon zu überzeugen, daß sie nichts nötiger hätten als den Christusglauben. Sein Argument: Das schuldbeladene zeitliche Leben sei absolut kurz. Um schuldbefreit wirklich lebendig zu sein, bedürfe es des ewigen Lebens. Auch herrsche auf der Erde Haß, sie selbst sei verhaßt. Allein im Himmel, wo der auferstandene Menschenerlöser zur Rechten Gottes sitzt, gebe es Liebe. Martin Heidegger ist von der »Not der Notlosigkeit« umgetrieben und hält es für geschickhaft, daß er mit ihr nicht überzeugen kann, wie er möchte, wie er zu müssen glaubt. Dahinter steckt der von ihm selbst generierte Gedanke des Seinsgeschicks: Die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit herrsche. Alles komme auf das Denken und Dichten an, daß es zu einem eigentlichen werde und sich in den Dienst der Wahrung der Wahrheit des Seins stelle. Wenige Jahre zuvor ist es der dreißigjährige Karl Barth, der sich mit Elan neu der Not des Christusglaubens annimmt. Er übertrifft darin an Intensität und argumentativer Kraft Pascal. Er bringt es fertig, sich mit Paulus zu messen, dem in seinem Brief an die Römer mit zwingender Logik der Nachweis der absoluten Notwendigkeit gelungen ist, als Mensch, den die christliche Botschaft erreicht hat, ihr mit allem Glauben des Herzens zu folgen. »Gott bewahre uns«, so zitiert Barth ein Stoßgebet, »vor der Gemeinheit der Gesinnung, der es so recht ist auf Erden, die es nicht anders und besser haben will, als vor dem ewi62 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
gen Verderben selbst!« 1 Zufriedenheit mit der Lebenswelt ist dem Unheil, das geglaubterweise aus dieser Welt der Sünde folgt, gleich. Das ist echte geistige Radikalität: Das, was sich von den entwickelten und bewährten geistigen Kräften erfassen und verantworten läßt, wird unendlich überstiegen – ins schlechthin Unbegreifliche. 2 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konkurrieren eine religiös-theologische und eine theologisch-philosophische Eschatologie um das für den radikal ausgespielten Geist Unerläßlichste, das für den einen das »Wachstum« mit Christus, für den anderen die Wächterschaft des Seins ist. Beide sind sich darin einig, daß die Wahrheit von Vergangenheit und Gegenwart ausschließlich der Zukunft gehört, wobei der Christustheologe auf eine Zukunft spekuliert, die in keiner Zeit liegt, der Philo1 Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919 (ed. Hermann Schmidt), Zürich 1985, 322. Barth zitiert Gottfried Menken, einen Theologen des 19. Jahrhunderts. Die diskriminierende Schärfe der Kritik an jeder Religionsunbedürftigkeit ist bis heute geblieben: »Das Prinzip Hoffnung ist keine Schande und kein Verbrechen, nicht naiv und nicht totalitär, sondern der Gegenentwurf zu einer unwürdigen Ideologie der Genügsamkeit und der Komplizenschaft mit den Dingen, wie sie nun einmal sind.« Jan Roß, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012, 202. 2 Es gibt freilich nicht nur religiöse, sondern auch ideologisch-politische Radikalität, die den bestehenden Verhältnissen, wie Manès Sperber sagt, mit dem »Klischee« des Unheilen kommt. Er hat die extreme Rechte und Linke im Sinn, die stets auf »System« erkennt, gleich Hitler, der stets das »System« der Weimarer Republik zum Feindbild machte. Dieser Sprachgebrauch ist zwingend totalitär, ohne Sinn für Nuancen und Details. Im Jahre 1973 sind die »radikalen Entwerter« mit ihren »elitären Überansprüchen« exemplarisch die »68er«, die mit Begriffen wie »Wohlstandsgesellschaft« und »Leistungsgesellschaft« genau die Gegenwelt bestimmen zu der, in der nicht entfremdetes Leben möglich ist. Das aber sei nur »ideologisch«, denn sie genössen nach Möglichkeit alles, was technischer Fortschritt und generöse Wohlstandsgesellschaft den gebildeten Ständen bieten. Manès Sperber, Das Klischee von der unheilen Welt, in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29. 07. 1973.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
soph aber auf eine in der Zeit, obgleich jedem Kenner seines spekulativen Entwurfs klar ist, daß diese erdachte Zeit rein gewahrten Seins keinen Ort im Gang der Zeit finden wird. Zählt die Zahl der von der Radikalität des Geistes Mitgerissenen und Überzeugten, dann hat der Theologe die Konkurrenz klar gewonnen. Wie sehr auch christliche Theologie und europäische Philosophie sich im Verlauf ihrer Geschichte gegenseitig gebraucht haben und füreinander fruchtbar gewesen sein mögen, so ist doch die eschatologisch gestimmte und ausgerichtete Kultur in Europa seit der Festigung des Christentums weit eher eine religiöse als eine nachdenkliche. Den geistig und poetisch empfänglichen Menschen auf ein letztes Rettendes einzustimmen, und dies in einem Geschichtsgang, der seine Notwendigkeit aus sich selbst gebiert, ist mehr ein Werk der Glaubensgeschichte als der Denkgeschichte. Von Adam bis Christus, vom griechischen Seinsdenken bis zum deutschen Seinsdenken – nein, das war keine echte Konkurrenz, das konnte für die Philosophie nicht erfolgreich ausgehen. Heidegger, wie er die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die geistige Szene herausforderte und nicht zuletzt in den deutschsprachigen Feuilletons präsent war, war nicht der Heidegger, der die Rettung einem »letzten Gott« zutraute, einem deutschen gar, sondern war der in ein bizarres Nazitum Verstrickte. Währenddessen hatten Barthianer das Wort auf den Kanzeln. Versucht man, sich philosophisch die Gründe zusammenzustellen, was den geglaubten Erlöser so weit mehr die Öffentlichkeit gewinnen ließ als den erdachten Retter, dann kommt als erstes das ganz andere Wahrheitsverhältnis in Betracht. Karl Barth verwendet wiederholt das Wort Plerophorie, das sich in den Paulusbriefen findet, als wäre es ein geläufiges Fremdwort. Bei der Lektüre der Stellen 3 entpuppt es sich als das Wort für das Nonplusultra christlichen Verhaltens zum Wort Gottes, Wort im Sinne von Botschaft (Kerygma). Sollen christlicher 3
1. Thessalonicher 1,5; vgl. Hebräer 6,11; 10,22; Kolosser 2,2.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
Glaube, christliche Hoffnung und christliche Einsicht (synesis) in größter Fülle und höchster Vollkommenheit angesprochen sein, das meint in unübertrefflicher Gewißheit, Festigkeit und Überzeugtheit, dann wird dieses Wort gebraucht. Da aber christlicher Glaube, wie Karl Barth Paulus liest, immer noch im Wachsen begriffen ist, schließt dieses Wort den Glauben bis in die Zukunft ein, die nicht in der Zeit liegt. Es ist so das einzigartige eschatologische Wort des Glaubens: des »bis ans Ende« gedachten Glaubens, der als Glaube endet und ins Sehen übergeht. Darum bescheinigt Barth dem mit dem Wort Benannten immer auch noch ein »jetzt noch nicht ganz«. Der Gebrauch des Wortes läßt aber bereits keinen Zweifel mehr aufkommen, daß die Spannung, die den christlichen Glauben im Sinne des Vertrauens und Hoffens als eines Verhaltens in der Zeit angesichts des Noch-Nicht der Ewigkeit beherrscht, keinerlei Ungewißheit zuläßt. Der Gläubige ist imstande, sich der Wahrheit seines Glaubens unbedingt vergewissert zu wissen. Wie Heidegger sich den letzten Gott denkt, kann der auch ausbleiben, so daß »wir« nicht gerettet werden. Das aber ist für Barths Gläubigen ausgeschlossen, wenn denn sein Glaube ein wahrer Glaube ist. Hebt Heidegger zugunsten der Seinswahrheit, die keine Aussagewahrheit ist, den Satzbau als Unterordnungssystem auf, um anstatt der syntaxis nurmehr die parataxis, das gleichrangig nebeneinander Geordnete gelten zu lassen, 4 so bleibt Barth bei der Wahrheit des Wortes und mit ihr bei der Wahrheit der Botschaft und der Verheißung. Kommen beide auch darin überein, daß es keinen epistemischen Zugang zur Wahrheit gibt, so führt doch des Theologen verheißender Gott und des PhilosoHeidegger findet diese Art von Sagen zum Beispiel in der ersten Zeile von Fragment 6 des Lehrgedichts des Parmenides, die er wie folgt übersetzt: »Es brauchet das Vorliegenlassen so (das) In-die-Acht-nehmen auch: Seiendes seiend.« (Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, 175. Das Unterbleiben jeder Unterordnung und die dafür nötige Infinitivisierung gelingen nicht ganz: Ein konjugiertes Verb reagiert den folgenden Akkusativ.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
phen stimmhaftes und wesendes Sein zu grundverschiedenen »Methoden« der Verifikation. Ist es im Kern beim Theologen der Glaube, beim Philosophen das Denken, das den Menschen fähig zur Teilhabe an der Wahrheit macht, dann muß doch der Glaube genauer als Gnadengeschenk und absolutes Wunder und das Denken als hörendes, vernehmendes und dichtendes im Ereignisgeschehen des Wahren gedeutet werden, um bei beiden die Absicht zu verstehen, daß das Verifizieren eigentlich vom truth-maker selbst ausgehen soll. Die göttliche Verheißung ist für Barth wirklich eine Verheißung, eine Ankündigung göttlichen Tuns. 5 Das aber ist ihm keine Ankündigung ins Ungefähre, nichts, das zurückgenommen werden oder einfach in seiner Erfüllung ausbleiben könnte. Wer verständlicherweise so denkt, hat nicht mit dem Glauben gerechnet, der das Unbegreifliche fertigbringt, die göttliche Verheißung als Wahrheit anzuerkennen. 6 Die göttliche Verheißung ist nichts bloß Sprachlich-Wörtliches, sondern ist dank des Glaubens eine Botschaft mit eigener Kraft (dynamis), mit heiliger Geisteskraft, ja mit der Kraft, ihre Erfüllung zur Gewißheit zu machen (plêrophoria). 7 Barth will jeden Anschein einer Erschleichung der wahren Gewißheit und gewissen Wahrheit vermeiden. »Im Objektiven liegt die Wahrheit!« 8 Er geizt nicht mit dem Hinweis auf Objektivität, wenn er die Wahrheitsfähigkeit des Glaubens demonstrieren will, wirkt doch im Gnadengeschenk des Glaubens der truth-maker selbst. Wer die absolute Wahrheit der christlichen Eschatologie bezweifelt, versteht sich nicht auf das absolute Wunder des Glaubens. Das ist alles.
5 6 7 8
Karl Barth, Der Römerbrief, 408. Karl Barth, Der Römerbrief, 112. 1. Thessalonicher 1,5. Karl Barth, Der Römerbrief, 113.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
II. Weiß man nicht, woher Heidegger in Sein und Zeit und woher Barth in Der Römerbrief sprechen, dann muß beider Kennzeichnung der Welt, in der Menschen ihr Leben teilen, als schlechtweg absurd in ihrer Malediktion erscheinen. Bei Heidegger ist es die Einseitigkeit der Sicht auf menschliche Alltäglichkeit, die verstört: Gerede, Neugier, Zweideutigkeit – so, und nur so verhielten sich Bürger und Bauern zueinander. Das Fehlen der Bodenständigkeit reicht bis zur völligen Bodenlosigkeit und Entwurzelung. Indem man redet, redet man weiter und redet man nach. Aus dem Schreiben wird Geschreibe; Zerstreuung herrscht. In der Vorbereitungszeit von Sein und Zeit ist entsprechend für jegliches Leben, das in den Tag hinein lebt, von Eitelkeit, Geschäftigkeit und Geschwätzigkeit die Rede, von Winkelzügen und Betriebsamkeiten. 9 Man trifft sich, ist gesellig, speist miteinander, freut sich aneinander, nein, nichts davon. Barth hält sich nicht speziell an den Umgang der Menschen miteinander, sondern an »diese Welt« (kosmos hode), wie Paulus formuliert, an die Welt also, in der wir leben und die wir gestalten, um ihr, und dies auch wörtlich, alle Schande nachzusagen. Noch heute sind, kommt ein Barthianer auf »diese Welt« zu sprechen, die Epitheta, die er für sie gebraucht, ausschließlich sie schlechtmachende wie »die dunkle«, »die kranke«, »die unerlöste«. Das heißt dann in der Tat, dem Meister gefolgt zu sein. Der sieht in ihr nichts als Trägheit, Bosheit und Tod, 10 Sinnlosigkeit, Schande und Entsetzen. 11 Doch der Theologe findet ein überraschendes weiteres Wort, das alle möglichen Invektiven unendlich überholt, ein Wort von logischer Klarheit. Er tut das wie nebenbei, merkt offensichtlich selber nicht, wie bedeutsam der Wech-
Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Tübingen 1995, 17 f. Karl Barth, Der Römerbrief, 342. 11 Karl Barth, Der Römerbrief, 344. 9
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
sel des Modus ist, wenn er von »einer in sich als unmöglich erkannten Welt« spricht.12 Unmöglich gekleidet zu sein, ist ein Urteil des Zeitgeists und der Mode. Die Unmöglichkeit der Welt entdeckt ein ganz anderes Urteil: Sie hat von Gott keine Lizenz zu Wirklichkeit und Wahrheit. Das ist es: Kein Mensch, der das Leben bejaht, könnte und wollte Barth in seinem Welturteil folgen, hätte er doch, gleich der Welt, für sein Leben keine Lizenz. Da muß schon ein Heilsplan Gottes geglaubt sein, der »diese Welt« als die der Sünde vorsieht, der menschenverschuldeten Nichtigkeit, damit göttliche Heilsgnade den Gang der Glaubensgeschichte in Bewegung setze vom Nichts ins Sein, von der Menschenteilhabe an der Urversündigung Adams zur Menschenteilhabe an der Erstauferstehung Christi. Wird unsere Lebenswelt rein glaubensgeschichtlich als Austragsstätte menschlicher Widergöttlichkeit (Sünde) gesehen, dann kann der Schmäh gar nicht stark genug sein, den sie verdient. Für Heidegger bedarf es zur Erklärung der »Unmöglichkeit« der Welt nicht der Erbsünde und des gleichursprünglichen Erbtodes. Er deutet das, was er formal in den starken Worten Nichts und Nichtigkeit zusammenfaßt, als das Belanglos- und Bedeutungsloswerden alles »Zuhandenen« und »Vorhandenen«. Was sind schon, muß sich der Existenzialontologe fragen, was sind schon Liebesgedicht auf den Lippen, Wein auf der Zunge, Melodie im Ohr und Freund an der Hand, wenn doch allein im »Sein zum Tode« die Existenz eigentlich ergriffen wird? Nichts »sagt« mehr etwas. Alles versinkt in leere »Erbarmungslosigkeit« und »Unbewandtnis«. Existierend vor dem Nichts der Welt tut sich das »In-der-Welt-sein als solches« auf. 13 Hält man sich von einer Gesamtdeutung von Sein und Zeit zurück, die insbesondere eine Berücksichtigung seiner kryptischen Religiosität und seiner latenten Bezugnahme auf den 12 13
Karl Barth, Der Römerbrief, 84. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 186, 187, 343.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
Grundsatz religiöser Poesie »Der Mensch ist kein Gott« erforderte, dann ist es die in ihrer Motivation kaum erklärbare abwegige Dramatisierung menschlicher Endlichkeit, aus der sich die Malediktion lebensteiligen Verhaltens als eines Ausbunds von Vulgarität speist. Das Schaudern vor der eigenen Faktizität, vor dem eigenen Ergreifen der Geworfenheit in das Sein zum Tode hätte dann seinen Grund in der Geistigkeit des Daseins. Doch das ist nicht der Weg der Evolution. Was hier, bei aller Hervorhebung seiner Wesentlichkeit für das Dasein, zur Diskriminierung des »Man« führt, ist ein Produkt menschlicher Selbstpoetisierung, nicht aber ein Produkt biologischer Evolution. Karl Barth dagegen spielt mit offenen Karten, ja er spielt das große Nullouvert, indem er aufdeckt, daß und warum es mit der nicht durch Christus erlösten Menschheit schlechtweg nichts ist. Nicht nur die Welt, in der wir leben, sei »unmöglich«, sei »absurd« und »irrational«, sondern auch die Tat, der wir ihre Unmöglichkeit verdanken, sei eine »unmögliche« gewesen, die Tat Adams. 14 Damit erhält die Exposition des von Paulus inszenierten Glaubensdramas das höchste Siegel der Unwirklichkeit. Versteht man den Gedanken, daß Gott dieser Tat, wie Barth sich über seinen Glauben verständigt, keine Lizenz erteilt hat, wahr und wirklich zu sein, dann ist das kein Paradoxon. In diviner Sicht sind allein Heilstaten wirklich, Sündtaten dagegen nicht. Gott brauchte die Sünde, um seine Barmherzigkeit demonstrieren zu können, aber er brauchte sie nicht »wirklich«, da er sonst ihr Grund gewesen wäre. Die Heilsgeschichte funktioniert nicht ohne die Sünde, aber diese Geschichte, die als die der Allmacht Gottes erzählt wird, gibt allein dem Menschen die Schuld an der Sünde, an dieser, wie Barth treffend sagt, unmöglichen Tat. Eine dritte und letzte Unmöglichkeit, die in diese Reihe gehört, ist die Unmöglichkeit, sich mit der Welt der Sünde zu arrangieren. 15 Auch das geringste Ja zu dem, was in der Sicht 14 15
Karl Barth, Der Römerbrief, 297. Karl Barth, Der Römerbrief, 353.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
des Gläubigen ein Nichts ist, bedeutete ein Entsagen der göttlichen Verheißung. Dennoch sieht Barth den Christen nicht verdammt zur absoluten Tristesse. Es gibt mehr im Leben als die von Paulus so groß herausgestellte Trübsal und Bedrückung: »Wir können uns der Gegenwart freuen, trotz Allem, weil sie die Zukunft Gottes in sich trägt.« 16 Stellt Gott keinem Menschen auch nur den geringsten Unglauben frei, dann ist doch jedem Funken Hoffnung die Lizenz erteilt: die Lizenz der Wahrheit und Wirklichkeit. Das sind die theologischen Manöver: Der Mensch der Gegenwart lebt leibhaftig, aber, ist er gläubig, dann ist sein Fleisch, obwohl des Todes, doch nicht mehr das der Sünde, sondern schon vom Geist beherrscht. Auch mit Heideggers Welt als dem Woran des Verfallenseins gibt es kein Arrangement. Das »Positive« an der Flucht vor sich selbst, am Verlust des Selbst an das Man-Selbst ist allein, das Selbst so zu positionieren, daß es das vom Gewissen Angerufene ist, sich als eigentliches Selbst zu ergreifen. Eine Verheißung ist freilich mit dem Ruf des Gewissens nicht verbunden, es sei denn, man sehe in Heideggers Gedanken eines »eigentlichen Ganzseinkönnens«, wie es ein von ihm zwei Jahre nach der Publikation von Sein und Zeit verfaßter Brief nahelegt, den Gedanken der Gnade eines Gottes angesprochen. 17
III. Bei Barth wie bei Heidegger ist die Sicht der Gegenwart durch den Blick auf die Zukunft bestimmt. Das, was »wird«, was »kommt«, ist das Eigentliche. Wie aber beide Zukunft als die eigentliche Zeit verstehen, und sei sie gemeint als Zeit nach der Zeit, entwickeln sie auch schon Intuitionen, daß in dem Werden Karl Barth, Der Römerbrief, 171. Martin Heidegger – Elisabeth Blochmann. Briefwechsel 1918–1969 (ed. Joachim W. Storck), Marbach a. N. 1989, 31 f.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
und Kommen der Zug zum Guten als dem »Eigentlichen« unausweichlich und unaufhaltsam ist. Haben Heidegger und Adorno ihrer philosophischem Glauben geschuldeten Intuition mit dem Hölderlinwort »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« Ausdruck verliehen, sieht Barth in seinem christlichen Glauben intuitiv auf ein Geheimes und Tiefstes, das sich Gott verdankt: und es wird allem, was sein und geschehen wird, eine geheime Tendenz zum Guten innewohnen.18
Da Geschichte für Barth im »eigentlichen« Sinne allein die Heilsgeschichte sein kann, muß die Geschichte der geheimen Besserung die »sogenannte« sein. Es ist die Geschichte des von Gott getrennten Menschen. Ist das Heil da, dann ist diese uneigentliche Geschichte »abgeschlossen, in ihrer tiefsten Tendenz erfüllt und vollendet«. 19 Daß das von Barth geglaubte Heil nicht in der Zeit liegt und die von Heidegger erdachte Rettung nicht in Sicht ist, lassen die versierten Eschatologen erst gar nicht als eine Beeinträchtigung ihres Glaubens und Denkens erscheinen, indem sie lautstark das »wieder« proklamieren. Versetzt Barths Glaube auch keine Berge, dann doch auf unfaßliche Weise den Geist. So erscheint für die Glaubenswelt und Glaubensgeschichte das Leben Adams und Evas vor dem Übertreten des göttlichen Verbots als das für wahres Menschsein maßgebliche Faktum. Der Theologe besteht darauf, daß erst dann, wenn der Tod »nicht mehr« herrscht, das Leben »wieder menschlich« werden, ja sich dann, und erst dann der Mensch »dem Leben wieder vertrauensvoll hingeben« könne. 20 Männlich und weiblich zu sein, aber endgültig vor jeder Karl Barth, Der Römerbrief, 343 f. Bei der unsichtbaren Hand von Adam Smith ist es dagegen das freie Spiel egoistischer Marktkräfte, das zum Guten führen soll, und damit keine Tendenz, die diesen Kräften selbst innewohnte. 19 Karl Barth, Der Römerbrief, 85. 20 Karl Barth, Der Römerbrief, 345. 18
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
Entdeckung der Geschlechtlichkeit zu leben, das allein stelle die Menschlichkeit des Lebens und das Vertrauen in das Leben wieder her. »Denn wenn der Mensch Gott wieder hat«, Karl Barth zitiert seinen Vater Fritz, »so hat er alle Fülle des Lebens und der Seligkeit.« 21 Man rätselt, ob zu dieser Fülle und Seligkeit eine geschlechtsfreie pneumatische Liebe gehören könnte oder ob sich der Mensch auch im Geiste nicht »erkennen« darf. Damit stellt sich die Frage, inwiefern der Paradiesmythos und mit ihm das Kosten von der verbotenen Frucht überhaupt als Anhalt für das Wieder tauglich ist. »Im Christus sein heißt dem Baum des Lebens, von dem wir uns losgerissen, wieder eingepfropft werden.« 22 Das überholt noch die Freizügigkeit des Paulus im Umgang mit dem Text der Genesis: Als Reis am ewigen Baum des Lebens lebt der Mensch wieder (!) ewig – die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen außer Reichweite, ja mehr noch: Das Gekostethaben von diesem Baum ist ungeschehen gemacht. Barth denkt an eine Natur des Lebens, es versteht sich: an seine wahre. Dann kann, wie der Theologe es gewohnt ist, das Leben nichts als das Leben meinen, und dies auf ewig, weil alle das Heil deutenden Begriffe nicht anders als absolut zu gebrauchen sind. Die wissenschaftliche Erkenntnis, daß organischem Leben seine Endlichkeit eingeboren ist, hat gegen die absolute Sprache und die durch sie vollzogene pneumatische Entrückung des Geistes keine Chance. Im Christus sein heißt die neue oder vielmehr urälteste Natur des Lebens, seine Natur in Gott, ungekünstelt und unverworren und unbedenklich wieder gelten und wirken lassen. 23
Das Urälteste ist nichts Ältestes einer »sogenannten« Geschichte, sondern ist gleich dem Ursprünglichen der Anfang der »eigentlichen« Geschichte, der vor jedem Zeitgang von Geschichte 21 22 23
Karl Barth, Der Römerbrief, 172. Karl Barth, Der Römerbrief, 297. Karl Barth, Der Römerbrief, 297.
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liegt. Das Ursprüngliche gibt dem Wieder seine feste Ausrichtung und im Erreichen des Wieder seinen festen Halt. Das ursprüngliche und eigentliche Leben, das die christliche Verheißung dem Gläubigen verspricht, ist von organischer Art, wenn denn das ursprünglich Organische von pneumatischer Art ist: Das organische Einheitsverhältnis zwischen Gott und Mensch und darum zwischen Mensch und Welt ist wieder gefunden. 24
Jetzt muß man aufpassen, bei der Nennung der Welt ja nichts mitzuhören, was unsere Lebenswelt zu Wort kommen ließe: Er [Gott] will die verlorene Welt heimrufen, wieder herstellen in ihrer ewigen, ursprünglichen Gestalt. Er will, daß seine Ordnung wieder gelte, nachdem sie lange zerstört war. 25
Barth beruft sich auf den von Paulus in Athen öffentlich beschworenen Gott, in dem wir leben (en autô gar zômen), 26 wenn er ihn als den herausstellen will, »der eine neue, die ursprüngliche Menschheit schafft«. 27 Das ist theologische Kunst, eine Verheißung, die für den Gläubigen den Ausblick freigibt auf ein letztes Ereignis, das in keiner Zeit statthat, durch ein Wieder, dreifach emphatisch gefaßt als das Wahre, Eigentliche und Ursprüngliche, mit den Insignien der Realität zu versehen. Kann Heidegger mit seinem Gedanken der Rettung nichts vom Range der christlichen Verheißung einer organisch-pneumatischen Vereinigung von Gott und Mensch seiner Hörer- und Leserschaft vorgeben, obwohl auch er eine ereignishafte Versöhnung von Mensch und Gott im Sinn hat, dann hat bei ihm der Gedanke des Ursprünglichen eine weitergehende Ausführung erhalten. Hält sich bei Barth das Wieder des Wiederfindens und Wiederherstellens an ein Ursprüngliches, das im Ursprung Karl Barth, Der Römerbrief, 85. Karl Barth, Der Römerbrief, 398. Vgl. S. 343: »zur Wiederherstellung des Welt- und Menschenlebens im Frieden Gottes«. 26 Apostelgeschichte 17,28. 27 Karl Barth, Der Römerbrief, 137. 24 25
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und im Wieder ein und dasselbe ist, so hat Heidegger das neue Ursprüngliche durch einen Komparativ verändert. Anstatt daß das Neue im Grunde einem Déjà-vu stattgibt, ist es eindeutig Neues und Niegewesenes. Natürlich haben auch Paulus und Barth eindeutig Neues im Sinn, aber die sprachliche Formulierung gibt bloße Wiederholung zu verstehen. Besteht ein »Verlust der unmittelbaren Anschauung Gottes«, 28 dann hört sich das an, als könne genau diese Unmittelbarkeit wiedergewonnen werden: Wir werden dann (Apokalypse 21,4: »denn das Erste ist vergangen«) […] im Schauen Gottes wieder stehen, aus dem wir durch Gefangennahme der Wahrheit […] herausgefallen sind und das wir jetzt erst wieder suchen und uns schenken lassen müssen. 29
Die Gefahr besteht, Christus ganz für das Wieder zu instrumentalisieren, anstatt die Vollendung der Heilsgeschichte eigens als Ereignis von etwas gänzlich Neuem herauszustellen. Heideggers Komparativ heißt »ursprünglicher«. Das Ursprüngliche wird für ihn nicht einfach wiederholt, sondern wird ursprünglicher wiederholt. Nun ist aber für ihn, anders als für Barth, das Ursprüngliche nichts von der Art eines ursprünglichen Zustandes, der sich wieder herstellen läßt. »Ursprünglicher« und auch »ursprünglichst« sind methodische Anweisungen, bei Wesenserschließungen immer noch einen Schritt weiter zu gehen. Gilt es, die Seinsfrage der griechischen Ontologie zu »wiederholen«, wie es der § 1 von Sein und Zeit vorgibt, dann heißt das, in die Wesensherkunft der Griechen und ihres Denkens zurückzugehen und in diesem Sinne »ursprünglicher« als sie selbst die Sache in den Blick zu bringen. Griechisches Denken zu wiederholen, meint ausdrücklich nicht, noch einmal so zu denken wie die Griechen. 30 Der Wunderglaube, der Paulus und Karl Barth, Der Römerbrief, 201. Karl Barth, Der Römerbrief, 526. 30 Martin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, 137 f. 28 29
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Calvin, Pascal und Barth eint, in der Paradiesgeschichte keine poetische Selbstauslegung des Menschen, sondern eine Faktensammlung zu sehen, macht Ursprüngliches und Ursprung zu faktischen Zuständen und Ereignissen, denen keinerlei Poetizität eignen soll. Das läßt das so beherzt eifernde, ja bisweilen gehetzt anmutende Argumentieren des jungen Karl Barth so fatal erscheinen. Noch einmal muß man sich das Prädikat »unmöglich« vor Augen halten, wie er es unter anderem der »Tat« des Adam zuspricht. Wie will man bei einem poetischen Bild dazwischenfahren und rufen: Nein, nein, das gehört sich nicht, in einem Garten von der Frucht eines Baumes zu essen, wenn es der Herr des Gartens ausdrücklich untersagt hat? Das gläubig, das rechtlich-sittlich und das faktisch Unmögliche gehen eine fragwürdige Liaison ein, die allein in der Anerkenntnis ihrer Poetizität verständlich zu machen wäre. 31 In seinem Buch über Rechtfertigung preist Martin Walser die Radikalität menschlicher Selbstverneinung, um dem erlebbaren Mangel an Selbstrechtfertigung die gehörige Aufmerksamkeit zu verschaffen. (Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek 2012) Dabei schließt er sich der Radikalität des jungen Karl Barth an, seinem Überschwang des Glaubens, in dem jede Selbstbejahung und jeder Stolz verschwindet und nurmehr, wie am Ende bei Hiob, die absolute Unterwerfung übrigbleibt: »Nichts Menschliches bleibt übrig […], als Staub und Asche vor Gott«. (Walser zitiert Karl Barth, Der Römerbrief) Trotz diesem Vorbild genügen Walser am Ende vier Männer, um seinem gott- und rechtfertigungsbezüglichen Fehl-, Mangel- und Bedürfnisgefühl einen positiven Ausdruck zu verleihen. Sie gelten ihm als fromm, weil sie das Bild vermitteln, alles für einen Anderen zu tun, Mitleid mit Anderen zu haben und in ihrem Tun eigentlich ganz wo anders zu sein. Was ihr herausragendes eigenes Vermögen ist, verstünden sie als ein in Wahrheit geliehenes. Das ist kein Bereuen »in Staub und Asche«, (Hiob 42,6 f.) nicht, wie es nach Barth die Glaubensnot vorsieht, die Teilhabe an der »unmöglichen« Sündentat Adams, diesem »Erreger der Todeskrankheit« und der »Schreckensherrschaft« des Todes. (Karl Barth, Der Römerbrief, 175–77) Nicht von ungefähr sind es gerade diese »Frommen«, die Barth ins Visier nimmt, wenn der zu glaubende Glaube sich sein Gegenbild schafft. Sein ganzes Werk ist von der Schärfe des Tons durchstimmt, mit dem er den »Frommen« abstreitet, für die Her31
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IV. Das Drama der Geschichte als ein Drama der Wiederholung zu entwerfen, hat gute Gründe: Die Zeit verliert das lineare Undsoweiter. Sie wird rund, kreist und schließt sich. Freilich ist dabei in Kauf zu nehmen, daß die Geschichte, soweit sie in der Zeit verläuft, eine Geschichte des Abfallens und Verfallens ist. Die Gottesferne wächst, die »Verdüsterung der Welt« 32 nimmt zu. Wie aber die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes vergeht, kündet sich auch schon ein Ende des Dramas an, das, selbst wenn es eines mit Schrecken wäre, doch als Durchbruch zu Lichtem, ganz Neuem geglaubt und erdacht ist. So hat das Abfallen und Verfallen den Vorteil, daß man die Geschichte im ganzen eigentlich schon im Voraus kennt, dies zwar nicht in ihren Individualereignissen, aber in der Form ihrer Ausgestaltung. Barths und Heideggers Geschichtsentwürfe gleichen sich darin, daß sie den Anfang, um jetzt nicht Ursprung zu sagen, stark machen, aber nicht zu stark, damit er, so gut wie »sogleich«, nach nur kurzem Glanz und kurzem Aufleuchten, was Licht bis in die letzte Zukunft wirft, von sich selbst abfallen kann. Adam lebte immerhin im Paradies. Davon geht Barth aus. Aber dann tat er auch schon Unmögliches. Die Geschichte der Entfernung von Gott hatte als Menschengeschichte ihren Anfang genommen. Genau so hält es Heidegger mit seinem seinsgeschichtlichen Entwurf. »Die Grieausforderung des ganz neuen Gottesreiches geistig und geistlich gerüstet und geeignet zu sein. Zwei Beispiele: »Es gibt in der Tat eine Errettung vom göttlichen Zorngericht. Aber nicht, wie die Frommen und Gerechten meinen.« Erhellender noch: »Wo ist der Fromme oder der Idealist, der im Angesicht der kommenden neuen Welt noch trotzen dürfte auf seinen relativ besseren Stand in der alten? Was sollen die historischen Wertmaßstäbe, mit denen die verschiedenen ›Frömmigkeiten‹ und ›Sittlichkeiten‹ gemessen werden, wenn das Ende aller Zeiten nahe ist?«. (Karl Barth, Der Römerbrief, 66; 102) 32 Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954, 7. Die Verschattung des Lichten ist als Verschattung des »Seins« gemeint – ein Bild für »Seinsvergessenheit« und »Seinsverlassenheit«.
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chen« hatten immerhin die Seinsfrage gestellt. Sie hatten den Gedanken der Physis aufgenommen. Sie hatten etwas als Wahrheit ins Auge gefaßt, das nicht der Wahrheit der Aussage gleichkommt. Aber dann hatten sie diese »Gedankenblitze« nicht halten können. Spätestens bei Platon und Aristoteles sieht Heidegger schon alles Wesentliche des Anfangs verschüttet und vergessen. Beide tun gut daran, den Anfang stark, mehr aber noch ihn schwach und schlecht zu machen. Das bringt für die Wiederholung die Notwendigkeit mit sich, mehr als der Anfang zu sein. Die durch Christus gesicherte neue Gottesinnigkeit ist eine, die mit der im Paradies, streng geglaubt, unvergleichlich ist. Die Wahrung der Wahrheit des Seins, wie Heidegger sie in seinem Denken vorzubereiten vorgibt, ist, streng gedacht, unvergleichlich mit dem, was den Griechen in so blitzartiger Kürze glückte. Der Wiedergewinn des Ursprünglichen, wie er geglaubt und gedacht wird, ist zudem ein endgültiger. Das wirklich Neue, so verstehen es Glaube und Denken, wird unmöglich noch einmal aus sich selbst schwach.
V. Wer das Bedürfnis empfindet, vom höchsten Richter gerecht gesprochen zu werden, muß vom Glauben an die eigene »Unmöglichkeit« erfüllt sein, die Unmöglichkeit seines Lebens und seiner Lebenswelt, und damit auch schon von dem Glauben, daß es ohne Rechtsprechung durch Gott kein Recht auf Leben gibt. Barth formuliert: Die Signatur des im Christus ans Licht gebrachten Menschenwesens und das Bezeichnende der von ihm ausgehenden Wirkungen ist wiederum ein Urteil über die Menschheit, aber diesmal das Urteil, das das Recht des Lebens ausspricht.33
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Er nimmt damit Bezug auf Römer 5,18: Wie es durch den Fall des Einen für alle Menschen zum Todesgericht kam, so durch die Gerechtigkeit des Einen zum Recht des Lebens für alle Menschen. 34
Das hört sich nach einer ungeheuerlichen Usurpation an: Wer nicht an Jesus Christus als den Messias glaubt, wer nicht gläubig in wechselseitiger Liebe mit ihm lebt, habe kein Recht auf Leben. Doch das ist falsch gehört. Wir haben es vielmehr mit einer an Wunder nicht zu überbietenden religiösen Poesie zu tun. Das Lebensrecht, um das es hier geht, ist das Wohnrecht im himmlischen Jerusalem. Der Glaube scheidet das Leben nicht nach Stadt und Land, Jung und Alt, Geliebt und Ungeliebt, Berühmt und Unangesehen, im strikten Sinne nicht einmal nach Arm und Reich, Gesund und Krank, sondern ausschließlich nach Sündig und Erlöst. Wie es Paulus und Barth sehen und lehren, bedarf das Leben in Gesellschaft und Gemeinschaft keiner Rechtfertigung. Der Bauer braucht keine Rechtfertigung, um als Bauer sein Leben schlecht und recht zu leben, der Bankier keine, um sein Leben an der Grenze des Legalen oder auch jenseits von ihr mit Erfolg oder ohne Erfolg zu leben. Gerecht gesprochenes Leben ist einzig eine Sache des gläubig gelebten Lebens, Leben, das im Banne der Verheißung steht, jetzt, im Erdenleben, schon mit Christus zu »wachsen«, und dies mit Ausblick auf das »eigentliche« Leben, das ein voll mit Gott ausgesöhntes, ewiges ist. Wem das Bedürfnis nach Rechtsprechung des Lebens nicht bloß einsozialisiert oder gar indoktriniert ist, sondern wer es als das im Christusglauben lebendige Bedürfnis frei bejaht, muß, wie sich zeigt, ein begnadeter Künstler sein. Er wird dann nicht mit Blick auf Adam von Furcht und Entsetzen gepackt mea culpa, mea culpa rufen, sondern sich mitschöpferisch an einem Über-das-Leben-Hinaus beteiligen, an einem Glauben und Hoffen, das die Todlosigkeit des Lebens im Sinn hat. An den Erlöser34
Übersetzung von Karl Barth, in: Karl Barth, Der Römerbrief, 197.
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tod Christi zu glauben, daß er des Todes ewiger Tod sei, zeugt von poetischer Kraft sehr spezieller Art. Wer dieses Bedürfnis hat, muß es nicht rechtfertigen, sofern er Dankbarkeit für es empfindet. In diesem Falle wird er es als Gnadenerweis deuten, als Zeichen des Erwähltseins. Wie bei Werken der Seh- und Hörkunst Hinschauender und Zuhörer mitschöpferisch sein müssen, so der Gläubige bei Werken der Glaubenskunst. Nun gibt es allerdings auch den, der das Bedürfnis nach Rechtsprechung des Lebens nicht hat, ja, der sich um die geglaubte Notwendigkeit dieses Bedürfnisses nicht die geringsten Gedanken macht. Hat er unrecht? Müßte man ihn darüber aufklären, daß er dieses Bedürfnis sehr wohl nötig habe? Die Not, als Lebender gerecht gesprochen zu werden, ist eine Manifestation der Gerechtigkeit Gottes und ihrer Macht über den gläubigen Menschen. Wer an der Gerechtigkeit Gottes zweifelt oder eine solche Macht überhaupt in Frage stellt, glaubt nicht an das Jüngste Gericht. Gott kommen alle Prädikate, das muß der Adonaj- und der Christusgläubige lernen, nur absolut zu: Nur er ist gut, 35 nur sein Mund und Wort sind wahrhaftig, 36 nur er ist gerecht. 37 Weil nun aber Güte, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit typisch menschliche Züge sind, auch wenn sie in reinerer Form relativ selten in Erscheinung treten, ist dafür gesorgt, daß Gottes Güte, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit jedes Verstehen übersteigen. Darum kommt alles, was als durch Gott bewirkt geglaubt wird, als Zeichen seiner Güte, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit in Frage. Ist Gott gerecht, dann ist er ganz Gerechtigkeit, wie er auch allein ganz Liebe ist. Das verstehe, wer kann, aber es ist so: So muß es geglaubt werden, nur so ist es am treffendsten gesagt, was den religiös-poetischen Grundsatz anbelangt: »Der Mensch ist kein Gott«. Ist es die Seinsweise Gottes, gerecht zu sein, dann 35 36 37
Matthäus 19,12. Sprüche 12,9; Psalm 33,4. 5. Mose 32,4.
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genügt er darin nicht sich selbst. Er ist nicht etwa gerecht gegen sich selbst. Da im Alten und Neuen Testament auch nicht an ein kosmisches Gerechtsein gedacht ist (»im Recht sein« (en dikê einai) kann im Griechischen die Glätte des Meeres meinen, die Ausgeglichenheit), kommt für Gottes Gerechtigkeit ausschließlich der Mensch in Frage: Ihm gegenüber ist er absolut gerecht, unmöglich aber ungerecht. Bei Hiob paktiert Gott mit dem Satan (Septuaginta: diabolos). Er übergibt ihm alles von Hiob bis auf ihn »selbst« (autos). 38 Hiob muß so die einzigartige Erfahrung machen, daß Gott gegenüber menschlichem Gerechtigkeitsempfinden immun ist. Er wirft sich in den Staub, unterwirft sich der unbegreiflichen Gerechtigkeit Gottes, und alles ist wieder gut. Das ist gerecht. Gott haßt Esau, und dies schon vor dessen Geburt. Das ist gerecht. Genau dieser Gott ist dazu ausersehen, das ist das Mysterium des Glaubens, dem Menschen die Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, deren er um seiner selbst willen bedarf. Die Berufenen (klêtoi) und Erwählten (eklektoi) sind wahre Wunder göttlicher Gerechtigkeit, weil Schaustücke seines Willens, der unergründlich ist. Die verdienstlose Erwählung hat freilich auch Grenzen ihrer Unergründlichkeit, wenn ein Volk sich erwählt weiß durch seinen Gott. Er wäre ja sonst nicht sein Gott: sein Volksgott. 39 Divide et impera – vermutlich plädiert Herrschaftserfahrung dafür, die Beherrschten nicht gleich zu behandeln. Es muß unter ihnen eine Unsicherheit hinsichtlich der Gunst des Herrschenden bestehen. Das Vertrauen eines Volkes in seinen Gott macht nicht schon den Einzelnen sicher, wie es um sein Erwähltsein steht. Gerade Brüder taugen gut dazu, weil sie aus einem »Stamm« sind, das Herrschaftsinstrument der Diskriminierung zu demonstrieren: Und Gott sah auf Abel und seine Gaben, auf Kain aber und seine Gaben achtete er nicht. 40 38 39 40
Hiob 1,12: alla autou mê hapsê (aber an ihm selbst vergreife dich nicht). 5. Mose 14,2 (7,6; 26,8); 1. Petrus 2,9. 1. Mose 4,4. E.Ü.
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Der Mythos verschärft noch das Drama: Abel wird von Kain zu Tode gebracht. Bei einem anderen Bruderpaar spielen die Eltern die diskriminierende Haltung Gottes nach: Die Mutter liebt den Sohn, den Gott liebt, der Vater liebt den Sohn, den Gott haßt. 41 Wo die Natur die Gleichberechtigung nahelegt, machen Gott und gläubiger Mensch das Gegenteil daraus. Soweit Gottes Gerechtigkeit mit Gottes Herrschaft verbunden ist, kann die von Paulus zitierte Gerechtigkeit Gottes: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich 42
allein die einer despotischen Herrschaft sein. Dem entspricht, daß Paulus ausdrücklich für sich den Sklavenstatus reklamiert: ein geistiger Sklave Jesu Christi zu sein. Hofft der politische Mensch auf Isonomie, 43 so unterwirft sich der gläubige Mensch des Alten und Neuen Testaments der Despotie. Macht sich Karl Barth für die Unanschaulichkeit Gottes stark, die sich aus seiner Bestimmung als Deus absconditus44 von selbst ergibt, dann ist doch für den Gläubigen weitaus erregender seine Unbegreiflichkeit und Unerforschlichkeit. Je stärker Gottes Wollen und Handeln im Gegensatz zum eigenen Empfinden steht, desto mehr wird der Gläubige in ihm den in der Tat ganz Anderen erfahren. Auf alle Fragen seines Lebens und Ergehens, die er sich selbst nicht beantworten könnte, hat der Gläubige damit eine Antwort: In allem geht es gerecht zu dank Gottes Gerechtigkeit. Allein Gott weiß, wer ich bin. Als Christusgläubiger bin ich mir aber absolut sicher, daß mir in der absoluten Unbegreiflichkeit Gottes seine Gerechtigkeit widerfährt.
1. Mose 25,28. Römer 9,15 / 2. Mose 33,19. Nach Luther. 43 Zu Isonomie als gleichbedeutend mit Demokratie siehe Herodot, Historiae 3,80. 142; 5,37. 44 Jesaja 45,15: theos apokryptomenos. 41 42
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VI. Niemand, so weiß es Solon, ist vor seinem Tode als gerecht zu preisen, denn bis dahin kann noch viel geschehen. Ob der Gläubige erwählt ist, um gerecht gesprochen zu werden, weiß er nicht. Im übrigen ist die sichtbare Entscheidung darüber ungleich entrückter als beim politischen Menschen, entrückt nämlich bis zum Jüngsten Gericht. Insofern scheint die Anmeldung des Bedürfnisses, durch die Gnade Gottes gerecht gesprochen zu werden, bereits ein anmaßender und aufbegehrender Akt zu sein. Sollte der Christ sich nicht in das In-allem-geht-es-gerecht-zu fügen, eben auch in Sachen seiner Rechtfertigung? Doch die religiöse Poesie des Werdens, wie sich Barth ihrer in reiner Gläubigkeit annimmt, läßt es eben nicht bei dem Abgrund bestehen, der sich durch die unmögliche Tat Adams zwischen Gott und Mensch aufgetan hat. Da nur der Gerechte mit Gott Gemeinschaft haben kann, wie es Paulus vorgibt, sind, den Text erhellender gelesen, beide Seiten daran interessiert, daß der (gläubige) Mensch gerecht gesprochen wird. Dazu bedarf es von Gottes Seite der Erlösertat, von des Menschen Seite der Glaubenstat. Im Kreuzestod Christi und im Glauben an die Erlösung von der durch Adams Untat erwirkten Todesstrafe durch Christi Tod stellt sich die Rechtfertigung des Menschen her. Der Mensch verharrt geglaubterweise gegenüber Gott nicht in der Position des Ungerechten, sofern Christusglaube und Christi Tod sich so treffen, daß daraus dem Menschen das Geschenk der Gnade zuteil wird, gerechtfertigt zu sein. Immer klarer zeigt sich, daß Rechtsprechung des Lebens durch die Gnade Gottes nichts ist, was in irgendeines Menschen Bewußtsein dringen könnte. Solange der Gläubige in der Zeit lebt, und das tut er zeitlebens, kann die Gemeinschaft mit Gott, an die er glaubt, allein als eine im Werden und Wachsen begriffene, nicht aber als eine gültig vollzogene geglaubt werden. Von möglichen Glücksmomenten im Glauben abgesehen, die sich aus einem absoluten Vorgriff nähren mögen, ist jede theologi82 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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sche Besinnung auf das sich im Glauben Vollziehende gehalten, die wörtlich zu verstehende Vorläufigkeit der geglaubten Gemeinschaft zu betonen. Der Blick darauf, daß Christus bereits gestorben und auferstanden ist, läßt sich nicht einseitig halten. Das »künftige Gericht«, 45 das ein Endgericht sein soll, darf als letzter gründender Grund der Wahrheit aller Glaubens- und Heilsgeschichte nicht um seine fundamentale Bedeutung gebracht werden. Das Endgericht ist aber interessanterweise, wie es geglaubt wird, ein vergeltendes, in dem Gott nicht nach Belieben handelt, sondern auf die Werke sieht, zum Beispiel auf die Worte, die es nach gut und schlecht abzuwägen gilt. 46 So bleibt es für den Gläubigen bis über das Grab offen, ob er wirklich ein Gerechter ist. Nur Gott weiß es im Voraus. Wie er die Individualität des Menschen vor seiner Geburt kennt, so kennt er auch die Worte, die er im Verlauf des Lebens äußert, um ihn »immer schon« endgültig verurteilt oder freigesprochen zu haben. Die »Präsenz« des Freigesprochenseins für den Gläubigen durch die »vollbrachte« Erlösungstat läßt sich nicht von einer Zukunft lösen, die in keiner Zeit eintritt. Wer ewig lebt, lebt als Gerechtgesprochener. Er lebt in Gemeinschaft mit Gott. Glauben und Hoffen habe ihr Ende gefunden. Wer zeithaft lebt, muß jedes Recht auf das eigentliche und wahre Leben dem Glauben und Hoffen anvertrauen. Stellt sich ein Mensch die Frage, was es mit seinem endlichen, geteilt gelebten Leben eigentlich auf sich hat, dann wird die Unbeantwortbarkeit dieser Frage durch die Unwißbarkeit überboten, die in der Antwort liegt, welche die christliche Religion auf jene Frage vorgelegt hat. Die Einheit von absoluter Unbegreiflichkeit und absoluter Gerechtigkeit ist als Mysterium nicht zu überbieten.
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Apokalypse 16,5. 1. Korinther 4,4; Römer 8,33; Matthäus 12,37.
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VII. Erste Voraussetzung, um für den christlichen Glauben geeignet und ihm zugeneigt zu sein, ist, mit der Vergänglichkeit, mit der Tödlichkeit des Lebens nicht zurechtkommen. Wer nicht mit Paulus sagen kann: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?«, 47 um dann die vermeintliche Wahrheit dieses Satzes zurückzuweisen, weil, wie Barth sagt, »ich nicht mehr im Abfall von Gott, sondern in der Rückkehr zu ihm [stehe]«, der sollte das Wagnis mit diesem Glauben besser nicht eingehen. In der lebensteiligen Welt gehören Leben und Tod zusammen, eigenes Leben und das Leben Anderer, eigener Tod und der Tod Anderer. Im christlichen Glauben herrscht eine gänzlich andere Lebenssicht: »Tod und Leben stehen in einem unauflöslichen Widerspruch.«48 Der Tod, wie er lebensteilig erfahren wird, als Intimus des Lebens, der Tod als »letzter Feind« des Lebens, 49 wie Paulus und Barth es sehen – welcher der beiden Welten mit ihren auf unterschiedlichen Zugangsarten zum Leben beruhenden konträren Lebenssichten sollte der Mensch den Vorzug geben, welcher gibt er ihn? Was wird aus der Lebenswelt, wenn einer der Glaubenswelt den Vorzug gibt? Eines jedenfalls ist unvermeidlich: als abgewählte steht sie der Vermaledeiung offen: Hat sich Adam durch seinen Fall dem Nichts liebend zugewandt, so hat er damit selber ausgesprochen, daß er nichtig ist. 50
Religiöser Nihilismus lebt von einer Inversion des Verhältnisses von Sein und Nichts. Das, worauf Glauben und Hoffen zielen, in diesem Falle die poetisch entworfene todlose Welt, wird zum Sein, das, wovon sich der Gläubige wegglaubt und weghofft, Römer 7,24. Nach Luther. Karl Barth: »Vielgeplagter Mensch, der ich bin, wer wird mich herausreißen aus diesem Leibe des Todes?« 48 Karl Barth, Der Römerbrief, 176. 49 1. Korinther 15,26. 50 Karl Barth, Der Römerbrief, 174. 47
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
zum Nichts. »Aus Nichts wird Nichts« 51 – das Nichts ist kein Same, kein Von-wo-aus des Werdens. Deswegen geizt religiöser Nihilismus nicht mit bösen Worten für das ja nicht zu erwählende Leben, für die ja nicht zu erwählende Welt: die »Schreckensherrschaft [des Todes]«, 52 die »grausame Tatsache der Vergänglichkeit«, 53 »die Sünde« als »Erreger der Todeskrankheit«. 54 Das läßt das Antlitz des Menschen, der das tödliche Leben lebt, nicht unberührt. Obwohl es das kindliche Hingegebensein ins Schauen gibt, den Blick der Verliebten, bekommen Menschen aus der Sicht der Glaubenswelt jetzt allgemein »böse, stechende, durchdringende – und doch blinde Augen«. 55 Es sind ja Augen ohne das Licht Gottes. Urteile aus christlicher Sicht sind aus der Perspektive der Lebenswelt nicht wörtlich, nicht realistisch zu nehmen. Wie jede »Ausschmückung« des himmlischen Jerusalem Poesie ist, so auch jede »Ausschmückung« der sündhaften Welt. Der gläubige Hörer und Leser weiß Bescheid: Er soll scharf unterscheiden zwischen dem, was zeitlich ist, und dem, was – mit Christus mitwachsend – wird. Hält eine in Oxford lehrende Neurowissenschaftlerin dafür, daß wir in einer Welt des »Yuck« (was soviel heißt wie Igitt) und in einer Welt des »Wow« leben, 56 dann hat diese Igitt-Welt nichts gemein mit der gläubig-diskriminierend erzeugten Nichts-Welt. Die christliche Reizvokabel Sünde darf ja eigentlich nicht die kleinen und großen Miesigkeiten menschlicher Lebensart meinen, sondern ausschließlich die Erbsünde, die den Erbtod generierte. Nicht die Huren und Zöllner sind wahrhaft schlecht, sondern einzig die Endlichkeit des Lebens. An ihr, und nur an ihr stößt sich der Christ. Völlerei als Karl Barth, Der Römerbrief, 174. Karl Barth, Der Römerbrief, 175. 53 Karl Barth, Der Römerbrief, 176. 54 Karl Barth, Der Römerbrief, 177. 55 Karl Barth, Der Römerbrief, 178. 56 Susan Greenfield, Interview mit Petra Steinberg, in: Süddeutsche Zeitung vom 11./12. 08. 2012. 51 52
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Sünde und selbst die Sünde wider den Heiligen Geist, die unvergebbare Sünde, die ich als die Sünde des Nichtglaubens deute, wenn einer das christliche Glaubensangebot erhalten, verstanden, aber nicht akzeptiert hat, nein, auch das hat im Kern allein den Tod im Sinn als das schlechtweg Inakzeptable. Wer mit dem Tod zurechtkommt, um es zu wiederholen, kann Paulus und Barth nicht in ihrer Argumentation folgen, daß Christusglaube für jeden Menschen absolut notwendig ist. Doch nun wirft die Doppelnatur eines jeden Christen: des Fleisches und damit des Todes, des gläubigen Geistes und damit des Lebens zu sein, noch einmal die Frage auf, ob der Christ, der im Leben dem (sündigen) Fleische und das heißt dem Tode abschwört, nicht doch schon ein rechtfertigungsfähiges Leben lebt. Sagen sich Christen: »Als die Hoffenden sind wir die jetzt schon Lebendigen«, 57 dann hat der religiöse Poet in ihnen die Möglichkeit wahrgenommen, die Zeit-Welt und die Ewigkeits-Welt, obwohl in der durch die Poesie geschaffenen höheren Realität in jeder Hinsicht inkompatibel, dennoch ineinanderzuspielen. Ist auch das Fleisch noch da, so herrscht doch, wie geglaubt wird, der Geist. Das ist nicht nur naturwissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Es ist der Beginn eines Metaphernspiels, das sich bewußt an den Metaphern vergeht, indem es sie für bare Münzen ausgibt. Das Hauptwort dieses Spiels heißt zukünftig. Von einer Zukunft zu reden, die nicht in der Zeit liegt, heißt, das Wort Zukunft als Metapher zu gebrauchen. Doch diese Tatsache wird sofort überspielt, weil dem Gläubigen ja das ihm zugetraute Wachsen und Werden als ein zukünftiges schmackhaft zu machen ist. Daß diese »Zukunft« in der Ewigkeit liegt, also niemals eintritt, wird dem Gläubigen durch alles mögliche Jetzt-schon als Metaphernspiel verdeckt. Der Theologe mag sich ja daran gewöhnen, alle für den Glauben gewichtigen Worte absolut zu verstehen, Worte wie Geschichte, Wahrheit, Leben und eben Zukunft, aber der zum Glauben Animierte 57
Karl Barth, Der Römerbrief, 172.
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7. Karl Barth: »Todeskrankheit«
sollte schon seiner Künstlerschaft, das meint Glaubenskünstlerschaft zuliebe Acht haben auf seine Art des Verstehens. Im Tode auf eine ewige Reise zu gehen, auf eine Reise in die Ewigkeit, wer wollte sich dieser tröstenden Poesie schon versagen? Das Jetzt-schon, wie Barth es einbringt, ist nicht ohne Plausibilität. Ohne die Unbedingtheit seines Nihilismus zu relativieren, läßt sich für ihn die Welt, in der wir leben, in eine noch sündige und eine schon heile unterscheiden. Da der Glaube auf das Werden setzt, sind die Weltverhältnisse nicht statisch zu sehen. Dabei kommt es nicht nur auf die jeweilige Geneigtheit an: der Sünde zugeneigt, dem göttlichen Heil zugeneigt, sondern auf die Dynamik des Ganzen, die, der Theologe will das nicht anders wahrhaben, dem Heil zugeht. Ist darum auch eigentlich nur das himmlische Leben ein gerechtfertigtes, so hat aber den Christen bereits die Gnade des Glaubens erreicht, weil Christus, das wird als etwas Geschehenes geglaubt, gestorben und auferstanden ist. Darum läßt sich für ihn so etwas wie eine vorlaufende Teilhabe am ewigen Leben vorstellen (Teilhabe als Metapher!) und mit ihr ein Vorschein prädestinativer Gerechtsprechung. »Im Christus sein« 58 – das heißt »schon jetzt« die ursprüngliche Gotteswelt zu sehen und zu hören, gelten und wirken zu lassen dank Unmittelbarkeit ihrer Wahrheit. 59 Freilich auch bei denen, die in ihrem Glaubensleben und in ihrer Glaubenswelt auf Glauben und Hoffen hin gerechtfertigt sind, hat das Endgericht, das nie, weil in keiner Zeit statthat, das letzte Wort.
Karl Barth, Der Römerbrief, 297. Sofern die »eigentliche« Geschichte »schon jetzt« geschieht, ist das geschichtliche Verhältnis zu Gott unmittelbar. Siehe Karl Barth, Der Römerbrief, 107 et alibi.
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
I. Ein Dichter, erfahren in der Erfindung von Lebenssituationen und Handlungsverläufen, die den Helden einer Erzählung in seiner leiblichen und geistigen Existenz zuäußerst herausfordern, ein Künstler im Kampf mit sich selbst, mit Alltag und Berufung, schafft, was ihm Halt gibt, nicht aus sich selbst. Bereits die sprachliche Sozialisation zeigt ihn als Aneignenden. Zum Meister des Worts kann er es selbst bringen, nicht jedoch zum Wort. Folgen wir dem, was Franz Kafka als Mittdreißiger nach Ausbruch seiner tödlichen Tuberkuloseerkrankung zu Lebenssinnfragewörtern wie Tod und Leben, Erde und Himmel, Lüge und Wahrheit, Freude und Leid notiert, dann ist es christlicher Glaube, woran sich sein Denken im Ersten und Letzten hält. Sein Argument folgt keiner Theologie, sondern entspringt dem eigenen Inneren, der eigenen geistigen Existenz. An den Grunddaten des christlichen Glaubens hält er freilich fest, und zwar bedenkenlos. Als Beispiel genügt, daß er von der ursprünglichen Sündhaftigkeit des Menschen ausgeht. Doch wenn auch die Notizen nicht eigens künstlerisch formuliert sind – der Künstler ist es in all seiner Empfindsamkeit und Innerlichkeit, der, im Indikativ, den Glaubenstatsachen und Glaubenswegen sprachlich Ausdruck verleiht. Hat er ein Schriftzeugnis vor sich, das seinem Glauben im Bilde die Wahrheit zeigt, dann ist es die Genesis. Er liest sie entschieden christlich, nicht weniger entschieden als Paulus. Ja, weil er nicht missioniert und sich darum auch nicht vor Anderen zu legitimieren hat, geht er für sich noch 88 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
weiter als Paulus. Dieses Plus ist kein theologisches, sondern eines der künstlerischen Existenz.
II. In seinem Entwurf christlichen Glaubens läßt Kafka den einzig verheißungsvollen Blick auf den Baum des Lebens fallen. Anders aber als später der Heidegger von Sein und Zeit folgt er nicht der Genesis, die den Menschen durch Kerubim und flammendes Schwert für immer vom Zugang zum Baum des Lebens abgehalten sieht, sondern glaubt an ein bleibendes Wohnrecht des Menschen im Paradies, um dort von der Frucht zu essen, die ihn, was ewiges Leben anbelangt, vollends mit Gott gleich macht. Kafka ist dabei im Umgang mit der Textvorlage so verwegen, daß er die ursprüngliche, ja eben himmlische Sündhaftigkeit des Menschen für eine doppelte erklärt: Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. 1
Um so etwas glauben zu können, muß das – geglaubterweise – durch Christus inaugurierte und inspirierte geistig-existenzielle Verhalten das Verständnis des Lebens in »dieser Welt« bereits grundlegend verändert haben. Sind »wir« (die gläubigen Christen) sündig, solange wir nicht vom Baum des Lebens gegessen haben, so sind wir zeitlebens sündig, ist diese Welt ein Ort der Sünde. Doch wie in religiösen Unzufriedenheitserklärungen üblich, wird, wenn überhaupt, nicht sogleich moralisch argumentiert. Da genügt es, appellativ auf den Unwert menschlichen Lebens zu verweisen, auf seine Last, um für den Glauben zu Gewinnende darauf einzustimmen, daß das Leben, wie wir es Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II (ed. Jost Schillemeit), New York 1991, 72 (»Oktavheft G« 1917–1918).
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
führen, doch nicht das sein kann, was uns letztlich mit dem Leben beschert worden ist. Kafka, der in seinem Glauben weiß, daß die äußerlich erscheinende Diffamierung des zu lebenden Lebens in Wahrheit in seiner Sündhaftigkeit gründet, wählt ein geläufiges, leicht verständliches Bild: das Leben »hier« als ein Leben in Gefangenschaft. Bestimmte Platon im Dialog Phaidon den Leib als Kerker der Seele, dann veranschaulichte das seine philosophische Anthropologie und Psychologie: Er denkt den Menschen, der leibhaft lebt, als ein Ganzes aus Leib und Seele. Im Tode löse sich die Denkseele real vom Leibe, um fortan unbehelligt von allem, was der Leib tut und erleidet, ihrer Tätigkeit nachzugehen. Die Befreiung aus der Gefangenschaft kommt hier der Noetisierung des Menschenwesens zugute: seiner Wirklichkeit als reiner Denktätigkeit. Schon Aristoteles, anderthalb Generationen später, verwirft diese Ansicht. Für ihn hat die Seele allein als das belebende Prinzip des ganzen Menschen ein »Leben«. Der Kerker, in dem Kafka den Menschen bei Lebzeiten gefangen gehalten sieht, ist kein Ausdruck philosophischer Theorie, sondern gläubiger Radikalität. Für ihn ist in jedem wahren Augenblick des Lebens die eigene geistige Existenz die eine und ganze Existenz, 2 ist ebenso die geistige Welt die eine und ganze Welt. 3 Der Tod, in dem das Sterben eines Menschen zu seinem Ende kommt, verspricht für ihn nichts besseres als das Leben: Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. 4
Demnach fallen für den Menschen, der ißt und trinkt, liebt und stirbt, das Davor und das Danach seines Todes in ihrer UnerträgFranz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 50 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 59; vgl. 61 (»Oktavheft G«). 4 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 43 (»Oktavheft G«). Der gleiche Text II, 116 (Aphorismen-Zettelkonvolut 1918/1920). 2 3
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
lichkeit zusammen. Bedeutet Tod allein den Wechsel von alter Zelle zu neuer Zelle, von dem, was gehaßt wird, zu dem, was gehaßt werden wird, dann bleibt keine Spur von geistiger Existenz und geistiger Welt zurück. Fragt man sich, was eigentlich den Zellencharakter des Lebens ausmacht, dann fällt einem als erstes die Endlichkeit des Lebens ein, seine zeitliche Beschränktheit und Enge. Kafka faßt das, über die Einzelwesen hinaus, im Gedanken der Vergänglichkeit der Welt zusammen. Das nämlich sei ihr »entscheidend Charakteristisches«.5 Welt, das ist Bewegtheit, ist Zeitlichkeit. Der Sonnengang zählt die Zeit auf der Erde, ebenso der Mondgang und der Gang der Jahreszeiten. Das ist ein Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen. Wer möchte schon aus diesem Gang der Zeiten bei Lebzeiten gerne ausbrechen, vor allem: Wie sollte er einen Ausbruch anstellen? Nun ist ja, wie gesagt, für Kafkas Christusgläubigen das Ziel klar: der Baum des Lebens. So formuliert Kafka denn auch mit bewußter Leichtfertigkeit: Wem die vergängliche Welt für seinen Paradiesglauben nicht »reicht«, der »beschließt«, »mit ihr in die Ewigkeit auszuwandern«.6 Mit Nachdruck spricht er jedoch davon, daß die Vergänglichkeit der Welt zu bekämpfen sei, und zwar mit Waffen, die nach Möglichkeit »wirklicher sind als Hoffnung und Glaube«. 7
III. Das Wirklichste, was für Kafkas Glauben über »diese Welt« hinauszielt, nennt er das Unzerstörbare. Nun macht er aber das, was an antike Ontologie in ihren weitesten spekulativen Ausgriffen 5 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 91 f.; 104 (Aphorismen-Zettelkonvolut). 6 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 104 (Aphorismen-Zettelkonvolut). 7 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 92 (Aphorismen-Zettelkonvolut).
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
erinnert (Platon: das, was nicht zu Fall kommen kann), 8 wie es scheint, doch zu einer Sache von Glauben und Vertrauen. So spricht er davon, der Mensch könne nicht leben »ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem«. 9 Mit der Devise »An das Unzerstörbare in sich glauben« 10 gibt er überraschenderweise zu verstehen, daß dies unerhört Beständige, dem Vertrauen und Glauben zu gelten haben, nicht den Menschen übersteigt und damit schon gar nicht außerhalb der Welt liegt. Das aber kann nur der Fall sein, wenn wir jetzt unversehens mit dem allein Geistigen konfrontiert sind. Das Unbeobachtbare der »innern Welt« 11 steht im Blick, ihr »von innen«. 12 »In sich« – das ist die Wendung ins Geistige und Wahre, in die Welt, die nicht die des Sinnlichen ist, des Beobachtbaren und Sichtbaren. Mit der Ausrichtung auf das Unzerstörbare als das wahrhaft Wirkliche wenden sich Vertrauen und Glauben dem Leben zu, sofern es eine geistige Möglichkeit ist. Das aber ist eine Möglichkeit im Leben. Der Mensch, der lebt, ernährt sich und kleidet sich. Das erklärt Kafka für »nebensächlich«: »es wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein unsichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsichtbares u. s. f. gereicht«. 13 Ist es die stärkere Lesart von Paulus’ Römerbrief, daß Glauben und Hoffen, wie sie einander bedingen, kein bloßes Unterwegs anzeigen, sondern auf ihrem Weg auch schon am Ziel ihres Weges sind, 14 so scheint Kafka Paulus noch zu überbieten. Liegt im Geistigen die wahre Wirklichkeit, dann werden »in sich« und
Platon, Politeia VII 534c3. Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 58 (»Oktavheft G«). 10 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 65 (»Oktavheft G«). 11 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 32 (»Oktavheft G«). 12 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 34 (»Oktavheft G«). 13 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 99 (»Oktavheft H« 1918). 14 Verf., Die Binnenlogik des Glaubens im Römerbrief, in: Stephan Loos et al. (Hg.), Paulus. An die Römer. Urtext – Übersetzungen – Philosophische und theologische Interpretationen, Freiburg/München 2013, 462. 8 9
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
»von innen« für den, der die geistige Lebensmöglichkeit wahrnimmt, zur Wendung der religiösen Hoffnung: Sie ist nicht mehr Hoffnung, sondern »Gewißheit«. 15 Gewalttätiger noch erscheint Kafkas religiöse Logik, wenn er den Glauben an das Unzerstörbare in sich so weit steigert, daß der Glaube selbst das Unzerstörbare ist: Glauben heißt: das Unzerstörbare in sich befreien oder richtiger: sich befreien oder richtiger: unzerstörbar sein oder richtiger: sein. 16
Das ist das Sein im Sinne der griechischen Ontologie: Was ist, das heißt emphatisch, was wahrhaft und wirklich ist, das bleibt. Das Sein ist das Unzerstörbare. Kafka versetzt es nicht in den Himmel der Ideen, sondern in das tiefe Innere des geistigen und das heißt in diesem Falle des gläubigen Menschen. Weil aber Kafka keinen Menschen von dieser Tiefendimension ausschließt, muß er davon ausgehen, daß es zur Natur des Menschen gehört, gläubig zu sein, um hier nicht weiter davon zu handeln, ob das in dieser Zeit für Kafka besagen muß, christusgläubig zu sein. Wer sich auf seine eigene Tiefe einläßt, hat sich angesichts »dieser Welt« zu entscheiden, ob er entweder »zu ihr flüchtet« 17 oder ihr »entsagt«. 18 Wer zwei Welten kennt, der ist schon entschieden, daß das Leben, wie es »dieser Welt« zugehört, sich nicht auszuleben hat. Die Zuwendung zur eigenen Tiefe und damit zum eigenen geistigen »Wesen« verlangt die Abwendung vom Sinnlichen und den ihm eigenen Freuden. Wer das »wahre menschliche Wesen zu ahnen« beginnt, 19 ist auch schon dabei, sich mit dem Unzerstörbaren, das er ist, zu vereinigen. »Diese Welt« hat keine andere Funktion als die eines
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 62 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 55 (»Oktavheft G«). 17 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 47 (»Oktavheft G«). 18 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 61 (»Oktavheft G«). 19 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 61 (»Oktavheft G«); vgl. II, 85: »mein eigenes Wesen zu erkennen« (Aphorisen-Zettelkonvolut). 15 16
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
»Übergangs«.20 Damit aber wird auch schon die Vorstellung zweier Welten zunichte. »Diese Welt« ist eigentlich gar nicht Welt: Sie ist nur das Sinnliche im eigentlich Geistigen. Geht es um das wahre menschliche Wesen und damit um emphatische Wahrheit, dann gehören wir der Welt, in der wir leben, gar nicht an. Theologen wie Wolfhart Pannenberg, die die Wahrheit christlichen Glaubens von der Auferstehung der Toten abhängig machen, und damit die Verifizierung ihres Glaubens ad kalendas graecas vertragen, 21 werden durch das, wie Kafka diesen Glauben erdichtet und deutet, unendlich überholt. Der Glaube ist aus sich unzerstörbar, weil er selbst das Unzerstörbare ist. Der Glaube ist kein zeitlicher geistiger Vollzug, sondern ist von ewigem Sein. Der Glaube als die Wahrheit der geistigen Welt ist die Ewigkeit. Wie die zeitliche Welt nicht wahrhaft Welt, sondern nichts als Übergang ist, sind wir, die wir geistig sind, der Ewigkeit nie abhanden gekommen.
IV. Kafka wendet sich dem Jüdischen zu, angefangen mit dem Jiddischen (»Jargon«), 22 interessiert sich für Theosophie und sucht
20 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 95 (Aphorisen-Zettelkonvolut). 21 Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988. Kritisch dazu: Verf., Wahre Hoffnungen? Eine Frage an Hermeneutik und Religion, in: Ingolf U. Dalferth et al. (Hg.), Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, Tübingen 2009, 336–339. 22 Franz Kafka, Rede über die jiddische Sprache (»Jargon«), in: ders., Gesammelte Werke (ed. Hans-Gerd Koch/ Michael Müller/Malcolm Pasley), Frankfurt a. M. 1994, Bd. 5, 149–153. Siehe dazu: Verf., Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen, Freiburg/ München 2009, 223.
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»Dr. Steiner« auf, als Rudolf Steiner auf Werbetour in Prag ist. 23 Wie die Tagebücher belegen, ist er wacher Teilhaber am kulturellen Geschehen seiner Stadt. Wie es bedeutenden Schriftstellern vielfach zweite Natur ist, ist auch Kafka ein großer Leser. Sein täglicher Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens, zu denen bei ihm allemal der Geldberuf gehört, ist Teil seines Kampfes als Künstler. Hier ist Franz Kafka formal mit Marcel Proust zu vergleichen, daß das Ungenügen an der eigenen Arbeit integraler Bestandteil künstlerischen Gelingens ist. Das sei erinnert, um den Stellenwert des schmalen Zeitfensters von Oktober 1917 bis in die zweite Hälfte von 1918 mit dem Blick auf die Notate seiner schöpferischen Antwort auf die christliche Botschaft richtig einzuschätzen. Keine Deutung der Person und des Künstlers Kafka steht an, sondern einzig seine Erkundung und Darstellung der außerordentlichen Geistigkeit und Wesenhaftigkeit christlichen Glaubens soll hier als die in sich schlüssige Aussage gedeutet werden, daß der Mensch nicht eigentlich in »diese Welt« gehört, sondern ins Paradies. Diese Aussage beruft sich in den »Oktavheften« und im Zettelkonvolut nicht auf eine Offenbarung und Verheißung, sondern versteht sich aus vollendeter menschlicher Selbsterkenntnis. Die Wissenschaften erkennen den Menschen nicht, weil sie Beobachtungsdaten sammeln. Beobachtungen, auch die alltäglichen Selbstbeobachtungen der Menschen, sind ein Feind wahrer Erkenntnis, weil in die Irre führend, weil stets in »dieser Welt« zuhause. Im Sichbeobachten liegt für Kafka unumgänglich die Selbstverkennung, ja, als Folge die Selbstzerstörung. An dieser Stelle nämlich von Kafkas Selbstverständigung über christlichen Glauben werden Wertungen bedeutsam, die grundsätzlich in der Dichotomie von Wert und Unwert vorgenommen werden. Diese Wertungen haben den Ton des Moralischen, doch sie sind mehr. Es geht nicht um Gesittung und Wohlverhalten, Franz Kafka, Tagebücher (ed. Hans-Gerd Koch/Michael Müller/Malcolm Pasley), Frankfurt a. M. 1990, 31–35.
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es geht um Tod und Leben, dies freilich in einem höheren Sinne. War anfangs als »erstes Zeichen beginnender Erkenntnis« in dem Zitat der »Wunsch zu sterben« angeführt, dann stand nur der Wechsel vom Kerker des Lebens zum Kerker des Todes im Blick. Diese beginnende Erkenntnis aber war noch nicht die des Gläubigen. Der bringt sich hier, das hatte ich im Zitat zunächst ausgelassen, phantasiereich ins Spiel. Ein Rest von Glauben wirkt dabei [R. M.: bei diesem Sterbenswunsch] mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehn und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir. 24
Der Glaube verwandelt den Tod. Bereits ein »Rest von Glauben« läßt daran denken, daß es mit dem Tod ganz anders »kommt«. Es ist dann »nicht dieser« Tod, der »unsere Rettung« ist, 25 nämlich »Stufe zum ewigen Leben«, 26 sondern der wahre Tod (»im wahren Sinn gestorben«). 27 Es geht um Tod und Leben besagt darum in Wirklichkeit: Es geht um das ewige Leben und nichts sonst. Wahrheit im Sinne des (wahren) Glaubens und der (wahren) Selbsterkenntnis ist eine Wertung, die in radikaler Zweiteilung die Lüge als den Unwert ausschließt und nichts Drittes zuläßt. 28 »Diese Welt« ist die Welt der Lüge, der Verkennung und Verirrung. Eben darum ist sie eigentlich gar keine Welt. Die Welt des Geistes, die die eine und ganze ist, das ist die »Welt der Wahrheit«. 29 Mit dem ewigen Leben geht es um die Wahrheit, um die wahre Wahrheit, versteht sich. Doch der Anklage gegen die Welt, in der wir leben, fehlt noch die Schärfe, um die gänzliche Verfehlung und Verirrung zum Ausdruck zu bringen, in der 24 25 26 27 28 29
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 43 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 101 (»Oktavheft H«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 78 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 100 (»Oktavheft H«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 69 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 82 f. (»Oktavheft H«).
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
sich jeder befindet, der in der Lebenswelt heimisch ist. Die unwahre Welt ist, mit dem treffendsten Ausdruck benannt, die böse Welt. Es genügt, auf die Sichtbarkeit »dieser Welt« zu verweisen, um ihr Böses zu entdecken: Es gibt nur eine geistige Welt, was wir sinnliche nennen ist das Böse in der geistigen. 30
Das bleibt hinter Karl Barths Vermaledeiung der Menschenwelt nicht zurück. Anders aber als dieser Theologe, der die Radikalität seiner Wertung immer neu durch Verweis auf Christus als den »Gott für uns« begründet, 31 hält sich dieser Dichter wiederholt an das Unzerstörbare im Menschen, an menschliches Sein und Wesen also, das der Mensch im Tiefsten seiner Geistigkeit ist, weshalb er sich nicht mit dem gedanklichen Monstrum einer absoluten, nicht-zeitlichen Zukunft anlegen muß. Wer auf die Schlange hört, sich in »dieser Welt« ein Bild von sich zu machen, der hört auf »Böses«, wer dagegen »sich sehr tief hinabbeugt« und auf die Wahrheit hört, die in ihm selbst ruht, der hört »sein Gutes«: Sei »der Du bist«. 32 Das Sein bleibt, das Sein ist ewig. Der Mensch hat insofern überhaupt nicht tätig zu sein, nicht zu streben, um sein Sein zu gewinnen. »Macht« er sich zu dem, der er ist, dann tut er nicht mehr und nicht weniger, als sich selbst zu erkennen: Sein Geist koinzidiert mit seinem geistigen Wesen.
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 59 (»Oktavheft G«). Römer 8,31: »Ist Gott für uns (hyper hêmôn), wer kann wider uns sein?« Für Barth gibt es »neben dieser einen einzigartigen Wahrheit« nichts, was an Christus zweifeln lassen und »Glaubenskünste« sowie »Hoffnungskrämpfe« nötig machen könnte. Karl Barth, Der Römerbrief, 347–349. 32 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 42 (»Oktavheft G«). 30 31
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V. Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Leben und Tod, Ewigkeit und Zeit – jede ausschließende Alternative fordert den schöpferischen Geist zu einem Sowohl-als-auch heraus, zumindest zu einer konstitutiven Verbindung des für absolut geschieden Erklärten. Das ist bei Kafka im Zuge seiner Darstellung des geistig-religiösen Ziels nicht nur fortwährend latent zu spüren, sondern findet auch seinen sprachlichen Ausdruck. Wir sind in der Wahrheit, und doch sind wir »zugleich« in der Lüge. Entsprechend ergeht es uns mit den drei weiteren Dichotomien. Bei allem »Dauern« des Glaubens, ja eben bei seiner Unzerstörbarkeit, hat durch ihn für den Gläubigen keine absolute Verlagerung von der Lüge in die Wahrheit statt, vom endlichen Leben ins ewige Leben, von »dieser Welt« ins Paradies. Die Wunder der Vermittlung des absolut Geschiedenen, wie Kafka sie für sich selbst (und nicht für eine Publikation) notiert, werden zu Wundern des sprachlichen Ausdrucks: daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht. 33
Unserem Guten nach sind wir »dort«, unserem Bösen nach »hier«. Das ist ein Meisterwerk menschlicher Selbstverständigung und Selbstpoetisierung. Auch die Alternative »Leid oder Seligkeit« hält dem Glauben nicht stand, der im Zerstörbaren am Unzerstörbaren festhält. Ist dem Buddhisten Alter ein Leid, weil Manifestation der Vergänglichkeit, dann findet er zur Leidlosigkeit durch Verlöschen bei lebendigem Leibe. Der Utilitarist, der das Glück verfolgt und das Leid flieht, begegnet dem Alter mit Liften und Schminken. »Bekämpft« dagegen der Gläubige die Vergänglich-
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keit, 34 dann belügt er sich nicht über die Wirklichkeit, sondern nimmt es mit ihr auf. Er bejaht sie, indem er sie mit der Poesie des Glaubens belehnt: Ja, das erlebte und erlittene Leid ist Leid, es aber darauf festzulegen, nichts als das zu sein, hieße, vom Glauben zu lassen. Der Glaube, wie er dem unzerstörbaren Selbst zugehört, läßt den Leidenden unmöglich allein »hier« sein. Er ist auch schon »dort«. Für Paulus ist der Christ in der Nachfolge Christi eins mit den Leiden Christi, damit aber auch schon eins mit der Erlösung von allem Leid, die in dem Leiden Christi sich vollzieht. Wer das geglaubte Leid als Leid voll auskostet, so läßt sich mit Ausrichtung auf Paulus provokativ formulieren, der hat schon Teil an der Seligkeit. Nicht weniger gewagt hält es der von Kafka notierte christliche Glaube: Das, was »hier« Leiden ist, ist »dort« Seligkeit. Das Sein (»ist«), und das meint die Wahrheit des Glaubens, verbindet die eine und andere Welt. Philosophisch könnte das heißen: Die Substanz des Leids bleibt, bleibt erhalten, aber das Wunder des Glaubens entdeckt es in der anderen Welt als Seligkeit: Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das was in dieser Welt Leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist. 35
Sind die Leiden, gläubig besehen, nicht eigentlich Leiden, dann sind auch die Freuden entsprechend nicht eigentlich Freuden. Doch diese Glaubenssicht, die das Hier und Dort ausspäht, ist nicht leicht zu schematisieren. Nur wer, zumindest dem Versuch nach, gläubig mitsieht, bekommt den Aspektereichtum des Sachverhalts in den Blick. Was hier Leid ist, ist dort Seligkeit – nein, so »einfach« verhält es sich nicht. Zunächst nämlich ist das Leid hier wirklich Leid. Es ist nur, gläubig besehen, ein gänzlich anderes als das, das dem Hier gehört. Anders als das, was MenFranz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 91 f. (»Oktavheft H«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 135 (Aphorismen-Zettelkonvolut).
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schen als Leid erfahren, ist es von der Höhe des Geglaubten durchstimmt. Dabei aber entdeckt es einen höchst merkwürdigen Charakter: Es ist ein selbstgemachtes Leid, das allein wegen der Angst herrscht, den Übergang von Hier nach Dort zu wagen. Ein Gedanke von Martin Heidegger kann das verdeutlichen. Für ihn ist die geistige Existenz mit dem Tod nicht als dem »Abschnappen« des Lebens konfrontiert, sondern mit dem Tod als »eigenster Seinsmöglichkeit« (»kann« jederzeit sterben – können als kann der Fall sein und sich verstehen auf). Heidegger gibt ihr den Namen »Sein zum Tode«. Anstatt vor dem Ableben Angst zu haben, hat dem Philosophen zufolge der geistig Existierende vor seiner eigensten Seinsmöglichkeit Angst, also nicht vor dem Realgeschehen von Sterben und Todeseintritt, sondern vor dem Sein zum Tode. Entsprechend hat der Gläubige bei Kafka nicht einfach das Ziel seines Glaubens im Blick, um mit Freuden auf es zuzugehen, sondern es sind gerade die »Freuden dieses Lebens«, die nicht »die seinen«, sondern vielmehr »unsere Angst« sind, und zwar die Angst »vor dem Aufsteigen in ein höheres Leben«. 36 Die »Qualen dieses Lebens«, die hier für seine Leiden stehen, werden nun ebenfalls in das gebrochene Verhältnis zum Glaubensziel einbezogen: Sie stehen für »unsere Selbstqual wegen jener Angst«. 37 Keine Dialektik der Transzendenz hat statt, wie sie die »Bergpredigt« vorführt: »Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen«, »Wehe euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen«. 38 Die zeitliche Gegenwart des Gläubigen wird differenzierter gesehen. Daß »diese Welt« als vergängliche für den Christen nach Kafka so viel wertvoller ist als für den Buddhisten und so viel bedeutsamer als für den angelsächsischen Glückssucher, liegt Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 81 (»Oktavheft H«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 81 (»Oktavheft H«). 38 Lukas 6,21. 25. Anders als Matthäus 5,3 ff. sind hier mit den Eutychien die Dystychien verbunden. 36 37
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daran, daß es für ihn die sündhafte Welt ist. Dadurch allein nämlich wird sie zum emphatisch wahren Ort der Bedrückung: der Bedrückung durch die Sünde und der Bedrückung durch die Überzeugung »von der einstigen ewigen Rechtfertigung unserer Zeitlichkeit«. 39 Bedrückung (Paulus’ thlipsis) als geglaubte hat nicht den Charakter einer pathologischen Depression. Sie gibt vielmehr dem Leben einen eigentümlichen Glanz, ja einen Vorschein, der auf ein anderes Leben verweist. Wer an Sünde glaubt, glaubt an Heil. Wer an sündiges Leid glaubt, glaubt an himmlische Seligkeit. Für den Gläubigen, der seinen Stand in zeitlicher Gegenwart hat, muß der Glaube eins sein: der Sündenglaube und der Erlösungsglaube, der Glaube an Leid und an Seligkeit. Das Wachstum eines individuellen Lebens, das durch alle Lebensstadien von der Kindheit bis zum Alter und Tod führt,40 ist in seinen Leiden und Freuden, wie der Gläubige sie erfährt, einzig denkbar vom Paradies her und auf das Paradies hin. »Diese Welt« sei unzerstörbar, weil wir uns in sie verirrt hätten. Unsere und der Welt Lüge ist so ihr Sein. 41 Gleichzeitig ist sie aber »nur ein Übergang«. 42 Wir müßten uns mit dem Leben in dieser Welt »auseinandersetzen«, was genauer meint, daß wir, wie wir es leben, es in Beachtung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge zu führen hätten. Als Repräsentanten der Auseinandersetzung wählt Kafka aus der selbstverständlichen Perspektive des Mannes die Frau. Rechtfertigen wir (wir Männer) im Verhältnis zur Frau unser geistiges Sein und Wesen, handeln wir also aus unserer Wahrheit, oder lassen wir uns verführen? So schön nämlich auch für den Mann das Verführtwerden durch die Frau ist, so ist doch das »Schlimme« daran, daß so Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 135 f. (Aphorismen-Zettelkonvolut). 40 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 137 (Aphorismen-Zettelkonvolut). 41 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 83 (»Oktavheft H«). 42 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 95 (»Oktavheft H«). 39
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das Gute (unser geistiges Wesen) ins Böse (ins Sinnliche) geführt wird: »der Blick der Frau in ihr Bett uns gelockt hat«. 43 Eheliche Liebe, Kafka führt ausdrücklich die Ehe an, ist böse, weil sie sinnlich ist. Das Sinnliche als integrativer Teil der geistigen Welt bedeutet das Böse als integrativen Teil des Guten. So sieht in diesem Falle, gläubig deutend, die Vermittlung des Zeitlichen mit dem Ewigen, der Wahrheit mit der Verirrung aus. Die Vermittlung der sinnlichen mit der geistigen Welt führt nicht zu ihrer Bejahung. Ein Mensch, der auch nur die geringste Ahnung von seinem wahren Selbst hat, kann nicht das Böse bejahen. Es sind die zwei Bäume des Paradieses, die diese Unmöglichkeit veranschaulichen. Kafka nutzt ihre Differenz, um zwei Wahrheiten zu unterscheiden. Die Wahrheit des Baums der Erkenntnis ist zweiwertig, indem sie die des Bösen und des Guten ist, die des Baums des Lebens »ist nichts anderes als das Gute selbst«. Seinem wahren Wesen nach braucht der Mensch einzig die Wahrheit des Baums des Lebens. Damit schließt Kafka aus dem, was der Mensch ist, die Geschlechtlichkeit aus. Werden dem Muslim in seiner wahren Heimat, im Jenseits, zumindest im Bilde höchste geschlechtliche Freuden prophezeit, so sieht Kafkas Selbstverständigung über den christlichen Glauben für den Christen, dessen einziges Ziel das ewige Leben ist, die Zurücknahme des fruchtbaren Unterschieds von Mann und Frau vor. Auch Heidegger hält es, sich vom Baum der Erkenntnis distanzierend, allein mit dem Baum des Lebens. 44 Die Wahrheit des Baums der Erkenntnis bedeutet für ihn aber nicht erstlich die der Entdeckung menschlicher Geschlechtlichkeit, sondern die der Wissenschaften. Anders als Kafka will er den Menschen nicht vom Bösen der Sinnlichkeit befreit sehen, Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 96 (»Oktavheft H«). II, 114: »Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen ist die Aufforderung zum Kampf. Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet.« (Aphorismen-Zettelkonvolut. In der Handschrift als Ganzes mit Bleistift gestrichen.) 44 Siehe Verf., Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust, 23–28. 43
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
sondern von der auf wissenschaftlicher Wahrheit gründenden technischen Zivilisation. EROS als Sündenfall, TECHNE als Sündenfall – beides, der christlichen Orthodoxie nach, ein Handeln wider Gott, beides für den Philosophen und Dichter ein Handeln wider das Wesen des Menschen. Was die Genesis, in mythologischer Selbstauslegung des Menschen, als den Beginn menschlicher Geschichte, nämlich als Beginn menschlicher Seßhaftigkeit erzählt, wird noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ja gerade da, als Zeitgestalt des Geschehens verstanden, in dem der Mensch seine Bestimmung verfehlt.
VI. Wir wurden geschaffen um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden, die des Paradieses nicht. 45
Jeder Mensch lebt sein Leben und stirbt seinen Tod. 46 Das Leben ist dem Menschen aufgegeben 47 – ein Leben lang. Doch es ist ihm, wie Kafka urteilt, nicht gestattet, sein Leben, das seine endliche Zeit hat, zu bejahen und gutzuheißen. Jeder Augenblick des Lebens, jede zeitliche Gegenwart des Lebens markiert unseren sündhaften Stand. 48 Menschliches Leben steht dieser christlichen Deutung zufolge durchgängig in Gegenstellung zum Guten und Wahren. So hat es zwar die Herausforderungen des Lebens und Sterbens anzunehmen, ohne es aber eben damit gut sein zu lassen. Wie Paulus, Luther und Barth spricht sich Kafka für die Notwendigkeit aus, die Zeitlichkeit des Lebens zu rechtfertigen. Wie aber soll das geschehen? Was läßt sich mit Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 72 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 99 (»Oktavheft H«). 47 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 71: »Daß unsere Aufgabe genau so groß ist wie unser Leben, gibt ihr einen Schein von Unendlichkeit.« (»Oktavheft G«). 48 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 89 (»Oktavheft H«). 45 46
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
der Zeit des Lebens anderes anfangen, als sie, ist das Leben nicht unerträglich, mit mehr oder weniger Freude und Zustimmung auszuleben? Eines der Worte, mit denen Kafka diese Frage beantwortet, ist das Wollen. Indem ein Mensch »hier« lebt, hat er, zur Rechtfertigung dieses Faktums, das Leben »dort« zu wollen. Anstatt Paulus zu zitieren und die Gnade Christi zu erwähnen, erklärt Kafka unorthodox, aber in spekulativer Anschaulichkeit als einzige Möglichkeit, unsere Zeitlichkeit zu rechtfertigen, daß sie »in der Ewigkeit« liege. 49 Da ist sie wieder, die unmögliche Vermittlung von Zeit und Ewigkeit, wie sie allein die Poesie des Glaubens möglich zu machen versteht. Und diese Poesie hat großes Gewicht, denn was sie da vermittelt, ist nichts geringeres als das Leiden »hier« mit der Seligkeit »dort«. 50 Folgt man dem, was Kafka von der anderen Welt und vom ewigen Leben ahnt, 51 dann sieht man ihn kein anderes Leben entwerfen, das echte Spuren von Lebendigkeit entdecken ließe. Es findet sich überhaupt keine Ausmalung dieses Lebens, wie es ursprünglich dem Menschen bestimmt gewesen sein soll, keine Utopie, die das Paradies für einen Un-Ort nähme. Der eigentümlichen Unlebendigkeit des ewigen Lebens verleiht Kafka unmißverständlich Ausdruck: Ruhe und Stille sind es, die in ihm die Herrschaft haben, womit er eigentlich das Bild eines gelebten Todes zeichnet. Diese überraschende Bestimmung des wahren Lebens fängt schon bei den unterschiedlichen Wahrheiten der beiden Bäume des Paradieses an. Die Wahrheit des Baums der Erkenntnis sei die »des Tätigen«, die Wahrheit des Baums des Lebens die des »Ruhenden«. Müßiggang sei »aller Tugenden Krönung«,52 Ungeduld womöglich die »eine Hauptsünde«, 53 Stille die »Mauer Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 89 (»Oktavheft H«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 83 (»Oktavheft H«). 51 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 84: Die Wahrheit des Baums des Lebens sei uns »ahnungsweise« gegeben. (»Oktavheft H«). 52 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 55 (»Oktavheft G«). 53 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 33 (»Oktavheft G«). 49 50
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8. Franz Kafka: »Ruhen im Absoluten«
des Guten«. 54 Es ist, als wollte Kafka die geistige Existenz und die geistige Welt als das reinste Bei-sich-Sein schildern, wenn er alles vom Geistigen und Guten abhält, was auch nur im geringsten ein Anzeichen von Lebendigsein wäre. So ist der Himmel selbstverständlich »stumm«, 55 ja ist Stummheit ein Attribut der »Vollkommenheit«. 56 Kein Lärm, keine Bewegung, es gibt nur ein Ziel, und das ist das »Endziel«: »die Ruhe«. 57 So vollendet sich die Deutung christlichen Glaubens und Hoffens in der kaum zu überbietenden geistigen Zumutung, ein Leben wie das von Mann und Frau geführte nicht anders als hassen zu können, im »Ruhen im Absoluten« 58 dagegen seine Seligkeit zu finden. Was ist das anderes als ein seliges Totsein? Seliges Totsein – ein großes Wort, ein Wort des Glaubens, ein poetisches Wort.
54 55 56 57 58
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 47 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 58 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 50 (»Oktavheft G«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 103 (»Oktavheft H«). Franz Kafka, Nachgelassene Schriften II, 92 (»Oktavheft H«).
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9. Giovanni Boccaccio – Gotthold Ephraim Lessing: Die Ringparabel
Judentum, Islam und Christentum wissen um ihre Glaubensdifferenzen. Sie tragen sie geistig untereinander als Wahrheitsdifferenzen aus. Nur eine der drei monotheistischen Religionen, so versteht es jede für sich, kann die wahre sein: sie selbst. Das hat in aufgeklärten Zeiten zu Überlegungen geführt, ob es nicht möglich wäre, jeder ihre Eigenart zu belassen, sie aber dennoch dafür zugänglich zu machen, vom Einzelanspruch auf absolute Wahrheit abzulassen. Heute sind Einebnungsvorschläge wie »Schöpferische Indifferenz« 1 und »Weltethos« 2 en vogue. Deutlich früher hatte unter den auf Versöhnlichkeit der Religionen Bedachten eine Parabel große Beachtung gefunden: die Ringparabel. Drei gleich aussehende Ringe sollten veranschaulichen, wie die drei Religionen sich in den Augen von Gläubigen und von Aufgeklärten gleichen könnten, ohne daß die Wahrheitsdifferenz noch länger von Bedeutung wäre.
I. In der dritten Erzählung der hundert Erzählungen des Decameron 3 wird von einem »dubiosen Vorfall« berichtet. Dem An1 Salomo (Mynona) Friedlaender, Schöpferische Indifferenz (ed. Hartmut Geerken/ Detlef Thiel), Herrsching 2009. 2 Hans Küng, Welthethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, Tübingen 1997. 3 Giovanni Boccaccio, Decameron (ed. Romualdo Marrone), 4. Auflage, Rom 2012, 59 f.
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9. Giovanni Boccaccio – Gotthold Ephraim Lessing: Die Ringparabel
schein nach geht es um Gott und Gottesglaube, in Wahrheit jedoch geht es um Geld. Ein kriegliebender Herrscher braucht viel Geld für ein neues kriegerisches Unternehmen. Er läßt sich den reichsten seiner Untertanen, einen Juden, kommen, den er nicht durch physische, sondern durch »mit einer gewissen Vernunft eingefärbte« Gewalt zwingen will, ihm das nötige Geld zu geben. Er stellt ihm die Fangfrage, welche der drei Religionen er für die wahre halte, die jüdische, die sarazenische (islamische) oder die christliche. Der Jude erkennt die Falle und ist sich klar, daß nur scharfer, weitsichtiger Verstand (senno, saviezza, ingegno) ihn retten kann, und genau das möchte die Erzählerin beweisen: Dummheit macht einen Menschen zum Verlierer, der wache Geist zum Gewinner. Für Gott und die Wahrheit der Religion ist das eine üble Situation. Der Jude wird nicht nach der Wahrheit gefragt, sondern auf die Probe gestellt, ob er fähig ist, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Nicht Wahrhaftigkeit ist gefragt, sondern die Kunst des Sichherausredens. Das sind keine guten Bedingungen, um den drei monotheistischen Religionen mit der Wahrheitsfrage zu kommen. Dem scharfsinnigen Juden, um dessen Kopf es geht, fällt glücklicherweise sogleich (prestamente) eine Geschichte ein, die ihn seine naturgemäße Favorisierung des jüdischen Glaubens verschleiern läßt. Er wählt zum Vergleich drei Ringe: einen »wahren« und zwei so ähnlich wie möglich nachgemachte. Drei Söhne erhalten sie vom sterbenden Vater, der sie alle gleichermaßen (parimente) liebt. Nach seinem Tode müssen sie erkennen, daß der Streit, welcher der drei das »wahre« Erbe des Vaters sei, unmöglich zu schlichten ist. Das Kunstwerk der verschwiegenen Wahrheit und der gelungenen Abwehr der Fangfrage hat so am Ende folgende Gestalt: Es gibt eine und nur eine wahre Religion unter den dreien, Giovanni Boccaccio, Männer und Frauen. Geschichten aus dem Decameron (trad. Kurt Flasch), München/ Wien 1997, 64–67.
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9. Giovanni Boccaccio – Gotthold Ephraim Lessing: Die Ringparabel
aber welche es ist, kann kein Mensch jemals wissen, da die Ringe derart gleich (si simiglianti, si simili) sind, daß selbst der, der sie dem wahren gleichgemacht hat, vom wahren kaum (appena) noch unterscheiden konnte. Gott – und nur er – kennt die wahre Religion. Unter Menschen muß die Frage (la quistione) nach der wahren Religion für immer eine Streitfrage bleiben. Der Jude hat seinen Kopf gerettet, aber für die Religionen ist das Fabula-docet alles andere als erfreulich: Der Friede unter ihnen wird für immer vertagt. Doch die Erzählsituation verlangt noch ein Zuwort: Der Sarazene und der Jude haben die »Geschichte« der Unwißbarkeit der wahren monotheistischen Religion unter sich ausgemacht. Der Christ freilich, der diese Geschichte von kriegerischer Absicht und Geldbedarf erzählt, denkt sich seinen Teil dabei. Er sieht sich gar nicht in Frage gestellt, da die Geschichte allein zur Aufheiterung »junger Damen« in schlimmsten Pestzeiten erzählt wird.
II. Das »Mährchen« von den drei Ringen, wie Lessing es in dem dramatischen Gedicht Nathan der Weise den von einem »Muselmann« gefragten Juden erzählen läßt, dient ebenfalls der Rettung des Gefragten. 4 Gefragt, was für ein Glaube ihm am meisten einleuchte, sieht er sich vor dem Dilemma, die Wahrheit sagen zu müssen, aber nicht sagen zu können. Wieder stehen sich der Geldreiche und der Machthaber gegenüber. Ginge es wirklich um die Wahrheit des Glaubens, um dessen Wahrheit »so baar, so blank«, dann wären bei dem, der die Wahrheit nicht »verhehlt«, sogleich Märtyrerqualitäten gefragt: Er haftete für seine Antwort mit »Leib und Leben! Gut und Blut!«. Der GeGotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, in: Gotthold Ephraim Lessing’s sämtliche Schriften Bd. 2 (ed. Karl Lachmann/ corr. Wendelin von Maltzahn), Leipzig 1853, 268–278. 4
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fragte aber erkennt die »Falle«, es geht doch um Geld. Das aber ändert die Wahrheitsmoral: Nicht der zum Martyrium für seinen Glauben Bereite hat die Antwort zu geben, sondern der Weise, der seine Weisheit nutzt zur eigenen Rettung. Freilich muß er es als Weiser mit der Wahrheit halten. Der Weise ist nicht von dem zu trennen, der die Wahrheit sagt. Aber er ist jetzt frei dazu, das Wahrheitsdilemma seiner quälenden Kraft zu berauben. Kann er den Juden weder überzeugend leugnen noch überzeugend bejahen, dann muß ihm ein Drittes gelingen, das nicht wider die Wahrheit ist. Der Weg, den der Weise wählt, ist der der Auslagerung der Wahrheit. Anstatt sie zu manipulieren, nimmt er der Wahrheit des Glaubens das Blanke, ihre unmittelbare Zugänglichkeit und Verständlichkeit, ihr Bekennerhaftes. Die Freiheit, ein Mann der Wahrheit zu bleiben und doch die gefragte Wahrheit nicht zu entdecken, hat er ja dadurch gewonnen, daß er dem Muslim nicht abnimmt, wirklich die Wahrheit wissen zu wollen: Er lagert die Wahrheit in ein Gleichnis von wahrheitsverdeckender Kraft aus. Sie ist gesagt, aber nicht erkennbar. Der Weise bewährt sich als Poet, in diesem Falle als Nachdichter. Der durch Hegel berühmte dreifache Sinn von aufheben kommt zu Ehren: Die Wahrheit über die am meisten einleuchtende der drei monotheistischen Religionen ist aufbewahrt, ist erhöht und ist ins nicht dingfest zu Machende verschwunden. Der Autor von Nathan der Weise ist nicht Partei. Er engagiert sich für keine der drei Religionen, sehr wohl aber dafür, den Streit um die wahre Religion unter ihnen zu schlichten. Aber es müßte ja ein Wunder geschehen, sollte er im Rückgriff auf dieselbe Erzählung zu einem ganz anderen Vorschlag für das Selbstverständnis der drei unter sich unverträglichen Religionen kommen. Als erstes fällt auf, daß Lessing den »wahren« Ring ungleich wertvoller macht. Anstatt allein extrem schön (bellissimo) und entsprechend wertvoll zu sein, stattet er ihn mit der »Kraft« aus, daß der, der ihn seinem Wert gemäß trägt, Gefallen 109 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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erregt, und dies erstaunlicherweise nicht allein unter Menschen, sondern auch vor Gott: Der Ring macht ihn »angenehm«, macht ihn »beliebt«. Ist aber auch das Erbe deutlich an Wert unterschieden, so ist doch das Problem der Erbschaft das gleiche. Wieder tritt der Vater auf, der die Söhne »gleich« liebt. Nicht aber die Gleichheit der Liebe wird eigenverantwortlich für die Gleichheit der Erbschaft gemacht, sondern »fromme Schwachheit«. Und schon kommt es zur zweiten einschneidenden Neuerung: Die nachgefertigten Ringe werden dem »Musterring« »vollkommen« gleich gemacht. Vom Nachbildekünstler wird es nicht gesagt, aber vom Vater, der die Ringe bringt: Er kann sie selbst nicht mehr unterscheiden. Das »kaum«, das bei Boccaccio sein Gewicht hatte, entfällt. Das aber lädt zu einem Nebengedanken ein. Die Rede von »vollkommen gleich« ist hier eine gänzlich äußerliche. Anstatt den Gedanken der Vollkommenheit zu nutzen und die beiden weiteren Ringe wesensgleich mit dem ersten zu machen, zielt die Idee von äußerster Gleichheit wieder nicht auf mehr, als daß die Ringe für Menschen nicht unterscheidbar sind, in der Sache aber ihr Unterschied nicht aufgehoben ist. Der »echte« Ring bleibt singulär, welcher es aber von den dreien ist, »war nicht erweislich«. Der Sprung vom echten und rechten Ring zum echten und rechten Glauben gelingt nicht ganz. Ein »fast« schiebt sich dazwischen. Der rechte Glaube ist allein »fast« so unerweislich, wie es der rechte Ring ist. Die Söhne leiden unter der »frommen Schwachheit« ihres Vaters, mit der er sie alle drei hintergangen hat. So ziehen sie vor Gericht. Der Richter aber, der von dem ganzen Vorgang weiß, entscheidet wie folgt, und das ist die ebenso großartige wie verschlagene geistige Leistung Lessings: Durch die Erwägung, der hinterlistige Vater (wenn doch auch Zeus listig war!) könnte drei unechte Ringe haben anfertigen lassen, wird die Möglichkeit, ja Notwendigkeit des Glaubens geschaffen. Der Richter, den Lessing diesen Sprung von der Beweisführung und Wahrheitssicherung zum Für-wahr-Halten 110 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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gelingen läßt, gibt sich unmittelbar als Richter auf und wird zum menschlichen Ratgeber: Jeder der drei solle für sich glauben, den echten Ring vom Vater erhalten zu haben. Das ist freilich nur möglich, wenn die Wunderkraft des echten Ringes, Gefallen auf der Erde und im Himmel zu erregen, für eine rein introvertierte genommen wird, was zu tun Lessing mit drei Fragen suggeriert: »Die Ringe wirken nur zurück? und nicht/ Nach aussen? Jeder liebt sich selber nur/ Am meisten?«. Dann spielt jede Religion für sich, ohne etwas zu besitzen, das sie befähigte, sich ernstlich mit den beiden anderen zu messen. Der Glaube ist damit auf seinem Tiefpunkt angelangt und zum bloßen Fürwahr-Halten geworden, und dies mit der Reflexion im Hintergrund, es könnte auch alles unecht ein. Das schmeckt nach einer geradezu bösartigen Aufklärung: Glaube nur jeder für sich das Beste, aber tue er sich bitte nicht groß damit! 5 Bei Boccaccio bleibt der Streit offen, welche der drei die wahre Religion ist. Bei Lessing bleibt nur offen, ob er alle drei Religionen für der Möglichkeit nach unecht ansieht, oder, sollte eine allein die echte sein, dann doch eine bloße, sich im Inneren von Gläubigen abspielende Als-ob-Angelegenheit ist, die keinen Der Philosoph Kurt Hübner sieht sich durch Lessings Toleranzprinzip als Christ mit Recht um die Essentials seines Glaubens gebracht. Wie er allerdings das christliche formuliert, tut er allen Andersgläubigen dasselbe an. Spricht er auch von »ihren die Seele tief ergreifenden Erfahrungen des Absoluten« und konzediert er ihnen »die gleiche, fromme Ergriffenheit«, so ist er überzeugt, »leuchtet nicht allen das göttliche Licht der Offenbarung in der gleichen Klarheit«. Alle nichtchristlichen Religionen können in Anbetracht des Anspruchs der christlichen »auf absolute Geltung« im besten Falle von relativer Religiosität sein. Am Ende muß das christliche Liebesgebot sie vor »Unterdrückung« durch das Christentum bewahren. Zollt Hübner ihnen auch »allen Respekt«, dann kann das nicht Rücksicht, sondern allein Nachsicht meinen. Wer wirklich und das heißt richtig an Gott glaubt, muß christlich an die Dreifaltigkeit glauben. Alle anderen Religionen mit Transzendenzerfahrungen können, wie Kardinal Joseph Ratzinger das nannte, allein »adventistische« sein. Kurt Hübner, Das Christentum im Wettstreit der Weltreligionen. Zur Frage der Toleranz, Tübingen 2003.
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Streit lohnt, ja von sich aus nicht länger zum Streit führt. Lessing zeigt so in der Sicht der Religion erhellenden Aufklärung allein, wie der Streit um religiöse Wahrheit in Anbetracht des eigenen Nichtengagements am besten zum Einschlafen zu bringen ist. Die Einsicht, daß die monotheistischen Religionen zugunsten ihrer gemeinsam möglichen lebenspraktischen Fruchtbarkeit gehalten sind, sich ihrer Poetizität bewußt zu werden, ist damit verspielt. Nur wenn das Unmögliche möglich wird, und das Poetische ist das Vermögen des Unmöglichen, können sie sich bewußt werden, daß sie essentiell gleichrangig und gleichartig sind. Der Gebrauch, den Lessing von der Ringparabel macht, dient zweifellos dem Gedanken der Toleranz. Wie er ihn formt, ist er Gift für die Tolerierten. Zwar wird ihnen das Leben gelassen, zugleich aber versichert, daß man sie für ein gemeinsames Leben nicht braucht. Die nivellierende Vision des Versöhnlichen, mit der der Weise und Aufrichtige in Lessings dramatischem Gedicht wirkungsgeschichtlich Furore gemacht hat, beläßt den drei Religionen in Wahrheit keinerlei Positivität.
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I. Leben ist eine Sache des Vertrauens. Wer ohne Vertrauen in das Leben lebt, hat nur geringe Chancen, es in Freude und Zuversicht mit Anderen und mit sich selbst zu bestehen, hat aber ebenso wenig Chancen, es bei all seinen Beschwerden, Nöten und Schmerzen mit einem stillschweigenden Ja durchzustehen. Anstatt aber aus dem Lebendigsein selbst das Vertrauen in das Lebendigsein zu gewinnen, hat der Mensch es von Anbeginn bis heute weit eher verstanden, sein Lebensvertrauen höheren Mächten anzutragen, die er am liebsten mit Eigenschaften belehnt, die sie ihm auf absolute Distanz halten und die bewirken, daß sie dem eigenen Fühlen, Wollen, Denken und Verstehen für immer fremd bleiben. Als herausragende Eigenschaft zeigt sich ihre Belehnung mit einem Willen, der als reine Willkür auftritt. Er muß – zum Heil oder Unheil – unbegreiflich und unverständlich sein. Das eine wie das andere handeln sich die um das wahre Regiment ihres Lebens Besorgten dadurch ein, daß sie sich dem ganz anderen Willen vertrauensvoll unterwerfen. Was ihnen dann auch, wie sie es fühlen und deuten, zuteil wird an Güte und Segen, Zorn und Strafe, stärkt ihr Vertrauen. Freiwillig dem Unbegreiflichen und Unverständlichen ausgeliefert, um die eigenen Lebenssorgen auszulagern, kann alles, was sie für eine Zuteilung durch höchste Macht nehmen, nicht anders als gut und gerecht sein, und gehe darüber das Leben zugrunde. Das Rätsel des Vertrauens in einen fremden, ja absolut befremdlichen Willen ist das Rätsel der Transzendenz. Um – 113 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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emphatisch – wahre Hilfe für sein Leben zu finden, zeigt sich der Mensch versucht, von sich und seinen Möglichkeiten loszukommen, um vom ganz Anderen her, von dem her also, über das er unmöglich verfügt, sich in seinem Wollen bestimmen zu lassen. Mit der Übereignung des Willens aber, das ist das eigentliche Faktum dieser selbstgemachten Selbstlosigkeit, hat er auch schon, wie sich zeigt, das eigene Urteil übereignet. Ab sofort kennt sich in dem, was geschieht, nurmehr das ganz Andere aus. Was auch immer jetzt auf den Sichübereignethabenden an Belangvollem zukommt, kann nurmehr gut und gerecht sein, er verlöre denn sein Vertrauen. Damit hat er alles, was er für das Bestehen und Bejahen des Lebens braucht. Unmöglich freilich bleibt ihm verborgen, daß es von der Art des Ungeheuren ist. Anstatt nämlich von dem, was geschieht, herausgefordert zu sein, ist es nun sein Wie: die Güte und Gerechtigkeit, die er, voll des Vertrauens und bar jeden eigenen Urteils, in ihm zu sehen hat. Da der Mensch unmöglich von sich selbst loskommt, man dichtete ihm denn ein Vermögen des Von-sich-Loskommens an, das kein menschliches ist, muß Transzendenz als die zentrale Bestimmung des menschlich Unmöglichen genommen werden. Der Überstieg, das Darüberhinaus – all diese hermeneutische Verstiegenheit zielt auf eine Überhöhung des Menschen, die er unmöglich an sich selbst erfahren kann. Läßt sich das geistig Ergreifbare auch sprachlich-gedanklich unendlich erhöhen, ja überhöhen, so erreicht der menschliche Geist dabei doch keine anderen Höhen als die, die sich seine endlichen Kräfte erdenken und erdichten. Für die Idee der Transzendenz ist es kontraproduktiv, an einen »wirklichen«, »faktischen«, »ontischen« Überstieg zu denken, es sei denn, alles angesprochene wirkliche und tatsächliche Sein versteht sich als poetisches plus réel. Hat der Mensch auch Tiefen, die bis in das für ihn Unbekannte reichen, so ist er doch mit keinem seiner Vermögen in einer absoluten Höhe zuhause, wie sie seit alters im Bild des Himmels veranschaulicht wird, der sich in seine Bläue verliert. Jede Idee des 114 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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Unendlichen bleibt an das endliche Bewußtsein gekoppelt und ist ein sicheres Stück menschlicher Endlichkeit. 1 Ist es nicht der Himmel, der einlädt, einen Ort zu imaginieren, an dem alles ganz anders ist, auch der Mensch, eben der ganz neue Mensch, dann ist es die Welt, die menschlichen Geist dazu verführt, auch ermutigt, sich an eine Anschaulichkeit zu klammern, die Unmögliches als Vision gestaltet. Es ist das Bild, das sich die Welt als Binnenwelt ausmalt. Alles Welthafte sei in der Welt. Das suggeriert, es gäbe ein Außerhalb. Anstatt mit Welt die Ganzheit des vielartig Wirklichen anzusprechen, wird sie zum Gesamtort des Verächtlichen, weil nicht wahrhaft Wirklichen. Es ist dann zum Beispiel Paulus’ »diese Welt«, die Welt ohne Wahrheit, ohne wahres Sein und Wesen, die Welt des Fleisches, des Vergänglichen, der Lüge. Wäre nicht unbewußt Poesie am Werke, würde der Mensch sich damit ins absolute Unrecht setzen, nähme er doch die Welt mit all dem ihr zugeeigneten Fühlen, Wollen, Denken und Verstehen, die einzige Welt, die ihm die Chance gewährt, sein Menschsein voll auszuspielen und zu seiner Selbstbestimmung zu finden, für ein Nichts.
II. »Über alles, was uns wirklich ist, hinaus« – Platons epekeina tês ousias 2 hat philosophisch Maßstäbe gesetzt, wie in voller geistiger Klarheit der Mensch die Welt, in der er leibt und lebt, im Geiste verläßt, um einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus sich alles, was dem geselligen Menschen wirklich ist, als abkünftig und von minderer, ja nichtiger Art erklären läßt. Eine »Welt« ist mit dieser Geistestat geschaffen, in der es keinen Streit, nämSpricht man von buddhistischer Erleuchtung als »immanenter Transzendenz«, dann ist diese unvergleichlich mit geglaubter (transzendenter) Transzendenz. 2 Platon, Politeia VI 509b. 1
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lich keinen geistigen Streit mehr gibt. Menschliche Gesetzgeber, und werden sie auch göttlich genannt, liegen dagegen miteinander im Streit über das, was gerecht ist und was nicht. 3 Bevor aber ein unwandelbar und unstrittig Gerechtes dem einen Gott anvertraut wird, der, wenn auch unbegreiflich, nichts als gerecht ist, gilt es, divine Pluralität zu bedenken. Von griechischer Götterdichtung weiß Platon zu berichten, daß Götter nicht weniger als Menschen in Sachen Gerechtigkeit miteinander streiten. 4 Menschliches Transzendenzbegehren ist, formal gedeutet, das Begehren nach absolut Unstrittigem und damit auch Unwandelbarem. Der listigen Rede von einer »Immanenz des Wirklichen« und einer »rein innerweltlichen Perspektive« liegt keine Neugier zugrunde, die einmal gänzlich außerhalb des Gewohnten und Bekannten Erfahrungen sammeln will, sondern die Sehnsucht nach absoluter Verläßlichkeit. Ist die Lebendigkeit des menschlichen Fühlens, Wollens, Denkens und Verstehens nicht zuletzt darin erkennbar, daß sie Schwankungen, Änderungen, ja Umkehrungen unterliegt, so zeigt menschlicher Geist, wie ihn Platons Sokrates vorführt, sein höchstes Interesse ausgerechnet daran, was angesichts aller bekannten Lebendigkeit wie ein Totes wirkt: Nichts rührt sich mehr, nichts wächst und vergeht, nichts triumphiert und klagt. Das Gerechte ist nurmehr das Gerechte und nichts sonst – für immer, in jeder Hinsicht. Das absolut Geschichtslose ist somit geistig erfunden, das absolut Einfache und Unvermischte, in das kein Geist einen Keil zu treiben vermag, um es widersprüchlich und damit lebendig zu machen. Die fatale Präferenz der griechischen Ontologie für das Bleibende, die sich gegen das Leben richtet, spiegelt sich in gegenwärtigen philosophischen Vernunftoptionen, die für die absolute Präferenz des Konsens plädieren und dadurch nicht weniger fatal lebensfeindlich argumentieren. Platons Ideenphilosophie gleicht formal vollkommen mo3 4
Platon, Nomoi X 889e. Platon, Euthyphron, 7d–8e.
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notheistischer Theologie. Nur der Eine ist gut, 5 nur der Eine ist gerecht. 6 Entspringt der unmögliche Versuch der Transzendenz dem Verlangen, absolute Verläßlichkeit zu gewinnen, dann erhält der Einheitsgedanke Vorrang. Nur eine unwandelbare Identität garantiert, sich zu keiner Zeit und in keiner Situation zu ändern. Das Zeitliche und Situative ist damit – gedanklich – aufgehoben. Absolute Einheit und Ewigkeit bedingen gedanklich einander. Ewiges Leben, wie es der christliche Transzendenzglaube verspricht, zeichnet sich nicht durch Länge aus. Wie sollte Ewigkeit eine Länge haben, wie es der Ablaßhandel vortäuscht? Nein, das absolut Streitlose ist die Auszeichnung des ewigen Lebens: Es ist ewig ein und dasselbe – von lebendigen Veränderungen keine Spur. Das ganz andere Leben als das wahre und wirkliche läßt sich, gemessen am gelebten Leben, allein als Leblosigkeit vorstellen. Folgerichtig, wenn auch unfreiwillig, müßte der rechte tröstliche Rat dann lauten: Bejaht nur das Totsein, denn das ist das Leben ohne jeden Streit und ohne Vergänglichkeit.
III. Toren jeglicher Couleur, für die es keine Götter gibt, werden nach Maßgabe der von Platon erdachten Gesetzgeber 7 in Besserungsanstalten gesteckt, die Schlimmsten von ihnen ins Zuchthaus. Zeigt sich bei diesen nach angemessener Zeit keine Einsicht in göttliche Existenz, ist die Kapitalstrafe für sie vorgesehen. Dank seiner Situiertheit auf der Erde und unter dem Himmel fängt des Menschen Götterglaube, bevor man von Schwarzen Löchern wußte und »Raum«-Fahrt betrieb, verMatthäus 19,6; vgl. Platon Politeia II 379a–c. 5. Mose 32,4; Psalm 145,17; 1. Johannes 1,9; 2,1; vgl. Platon, Nomoi X 907b (hier, weil gefragt wird, ob es Götter gibt, Gott im Plural). 7 Platon, Nomoi X. 5 6
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ständlicherweise nicht selten mit Sonne, Mond und Sternen an. Werden freilich diese Himmelskörper, wie es Sophisten tun, zum Teil für Steine erkannt, ist es mit ihrem divinen Charakter erst einmal vorbei. Doch Platon kennt einen Weg, diesen ersichtlich wirklichen Dingen, die sich in für den Menschen bis vor kurzem unerreichbaren Höhen bewegen, den Charakter des Transzendenten zu bewahren. Er muß sie dazu nur vom Odium bloßer Körperlichkeit und Materialität befreien. Das geschieht nach bewährter philosophischer Manier dadurch, daß man ihnen ein unsichtbares geistiges Wesen einwohnen läßt, das ihre Bewegung regiert und ihnen Lebendigkeit verleiht: eine Seele. Einmal am Erdenken, der philosophischen Weise des Erdichtens, wissen Platons philosophische Gesetzgeber auch schon, daß die Seele älter ist als der Körper, sie also vor ihm existiert und somit ohne ihn zu existieren vermag, es sei denn, der Körper wäre, wie der Philosoph es sich denken muß, bei Göttern auf ewig mit der Seele verbunden.8 Das genügt für den Sprung, in der Seele nurmehr Göttliches, ja die Götter und den Gott zu sehen: daß, weil Seele oder Seelen als Ursache von diesem allen sich ergaben, und zwar gute in jeder Tugend, wir sie für Götter erklären, ob sie nun, als lebende Wesen, Körpern innewohnend oder wie immer sonst oder wodurch den ganzen Himmel ordnen?
Platon läßt den athenischen Gesetzgeber mit der Frage fortfahren: Gibt es jemanden, welcher, gibt er das zu, zu leugnen wagt, es sei alles mit Göttern angefüllt? 9
Das ruft den Toren auf den Plan, wie er auch in Psalm 14 ge-
Platon, Phaidros, 246d. Platon, Nomoi X 899b. Übersetzung Hieronymus Müller. Zu »alles mit Göttern angefüllt« siehe bereits Thales, Fragmente der Vorsokratiker Bd. I, gr./dt. (ed./trad. Hermann Diels/Walther Kranz) Berlin 1951, 79 Zeile 27 (Aristoteles, De anima A 5, 411a8). 8 9
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zeichnet zu finden ist. Denn auf diese appellative rhetorische Frage kann der Mitunterredner nur antworten: Einen so Unsinnigen (paraphronôn) gibt es nicht.
Ein Atheist, der sich dem Gotteserdenken (zum Beispiel beseelte Himmelskörper als Götter) aussetzt, kann, wie Platons Gesetzgeber es sehen, unmöglich Atheist bleiben. Für sie ist er ein unmögliches Wesen. Paraphronein, das ist Denken wider das Denken. Das ist Wahnsinn. Mit regierenden, bewegenden und belebenden Seelen wird der Himmel, der eigentlich des Menschen Welt abschließt, porös. Jetzt sind nicht mehr allein Natur und Zufall im Spiel, um für alles Verursachte zu stehen, das kein vom Menschen Verursachtes ist, sondern auch die Götter, der Gott. Der Existenz dieses Transzendenten, das menschliche Fähigkeiten des Erkennens absolut übersteigt und allein poetischen Vermögen zugänglich ist, genau dieser Existenz könne sich nur ein Tor entziehen, ein Irrer. Noch ist nicht ersichtlich, was eigentlich den platonischen Philosophen so überzeugt sein läßt, für die Existenz göttlichen, den Menschen fürsorglich zugetanen Wesens den Beweis (apodeixis) 10 erbracht zu haben.
IV. Daß Götter sich menschlicher Kunst (technê) verdanken, ist für Philosophen, wie Platon sie auftreten läßt, ausgeschlossen. Werke der Kunst, einschließlich der Dichtkunst (poêtikê technê), 11 sehen sie für unbedeutender (smikrotera), weil wesenloser 12 an, als das Große und Schöne, das Natur und Zufall zu verdanken ist. Platons Dichterkritik ist keine Entgleisung eines sonst 10 11 12
Platon, Nomoi X 893b. 886d: tekmêria. Platon, Sophistes 265ab; Aristoteles, Metaphysik Theta 2, 1046b3. Platon, Nomoi X 889a.
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höchst sensiblen Sinnes- und Geistesmenschen, sondern gehört zur Grundlage seiner Philosophie. Dichter nämlich können signifikant nicht das, was Philosophen können und was für den geistigen Menschen unabdingbar ist: das Verhältnis zu dem zu schaffen, was, den Menschen überragend, in allem des Menschen Maß ist. 13 Der Mensch, der geistig die Transzendenz braucht, kann ohne Götter und Gott, die im letzten alle Transzendenz verkörpern, nicht leben, nicht existieren. Götter jedoch sind ausnahmslos Gestalten und Werke der Poesie. Nun sind aber ausgerechnet die Dichter unfähig, dieses Werk auszuführen. Also muß der Philosoph das Erdichten der Götter übernehmen. Zur Notwendigkeit, den Dichtungscharakter seines Tuns von sich zu weisen, genügt ihm, daß er unmöglich mit Dichtern, die er begründeterweise für Sophisten nimmt, gleichgesetzt werden darf. Dichter sind nicht nur keine sicheren Tugendkandidaten und zeichnen sich nicht nur durch mangelnde Ernsthaftigkeit aus (man denke nur an Dichtungen, die darstellen, wie ein Gott in flagranti ertappt wird). 14 Sie machen die Kluft, die sie vom Philosophen trennt, allem zuvor dadurch zu einer absoluten, daß sie keinen Sinn für Wahrheit haben. Der Urheber der Wahrheit des erdachten, aber nicht nach der Art der Dichter erschaffenen Gottes, ist der Philosoph, der das Wagnis auf sich nimmt, die Wahrheit auch über höchste Dinge (megista) 15 zu sagen, weil es einzigartig an ihm ist, für die dem Menschen nötige Wahrheit einzustehen. 16 Die Bestimmung, daß Gott das Maß aller Dinge ist, entdeckt sich als unumgängliche philosophische Selbstanmaßung. Lesen sich das zweite und dritte Buch von Platons Politeia als behutsame EinPlaton, Nomoi IV 716c: »Der Gott aber ist uns am meisten das Maß aller Dinge« – an ihm ermessen sich Maßhalten und Maßlosigkeit. 14 Odyssee 8, 306–327. 15 Platon, Gorgias 451d7; Politikos 285e4; Nomoi X 888b; Siebter Brief 341b1. 16 Platon, Phaidros 247c. 13
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führung in die Argumentation, sich als Philosoph notwendig von den Dichtern distanzieren zu müssen, so ist die vollendete Dichterkritik Platons erst in den Dialogen Sophistes und Phaidros zu finden. Anders als die philosophischen Sophisten wie Protagoras, die bekennende Agnostiker sind, bejahen die poetischen Sophisten wie Homer die Existenz von Göttern. Dadurch sind sie für das, was Sache der Philosophie ist, die ungleich Gefährlicheren. Wagt der Philosoph den Weltüberstieg, um sachgemäß von dem zu berichten, was über den Himmel hinaus liegt, dann muß er sich zur Einführung zuallererst die nötige Distanz zu den Dichtern verschaffen: Den überhimmlischen Ort aber, weder hat ihn je ein Dichter von den Hiesigen würdig besungen, noch wird es je einer tun. 17
Platons philosophische Bürgen aber wissen, daß Dichter das nie taten, noch je tun werden, weil diese dazu nicht nur unfähig sind, sondern obendrein noch ihre Unfähigkeit verstellen, indem sie, was die Wahrheit der höchsten Dinge anbelangt, Lügengebilde verfertigen. Allein philosophisches Erdenken ist wahres Erdichten, wenn das heißt, wirklich die Wahrheit zu erdichten. Platon nennt das ein Wagnis. 18 Von einem solchen ist, insbesondere in den Spätdialogen, dann die Rede, wenn die philosophische Gesprächskunst an Grenzen stößt, wie sie etwa durch aufscheinende Widersprüchlichkeit und anerkannte Autorität gezogen sind, an Grenzen, die sie zu überwinden hat, soll sie ihrem selbstgestellten Wahrheitsauftrag nachkommen können. 19 Für Platon sind Gotteslügner ernstere Gegner als Gottes-
Platon, Phaidros 247e3 f. Bereits im Symposion (177ba–c) läßt Platon das Wort des Phaidros erinnern, daß noch kein Mensch bis heute gewagt habe, den Gott Eros würdig zu besingen. 18 Platon, Phaidros 247c4. 19 Platon, Theaitetos 196d2; 197a4; Sophistes 237a3. b8; 258e2; Politikos 306b6; Nomoi X 888a. 17
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leugner. 20 Letztere sind geistlose Materialisten. Der Philosoph muß ihnen entgegentreten, sie aber nicht weiter ernst nehmen. Platon wählt die ironische Rede vom Gigantenkampf, wenn er, im Bild, die Idealisten und Materialisten gegeneinander antreten läßt: Die einen werden handgreiflich, indem sie das Hohe in die Tiefe ziehen und Körper mit dem wahren Sein gleichsetzen; die anderen verteidigen sich von oben herab aus dem Unsichtbaren und setzen unkörperliche Ideen (asômata eidê) mit dem wahren Sein gleich. 21 Die Dichter dagegen greifen mit ihren Gotteslügen in den Bereich des Philosophen ein: Sie beflecken das Reich der Ideen und des Divinen. Dort, wo – in Wahrheit – das reine Gute, Schöne und Gerechte zuhause ist, die Wissenschaft selbst und die Besonnenheit selbst, 22 setzen sie mit ihren vermenschlichten Göttern nicht nur falsche Akzente, nein, sie verleiten dazu, daß die philosophische Selbstsuche des Menschen verendet. Platon weiß, daß sein Erdenken ein Erdichten ist. Eindeutig hält er es mit der Poesie, wenn es um die äußersten Möglichkeiten und Notwendigkeiten des geistigen Menschen geht. Sein Kriterium für geistige Wahrheit ist, daß dies Erdenken würdig (axiôs) 23 und ethisch schön (kalôs) verfährt. 24 Soll es im erdenkenden Erdichten der höchsten und wichtigsten Dinge so zugehen, daß die Art des Erdichtens bereits die Art des zu Erdichtenden teilt, dann sind nicht die Musen anzurufen, wie es Dichter tun, sondern die Götter selbst anzugehen, daß sie den Beweis ihrer Existenz führen.25 Freimütiger kann das Bekenntnis des Philosophen zur Wahrheits-Poesie gar nicht ausfallen. Der Unterschied wird im Englischen klarer als im Deutschen, in dem beide Wörter auf dieselbe Wurzel zurückgehen: to lie, to deny. 21 Platon, Sophistes 246ab. 22 Platon, Phaidros 247c6–e4. 23 Platon, Phaidros 247c4; Symposion 177c3. 24 Platon, Phaidros 257a3; 258d7; 259d7; e4; Phaidon 114d6 (107c4); 92d7; Nomoi X 898b3. 25 Platon, Nomoi X 893b. 20
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Erkennt Platon, daß die in Aussicht gestellte Erzählung und eben erdenkende Erdichtung (dihêgêsis) eine göttliche ist, und das ist jede Erzählung für ihn, die die Wahrheit der Seele und der Seelen betrifft, dann pflegt er die mögliche menschliche Variante dieser Erzählung zu wählen: das Gleichnis, das Bild. 26 In ihr folgt er genau dem Göttlichen. Stets hat der Philosoph, wenn es das Gute und Schlechte zu unterscheiden gilt, allein die Fährte des Guten im Sinn, des Vernünftigen und Tugendhaften, des Schönen und Würdigen. Dadurch gewinnt er in seinem Erdenken und Erdichten künstlerische Freiheit. Er muß nicht länger behaupten, daß es sich genau so verhält, wie er es darstellt, ja er kann sogar betonen, daß es unvernünftig wäre, das Dargestellte wörtlich zu nehmen. Aber er ist sich sicher, im Bilde, im Gleichnis die Sache ohne Abirrung von der Wahrheit getroffen zu haben. Es ist, wie schon gesagt, ein Wagnis (kindynos), so zu verfahren, aber am Ende stellt es sich als ein schönes und das heißt als ein gelungenes Wagnis heraus: Das schön Gesagte ist das treffend Gesagte. 27 Die wort- und bildreiche erzählerische Darstellung des Wesens der Seele ist ein Musterbeispiel dafür, wie Metaphysik überzeugend gelingen kann: Der Philosoph erdenkt ein wesens- und wahrheitsmächtiges Unsichtbares, das dank seiner reinen Vernünftigkeit und erschöpfenden Tugendhaftigkeit niemand anderes als ein Gott bzw. der Gott sein kann. Der Philosoph entbindet so die Selbstdarstellung Gottes, die die Beweisführung seiner Existenz einschließt.
V. Gottesleugner sind dumm, sind von Sinnen – so steht es in den Psalmen, so stellen es Platons Philosophen und Gesetzgeber fest. Hat bei Platon die Gottesleugnung auch die Form: »Und 26 27
Platon, Phaidon 90d–114d; Phaidros 246a–257b. Platon, Phaidon 91a; 107c4; 114d6.
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wenn es Götter gäbe, dann kümmerten sie sich nicht um die Menschen; und wenn sie sich um die Menschen kümmerten, dann wären sie dazu von den Menschen bestochen«, zeigt das keine andere Dummheit, als sie etwa denen eignet, die allein die Existenz von Gott und Göttern bezweifeln. Es ist bemerkenswert, daß Psalmisten und theologische Philosophen dem Gottlosen (atheos) ausgerechnet Unverstand und Unvernunft nachsagen, wenn der doch gerade Verstand und Vernunft aufbietet, um sein Bekenntnis zu begründen, daß es für die Existenz von Gott und Göttern, ist sie ernsthaft als eine nicht erdichtete gemeint, keinen überzeugenden Grund gibt. Nun ist der Vorwurf der Dummheit gegenüber Gottlosen zumindest zunächst ein zurückhaltender. Obwohl er von Gesetzgebern erhoben wird, ist es ein theologisch-philosophischer, kein unmittelbar politischer. Ist in Luthers Übersetzung des Alten Testaments vom Gottlosen die Rede, dann steht das Wort nicht für den a-theos, den wörtlich Gott-losen, sondern für den a-sebês, den Nicht-Ehrfürchtigen, Nicht-Gottesfürchtigen. Dieser ist keine geistige, sondern eine politische Größe: Er stellt sich außerhalb der allgemein eingehaltenen Normen. Der Gottlose dieser Kategorie ist nicht dumm, sondern böse und schändlich und damit bereits straffällig. Schildert Paulus im Römerbrief den Zorn Gottes »über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen«, 28 dann kommen in der Liste dieses desolaten Haufens, dessen Qualitäten von der Unvernunft bis zur Bosheit reichen, auch die Gotthasser (theostygeîs) vor. Die Doppelnatur der Gottlosigkeit konfrontiert den Philosophen mit der Frage, wie lange er beim Vorwurf der Dummheit bleiben kann und bleiben wird. Ob für ihn nicht gerade dadurch, daß er Gott »denkt«, aus neutraler Gottlosigkeit notwendig Widergöttlichkeit werden muß. Und an den Gläubigen richtet sich die Frage, ob er in Sachen Gott überhaupt Neutralität bewahren kann, ob
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Römer 1, 18 ff.
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ihm die »Leugnung« der Existenz Gottes nicht unmittelbar die intolerable Verweigerung von Gottesehrfurcht bedeutet. Ein Gottloser, der die Existenz eines Gottes wie die des geglaubten christlichen in seiner Dreifaltigkeit bezweifelt, lebt in einer anderen Welt als der gläubige Christ. Machen beide den Versuch, sich in derselben Welt zu treffen, um die Sache der Existenz Gottes verbal unter sich auszumachen, dann ist der Versuch prinzipiell zum Scheitern verurteilt, da sie, wie sie sich geistig aufführen, doch nicht in derselben Welt zum Gespräch zusammengekommen sind. Verstand und Vernunft sind fehldisponiert, wenn sie aus dem Glauben heraus den Verborgenen, in seinem Handeln Unbegreiflichen und in seiner Majestät Unaussprechbaren für die Lebenswelt als existent nachzuweisen suchen. Wer vor anders gesinntem Publikum seinen Gott »verteidigt«, hat keine Chance, etwas Überzeugendes vorzubringen. 29 Ein Gespür dafür, daß er das auch gar nicht nötig hat, geht ihm offensichtlich ab. Er steht ja selbst in einer gelingenden Gottesbeziehung. Daß diese in der Art und Weise ihres Vollzugs sich selbst genug ist, merkt er nicht.
In seinem Buch Über Rechtfertigung skizziert Martin Walser »Atheisten«, die im Fernsehen auftreten, als andauernd und überlegen Schmunzelnde, die vor Selbstzufriedenheit strahlen. Sie sind schick gekleidet und tun sich als Diskutanten dadurch hervor, daß sie »eher schnell und auffallend mühelos« reden. (Martin Walser, Über Rechtfertigung, 32–34) Ihr Spiel mit den »Befürwortern«, die ihren Gottesglauben zu formulieren suchen, sei schon darum ein leichtes, weil Moderation und Publikum auf ihrer Seite sind. Sein Vorwurf lautet: Sie haben keine Ahnung vom Fehl Gottes. Natürlich liegt ihm der Gedanke, religiöse Unbedürftigkeit zu bestrafen, fern. Überraschend aber ist, daß er bei sich den Neid auf alle hervorkehrt, die sich gerechtfertigt fühlen. (Martin Walser, Über Rechtfertigung, 13– 16) Der von ihm gewählte Gewährsmann Karl Barth hält es da entschieden anders. Für den ist es als Christusgläubigen unabdingbar, sich durch die Gnade Gottes gerechtfertigt zu wissen. Daß es sich sowohl bei der geglaubten Präsenz Gottes als auch beim geglaubten Fehl Gottes um Poesie handeln könnte, kommt für Walser nicht in Betracht.
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Im Disput zwischen Gottlosem und Gotthaber merkt aber nicht nur der Gläubige nicht, worum es eigentlich geht, sondern auch der Ungläubige nicht. Er ist in einem höheren Sinne dumm, als es Psalmist und theologischer Philosoph behaupten. Ist nämlich das Verhältnis zwischen Gott und dem an Gott Glaubenden dadurch eine Glaubenstatsache, daß in ihm als einem Binnenverhältnis nicht der Mensch Gott, sondern Gott den Menschen erschafft, dann kann es auch nicht der gläubige Mensch sein, der den Nachweis führt, daß das existiert, woran er glaubt. Gott selbst muß es sein, der den Nachweis seiner Existenz führt. Der Gottlose ist jetzt deswegen dumm, weil er vom Gläubigen etwas verlangt, das allein Sache des Geglaubten ist. Er ist also genau in dem Sinne dumm, daß er nicht merkt, vom Binnenverhältnis der Glaubenswelt ausgeschlossen zu sein und eben von ihm unmöglich eine Ahnung zu haben. In dieser Dummheit zieht er, das ist für die erhellende Aufklärung die erstaunliche Konsequenz, mit dem Gläubigen gleich. Der darf um seines Glaubens willen nicht merken, daß die Existenz Gottes die Sache des geglaubten Gottes ist, nicht aber die des an Gott Glaubenden. Der ist, um es zu wiederholen, in seinem Glauben sich selbst genug.
VI. Baut für den Christen sein Glaube auf Hoffnung und seine Hoffnung auf Glauben, auf den Glauben und die Hoffnung nämlich, wieder in die Gemeinschaft mit Gott zu finden, dann genügen Glauben und Hoffen sich selbst. Der Christ weiß, daß beide geistigen Haltungen und Vollzüge zeitlebens alles sind, was ihn als Christen trägt und prägt. Bringt man philosophisch, und in diesem Falle nicht theologisch, Licht in sein Glauben und Hoffen als ein von seinem Grunde her poetisches Handeln, dann ist noch klarer zu sehen, wie das Mensch-Gott-Verhältnis ein in sich schwingendes autarkes Ganzes ist. Ein Existenzgewißheits126 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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defizit und eine Existenzgewißheitsanstrengung hätten hier überhaupt keine Chance. Es würde sich vielmehr zeigen, daß jedes Unternehmen, die Existenz des geglaubten Gottes zu beweisen, seiner eigensten Art nach ein gottloses ist. Die von Anselm von Canterbury gestützte Idee, neben dem gläubigen Gottesverhältnis ein ergänzendes intellektuelles aufzubauen, ist eine von Grund auf in die Irre führende Vorstellung. Mit dem Unterfangen, die Existenz Gottes zu beweisen, kann der Gläubige nicht nur nichts anfangen, es liefe ihm auch zuwider. Geht aber der Gläubige in seinem autarken Gottesverhältnis auf, dann mag ihm zwar um seines Glauben willen daran liegen, ihn mit Anderen gemeinsam zu feiern, ja zu erleiden, aber er wird für sich keinen Grund finden, das Wort Atheist als Anklagewort und als Diffamierung zu nutzen. Im Glauben beweist Gott seine Existenz, das heißt sein Geglaubtsein. Der Schatz des Gläubigen ist sein Glaube. Was ein Atheist gegebenenfalls von ihm fordert, dringt unmöglich zu ihm durch. Verlangt ein streitbarer, über religiösen Glauben nicht erhellend aufgeklärter Atheist, daß der Gläubige, um seinen Glauben zu rechtfertigen, die Lebenswelt des Realitätssinnes und des bon sens zu einer Glaubenswelt machen können müßte, dann entspringt dieses Ansinnen der Dummheit des Atheisten in dem angezeigten höheren Sinne. Die Glaubenswelt ist eine geistige, in der die Gesetze der Natur und des Alltags keine Rechtsansprüche durchzusetzen haben. Auch philosophisches Denken, wie Platon es vorführt, sieht sich als Gottesdenken nicht gefordert, von der denkenden menschlichen Seite her den Beweis für die Existenz des Gedachten anzutreten. Das kann und muß es der gedachten Seite, der Gottesseite überlassen: Mit allem – philosophischen – Eifer seien sie hdie Götteri zum Beweis, daß sie sind, herbeigerufen. 30
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Platon, Nomoi X 893b2. E. Ü.
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Regiert die Seele das Verhältnis von Leib und Seele, dann regieren die Götter das Verhältnis von Menschen und Göttern. Die Götter sind von Platons Philosophen und Gesetzgebern als seinsmächtig erdacht. Es sind die Götter, die es vermögen, bei den Menschen etwas auszurichten, nicht aber reicht menschliches Vermögen dazu, etwas bei den Göttern zu bewirken, etwa dies, daß sie sie zu ihren Gunsten mit Gaben umstimmen. Sind aber in dem autarken geistigen Verhältnis von Göttern und Menschen als einem poetisch-denkerischen die Götter als die Seinsmächtigeren und damit als die Seinsmächtigen gedacht, dann können Beweis und Aufweis ihres Gegebenseins nur an ihnen selbst liegen. Der Philosoph kann nicht darauf verweisen, daß er sie doch gedacht habe, sie also als die von ihm Erdichteten und Erdachten existierten. Er muß vielmehr seine Dichtung wirksam und wirklich werden lassen und sie ja nicht für bloße Dichtung erklären. Dann sind es notwendig die Götter, die mit ihrer Seinsmacht ihr Sein zur Geltung bringen. Wie die Poesie des Glaubens, um sich als Poesie zu verdekken, notwendig von Gott, nicht vom Menschen aus dichtet (nicht der Mensch bildet Gott, sondern Gott schafft den Menschen), so hat auch die Poesie des Denkens, um als Denken zu überzeugen, von Gott aus zu denken, nicht vom Menschen aus. Gott ist das Maß aller Dinge, nicht der Mensch. 31 Was Gott kann, kann der denkende Mensch nur »fast«, kann er »kaum«, kann er »nicht für immer«. 32 Anstatt daß der Gott, weil vom Philosophen als die absolute Überhöhung seiner selbst gedacht, dem Menschen ähnlich wäre, ist es der geistige Mensch, dem die unendliche Aufgabe zugedacht ist, sich Gott anzugleichen. 33 Der Philosoph, von Gott her gedacht als der Gott Nächste, kennt unmöglich eine lichtvollere Aufklärung, als die Teilhabe Siehe oben S. 120 Anm. 13. Platon, Phaidros 248a ff.; Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 1072b15– 25. 33 Platon, Theaitetos 176b1 f. 31 32
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am Anblick reiner Ideen. Wie es poetische philosophische Emphatik will, gibt es für die geistigen Kräfte nur ein Licht: die Wahrheit. 34 Weil für den Philosophen Schönheit durchgängig für den Reiz des Guten und Frommen steht, ist Wahrheit in der Gestalt der Schönheit das Hervorleuchtendste. 35 Das Göttliche am philosophischen Denken ist, im Denken bei sich selbst zu sein: Wahrheit als das reine Selbstverhältnis des Denkens, als das autarke Verhältnis von gedachtem Gott und denkendem Menschen, in dem der Denkende die Macht und das Vermögen des Denkens dem zu Denkenden überläßt. Das ist Metaphysik als verdeckte Poesie des Denkens, die es das Fest des l’art pour l’art feiern läßt: denken, um zu denken. Der Absolutsetzung der Vernunft, die die Setzung Gottes als Vernunft einschließt, ist keine Aufklärung gewachsen, weil der Philosoph in dieser Selbstsetzung die reine Selbstgleichung der Vernunft erfährt. Natürlich ist der überhimmlische Ort ein utopischer Ort, solange Verstand und Vernunft sich am Realitätssinn orientieren, was im alltäglichen und im wissenschaftlichen Verhalten unerläßlich ist. Wird jedoch im emphatischen und enthusiastischen Denken die elementare Kraft des erdichtenden Erdenkens erkannt, dann ist der überhimmlische Ort ein voll besetzter: besetzt mit philosophischer Poesie. Das Ansinnen eines Atheisten, daß es den Gott des Philosophen gar nicht gebe, spräche aus einer geistlosen Welt, wäre das Wort eines zuhöchst Dummen. Wie beim religiösen Glauben zeigt sich auch beim theologischen Denken, daß der Atheist es signifikant nicht vermag, sich auf durch die Kraft des Poetischen gegründete autarke geistige Verhältnisse einzulassen.
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Platon, Phaidros 247c. Platon, Phaidros 250de.
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I. Um in Gerechtigkeit zu leben, die er sich verspricht, weil sie ihm als die Gottes versprochen ist, ist der Gläubige bereit, die Himmel zu wechseln und einen neuen Himmel zu beziehen, mit ihm eine neue Erde. Dann wird er als neuer Mensch in einem neuen Leben wandeln, neuen Herzens und neuen Geistes. 1 Ist dem Christusgläubigen, wie ihn Paulus und Karl Barth fordern, der Glaube von absoluter Notwendigkeit, dann ist er zum Wechsel der Himmel nicht nur bereit, sondern er ist ihm, um seines Glaubens willen, die erste und letzte Not. Wer eine Verbesserung der Lebenswelt als nötig propagiert, durch die alles ganz anders, nämlich ganz neu und gänzlich gut wird – die Provenienz seiner revolutionären Gesinnung mag sein, welche sie will –, läßt am »Alten« nichts Gutes. Er hat sein absolutes Urteil bereits über all die gefällt, die im Vertrauen auf Möglichkeiten menschlichen Gelingens, wie sie in lebensteiligen Verhältnissen vielfältig realisiert sind, den Aufenthalt auf der Erde und unter dem Himmel als den angestammten bejahen. Sie lehrt die Erfahrung, daß allein die Ziele in einem menschlichen Sinne »ideal« sein können, die mit Mitteln erstrebt werden, die nach Form und Gehalt dem Erstrebten gleichen – im
Siehe unter anderem Jesaja 65,17; Hesekiel 18,31; Römer 6,4; Epheser 2,15; 4,24; 2. Petrus 3,13.
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11. Mysterium fidei – Geheimnis des Lebens
Sinne der alten Einsicht, daß Zuneigung Zuneigung, Übel dagegen Übel erzeugt. 2 Sich von dieser Erde hinwegzusehnen, aus dieser Welt, von diesem Leben, von diesen Menschen, um am liebsten von einem Augenblick zum anderen ganz wo anders die Zelte aufzuschlagen als ganz Anderer – welches Veränderungspotential steckt in dieser Sehnsucht, falls überhaupt eines in ihr steckt? Fest steht in jedem Falle, daß nichts von dem Ersehnten im Leben erreicht wird, wenn doch das Leben, das die Revolution erlebt, selbst ein ganz anderes sein soll. Damit ist aber auch schon die Einsicht gegeben, daß dem Sehnsüchtigen sein Ersehntes völlig fremd sein muß. Bekannt ist das Wovon-hinweg und mit ihm der gesamte Schatz möglichen und wirklichen Menschseins. Sollte die Sehnsucht konkret werden können, dann müßte es bereits der neue Mensch sein, der um sich als das Ziel des alten Menschen weiß. Des Rätsels Lösung ist hier allein dies, daß der Sichhinwegsehnende, dem eine Zielkonkretisierung methodisch verwehrt ist, sich zu dem bekennt, was er als Sichhinwegsehnender eigentlich tut: Er dichtet. Verzichtet er auch darauf, sich das neue Reich der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Todlosigkeit des näheren auszumalen, bleibt es bei diesen konnotationsgewichtigen Formalbestimmungen, dann bleibt er doch nicht völlig unbehelligt von der Einsicht, daß er sowohl »hier« als auch »dort« ist. Menschliches Transzendieren spielt sehr wohl allen Ernstes mit dem Menschenunmöglichen. Der redliche Mensch wird dann aber auch noch sein äußerstes Außer-Sich als ein Bei-Sich begreifen. Auf diese Weise ist Transzendenz menschliche Möglichkeit und nicht Unmöglichkeit. Der Mensch, der kraft Poesie sowohl »hier« als auch »dort« ist, betrügt sich nicht. Er lebt seine Sehnsucht aus, seinen Veränderungs- und Verbesserungswillen, seine Not, angesichts der geistigen, psychischen und physischen Widerwärtigkeiten, ja Unerträglichkeiten des Lebens, sich Trost zuzuspielen. Sich 2
Sophokles, Ajax 522 und 866/1197.
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theoretisch wie praktisch den Selbstüberstieg zuzutrauen, kann sich als Kraftquell ohnegleichen erweisen und dadurch legitimieren. Es ist dann sogar angebracht, von einer lebenspraktischen Verifikation zu sprechen. Diese Verifikation ist freilich nur durchführbar, wenn dadurch das Leben, das »hier« gelebt wird, sein volles Recht zurückerhält, gelebt zu werden. Das ersehnte ganz andere Glück kann in seiner Poetizität nur fruchtbar werden, wenn es für ein Lebensbewußtsein wirksam wird, das in seinem Grunde die Selbstbejahung des Lebens austrägt. So gesehen ist der Überstieg über alles Faktische kein abstrakt-utopischer Vorgang, sondern die Konkretion einer höchstvermögenden Selbstbeschenkung – durch die Poetica abscondita.
II. Transzendenz reißt den Menschen nicht notwendig von dem los, was ihm in seinem mit Anderen geteilten Leben Halt gewährt und Einhalt gebietet. Gelingendenfalls kann durch sie seine Verbindung mit dem, was sein Leben trägt, sogar gestärkt werden. Verbindung in der lebenspraktisch förderlichen Form der Verbundenheit benennt das gelingende Zusammen eines Auseinander. Der Unterschied, der die eigentliche Verbundenheit des Menschen begründet und zum Ausdruck bringt, ist der Unterschied von Mensch und Erde, Erde verstanden als die Gesamtheit der von der Natur erfüllten Bedingungen menschlichen Lebens einschließlich des kulturellen und geistigen Lebens. Der Unterschied von Mensch und Gott konkurriert nicht mit dem Unterschied von Mensch und Erde als den seine eigentliche Verbundenheit benennenden. Der Unterschied von Mensch und Gott ist, wie religiöse Poesie es will, gottgemacht. Da Poesie im weitesten Sinne von Natur zur Natur des Menschen gehört (Philosophie, wie es auch Humangenetiker verstehen, gehört ebenso zur menschlichen Natur), ist die Unterscheidung von 132 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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Mensch und Gott etwas, das der Mensch von sich aus in seine Verbindung mit der Natur einbringt. Neben der Lebensgemeinschaft von Erde und Mensch ist Gott nichts Drittes. Die Verbundenheit von Mensch und Erde ist kein Geschehen, das nach Naturgesetzen verläuft, sondern verlangt vom Menschen Spontaneität. Sind die Zeiten bedrohlicher Übermacht der Naturkräfte der Erde, von möglichen Vulkanausbrüchen, Erd- und Seebeben, Hurrikanen sowie Meteoriteneinschlägen abgesehen, für den Menschen vorerst Vergangenheit, weil er die Herrschaft über das übernommen hat, was die Erde ihm als nötige und unnötige Lebensressourcen zu bieten hat, dann ist die Sicherung der lebensermöglichenden Verbundenheit mit der Erde insoweit in die Alleinverantwortung des Menschen übergegangen, und dies im für das Leben des Menschen günstigsten Falle, bis kosmische Kräfte die Lebensgemeinschaft von Mensch und Erde auflösen. Die vorgegebene Form, die nötige Verantwortung zu übernehmen, ist die Politik samt politischer Gesetzgebung. Moralische Gesetze sind nur insoweit tauglich, als sie in die politische Gesetzgebung eingehen. Da Gesetze nur das wert sind, was sich von ihnen auch in der Gesellschaft verbindlich durchsetzen läßt, sind moralische Appelle, hinter denen keine politischen Sanktionsmöglichkeiten stehen, allenfalls geistige Nahrung, für sich genommen aber taugen sie nicht, um sich für die Lebensgemeinschaft von Mensch und Erde verantwortlich zu geben. Das gilt auch für den religiös-poetischen Appell »Bewahrt die Schöpfung!«. Das ist ein gutes, weil in viele Ohren fallendes Wort. Aber es bedarf, um nachhaltig zu wirken, der politischgesetzlichen Verankerung und einer mit ihr verbundenen Durchsetzungskraft.
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III. Es ist davon auszugehen, daß weder der Mensch noch die Erde auf absehbare Zeit sich, was beider Verbundenheit angeht, signifikant ändern. Ein Beispiel ist die Erderwärmung, zu der beizutragen der Mensch nicht nachläßt und die zu »erleiden« die Erde naturgesetzlich bereit ist. Deswegen verdienen Weltverbesserungskonzepte mit Anspruch auf sofortige Umsetzbarkeit größte Skepsis. Der politische Gesetzgebungsprozeß wird solange anhalten, als die Lebensgemeinschaft von Mensch und Erde besteht. Er wird, aus Erfahrung klug, davon ausgehen, daß die Verbindung von Erde und Mensch sich ihrer Natur nach nicht ändert. Darum kann auch der Mensch auf absehbare Zeit nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Sofortverbesserer suggerieren fälschlich, es könne mit dem Menschen zu einem Zeitpunkt mit einem Schlag alles anders werden, wenn nur … Das ist ein irreführender Vorgriff auf Zukunft und eine nachhaltige Schwächung der von ihr ausgehenden Stärkung gegenwärtiger Lebenskraft. Die bessere Zukunft, die heile Zukunft – das sind Irrlichter, die aus den Sümpfen aufsteigen, zu denen Weltverbesserungspropheten die bewohnte Erde machen, wie sie den Menschen der Gegenwart trägt. Wie nachzuweisen war, setzen wirkungsgeschichtlich erfolgreiche Eschatologen auf Wiederholung. 3 Sie erdenken und erdichten eine absolute Zukunft, in der alles wieder gut wird. Halten wir uns dagegen an den geschichtlichen Menschen und die von ihm tatsächlich gelebte Zeit, dann zeigt sich, wie Zukunft die zeitliche Stätte wahrhaftiger Wiederholung ist. Der Mensch ist es, der sich wiederholt – im Umgang mit der Erde und mit Seinesgleichen. Mögen sich die technischen und ökonomischen Begleitumstände dieses Umgangs auch noch so gewaltig ändern, in seiner Rücksichtslosigkeit sowohl in der Ausbeutung der Schätze der Erde als auch in der Vorteilnahme gegenüber Seinesgleichen wiederholt 3
Siehe oben S. 70 ff.
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sich der Mensch. Wird diese Rücksichtslosigkeit auch nicht selten eingeschränkt, um Ausbeutung und Vorteilnahme nicht zu gefährden, so ist doch selbst das kein Grund, sie auch nur in dieser Absicht durchgängig einzuschränken. Der geschichtliche Mensch demonstriert, daß er, auch auf Kosten seiner selbst, sich zu wiederholen bereit ist. Dem Menschen nachzusagen, daß er sich nicht ändert und »bessert«, heißt nicht, ihn schlechtzureden, sondern dient allein der Feststellung, wie er ist. Daß er sich unter gewandelten Bedingungen auch im Geistig-Geistlichen wiederholt, ist darum kein Wunder, selbst wenn es dann oft gerade die sind, die auf seine radikale Änderung setzen, die sich massiv an Wiederholungen beteiligen. Wollte man im alten Griechenland einen politischen oder persönlichen Gegner ausschalten, dann war es beliebt, weil erfolgreich, ihm einen Asebieprozeß anzuhängen. In Gemeinschaft ausgeübte menschliche Praxis, die sich auf etwas Ungreifbares, Unerforschliches und Unnahbares bezieht, eignet sich hervorragend dafür, als eine falsch oder gar nicht ausgeübte Praxis denunziert zu werden. Der Schierlingstod eines »Gottlosen« wie Sokrates und der Flammentod einer »Hexe« sind bei aller Unterschiedenheit der religiösen und juridikalen Kultur, die zu diesen Vorkommnissen geführt hat, unmittelbar als Wiederholungen erkennbar: Das Ungreifbare verschafft den Richtern die absolute Härte, die unhinterfragbare Orthodoxie ihres Urteils. Der Gott, wie ihn altjüdische Poesie schuf und wie ihn religiöse Begabung als einzigartiges Wesen glaubte, fürchtete und anflehte, war selbst höchst emotional, und dies ganz besonders, wenn es um seine Monopolstellung ging. Wer Glauben praktizierte, der nicht ihm, sondern etwa Baal galt, wer also andere Götter neben ihm akzeptierte, ja vorzog, die eigentlich gar keine Götter waren, wurde, nach bezeugter Anklage, gesteinigt. Bei einem Glauben wie dem römisch-katholischen hat seine institutionalisierte Vertretung heute nicht mehr das politische und kulturelle Plazet zur Kapitalstrafe, doch eines wiederholt sich 135 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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deutlich: der Alleinvertretungsanspruch. Läßt das 5. Buch Mose den Gott der Israeliten sagen: »Du sollst keine anderen Götter vor meinem Angesicht haben«, 4 dann wiederholt das 2012 das Haupt der römisch-katholischen Kirche, wenn es sinngemäß sagt: »Du sollst keinen anderen Glauben praktizieren als den, den unsere Orthodoxie festgelegt hat«. Steigert sich religiöse Poesie konsequenterweise ins Absolute, dann gibt es keinen Spielraum für eine zweite Orthodoxie.
IV. Wer nach Konstanten menschlichen Verhaltens Ausschau hält, bemerkt schnell, daß keine schlechtweg zu verallgemeinern ist, weil der Mensch sich auch jeweils anders verhalten kann. An den Konstanten ist aber, wie schon der Name sagt, nicht die Verallgemeinerung das eigentlich Bedeutsame, sondern das sich durch die Zeiten Durchhaltende, es versteht sich: durch die Zeiten des geschichtlichen Menschen, der sich auf keine absolute, von Eschatologen erdachte Zukunft einläßt, schon weil er für eine solche überhaupt nicht tauglich ist. Die Rede von Konstanten stellt von sich aus die Frage, was den Menschen dazu bringt, etwas in seinem Gebaren durchzuhalten. Doch anstatt, in Anlehnung an eine psychologische Anthropologie, Trieb, Sucht, Gier, Wille und Lust zu unterscheiden, soll durchgängig von Bedürfnis und dementsprechend von Verlangen die Rede sein. Sieben Beispiele mögen genügen: (das Bedürfnis) gesellig zu sein, Vertrauen haben zu können, Anerkennung zu finden, gestalten zu können, Wissen zu erlangen, Anderen überlegen zu sein, mehr zu haben als Andere. Sind die angeführten Beispiele wirklich Konstanten, dann ist mit ihnen gesagt: Wer eine Menschenwelt schildert, in der auch 5. Mose, 5,7; 2. Mose 20,3: »Du sollst keine anderen Götter außer mir haben«. 4
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nur eine dieser sieben nicht vorkommt, ja gezielt aus ihr ausgeschlossen wird, der redet von etwas, das nicht den Menschen betrifft, der wir selbst sind und dem wir in der uns prägenden Kulturgeschichte begegnen. Das besagt freilich nicht, daß in der Lebens- und Sterbenswelt des Menschen ein einheitliches, in sich durchsichtiges Gebilde zu sehen sei. Es liegt an den Konstanten selbst, daß »unsere« Welt die unterschiedlichsten Gestaltungen findet, weil in den Konstanten durchgängig das Potential steckt, sich das »Menschliche« einander streitig zu machen. Das Bedürfnis, Vertrauen haben zu können, kann sich aufspalten in das Bedürfnis, Vertrauen zu sich selbst und in das eigene Leben haben zu können, des weiteren Vertrauen in den geselligen und in den fremden Anderen, ja darüber hinaus in das, was im Leben Macht über uns hat. Ist damit eine höhere Macht und gar Allmacht angesprochen, dann sind wir in diesem Falle mit einem Vertrauensbedürfnis konfrontiert, das sich allein der religiös Gläubige zutraut, mit einem Bedürfnis also, das auf Poesie basiert. Ohne daß er es merkte, wird der Gläubige spontan: Je mehr er sich – vertrauensvoll – dem Willen und das heißt der Führung Gottes ergibt, desto poetischer wird sein Verhalten. Anstatt zu bemerken, daß er damit sein Lebens- und Weltvertrauen steigert, versteht er sich als ein Sichhinwegsehnender – aus diesem endlichen Leben ins ewige, aus dieser heillosen Welt in das Reich des Heils. Darum dichtet er auch: damit wir nicht auf uns selbst vertrauen und von uns selbst überzeugt sind, sondern auf Gott vertrauen, der die Toten erweckt. 5
Je mehr er in seinem gläubigen Vertrauen und im Nichtbemerken der Poetizität desselben bestärkt ist, umso zustimmender vermag er sich auf sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod, entsprechend auf das Leben und den Tod Anderer einzulassen. So sieht es jedenfalls der erhellend Aufklärende. Insofern aber 5
2. Korinther 1,9.
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der Gläubige um seines Glaubens willen auch nicht erhellend aufgeklärt ist, stellt sich das Paradoxon ein: Das endliche Leben wird bejaht, indem es negiert und in ein ewiges aufgehoben wird. Auch das Bedürfnis zu gestalten entdeckt den inneren Zug, mehr im Sinn zu haben, als in der Lebensgemeinschaft von Mensch und Erde möglich ist. Es ist, als ob das Verlangen zu gestalten ein Transzendenzverlangen schüre und auch befriedige. Weiß Homer von gefallenen Kriegern vor Troja zu berichten, die ein Mann mit einer lieblichen Nymphe gezeugt habe, 6 dann zeigt episches Gestalten das Bedürfnis und das Vermögen, die Lebenswelt um ein Unmögliches zu bereichern. Jeder Bildhauer, der sich auf sein Metier versteht, tut das Gleiche. Nackte Jünglinge, wie sie Phidias und Lehmbruck gestalten, gibt es mit ihrer Schönheit und mit ihren überlängten Gliedern nicht lebend geboren. Es sind Neuschöpfungen, die, an öffentlichen Orten zu sehen, genau die Welt mit einer Wirklichkeit bereichern, die nicht von dieser Welt ist. Gesellt sich zum Gestaltungsbedürfnis das Bedürfnis, künstlerisch Gestaltetes zu betrachten, dann werden auch die Betrachter zu Mitschöpfern an einer Welt, die von einer höheren Wirklichkeit ist als die, in der wir von Natur leben. Die höhere Wirklichkeit der Kunst ist keine zweite Wirklichkeit, ist nicht die einer anderen Welt. Künstlerisches Gestalten steigert die menschliche Lebenswirklichkeit, übersteigt sie aber nicht in ein ganz Anderes. Darum ist der leitende Wesenszug der Kunst, das, was die Wirklichkeit unterbietet, wie es das Gewohnte und Banale tun, zu zerstören, das aber, was die Wirklichkeit überbietet, neu zu erbauen, etwas, das dem geselligen und endlichen Leben zugutekommt. Das gilt auch für religiöse Poesie in ihrem Unterbieten, wie sie es mit dem ihr eigenen Nihilismus betreibt, nicht weniger in ihrem Überbieten, wie es jedes Begreifen in die Unbegreiflichkeit verschlägt. Wird ihr Pa6
Ilias 6,21 f.; 14,444.
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radoxon durchschaut, dann sind gerade ihre Formen der Transzendenz und das heißt des Sichhinwegsehnens in ihrem praktischen Ergebnis Affirmationen des zu lebenden Lebens. Glückt Religiosität, dann bedeutet das eine Stärkung der Lebensbefähigung. Anstatt im Zuge der Vergänglichkeit gegenläufig blind auf Ewigkeit zu setzen, wird vielmehr die Entschiedenheit gestärkt, im Leben affirmativ präsent zu sein.
V. Leben beginnt mit der Geburt, hat seinen vitalen Höhepunkt in der Weitergabe von Leben und endet mit dem Tod. Die Vergänglichkeit des Lebendigen bekommt ihr Recht. Wissenschaft und Technik vertun sich am Leben, vertun sich am Menschen, wenn sie mit ihrem Fortschritts- und Machbarkeitswahn davon abzulenken suchen und auch tatsächlich ablenken. Theologie vertut sich am Menschen, wenn sie sein endliches Leben mit dem Hohn und Spott ihres speziellen Nihilismus überzieht und dabei in einem fort ruft: »Selber schuld, selber schuld«. Der Mensch ist an der Art und Weise seiner Lebendigkeit und an der Faktizität seiner Konstanten nicht schuld, ja eben unmöglich schuld. Das Erschrecken, das ihm Theologie, ich meine hier aus Kenntnisgründen christliche Theologie, wegen seiner Art, lebendig zu sein, einjagt, ist im genauen Sinne des Wortes abartig. Nun haben sehr viele Menschen ein Problem mit der Vergänglichkeit, mit Altern, Hinfälligkeit und Tod. Wer hätte das nicht, möchte man gegen die Theologie fragen, wenn sie sich anheischig macht, das Problem, das Menschen da haben, zu lösen. Die Frage, die der Mensch in Anbetracht von Geburt, Liebe und Tod sich selbst ist, ist unbeantwortbar. Wie kein Satz etwas über sich selbst auszusagen vermag, so kann auch das Leben nichts über sich selbst aussagen. Der Tod ist ebenso unerbittlich wie der Punkt, der den Satz abschließt. Aber es gibt die Künste, und wie es sie gibt, verstehen sie sich akkurat darauf, der Unbe139 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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antwortbarkeit dieser Frage immer neu, das Leben des Menschen begleitend und stimulierend, Gestalt zu verleihen. Allem voran tut es die Lebenskunst mit ihrem Vermögen der gelingenden Lebensteilung. Gemeinsam die Frage des Menschen nach sich selbst zu stellen und ihre Unbeantwortbarkeit immer neu zu erfahren und ihr immer neu eine Form zu geben, ist die genuine Art des Menschen, kraft seines poetischen Vermögens sich damit vertraut zu machen, daß er mehr ist, als er weiß und wissen kann. Das ist nicht zu hoch gesagt und ist kein leeres Pathos, wenn in Menschen die Einsicht Raum greift, selbst für sich selbst ein unverratbares Geheimnis zu sein. Nicht der dahinlebende Mensch, erst und allein der Künstler ist es, der zu diesem Geheimnis führt. Ohne poetische Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Frage des Menschen gäbe es kein Geheimnis des Menschen. Das ist auch eine Einladung an Religion und Theologie, das von ihnen viel beschworene metanoeite, »denkt um!«, auf sich selbst anzuwenden. Es ist die Einladung, sich ihrer Poetizität anzunehmen. Wie ihnen das gelingen soll, muß ihre Sache bleiben. Doch daß sie das Potential dazu haben, beweist das außerordentliche Interesse an ihnen, das unter Menschen herrscht. Auferstehung zum Beispiel als Poetisierung des Todes eröffnet geistig und emotional eine machtvolle Freiheit gegenüber dem biologisch Unabänderlichen. 7 Benedikt XVI., der die leibhaftige Auferstehung als Realgeschehen als für den römisch-katholischen Glauben unverzichtbar diktiert, findet für das geglaubte »Ereignis in der Geschichte« mit reichlich Vorbehalt (»vielleicht« usw.) als Vorschlag, es zu verstehen, es »als so etwas wie einen radikalen ›Mutationssprung‹« anzusehen. Eine radikale und sprunghafte Veränderung wäre die Verwandlung eines Leichnams in einen leibhaftig und ewig Lebendigen in der Tat. Mit diesem Ausdruck wird allein die Rede von des Leichnams Auferstehung (Jesaja 26,19) wiederholt, aber nicht erklärt, wie sich dies als Realgeschehen ereignen können soll. Der Ausdruck erklärt aber nicht nur nichts, er deutet auch nichts. Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, 2. Teil, Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg 2011, 299. 7
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VI. »Und sie werden nichts Böses mehr tun und niemand wird es mehr vermögen, etwas zu verderben« 8 – das ist ein Bild des unmöglichen Menschen, wie es ein Bild des unmöglichen Tiers ist, wenn es im Kontext heißt: »Da werden Wolf und Lamm gemeinsam Mahlzeit halten«. Die Bilder möchten gelingendes Leben in seiner Vollkommenheit zeigen, was sie jedoch erzählen, ist der Mensch ohne die Lebendigkeit des Menschen, das Tier ohne die Lebendigkeit des Tiers. Der leblose, der »tote« Mensch aber ist keine Antwort auf die Frage, die der Mensch sich selbst ist, ja nicht einmal eine Gestaltung ihrer Unbeantwortbarkeit, es sei denn, der Gläubige hörte in den Worten des Propheten etwas von dem geglaubten ganz anderen und gänzlich neuen Leben. Das ist ein wichtiger Vorbehalt, denn der Gläubige sieht sich bei all seinem offenkundigen Vermögen, poetisch auf die Poetica abscondita zu antworten, in keinem Augenblick seiner gläubigen Praxis mit etwas konfrontiert, das ein Mensch schuf, sondern weiß sich ganz woanders. Gehört es zum geschichtlichen Menschen, sein Wissen um die eigene Endlichkeit als die stärkste Motivation zu erfahren, seine eigenste Frage zu stellen, dann hat er nicht nur seine Nachdenklichkeit genutzt, ihrer Unbeantwortbarkeit Gestalt zu verleihen. Finden wir aber in Dichtung, bildender Kunst, Musik, Schauspiel, Film, Tanz und Architektur Gestaltungen von bisweilen überwältigender Ausdruckskraft, die unserer Einsicht, hier keine Antwort finden zu können, ein eigenes Gesicht geben, dann fragt es sich sehr wohl, ob nicht religiöser Glaube, der sich gewiß ist, die wahre Antwort auf die Menschenfrage zu kennen, gerade mit zu den Kräften gehört, die ihre Unbeantwortbarkeit gestalten. Apostelbriefe wie die beiden an die Korinther und der an die Römer hätten dann die Chance, als Poesie
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Jesaja 11,9.
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gelesen, ihren Antwortcharakter zu tilgen und sich einzufügen in Unternehmen, die den Menschen auf der Spur seines Geheimnisses zeigen. Das Mysterium fidei entdeckte sich als eine Gestaltung des Geheimnisses des Lebens. Anders als Wissenschaft, die den Weg sucht, etwas so weitgehend zu wissen, daß es auch von Menschen herstellbar wird, anders auch als Theologie, soweit sie vorgibt, mit dem Menschen im klaren zu sein und allein in dem ihm als Gnade gewährten, aber auch unter Drohung angeratenen Glauben ein Mysterium zu sehen, ist der poetische Mensch durch seine Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Seins- und Lebensfrage dabei, sein Geheimnis zu sichern. Auf die Erde zu kommen, auf der Erde zu sein und wieder von der Erde zu gehen (»von Erde zu Erde«) und nicht mehr vom gelebten Leben zu wissen, als daß es zu leben und zu vergeben, ja zu verschenken war, hat für den poetischen Menschen nichts Heroisches. Er weiß natürlich, daß er zu jeder Sinngebung fähig ist, aber er weiß zugleich, will er sich nicht absichtlich täuschen, wie weit solche Sinngebungen tragen. Wie das Leben kein Urteil über sich im strengen Sinne des Über erlaubt, bleibt dem Leben darüber hinaus, daß es gelebt und vergeben wird, allein, sich als Frage zu inszenieren, die an das eigene Geheimnis rührt. Diese Inszenierungen sind seit alters die Quelle aller Kultur.
VII. Das Geheimnis des Lebens ist keine dem Realitätssinn vorbehaltene, wiewohl vorenthaltene Tatsache. Auch der Rätselsinn führt nicht zu ihm, da es nichts zu Erratendes ist. Wie es die Frage verkörpert, die der Mensch sich selbst ist, ist es ein Werk der Poesie. Sie ist unbeantwortbar, weil sie Unmögliches fragt. Für Unmögliches aber, das menschliche Schöpferkraft möglich macht, steht einzigartig die Poesie. Fragt man sich, wer wohl für die Möglichkeit des Unmög142 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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lichen zeugt, die Antwort auf die Menschenfrage zu wissen, dann legt es die Herkunft unserer Kultur nahe, sich der Epopten zu erinnern, die im Heiligtum der Demeter in Eleusis den poetischen Gestalten der Demeter und ihrer Tochter Persephone schauend begegnet sind. Sie kennen das Geheimnis des Lebens. Frühgriechische Dichtung preist sie als glücklich: Glücklich ist, wer das geschaut hat und unter die Erde geht. Er hat die Vollendung des Lebens geschaut und er hat den zeusgegebenen Anfang geschaut. 9
Nie hat einer, so heißt es, sein Wissen nach außen getragen. Das Geheimnis des Lebens, wie es in Eleusis zu schauen war, gilt als ein bis heute gehütetes. Doch der Mythos ist ja bekannt: Persephone steigt im Herbst in den Hades hinab (kathodos) und steigt im Frühjahr wieder aus dem Hades hinauf (anhodos). Eine auf wundersame Weise mögliche Unmöglichkeit: zwei Drittel des Jahres auf der Oberwelt zu leben und ein Drittel in der Unterwelt. Dem Hades zu entkommen, zumal wenn es der mächtige eigene Mann ist, was sollte erstaunlicher, ja für das Verstehen befremdlicher sein? Doch es ist ein nur allzu verständliches Bild: Das Korn erstirbt in der Erde und bringt daraufhin viel Frucht.10 Das Geheimnis des Lebens, das die Epopten schauen, so legt es sich zu verstehen nahe, ist das Leben selbst: Wachsen, Blühen, Fruchtsein, Sterben und wieder neu Fruchtbringen. Das Bild der Auferstehung ist das des gelungenen Gestorbenseins. Was beim Menschen Mann und Frau sind, sind beim Ackerbau Korn und Erde. Das Geheimnis des Lebens zeigte sich so als das Leben in der Fortzeugung des Lebens. Sollte das Geheimnis des Lebens das Leben selbst sein,
Pindar, Fragment 121 (Pindari carmina cum fragmentis (ed. C. M. Bowra), Oxford 1951): olbios hostis idôn keîn’ eîs’ hypo chthon’. oîde men biou teleutan, oîden de diosdoton archan. E. Ü. 10 Johannes 12,24 steht für Luthers »ersterben« apothanein, das gebräuchliche Wort für sterben. 9
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dann wäre damit für menschliches Verstehen alles und nichts gesagt. Fragt der Mensch nach seinem Woher und Wohin, und die Antwort lautet: Aus Erde zu Erde, dann weiß er alles, und weiß doch nicht das, was er wissen wollte, wenn insgeheim seine Frage keine Tatsachenfrage, sondern eine Sinnfrage war. Daß aber der Sinn des Lebens das Leben ist, sagt genausowenig und genausoviel, wie wenn wir vom Leben hören, das für das Menschengeschlecht relevant ist, daß Leben aus Leben entspringt und Leben Leben weitergibt. Wird dieser Gang von Frage und Antwort in Betracht gezogen, so erhält die Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage, wie sie der Kunst überantwortet ist, unversehens eine überraschende Bedeutung: Mit einer Beantwortung der Frage, die der Mensch sich selbst ist, wäre dem Menschen gar nichts gesagt, womit er umgehen könnte. Erst die Unbeantwortbarkeit der Frage in ihrer künstlerischen Gestaltung und poetischen Ausdeutung macht ein Geheimnis des Lebens möglich, das die sinnlich-geistigen und bildnerischen Kräfte in ihrem Schaffen autonom werden läßt und dadurch fähig macht, dem Menschen Lebensraum in einer Wirklichkeit zu verschaffen, die »mehr« ist als die, von der der Realitätssinn des Alltags und der Wissenschaft Kenntnis gibt und nimmt.
VIII. Das Geheimnis des Lebens belangt den Menschen nicht allein in seiner Verbundenheit mit der Erde, sondern auch in seiner Ausgesetztheit gegenüber dem kosmischen Geschehen. Nietzsche hat die alle Vorstellungskraft übersteigende raum-zeitliche Größe des Weltalls genutzt, den Menschen als lebenswirkliche und als moralische Größe schlechtweg zu diminuieren. Ihm lag daran, ein Bild von der menschlichen Existenz, speziell von seiner geistigen, zu zeichnen, das an Kläglichkeit, Schattenhaftigkeit, Flüchtigkeit, Zwecklosigkeit und Beliebigkeit nicht zu überbie144 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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ten ist. 11 Er hat in diesem Augenblick nicht gesehen, vielleicht auch nicht sehen wollen, wie es den Menschen gerade in seiner Selbstbefragung groß macht, aktiver Teilhaber dieser in eine unfaßliche Qualität umgeschlagenen Quantität zu sein. Sterne in Lichtjahrefernen strahlen keine Sinnlosigkeit aus. Wie das Leben ist der Kosmos eine dynamische Größe: Das Leben »geht weiter«, der Kosmos »weitet sich aus«. Alle Größen sind endliche Größen, aber sie können, wie die des Lebens und des Kosmos, unlimitiert sein, nicht faktisch im fixierbaren Augenblick, sondern der gesicherten Möglichkeit nach: Es geht weiter und weiter – das Leben, die raum-zeitliche Ausdehnung. Erfaßt der Mensch sein generatives Weiterleben als in ein für ihn unermeßliches Weiter-sich-Ausdehnen integriert, dann gewinnt die Unbeantwortbarkeit der Frage, die er sich selbst ist, noch an Kraft. Es scheint, als sei nun allem zuvor die Wissenschaft vom Kosmos herausgefordert. Diese ist in ihrem Wissensbedürfnis nicht bloß abstrakt-theoretisch wie in der Stringtheorie, sondern auch konkret durch Beobachtungen dem Universum auf der Spur, seinem noch Ungewußten und Unbeobachteten. Verwendet sie in den Notaten ihrer jüngeren und jüngsten Erfolge Begriffe wie schwarze Löcher, dunkle Materie und dunkle Energie, dann sind das für sie keine magischen Worte, dazu bestimmt, ein Geheimnis zu hüten. 12 Der Erkenntniswille ist unFriedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: ders., Sämtliche Werke (KSA), Bd. 1, München 1980, 875. 12 Magisches geht von den Begriffen dennoch aus. Die Schauspielerin Hanna Schygulla schreibt an ihre Freundin Gottliebe von Lehndorff am 7. April 2010 aus Paris: »auch unserer Zukunft könnte so unendlich sein, wie wir es wohl möchten, auch wenn wir es uns bei soviel Anwesenheit von Tod kaum vorstellen können … / es sei denn … / wir fielen nicht in die schwarzen Löcher, die als ein bislang nicht gelüftetes Geheimnis die verlöschenden Sterne im Kosmos wie Narben hinterlassen, / es sei denn, es öffnete sich unser Innenraum in ein Unendliches … / in dem es alles immer noch oder wieder geben mag … auch ein Wiedersehen.« Abgedruckt in: Antje Voll11
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gebrochen, weswegen jedes Dunkel und Schwarz allein das noch nicht vollends Entschlüsselte, das noch nicht hinreichend Quantifizierte benennt. Physik kennt kein letztes Geheimnis. Die beiden Bäume des Paradieses sind ein gutes Bild, das zu verdeutlichen: Der Baum der Erkenntnis birgt das Geheimnis, das verraten werden kann, der Baum des Lebens dagegen das unverratbare. Die Wissenschaft hat ausschließlich mit verratbaren Geheimnissen zu tun. Folgerichtig sucht sie nach noch Unentdecktem in den Weiten des Kosmos, nicht aber beim Menschen, dessen Geheimnis des Lebens nicht nur als irdisches, sondern auch als kosmisches unverratbar ganz bei ihm selbst liegt.
mer, Doppelleben. Heinrich und Gottliebe Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop, München 2012, 374.
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I. Der Mensch ändert sich nicht und ist doch jeden Tag neu. Dieser Widerspruch ist überraschenderweise selbstverträglich. Halten auch Philosophie und Religion dem Menschen Spiegel vor, in denen er sich als den erkennen soll, der sich zu ändern hat – zum Besseren –, dann begegnet er diesen Aufklärungsunternehmungen mit einem erstaunlichen Inertium. Das lateinische Wort, das mit Trägheit übersetzt wird, ist gewählt, weil es in diesem Falle zu einer noch erhellenderen Übersetzung Anlaß gibt. In dem Wort inertium steckt ars, Kunst. Iners meint darum wörtlich eine Kunst, die überhaupt keine Kunst sein kann (ars in quo non erit ulla). 1 Sich nicht, wie es die Spiegelvorhalter wollen, in Richtung Vernunft und Gottesfurcht zu bewegen und damit zum Besseren zu ändern, beruht, so lautet jetzt die Deutung, auf einer Trägheit, die ihrer Natur nach eine Unkunst ist. Der Mensch ist nicht unwillig, sich zu einem besseren Menschen zu ändern, sondern er ist unfähig dazu. Was man da von ihm will, liegt nicht in seiner Natur. Was die Prediger des Sinneswandels (metanoeite) im wesentlichen im Sinn haben, ist die Unverträglichkeit des »bisherigen« Menschen mit ihrem Bild vom wahren Menschen. Der »alte« Mensch, das ist für sie der 1 Gaius Lucilius, ein Satiriker im 2. Jahrhundert v. Chr., hat das Wort iners so erklärt. Siehe A. Ernout/ A. Meillet, Dictionnaire etymologique de la langue latine, 3. durchgesehene, verbesserte und mit einem Index versehene Auflage, Paris 1951, 87.
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12. Endlichkeit
Mensch, der seine Lebenskräfte auslebt, und dies zumeist ohne Rücksicht auf Andere, ohne Rücksicht auf die natürlichen Lebensressourcen, ja ohne Rücksicht auf sich selbst, was seine psychosomatische Gesundheit im ganzen anbelangt. In die Gegenwart übersetzt kann das heißen: Der Mensch genießt seine Unkunst, auf die Annehmlichkeiten des Lebens und ihre Zunahme zu verzichten, wie sie die in faktischer Verantwortungslosigkeit vereinten Vier von Wissenschaft und Technik, Ökonomie und Politik bereitstellen. Der alte und unveränderte Mensch, der im Leben das Angenehme des Lebens favorisiert, verträgt sich gut mit dem jederzeit neuen Menschen, dem es gegönnt ist, ja, das gönnt er sich selbst, die neuesten Annehmlichkeiten wahrzunehmen. Doch was sich beim neuen Menschen der Gegenwart wie mit einem Schlag radikal geändert hat, ist sein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit. Der Mensch weiß, seit er von sich selbst weiß, daß sein Leben endlich ist. Doch der neue Mensch weiß genau das neu und anders. Obwohl der neuartige Umgang mit der Endlichkeit bereits Vorbilder in älteren und alten Zeiten des geschichtlichen Menschen hat, ist es kein zu großes Wort, die Neuerung revolutionär zu nennen: Der neue Mensch, der vom alten die Unbelehrbarkeit, ja Unbekehrbarkeit durch Philosophie und Religion übernimmt, setzt sich nicht länger mit Sterben und Tod auseinander, sondern wirft seine ganze Energie auf das Nichtsterben.
II. Ist beim Menschen bei aller Änderungsunfähigkeit etwas wirklich neu, ja radikal neu, dann gibt es entsprechend auch »Neuigkeiten« bei der Erde. Wissenschaftler urteilen gegenwärtig im Rückblick, daß Mitte des 20. Jahrhunderts ein neues Erdzeitalter angefangen habe, das den Menschen zwinge, sein »Weltbild« zu ändern. Um 1950 setze eine neue Phase der Industrialisierung ein, die, wie ich es nenne, den neuen Men148 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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schen und die neue Erde in ihrer neuen Beziehung zeigt. Diese Neuheit konnte die jüdische und christlich übernommene Prophezeiung eines eschatologischen Neuen unmöglich voraussehen, ist es ja auch eine Neuheit in der Zeit und das heißt im geschichtlichen Wandel des Mensch-Erde-Verhältnisses. Der neue Mensch ist der alte, provokativer gesagt, der alte Mensch ist der neue, weil das klarer die Unkunst des Menschen betont, sich zu ändern. Das dennoch Neue, das der seine Trägheit feiernde Mensch zustande gebracht hat, ist das evidente Faktum, daß er der Erde kein Pardon mehr gibt. Sie muß, pathetisch gesagt, das Letzte hergeben. Wie in den neuen kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es in der technischen Aneignung der Schätze der Erde keine Rücksicht auf Kollateralschäden mehr. Ist die Erde nurmehr Ressource des menschlichen Lebens, und zwar des sich steigernd mit Annehmlichkeiten versehenden, dann hat man sie vollends instrumentalisiert. Das war schon angelegt in dem biblischen Auftrag, den sich der Mensch in mythischer Selbstauslegung als den vom Schöpfergott erteilten gegeben hat. 2 Entscheidet sich Aristoteles gegen das »Wir feiern, um arbeiten zu können« und für das »Wir arbeiten, um feiern zu können«, dann haben sich die Beati possidentes der Gegenwart dafür entschieden, daß die Erde für den Menschen da ist, nicht der Mensch für die Erde. Die Wissenschaftler, die mit Nachdruck auf die radikale Neuerung im Verhältnis von Mensch und Erde aufmerksam machen, propagieren ein »Bis hierher, und nicht weiter!«, mehr noch, propagieren die Umkehr. Der holländische Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen erkennt das neue Erdzeitalter als Menschenzeit und schlägt den Namen Anthropozän vor. 3 Geologen und andere Wissenschaftler haben sich diesen Vorschlag 2 1. Mose 1,28: »macht euch die Erde untertan« (katakyrieusate: »unterjocht sie«, »seid ihr Zwingherr«). 3 Paul Crutzen, Geology of Mankind, in: Nature 415, 23 vom 3. Januar 2002.
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zu eigen gemacht. Ich sehe es nicht für meine Aufgabe an, mich in den in Gang gekommenen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Umkehrvorschlägen mit einem eigenen einzumischen.4 Die Erkenntnis der radikalen Neuerung ist für mich das Wichtige, denn sie ist Anlaß, das Neue der alten Erde und das Neue des alten Menschen aufs engste verbunden zu sehen. Das ist von Bedeutung, weil die Endlichkeit des Menschen aufs engste mit seinem Erdendasein verbunden ist. Wird das Verhältnis von Mensch und Erde radikal neu, dann auch des Menschen Verhältnis zu seiner Endlichkeit.
III. Belehnt der Mensch die Erde nicht mit Selbstsein, schmückt er sie nicht mit Poesie, sondern begegnet er ihr allein als Ressource der Steigerung seines Wohlbefindens, nicht zu reden von der Maßlosigkeit der Vermehrung des Kapitals, dann läßt ihn das selbst, erdhaft, wie er ist, zu einem Stück dieser Ressource werden. Die Selbstinstrumentalisierung ist perfekt: der erdhaftleibhafte Mensch als Lebensressource seiner selbst. Er übergeht damit das eigene Selbstsein, versagt sich auch Selbstpoetisierun4 Um einen Vorschlag exemplarisch anzuführen: In seinem Buch Der große Verbrauch. Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt, München 2011, macht Chandran Nair den Vorschlag, die Rettung des Planeten der Politik zu übertragen, deren Ziele »Ressourcenmanagement« und »maßvoll konsumierende Gesellschaft« sein müssen. Dafür gelte es, die Demokratieversuche in Asien, die dem Konsumkapitalismus förderlich sind, abzubrechen und auf eine »starke Exekutive« zu setzen, die gegen die Interessen des Individuums, wie sie der Westen zum Maßstab des Wirtschaftens macht, die »Maximierung des Gemeinwohls« verfolgt: »Was den Transportsektor angeht, so müssen wir uns ein für alle Mal aus dem Würgegriff der Automobilindustrie befreien, deren Ziel es natürlich ist, das Privatauto als Hauptfortbewegungsmittel beizubehalten oder einzuführen« (S. 167). Nair schreibt stets »müssen«, obwohl er allein »müßten« meinen kann.
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gen. Das Verlangen nach einem ganz anderen Leben, nach einem ewigen, ist erstorben, jede schöpferische Überhöhung der Wirklichkeit aus dem Kreis menschlicher Bestrebungen geschwunden. Das bedeutet kein allgemeines Ende des Künstlertums und der sinnlich-geistigen Grenzgänge. Allein von den Beati possidentes ist die Rede und von ihrer zeitverbrauchenden Energie, die sie zu besten Tageszeiten für den Fortbestand ihres In-Besitz-Habens und In-Besitz-Nehmens aufwenden. Körperhygiene im umfassendsten Sinne zwecks Lebensverlängerung ist eine von Wissenschaften und Erfahrung geleitete handfeste Bemühung, zu der Poesie, zumal religiöse, keinen Zugang hat. Selbst dann, wenn dabei angewandte Praktiken und Techniken ihre Heimat im Spirituellen haben, stellt sich keine Überhöhung ein, lebt kein Transzendenzbegehren auf, versucht sich niemand als Grenzgänger. Es geht ja unmöglich um mehr als um die Gesundheit der Organe des Wohlbefindens. Bereits Hufeland, dem Geheimnis der »Lebenskraft« auf der Spur, wirbt für Makrobiotik, für die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Auf zweihundert Jahre könnten wir es bringen – »ein Alter, das gar nicht unter die Unmöglichkeiten gehört«. 5 Mehr versprechen Jungbrunnen, deren fröhliche Bilder zeigen, wie aus häßlichem alten Leben schönes junges Leben wird. Gilgamesch, so berichtet sein Epos, hatte die Pflanze bereits zur Hand, die ihn seine Jugend hätte wiederfinden und seine Lebenskraft wiedererlangen lassen können, die Pflanze mit dem Namen »Der-greise-Mensch-ist-wieder-jung-geworden«, aber durch eigene Unachtsamkeit, und dennoch nicht von ungefähr, kommt sie ihm abhanden. 6 In diesen Träumen von ewiger Jugend instrumentalisiert sich jedoch menschliche Le5 Christoph Wilhelm Hufeland, Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Makrobiotik (1796), 5., vermehrte Auflage, Berlin 1823. Neuedition K. E. Rothschuh, Stuttgart 1975, 52 f.; 101. 6 Das Gilgamesch-Epos (trad./comm. Stefan M. Maul), München 2005, 150 f.
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benssubstanz nicht zur Ressource, aus der es alles herauszuholen gilt, entsprechend auch alles hineinzugeben, was zur Lebensverlängerung taugt. Anders als für Paulus und Karl Barth kann denen, die auf die zeitliche Streckung ihres Lebens zielen, der Tod kein geistiger Feind sein. Sie werden ihn, vergleichbar einem Stromausfall, als Lebensausfall nehmen, als einen Störfall also, wenn auch in diesem Falle als einen endgültigen. Die Erde, als Ressource vergegenständlicht, gibt keinen Horizont frei, der ins Unendliche reicht. Das eigene Leben, als biologisches Potential genommen, verstellt den Blick auf das Kreisen der Zeit des Lebens. Die Zeit des eigenen Lebens verflacht gänzlich ins Lineare. Der Tod alten Lebens und die Geburt neuen Lebens geraten aus dem Sinnhorizont des Lebens. Leben, um sich jung zu halten, besser noch: leben, um sich instand zu halten – ist es das, worum es im Leben geht, dann ist die Wirklichkeit für den Menschen zu der einen geworden mit ein und demselben Niveau. Es gibt kein Empfinden mehr, das um seiner Wahrheit willen nach dem plus réel verlangt. Eine Motivation zum Selbstüberstieg existiert nicht mehr. Theologische Metaphysik, poetische Transzendenz, religiöser Glaube sind nicht mehr gefragt, nicht weil ein höchstes Wesen sich geschickhaft zurückgezogen hätte, sondern weil sie für den neuen Lebensentwurf zu nichts nütze sind. Die lebensdominante Präferenz der Annehmlichkeiten des Lebens, ihre Zunahme und Verlängerung eingeschlossen, hat ihren Preis. 7
Dementsprechend hält der Literaturwissenschaftler Reemtsma fest: »Der totale Anspruch der Realität zerstört die Fähigkeit zu Metapher und Symbol«, um fortzufahren, daß der »Verlust an Symbolisierungsfähigkeit« mit menschlicher Vergnügungssucht einhergeht: »Totale Wirklichkeit entsteht nämlich auch dort, wo man vor lauter Vergnügen und vergnügtem Lärm nicht mehr ein noch aus weiß«. Jan Philipp Reemtsma, Was wird aus Hansens Garten? Gedanken über den fortschreitenden Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, in: ders., Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst, München 2005, 26.
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IV. Die leitende Maxime »Leben, um länger zu leben« schließt aus, im Leben und mit dem Leben an das Geheimnis des Lebens zu rühren. Die Konzentration auf die hygienische Arbeit an seinem Nicht-Enden ist eine wesentlich solipsistische. Das Geheimnis des endlichen Lebens, das notwendig ein Geheimnis bleibt, eröffnet sich allein lebensteiligem Leben in der kreisenden Zeit des Lebens. Das Geheimnis des Lebens hat mit der Nähe zu tun: mit der Nähe der nahen Anderen und mit der Nähe des Todes – des eigenen und des der Anderen –, für den religiösen Menschen nicht zuletzt mit der Nähe Gottes. Bereits der nahe Andere läßt den Einen die Endlichkeit erfahren: Er versagt ihm jeden Ausgriff ins Unendliche, indem er durch seine Anderheit und Andersheit dem Einen die Erfahrung vermittelt, sich selbst wesentlich ein Unbekannter zu sein. Die Unergründlichkeit des Anderen vermittelt die eigene Unergründlichkeit. Nicht erst der Tod lehrt einem Leben die Endlichkeit, sondern stets auch schon der lebensteilig Andere. Geteiltes Leben ist ein Leben in Mitendlichkeit. In lebenspraktischer Perspektive ist Endlichkeit nicht der Unendlichkeit entgegengesetzt, sondern Endlichkeit der Endlichkeit, wenn denn Entgegensetzung das Spiel von Identität und Alterität in einem gelingenden Ensemble besagt. Menschliche Nähe ist es, die das Gespür für die endliche Zeit des Lebens wach hält, für ihre Kostbarkeit und mögliche Fruchtbarkeit. Auf das eigene Leben zu achten, dient allein dann einem erfüllten Leben, wenn es ein Versprechen ist, das nahen Menschen gilt. Menschliches Leben ist ein Kreisgeschehen. Auf dem Wege dieses Kreisens, in dem Leben zu Tode und Leben neu zu leben kommt, ist mit der Lebensteilung der Kreis von Leben und Tod schon vorgezeichnet. Das In-simul der jeweils das Leben Teilenden, das sie, im Bild gesehen, als Ensemble einen Kreis bilden läßt, zeigt Kreise, in denen das Leben in seinen kleinen und großen Differenzen miteinander agiert, das Leben jeweils in seiner 153 https://doi.org/10.5771/9783495860588 .
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endlichen Bewegtheit, geprägt durch Geborenwerden, Leben Weitergeben und Sterben. Die Erfülltheit des Lebens und der Lebenszeit dank Präsenz des Gesamtkreises der Lebenszeit in jeder Interaktion der Ensembles, läßt die endlich Lebenden zu Grenzgängern werden, zu Künstlern, die ihr Möglichstes tun, »solange es Tag ist« (heo¯s he¯mera estin). 8
V. Schöpfungsmythen zeigen, welche zeitlichen und räumlichen Fernen der Mensch zu nutzen versteht, ja nötig hat, um sich selbst zu deuten. Nähert sich heute Wissen, das, im Bilde der Genesis, aus verratenen Geheimnissen besteht, mit seinem Ausgriff ins Universum dank der entwickelten geistig-theoretischen und technisch-praktischen Augen Fernen und Weiten, von denen die Gestalter früher Menschheitsmythen nicht einmal träumen konnten, dann wird das Faktum irdischen menschlichen Lebens zu einem Zufall ohnegleichen. Doch es sind eben nicht die Wissenschaften, die die Verständigung des Menschen über sich selbst leiten. Was sich, gemessen an den astronomischen Dimensionen von Raum und Zeit, als ein absoluter Zufall ausnimmt, gibt dem nachdenklichen und künstlerischen Menschen die Chance, es für einen entsprechenden Glücksfall anzusehen: Wir leben; wir sind am Leben; wir wissen uns am Leben; wir nehmen die Herausforderung des Lebens an; wir deuten unser Leben. Doch die Bejahung des Lebens ist von unaufhebbarer Ambivalenz. Das ist nicht gesagt, weil Menschen gute und schlechte Tage, magere und fette Jahre zählen, sondern weil im Leben selbst, und dies als belebender Faktor, ein Ungenügen am Leben haust. Das Leben akzeptiert aus sich keine Festschreibung des
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Johannes 9,4.
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status quo. Der Mensch im Vollbesitz seiner leiblichen und geistigen Kräfte kann das Leben, das er führt, und erfahre er es auch als gelingend, nicht nur nicht blind bejahen, er kann es überhaupt nie eindeutig bejahen. Selbst und gerade das pure Am-Leben-Sein mit seiner »gewissen Erfreulichkeit und natürlichen Süße« 9 genügt dem Menschen, der ein Künstler ist, bei weitem nicht. Gehört es zur entwickelten menschlichen Natur, nachdenklich und schöpferisch zu sein, dann hat Leben eine Dynamik erhalten, die es gegen jede Statik aufbegehren und nie mit seinem gegenwärtigen Wie zufrieden sein läßt. Ich nenne die dem Leben zugehörige Unzufriedenheit die affirmierende, weil sie keine Lebenden mit dem Zufall ihrer endlichen Lebendigkeit hadern läßt, sondern denen eine Zukunft eröffnet, die ihre Lebendigkeit auf Zeit als Glücksfall wahrnehmen, den Tag des Lebens fruchtbar machen zu können, allerdings, wie sie sich ihre Not erfinden, auch fruchtbar machen müssen. Wer von der Dynamik der affirmierenden Unzufriedenheit ergriffen ist, denkt nicht daran, einen glücklichen Augenblick verewigen zu wollen, ja er hat gar nichts mit einer Ewigkeit im Sinn, die außerhalb der Reichweite jedes möglichen eigenen Handelns liegt. Denkt er an seine endliche Lebens- und Schaffenszeit, dann ist das Gewicht, das er ihr gibt, ihre Qualität, nicht ihre Quantität. Was er wirklich weiß von der Zeit, ist nur eines: Sie ist kostbar. Daß das Leben kurz ist, hat gegen dies Wissen kein Gewicht; daß es von absoluter Kürze und damit nichtig sei, wird vor ihm zur Unwahrheit. Ist jeder Mensch fähig, ja hat es jeder Mensch nötig, Künstler zu sein, wenn es darum geht, aus den unverfälschten Empfindungen und Eindrücken der wachen Stunden des Lebens seine Wahrheit zu formen, dann sind sich die Zeit, die der Weg der künstlerischen Berufung und die Zeit, die die wechselseitige Liebe braucht, in
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Aristoteles, Politik, Gamma 6, 1278b30.
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ihrer Kostbarkeit gleich. Sind es Romeo und Julia, die jungen Liebenden, dann ist die Zeit der Nacht die kostbare: Julia: Glaub’ mir, Liebster, es war die Nachtigall. Romeo: Es war die Lerche, die den Morgen ankündigt, nicht die Nachtigall 10 ;
ist es Marcel Proust, der alternde Romancier, dann ist die wache Zeit bei Licht die kostbare: Ein Künstler, der für eine Stunde Plauderei mit einem Freund auf eine Stunde Arbeit verzichtet, opfert eine Wirklichkeit für etwas, das nicht existiert. 11
Die Wirklichkeit des Künstlers ist die des plus réel. Freundschaft dagegen, die die Notwendigkeit der Kunst ignoriert, ja in Frage stellt, ist, wie Proust es nennt, eine simulation, eine Heuchelei. Daß die Zeit der Kunst, vergleichbar der Zeit der Liebe, kostbar ist, meint keine Koketterie, die eine Zufriedenheit mit dem eigenen Tun spiegelte. Diese Kostbarkeit hat die Stärke des Mehr an Wirklichkeit des Kunstwerks, die mit der Stärke der schöpferischen Unzufriedenheit korrespondiert. Die Erfahrung der Kostbarkeit der Zeit widerspricht jedem Ansinnen, der Zeitlichkeit und Endlichkeit des Lebens zu entfliehen. Wie sie voll der Momente menschlicher Selbstachtung ist, widerspricht sie ebenso jeder menschlichen Selbstbeschämung.
William Shakespeare, Romeo and Juliet, 3. Akt, 5. Szene, in: The Complete Works of Shakespeare (ed. W. J. Craig), Oxford 1954, 783. E.Ü. 11 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. IV, Paris 1989, 454. E.Ü. 10
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VI. So wie ohne Tod kein Leben ist, so ist ohne wahres Gefühl des Todes auch kein wahres Gefühl des Lebens. 12
Geht es um Tod und Leben, dann geht es um die Wahrheit: um die Wahrheit des Gefühls. Fordern Religionen das Sacrificium intellectus et rationis, dann greifen sie doch nicht eigentlich in die Welt des Realitätssinnes und der ihm eigenen geistigen Kräfte ein, sondern in die des Gefühls und Gemüts. Erfährt der auf die Kostbarkeit der Lebenszeit Achtende, daß ihn der »Überdruß der Langeweile« nicht schreckt, weil die sich unmöglich bei dem einstelle, »dem der Tod zur Seite steht«, 13 dann verdankt er das seinem Todes- und Lebensgefühl. Stimmungen sind sehr wohl Meister von Lebenssituationen und Lebensstunden, Gefühle jedoch, die den Erd- und Weltaufenthalt bestimmen, sind nachhaltiger. Lebensvertrauen, Lebenszufriedenheit, Lebenserfüllung – das ist nichts, was kommt und geht. Darum unternehmen Religionen auch nichts, um über Stimmungen zu herrschen. Den Gefühlen wollen sie vorstehen, weil die bis zur Gänze das Zeitwesen prägen. Todes- und Lebensgefühl sind Zeitgefühle, die den Lebenden nicht einfach überkommen. Vielmehr ist er es, der sie hervorruft und gestaltet. Indem sie ihm das Gespür für die Endlichkeit des Lebens und den unablässigen Pulsschlag der Zeit wachhalten, greifen sie schöpferisch in die Ganzheit des Lebenszeitraums ein. Sie können erhellen und verschatten, befreien und bedrängen, beschleunigen und verzögern. Der Mensch erfährt sie oft dann erst als die ihm nächsten, wenn sie sich mit Affekten verbinden, die über Gelingen und Mißlingen des geteilten Lebens entscheiden.
Karl Philipp Moritz, Andreas Hartkopf (in: ders., Anton Reiser. Andreas Hartkopf (1785–1790), 2. Auflage, Düsseldorf 2006), 484. 13 Karl Philipp Moritz, Andreas Hartkopf, 483. 12
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Soll Endlichkeit des Lebens nicht natürlich, sondern gottgemacht sein, dann ist, wie Paulus es will, alle Zeit des Lebens notwendig eine Zeit der Angst und der Hoffnung. Zu hoffen sei, daß der, der die Vergänglichkeit gemacht hat, neu die Unvergänglichkeit macht. Todesangst, wie Religionen sie lancieren, ist eigentlich keine Angst vor dem Tod, sondern davor, daß die Endlichkeit des Lebens wahr sein könnte. Meint man, Todesangst sei die bestverteilte Sache der Welt, vergleichbar dem bon sens, nach Descartes la chose du monde la mieux partagée, dann tut man der Wahrheit des Lebens keinen Gefallen. Mit ihr wird eine aller lebendigen Kreatur einwohnende Lebensangst erfunden: die Angst, nicht auf eigentliche, das heißt auf ewige Weise am Leben zu sein. Todesangst ist in der Regel das Wort für die Angst vor einem schweren Sterben, der Luthers Hoffnung auf einen »gnädigen Tod« (»gnädige Stunde«) entspricht. Es ist keinesfalls das Wort für eine Angst vor dem Totsein. Erklärt ein Mensch, der alt geworden ist und sein Leben gelebt hat, seine plausible Angst vor dem Tod, die ihn störe und die er überwunden haben möchte, bestehe in der Angst vor dem Aufhören des Bewußtseins, dann antwortet darauf treffend ein mit lustvoller Vitalität gesprochenes Wort aus der Goethezeit: Der feste Gedanke an den Tod war es, der ihm den Genuß jeder Freude verdoppelte, und jeden Kummer ihm versüßte. – Der wollustreiche Gedanke des Aufhörens drängte seine ganze Lebenskraft immer in den gegenwärtigen Augenblick zusammen, und machte, daß er in einzelnen Tagen mehr, als andere Menschen in Jahren, lebte. 14
Anstatt daß Tod und Leben ein Widerspruch wären und der Tod des Lebens Feind, entdeckt sich das endgültige Aufhören des Lebens als eine geradezu erregende Lebensmotivation. Der Tod ist es, der das Leben allererst geschichtsfähig macht und zu einem Entwicklungs- sowie Erfüllungsdrama werden läßt. Gerade der Tod fordert das Leben zu seiner Lebendigkeit heraus 14
Karl Philipp Moritz, Andreas Hartkopf, 483.
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und konfrontiert es damit, daß es gelebt sein will. Es ist die lebenspraktische Gewißheit des Todes, die die Einsicht mit sich führt, daß jede Lebensmöglichkeit einmalig und unwiederbringlich ist. Ist der Tod ein Stachel (kentron), dann ein Treibstachel, kein Giftstachel, der mit dem Gift der Sünde (Widergöttlichkeit) lebendige Hoffnung und Lebensrecht zunichtemacht. 15 Wie er dem Leben zur Seite steht, belebt er und tötet nicht. Krankheit und Entkräftung führen zum Tode, Schlangenbiß und Bombenwurf, nicht der Tod. Dessen Führungsmacht dient dem Leben. Sähe die Frucht im Mutterleib die Geburt voraus, so hätte sie womöglich Geburtsangst, weil der Eintritt ins Leben sehr eng und beschwerlich ist, keinesfalls Lebensangst. Entsprechend hält es der Lebende »mitten« im Leben: Er hat Angst vor dem Sterben, sofern es dann sehr eng und beschwerlich werden kann. Warum aber sollte er vor dem Totsein Angst haben, es sei denn, Religionen hätten mit der Suggestion Erfolg gehabt, daß Totsein für jeden, der das endliche Leben bejaht hat, zu einem Höllenleben wird? Der Tod, der als Einsprung in das Totsein kommt, kommt »endlich!«. Das Wort endlich in seiner lebensnächsten Bedeutung ist ein Sehnsuchtswort, im proleptischen Verständnis ein Erfüllungswort. Enfin, finally, teleôs, tandem (talis) – das Ende der Zeit ist da, der Lebenszeit, endlich! Die Herausforderung des Lebens ist zu Ende, keine kostbare Zeit ist weiterhin mit Leben zu erfüllen. Der Tod, der endlich gekommen ist, hat mit dem Leben dem am Leben Gewesenen jede Zeit genommen, jede augenblickliche Vereinigung von gelebtem Leben und zu lebendem Leben, von Vergangenheit und Zukunft des Lebens. Der Tote ist der vollends Selbstlose. Wie er kein Verhältnis zu sich selbst hat, ist er bar jedes Zeitverhaltens. Das Drama von Tod und Leben wird im Leben aufgeführt. Es gibt nichts, was menschlichem Drama ferner sein könnte als das Totsein. Zeitliche Endlichkeit hat mit ihm für immer ihre Zeit gehabt. 15
1. Korinther 15, 55.
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Das Alter, das einen Menschen alt aussehen läßt, ihm das Leben mühselig, beschwerlich, ja leidvoll, wenn nicht gar unerträglich macht, ist der von der Natur bestellte Vorbote des Todes – des Todes, der zur Zeit kommt. Das Alter gibt einem Menschen Zeit, sich dem Ende zu nähern, nicht nur biologisch, sondern auch sympathetisch. Es ist die Schule der Endlichkeit, die Muße, eigens für die Endlichkeit Zeit zu haben. Der Abschied vom Leben, von den Anderen und von sich selbst, wird schwerfallen, nicht selten mit gutem Grund sehr schwer. Am Ende aber behält das eher vom Willkommen gestimmte »Endlich!« die Oberhand.
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