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German Pages 304 [308] Year 2012
Jakub Sirovátka (Hg.)
Endlichkeit und Transzendenz Perspektiven einer Grundbeziehung
Meiner
Für Norbert Fischer •
Inhalt Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norbert Hinske Glück und Pflicht. Überlegungen zu Xenophons ›Erinnerungen an Sokrates‹ und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Maximilian Forschner Immanente Transzendenz: die Stoa und Cicero über die Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friedo Ricken Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ ›Confessiones‹ . . .
49
Albert Raffelt »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet«. Endlichkeit und Transzendenz bei Blaise Pascal . . . . . . . . . . .
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Rudolf Langthaler »Moralische Selbsterkenntnis« – die Idee des »völligen Bewußtseins seiner selbst« – der »Herzenskündiger«: Aspekte des Themas ›Endlichkeit und Transzendenz‹ in Kants Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Laura Anna Macor Die Abhängigkeit des Menschen von Gott. Zur Endlichkeit als Geschöpflichkeit bei Johann Joachim Spalding . . . . . . . . . 119 Lenka Karfíková Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹.
Einige Probleme der Zeitauffassung Heideggers und ihre Parallelen bei Augustin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Friedrich-Wilhelm von Herrmann Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Jean Greisch Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Jakub Sirovátka Ethische Transzendenz und transzendente Ethik. Zur Philosophie von Emmanuel Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 August Stahl Ostia und Ulsgaard. Göttliche Fügung und irdische Nähe: zwei Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Dieter Hattrup Der Satz der Identität und der Besuch dreier Pinakotheken . . 243 Karl Kardinal Lehmann Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
anhang Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
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Einleitung des Herausgebers
Der endliche Mensch vermag sich in seiner Endlichkeit nur deshalb zu verstehen, weil er die Fähigkeit besitzt, sich aus der Immanenz seiner Vollzüge zu lösen und sich selbst zu übersteigen. Die Fähigkeit des Transzendierens gehört zur menschlichen Existenz, wie z. B. Karl Jaspers hervorhebt: »Der Mensch vermag nicht bloß da zu sein, er muß transzendierend im Aufschwung sein oder Transzendenz verlierend sinken.«1 So rät auch Augustinus in De vera religione 39 sich selbst zu übersteigen ‒ über den Weg des eigenen Inneren ‒, wenn man sich auf die Suche nach Wahrheit begibt: Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas, et sie tuam naturam mutabilem inveneris, transzenden et te ipsum. Die Möglichkeit des Transzendierens setzt voraus, daß die Wirklichkeit in eine sinnliche und eine übersinnliche ›Welt‹ geteilt wird. Diese Einsicht steht schon am Anfang der abendländischen Philosophie: in Platons Liniengleichnis (Politeia 509d) besteht die Trennung (χωρισμός) zwischen dem Sichtbaren (ὁρατόν) und dem Denkbaren (νοητόν). Diese zwei ›Dimensionen‹ der gesamten Wirklichkeit stehen jedoch nicht beziehungslos neben- oder übereinander, sondern bleiben stets aufeinander verwiesen. Die Horizontale und die Vertikale sind zwei Dimensionen einer Gesamtwirklichkeit. Wer einen unverstellten Blick auf die gesamte Wirklichkeit gewinnen will, darf sie weder alleine auf den mundus sensibilis noch auf den mundus intelligibilis reduzieren. Der Mensch ist ›Bürger zweier Welten‹, der sowohl der sinnlichen Welt als auch der intelligiblen Welt angehört (vgl. KpV A 155). Von der Fähigkeit des Transzendierens, die als Bewegung des menschlichen Geistes verstanden wird, ist (noch) der Bezug zur Transzendenz zu unterscheiden: einer Transzendenz, die sich aufgrund ihrer Unendlichkeit jedem begreifenden Denken K. Jaspers: Philosophie I. Philosophische Weltorientierung, München/ Zürich 1994, 38. 1
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entzieht und es unendlich übersteigt. Kant zeigt sich überzeugt, daß die Fragen nach ›Gott, Freiheit und Unsterblichkeit‹ diejenigen Fragen sind, an denen die menschliche Vernunft das größte Interesse zeigt: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV A VII). Damit ist die Frage verbunden, von woher »die Natur unserer Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht« wurde (KrV B XV)? Wenn der Mensch in der Tat ein ›Wesen der Metaphysik‹ ist, dann bleibt die Suche nach dem Unendlichen eine Denk- und Lebensaufgabe, die zwar anzugehen, aber nicht abzuschließen ist. Es soll die These gewagt werden, daß erst aus dem Bezug zur Transzendenz die endliche Existenz des Menschen in ihrer Tiefe gelebt werden kann. Der vorliegende Band versucht verschiedene Perspektiven der fundamentalen Beziehung von Endlichkeit und Transzendenz aufzuzeigen. Der Ausgangspunkt ist das Leben mit all seinen Phänomenen, wie es sich zeigt und in seiner Faktizität erfahren wird. Wenn nach dem letzten Zweck der gesamten Wirklichkeit gefragt wird, geschieht das von der gelebten Erfahrung her, ausgehend von der konkreten Situation des Menschen, der sich auf seine endliche Verfassung zurückgeworfen vorfindet und im Bezug zum Unendlichen steht. Ein Versuch, diese Beziehung zu beleuchten, muß sowohl der endlichen Verfassung des Menschen gerecht werden, als auch die radikale Transzendenz des Absoluten ernst nehmen. Das Absolute ist sowohl in seiner radikalen Transzendenz als auch in der Beziehung zum Menschen zu denken. Im Gegensatz zur Tradition des Neuplatonismus mit ihrer negativen Sicht der endlichen Seinsverfassung, die im höheren Sein aufzugehen hat, soll hier die Endlichkeit als eine positive Seinsweise gesehen werden. Trotz der tatsächlichen Fragilität und Unvollkommenheit des menschlichen Lebens muß daran festgehalten werden, daß die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit des Menschen gerade diejenigen Bedingungen bilden, die die Führung der freien menschlichen Existenz ermöglichen. Das Sokratische Ideal besitzt demzufolge nach wie vor seine 8 | jakub sirovátka
Gültigkeit: die Philosophie bedeutet lediglich die Liebe zur Weisheit, nicht deren Besitz. Nicht endgültige Antworten zu liefen ist die Aufgabe des Philosophierenden, sondern stets neu zu fragen und zu denken im Bewußtsein dessen, daß Philosophie letztlich eine Lebenspraxis bedeutet. Die folgenden Beiträge ‒ die chronologisch nach den behandelten Autoren geordnet sind ‒ eröffnen diverse Perspektiven im Blick auf die Thematik von Endlichkeit und Transzendenz. Der Band erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf erschöpfende Behandlung des Themas, sondern soll eher als Anregung und Inspiration gelesen werden. Im ersten Beitrag Glück und Pflicht. Überlegungen zu Xenophons ›Erinnerungen an Sokrates‹ und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert untersucht Norbert Hinske die Wandlungen des Bedeutungsfeldes von Glück von der Antike über Kant bis in die Gegenwart. Im Ausgang von der Aporie von Glückssuche und Glückserfüllung zeigt der Beitrag, daß es in der Philosophie nicht um das Glück im Sinne eines glücklichen Schicksals geht, sondern als eines Themas der Lebensführung des Menschen. Im Zentrum der Abhandlung Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero über die Würde des Menschen von Maximilian Forschner steht der Begriff der Würde des Menschen. Forschner zeigt sehr einleuchtend, daß sich der moderne Begriff der Würde neben der religiösen ebenfalls der philosophischen Tradition verdankt, die in der Forschung weniger beachtet blieb und bis auf das stoische Denken zurückgeht, das als erstes die ethische Bedeutung der menschlichen Würde begriffen habe. Im nächsten Beitrag Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ ›Confessiones‹ vertieft sich Friedo Ricken in das Denken Augustins, um seinen inneren Weg nachzuvollziehen, wie er in den Bekenntnissen geschildert ist. Ricken sieht darin eine vierfache Transzendenz am Werk: epistemische, ontologische, axiologische und aszetische. »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet«. Endlichkeit und Transzendenz bei Blaise Pascal, so lautet die Untersuchung von Albert Raffelt. Sie sucht nach genuin philosophischen Ansätzen (und nicht nur theologischen) im Werk von Pascal, die die in aller Schärfe diagnostizierte Disproportion zwischen der endlichen Verfassung des Menschen und der unendlichen Unendlichkeit Gottes zu überwinden vermag. Rudolf Langthaler versucht in seiner Abhandlung »Moralische Selbsterkenntnis« – die Idee des »völligen Einleitung | 9
Bewusstseins seiner selbst« – der »Herzenskündiger«: Aspekte des Themas »Endlichkeit und Transzendenz« in Kants Religionsphilosophie die These Kants zu explizieren, daß die Moral »unumgänglich zur Religion führt«. Mit Blick auf das Gesamtwerk werden die Themen der moralischen Bestimmung des Menschen mit der Problematik des »reflektierenden Glaubens« miteinander verbunden. In einem historisch überaus versierten Beitrag Die Abhängigkeit des Menschen von Gott. Zur Endlichkeit als Geschöpflichkeit bei Johann Joachim Spalding knüpft Laura Anna Macor unmittelbar an die Problematik Kants an. Sie stellt die wichtige Stellung des anthropologischen Ansatzes des evangelischen Theologen Spalding in der damaligen Zeit vor, der die Begriff der ›Bestimmung des Menschen‹ maßgebend geprägt hat. Die Untersuchung von Lenka Karfíková Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹. Einige Probleme der Zeitauffassung Heideggers und ihre Paral-lelen bei Augustin zeigt die Wirksamkeit der Motive Augustins in Heideggers Zeitauffassung auf und übt zugleich an ihr Kritik. Karfíková plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der Dimension des Mit- und In-der-Welt-Seins und für eine ›Entmoralisierung‹ der Theorie der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins. Das Denken von Martin Heidegger steht auch im Zentrum der Abhandlung von Friedrich-Wilhelm von Herrmann Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. In einer umfassenden und überaus kenntnisreichen Darstellung stellt von Herrmann die Entwicklung des Denkens von Heidegger im Blick auf die Frage nach Gott dar: von der ›wahrhaften Idee der christlichen Philosophie‹ der frühen Vorlesungen bis zum ›letzten Gott‹ der späten Beiträge[n] zur Philosophie. Die Phänomenologie sowie die Dichtung von G. Benn (auch von P. Celan, H. Domin u. a.) bilden den Ausgangspunkt der Ausführungen von Jean Greisch, der grundsätzlich über die Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz nachdenkt. Greisch fragt nach den sprachlichen Ausdrucks- und Auslegungsmöglichkeiten, die es dem Menschen erlauben, sowohl über die Endlichkeit als auch über die Transzendenz sachhaltig und sinnvollerweise zu reden. Der Beitrag Ethische Transzendenz und transzendente Ethik. Zur Philosophie von Emmanuel Levinas von Jakub Sirovátka hebt die enge Verquickung von Ethik und Transzendenz im Denken von Levinas hervor. Der unbedingte ethische Anspruch des Anderen ist ohne den Bezug auf Unendliches nicht 10 | jakub sirovátka
denkbar und die Beziehung zu Gott bewährt sich alleine in der Haltung der Güte gegenüber dem anderen Menschen. August Stahl bringt in seiner Abhandlung Ostia und Ulsgaard. Göttliche Fügung und irdische Nähe: zwei Begegnungen Augustinus mit Rilke miteinander ins Gespräch. Stahl untersucht, ob und inwiefern das mystische Erlebnis Augustins mit seiner Mutter Monnica in Ostia eine literarische Entsprechung in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge findet. Der nächste Beitrag Der Satz der Identität und der Besuch dreier Pinakotheken von Dieter Hattrup läßt die verschiedenen Identitätsauffassungen in der Geschichte des abendländischen Denken (auch unter Bezug auf die modernen Naturwissenschaften) Revue passieren. Der Beitrag mündet in die These: »Ursprünglicher als die Identität ist die Freiheit, die in der Liebe tätig ist.« Abgeschlossen wird dieser Sammelband mit der Abhandlung Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre aus der Feder von Karl Kardinal Lehmann. Lehmann erinnert mahnend daran, daß Theorie zwar nie den Bezug zur Praxis verlieren darf, ihre kritische Funktion aber behalten muß, indem sie sich den praktisch-pragmatischen Zwängen letztlich entzieht. Der vorliegende Band wurde gedruckt mit Hilfe der Eichstätter Universitätsgesellschaft, des Dekans Burkhard M. Zapff der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der Diözese Eichstätt, des Abtes Thomas M. Freihart vom Kloster Weltenburg und mit großzügiger Unterstützung von Karl Kardinal Lehmann. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
Einleitung | 11
– Norbert Hinske –
Glück und Pflicht Überlegungen zu Xenophons Erinnerungen an Sokrates und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert
1. Die Aporie von Glückssuche und Glückserfüllung: Glück als formaler und als inhaltlich bestimmter Begriff Zu den ältesten überlieferten Sätzen der europäischen Philosophie gehört die Aufforderung: »Erkenne dich selbst« (γνῶθι σαυτόν). Die Ursprünge dieses Satzes liegen weithin im Dunkeln. Allem Vermuten nach gehen sie auf einen der sogenannten ›Sieben Weisen‹ des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor Christus zurück. Er hat die Menschen über die Zeitalter hinweg immer wieder in seinen Bann geschlagen. Noch das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793), eine der Gründungsurkunden der modernen Psychologie, trägt in großen griechischen Buchstaben eben diesen Titel. Es ist nicht zuletzt dieses Programm der Selbsterkenntnis, das dem Fach Psychologie für viele bis heute seine Faszinationskraft verleiht. Wer sich auf den Versuch einläßt, sich selbst zu erkennen, stößt aber auch früher oder später auf die Frage, wie man das denn anstellen könne. So einfach die Aufforderung auf den ersten Blick auch scheinen mag ‒ jeder Versuch einer Antwort führt in steiniges Gelände. Der Blick in den eigenen Personalausweis reicht dazu ja offenbar nicht aus. Auch diese Einsicht hat ihre lange Geschichte. »Es ist schwer, sich selbst zu erkennen« (δύσκολον […] τὸ ἑαυτὸν γνῶναι) ist bei Diogenes Laertios 1, 36 im dritten nachchristlichen Jahrhundert als einer der Sätze überliefert, die Thales von Milet zugeschrieben worden sind. Einer der geistreichsten Antwortversuche findet sich bei den frühen Sokratikern, nämlich in den Erinnerungen an Sokrates, den Apomnemoneumata von Xenophon, und zwar im zweiten Kapitel | 13
des vierten Buches. In ihm geht es ganz ausdrücklich um die Frage, »an welchem Punkt man denn ansetzen müsse, um sich selbst zu erkennen« (ὁπόθεν […] χρὴ ἄρξασθαι ἐπισκοπεῖν ἑαυτόν; 4, 2,30). Der überraschende Grundgedanke des Sokrates ist: Ich erkenne mich selbst, wenn ich erkenne, was ich ganz fraglos für gut halte, oder anders formuliert: Ich erkenne mich selbst, wenn ich erkenne, was ich mit letzter Entschiedenheit will, um was es mir in meinem Leben eigentlich geht. Die Schlüsselfrage lautet: Welche Lebensabsichten kann ich nicht zur Disposition stellen, ohne mich damit zugleich selbst zur Disposition zu stellen? Der Mensch erkennt sich selbst, sobald und soweit er seine wahren Wünsche in den Blick bekommt, also dasjenige, was ihm nicht bloß als Mittel zum Zweck, als Mittel zu etwas anderem, sondern um seiner selbst willen wichtig ist. Die Beantwortung dieser Frage stellt sich jedoch im Verlauf des Gesprächs Schritt für Schritt als ein schwieriges Unterfangen heraus. Das beginnt gleich bei der ersten, scheinbar ganz selbstverständlichen Antwort. Sie lautet: Ohne Frage gut ist Gesundheit. Das ist nun wahrlich eine zeitlose Antwort. ›Hauptsache, man ist gesund‹ hat vermutlich jeder von uns schon irgendwann einmal gesagt. Sokrates weist aber seinen Gesprächspartner darauf hin, daß es in manchen Fällen paradoxerweise gerade die Gesundheit ist, die den Menschen in schlimme Dinge verwickelt, während ihn eine rechtzeitige Krankheit ›zum Glück‹ davor bewahrt. Als Beispiel nennt Sokrates die »Teilnahme an einem verfehlten Feldzug oder an einer mißglückten Flottenexpedition« (4, 2,32). Wenn nicht alles täuscht, ist das eine Anspielung auf die zweite Sizilianische Expedition im Verlauf des Peloponnesischen Krieges, die den Zeitgenossen damals noch in lebendiger Erinnerung gewesen ist. Sokrates bringt hier jedoch eine zeitlose Erfahrung zur Sprache. So mancher deutsche Soldat ist aus dem Kessel von Stalingrad nur aufgrund einer schweren Verwundung in letzter Minute ausgeflogen worden. Aber auch die Alltagserfahrung hält an dieser Stelle, wenn man nur nachdenkt, Beispiele genug bereit. Natürlich ist Gesundheit ein hohes Gut und Krankheit eine Last. Aufs Ganze gesehen aber handelt es sich bei der Gesundheit um etwas, was, wie Sokrates es ausdrückt, »manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist« (4, 2,32). Der Irrtum liegt nicht in dem Urteil als solchem, sondern in seiner un14 | norbert hinske
reflektierten Verallgemeinerung. Sokrates spricht denn auch nicht etwa ‒ wie in der Folge die Stoa ‒ von Adiaphoron (es macht keinen Unterschied; es ist gleichgültig), sondern von »zweischneidig« (ἀμϕίλογον) oder von »undurchschaubar« (ἄδηλον). Dieser zweite Begriff taucht auch bei Platon immer wieder auf; allem Vermuten nach handelt es sich bei ihm um ein genuines Sokratisches Erbe.1 Das Gesagte gilt aber nicht etwa nur für die Gesundheit. Es gilt genauso ‒ um schon an dieser Stelle die Pointe des ganzen Gesprächs zur Hälfte vorwegzunehmen ‒ für alle die Dinge, die wir im Alltag so fraglos für gut halten. Der zweite Lebensinhalt nämlich, den der Gesprächspartner für fraglos oder »unstrittig« (ἀναμϕισβητήτως; 4, 2,33) gut erklärt, ist das Wissen. Auch hier bietet sich jedoch bei näherem Hinsehen das gleiche Bild. Sokrates verweist an diesem Punkt des Gesprächs z. B. auf Daidalos, den sagenumwitterten Ingenieur der Antike (heute wäre er vermutlich Nobelpreisträger), der gerade aufgrund seines Wissens erst seiner Heimat und seine Freiheit und schließlich auch noch seinen Sohn verloren hat. Auch das gilt nicht etwa nur für die Lebensverhältnisse im antiken Griechenland. Man braucht an dieser Stelle nur an die Zeit nach 1945 zu erinnern, um zu bemerken, von welcher Zeitlosigkeit auch dieses zweite Beispiel ist. Als letzte mögliche Antwort bleibt dem Gesprächspartner des Sokrates schließlich nur der Hinweis auf das Glücklichsein (εὐδαιμονεῖν; 4, 2,34): So etwas wie Glück scheint nun tatsächlich ein allen Anfechtungen und Zweifeln entzogener Lebensinhalt zu sein. Die auf den ersten Blick schier unverständliche Antwort des Sokrates aber lautet, und damit gelangt das Gespräch an seinen springenden Punkt: Ja, gewiß, das Glück (oder, etwas textnäher formuliert: die gelungene, vom Atem des Glücks beflügelte Lebensführung), das ist ein Gut, das über alle Zweifel erhaben ist ‒ aber nur dann, »wenn man es nicht aus zweifelhaften Gütern zusammensetzt« (4, 2,34). Als Beispiele für solche zweifelhaften Lebensinhalte oder Lebensziele nennt Sokrates in der Folge Schönheit, Kraft, Vermögen sowie gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluß, also lauter Dinge, die wir zunächst ganz unreflektiert mit dem Wort ›Glück‹ assoziieren. Für alle diese Lebensinhalte aber gilt bei näherem Hinsehen eben das, was »manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist«. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte wie Glück und Pflicht | 15
in der Gegenwart genug. Viele Menschen, die man zunächst vielleicht beneidet hat, erregen am Ende nur noch unser Mitleid. Ein schönes Leben, so denken wir dann, sieht anders aus. Hinter den skizzierten Ausführungen des Sokrates steht eine grundlegende Einsicht (und sie macht die zweite Hälfte der Pointe aus): Auf der einen Seite ist Glück etwas, auf das jeder Mensch sozusagen mit Naturnotwendigkeit aus ist. Jeder möchte glücklich sein. Dieser Wunsch ist gewissermaßen das Apriori unseres Willens und daher von grundsätzlich anderer Art als alle konkreten, inhaltlich bestimmten Lebensziele. Um das festzustellen, bedarf es keiner kostspieligen empirischen Untersuchungen. Es ist eine Binsenweisheit. Auf der anderen Seite aber ist Glück ein völlig inhaltsleerer Begriff, den man so oder so mit Inhalt füllen muß. (Für den zur Zeit oft so gedankenlos gebrauchten Begriff ›Gier‹ gilt übrigens das gleiche.) Daß er glücklich werden will, steht für jeden Menschen stillschweigend fest. Um an dieser Stelle stellvertretend für zahllose andere Autoren, die alle in dieser oder jener Form dasselbe sagen, nur aus Blaise Pascals Pensées zu zitieren: »Alle Menschen ohne Ausnahme streben danach, glücklich zu sein, wie verschieden die Wege auch sind, die sie einschlagen; alle haben dieses Ziel.«/»Tous les hommes recherchent d’être heureux; cela est sans exception, quelques différents moyens qu’ils y emploient, ils tendent tous à ce but.«; »Zu keiner Handlung sonst ist der Wille zu bewegen, jede zielt auf das Glück. Es ist der Beweggrund aller Handlungen aller Menschen, selbst derer, die im Begriff stehen, sich zu erhängen.«/»La volonté [ne] fait jamais la moindre démarche que vers cet objet. C’est le motif de toutes les actions de tous les hommes, jusqu’à ceux qui vont se pendre« (Fr. 425).2 Auf welchem Wege der Mensch aber tatsächlich glücklich werden kann, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Aporie, an der keiner auf die Dauer vorbeikommt. So gesehen weiß niemand, was Glück ist. Es ist dies, das sei an dieser Stelle hinzugefügt, ein zentraler Aspekt, wenn nicht gar das Zentrum des Sokratischen Nichtwissens. Vielleicht besteht die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen darin, auf diese Frage für sich selbst wenigstens eine provisorische Antwort zu finden. Dabei sollte er sich gerade heute tunlichst davor hüten, in die von der Werbung und von der öffentlichen Meinung aufgestellten Fallen zu tappen. Die innere Selbst16 | norbert hinske
ständigkeit des Menschen besteht nicht zuletzt darin, daß er sich die Antwort nicht von außen sagen läßt. Glück ist heutzutage fast schon so etwas wie ein Modethema. Die Literatur dazu ist geradezu uferlos. Die meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema, allem voran die sogenannten ›empirischen Untersuchungen‹, kranken jedoch daran, daß ihre Verfasser ganz selbstverständlich davon ausgehen, sie wüßten, was Glück ist. In Wahrheit aber weiß kein Mensch diese Frage endgültig zu beantworten. Nicht selten ändert er seine Vorstellung von Glück von einem Tag auf den anderen. Sicher, es gibt Stunden in unserem Leben, kostbare Stunden, da glauben wir es zu ahnen, und wir versuchen immer wieder, diese Stunden zu wiederholen. Thomas von Aquin spricht in seiner Summa contra gentiles 1, 102 nicht von ungefähr von umbrae felicitatis, von ›Schatten‹ von Glück. Ein dauerhaftes Wissen von Glück aber ist dem Menschen versagt. Irgendwann stellt sich jede Antwort als fragwürdig heraus.
2. Glück und Moral: der Sokratische Impuls im Kontext von Kants Moralphilosophie Die Schriften Xenophons gehörten im 18. Jahrhundert mehr oder weniger zur Standardlektüre.3 Zu den zahlreichen Übersetzern seiner Erinnerungen an Sokrates zählte auch ein so prominenter Kopf wie Christian Thomasius, der Vater der deutschen Frühaufklärung. Nicht Platon, sondern Xenophon ist es gewesen, der das Sokratesbild jenes Jahrhunderts in erster Linie geprägt hat. So kann es auch nicht überraschen, daß die Gedanken Xenophons, und zwar gerade des hier analysierten Kapitels, auch in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten über Seiten hinweg wiederkehren. Kant schreibt: »es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.« Es ist »unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er [der Mensch] hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könne er sich dadurch nicht Glück und Pflicht | 17
auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Ende sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifungen abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde« (GMS BA 46 f.). Kant gebraucht hier, wenn auch in etwas anderer Reihenfolge, genau die gleichen Beispiele für suspekte Glücksinhalte, die schon Xenophon in diesem Zusammenhang angeführt hatte: »Reichtum«, »Erkenntnis und Einsicht« (d.h. Wissen) und »Gesundheit« (verschärft durch den Zusatz »langes Leben«). Nur die Argumente, mit denen Kant die Zweischneidigkeit aller dieser Glücksinhalte zu zeigen versucht, haben sich verändert. Sie sind sozusagen der Problemlage des 18. Jahrhunderts angepaßt (die Anspielung auf die Sizilische Expedition z. B. hat Kant möglicherweise überhaupt nicht bemerkt). Aufs Ganze gesehen kann aber kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Kant an dieser Stelle seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Überlegungen Xenophons wiederaufnimmt. Für das Verständnis der Ethik Kants sind diese quellengeschichtlichen Hinweise jedoch nicht nur von historischer, sondern von zentraler sachlicher Bedeutung. Sie legen den Grund frei, auf dem sich Kants Ethik ausgebildet hat. Denn die Einsicht in die Ambivalenz unserer konkreten Glücksvorstellungen nimmt diesen zumindest ein Stück weit ihre suggestive Kraft. Sie bereitet damit sozusagen den Boden, auf dem die Pflichtidee allererst ihre ganze Kraft entfalten kann. Sie räumt die Hindernisse beiseite, die den Menschen immer wieder davon abhalten wollen, seine Pflicht zu tun. Sie zeigt: Der Konflikt zwischen Pflicht und Glückseligkeit ist nicht gar so dramatisch, das dem Menschen abverlangte Opfer nicht gar so groß, wie sie für eine naive, von Erfahrung und Nachdenken nicht beschwerte Glücksvorstellung aussehen muß. Kants Rigorismus, soweit diese 18 | norbert hinske
Charakterisierung überhaupt zutreffend ist, ist zu einem guten Teil ein Rigorismus der Desillusionierung. Solange der Mensch davon überzeugt ist, sein Glück, jenes einzigartige Gut, um das sich alles in seinem Leben dreht, à fonds perdu geben zu müssen, wird es ihm zumindest schwerfallen, dem kategorischen Anspruch des Sittengesetzes Folge zu leisten. Je mehr er dagegen einsieht, wie wechselund zweifelhaft alle jene Glücksvorstellungen sind, von denen er sich so selbstverständlich leiten läßt, um so leichteren Herzens wird er sie, wenn es hart auf hart kommt, beiseiteschieben können. Was Glück ist, bleibt für uns in tiefe Nebel gehüllt. Was dagegen Pflicht ist, wissen wir unbequemerweise zumindest in vielen Fällen nur zu genau. Kant hat das in seiner Kritik der praktischen Vernunft genau so formuliert: »was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchsichtiges Dunkel eingehüllt« (KpV A 64).
3. Zu Begriff und Geschichte des Wortes ›Glück‹ Abschließend seien hier noch einige allgemeine Anmerkungen zum Begriff und zur Begriffsgeschichte des Wortes ›Glück‹ angefügt. Ein solches Vorgehen scheint allen Regeln der Kunst zu widersprechen: Die Klärung der Begriffe scheint an den Anfang und nicht an das Ende einer Untersuchung zu gehören. Im vorliegenden Fall aber liegen die Dinge anders: Man begreift die Tragweite der Begriffsanalysen erst, wenn man wenigstens ansatzweise die sachlichen Probleme erfaßt hat, die sich mit dem Wort ›Glück‹ verbinden. Wir haben im Deutschen heute nur noch das eine dumme Wort ›Glück‹, und wir können es normalerweise nur im Singular gebrauchen. Im heutigen Wissenschaftsenglisch entspricht dem in der Regel das Wort ›happiness‹. Noch für Kant dagegen lagen die Dinge anders: Er konnte mit der Sprache des 18. Jahrhunderts ganz ungezwungen zwischen ›Glück‹ (Born verwendet dafür in seiner lateinischen Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft den Doppelbegriff »fortunae fatique«), ›Glückseligkeit‹ (»felicitas«) und ›Seligkeit‹ (»beatitas«) unterscheiden.4 Jedes dieser drei Wörter meinte etwas anderes. Das deckt sich mit dem Griechischen Glück und Pflicht | 19
und Lateinischen. Das Altgriechische unterschied scharf zwischen ›eutychia‹ (εὐτῦχία), ›eudaimonia‹ (εὐδαιμονία) und ›makariotes‹ (μακαριότης), das Lateinische zwischen ›fortuna‹, ›felicitas‹ und ›beatitudo‹. Die ›makariotes‹ war dabei den Göttern vorbehalten. Aber auch ›eutychia‹ und ›eudaimonia‹, ›fortuna‹ und ›felicitas‹, die beiden menschlichen Formen von Glück, waren durch eine Welt voneinander getrennt. ›Eutychia‹ bzw. ›fortuna‹ bezeichnete das äußere, sich den Umständen verdankende Glück. Es kommt oft wie aus heiterem Himmel. Beispiele für eine solche Art von Glück wären etwa ein überraschendes Geschenk, eine völlig unerwartete Ehrung oder ein Lottogewinn. Dabei stand das in ›eutychia‹ enthaltene Substantiv ›tyche‹ zumindest bei den frühen Griechen dem christlichen Begriff der Gnade näher als dem des Zufalls. Wer ›tyche‹ (τύχη) bei den ›Sieben Weisen‹ (wie die neue Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft)5 mit ›Zufall‹ übersetzt, gelangt zu der bizarren Aufforderung: »Zum glücklichen Zufall beten«. Das hat Kleobulos nun gewiß nicht gemeint. ›Eudaimonia‹ bzw. ›felicitas‹ dagegen meinte diejenige Form von Glück, die aus der Anlage der eigenen Lebensführung resultiert. Für sie ist ausschlaggebend, für (und gegen) welchen Lebensinhalt sich ein Mensch entschieden hat. Schon die bildlichen Darstellungen der Fortuna und der Felicitas zeigen, wie tief der Mensch der Antike zwischen beiden Formen unterschieden hat; um das zu erkennen, genügt es, sich in die im ersten Band der L’Antiquité expliquée von Bernard de Montfaucon6 enthaltenen einschlägigen Kupferstiche zu vertiefen. Vielleicht rächt sich der Verlust der alten Sprachen nirgends schlimmer als in den sogenannten empirischen Untersuchungen der heutigen Sozialwissenschaften. Sie sind häufig genug Ritt über den Bodensee. Denn sie ahnen oft gar nicht, von wie vielen stillschweigenden Vorentscheidungen schon allein der Sprache ihre Erhebungen geleitet werden: ob sie es mit demjenigen Glück zu tun haben, das sich den äußeren Umständen verdankt, oder mit jener so ganz anderen Form von Glück, die ihren Grund in der eigenen Lebensführung hat. Beispiele für diese zweite Form von Glück wären etwa das Glück des Gärtners, des Musizierens oder des Sammelns, und man ist gut beraten, bei der Lebenseinrichtung das eine Glück nicht mit dem anderen zu verwechseln. Ganz ohne das Glück der Fortuna freilich kommt wohl niemand von uns aus. Vielleicht hat 20 | norbert hinske
Aristoteles eben das in seiner Nikomachischen Ethik, Buch 1, Kap. 11 gemeint. Xenophon und Kant jedenfalls reden nicht von der Fortuna, sondern von der Felicitas. Es geht ihnen um die Lebensführung des Menschen. Ihre Grundthese lautet, kurz zusammengefaßt: Solange der Mensch nichts anderes im Sinn hat als das eigene Glück, stochert er im Nebel herum. Natürlich sollen wir uns immer wieder gut überlegen, in welchem Lebensinhalt wir unser Glück suchen wollen und in welchem lieber nicht. Glücksstrategien sind ein wichtiges Thema. Doch man täusche sich nicht: Glück gibt es in diesem Leben immer nur als schönes Nebenbei.
Anmerkungen
Vgl. N. Hinske: Der Sinn des Sokratischen Nichtwissens, in: Gymnasium 110, 2003, 331. 2 Die Übersetzung folgt weitgehend der Ausgabe von E. Wasmuth – Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), Heidelberg 81978, 189. 3 Vgl. insbesondere B. Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeitsbewußtseins, Neumünster ²1966. 4 Vgl. Immanuelis Kantii opera ad philosophiam criticam, 4 Bde., Leipzig 1796‒1798 1, 81, 550, 554. 5 J. Althoff /D. Zeller (Hg.): Die Worte der Sieben Weisen, Darmstadt 2006, 27. 6 B. de Montfaucon: L’Antiquité expliquée et représentée en figures, Paris 1719 1/2, 312 ff. und 336 f. 1
Glück und Pflicht | 21
– Maximilian Forschner –
Immanente Transzendenz: die Stoa und Cicero über die Würde des Menschen Die Rede von Transzendenz impliziert in der Regel die Vorstellung von zwei Welten, eines mundus sensibilis und eines mundus intelligibilis, einer Welt, die uns über unsere Sinne zugänglich ist, in der wir als leibliche Wesen in der Zeit leben und uns bewegen, und einer rein geistigen Welt, die wir nur mit unserem Verstand erfassen können, die Vernunftideen entspricht, an denen wir uns handelnd in der Zeit orientieren und in der wir, in welcher Form auch immer, nach unserem Tod auf endgültige Weise weiterleben. Der Mensch hat teil an dieser intelligiblen Welt aufgrund seiner Geistnatur. Diese ermöglicht ihm ein freies Selbst- und Weltverhältnis. Sie ermöglicht ihm, sich selbst als endliches, bedürftiges und verletzbares Wesen zu übersteigen, sich in diese nach Vernunftnormen geordnete rein geistige Welt zu versetzen und von dieser her sich selbst und sein Leben zu verstehen und zu gestalten. Durch seinen Anteil am mundus intelligibilis besitzt der Mensch im Unterschied zur nichtsprachfähigen Natur Würde. Nun ist der Begriff der Würde, dessen Herkunft hier erläutert werden soll, zwar an den Gedanken des freien und vernünftigen Selbstverhältnisses, nicht aber an eine ›Zweiweltenlehre‹ gebunden. Steht doch an seinem philosophischen Ursprung gerade nicht ein dualistisches, sondern ein monistisches Weltbild und die Vorstellung der Fähigkeit zu einer »immanenten Transzendenz«. Gemeint ist die Fähigkeit, sich selbst als endliches, bedürftiges, selbstbezogenes Wesen zu übersteigen, alles auf die Vernunftqualität des Denkens und Handelns zu setzen, all sein Streben vernünftig zu gestalten und sich selbst als endlichen, vergänglichen Teil eines einzigen strukturierten vernünftigen Ganzen zu bejahen. Der Gedanke der Transzendenz barg allerdings sowohl im dualistischen als auch im monistischen Weltbild eine gewisse Gefahr in sich; die Gefahr nämlich, von einer vermeintlich absoluten Ver| 23
nunftposition aus Gewicht und Bedeutung der Ansprüche unserer leiblichen Existenz zu vernachlässigen. Wer die Würde des Menschen ganz in den in unserer Vernunft gründenden »Adel der Seele« setzt, mag leicht geneigt sein, die Ordnung oder Unordnung der zeitlichen Güter des Lebens allzu gering zu schätzen. Diese Gefahr spiegelt sich in der Geschichte der Interpretation des Würdebegriffs.
I. Die Stoa über die Würde des Menschen 1. Die religiöse und philosophische Wurzel des Begriffs Unser moderner Begriff der Menschenwürde speist sich geistesgeschichtlich aus zwei heterogenen Quellen, aus einer religiösen und einer philosophischen. Das Wissen um die religiöse Quelle war lange vorherrschend: Aus der jüdischen bzw. alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte (Gen 1,26–27) war der Passus des göttlichen Entschlusses vielen vertraut: »Dann sprach Gott: ›Lasset uns den Menschen bilden nach unserem Ebenbilde, uns ähnlich; er soll herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel der Luft, über das Vieh, über alle Landtiere und über alle Kriechtiere am Boden‹. So schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild, nach Gottes Bild schuf er ihn, als männlich und weiblich erschuf er sie.« Die biblische Quelle besagt: Der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen; er wurde von Gott als sein Stellvertreter mit der Herrschaft und Fürsorge über die Erde betraut. Die frühchristlichen und mittelalterlichen Reflexionen über die Würde des Menschen beziehen sich sämtlich auf diese biblische Auszeichnung des Menschen im Rahmen der Schöpfung: seine Gottebenbildlichkeit, mit der ein Herrschaftsauftrag über und eine Verantwortung für die Erde verbunden ist. Die philosophische, näherhin die hellenistische Quelle der abendländischen Würdevorstellung ist weit weniger bekannt. Viktor Pöschl vertrat in seiner 1989 veröffentlichten profunden und materialreichen Abhandlung über den Begriff der Würde im antiken Rom und später die These, daß in der römischen Antike, genauer, bei Cicero, eine, wenn nicht die entscheidende Wurzel des modernen Begriffs der Menschenwürde liege, und dies, merkwürdig genug, 24 | maximilian forschner
bislang nicht hinreichend beachtet worden sei.1 Nun beansprucht Cicero in philosophischer Hinsicht bekanntlich keine große Eigenständigkeit, sondern ist, wenn auch in kritischer Souveränität,2 dem Hellenismus, insbesondere der (skeptischen) Akademie, dem Peripatos und der Stoa verpflichtet. Und was den Begriff der Menschenwürde betrifft, so schöpft er hier nachweislich vor allem aus stoischen Quellen. Hier ist es der Gedanke der Vernunftfähigkeit, des aus ihr sich ergebenden Selbstverhältnisses und der mit ihr verbundenen Freiheit, die den Menschen auszeichnen, die ihn zu einem sterblichen Gott und zum Bürger und Mitbürger in einer von göttlichen Kräften geleiteten Kosmopolis machen. Wie bei philosophisch gebildeten christlichen Theologen diese beiden Traditionen schließlich zusammenlaufen, läßt sich beispielhaft bei Thomas von Aquin ablesen, der sich (insbesondere in seiner Lehre vom natürlichen Gesetz, vgl. v. a. S. theol. I–II qu. 91 a. 2 und qu. 94) sowohl auf die biblische Tradition als auch auf die Stoa und Cicero bezieht und der in der Vernunftfähigkeit, der Freiheit und der damit gegebenen Selbstzweckhaftigkeit des Menschen den Kern des Würdeprädikats ausmacht. Sprechend ist hierfür der Sache und herausgehobenen Stellung nach der Prolog zur Prima Secundae der Summa Theologiae, auch wenn an dieser Stelle das Wort dignitas nicht auftaucht: »Weil der Mensch, wie Johannes von Damaskus sagt, nach dem Bilde Gottes gemacht ist, wonach mit Bild das Verstandesbegabtsein, das der Willkür nach Freisein und das aus sich selbst Mächtigsein bezeichnet wird; nachdem zunächst vom Urbild die Rede war, nämlich von Gott, und von den Dingen, die nach seinem Willen aus der göttlichen Macht hervorgegangen sind, bleibt uns, über sein Bild Erwägungen anzustellen, nämlich über den Menschen, dahingehend, daß er selbst Ursprung seiner Werke ist, da er einen freien Willen besitzt und die Macht hat über sein Tun.« Per imaginem significatur intellectuale et arbitrium liberum et per se potestativum – dies ist es, was mit Bild-Gottes-Sein gemeint ist; und dies ist es, was die Würde des Menschen begründet. Die Prädikate, die für Thomas das Bild-Gottes-Sein des Menschen kennzeichnen, sind genau jene, die der kaiserzeitliche Stoiker Epiktet für die ausgezeichnete Stellung des Menschen im Kosmos bemüht (vgl. Diatribai IV, 1). Sie sind es, die die Würde des Menschen begründen. Diese Würde ihrerseits macht, daß der Mensch von Natur niemandes Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 25
Knecht, daß er frei ist und um seiner selbst willen existiert: […] dignitas humana, prout scilicet homo est naturaliter liber et propter se ipsum existens (S. theol. II–II, qu. 64 a. 2 ad 3). Und diese Würde macht, daß wir auch im größten Verbrecher die menschliche Natur, die Gott nach seinem Bilde gemacht hat, lieben müssen (in quolibet, etiam peccatore, debemus amare naturam, quam Deus fecit […]; S. theol. II–II, qu. 64 a. 6 co.). Es ist die Natur des Menschen, nicht die menschliche Gemeinschaft und nicht eine zufällig gegebene oder erworbene Eigenschaft, die für die Würde des Menschen verantwortlich zeichnet. Im biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen und im stoischen Gedanken der Göttlichkeit der menschlichen Vernunft, und seien diese Eigenschaften im Einzelnen noch so rudimentär oder defekt oder depraviert vorhanden, wurzelt der Gedanke der allgemeinen Menschenwürde. Man möchte meinen, daß es von hierher zumindest gedanklich kein sonderlich weiter Weg mehr ist zur neuzeitlichen politischrechtlichen Interpretation der Menschenwürde, die das Verbot einer Totalinstrumentalisierung des Menschen durch den Menschen beinhaltet und sich politisch-rechtlich in der Forderung nach einklagbaren Grundrechten gegenüber hoheitlicher Gewalt ausdrückt. Gleichwohl bedurfte es erst der bitteren Lehren der Konfessionsund religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts und in ihrem Gefolge des politischen Absolutismus und des obrigkeitskritischen Impulses der Europäischen Aufklärung, um gedanklich einer diesseitsbezogenen, politisch-rechtlichen Interpretation der allgemeinen Menschenwürde in Form unantastbarer und unveräußerlicher Menschen- und Grundrechte zum Durchbruch zu verhelfen. Und noch einmal hinkt die Praxis der Theorie nach: In Verfassungen, Gesetzgebungen und Rechtspraxis spielt der Begriff (inzwischen weltweit) erst seit dem 2. Weltkrieg eine herausragende Rolle.3 Der entscheidende Grund für diese sehr späte politisch-rechtliche Karriere des Begriffs einer allgemeinen Menschenwürde dürfte darin liegen, daß sowohl die religiöse als auch die philosophische Quelle und Tradition den Würdebegriff, der ursprünglich der Sprache der Politik und der hoheitlich-herschaftlichen Sphäre entstammt, von Anfang an in metaphorisierender Weise moralisiert und ihm über viele Jahrhunderte eine mehr oder weniger ausschließliche Tugend26 | maximilian forschner
karriere beschert haben. Als politisch-rechtlicher Begriff, bezogen auf die Hoheit (maiestas) der Erscheinung, des Verhaltens und der geforderten äußeren Anerkennung, blieb er den herrschaftlichen Funktionen und leitenden Personen reserviert. Das mit ihm verbundene Ethos war Inhalt der Fürstenspiegel. Erst in Verbindung mit einem stolzen republikanischen diesseitsbezogenen aufgeklärten Freiheitsverständnis, das in die Richtung von Rechtstaatlichkeit und Demokratie drängte, mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis, wie es Autoren wie Locke, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Hume, Kant, Schiller, Bentham und Mill, in deutlicher Erinnerung an die griechische Philosophie und in manifester Verklärung des republikanischen Rom, philosophisch ausformulierten, gewann der Begriff der allgemeinen Menschenwürde eine ernsthafte und gewichtige politisch-rechtliche Bedeutung. Die biblische Rede vom Menschen als Bild Gottes entstammt wohl einer Übertragung. Ursprünglich ist der Pharao bzw. der orientalische König Bild und Repräsentant Gottes auf Erden; seine Statuen standen als Herrschaftszeichen auf den Feldern; er ist mit der Herrschaft über die übrige Schöpfung betraut. Der biblische Autor der exilisch-nachexilischen Zeit (6./5. vorchr. Jh.), einer Zeit politischer Ohnmacht Israels, überträgt das Prädikat »Bild Gottes« auf den Menschen überhaupt.4 Die philosophischen Ursprünge der im Würdebegriff versammelten Vorstellungen ‒ man denke etwa an die prägnante Charakteristik des Hochgesinnten (μεγαλόψυχος) in der Nikomachischen Ethik (IV, 7–8) des Aristoteles ‒,5 liegen in einem elitären Adels- und Bürgerethos der altgriechischen Polis. »Hochgesinnt ist der, der sich großer Dinge für würdig (ἄξιος) hält und ihrer auch würdig ist«, so Aristoteles (NE IV 1123 b 2). Dieses elitäre Bürger-Ethos wird nach dem Zusammenbruch der politischen Autarkie der griechischen Polis in der Zeit des Hellenismus vornehmlich von (Kynismus und) der Stoa universalisiert und verinnerlicht, d. h. moralisiert und auf das Selbstverständnis des Menschen hinsichtlich seiner Stellung im Kosmos übertragen: Der Mensch ist Abkömmling der Götter und besitzt aufgrund seiner Vernunftfähigkeit Würde, aber Würde im Sinne einer Anlage und Aufgabe, die er durch den Erwerb und Vollzug von geistig-charakterlicher Größe realisieren und erfüllen muß. Würde beweist der Mensch durch immanente Transzendenz, Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 27
d. h. durch gedankliche Übersteigung und Relativierung seiner zeitlich begrenzten Existenz und ihrer Bedürfnisse, durch ein souveränes Selbst- und Weltverhältnis, durch eine souveräne Selbstbeherrschung und Selbstgestaltung, durch eine Beherrschung seiner Triebe und Affekte und durch seine vernunftbestimmte gelassenvertrauensvolle, strebens- und gefühlsmäßige Einordnung in den Plan und Prozeß göttlicher Weltverwaltung.6 In Rom ist es vor allem Cicero, der diesen Würdebegriff der griechisch-hellenistischen Philosophie aufnimmt, jedoch im Unterschied zu dieser an politische Praxis und herrschaftliche Lebenswelt anschließt und mit Ehr- und Tugendvorstellungen der republikanischen Aristokratie seiner eigenen Tradition und Lebenswelt verbindet. Er betont dementsprechend nicht nur den geistig-charakterlichen Habitus, sondern auch die öffentliche Bewährung, die äußere Erscheinung und die gebotene öffentliche Anerkennung von Würde. Eine gegenüber Cicero wieder starke Verinnerlichung des Würdebegriffs erfolgt durch stoische Autoren der römischen Kaiserzeit (v. a. Epiktet). In der frühchristlichen Kommentierung der jüdischen Schöpfungsgeschichte schließen sich dann griechischrömische Philosophie mit orientalisch-religiösen Vorstellungen von ursprünglicher Gottebenbildlichkeit, Sündenfall, Erlösung und Heiligung des Menschen zusammen.7 Ursprüngliche und geschenkhaft erneuerte Gottebenbildlichkeit des Menschen, verbunden mit der praktischen Forderung der imitatio dei (ὁμοίωσις θεῷ) machen den Kern der christlichen Lehre von der Würde des Menschen aus. Es ist dies die christianisierte Botschaft einer vorchristlichen hellenistischen Philosophie, die im Rahmen einer kosmologischen Lehre von der Ordnung und Stufung des Seienden auf das Göttliche im Menschen setzt und das Menschsein als Möglichkeit und Auftrag versteht, im Rahmen des Endlichen Gott gleich bzw. ähnlich zu werden. Die religiöse Lehre von der Schuld, vom Elend, von der Bösartigkeit, der Erbärmlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen nimmt dieser Botschaft einiges von ihrem ursprünglich elitären Anspruch, im Rahmen des Endlichen, Kontingenten, Geschaffenen von unvergleichlichem Wert zu sein und diesem einzigartigen Wert in der Lebensführung gerecht zu werden. Zu den christlichen Traktaten De dignitate conditionis humanae gehören die Traktate 28 | maximilian forschner
De miseria conditionis humanae wie der notwendige Schatten zur Lichtgestalt hinzu. Nun gehört auch zur hellenistischen bzw. stoischen Geschichte der Würde des Weisen die Kontrastgeschichte von den vielen Elenden und Toten. Doch die christliche Rezeption des paganen Würdebegriffs, auch jene seiner kynischen Variante im Mönchtum, gerät in eine unaufhebbare Spannung zur gleichzeitigen Empfehlung der Nachfolge Christi in seiner radikalen Erniedrigung in der Hoffnung auf endzeitliche Erhöhung.8 Es ist diese Spannung, die Autoren wie Machiavelli oder Nietzsche zum Anlaß ihrer Kritik am christlichen Menschenbild und Daseinsverständnis nahmen.
2. Die Stoa als Quelle des Würdebegriffs Den Kern der ethischen Bedeutung menschlicher Würde hat in der Geschichte der Philosophie erstmals die Stoa auf den Begriff gebracht.9 Wir sehen bei ihr auch am deutlichsten die Verinnerlichung und Moralisierung eines im Alltag ursprünglich politisch besetzten Begriffs. Die großen Schuloberhäupter der alten Stoa haben Gegenentwürfe zu Platons politischer Ethik geschrieben. Die spärlichen Testimonien zu Zenons und Chrysipps Politeia und zur stoischen Theorie der Polis legen die Vermutung nahe, daß in der alten Stoa zwei verschiedene Gedankenlinien verfolgt wurden: die eines irdischen Idealstaats im Sinn einer politischen Gemeinschaft nur von Weisen, und die einer kosmischen Polis im Sinn einer idealen Gemeinschaft von Göttern und Menschen.10 Zenons Politeia entwarf ein irdisches Gemeinwesen, dessen Glieder durch Liebe und Eintracht verbunden, ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnasien, ohne Geld, ohne Privateigentum, ohne Ehe, ohne Heer und Waffen, allein durch die Kraft des vollkommenen Charakters ihrer Bürger, des sie leitenden Eros und ihrer kommunistischen Institutionen ein naturnahes, egalitäres, freies und gemeinschaftlich autarkes Leben führen. Es besteht in der Forschung weitgehend Konsens darüber, daß Chrysipp, möglicherweise durch die kynischen und heraklitischen Gedankentraditionen seiner Vorgänger angeregt, Zenons irdische Polis der Weisen in die Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 29
Idee einer kosmischen Stadt verwandelt hat, in der Götter und Menschen, durch das Gesetz rechter Vernunft geleitet, in vollkommener Gemeinschaft verbunden sind.11 Man mag, wie Malcolm Schofield dies tut, Zenons Politeia noch nach Tradition und Stil in Kontinuität zur politischen Philosophie von Platons Politeia stehend betrachten und die Differenz zu Chrysipps rein moralischer Idee der kosmischen Polis betonen. Gleichwohl kommen beide altstoischen Poliskonzepte doch darin überein, daß sie die genuin politischen Aspekte einer Gemeinschaft, die Aspekte der Herrschaft, des Rechts, des Zwangs, der Verhältnisbestimmung von Kollektiv- und Individualwillen etc. ausblenden und ein Gemeinwesen sittlich idealer Menschen oder eine Gemeinschaft idealer sterblicher und göttlicher Vernunftwesen überhaupt konstruieren. Die stoische Theorie der Polis in beiderlei Gestalt ist wesentlich moralisch und gerade darin apolitisch.12 Sie fordert nicht nur die mentale Distanzierung von der realen Polis als materieller und ideeller Heimat, sie verabschiedet auch die normative Theorie der Polis als eines orientierenden Entwurfs zur Errichtung und Verbesserung der Institutionen einer konkreten politischen Gemeinschaft. Die Stoa versteht den Würdebegriff denn auch ganz und gar ethisch; sie bindet ihn an die Tugend des Geistes und Charakters. Würde ist anthropologisch verankert im Vernunftvermögen, das ein theoretisches und praktisches Selbst- und Weltverhältnis eröffnet und dem Menschen damit eine freie Stellung im Kosmos einräumt. Schon für Aristoteles ist der Mensch gegenüber dem Tier dadurch ausgezeichnet, daß er Sprache hat und durch Sprache Sachverhalte aufzeigen und mitteilen kann (vgl. v. a. Politica 1253a 9 ff.). Während die Sinnlichkeit dem Tier konkret und gegenwartszentriert das für es und seiner Art Angenehme, Nützliche und Bedrohliche bekundet und über Signale (φωνή) dem Artgenossen anzeigt, vermag der Mensch über Sprache (λόγος) sich selbst als naturales Bedürfniswesen zu transzendieren, vermag er zu erfassen und mitzuteilen, wie die Dinge an ihnen selbst sich verhalten, ob sie schön und gerecht, möglich, wirklich oder notwendig, vergangen, gegenwärtig oder künftig sind. Die Sprache macht den Menschen so gesehen weltoffen und läßt ihn sich selbst in seinen naturalen Bedürfnissen und Interessen relativieren. Wie keine andere philosophische Schule hat 30 | maximilian forschner
dann die Stoa in ihrer Zustimmungs- (synkatathesis-) Lehre die mit der Sprachfähigkeit und Vernunft gegebene Eigenschaft betont, zu Gedanken und Wünschen ein souveränes Verhältnis einzunehmen, sie von sich distanzieren und prüfen zu können, ehe man sie sich zu eigen macht oder verwirft oder bis auf weiteres in der Schwebe hält. In der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion und zur Zustimmung und Zustimmungssuspension zu allem Gesagten, das etwas zu verstehen gibt, liege das Wesen menschlicher Freiheit beschlossen. Und der vernünftige Gebrauch dieser Freiheit mache die göttliche Würde des Menschen aus. Mit den Worten Epiktets: »Unter allen anderen Fähigkeiten werdet ihr keine finden, die sich selbst betrachtet, und damit auch keine, die etwas an sich selbst gutheißt oder mißbilligt […] Welche Fähigkeit wird uns sagen, ob wir tun sollen, was wir tun können? Jene, die sowohl sich selbst betrachtet als auch alles andere. Und welche ist dies? Es ist das Vernunftvermögen (ἡ δύναμις ἡ λογική) […] Wie es nun ihrer würdig war, haben uns die Götter nur die herausragendste und herrscherliche aller Fähigkeiten in unsere Hand gegeben, den rechten Gebrauch (ὀρθὴ χρῆῆσις) unserer Vorstellungen, alles andere aber nicht […] Was sagt Zeus? ›Epiktet, wäre es möglich gewesen, hätte ich auch diesen deinen kleinen Körper und deinen kleinen Besitz frei und unbeeinträchtigbar gemacht. Nun aber vergiß es nicht, es ist dieses nicht dein eigen, sondern auf geistvolle Weise zusammengerührte Erde. Doch da ich dir dies nicht geben konnte, gaben wir dir einen Teil vom Unsrigen, diese Fähigkeit freien Erstrebens und Ablehnens, Wählens und Verwerfens, mit einem Wort: des freien Gebrauchs der Vorstellungen. Wenn du dich um die Bildung dieser Fähigkeit sorgst, und in sie all das deine legst, wirst du niemals durchkreuzt, niemals behindert werden, wirst du niemals stöhnen, niemandem Vorwürfe machen, niemandem schmeicheln. Was nun? Erscheint dir dies wenig in deinen Augen?‹, ›Niemals‹, ›Bist du damit zufrieden?‹ ›Ich bitte die Götter, es zu sein‹« (Diatribai I, 1, 1–13). In der späten Stoa liegt die Betonung der Größe des Menschen ganz auf der Möglichkeit uneingeschränkten Selbstbesitzes eines selbstgestalteten Geistes, der sich selbst befreienden Kultivierung der seelischen Disposition zu einer philosophischen Persönlichkeit, die in souveräner Gelassenheit zu allem steht, was nicht absolut in unserer Hand ist. Und in paränetischer Absicht erinnert die späte Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 31
Stoa den Menschen immer wieder an den Adel seiner Herkunft: Der Mensch ist göttlichen Ursprungs, nicht geschaffen, sondern gezeugt, mit Zeus, dem Vater der Götter und Menschen verwandt, und daher von göttlicher Würde, der es gerecht zu werden gilt (vgl. Diatribai I, 3). Was uns die spätstoischen Autoren in popularphilosophischer Form überliefern, entspricht strenger altstoischer Schuldoktrin: Der Mensch ist von der göttlichen Weltverwaltung (διοίκησις κόσμου) gegenüber Pflanzen, in denen Natur über vegetative Prozesse das Leben gestaltet, und Tieren, in die sie über Wahrnehmung und Trieb eine Form der Selbstbewegung gelegt hat, durch die Gabe der Vernunft zum Zweck einer vollkommeneren Lebensführung ausgezeichnet, einer Vernunft, die ihn im Unterschied zum Tier zum fachkundig wissenden Gestalten seines Lebenswillens freisetzt (τεχνίτης γὰρ οὗτος ἐπιγίνεται τῆς ὁρμῆς) und sein Ziel in einer eigenverantworteten Vernunftform des Lebens in bewußtem und willentlichem Gleichklang mit der göttlichen Weltvernunft finden läßt. Diese Lehre schreibt Diogenes Laertios bereits dem Schulgründer Zenon zu (DL VII, 85 f.). Ihr entsprechen prägnante Unterscheidungen in der Wertlehre, mit denen nachweislich Vertreter der frühen Schulphase, insbesondere Diogenes von Babylon und Antipater von Tarsos, versuchen, den Wert freien, vernünftigen Personseins und seiner Leistungen vom Wert jener Dinge abzugrenzen, die das Subjekt gebraucht, die es ordnet und auswählt, in deren Material es sich darstellt und Ausdruck verschafft. Dabei gilt prinzipiell alles der vernünftigen Freiheit des Subjekts Vorgegebene und Äußerliche, das von ihm gut oder schlecht verwendet werden kann, als gleichgültig (ἀδιάφορον). Aber innerhalb des Bereichs des Gleichgültigen bestehen gleichwohl Wertunterschiede. Diese gründen in den Bedürfnissen und Neigungen der menschlichen Natur und den Erfordernissen der konkreten Lebens- und Handlungssituation. Wir haben als Menschen Wünsche erster Stufe, deren Ziele wir spontan und intuitiv ihrem Gegenteil vorziehen. Wir wollen – ceteris paribus – lieber leben als tot sein, lieber gesund als krank, lieber stark als schwach, lieber schön als häßlich, lieber reich als arm, lieber intelligent als dumm, lieber geliebt als gehaßt, lieber geehrt als verachtet etc. Zugleich wissen wir auf einer reflexiven Ebene, daß diese Lebensgüter (Stärke, Intelligenz, Wohlstand, Schönheit, Gesundheit, 32 | maximilian forschner
Ehre, ja das Leben selbst) mißbraucht werden und zum Schlechten ausschlagen können, also nichts unbedingt Gutes darstellen. Und wir wissen auf dieser Stufe auch, daß derartige Güter uns nicht absolut eigen sind, daß wir sie in der Regel nicht immer, alle zugleich und in Fülle besitzen können, daß sie vielmehr der vergleichenden Gewichtung und Auswahl bedürfen, daß sie in bestimmten Situationen zur Disposition gestellt werden müssen und daß sie uns alle wieder verloren gehen. Die Stoa spricht hier von den naturgemäßen Gütern des Lebens und sie spricht hier von einem teils allgemeinen, teils situationsbezogenen Vorzugswert (ἐκλεκτικὴ ἀξία), der diesen Gütern eignet. Diesem Vorzugswert setzt sie das Gute, das darin besteht, ein vernünftiges Subjekt zu sein, als dazu völlig heterogenen, absoluten Wert gegenüber, einen Wert, der sich in der vernünftigen Einstellung zu und im vernünftigen Umgang mit den Dingen und Sachlagen des menschlichen Lebens realisiert. »Und zu den beiden genannten Werten«, so überliefert Johannes Stobaeus die altstoische Lehre, »denen gemäß wir sagen, etwas würde dem Wert nach vorgezogen, komme ein dritter hinzu, dem gemäß wir sagen, etwas habe eine Würde und einen Wert (ἥν φαμεν ἀξίωμά τινα ἔχειν καὶ ἀξίαν), der Gleichgültigem nicht zukommt, sondern nur dem sittlich Guten (ἥπερ περὶ ἀδιάφορα οὐ γίνεται ἀλλὰ περὶ μόνα τὰ σπουδαῖα)« (SVF III, 125 = Stob. Ecl. II, 84, 4 W; vgl. SVF III, 124–139).
II. Cicero über die Würde des Menschen 1. Ciceros Modifikation des stoischen Würdebegriffs Cicero ist in seinen philosophischen Positionen entscheidend von der platonischen Akademie und von der Stoa beeinflußt. Er hat die im Wesentlichen altstoische Lehre über die Würde des Menschen, die uns lediglich in dürren Formeln der doxographischen Tradition erhalten ist, noch aus den Originaltexten rezipiert und, über die »Mittelstoiker« Panaitios und Poseidonios vermittelt, mit den Würdevorstellungen seiner eigenen Herkunft und Lebenswelt verbunden. Dies bedingt, daß er einerseits die geistig-charakterlichen Aspekte des hellenistischen Würdebegriffs aufnimmt (er spricht etwa von der dignitas sapientis, De off. I, 67), andererseits aber die Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 33
standes- und leistungsgeprägte (römisch-republikanische) äußere Bekundung und gesellschaftliche Anerkennung von Würde betont. Ineins damit wird der rudimentär vorhandene Gedanke einer allgemeinen Menschenwürde von aristokratischen Vorstellungen einer nach persönlicher Herkunft, sozialer Stellung, geistiger Bildung, politischer Leistung und öffentlicher Anerkennung gestuften Würde überformt. Würde (dignitas) meint bei Cicero sowohl menschliche Größe als auch politisch-gesellschaftliche Ehre und persönliche Ehrenstellung. Die altrömische dignitas war ein Begriff ganz und gar des politischen Lebens.13 Sie war an vornehme Geburt, an öffentliche Ämter, an große politische Leistungen, an materiellen Besitz und, von Cicero bis zur Penetranz beschworen, an sich öffentlich bewährende sittliche Größe und Integrität gebunden.14 Wie sich bei ihm der griechische Begriff des sittlich Guten und Schönen (τὸ καλόν) mit dem Begriff des Ehrbaren und der Ehre Würdigen (honestum) untrennbar vermischt, so neigt er dazu, dignitas und honestas nahezu bedeutungsgleich zu verwenden.15 Die Erfüllung dieser Bedingungen von dignitas begründet eine herausragende persönliche Stellung und Autorität in der aristokratisch-republikanischen Bürgergemeinschaft, der die entsprechende öffentliche Anerkennung, Ehre und Machtposition entspricht. Dignitas, auctoritas und honor gehören zusammen, sind für den Römer Cicero drei untrennbare subjektive und objektive Aspekte ein und derselben Sache. Ja, Würde, Ehre und Macht sind bei den Mitgliedern des römischen Senats (den principes rei publicae) im Rahmen einer wesentlich politisch geprägten Lebensform zudem noch wie selbstverständlich mit einer sakralen Aura umgeben.16 Ein entscheidendes Merkmal einer Person, der dignitas eignet, ist dies, daß sie in Haltung und Erscheinung Selbstbeherrschung, Ernst, hohen, vornehmen Sinn (gravitas, magnanimitas, magnificentia, liberalitas), Maß (modus) und Stil (decus) zeigt, daß sie sich in ihrem Denken und Handeln über den naturalen Lebenstrieb, über die nichtrationalen Gefühle17 ebenso wie über die Banalität der Alltagssorgen und Alltagsgeschäfte erhebt.18 Dabei ist zweitens die persönliche Würde mit der Würde der politischen Gemeinschaft gekoppelt und an das Interesse, den Dienst und den Einsatz für die öffentlichen Angelegenheiten (die res publica) gebunden. Der Größe 34 | maximilian forschner
und Würde Roms sind für Cicero, der hier altrömisch-republikanisches Ethos vertritt, Ansprüche persönlicher Ehre und Interessen eindeutig nachgeordnet.19 Niemand kann, so Ciceros Kerneinwand gegen Caesars Politik und Verhalten, sich selbst auf Kosten der res publica profilieren, ohne an persönlicher Würde einzubüßen.20 Und Würde zeigt sich drittens in einer geprägten und gemessenen Form äußeren Verhaltens und Sichpräsentierens. Würde äußert sich, nach Charakter, Rolle, Amt und Anlaß gestuft und differenziert, in einer Erhabenheit (gravitas) des Habitus, im Passenden (decorum) der Kleidung, der Mimik, der Gestik, in der Gemessenheit (modus) der Art zu sprechen21 und sich zu bewegen, im repräsentativen Stil des Hauses und Hauswesens. Dabei ist das Entscheidende in der würdevollen Form äußeren Verhaltens dies, daß der Mensch das Schickliche trifft, das rechte Maß wahrt und sich in bestimmten Hinsichten als großgesinnt und über den Dingen stehend erweist: Würde im Verhalten dementiert alles Ausgeliefertsein an die Not der Bedürfnisse und den Zwang der Emotionen und Affekte, alle Verstrickung in die Hektik der Geschäfte, alle Kumpanei mit dem trivialen Witz und der schnellen und grellen Lust der Menge. Doch äußere Würde sollte nichts Gezwungenes und Steifes an sich haben, sondern mit Anmut (venustas) verbunden sein.22 Ihre Kraft und Glaubwürdigkeit bezieht gelebte Würde aus einem souveränen Verhältnis zum Leben und Sterben. Würde bewährt sich beispielhaft im Angesicht des Todes. Hier verschmelzen in Ciceros Würdevorstellung griechisch-philosophische ars moriendi, römisch-aristokratisches Amtsverständnis sowie die Tradition eines stark großbäuerlich-militärisch geprägten männlichen Tugend-(virtus-)Ideals. Das Leben selbst ebenso wie alle Güter des Lebens gehören nach stoischer Lehre zwar zu Vorzugswertem (ληπτά, sumenda), wenn die Situation ihre Wahl und Wahrung zuläßt, doch sie sind gleichgültig (ἀδιάφορα, indifferentia) im Vergleich zum wahrhaft Guten der Tugend und nicht etwas, was es unbedingt zu erstreben gilt (kein αἱρετόν, expetendum).23 »Nur das sittlich Gute ist gut (μόνον τὸ καλὸν ἀγαθόν)« lautet ein Kernsatz der stoischen Ethik und Güterlehre.24 Was die Stoa generell über eine vernünftige sittliche Lebensauffassung sagt und mit kynischer Distanz zu allen Glücksund Erfolgsgütern des Lebens verbindet, setzt Cicero in Beziehung Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 35
zu seiner großartigen Ämterlaufbahn und seinen herausragenden politischen Leistungen. »Da ich stets alles auf die Würde bezogen habe und der Überzeugung gewesen bin, daß ohne sie der Mensch nichts vorbehaltlos erstreben soll, wie könnte ich, ein ehemaliger Konsul mit solch großen Leistungen, den Tod fürchten?«.25 Ein hoher Amtsträger des Staates sein, sich in seinen politischen Leistungen dieser Würde würdig erweisen und den Tod verachten gehören zusammen.26 Ohnehin verbindet Cicero den Würdebegriff in bevorzugter Weise mit Rom, mit der Geschichte Roms, mit der Größe, der Überlegenheit und der Rechtlichkeit römischer Herrschaft und der Tugend seiner Bürger: »Das römische Vaterland ist in allen Ländern die eine Heimstätte der Tugend, der politischen Herrschaft, der Würde.«27 Und zudem weist diese Heimstätte der Würde eine sinnvolle und ansprechende hierarchisch gestufte Gliederung auf. Das hat Rom der athenischen Demokratie voraus.28 Diese Größe und Würde Roms versucht Cicero in seinen politischen Ämtern, Kämpfen, Auseinandersetzungen und Parteinahmen gegen tatsächliche oder vermeintliche Dekadenz- und Auflösungserscheinungen zu retten. Dabei ist er stets bestrebt, seine eigene politische Leistung und durch Leistung erworbene Würde ins gebührende Licht zu stellen. Uns Heutige mag diese Art des Pochens auf die persönliche, öffentlich zur Geltung kommende Würde, diese Art der Selbsterhebung und Selbststilisierung, zumal unter den gesellschaftlichen Verpflichtungen christlicher Demut und demokratischer Korrektheit, etwas befremden.29 Selbst in den Augen von Zeitgenossen hat Cicero diesbezüglich das damals gängige Maß überschritten.30 Doch Cicero hat, bei aller Eitelkeit, auch die eigenen Schwächen sehr wohl gesehen und eingestanden.31 Und respektgebietend bleibt, mit welcher Konsequenz er dieser stolzen Idee menschlicher Größe bis zuletzt treu zu bleiben versucht hat. Zudem gebührt ihm das unumstrittene Verdienst, den ursprünglich ständisch begrenzten, hierarchisch gegliederten und ausschließlich politisch ausgerichteten römischen dignitas-Begriff zur philosophischen Würde (dignitas sapientis) und zur Würde der freien Künste (dignitas artium vgl. Mur. 25; 33) hin geöffnet und zu einem Ideal der würdevollen Mußetätigkeit (otium cum dignitate) verdichtet zu haben.32 Durch Cicero 36 | maximilian forschner
wird, für ein führendes Mitglied des römisch-republikanischen Senats alles andere als eine Selbstverständlichkeit, nicht nur die philosophische Schriftstellerei als seriöse Beschäftigung verteidigt.33 In seinem Verständnis von Sittlichkeit ist die philosophische TheoriaTätigkeit, die contemplatio mundi sogar ein wesentlicher Bestandteil dessen, was unter dem sittlich Guten, dem honestum zu verstehen ist.34 Seine Liebe zur Urbanität griechischer Kultur, sein sokratischer Vorbehalt gegenüber dogmatischen Einstellungen35 und sein skeptischer Sinn für Vielfalt, Abwägung und Ausgleich lassen ferner Ciceros konkrete Empfehlungen für äußere Erscheinung, Lebensstil und gesellschaftliches Verhalten, die er in De officiis I,129 ff. unter dem Gesichtspunkt der dignitas gibt, als durchaus maßvoll und ausgewogen erscheinen.
2. Die Bedeutung von Ciceros Würdebegriff für die Neuzeit Bislang war von Würde bei Cicero nur im Sinn von Tugend, Ehrenstellung und Ehre die Rede, von etwas, was es als Habitus, Amt und Aura zu erstreben, zu erwerben, zu beanspruchen und im Denken und Handeln zu bekunden und bewähren gilt. Dies würde nicht erklären, warum sich die Neuzeit und Aufklärung bei ihrer Begründung der rechtlichen Implikationen des Würdebegriffs bevorzugt auf Cicero zurückbezieht. In dieser Rückbeziehung spielen zwar Mißverständnisse eine nicht unerhebliche Rolle: Man liest in Ciceros spätrepublikanisch-aristokratisches Freiheitspathos ein liberales Rechts- und Staatsverständnis hinein, das ihm noch völlig fremd war.36 Cicero bietet denn auch keine Quelle für den neuzeitlichen Gedanken von Grundrechten des Bürgers gegenüber hoheitlicher Gewalt, die im Namen der Würde jedes Menschen eingefordert und verfassungsmäßig verankert werden. Gleichwohl hat Cicero für die Herausbildung des abendländischen Begriffs einer allgemeinen Menschenwürde einen grundlegenden und wesentlichen Beitrag geleistet. Er besteht zum einen darin, daß er in Übernahme akademischperipatetischer und stoischer Gedanken die Vorzugsstellung der menschlichen Natur gegenüber allem übrigen Leben auf der Erde betont. Er besteht zum anderen darin, daß er die griechische, speImmanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 37
ziell stoische Bestimmung von Natur und Ziel des Menschen nicht lediglich auf die mentale Seite, sondern auch auf die äußeren Aspekte der Lebensführung bezieht und diese gleichgewichtig gewertet sehen möchte. Er stiftet den Zusammenhang zwischen dem stark verinnerlichten und vergeistigten Würdebegriff der hellenistischen, insbesondere stoischen Philosophie und den stark auf äußeres Bekunden und Anerkennen zentrierten Dignitas-Vorstellungen der republikanischen römischen Elite. Und von der hellenistischen Philosophie übernimmt er die universalistische Einstellung: Was für die römische Elite gilt, wird auf den Menschen als Menschen übertragen. Diese Übertragung hat für Cicero vor allem einen moralischen Aspekt; aber er formuliert mit der moralischen Forderung auch bereits, im Anschluß an die stoische Oikeiosis-Lehre,37 einen juridisch relevanten Aspekt, an den die Neuzeit ihre rechtlichen Postulate der Wahrung der Menschenwürde anknüpfen konnte. Der moralische Aspekt betrifft das Selbstverständnis einer Lebenshaltung, die eine strenge Grenze zieht zu bloß tierischem Dasein und dessen Zielen der Selbst- und Arterhaltung, der Leidvermeidung und des Lustgewinns. In seiner Fähigkeit zur Realisierung des sittlich Guten (honestum) im bedürfnisübersteigenden philosophischen Erkennen, im zweckfreien ästhetischen Vernehmen und Gestalten und im rechtlich-moralischen Handeln liegt für Cicero eine Zielbestimmung des Menschen beschlossen, die eine sinnlichhedonistische Lebensform als des Menschen unwürdig erscheinen läßt. Dies ist der Kern seiner Polemik gegen den Naturalismus der Lustphilosophie Epikurs, die er etwa im 2. Buch von De finibus bonorum et malorum explizit im Namen der Menschenwürde führt. »Die Lust (voluptas), mein Brutus, würde, so meine ich, wenn sie für sich selbst spräche und nicht so hartnäckige Patrone hätte, durch das im vorigen Buch Gesagte widerlegt, der Würde (dignitas) weichen. Denn es wäre schamlos, wenn sie noch länger der menschlichen Tüchtigkeit (virtus) widerstehen, oder die angenehmen Dinge den ehrenvollen vorziehen oder die Behauptung durchfechten wollte, die süße Empfindung des Leibes und die aus ihr sich ergebende Freude seien mehr wert als die Größe und Konstanz des Geistes (gravitas et constantia animi)« (De fin. III,1). Und in De officiis lautet der entsprechende Passus: »Wenn wir in Erwägung ziehen, welcher Vorrang und welche Würde in unserer Natur liegt (quae sit in natura 38 | maximilian forschner
[nostra] excellentia et dignitas), dann erkennen wir, wie schändlich es ist, sich der Ausschweifung hinzugeben und ein üppiges und weichliches Leben zu führen, und wie ehrenvoll es dagegen ist, maßvoll, beherrscht, ernsthaft und nüchtern zu sein« (De off. I,106). Wir sind von der Natur aufgrund unserer Sprach- und Vernunftfähigkeit zu einer vollkommeneren Lebensweise ausgerichtet als die Tiere: zum bedürfnisenthobenen Lernen und Erkennen; zur Selbstrelativierung im Blick auf die Interessen Anderer; zur Wahrnehmung und zum Gestalten von Schönem, zum selbsttranszendierenden Einsatz für moralisch und rechtlich Gutes. Dazu drängt unser Geist; und daran hat er sein Vergnügen. Daraus ist ersichtlich, daß die Lust des Leibes der Vorzugsstellung des Menschen nicht hinreichend würdig ist (corporis voluptatem non satis esse dignam hominis praestantia ebd.). Ein Leben, das sich ähnlich wie die Tiere auf Selbst- und Arterhaltung, auf Bedürfnisbefriedigung und Wohlsein zentriert, unterbietet offenkundig die Bestimmung der menschlichen Natur. De off. I,106 ist der älteste uns überkommene lateinische Beleg für die Rede von der Würde der menschlichen Natur, die sich aus unserer Vernunftfähigkeit und der entsprechenden Stellung im Kosmos ergibt. Cicero folgt hier klassischer stoischer Lehre: Den Tieren ist es naturgemäß, ihrem Trieb zu folgen; den sprachfähigen Wesen jedoch, denen nach einer vollkommeneren Vorgabe der Natur (κατὰ τελειοτέραν προστασίαν) die Vernunft (λόγος) gegeben ist, für die ist das Leben nach der Vernunft das wahrhaft naturgemäße Leben; die Vernunft ermöglicht dem Menschen ein freies Selbstverhältnis; sie wird so zum Gestalter des Triebs (τεχνίτης τῆς ὁρμῆς) (Diogenes Laertios VII, 85 = SVF III, 178 mit vorausgehendem Verweis auf Chrysipp). Den juridischen Aspekt, der in der Neuzeit (zumindest der Forderung nach) rechtlich fruchtbar gemacht wurde, liefert Cicero die stoische Lehre von der göttlichen Abkunft und Verwandtschaft des ganzen Menschengeschlechts, die in der Vernunftfähigkeit und Freiheit ihr auszeichnendes Merkmal gegenüber den anderen Lebewesen besitzt. Der Kosmos, so die stoische Lehre, ist die Wohnstadt der Götter und Menschen; sie bilden zusammen eine Polis unter der Leitung der Götter; gemeinschaftsstiftend ist die Teilhabe am Logos; und dieser ist der Natur nach Gesetz; alles übrige ist der Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 39
vernunftfähigen Wesen wegen da.38 Alle Menschen sind aufgrund ihrer Vernunftfähigkeit Bürger der einen Kosmopolis. Sie haben aktiv Teil an der göttlichen Weltverwaltung. Sie unterstehen dem natürlichen Vernunftgesetz (der lex naturae), das die Ordnung des Kosmos konstituiert und an dem sie ihre eigenen Regeln des Verhaltens auszurichten haben. In seiner moralischen Entwicklung gleicht der Mensch mit seinen ursprünglichen Verhaltensimpulsen zunächst dem Tier, bis seine keimhaft vorhandene Vernunftfähigkeit sich stufenweise entwickelt und entfaltet. Die Entwicklung der Vernunftfähigkeit ist gemeinschaftsabhängig und gemeinschaftsstiftend. Der teleologische Prozeß dieser Entwicklung kulminiert einerseits in einem Umschlag der natürlichen Selbstliebe von einem biologischen und kulturell überformten Lebensprinzip zur uneingeschränkten Selbstliebe der Vernunft und andererseits in einer schrittweisen Ausdehnung und schließlichen »Eingemeindung« aller vernunftfähigen Wesen in den Bereich dieser Selbstliebe.39 Cicero formuliert auf dieser Basis den Gedanken, daß man den Anderen nicht als etwas Fremdes, sondern allein aufgrund des Umstands, daß er Mensch ist, als Seinesgleichen und zu sich gehörig anzusehen habe.40 Der Mensch ist dem Menschen allein aufgrund des Umstands, daß er Mensch ist, ein Mitbürger in der Kosmopolis, deren Gesetze die der rechten Vernunft (ὀρθὸς λόγος, der recta ratio) sind. Damit wird grundsätzlich jeder Mensch zum Rechtssubjekt und Rechtspartner unter dem natürlichen Gesetz einer alle verbindenden Vernunft. Bei Cicero führt dieser abstrakte, überpositive Rechtsgedanke noch keineswegs zu bestimmten politisch-rechtlichen Forderungen, etwa nach Abschaffung der Institution der Sklaverei oder zum Postulat der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Aber er führt immerhin zur konkreten moralischen Forderung, auch gegenüber den sozial Niedrigsten und faktisch Entrechteten nicht etwa paternalistisches Mitleid, sondern Gerechtigkeit zu üben: »Wir wollen aber in Erinnerung behalten, daß auch gegenüber den Geringsten Gerechtigkeit zu wahren ist. Am tiefsten aber stehen ihren Lebensbedingungen und äußeren Lage nach die Sklaven. Es ist keine schlechte Weisung, die da besagt, sie so wie Lohnarbeiter zu behandeln, Leistung zu verlangen und den gerechten Lohn zu gewähren«.41 Das positive Recht, so die Stoa, so Cicero in De legi40 | maximilian forschner
bus, soll den Prinzipien der Gerechtigkeit folgen. Sklaven gegenüber ein gerechtes Verhalten einfordern heißt, sie nicht nur als Objekte, sondern als Subjekte mit gerechten Ansprüchen anerkennen. Der gedankliche Weg, sie auch als selbständige Rechtssubjekte mit einklagbaren Rechten anzuerkennen, wäre von Cicero im Anschluß an die Stoa geebnet. Immerhin hat das römische Recht die stoischciceronianische Formel der dignitas humanae naturae benützt, um den Sklaven von den reinen Sachwerten zu unterscheiden.42
3. Zur Entwicklung des Würdebegriffs nach Cicero In der römischen Kaiserzeit verflacht bzw. verengt sich die Bedeutung des Würdebegriffs. Dignitas wird primär zur Bezeichnung eines hoheitlichen Amtes; die dignitates sind die hierarchisch gegliederten öffentlichen Ämter und Würdenträger. Selbst ein der stoischen Philosophie verpflichteter römischer Autor wie Seneca verwendet dignitas häufiger im Sinne dieser äußeren Würde als im Sinne des über Bildungsprozesse erreichbaren Adels der Seele.43 Gleichwohl hält er die stoische Lehre wach und betont in philosophischem Belehrungskontext die innere, auf Tugend beruhende Würde (vgl. Ep. 80,10; 115, 9). Epiktet hingegen, ein Freigelassener, dem ausdrücklich alle Menschen Kinder Gottes sind, konzentriert sich ganz auf die durch Philosophie und philosophische Askese zu erringende Würde des Geistes. Das aufkommende Christentum kennt mit dem biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen den Gedanken der allgemeinen Menschenwürde. Doch die anfänglich sehr starke eschatologische Ausrichtung und die frühe und nachhaltige neuplatonische Prägung des Christentums mit ihrer starken Jenseitsorientierung und Tendenz zur Vergeistigung gibt den rechtlichen Ansätzen Ciceros bei der Interpretation des Würdebegriffs keinen Raum der Entfaltung. Es wäre eine eigene Aufgabe, dies an christlichen Texten aus dem griechischen ebenso wie aus dem lateinischen Sprachraum nachzuweisen. Nur auf drei Autoren aus verschiedenen Sprachbereichen und Epochen sei abschließend beispielhaft hingewiesen, auf Gregor von Nyssa, Ambrosius von Mailand und Thomas von Aquin. Bei Gregor von Nyssa, dem die äußeren Würdeattribute des Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 41
oströmischen Herrscherkults ebenso wie die platonische Philosophie bestens vertraut sind, wird das Prädikat der Würde auf dem Weg der Übertragung vom Weltlichen ins Geistig-Geistliche völlig spiritualisiert und der christlich gewordenen Tugend reserviert. Sie wird über den Genesisbericht von der Gottebenbildlichkeit des Menschen mit herrscherlichen Fähigkeiten der Seele begründet und ausschließlich als Adel der unsterblichen Seele interpretiert: »Die Seele zeigt ihr von der gemeinen Niedrigkeit geschiedenes königliches und erhabenes Wesen schon darin, daß sie unabhängig und selbständig ist, nach eigenen Entschlüssen selbstmächtig waltend. Wem sonst ist dies eigen wenn nicht einem König? Die Ebenbildlichkeit mit der über alles herrschenden göttlichen Natur besteht zudem in nichts anderem, als daß unsere Natur recht eigentlich als Königin geschaffen wurde. Wie nämlich nach menschlicher Gewohnheit die Verfertiger von Fürstenbildern die eigentümliche Gestalt des Königs nachahmen und durch den purpurnen Umhang die königliche Würde (τὴν βασιλικὴν ἀξίαν) andeuten, und nach der Gewohnheit auch das Bild König genannt wird. So ward auch die menschliche Natur, als sie zur Herrscherin über alles andere ausgestattet wurde, durch ihre Ähnlichkeit mit dem König des Alls als lebendes Bild aufgestellt, das mit dem Urbild sowohl die Würde als auch den Namen gemein hat. Zwar trägt sie keinen Purpur und deutet nicht durch Szepter und Diadem auf ihre Würde hin ‒ auch das Urbild hat das ja nicht ‒, doch statt des Purpurs ist sie mit der Tugend bekleidet, was wohl von allen Gewändern das königlichste ist. Statt des Szepters stützt sie sich auf die Seligkeit der Unsterblichkeit, statt des königlichen Diadems ist sie mit der Krone der Gerechtigkeit geschmückt. So zeigt sie sich in allem in der Würde des Königtums (ἐν τῷ τῆς βασιλείας ἀξιώματι) als getreue Nachahmung der urbildlichen Schönheit«.44 Gregor von Nyssa hat die klassische griechische Bildung durchlaufen und ist mit Platons Programm der Verähnlichung des menschlichen Geistes mit Gott (ὁμοίωσις θεῷ) vertraut. Im Westen verbindet Ambrosius von Mailand Ciceronianisches Erbe mit neuplatonisch-christlicher Philosophie. In De officiis ministrorum ahmt er Ciceros De officiis nach und entwirft eine Ethik für die christliche Führungselite, die bis ins hohe Mittelalter kanonischen Rang gesaß. Im kurzen Traktat De dignitate conditionis 42 | maximilian forschner
humanae45 verschmilzt er christliche Schöpfungslehre und Trinitätstheologie mit neuplatonischer Seelenlehre und Ethik: Der Mensch sei von Gott in Auszeichnung gegenüber allem anderen nach seinem Bild und zur Verähnlichung mit ihm geschaffen (ad imaginem et similitudinem suam ipse creator omnium eum creavit, quod nulli alii ex creaturis donavit);46 mit diesem Adelsprivileg sei der innere Mensch gemeint (juste mihi videtur dictum interiorem hominem imaginem esse Dei),47 entsprechend der Trinität sein Intellekt, sein Wille, sein identitätsstiftendes reflexives Gedächtnis (intellectus, voluntas, memoria);88 diese machten seine Würden aus (una anima tres habens dignitates);49 sie seien ebensosehr Auszeichnung wie Auftrag zu Tugend und Gottesliebe; je tugendhafter jemand sei, umso näher und ähnlicher sei er Gott (Quas virtutes quanto plus quisque in seipso habet, tanto propius est Deo, et majorem sui conditoris gerit similitudinem);50 wer jedoch durch Laster und Vergehen von dieser Gottähnlichkeit abweicht, dem werde geschehen, was in Psalm XLVIII,13 geschrieben steht: »Als der Mensch in Ehren stand, zeigte er keine Einsicht; er wurde den törichten Tieren gleich und ähnlich gemacht«.51 Thomas von Aquin kennt Cicero; er ist in seiner Theorie des natürlichen Gesetzes (vgl. v. a. S. theol. I–II, qu. 90–96) wesentlich von Cicero beeinflußt.52 Er hat auch rechtliche Aspekte des Würdebegriffs im Auge; sein Denken ist nicht nur biblisch und neuplatonisch, es ist auch aristotelisch und stoisch und durch die Tradition des römischen Rechts geprägt. Er behandelt die Frage nach der Würde des Verbrechers. Ein Mensch, der ein Verbrechen begeht, tritt in gewisser Weise von der Ordnung der Vernunft zurück und weicht darin von der ihm von Gott geschenkten menschlichen Würde ab. Er kann, wegen seines verbrecherischen Verhaltens, entsprechend seinem Nutzen oder Schaden für die politische Gemeinschaft, wie ein Tier behandelt, d. h. in Dienst genommen oder getötet werden.53 Thomas folgt hier Aristoteles. Allerdings mit einer wesentlichen Einschränkung: Diese Behandlung des Verbrechers durch die öffentliche Gewalt enthebt weder diese noch Privatpersonen der Verpflichtung, in jedem Menschen, auch dem Verbrecher, die (menschliche) Natur zu lieben, die Gott geschaffen und zum ewigen Heil bestimmt hat.54 Dieser Respekt vor der menschlichen Natur im Verbrecher äußert sich etwa in der mittelalterlichen RechtsbestimImmanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 43
mung und Rechtspraxis darin, daß auch dem schlimmsten Verbrecher der priesterliche Beistand bei der Hinrichtung nicht versagt werden darf. Das jenseitige Leben und ewige Heil zählte im Mittelalter mehr als das diesseitige. Durch die Glaubensspaltung der Reformation und die europäischen Glaubenskriege lösen sich die konsensfähigen Gewißheiten bezüglich der religiösen Mittel zum ewigen Heil auf. Zugleich bildet sich im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ein neuer Begriff des Staates und der Staatsgewalt aus. Aus dem mittelalterlichen Feudalstaat geht der moderne Territorialstaat hervor. Die Herrschergewalt wird zur umfassenden Souveränität. Im Absolutismus setzt sich die Idee der Souveränität in der Staatwirklichkeit durch. Gerade die Praxis einer unumschränkten Staatsgewalt rief als Antithese die Forderung nach einer prinzipiellen, allen Menschen gegenüber zu respektierenden Einschränkung dieser Staatsgewalt hervor. Die Antithese wurde von christlicher Seite unter Berufung auf die biblische Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes insbesondere von politisch-religiösen Independenten und Quäkern, etwa von Roger Williams, dem Gründer von Rhode Island oder von William Penn, dem Gründer von Pennsylvania ins Spiel gebracht. John Locke, in seinen religiösen Ansichten selbst dem Kreis der Independenten zugehörig, zieht die philosophische Bilanz der politischen und religiösen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts und formuliert die philosophische Forderung nach einer prinzipiellen, allen Menschen gegenüber zu respektierenden Einschränkung dieser Staatsgewalt unter Berufung auf unveräußerliche und unantastbare Menschenrechte.55 Neben religiösen Quellen ist er hier vor allem der stoischen Tradition und ihrer rechts- und staatsphilosophischen Vermittlung durch Cicero verpflichtet. Und für die Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hatten die philosophischen Schriften Ciceros, insbesondere De officiis, geradezu kanonischen Rang.
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Anmerkungen
V. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Heidelberg 1989, 37 ff. 2 Vgl. dazu J. Leonhard: Ciceros Kritik der Philosophenschulen, München 1999. 3 E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hg.): Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – Säkulare Gestalt – Christliches Verständnis, Stuttgart 1987. 4 Vgl. H.-C. Schmitt: Arbeitsbuch zum Alten Testament, Göttingen 2005, 197 f. 5 Vgl. dazu R. Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ders.: Das Natürliche und das Vernünftige. Aufsätze zur Anthropologie, München 1987, 77–106. 6 Vgl. dazu M. C. Nussbaum: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994. 7 Vgl. R. Sorabji: Emotions and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford 2000. 8 Vgl. dazu Verf.: Marktpreis und Würde oder vom Adel der menschlichen Natur, in: H. Kössler (Hg.): Die Würde des Menschen, Erlangen 1996, 33 – 60, insbesondere 43 ff. 9 Vgl. Verf.: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, 91–119. 10 Vgl. dazu K. M. Vogt: Law, Reason and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa, Oxford 2008. 11 Vgl. Diogenes Laertios VII, 32–34; M. Schofield: The Stoic Idea of the City, Cambridge 1991, 3 ff., 56. 12 Dies gegen den meines Erachtens zu weiten Begriff des Politischen bei Katja M. Vogt. 13 Vgl. dazu die materialreiche Studie von V. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Heidelberg 1989. Ders.: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, 637–645. 14 Ubi est autem dignitas nisi ubi honestas, so Cicero an seinen Freund Atticus in einem Brief vom 14. Januar 49 v. Chr. 15 Vgl. De or. 2,334; De fin. 3,1; Tusc. 2,46; J. Leonhardt: Ciceros Kritik der Philosophenschulen, München 1999, 58 f. 16 dignitas est alicuius honesta et cultu et honore et verecundia digna auctoritas (De inv. 2,166); vgl. V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 638. 17 Zur Kontrolle der Affekte bei Cicero vgl. B. Koch: Philosophie als Medi1
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zin für die Seele. Untersuchungen zu Ciceros Tusculanae Disputationes, Stuttgart 2006. 18 Deshalb weist etwa die Juristerei, die sich mit Alltagsstreitigkeiten befaßt, keine Würde auf (vgl. Pro Murena 11, 25). 19 So gesehen wäre es auch abwegig, in Ciceros Würdebegriff den Keim einer politisch-rechtlichen Interpretation von Würde hineinzulesen, die sich in einklagbaren Grundrechten des Bürgers gegenüber dem Staat manifestiert. Ciceros Staatsverständnis ist weit entfernt vom neuzeitlichen Konzept eines liberalen Verfassungsstaats. Vgl. dazu J. Harris: Cicero and the Jurists. From Citizens’ Law to the Lawful State, London 2006. 20 Vgl. H. Strasburger: Ciceros philosophisches Spätwerk als Aufruf gegen die Herrschaft Caesars, Hildesheim 1990. 21 In De oratore 1,191 ff. erklärt Cicero, welcher Rhythmus in öffentlicher Rede Würde hat und welcher nicht; vgl. V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 641. Cicero selbst hat wie wohl kein anderer seine Reden rhythmisch genauestens durchkonstruiert. Dies nun am Beispiel der Rede Pro Roscio überzeugend aufgewiesen zu haben ist das Verdienst von S. Koster: Ciceros Rosciana Amerina. Im Prosarhythmus rekonstruiert, Stuttgart 2011. 22 Agere cum dignitate ac venustate (De or. 1,142; vgl. 3,178); V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 641. 23 Vgl. Verf.: Die stoische Ethik, Darmstadt 21995, Kap. X, 160–182. 24 Vgl. Verf.: Das Selbst- und Weltverhältnis des Weisen. Über die stoische Begründung des Guten und Wertvollen, in: F. W. Horn/R. Zimmermann (Hg.): Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics, Bd. I, Tübingen 2009, 19–38. 25 cum omnia semper ad dignitatem rettulissem nec sine ea quicquam expetendum esse homini in vita putassem, mortem […] ego vir consularis tantis rebus gestis timerem? (Sest. 48), V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 22. 26 dignitatem tueri mortemque contemnere (Phil. I,14). Zu Ciceros Behandlung der Todesthematik vgl. Verf.: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Kap VII: Eine humane Sicht des Endes. Cicero über Tod und Unsterblichkeit, 142–165. 27 (Patria Romana) una in omnibus terris domus est virtutis, imperii, dignitatis (De or. 1,196), V. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, 23. 28 Quoniam distinctos gradus dignitatis non habebant, non tenebat ornatum suum civitas (sc. Die Stadt der Athener). De re publ. I,43; vgl. 6,13; V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 639. 29 Vgl. V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 637. 30 Vgl. K. Bringmann: Cicero, Darmstadt 2010, 103 u. ö. 31 Vgl. Cicero: Lucullus 66; Tusc. 4,63; De fin. 2,7; W. Görler: Cicero, in: H. 46 | maximilian forschner
Flashar (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike 4. Die hellenistische Philosophie, 2. Halbband, Basel 1994, 1117 f. 32 Vgl. P. Boyancé: Cum dignitate otium, in R. Klein (Hg.): Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1966, 348–374. 33 Vgl. De fin. 1,1,11. 34 Vgl. De fin. III,36 f.; I,11; De nat. deor. II,37. Vgl. Verf.: Theoria und stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae disputationes V, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 53/2, 1999, 163–187. 35 Zum sokratischen Erbe in Ciceros philosophischer Methodik vgl. R. Gorman: The Socratic Method in the Dialogues of Cicero, Stuttgart 2005. 36 Vgl. J. Harris: Cicero and the Jurists. From Citizens’ Law to the Lawful State, London 2006. 37 Vgl. dazu Verf.: Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung, in: B. Neymeyr / J. Schmidt / B. Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Bd. I, Berlin/New York 2008, 169–192. 38 κοινωνίαν δ’ὑπάρχειν πρὸς ἀλλήλους διὰ τὸ λόγου μετέχειν ὅς ἐστι φύσει νόμος (SVF II, 528 = Arius Didymus apud Eusebium praep. evang. XV 15). Zur stoischen Kosmopolis-Lehre vgl. M. Schofield: The Stoic Idea of the City, Cambridge 1991; Verf.: Philosophie und Politik. Dions philosophische Botschaft im Borysthenitikos, in: H.-G. Nesselrath/B. Bäbler/M. Forschner/A. de Jong (Hg.): Dion von Prusa. Menschliche Gemeinschaft und göttliche Ordnung. Die Borysthenesrede, Darmstadt 2003, 128–156. 39 Vgl. De fin. III,16–18; 20–21, 62–68. 40 De fin. III,63: Ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat hominem ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri. 41 De off. I,41. 42 Vgl. Pedius bei Paulus, in: Digesta XXI 1, 44 ad primum. Vgl. H. Cancik: »Würde des Menschen« I begriffsgeschichtlich, in: RGG, Tübingen 42005, Bd. 8, 1736 f. 43 Vgl. V. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, 36, Fn. 72. 44 De hominis opificio, cap IV, Migne Patrologia Graeca, tom 44, col 136. Vgl. V. Pöschl: Würde, Teil 1: »Würde« im antiken Rom, 644. 45 Migne Patrologia Latina tom 17, col. 1105–1108. 46 Col. 1105. 47 Col. 1107. 48 Col. 1106. 49 Col. 1106. 50 Col. 1108. 51 Col. 1108. 52 Vgl. Verf.: Thomas von Aquin, München 2006, 122–139; ders.: Über das Immanente Transzendenz: Die Stoa und Cicero … | 47
Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, Kap. I: Koinos nomos – lex naturalis. Stoisches und christliches Naturgesetz, 5–30. 53 Vgl. S. theol. II–II, qu. 64 a. 2 ad 3: Ad tertium dicendum quod homo peccando ab ordine rationis recedit: et ideo decedit a dignitate humana, prout scilicet homo est naturaliter liber et propter seipsum existens, et incidit quodammodo in servitutem bestiarum, ut scilicet de ipso ordinetur secundum quod est utile aliis … Et ideo quamvis hominem in sua dignitate manentem occidere sit secundum se malum, tamen hominem peccatorem occidere potest esse bonum, sicut occidere bestiam: peior enim est malus homo bestia, et plus nocet, ut Philosophus dicit in I Politica et in VII Ethica. 54 Vgl. S. theol. II–II, qu. 64 a. 6 co.: in quolibet, etiam peccatore, debemus amare naturam, quam Deus fecit. 55 Vgl. R. Zippelius: Allgemeine Staatslehre, München 1985, 307.
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– Friedo Ricken –
Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones I. Im neunten Buch der Confessiones berichtet Augustinus von einem Gespräch mit seiner Mutter in Ostia vor deren Tod. Er schildert einen inneren Weg, den sie dabei gemeinsam gehen, und entfaltet so die vielfache in der Rede von der Transzendenz enthaltene Metaphorik. Augustinus gebraucht zunächst (IX 10,23) die Sprache der Bibel. Es geht darum, das Vergangene zu vergessen und sich »auszustrekken nach dem, was vorne ist« (Phil 3,13). Dieses Ziel, das zukünftige ewige Leben der Heiligen, übersteigt alle menschliche Vorstellung; »kein Auge hat es gesehen und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist es gekommen« (1 Kor 2,9). Eine dritte Schriftstelle verweist auf den Ursprung des Lebens und die Sehnsucht des Menschen nach ihm. Wir »gierten mit dem Munde des Herzens« nach dem Wasser »der Quelle des Lebens, die bei dir ist« (Ps 36,10). Der zweite Abschnitt (IX 10,24) bedient sich der Sprache der Ontologie; der Gedanke des Transzendierens wird durch verschiedene Verben ausgedrückt: sich erheben (erigere), stufenweise durchwandern (gradatim perambulare), hinaufsteigen (ascendere), über etwas hinauf- und hinaussteigen (transcendere). Der Weg führt »Stufe für Stufe« durch die gesamte Körperwelt einschließlich des Himmels. Der nächste Schritt nach oben ist der Schritt nach innen, zu unserem Geist. Er wird überstiegen (transcendere), um, wie es mit einer Anspielung auf Platons Phaidros (247c–e) heißt, zum »Bereich unerschöpflicher Fülle zu gelangen, wo du Israel auf ewig mit der Speise der Wahrheit weidest«. Dort ist die Weisheit, durch die alles entsteht, »in der es kein Gewesensein und kein Zukünftigsein gibt, sondern allein Sein, weil sie ewig ist«. Der Aufstieg endet in einem Erlebnis: »Und während wir sprechen und nach ihr | 49
gieren, berührten wir sie ruhig mit einem vollen Schlag des Herzens.« Schließlich (IX 10,25) reflektiert Augustinus die subjektive Seite des Aufstiegs. Alle Vorstellungen von der umgebenden Welt schweigen. Das Gespräch der Seele mit sich selbst verstummt; die Seele übersteigt sich selbst dadurch, daß sie sich selbst nicht mehr denkt. Alle Träume und Phantasievorstellungen, jede Sprache und jedes Zeichen schweigen; alles, was der Zeit unterworfen ist, spricht nur durch seine Vergänglichkeit und wendet so sein Ohr dem zu, der es geschaffen hat. Der Aufstieg endet darin, daß der ewige Schöpfer selbst und nicht durch seine Schöpfung spricht; »wie wir uns jetzt ausstreckten und in einem schnellen Gedanken die ewige Weisheit berührten, die über allem bleibt«, hörten wir ihn selbst, den wir in seiner Schöpfung lieben, ohne die Schöpfung. Das Gespräch und die Vision in Ostia lassen verschiedene Formen oder Aspekte der Transzendenz, des über etwas Hinauf- und Hinaussteigens, deutlich werden. Wir können sprechen von einer epistemischen Transzendenz: Formen der Erkenntnis erweisen sich als unzureichend und müssen auf höhere Formen hin überstiegen werden; einer ontologischen Transzendenz: das veränderlich und in der Zeit Seiende verdankt sein Sein dem unveränderlich und ewig Seienden; einer axiologischen Transzendenz: jenseits der Güter dieser Welt ist ein Gut, das alle menschlichen Begriffe und Vorstellungen übersteigt; einer aszetischen Transzendenz, in welcher der Mensch nicht mehr am eigenen Ich festhält, sondern sich selbst vergißt. Wie sind diese verschiedenen Formen oder Aspekte in den Confessiones weiter entfaltet? Wie zeigen sie sich in dem inneren Weg, den die Confessiones schildern?
II.
»Ich will dich suchen, Herr«, so formuliert Augustinus das Anliegen der Confessiones, »indem ich dich anrufe, und ich will dich anrufen, indem ich an dich glaube« (I 1,1). Das Phänomen, von dem Augustinus ausgeht, ist Gebet; die Reflexion auf das Gebet führt zur Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt. Das Gebet wird verstanden als die Bitte um die Gemeinschaft mit Gott; wenn ich 50 | friedo ricken
Gott anrufe, dann »rufe ich ihn in mich hinein« (I 2,2). Das Verhältnis von Gott und Mensch wird durch Begriffe aus der Kategorie des Raumes gedacht. Ich rufe Gott in mich hinein. »Und welches ist der Ort in mir, wohin in mir mein Gott kommen soll?« Die räumliche Vorstellung führt in eine Aporie. »Wohin soll Gott denn in mir kommen, Gott, der ›Himmel und Erde gemacht hat‹?« Oder ist es so, daß nicht Gott in mich kommen soll, sondern daß ich in Gott bin? Augustinus zitiert Röm 11,36 »›aus dem alles, durch den alles, in dem alles‹« ist. Dann wäre es jedoch sinnlos, durch das Gebet Gott in mich hineinzurufen. »Wohin soll ich dich rufen, wenn ich in dir bin? Oder woher kämest du in mich?«. Daß die räumliche Vorstellung des Verhältnisses von Gott und Welt bzw. Mensch in Aporien führt, wird auch gezeigt durch Überlegungen zu Jer 23,24 »›Himmel und Erde erfülle ich‹«. Fassen Himmel und Erde Gott, der sie erfüllt, ganz, oder »erfüllst du sie, und es bleibt etwas übrig, weil sie dich nicht fassen?« (I 3,3). Ist Gott ganz in allem und jedem, das er erfüllt, oder faßt jedes Einzelne nur einen Teil von ihm? Wenn das der Fall ist: Sind die Teile, die jedes Einzelne erfaßt, gleich groß, oder erfaßt das eine einen größeren, das andere einen kleineren Teil von Gott? »Oder bist du überall als Ganzer und kein Ding faßt dich als Ganzen?« Augustinus deutet an, wie diese Aporien zu lösen sind. Die Begriffe aus der Kategorie des Raumes sind durch ein Bedingungsverhältnis zu ersetzen. »Oder weil ohne dich nicht wäre, was immer ist: Geschieht es dadurch, daß was immer ist dich faßt? Weil also auch ich bin, was bitte ich, daß du in mich kommst, der ich nicht wäre, wenn du nicht wärest in mir? […] Nicht wäre ich also, mein Gott, ich wäre überhaupt nicht, wenn du nicht wärest in mir. Oder vielmehr wäre ich nicht, wenn ich nicht in dir wäre« (I 2,2). Daß Gott in mir ist oder daß ich in Gott bin, bedeutet: Wenn er nicht wäre, wäre ich nicht; nur wenn er ist, bin ich. Augustinus unterscheidet zwei Fragen: »Was also bist du, mein Gott?« (I 4,4) und »Was bist du mir?« Er betet mit Ps 35,3 »›Sag meiner Seele: dein Heil bin ich‹« und mit Ps 27,9 »›Verbirg nicht dein Gesicht vor mir‹« (I 5,5). Die Frage nach dem Wesen Gottes und seinem Verhältnis zur Welt kommt aus dem Gebet, dem Bedürfnis des Menschen, Gott zu loben (I 1,1). Sie ist nicht nur durch ein Erkenntnisinteresse motiviert; mit der Überlegung, daß ein kontingentes Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 51
Wesen nur ist, wenn ein notwendig Seiendes ist, hat sie noch nicht ihre abschließende Antwort gefunden. Es ist der ganze Mensch, der nach Gott sucht; die Gottesfrage entspringt seiner Not, dem Bewußtsein der Schuld, der Suche nach Heil. »›Wenn du die Sünden beachten wolltest, Herr, Herr, wer wird bestehen?‹« (I 5,6; Ps 130,3). Was der Mensch sucht, ist der Gott, der ihm vergibt und der sein Heil ist, das Gut, das alle Güter dieser Welt und alle Vorstellungen des Menschen übersteigt.
III.
Der Aufstieg im Gespräch von Ostia beginnt mit dem Weg durch die körperliche Welt bis hinauf zur Sonne, dem Mond und den Sternen; um den Schöpfer zu vernehmen, müssen Sinne und Vorstellung schweigen. Die Reflexion auf das Gebet arbeitet in einem ersten Schritt mit der Kategorie des Raumes und gerät so in Aporien. Augustinus beschreibt die Grundeinstellung, die ihn über Jahre bestimmt und daran gehindert hat, den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren zu übersteigen. Ich suchte dich »mit dem Sinn des Fleisches« (secundum sensum carnis; III 6,11), und »ich konnte etwas Wirkliches (aliquid substantiae) nur so denken, wie es sich mit diesen Augen sehen läßt« (VII 1,1); er kann nur »Körperliches (corporalia) denken« (V 11,21). Er steht mit dem Rücken zum Licht und sieht deshalb nur das, worauf das Licht fällt, aber nicht die Quelle des Lichtes. »Den Rücken hatte ich zum Licht, und zu dem, was beleuchtet wird, das Angesicht; von daher wurde mein Angesicht, mit dem ich das Beleuchtete wahrnahm, selbst nicht beleuchtet« (IV 16,30). Der falschen Blickrichtung entspricht ein falscher Standort, der durch den Gegensatz Innen-Außen charakterisiert wird. Augustinus wohnt »draußen«; sein Denken ist ausschließlich von dem bestimmt, was er mit seinen Augen wahrnimmt. Ich »wohnte draußen im Auge meines Fleisches und ich käute bei mir nur das wieder, was ich durch es verschlungen hatte« (III 6,11). »Ich suchte dich außerhalb von mir, und ich fand den ›Gott meines Herzens‹ nicht« (VI 1,1; Ps 73,26). Augustinus beschreibt den Weg, der ihn zu dieser Einstellung hinführte, und die charakterlichen Voraussetzungen, auf denen 52 | friedo ricken
sie beruht. Die Begegnung mit Ciceros Hortensius gibt seinem bisher vom Ehrgeiz und dem Streben nach Erfolg bestimmten Leben eine neue Richtung. »Dieses Buch änderte tatsächlich meinen Affekt; es lenkte meine Gebete zu dir selbst, Herr, hin, und es machte mein Wünschen und Sehnen anders« (III 4,7). Nur eines dämpfte die durch den Hortensius geweckte Begeisterung für die Weisheit: Der Name Christi, der seit frühester Kindheit tief in Augustinus’ Herz seinen Platz hatte, kam dort nicht vor. Deshalb beschloß Augustinus, sich mit der Heiligen Schrift zu beschäftigen. Die Schrift, so urteilt er im Rückblick, erschließt sich den Stolzen nicht und sie enthüllt sich nicht den Kindern; sie ist vielmehr »niedrig für das Eintreten, erhaben für das Fortschreiten und eingehüllt in Geheimnisse«. Man muß den Nacken beugen, um in sie einzutreten, und erst dann erkennt man Schritt für Schritt ihre erhabene Botschaft. Es war der Stolz, der Augustinus damals den Zugang zur Schrift verschloß; sie hält einem Vergleich mit der »Würde« von Ciceros Hortensius nicht stand; ihre Unscheinbarkeit stößt Augustinus’ Hochmut ab; »mein Blick drang nicht in ihr Inneres ein« (III 5,9). Einbildung, Stolz und Verachtung lassen Augustinus nach einer vermeintlich intellektuell anspruchsvollen Lehre suchen. Er fällt Menschen in die Hände, »die vor Hochmut verrückt geworden, vollständig den Sinnen ausgeliefert und Schwätzer« sind. Ihre Deutung der Schrift entspricht seinem von sinnlichen Vorstellungen bestimmten Denken. Statt der Wahrheit lehren sie »Falsches, das ein Geist, der durch die Augen getäuscht wurde, hervorgebracht hat«, »körperliche Phantasiegebilde, falsche Körper«, nur in der Einbildung existierende »unbegrenzte« Körper (III 6,10). Beim Studium der Kategorien des Aristoteles verfällt Augustinus dem Irrtum, alles Seiende überhaupt, also auch Gott, lasse sich mit diesen zehn Formen der Aussage erfassen. Auch Gott, so denkt er, ist Träger seiner Größe oder Schönheit, »als ob auch du von deiner Größe und Schönheit bestimmt (subiectus) wärest, so daß jene in dir gleichsam im Subjekt wie in einem Körper wären, während doch deine Größe und deine Schönheit du selber bist, ein Körper dagegen nicht dadurch groß und schön ist, daß er ein Körper ist« (IV 16,29). Er glaubte, »daß du, Herr, Gott, Wahrheit, ein unermeßlicher leuchtender Körper seiest« (IV 16,31). Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 53
Intuitiv erfaßt Augustinus, daß diese Gottesvorstellung seinem Gottesglauben widerspricht. »Heftig protestierte mein Herz gegen alle meine Phantasiegebilde« (VII 1,1). Er ist zutiefst davon überzeugt, daß der wahre und einzige Gott »unvergänglich, unverletzlich und unveränderlich« ist; das ergibt sich für ihn aus der Einsicht, daß das Unvergängliche, Unverletzliche und Unveränderliche besser ist als das Vergängliche, Verletzliche und Veränderliche. Er versucht, durch diese Einsicht die räumliche Vorstellung von Gott zu überwinden; das gelingt ihm jedoch nur für einen Augenblick; dann gewinnt wieder die Überzeugung Oberhand, daß nur das für die Augen Sichtbare wirklich ist, und er sieht sich gezwungen, auch das Unvergängliche, Unverletzliche und Unveränderliche räumlich zu denken.
IV.
Transzendenz kann nicht mit Hilfe von Begriffen der Kategorie des Raumes gedacht werden. Wenn im Raum a weit von b entfernt ist, dann ist auch b weit von a entfernt. Dagegen heißt es in den Confessiones: »Deine Allmacht ist nicht weit entfernt von uns, auch wenn wir weit entfernt sind von dir« (II 2,3). »Sie wissen nicht, daß du, den kein Ort umschreibt, überall bist, und du allein bist auch denen gegenwärtig, die sich von dir weit entfernen« (V 2,2). Augustinus greift auf die Psalmen zurück, um das Verhältnis Gottes zum Menschen zu beschreiben. Die Allgegenwart Gottes wird verglichen mit der Glut der Sonne, vor der sich niemand verbergen kann (V 1,1; vgl. Ps 19,7). Aus jeder Tiefe, mag sie noch so groß sein, soll der Mensch zu Gott rufen, und sein Ruf wird das Ohr Gottes erreichen (II 3,5; vgl. Ps 130,1). Es gibt keinen Ort, wohin der Mensch vor dem Angesicht Gottes fliehen könnte, aber es gelingt dem Menschen, Gott nicht mehr zu sehen. »Sie flohen, um dich, der sie sieht, nicht zu sehen und um geblendet auf dich zu stoßen« (V 2,2; vgl. Ps 139,7). Vor den Augen Gottes liegt der »Abgrund des menschlichen Gewissens« offen; der Mensch kann Gott vor sich verbergen, aber nicht sich vor Gott (X 2,2). Gott ist dem Menschen nahe, aber der Mensch ist fern von Gott; wie kann er diesen Abstand überwinden? Augustinus’ Antwort läßt 54 | friedo ricken
sich in die Aussage von Ps 34,19a zusammenfassen: »Nahe ist der Herr den zerbrochenen Herzen«. Er findet zu Gott, indem er in sich einkehrt, seine Armut erkennt und sie vor Gott bekennt. »Jetzt aber, weil mein Seufzen Zeuge ist, daß ich mir mißfalle, da erstrahlst du und gefällst und wirst geliebt und ersehnt, so daß ich über mich erröte, mich verwerfe, dich wähle und weder dir noch mir gefalle, es sei denn durch dich« (X 2,2). »Und was ist näher deinem Ohr als ein bekennendes Herz und ein Leben aus dem Glauben?« (II 3,5). Du bist »im Herzen derer, die dir bekennen, sich dir in die Arme werfen und an deiner Brust nach ihren beschwerlichen Wegen weinen« (V 2,2). Der Weg führt vom Bekenntnis des Erbarmens Gottes über das Lob zur Liebe (vgl. V 1,1). Aber das räumliche Gottesbild verschließt diesen Zugang zu Gott. Augustinus beschreibt den Schmerz über den Tod seines Freundes (IV 4–7). Elend, so urteilt er im Rückblick, war er, weil es sich an Vergängliches gehängt hatte. Der Schmerz hatte bis in sein Innerstes dringen können, »weil ich meine Seele in den Sand gegossen hatte, indem ich einen Sterblichen so liebte, als ob er niemals sterben werde« (IV 8,13). »Ich war elend, und elend ist jeder Geist, der gefesselt ist durch die Freundschaft mit Sterblichem und zerrissen wird, wenn er es verliert, und erst dann das Elend fühlt, wodurch er bereits elend ist, bevor er es verloren hat« (IV 6,11). Augustinus beschreibt die Depression, in die er nach dem Tod des Freundes fällt, und er sieht ihre tiefste Ursache darin, daß er keinen Halt im Transzendenten hatte. Er hat das Gebet des Psalmisten vor Augen: »Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele. Mein Gott, auf dich vertraue ich. Laß mich nicht scheitern« (Ps 25,1 f.; vgl. IV 7,12). Er weiß, daß er dort Halt finden könnte, »aber ich wollte und konnte es nicht, umso weniger, weil du mir nicht etwas Festes und Sicheres warst, wenn ich über dich nachdachte. Denn nicht du warst es, sondern ein leeres Phantasiegebilde und ein Irrtum war mein Gott«. Wenn er versuchte, dort Halt und Ruhe zu finden, dann glitt seine Seele »durchs Leere« und »stürzte« wieder auf ihn zurück (IV 7,12).
Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 55
V. Durch einen »maßlos eingebildeten Menschen« erhält Augustinus »einige Bücher der Platoniker, die aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt waren« (VII 9,13); ihnen entnimmt er die Aufforderung, in sich selbst zurückzukehren. Die Beschreibung dessen, was er dort sieht, bedient sich der Lichtmetaphorik; Hintergrund ist letztlich das Sonnengleichnis in Platons Politeia (506b–509b); der entscheidende Schritt ist das Übersteigen der räumlichen Kategorien; sie dienen nur noch als Metaphern. »Ich trat ein und sah mit dem Auge meiner Seele, so schwach es auch war, über diesem selben Auge meiner Seele, über meinem Geist, das unwandelbare Licht, nicht dieses gewöhnliche und allem Fleisch sichtbare, und es war auch nicht ein größeres von derselben Gattung, wie wenn es nur viel, viel heller leuchtete und durch seine Größe das Ganze erfüllte. Nicht das war es, sondern etwas anderes, ganz anderes als dieses alles«. Das Licht, das Augustinus sieht, gehört nicht zu derselben Gattung wie das Licht der Sonne, des Mondes, der Sterne, des Feuers; es unterscheidet sich von ihm nicht lediglich durch eine quantitative Bestimmung, sei es durch seine Ausdehnung, d. h. die Größe des Raumes, das es erfüllt, oder durch den Grad seiner Intensität. »Und es war nicht so über (super) meinem Geist, wie das Öl über dem Wasser oder der Himmel über der Erde, sondern höher (superior), weil es mich geschaffen hat, und ich tiefer (inferior), weil ich von ihm geschaffen bin« (VII 10,16). Die räumlichen werden durch ontologische Kategorien ersetzt; ›über‹ und ›unter‹ oder ›höher‹ und ›tiefer‹ stehen für ein Verhältnis der kausalen Abhängigkeit. Das Licht, das Augustinus in seinem Inneren erblickt, ist die Wahrheit. »Wer die Wahrheit kennt, kennt es, und wer es kennt, kennt die Ewigkeit. Die Liebe (caritas) kennt es. O ewige Wahrheit und wahre Liebe und geliebte Ewigkeit. Du bist mein Gott, zu dir seufze ich bei Tag und bei Nacht« (VII 10,16). Sein ist als Wahr-sein verstanden. Die Wahrheit ist ewig, denn was wahr ist, ist immer wahr. Gott ist das subsistierende Wahr-sein, die Wahrheit. Von der ontologischen wendet Augustinus sich der epistemischen und aszetischen Transzendenz zu. »Und sobald ich dich erkannte, nahmst du mich, damit ich sähe, daß es etwas gibt, das ich 56 | friedo ricken
sehen könnte, und daß ich noch nicht der wäre, der es sehen könnte. Und du ließest die Schwäche meines Sehvermögens zurückprallen, heftig in mich strahlend, und ich erbebte vor Liebe und Erschrekken«. Augustinus erfährt, wie fern er von Gott ist; er findet sich wieder in regione dissimilitudinis, »im Bereich der Unähnlichkeit«; das ist nach platonischer Lehre der Bereich der Wirklichkeit, der keine Ähnlichkeit mit dem Bereich der Ideen und des Guten hat, der Bereich der Schlechtigkeit (κακία) und des Übels (κακόν).1 Er erkennt, daß es die Sünde ist, wodurch seine Erkenntnisfähigkeit so eingeschränkt wurde, daß er nur Räumliches für wirklich halten konnte. Eine Frage eröffnet ihm den Zugang zu einem neuen Seinsverständnis: »Ist denn die Wahrheit wirklich nichts, weil sie sich weder in begrenzten noch in unbegrenzten Räumen ausbreitet?«. Die Antwort kommt aus der Ferne, aber sie wird verstanden; es ist die Antwort der Schrift. Ein erster Schritt setzt voraus, daß Gott die Wahrheit ist, und antwortet auf die Frage, ob die Wahrheit etwa nicht ist, mit Ex 3,14 »Doch. Ich bin es, der ich bin.« In einem zweiten Schritt zitiert Augustinus Röm 1,20 a. Daß die Wahrheit ist, wird »durch das, was gemacht ist, mit der Vernunft wahrgenommen«. Was die Vernunft wahrnimmt, ist in der zweiten Hälfte des Verses, die Augustinus nicht zitiert, gesagt: Es ist Gottes ewige Macht und Gottheit. Daß die Wahrheit ist und daß deshalb das an den Raum gebundene Seinsverständnis überstiegen werden muß, ist nun gewiß; »eher hätte ich gezweifelt, daß ich lebe, als daran, daß die Wahrheit ist« (VII 10,16). Um dem Dualismus zu entgehen, hatte Augustinus sich einen Gott gemacht, der den gesamten Raum erfüllt. Gott hat die Augen des Nichtwissenden verschlossen, »›daß sie nicht Eitles sähen‹; ich war eine Weile weg von mir und mein Wahn wurde eingeschläfert; und ich erwachte in dir und sah, daß du auf andere Weise unendlich bist, und diese Sicht stammte nicht vom Fleisch« (VII 14,20). An die Stelle der räumlichen Vorstellung sind ontologische Begriffe getreten. Augustinus wendet seinen Blick vom unendlichen Gott zu dem von ihm Verschiedenen. Alles Endliche ist in Gott. Aber so, wie Gott auf andere Weise unendlich ist als der Raum, so ist das Endliche »auf andere Weise« in Gott. Daß es in Gott ist, ist keine Ortsbestimmung, die angibt, wo es sich befindet, »sondern weil du der alles Haltende bist durch die Hand, die die Wahrheit ist, und alles wahr ist, insoDie vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 57
fern es ist« (VII 15,21). Wenn Gott, so das Bild, das Endliche nicht in seiner Hand hält, fällt es ins Nichts, und die Hand, durch die er es hält, ist die Wahrheit. Gott ist die Wahrheit, und alles Seiende hat an ihm teil, denn insofern es ist, ist es wahr. Alles Seiende ist dadurch, daß Gott es erkennt, und erkannt werden kann nur, was wahr ist. ›Wahr‹ ist ein transzendentales Prädikat; alles Seiende, insofern es ist, ist wahr. Die Bestimmung ›wahr‹, so können wir Augustinus’ Bild interpretieren, umfaßt alles Seiende; sie ist die Hand, in der Gott alles hält. Aber Gott transzendiert das Seiende, dem die transzendentale Bestimmung des Wahrseins zukommt, denn Gott ist nicht wahr, sondern die Wahrheit, an der alles, was wahr ist, teilhat. Er ist es, der dem Seienden Sein und Erkennbarkeit gibt. Das endliche, kategoriale Seiende ist nicht nur an einem Ort, sondern auch in der Zeit; man kann fragen, wann etwas war. Gott ist nicht in der Zeit; er allein ist »ewig« (aeternus); man kann nicht fragen, wann er etwas getan hat. Er hat nicht »nach unzählbaren Zeiträumen begonnen zu wirken«, denn alle Zeiträume, die vergangen sind oder vergehen werden, würden nicht vergehen oder kommen, wenn er nicht »wirkte und blieb« (VII 15,21). Die Zeit steht niemals, eine lange Zeit wird nur lang »durch viele vorübergehende Augenblicke, die nicht gleichzeitig sein können«. Augustinus fordert den Leser auf, innezuhalten und zu betrachten, »daß alles Vergangene und Zukünftige von dem, was immer gegenwärtig ist, geschaffen wird und von ihm ausgeht«. Vergangenheit und Zukunft sind auf die Gegenwart bezogen; wir urteilen vom gegenwärtigen Augenblick aus, was vergangen und was zukünftig ist. Ausgehend von dieser unserer Zeiterfahrung sollen wir betrachten, wie jegliche Zeit von dem, was immer gegenwärtig ist, ausgeht; wir sollen die »niemals stehenden Zeiten« mit der »immer stehenden Ewigkeit (aeternitas)« vergleichen. Unsere Gegenwart ist keine bleibende Gegenwart; sie ist nur ein Augenblick, der sofort zur Vergangenheit wird. »Wer wird das Herz des Menschen halten, daß es steht und sieht, wie die stehende Ewigkeit, die weder vergangen noch zukünftig ist, die vergangenen und zukünftigen Zeiten bestimmt?« (XI 11,13). Wir können, als Interpretation, neben diesen Satz die Aussage von Ps 139,16 stellen: »Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.« 58 | friedo ricken
VI.
»Und sobald ich dich erkannte, nahmst du mich, damit ich sähe, daß es etwas gibt, das ich sehen könnte, und daß ich noch nicht der wäre, der es sehen könnte. Und du ließest die Schwäche meines Sehvermögens zurückprallen, heftig in mich strahlend, und ich erbebte vor Liebe und Erschrecken« (VII 10,16). Wenige Seiten später geht Augustinus auf diese Erfahrung ausführlicher ein. Er ist sich völlig gewiß, daß Gott, wie es in Röm 1,20 heißt, aus der Schöpfung erkannt werden kann. Das Urteil über die Schönheit von Körpern (»›Dies ist, wie es sein soll, jenes nicht‹«) zeigt ihm, daß er Zugang zu einer unveränderlichen ewigen Norm hat. Er beschreibt einen Aufstieg: von den Körpern zur wahrnehmenden Seele, von dort zur Vernunft, die über die Sinneswahrnehmungen urteilt und erklärt, das Unveränderliche sei dem Veränderlichen vorzuziehen, und die schließlich »im Blitz eines erzitternden Blicks zu dem gelangt, was ist« (VII 17,23). »Ich hatte keinen Zweifel, daß etwas ist, dem ich anhängen sollte, daß ich aber noch nicht der sei, der ihm anhängen könnte«. Welche Gründe hat Augustinus für dieses Urteil über sich selbst? Das entscheidende Wort ist »anhängen« (cohaerere); man darf eine Anspielung auf Ps 73 [Vulgata: Ps 72],28 annehmen; in der von Augustinus benutzten Übersetzung lautet der Vers: Mihi autem adhaerere Deo bonum est (Enarr. in Ps. LXXII, 34).2 Es geht um den Gegensatz zwischen dem flüchtigen Erlebnis des Transzendenten und der bleibenden Verbindung des Menschen mit ihm. Augustinus erblickt Gottes »unsichtbare Wirklichkeit, die mit der Vernunft an den Werken der Schöpfung wahrgenommen wird (vgl. Röm 1,20)«, aber »ich konnte den Blick darauf nicht festhalten und zurückgeworfen durch meine Schwäche kehrte ich zum Gewöhnlichen zurück, und ich nahm nur eine liebende Erinnerung (memoria) mit«. »Ich wurde durch deine Schönheit zu dir hingerissen und bald von dir weggerissen durch mein Gewicht […]; und dieses Gewicht war die fleischliche Gewohnheit.« Die Gewißheit, die Augustinus bleibt, ist nichts als eine Erinnerung an das Erlebnis. Der Erinnerung wird das »Anhängen«, die bleibende Verbindung, und dem flüchtigen Erlebnis der beständige Genuß Gottes entgegen gestellt. »Ich stand nicht, um meinen Gott zu genießen (frui)« (VII 17,23). Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 59
»Und ich suchte einen Weg, um Kraft zu gewinnen, die geeignet wäre, dich zu genießen«. Dieser Weg ist »›der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus‹« (1 Tim 2,5). Es ist der demütige Jesus, der uns durch seine Schwachheit belehrt. Das Wort, das Gott ist, die ewige Wahrheit, hebt die zu sich empor, die sich ihm unterwerfen. Er hat sich aus dem Lehm, aus dem wir sind, ein niedriges Haus gebaut, um unser Ich zu beugen und zu sich zu ziehen, »den Stolz heilend und die Liebe nährend, damit sie sich nicht in ihrem Selbstvertrauen weiter entfernten, sondern eher schwach würden, wenn sie vor ihren Füßen die schwache Gottheit sähen […], und ermattet sollten sie sich auf sie werfen, sie aber würde aufstehen und sie erheben« (VII 18,24). Die ewige Wahrheit hebt die zu sich empor, die ihren Stolz und ihr Selbstvertrauen aufgeben und sich dem demütigen Jesus in die Arme werfen. Dem stellt Augustinus den Zustand entgegen, in dem er sich befand, als die Bücher der Platoniker ihm die transzendente Wirklichkeit erschlossen hatten. Der Moment des Erblickens hatte ihm die Gewißheit geschenkt, daß Gott unendlich, unveränderlich, wahrhaft seiend und die Ursache alles Seienden ist. Aber das, was er da erblickt, stößt ihn zurück und läßt ihn seinen eigenen Zustand erkennen. Die Finsternis seiner Seele hindert ihn daran, das, was er erblickt hat, zu »betrachten« (contemplari); er ist viel zu schwach, um das, was er erblickt hat, zu »genießen« (frui). Diese Finsternis und diese Schwäche sind nichts anderes als der Stolz, den das Studium der platonischen Bücher in ihm bewirkt. »Schon hatte ich damit begonnen, für weise gelten zu wollen […] und ich blähte mich auf mit meinem Wissen.« Diese Wirkung prägt sich seinem Gedächtnis ein, und rückblickend vergleicht Augustinus sie mit der Wirkung der Schrift. Er erkennt den Unterschied zwischen praesumptio, Anmaßung, Selbstbehauptung, Arroganz, Überheblichkeit, und confessio, dem Bekenntnis der Schwäche und des Versagens und dem dankbaren Anerkennen dessen, was man nicht aus sich selbst hat, »zwischen denen, die sehen, wohin man gehen muß, aber nicht sehen, wie man dorthin kommt, und dem Weg, der zur beseligenden Heimat führt, die wir nicht nur sehen, sondern auch bewohnen sollen« (VII 20,26). Augustinus greift zu den Schriften des Apostels Paulus; sie eröffnen ihm eine Dimension, die ihm bisher verborgen war, und heilen 60 | friedo ricken
ihn so von aller falschen Selbstsicherheit. Alles Wahre, das er in den Büchern der Platoniker gelesen hat, findet er auch bei Paulus, aber es »wird hier mit dem Hinweis auf deine Gnade gesagt, daß, wer sieht, nicht so sich rühmen soll, als hätte er nicht empfangen, nicht nur das, was er sieht, sondern auch, daß er sieht – denn was hat er, das er nicht empfangen hat?« (VII 21,27; vgl. 1 Kor 5,7). Die Platoniker sprechen vom Verhältnis des Sehenden zum Gesehenen; das Transzendente ist das Gesehene, das nach dem Aufstieg in einem plötzlichen Erblicken Erfaßte. Paulus spricht von dem, was das Sehen und Gesehenwerden allererst ermöglicht; was er sieht und daß er sieht, ist ein Geschenk, und der Transzendente ist der, der das Sehen und Gesehenwerden schenkt. Diese Dimension kommt bei den Platonikern nicht zur Sprache. Wer sie erfaßt, kann sich nicht rühmen, daß er sieht, denn er kann es nicht aus sich, sondern er hat es empfangen. »Zuerst hast du mich geheilt von der Sucht, mir selbst etwas zuzuschreiben« (X 36,58). Augustinus hebt den Unterschied der christlichen Botschaft gegenüber dem Platonismus hervor. Sie fordert nicht nur dazu auf, den transzendenten Gott zu sehen, sondern sie heilt auch den Menschen, so daß er an ihm festhalten kann, und dem, der so weit entfernt ist, daß er nicht sehen kann, zeigt sie den Weg, daß er hingelangen und sehen und festhalten kann. Aber weshalb braucht der Mensch dieses Geschenk? Hat er denn nicht, wie es die Platoniker annehmen, aus sich selbst die Kraft, zum Transzendenten aufzusteigen? Augustinus verweist auf den in Röm 7,22 f. beschriebenen Zwiespalt. Der Mensch freut sich »dem inneren Menschen nach« am Gesetz Gottes. Aber »was macht er mit dem anderen Gesetz in seinen Gliedern, das dem Gesetz seines Geistes widerstreitet und ihn gefangen hält im Gesetz der Sünde, die in seinen Gliedern ist?« Auf diese Frage geben die Schriften der Platoniker keine Antwort. Die Erfahrung der Schuld, wie Ps 51 sie ausdrückt, findet sich in ihnen nicht. Dem Aufstieg aus eigener Kraft wird die Sicht von Ps 62 entgegengestellt, daß das Heil von Gott kommt. »Wird meine Seele nicht Gott unterworfen sein? Kommt doch von ihm mein Heil; denn er ist mein Gott und mein Heilbringer. Er nimmt mich auf; ich werde nicht mehr wanken« (VII 21,27). Es sind nicht die Menschen, die unter der Last des Lebens leiden, an die die Platoniker sich wenden. Sie lehnen es ab, von dem zu lernen, der sich an diese Menschen richtet, weil er demütig ist. Die vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 61
Seine Botschaft bleibt den Weisen und Klugen verborgen und wird den Kleinen offenbart.
VII.
Durch die Demut, die ihren Ausdruck im Bekenntnis der Schuld findet, begegnet Augustinus Gott. »Jetzt aber, da mein Seufzen Zeuge ist, daß ich mir mißfalle, strahlst du auf; du gefällst, wirst geliebt und ersehnt, so daß ich über mich erröte, mich verwerfe und dich wähle« (X 2,2). Er zweifelt nicht an seiner Liebe zu Gott, aber er fragt: »Was aber liebe ich, wenn ich dich liebe?« (X 6,8). Die Wahrheit sagt ihm, daß weder Himmel noch Erde noch irgendein Körper sein Gott sind. Besser ist die Seele, die dem Körper das Leben verleiht. Augustinus wendet den Blick auf sich selbst. »Aber dein Gott ist auch für dich das Leben des Lebens« (X 6,10). Er greift seine Frage wieder auf. »Was also liebe ich, wenn ich meinen Gott liebe? Wer ist jener über dem Haupt meiner Seele? Durch diese meine Seele will ich zu ihm aufsteigen« (X 7,11). Der Weg führt über die Sinnesvermögen und die Seele als Lebensprinzip des Leibes zum Gedächtnis (memoria). »Ich werde auch diese meine Kraft, die Gedächtnis heißt, überschreiten, um zu dir hinzugehen, süßes Licht. Was sagst du mir? Siehe, aufsteigend durch meinen Geist zu dir, der du über mir bleibst, werde ich auch diese meine Kraft überschreiten, die Gedächtnis heißt, weil ich dich berühren will, von wo aus du berührt werden kannst, und dir anzuhängen (inhaerere), von wo aus man dir anhängen kann« (X 17,26). Aber kann Augustinus Gott finden, indem er das Gedächtnis überschreitet? »Finde ich dich außerhalb meines Gedächtnisses (memoria), dann bin ich deiner uneingedenk (immemor). Und wie sollte ich dich schon finden, wenn ich deiner nicht eingedenk (memor) bin?« (X 17,26). Aber wo im Gedächtnis, in welchem Teil des Gedächtnisses, wohnt Gott? Augustinus übersteigt die Teile, die auch die Tiere haben; unter den Bildern von körperlichen Dingen findet er Gott nicht. Er kommt zu den Teilen, die seine Gemütsbewegungen bewahren; auch dort findet er ihn nicht. »Und ich bin bis zum Sitz meines Geistes selbst vorgedrungen, den er in meinem Gedächtnis hat, da sich auch der Geist seiner erinnert, und auch dort warst du nicht«. Denn alles das, so die zusammenfas62 | friedo ricken
sende Begründung, »verändert sich, du aber bleibst unveränderlich über allem und hast dich herabgelassen, in meinem Gedächtnis zu wohnen, seit ich dich kennenlernte« (X 25,36). »Wo also«, so die abschließende Frage, »habe ich dich gefunden, um dich kennenzulernen?« Der Weg durch die Seele hat gezeigt: Augustinus hat Gott nicht in sich gefunden. »Wo also habe ich dich gefunden, um dich kennenzulernen, wenn nicht in dir über mir?« (X 26,37). Er hat Gott gefunden, indem er über sich selbst hinausgestiegen ist, um in den einzugehen, der über ihm ist. »Und als ich dich zum ersten Mal erkannte, hast du mich aufgenommen« (VII 10,16). Daß Gott im Gedächtnis ist, bedeutet noch nicht, daß der Mensch mit ihm verbunden ist (vgl. VII 17,23). »Wenn ich dir mit meinem ganzen Wesen anhängen werde, wird mir nirgends Schmerz und Mühsal sein, und mein Leben wird lebendig sein, ganz erfüllt durch dich. Wen du erfüllst, den richtest du auf. Weil ich jetzt aber noch nicht von dir erfüllt bin, bin ich mir zur Last« (X 28,39). Worin besteht diese Erfüllung? Welcher Weg führt zu ihr? Augustinus deutet Gen 1,2b »Gottes Geist schwebte über dem Wasser« durch Röm 5,5b »deine Liebe (caritas) ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist«, und 1 Kor 12,31b, wo Paulus vom »alles überragenden Weg der Liebe (caritas)« spricht. Der Liebe, die durch den Geist emporträgt, wird die Begierde (cupiditas) entgegengestellt, deren Gewicht hinab in den Abgrund zieht. Wie ist, so fragt Augustinus, dieses Bild zu verstehen? Wir sinken hinab und tauchen wieder auf, aber es ist nicht der physikalische Raum, in dem wir uns nach unten und oben bewegen; der ›Raum‹ sind vielmehr unsere Affekte und die Formen unserer Liebe (amores). In diesem ›Raum‹ sind oben und unten bestimmt durch zwei Formen der Liebe: die »Liebe zu den irdischen Sorgen« (amor curarum) und die »Liebe zur Sicherheit« (amor securitatis). Unser Geist wird wegen seiner Unreinheit durch die Liebe zu den irdischen Sorgen »nach unten« gezogen; der Geist Gottes hebt uns wegen seiner Heiligkeit durch die Liebe zur Sicherheit »nach oben«, damit wir »das Herz erhoben haben zu dir, wo dein Geist über den Wassern schwebt, und wir zu der alles überragenden Ruhe gelangen« (XIII 7,8). Augustinus verdeutlicht diese Überlegungen mit Hilfe der aristotelischen Naturphilosophie. Im vierten Buch der Physik fragt AriDie vielfache Transzendenz in Augustinus’ Confessiones | 63
stoteles, ob der Ort existiere. Eines der Argumente für die Existenz des Ortes lautet: »Die Ortsbewegungen der einfachen natürlichen Körper, wie des Feuers, der Erde und dergleichen, zeigen nicht nur, daß der Ort etwas ist, sondern daß er auch eine Kraft besitzt. Denn jeder bewegt sich an seinen Ort, sofern er nicht gehindert wird, der eine nach oben, der andere nach unten« (Physik IV 1, 208b8–11). Ein natürlicher Körper ist ein Körper, der »ein Prinzip der Bewegung und Ruhe (στάσις) in sich hat« (Physik II 1,192b13 f.). Natürliche Körper sind Tiere und Pflanzen und »die einfachen Körper, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser« (Physik II 1,192b10 f.); von ihnen hat jeder ein Prinzip der Ortsbewegung in sich. Dieses Prinzip der Ortsbewegung nennt Augustinus das »Gewicht« (pondus). »Ein Körper strebt durch sein Gewicht zu seinem Ort. Das Gewicht zieht nicht nur nach unten, sondern an seinen Ort. Das Feuer strebt nach oben, der Stein nach unten. Sie werden durch ihr jeweiliges Gewicht bewegt; sie suchen ihren Ort […] Mein Gewicht ist meine Liebe (amor); durch sie werde ich dorthin bewegt, wohin ich bewegt werde.« Augustinus hatte zwei Formen der Liebe unterschieden, die Liebe zu den irdischen Sorgen und die Liebe zur Sicherheit. Wir können sie vergleichen mit dem Gewicht des Steines und dem des Feuers; das eine zieht nach unten, das andere nach oben. Wir können von verschiedenen Formen der Liebe bewegt werden, aber wir können nur an einem Ort Ruhe finden. Die Metapher von oben und unten und die Rede vom Abgrund und vom Hinabsinken drücken eine Wertung aus. Eine ungeordnete Liebe kann uns bewegen, aber der Ort, zu dem sie uns zieht, ist nicht unser Ort, an dem wir zur Ruhe kommen. Öl kann unter Wasser gegossen werden, aber es wird dort nicht bleiben, sondern es wird erst zur Ruhe kommen, wenn es auf die Oberfläche des Wassers gelangt ist. »Was nicht geordnet ist, ist in Unruhe; wird es geordnet, so kommt es zur Ruhe.« »Im guten Willen ist uns Friede« (XIII 9,10). Der Geist Gottes schwebt über dem Wasser, und das Feuer strebt nach oben, zu seinem natürlichen Ort. Der vernunftbegabten Kreatur »genügt auf keine Weise zur seligen Ruhe, was weniger ist als du« (XIII 8,9). Aber sie kann durch die unterschiedlichen Formen der Liebe in entgegengesetzte Richtungen gezogen werden. Deshalb braucht sie das »Geschenk« des Geistes (Apg 2,38); nur so kann sie ihren natürlichen Ort erreichen. »In deinem Geschenk finden wir 64 | friedo ricken
Ruhe: dort genießen wir dich. Unsere Ruhe ist unser Ort.« Der Geist ist das Feuer, das nach seinem natürlichen Ort strebt. »Durch dein Geschenk werden wir entflammt und nach oben getragen; wir entbrennen und gehen.« Das Leben wird zu einer Wallfahrt hinauf »zum Frieden Jerusalems«. »Ich freute mich mit denen, die mir sagten: Wir wollen zum Haus des Herrn gehen« (XIII 9,10; vgl. Ps 122,6.1).
Anmerkungen
Vgl. Platon: Politikos 273de und Plotin: Enneade I 8,13. Vgl. VII 11,17: »›Mihi autem inhaerere deo bonum est‹, quia, si non manebo in illo, nec in me potero.« 1 2
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– Albert Raffelt –
»… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet«1 Endlichkeit und Transzendenz bei Blaise Pascal
Pascal im Umkreis der Philosophie zu sehen, ist keine Selbstverständlichkeit. Finden sich doch in seinen Fragmenten Sätze wie »Descartes unnütz und ungewiß« (887), oder als Arbeitsabsicht »Ein Brief über die Torheit der menschlichen Wissenschaft und der Philosophie« (408), schließlich das zwiespältige Urteil »Über die Philosophie spotten heißt in Wahrheit philosophieren« (513). Bei Fragmenten, die in vielfacher Hinsicht deutbar sein können, sind die Kontexte wichtig. Die ganze Sammlung der Pascalschen Fragmente gehört zu dem Projekt einer Apologie des Christentums. Und die Torheit der menschlichen Wissenschaft nimmt in dem Zusammenhang zweifellos 1 Kor 1,20 auf: »Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt?« Anderseits ist die Anregungskraft der Pascalschen Überlegungen für große Philosophen nicht zu leugnen.2 Aus dem letzten Jahrhundert wären etwa Maurice Blondel,3 Max Scheler4 oder Martin Heidegger5 zu nennen. Die Linie ließe sich leicht über den kontinentalen Rahmen hinaus erweitern, auch in die analytische Philosophie hinein6 und auch in das (fast noch) zeitgenössische philosophisch/ soziologische Denken verlängern (z. B. Pierre Bourdieu)7. Es scheint also doch nicht falsch zu sein, sich auch im philosophischen Kontext mit Pascal zu befassen.8 Allerdings haben die neueren Pascal-Arbeiten oft eher die Bedeutung des Theologen Pascal herausgestellt.9 Und auch im folgenden wird die theologische Pointe der Argumentation immer im Blick sein. Eine ›reine‹ Philosophie wird man hier nicht finden, sicher aber Bedenkenswertes.
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1. Endlichkeit und Verhältnislosigkeit des Menschen Die Bilder, die Pascal für die Endlichkeit menschlichen Lebens verwendet sind drastisch: »Der letzte Akt ist blutig, so schön die Komödie auch in allem übrigen sein mag. Schließlich wirft man uns Erde aufs Haupt, und das ist für immer« (165). Ein ernsthaftes Bedenken der Endlichkeit des Menschen findet sich durchgängig in den Pensées, dramatisch im ersten Teil der Apologie, der das »Elend des Menschen ohne Gott« (6) thematisiert und das Überspielen seiner Situation (Zerstreuung, bes. 136) als gängige Flucht vor ihr. Dies ließe sich breit entfalten. Titel ist die misère des Menschen. Hier ist eine existentielle (und existentiale) Analyse mit phänomenologischem Blick vorgenommen, die nicht zufällig im 20. Jahrhundert breite Aufmerksamkeit gefunden hat. Das ausgeführteste Fragment der Pensées an der Schnittstelle Übergang von der Erkenntnis des Menschen zu der Gottes – Disproportion de l’homme (199) – führt die Überlegungen weiter. Es wirft den Menschen auf sich selbst zurück und läßt ihn nach seinem Verhältnis zur Natur fragen.10 Die Quellenforschung hat schon lange Montaignes Apologie des Raimundus Sabundus herangezogen.11 Die Bezüge lassen sich leicht auffinden. Montaigne argumentiert an den entsprechenden Stellen gegen die Bestreiter der Gründe des Sabundus für die Religion, indem er die Vernunftfähigkeit kleinredet und die Größe der Natur dagegen setzt.12 Pascal hat dies zunächst unter dem Stichwort der incapicité, der Unfähigkeit des Menschen zu skizzieren versucht. Yoichi Maeda hat in einem berühmten Aufsatz rekonstruiert, wie dieser erste Entwurf ausgesehen hat:13 Im Gefolge Montaignes hat Pascal zunächst die Kleinheit des Menschen gegenüber der Größe der Natur beschreiben wollen.14 Maeda zeigt kleinschrittig, wie er sich korrigierend einer geänderten Ausarbeitung zuwendet, die den Montaigne fremden esprit de géométrie einbringt. Die Überschrift wird daher in disproportion de l’homme geändert. Die Vergleiche des Menschen mit der Größe der Natur werden schrittweise vorgenommen, aus der Abfolge »point, point, petit atome, atome« wird »point, pointe, trait, atome«, also mathematischer Punkt, Pünktchen,15 Linie, Atome. Es wird also die erste und/bis dritte Dimension in den Vergleich eingeführt, und die Ausdrücke für die Kleinheit seiner 68 | albert raffelt
Umgebung werden der Größe des Universums entgegengestellt. »Was ist denn ein Mensch im Unendlichen?« Auch wenn Montaigne Stichwortgeber ist, so ist – dem Anlaß dieser Festschrift entsprechend – noch auf eine andere Quelle zu verweisen, die Philippe Sellier16 herausgestellt hat und die dem Gedankengang noch enger verbunden ist. In De vera religione 20/4017 wendet sich Augustin gegen den »Aberglauben, welcher statt des Schöpfers dem Geschöpf huldigt ([…] creaturae potius quam creatori servitur«). Konkreter Anlaß sind die Manichäer, die – wie Antoine Arnauld in seiner Übersetzung (1647) kommentiert18 – Gott als ein unendliches Licht (lumière infinie) vorstellten. Die falsche Liebe zu dieser corporea creatura wird von Augustin polemisch auf banalere Dinge – vom Wasser bis zu den Knochen – appliziert und in einer Infinitionsbewegung dargestellt: »Denn es gibt nichts Körperliches, das man sich nicht, wenn man es einmal erblickt, unzählig vervielfältigt, und wenn man es auf engen Raum beschränkt erblickt, durch dieselbe Einbildungskraft unendlich ausgedehnt vorstellen könnte ([…] per infinita diffundi)«. Auch der Gedanke der wahren »Proportion« ist hier ausgebildet. Bei Augustinus ist dies die convenientia. Sie wird ästhetisch als Grund des Genusses eingeführt. In Arnaulds Übersetzung steht dafür proportion: »Reconnoissez donc quelle est la souveraine proportion, & ne sortez point hors de vous, mais r’entrez dans vous-mesme«, womit die berühmte Stelle »Noli foras ire…« eingeleitet wird19 (die Anlaß geben könnte, hier auch auf die Differenz Pascals zu Augustin aufmerksam zu machen). Aber auch bei Augustin kommt die proportio als Terminus vor20 und zwar in durchaus stimulierender Weise für Pascals Gedankengang: »Was ist es, was uns innerlich einsehen läßt, daß die sichtbaren Körper im Verhältnis (proportione) von groß und klein zueinander stehen, daß jeder Körper, sei er auch noch so klein, eine Hälfte hat, und wenn eine Hälfte, dann auch unzählige Teile (innumerabiles partes; Arnauld: infinité [!] des parties), daß also jedes Hirsekorn einem seiner Teilchen, das in ihm soviel Platz einnimmt wie unser Leib in dieser Welt, so groß erscheinen muß wie uns die Welt? Ferner, daß diese ganze Welt auf Grund ihrer Formen, nicht ihrer Masse schön ist, daß sie uns aber groß erscheint nicht zufolge ihrer Weite und Breite, sondern unserer Kleinheit, nämlich der Kleinheit der Lebewesen, die sie erfüllen, welche hinwiederum, »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 69
da sie unbegrenzt teilbar sind, nicht an sich, sondern nur im Vergleich mit anderen, zumal dem Weltall, selber so klein sind?« Augustins Absicht an dieser Stelle ist allerdings anders als Pascals in dem Fragment Laf. 199. Er zielt auf die ordinata conventientia ab, auf den modus ordinis,21 die regle souveraine de cêt ordre [! vgl. unten zu »ordre«] (Arnaulds Übersetzung), welche »in ewiger Wahrheit lebt (vivit in veritate perpetua)«.22 Das Fragment 199 schreitet weit über Augustin und Montaigne hinaus, indem es die neusten Fortschritte der Wissenschaft aufnimmt. Der Text setzt die Entwicklung des Teleskops bzw. Fernrohres und im folgenden des Mikroskops um 1600 voraus, er kennt auch die Entdeckung des Blutkreislaufs (William Harvey, 1628). Dem Vorwurf, Pascal argumentiere geozentrisch, setzt Jean Mesnard entgegen, daß dies zum einen von der Betrachterposition, die er hier einnimmt, stimmig sei, zum anderen sein Universum gegenüber dem endlichen, sonnenzentrierten Kopernikanischen das modernere, da unendlich sei.23 Dem entspricht, daß »die unendliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgends ist« nicht Gott, sondern das Universum ist.24 Der Ausdehnung in die Unendlichkeit der Größe wird die weniger sichtbare unendliche Dimension des Kleinen gegenübergestellt, die der Mensch ebensowenig wie die der Größe zu fassen vermag. Die Milbe, das kleinste sichtbare Tier nach Aristoteles (Historia animalium 557b), wird zum Ausgangspunkt genommen, um den Taumel der Vernunft in die unvorstellbaren Welten des Kleinen nachzuzeichnen, demgegenüber der Mensch nun ein »Koloß« ist. Er steht zwischen zwei »Abgründen«, dem Unendlichen und dem Nichts – die schweigende Betrachtung geziemt sich eher als die anmaßende Erforschung. Pascal wiederholt rhetorisch »Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur?« – und führt weiter: »Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und allem«. Man kann Pascal hier eine rhetorische Übertreibung vorwerfen, denn die zugrundeliegende mathematische Überlegung führt nicht zu einem »Nichts«, sondern zu einer »schlechten Unendlichkeit«. Die Parallelen in Pascals Betrachtungen über die Geometrie zeigen, daß er sich natürlich dessen bewußt ist.25 Für die Unverhältnismä70 | albert raffelt
ßigkeit, die hier demonstriert werden soll, spielt dies an diesem Punkt allerdings keine Rolle. Diese Disproportion macht es dem Menschen nach Pascal unmöglich, das Ganze zu umfassen: »Er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, dem er entrissen wurde, und das Unendliche, das ihn verschlingt.« – Nur der Schöpfer selbst vermag beides zu umfassen. Pascal spielt das dann nochmals an der Wissenschaft durch, die »unendlich in der Ausdehnung ihrer Forschungen« ist, was gewöhnlich nur hinsichtlich der Größe zugegeben wird – Demokrit »ich spreche jetzt über alles«26 und Pico della Mirandola De omni scibili als Ausnahme –, aber genauso lächerlich hinsichtlich des Kleinen und der Prinzipien ist. Hier spottet Pascal einmal konkret über die Philosophie, genauer über Descartes Principia. Damit ist der Verstand im Bereich der Erkenntnis genauso begrenzt wie der Körper im Bereich der äußeren Natur. Die Extreme sind uns nicht zugänglich, wir schwanken, ohne eine festen Grund, auf dem wir unseren Turm bis ins Unendliche bauen könnten.27 Ohne das Ganze zu erkennen, kann man die Teile nicht erkennen. Und dieses ist uns entzogen. Einen weiteren Gedanken führt Pascal mit der Bemerkung ein, daß unsere Zusammengesetztheit aus Seele und Körper unsere Unfähigkeit, die in sich einfachen Dinge zu erkennen, vollendet. Sie ist der Grund dafür, daß »beinahe alle Philosophen […] von den körperlichen Dingen geistig, von den geistigen körperlich sprechen […]«. Augustinus dient sodann als Autoritätsbeweis: »Die Art, wie der Geist dem Körper anhängt, kann vom Menschen nicht begriffen werden; und doch ist gerade dies der Mensch« (De civitate Dei 21,10).28 An dem Text läßt sich die Zusammengehörigkeit des wissenschaftlich-mathematischen, philosophischen und theologischen Denkens Pascals und seine Verarbeitung der »Anschauung«29 gut aufzeigen.30 Das auch literarisch eindrucksvolle Fragment führt zu einer Selbstreflexion des Menschen, zum Bedenken seiner Mittelstellung, zu einer Selbstbegrenzung seiner Erkenntnisfähigkeit. Es stellt am Schluß die beiden »Ordnungen« des Körperlichen und Geistigen – res extensa und res cogitans – einander gegenüber. Es ist wichtig, die Stellung des Fragments in der Apologie zu beachten.31 Es steht nicht mehr unter den Fragmenten, die das Elend »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 71
des Menschen darstellen, so sehr die Endlichkeit des Menschen auch nochmals thematisiert ist. Er steht vielmehr am Übergang vom ›anthropologischen‹ zum ›theologischen‹ Teil der Pascalschen Apologie. Er spielt zwar auf diverse Themen des ersten Teils an, aber Elend und Größe und die ›Erklärung‹ durch den Fall des Menschen und die Erbsünde sind schon vorher angesprochen.
2. Die spirituelle Lösung Dominique Descotes32 zieht eine Stelle aus Pascals Schrift über die Bekehrung – die auch das Ziel der Apologie in den Pensées ist – heran, um deutlich zu machen, worauf die Überlegungen zielen. Pascal schreibt: »Und diese neuen Überlegungen führen sie [die Seele] zur Erkenntnis der Größe ihres Schöpfers, zu Demütigungen und inniger Anbetung. In seiner Gegenwart wird sie zu einem Nichts, und da sie von sich selbst keine Vorstellung gewinnen kann, die niedrig genug wäre, noch sich von jenem höchsten Gut eine Vorstellung bilden kann, die erhaben genug wäre, unternimmt sie weitere Anstrengungen, um sich bis zu den letzten Abgründen des Nichts zu erniedrigen, wobei sie Gott in Unendlichkeiten betrachtet, die von ihr noch vervielfacht werden; in diesem Schauen, das ihre Kräfte erschöpft, betet sie ihn schließlich still an, sie betrachtet sich selbst als sein elendes und unnützes Geschöpf, und mit ihren zahlreichen Ehrfurchtsbezeigungen betet sie ihn an und preist ihn, und sie möchte ihn fortwährend preisen und anbeten.«33 Das ist sicher eine ›Ergebnisparallele‹ zum Fragment 199. Noch wichtiger in unserem Zusammenhang – der auch den ›philosophischen‹ Wert der Pascalschen »neuen Überlegungen« im Blick behalten möchte – scheinen mir die vorangehenden Ausführungen Pascals in der kleinen Schrift. Da ist das Aufstiegsschema von Confessiones 10 spürbar. »Dieser Aufschwung reicht so weit und ist so überschreitend, daß die Seele nicht beim Himmel – er hat nichts, womit er sie zufriedenstellen kann – und ebensowenig über dem Himmel oder bei den Engeln oder selbst bei den vollkommensten Wesen stehenbleibt. Sie dringt durch alle Geschöpfe und das Herz ruht nicht eher, bis sie zu Gottes Thron gelangt ist, wo sie nun ihren Frieden und jenes Gut findet, das so beschaffen ist, daß es nichts 72 | albert raffelt
Liebenswerteres gibt, und daß es ihr nur mit ihrem Einverständnis genommen werden kann«. Das Aufstiegsschema läßt sich nicht nur in einem spirituellen, sondern auch in einem philosophischen Kontext deuten. Hinsichtlich Pascals Sprachgebrauch wäre das allerdings eine Metareflexion, die das, was er als »Philosophie« bezeichnet, transzendiert. Aber wie bei Augustinus geht es hier jedenfalls nicht um eine Entweltlichung, die aus dem faktischen Leben herausspringt.34 Pascals eigener Lebensvollzug – am Ende seines Weges etwa in der Sorge um die Armen – steht als praktisches Signal dagegen. Aber das wäre ein weiteres Thema.
3. Größe des Menschen und Verweise auf Gott Die Schrift über die Bekehrung ist kein apologetischer Text. In der Apologie kann Pascal seine Schritte nicht so schnell setzen. In der Nachlaß-Sammlung folgt der Text über das »denkende Schilfrohr«. Das schwache Wesen, das ein Wassertropfen töten kann, hat seine Größe im Denken: »wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, daß er stirbt. […] Das Weltall weiß davon nichts. Unsere ganze Würde besteht also im Denken« (200). Gegenüber dem Materiellen – in Pascals cartesianischer Sicht der Tierwelt hat auch diese nicht einmal inchoativ an der Ordnung des Geistes teil35 – bedeutet dies eine vollkommene Inkommensurabilität, einen unendlichen Abstand zu dieser Ordnung des Dinglichen. Das Fragment schließt mit dem Satz: »Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.« Damit ist sicher bei Pascal kein moralischer Intellektualismus gemeint. Aber daß nach der Begrenzung der Vernunft das Denken so herausgestellt wird, verlangt weiteres Nachdenken.36 Die Größe des Menschen wird für den Leser der Pensées weniger deutlich als sein Elend, da die dramatischen wie die rhetorisch und sachlich eindrucksvollen Texte sich weitgehend hier finden.37 Aber man darf die Rühmung der Wissenschaft gegenüber der Abwertung nicht vergessen, der noch zu nennende Brief an die schwedische Königin oder das Lob des Archimedes stehen dafür. Die Größe des menschlichen Denkens ist für Pascal immer im Blick, auch wo er »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 73
seine Selbstbeschränkung fordert. Aber auch für das theoretische Denken selbst gilt, was für die Atheisten gesagt wird: »Athéisme marque de force d’esprit, mais jusqu’à un certain degré seulement« (157). Man ist versucht, für die Größe des Denkens den Satz heranzuziehen, daß der Mensch den Menschen um ein Unendliches überschreitet (Laf. 131). Er ist als aus dem Kontext genommenes ›Zierat‹-Zitat verbreitet. Es steht anscheinend für eine direkte Transzendenzbewegung. Er stammt auch aus einer Reflexion über die Lage des Menschen, hier im Nachdenken über die drei »Sekten« der Philosophie:38 »Erkenne also, du Hochmütiger, welches Paradoxon du für dich selbst bist. Demütige dich, ohnmächtige Vernunft [wie es die Skeptiker erforderlich machen]! Schweig still, törichte Natur [die immerhin das Hauptargument der Dogmatiker beibringt, daß man nämlich an den natürlichen Prinzipien letztlich nicht zweifeln kann], erfahre, daß der Mensch unendlich über den Menschen hinausgeht, und höre von deinem Herrn, welches deine wirklich Lage ist, die du nicht kennst« (131). Im folgenden wird die Zwitterstellung des Menschen – »unfähig in völliger Unwissenheit zu bleiben und etwas mit Gewißheit zu kennen« (vgl. 199: »unfähig, etwas entweder sicher zu wissen oder es überhaupt nicht zu kennen«) – nochmals formuliert und die Erklärung mit dem Mysterium des Falls und der Erbsünde angesprochen. Diese Einsicht hilft dem Menschen zum Verständnis seiner Lage und ist für Pascal auch ein Schritt, um auf die wahre Religion zugehen zu können. Es liegt aber nicht in der Hand des Menschen, sich eigenmächtig aus dieser Lage zu befreien.39 Von seiten des Menschen ist Suche und Reinigung des Herzens zwar Voraussetzung, aber Gott muß sich entgegenkommend herablassen. Es ist ein Mittler nötig (vgl. 189 f., 378 u. ö.). Der Schluß der Apologie des Sabundus von Montaigne hat wieder eine eigentümliche Nähe und Ferne zu Pascal: »[…] unmöglich ist es, daß der Mensch über sich und die Menschheit steigen soll. Denn, er kann nicht anders als mit seinen Augen sehen, und nichts erfahren, als was er fassen kann. Alsdann kann er sich erheben, wenn ihm Gott außerordentlich die Hand reicht. […] Nur unser christlicher Glaube, und nicht seine stoische Tugend, kann sich auf diese göttliche und wunderbare Verwandlung Rechnung machen«.40 Das Unvermögen, aber nicht die Größe des Menschen, die Gnade, aber nicht die Wege der Freiheit des Menschen, auf denen 74 | albert raffelt
die Gnade wirkt und liebend den Willen anlockt, sind hier angesprochen.41 Ein solches Auseinanderreißen ist bei Pascal nicht gegeben, so nahe die Aussagen beieinander zu liegen scheinen – wohl aber in einer ›agnostischen‹ Tradition der Pascal-Interpretation für die etwa Léon Brunschvicg steht.42 Das Fragment über die Verhältnislosigkeit des Menschen (199) führt nicht zu einem Gottesaufweis. Die metaphysische Sicherung des Bodens, um einen Turm ins Unendliche bauen zu können, wird abgelehnt; die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten werden begrenzt. Ein Hintergedanke Pascals wird aber durchaus angesprochen.43 Viermal wird ein Hinweis auf die Gottesfrage gegeben: am Ende der Betrachtung über die Größe: »Schließlich ist es der fühlbarste Wesenszug der Allmacht Gottes, daß unsere Phantasie bei diesem Gedanken den Boden verliert«; am Ende derjenigen über das Nichts: »Alle Dinge sind aus dem Nichts hervorgegangen und werden bis ins Unendliche weitergetragen. Wer vermag diesen erstaunlichen Schritten zu folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie. Keinem anderen ist es möglich«; im Übergang zur Betrachtung der Wissenschaften: »Wenn man Wissen erworben hat, versteht man, daß, weil die Natur ihr Bild und das ihres Schöpfers allen Dingen aufgeprägt hat, sie fast alle an ihrer doppelten Unendlichkeit teilhaben« und an deren Ende: »Diese Endpunkte berühren einander und vereinigen sich, gerade weil sie sich so weit voneinander entfernt haben, und sie finden sich in Gott und allein in Gott zusammen.« Die Sätze haben hier eher einen appellativen als argumentativen Charakter. Ob hier schon ein Übergang in die »Ordnung des Herzens« stattfindet (D. Descotes), kann dahingestellt bleiben. Wohl aber wird eine pensée de derrière (90 und 91) deutlich. Die Appelle von Fragment 199 werden jedenfalls im folgenden nicht direkt ›umgesetzt‹. Die Suche geht weiter.
4. Die Ordnungen und die Augen des Herzens Der Gedanke der verschiedenen Ordnungen der Wirklichkeit, der im vorigen Abschnitt angeklungen ist – Fleisch, Geist bzw. Materie, Erkenntnis –, ist ein tragendes Strukturprinzip der gesamten Apologie Pascals.44 Aber nicht die Dualität von res extensa/res cogitans »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 75
steht im Hintergrund (wenngleich dies die beiden ersten Ordnungen sind und Pascal in einem ›Denkraum‹ arbeitet, der von Descartes stark bestimmt ist),45 sondern die drei Arten der Konkupiszenz nach 1 Joh 2,16:46 Die libidines carnis, oculorum und dominandi und damit eine Erweiterung um eine dritte Ordnung (Wille bzw. positiv Liebe).47 Aus Augustinus48 und dem zeitgenössischen Augustinismus sind Pascal diese Überlegungen geläufig, z. B. aus des Jansenius Discours de la réformation de l’homme intérieur49 mit seinen drei Teilen »Des voluptés de la chair / De la curiosité / De l’orgueil«). Sie stehen auch für die drei »Sekten« der Philosophie (Laf. 145). Die Nachlaßordnung der Fragmente hat diese Reihenfolge als Leitidee. In dieser Sicht sind die Ordnungen erst einmal negativ von ihrem falschen Gebrauch her in Blick genommen. Sie sind aber ambivalent und haben ihre positiven Entsprechungen. Die Schichtung Fleisch – Geist – Liebe steht grundlegend dahinter. Das für diese Frage zentrale Fragment von den drei Ordnungen (308) steht im Zusammenhang der »Beweise für Jesus Christus«. Ihm sind Fragmentreihen über biblische bzw. historische Beweise vorangegangen – wenn wir der Nachlaßordnung des zweiten Teils soweit vertrauen können.50 Sie stellen in manchem eine der befremdlichsten Teile des Apologie dar, da sie eine ›historistische‹ Sicht der biblischen Urgeschichte voraussetzen, die damals von der kritischen Forschung (Richard Simon) untergraben wurde, in der Exegese Port-Royals aber gängig war (4.000 Jahre seit der Weltschöpfung, Überbrückung der Zeugnisketten durch das lange Leben der Patriarchen etc., vgl. Laf. 290, 296).51 Von diesen Voraussetzungen her baut Pascal eine zwingende Logik auf, die durchaus rationalistische Züge hat. Im Aufbau seiner Apologie haben diese Beweise hohen Wert, auch wenn sie nicht den Glauben bewirken: »Diesen Glauben flößt Gott selbst dem Herzen ein, dessen Werkzeug oft der Beweis ist« (7). Wir übergehen diesen Teil hier und wenden uns wieder dem Schema der »Ordnungen« zu. Das Fragment der drei Ordnungen (308) ist die Zusammenfassung eines grundlegenden Strukturgedankens der Apologie – ein Fragment, das durchredigiert vorliegt. Es ist gedanklich lange vorbereitet. Der Brief an die schwedische Königin, mit dem Pascal seine Rechenmaschine sendet und erläutert (1652), kennt die beiden ersten Ordnungen und spricht voll Stolz von der zweiten – der 76 | albert raffelt
Ordnung des Wissenschaftlers –, die über der Ordnung der Macht steht, also der Könige – der Königin nur mitteilbar, weil sie selbst eine Person auch der zweiten Ordnung ist. Pascals mathematische Schriften stehen im Hintergrund des Gedankens von inkommensurablen »ordres«, besonders deutlich in der geometrischen Veranschaulichung der Dimensionen im Traité du triangle arithmétique (1654).52 Die mathematische Veranschaulichung inkommensurabler Ordnungen bildet allerdings nur eine Analogie oder im Pascalschen Sprachgebrauch eine figure der hier zu bedenkenden Wirklichkeiten. Als Ausgangspunkt der Überlegungen ist nochmals auf die dreifache Konkupiszenz bzw. Begierde des Menschen zurückzugehen. Fragment 933 nennt die drei Ordnungen »Das Fleisch, der Geist, der Wille« und erläutert: »Die Fleischlichen sind die Reichen und die Könige. Ihr Gegenstand ist der Leib. Die Wissensdurstigen (curieux) und die Gelehrten; ihr Gegenstand ist der Geist. Die Weisen; ihr Gegenstand ist die Gerechtigkeit. Gott soll über alles herrschen, und alles soll sich auf ihn beziehen (rapporter). Bei den Dingen des Fleisches herrscht im Grunde dessen Begierde. Bei den Geistigen herrscht im Grund der Wissensdurst (curiosité). Bei der Weisheit herrscht im Grunde der Stolz«. Damit ist zum einen die Positivität der Ordnungen angesprochen (man kann an die antimanichäischen Ausführungen in De vera religione denken), zum anderen ihre Ambiguität, wenn sie nicht auf Gott bezogen sind. Am Beispiel der Weisheit wird diese nochmals verdeutlicht: »Der berechtigte Anlaß zum Hochmut ist die Weisheit, denn man kann einem Menschen nicht zuerkennen, daß er Weisheit hat, und doch sagen, er rühme sich zu Unrecht. Denn das geschieht durchaus zu Recht. Darum ist es Gott allein, der die Weisheit gibt, und somit gilt Qui gloriatur in domino glorietur [1 Kor 1,31].« Fragment 308 setzt ein mit dem Satz »Der unendliche Abstand der Körper vom Geist (esprits)53 bildet (figure) den unendlich mal unendlicheren Abstand des Geistes von der Liebe (charité) ab«. Die mathematische Veranschaulichung steht im Hintergrund und der Gedanke des ›Figurierens‹ wird nochmals innerhalb der Ordnungen aufgenommen. Hier gibt es ebenfalls nur Analogie. Die Ordnungen sind in sich positiv, aber von ›oben nach unten‹ gesehen verschwindet die Bedeutung der niederen Ordnung. Den »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 77
Königen (als Könige) ist die Größe der Geistesmenschen unsichtbar. Die Weisheit – wenn sie von Gott kommt – ist wiederum den in den beiden niederen Ordnungen Stehenden unsichtbar. Im folgenden wird die dritte Stufe den Heiligen zugewiesen: »Sie werden von Gott und den Engeln, nicht von den Körpern und den Wißbegierigen (esprits curieux) gesehen. Gott ist ihnen genug.« In die andere Richtung gesehen, sind die unteren Stufen positiv: »Archimedes würde auch ohne allen Glanz ebenso verehrt. Er hat keine Schlachten für die Augen geschlagen, aber den Geistigen seine Erfindungen vermacht. Was für ein Aufstrahlen war er für die Geistigen!« Das Fragment 308 verzichtet auf die Darstellung des negativen Gebrauchs der Ordnungen, die in 933 genannt sind. Die Trichotomie der Ordnungen hat eine grundlegende anthropologische Bedeutung. Fleisch, Geist und Wille sind die drei Dimensionen der menschlichen Wirklichkeit. Die drei Dimensionen haben – worauf Jean Mesnard aufmerksam gemacht hat – aber auch eine ontologische Bedeutung: »Der Körper […] ist durch die Ausdehnung bestimmt; er ist ein anderer Name für die Materie. Es ist der Bewegung fähig, aber durch einen äußeren Impuls. Der Geist ist der Bereich des Denkens, irreduzibel auf die Materie. Was den Willen anbelangt, Prinzip der Handlung (action) wie der Geist das Prinzip der Erkenntnis ist, repräsentiert er die Dynamik des Seins, ist er aus sich selbst Quelle der Bewegung. Vielleicht könnte man, in moderner Begrifflichkeit, diesen Aspekt durch den Begriff der Intentionalität bezeichnen«.54 Verwunderlich ist, daß man in Frankreich beim Begriff der action heute nicht mehr an Blondel denkt, der genau diese Dynamik der Seinswirklichkeit durchdacht hat,55 auch hier ein eigenständiger Fortsetzer pascalscher Gedanken. Mesnard weist zudem auf die axiologische Bedeutung der Stufung hin und darauf, daß sie ein doppeltes Ziel haben – wie aus Fragment 933 deutlicher – je nachdem, ob sie sich auf die Endlichkeit menschlicher Ziele beziehen oder diese transzendieren. Auch hier ließen sich aus De vera religione wieder entsprechende Parallelen beibringen. Das Fragment 308 hat auch eine ›beweisende‹ Funktion. Es wendet sich gegen den Einwand der Unscheinbarkeit des Auftretens Jesu, das dem Anspruch seiner Größe nicht entsprechen kann. Die 78 | albert raffelt
»Fleischlichen« können sie gewissermaßen per definitionem nicht erkennen. Die »Geistigen« stehen darüber. In Anklang an Laf. 199: »Alle Körper, das Himmelsgewölbe, die Sterne, die Erde und ihre Reiche wiegen nicht den geringsten Geist auf. Denn der Geist erkennt dies alles und sich selbst und die Körper erkennen nichts«. Aber beide »wiegen nicht die geringste Regung der Liebe auf. Diese gehört einer unendlich viel erhabeneren Ordnung an.« Neben diesen formalen Grund der möglichen Nicht-Erkenntnis der Bedeutung Jesu wird eine inhaltliche Betrachtung gestellt: »Jesus Christus hat keinen Besitz und keine Leistungen hinterlassen, er bleibt außerhalb der Wissenschaft und in seiner eigenen Ordnung der Heiligkeit. Er hat keine Erfindungen gemacht. Er hat nicht regiert, sondern war demütig, geduldig, heilig, heilig, heilig vor Gott, den Dämonen ein Schrecken, ohne alle Sünde. Oh, in welch großer Pracht und welch wunderbarer Herrlichkeit für die Augen des Herzens [!], welche die Weisheit sehen, er gekommen ist! […] Es ist vollkommen lächerlich, Anstoß an der Niedrigkeit Jesu Christi zu nehmen, als ob diese Niedrigkeit zu derselben Ordnung wie die Größe gehörte, die er mit seinem Kommen offenbarte. Man betrachte doch diese Größe in seinem Leben, in seinem Leidensweg, in seiner Verborgenheit, in seinem Tod, in der Berufung der Seinen, in ihrer Verlassenheit, in seiner geheimen Auferstehung und dem Übrigen. Man wird sie als so erhaben erkennen, daß man keinen Grund haben wird, Anstoß an seiner Niedrigkeit zu nehmen, die es bei ihm nicht gibt.« Die Herausstellung der Gestalt Jesu Christi an dieser Stelle ist für die Apologie zentral, da der Weg zu Gott nach Pascal nur über ihn führt (189). Der Deismus einer metaphysischen ›Anschub‹-Theorie ist für Pascal genau so ein Greuel wie der Atheismus (449). Der Weg zu Gott führt für den, der seine Lage erkannt hat (misère und grandeur) über die Erfahrung der Liebe und der Heiligkeit. Aus theologischer Sicht wäre hier über die Besonderheit der Pascalschen Christologie zu sprechen, über Offenbarung, Verborgenheit, Getsemani, Passion und Opfer. Dies können wir hier nicht verfolgen, obwohl Pascal letztlich auf einen Nachfolgeweg führen will, zur Heiligkeit, die nur über den Mittler zu erlangen ist.56 Die Getsemani-Meditation des Mystère de Jésus (919) – nicht zur Apologie gehörig, aber den Pensées seit dem 19. Jh. meist beigedruckt – »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 79
ist das deutlichste Beispiel für den theologischen Zusammenhang von Anthropologie und Soteriologie: »Ich erkenne in mir einen Abgrund des Stolzes, der Neugier und der Begierde. Es gibt keine Übereinstimmung zwischen mir und Gott und auch nicht zwischen mir und Jesus Christus, dem Gerechten. Aber er ist für mich zur Sünde gemacht worden [vgl. 2 Kor 5,21]. All eure Geißelhiebe sind auf ihn gefallen. Er ist verächtlicher als ich, und anstatt mich zu verabscheuen, hält er sich ganz im Gegenteil für geehrt, daß ich auf ihn zugehe und ihm beistehe. Aber er hat sich selbst geheilt, und um so gewisser wird er mich heilen.« Das ist an dieser Stelle wieder weit vorausgeeilt. Hier wäre erst zu fragen, wie die »Augen des Herzens« (308) bereitet werden können, daß sie imstande sind, den Weg – Via veritas (140) – zu finden bzw. für die dritte Ordnung bereit zu sein.
5. Handlungswissen oder Selbstmanipulation? Bei dem großen Fragment infini – rien (418, die sog. »Wette«) haben die Editoren sich oft gefragt, an welcher Stelle es unterzubringen ist. Die ›objektiven‹ Editionen haben es nach den Kopien bei den nicht klassifizierten Serien abgedruckt, aber damit war die Frage der Funktion nicht geklärt. Rekonstruktionsversuche der Apologie – etwa Jacques Chevalier (1925), aber auch schon Prosper Faugère (1844) – haben das Fragment in die Mitte verlegt, nach der Darstellung des menschlichen Elends. Als Aufforderung zum Suchen von einer konstatierten oder jedenfalls konzedierten agnostischen Position aus ergibt das einen Sinn. Pascals Darstellungsart ist aber bekanntlich nicht einlinig. Die »Ordnung des Herzens« (298) hat zunächst nicht instruierenden, sondern bereitenden Sinn (in Pascals Sprache: demütigenden). Folgt man den Hinweisen Pascals im ersten Fragmentenbündel »Ordnung«, so ist die Reihenfolge: »Nach dem Brief, das man Gott suchen muß [= Laf. 427], den Brief über das Beseitigen der Hindernisse schreiben, der die Abhandlung über die Maschine ist, wie man die Maschine vorbereitet, wie man mit der Vernunft sucht« (11, vgl. 5 und 7). Der Entwurf dieser Abhandlung ist das Fragment 418. Deshalb hat Sellier in seiner Ausgabe nach dem »ordre« Pascals diese Reihenfolge eingehalten. Damit ist 80 | albert raffelt
er vorbereitend für den ganzen Argumentationsgang direkt an den Adressaten der Apologie, den agnostischen oder atheistischen libertin gerichtet, worauf übrigens die Erstherausgeber der Apologie in ihrem vorangestellten Kommentar auch schon hingewiesen haben.57 Sieht man den Text in diesem Zusammenhang, so hat er eine eingeschränkte Funktion. Es ist zunächst ein Verunsicherungstext. Er argumentiert von den Voraussetzungen des Gesprächspartners aus. Damit entfallen auch einige der klassischen Kritiken von Voltaire bis Charles Journet. Ziel ist zunächst – am Anfang des ganzen Unternehmens –, die Vernünftigkeit der Suche deutlich zu machen. Dazu wird die Situation vernünftigen Handelns angesichts von Unsicherheit bemüht (vgl. dazu 577: »Wenn man nur etwas für das Gewisse unternehmen sollte, so dürfte man nichts für die Religion unternehmen, denn sie ist nicht gewiß. Doch wie vieles unternimmt man für das Ungewisse […]«). Im konkreten Fall ist die Entscheidung unvermeidlich, da eine Enthaltung auch eine solche darstellt.58 Was ist nun die vernunftgemäßere Handlung? Der Pascalsche Text hätte aber nicht ein solche Flut von Literatur erzeugt, wenn er nicht tiefsinniger wäre, als bislang angedeutet. Die Kraft der Argumentation ist wesentlich größer, wenn man den Text in einem philosophischen – durchaus augustinischen – Rahmen liest und die anthropologischen Voraussetzungen Pascals, die zu sehr durch das Schema der Erbsünde geprägt sind, hinterfragt. Das Fragment läßt sich durchaus zu einer Apologie im Kleinen ausbauen.59 Die Argumentation läuft aber nicht auf eine philosophisch-theoretische Aussage hin, sondern will den Willen bereit machen, sich der Suche nach der Wahrheit des christlichen Glaubens zuzuwenden. Die ›Vorteilhaftigkeit‹ der positiven Wahl ist dargelegt, aber die theoretische Überlegung führt nicht zum Ziel. Der Weg, »die verdeckte Seite des Spiels zu sehen«, ist die Heilige Schrift. Aber der Zugang ist – in Pascals Formulierung – durch die dazwischentretenden Leidenschaften verstellt. »Da die Vernunft Euch ja dazu bewegt und Ihr es dennoch nicht erreichen könnt, bemüht Euch also, Euch nicht durch Vermehrung der Gottesbeweise, sondern durch Verminderung Eurer Leidenschaften zu überzeugen.« Pascal appelliert dann an die Überzeugungskraft des christlichen Lebens. Daß er auch hier – wie Blondel sagt –, die »süße[n] Wahrheiten […] »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 81
als harte Fakten«60 darstellt und etwas krude mit Weihwasser und Messen lesen argumentiert, macht diese Argumentation problematisch. Sie will anscheinend provozieren. Stärker noch in dem Satz »Ganz natürlich wird Euch eben das gleiche zum Glauben führen und Euren Verstand demütigen«. Nach dem »Ende des Gesprächs« sind die Notizen erfreulicher: »Ihr werdet getreu, redlich, demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger, wahrer Freund sein […]«, womit die eigentliche Intention verständlicher ausgedrückt wird. Ein solcher Lebensvollzug hat in sich seine Evidenz. Ulrich Kunzmanns zitierte Übersetzung hat das besonders anstößige abêtir – verdummen, ›vertieren‹ – frei mit »den Verstand demütigen« übersetzt. Der Sinn des abêtir – von den Erstherausgebern gestrichen und erst von Victor Cousin im Skandalton wiederentdeckt – ist von Étienne Gilson in seiner (unbestreitbaren) Beziehung des terminus machine zu Descartes dargestellt worden. Es geht um die Einübung in eine Lebensweise, die den Körper ›trainiert‹, die »erste Ordnung« auf die oberen Ordnungen ausrichtet. Wer das Wohltemperierte Klavier oder eine Beethoven-Sonate spielen will, muß gewisse Abläufe mechanisiert haben. Wer den Lebensvollzug in Nächstenliebe als Einschränkung versteht, kommt nicht zu einem Verständnis dessen, was ›Liebe‹ heißt. Eine weniger skandalisierende Deutung hat immerhin als Stütze, daß Montaigne auch hier der Stichwortgeber sein könnte: »Man muß uns erst dumm machen, ehe man uns klug machen kann: man muß uns erst blind machen, ehe man uns auf den rechten Weg leitet.«61 Die Provokation bleibt, gewinnt aber einen verständlicheren Sinn. Im gleichen Kontext bei Pascal (auf dem gleichen Papierbogen) steht der vielfach gebrachte Satz »Das Herz hat seine Vernunftgründe, welche die Vernunft nicht kennt«. Gewöhnlich wird die etwas banaler klingende Fortsetzung nicht mitzitiert: »man erfährt es an tausend Dingen« (423). Sie zeigt aber, daß es hier um eine grundlegende Aussage geht, die ›alltagstauglich‹ ist. Es geht zunächst nicht um etwas Exzeptionelles, sondern um in jedem Lebensvollzug mitgegebene Verhaltensweise, die nicht die Rationalität außer Kraft setzt, sondern sie vielmehr fundiert. Es wäre interessant zu wissen, wie Pascal von der Provokation zu dieser Aussage hingeführt hätte!
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6. Kleiner Rückblick Wir sind von der Pascalschen Beschreibung der menschlichen Unverhältnismäßigkeit in Sein und Erkennen ausgegangen. Die verborgenen Hinweise, die die Beschreibung enthält, boten eine existenzielle Möglichkeit, sich der christlichen Religion zuzuwenden, wie sie die kleine Schrift über die Bekehrung beschreibt. Die denkerische Bewältigung im apologetischen Kontext verlangt mehr. Daher ist die pascalsche Anthropologie allein nicht mehr ausreichend. (Manches Dramatische an ihr ist m. E. im übrigen auch durch die Funktion der Fragmente bestimmt; die spirituelle Dimension ermöglicht – bei aller Spannung, die im Pascalschen Gnadenkonzept bleibt – eine ausgeglichenere Sicht auf die Lage des Menschen von seinem Endziel her.) Den für Pascal wichtigen Schritt über die »historischen Beweise« haben wir aus schon genannten Gründen nicht verfolgt. Die Bibelhermeneutik wäre für diesen Teil zu bedenken (»Alles, was nicht offen zur christlichen Liebe führt, ist ein Bild. Der einzige Gegenstand der Heiligen Schrift ist die Liebe.« 270) und eine geschichtstheologische Reflexion, die Pascals Überlegungen zur perpetuité (die Besonderheit des Judentums!), den Prophezeiungen und zu den Zeugen (damit zur Frage nach den Religionen) ersetzt, wären bei heutigem Nachdenken über sein theologisches Konzept nicht zu vermeiden. Diese Fragen müssen wir hier übergehen. Pascal führt die Überlegungen in eine ontologische Dimension, indem er die Wirklichkeitsordnung mit seinem dreistufigen Schema deutet. Grundlegend ist die augustinische (antimanichäische) Sicht des Wirklichen als eines in sich guten, das aber durch die falsche Zielorientierung in eine negative Perspektive gebracht werden kann. Die Überlegungen über die drei Ordnungen sind das Schema dafür. Daher ist die richtige Zielorientierung zunächst herzustellen. Dies geschieht auch im zweiten Teil der Apologie sehr rational.62 Die Argumentation bleibt in der »zweiten Ordnung«, auf der Ebene der vernünftigen Erkenntnis, deren Grenze aber immer mitzubedenken ist. Das Wett-Fragment bietet dafür andere Hinweise. Alle apologetischen Überlegungen führen aber nicht zu einem Aufschwung in den Glauben. Sie können ihn nur vorbereiten.
»… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 83
7. Die Ordnung des Herzens und der Liebe Es ist m. E. sinnvoll, bei der Pascal-Interpretation das Stichwort »Herz« nicht zu früh ins Spiel zu bringen. Es birgt die Gefahr in sich, seinen denkerischen Ansatz ›fideistisch‹ zu deuten, was angesichts der rationalen Konstruktion der Apologie verfehlt ist. Zudem ist sozusagen auch auf den Alltagssinn von »Herz« hinzuweisen. Wir haben das oben getan. Den Ausdruck »Ordnung des Herzens« gebraucht Pascal auch um die Stilart der Heiligen Schrift zu rechtfertigen (298); er hat also eine breitere Verwendung. Der Überschritt in die »Ordnung des Herzens« bzw. der Liebe im Sinne der »Ordnungen« der Wirklichkeit wird in der Apologie m. E. im Zusammenhang der »Bekehrung« in der »Conclusion« des Projekts relevant (377–382). Das erstnotierte Fragment in dieser Konklusion lautet: »Wie weit ist es doch von der Gotteserkenntnis bis zur Gottesliebe« (377).63 Diese ist das Ziel, auf das Pascal immer wieder ausrichtet. Der Weg ist Jesus Christus bzw. die christliche Religion: »Adhaerens deo unus spiritus est [1 Kor 6,17]. Man liebt sich, weil man ein Glied Jesu Christi ist; man liebt Jesus Christus, weil er der Leib ist, zu dessen Gliedern man gehört. Alles ist eins. Das eine ist im anderen wie die drei Personen der Dreieinigkeit« (372). Von hier aus sind auch seine Polemiken in den Lettres provinciales zu lesen. Ihr Ernst beruht in der Sorge um die Abwertung des Kerns des christlichen Glaubens: »Man vergeht sich an dem großen Gebot, welches das Gesetz und die Propheten sind [vgl. Mt 22,40]; man greift die Frömmigkeit im Herzen an; man raubt ihr den Geist, der das Leben gibt; man sagt, daß die Gottesliebe nicht notwendig sei zum Heil […] Was ist das anderes als der Gipfel der Gottlosigkeit?«64 Vielleicht ist das Fragment 381 am Ende der geordneten Fragmentensammlung als Zusammenfassung geeignet, in dem Pascal den Glauben derjenigen beschreibt, die keinen gelehrten Zugang haben, sondern »glauben, weil sie eine innere, zutiefst heilige Anlage dazu haben und weil das, was sie von unserer Religion hören, damit übereinstimmt«. Sie wissen um ihre Geschöpflichkeit, wollen Gott lieben, sehen ihre Begrenztheit (»sie wollen allein sich selbst hassen«), erkennen ihr Unvermögen und vertrauen auf die Herablassung Gottes in der Menschwerdung als Bedingung der Vereini84 | albert raffelt
gung mit Gott: »Mehr ist nicht nötig, um Menschen zu überzeugen, die diese Anlage im Herzen tragen und die eine derartige Kenntnis von ihrer Pflicht und ihrem Unvermögen haben.« (381) Pascal geht von Menschen aus, die die christliche Botschaft hören konnten und können. Es reizt, hier die Pascal fremde Frage nach dem Heil der Nichtchristen generell zu bedenken. Der Lebensvollzug nach »dem großen Gebot, welches das Gesetz und die Propheten sind«, ist nach der Voraussetzung des Fragments wichtiger als die Kenntnis selbst der Heiligen Schrift. Zu diesem Lebensvollzug können die Stationen der Pascalschen Apologie Winke geben. Pascal verlangt aber eine theoretische intellektuelle Vermittlung des christlichen Heilsangebots. Sensu positivo wird man dem nicht widersprechen. Das Christentum bietet eine Interpretation des Menschen und der Geschichte, die dem Gläubigen unter den Stichwörtern Glaube, Hoffnung und Liebe die Perspektive eines glückenden Lebens ist und deren gesellschaftliches Potential auch »religiös Unmusikalische« nicht verachten müssen. Dennoch wird man heute von unserer Kenntnis der weltgeschichtlich marginalen positiven Christlichkeit, aber auch von dem theologischen Urdatum des allgemeinen Heilswillens Gottes weiterdenken müssen. Die Ordnung der Liebe ist weiter geöffnet, als es bei Pascal der Fall zu sein scheint.65 Vielleicht gilt viel mehr dem Suchenden als Pascal ahnte das Wort aus dem Mystère de Jésus: »Tröste dich! Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest« (919).
8. Spotten Über die Philosophie zu spotten bedeutet selbst philosophieren. Aber eigentlich spottet Pascal gar nicht so viel über die Philosophie. Er nimmt die philosophischen Positionen der zwei vernunftgemäßen ›Sekten‹ durchaus ernst, hat seine Freude an Montaigne und Hochachtung vor Epiktet66 Kritischer ist er gegenüber Descartes, sieht aber durchaus dessen systematische Kraft, sogar gegenüber Augustinus,67 und ist natürlich in vielem auch durch ihn geprägt. Auch bei den sachlich kritischen Aussagen etwa zu den Gottesbeweisen (190) wird man mithören müssen, daß sie nicht ›widerlegt‹ »… daß der Mensch den Menschen unendlich überschreitet« | 85
werden, sondern daß ihre Bedeutung relativiert wird: »Quod curiositate cognoverunt, superbia amiserunt«.68 Was heißt also hier »spotten«? Meines Erachtens geht es darum, den Blick auf das Wesentliche zu lenken, d. h. phänomenologisch die Lage des Menschen zu erfassen, sein Streben nach Glück und Sinn ernst zu nehmen und die Suchbewegung nicht vorschnell abzubrechen, auch nicht theoretisch das abzuschließen, was praktisch vollzogen werden muß. Ein solcher vorschneller Abbruch kann ›philosophisch‹ geschehen: Maurice Blondels große pascalsche Meditation69 in L’Action kritisiert solche Metaphysik daher unter »Aberglauben« – nicht ohne eine »métaphysique à la seconde puissance«70 aufzurichten. Pascal ist hier parallel. Jean-Luc Marion hat die Kritik Pascals an Descartes gründlich reflektiert mit dem zusammenfassenden Ergebnis, daß Pascal weder die Berechtigung noch die Strenge der cartesianischen Metaphysik bestritten hat, sondern einzig ihren grundlegenden fundierenden Charakter. Sie zählt nur innerhalb ihrer Ordnung: Jenseits von Verstand, Evidenz und Wissen gibt es eine andere Ordnung,71 die Ordnung der Liebe. Es geht nicht um eine Kritik der Metaphysik in ihrer Ordnung, sondern um eine Überschreitung.72 * Eine Nebenabsicht unseres Textes war, Themen Pascals in seinem Bezug zu Augustinus – in einem Detail auch zum Cusaner – darzustellen und damit zu Arbeitsfeldern von Norbert Fischer. Zu Kant ließen sich aus der Rezeptionsperspektive ebenfalls Bezüge aufbauen,73 zu Heidegger/Pascal habe ich dies andernorts getan.74 Die Hinweise auf Blondel sollten dies gewissermaßen auf eigenem Feld ergänzen und Pascal zwischen einem augustinischen Hintergrund und einer Blondelschen Perspektive einordnen, die für eine heutige Philosophie wie Theologie immer noch offene Wege anzeigt. Zugleich sollte dies ein Dank für viele Anregungen auf den genannten Feldern sein!
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Anmerkungen
»… que l’homme passe infi niment l’homme« (131). Die Fragmente der Pensées werden nach der Numerierung von Lafuma [ggf. verdeutlicht als Laf.] angegeben. Vgl. B. Pascal: Œuvres complètes. Éd. par L. Lafuma, Paris 1963. Als modernere und ausreichender kommentierte Handausgabe bietet sich an B. Pascal: Les Provinciales, Pensées et opuscules divers. Éd. par G. Feyreirolles et Ph. Sellier, Paris 2004. Verglichen werden kann die nach der Anordnung von Lafuma strukturierte Übersetzung von U. Kunzmann: B. Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart 2004 (Leipzig 11987). Die Übersetzungen unten weichen allerdings gelegentlich von dieser Ausgabe ab. – Auf neuestem textlichem Stand mit Dokumentation der Entstehungsweise und Kommentierung ist die im Aufbau begriffene elektronische Pensées-Edition von D. Descotes und G. Proust unter . – Für die übrigen Schriften wird benutzt B. Pascal: Kleine Schriften zur Religion und Philosophie, Hamburg 2005. Für die Lettres Provinciales B. Pascal: Briefe in die Provinz, Heidelberg 1990. 2 Vgl. etwa die beiden Themenhefte 2010/4 und 2011/1 der Études philosophiques. 3 Vgl. Peter Reifenbergs Beitrag in A. Raffelt/P. Reifenberg: Universalgenie Blaise Pascal. Eine Einführung in sein Denken, Würzburg 2011, 133–166. Das Hauptwerk Maurice Blondels L’Action, Paris 1893 (auch in Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1995, gleiche Paginierung) läßt sich wie ein großer, aktualisierter Kommentar zu Pascal verstehen. 4 Vgl. H. Platz: Pascal in Deutschland, Colmar 1944 bzw. Salzburg 21990, 236–300; jetzt auch O. Weiß: »Der erste aller Christen«. Zur deutschen PascalRezeption von Friedrich Nietzsche bis Hans Urs von Balthasar, Regensburg 2012, 88–91. 5 Vgl. A. Raffelt: Heidegger und Pascal – eine verwischte Spur, in: N. Fischer/ F.-W. v. Herrmann (Hg.): Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007, 189–205. 6 Vgl. etwa N. Rescher: Pascal’s Wager. A study of practical reasoning in philosophical theology, Notre Dame (Indiana) 1985; vgl. ders.: Instructive journey, Lanham 1997, 225 f. 7 Wobei bezeichnend für eine gewisse ›Pascal-Schwäche‹ in Deutschland nach der Generation Heideggers in der Philosophie oder etwa Hugo Friedrichs in der Romanistik ist, daß Bourdieus Méditations pascaliennes auf deutsch nur Meditationen heißen durften (Frankfurt a. M. 2001). Allerdings steht Bourdieu in der Tradition des ›über die (französische Schul-)Philosophie Spottens.‹ Sein positiver Pascal-Bezug in der Aufnahme des habitus-Begriffs (167 f. etc.) steht selbst in einer langen französischen Schultradition (F.-P.-G. Maine de Biran, F. Ravaisson, M. Blondel u.a.), die Bourdieu allerdings hier verschweigt. 1
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Einen anderen Zugang zum ›Philosophen‹ Pascal habe ich versucht in Logik des Verstandes und Logik des Herzens bei Pascal, in: E. Düsing/H.-D. Klein (Hg.): Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und Damasio, Würzburg 2008, 117–142. 9 Vgl. u. a. den Sammelband von Ph. Sellier: Port-Royal et la littérature: Pascal, Paris 22010. 10 Die Einleitung des Fragments ist von Pascal durchgestrichen, aber aus dem Text wird der Zusammenhang ebenfalls deutlich. 11 Vgl. M. de Montaigne: Essais. Übers. von J. D. Tietz. 3 Bde, Zürich 1991, hier Essai 2,12, Bd. 2, 1–385 (im folgenden wird mit Nummer des Buches, des Essais und der Seitenzahl nach dieser Ausgabe zitiert). Die elegante Neuübersetzung von H. Stilett hat den Nachteil, die Originalzitate zu unterdrücken und sehr frei zu übersetzen: Montaigne: Essais, Frankfurt a. M. 1998, weshalb wir hier trotz des altertümlichen Sprachstils auf die genannte Ausgabe verweisen. – Die (möglichen) Quellen Pascals sind am ausführlichsten in den Ausgaben von M. Le Guern aufzufi nden, bes. B. Pascal: Œuvres complètes, Bd. 2, Paris 2000. Allerdings zeigen die beigebrachten Beispiele auch, daß es viele potentielle Bezüge aus Diskussionskontexten gibt, in denen Pascal zuhause war, deren reales literarisches Einwirken auf Pascals Text nicht eindeutig belegbar ist entgegen dem sicheren Bezug zu Montaigne. 12 Vgl. Montaigne: Essais II, 12, etwa 28. 13 Y. Maeda: Le premier jet du fragment pascalien sur les deux infi nies, in: Études de langue et litterature françaises 4, 1964, 1–19. 14 Vgl. Montaigne: Essais II, 12, 27. 15 So H. U. von Balthasar: B. Pascal: Schriften zur Religion, Einsiedeln 1982, 101; U. Kunzmann übersetzt – das Bild verlassend – ›Andeutung‹. 16 Vgl. Ph. Sellier: Pascal et saint Augustin, Paris 21995, 31–33. 17 Zitiert wird zunächst die für Pascal gängige Kapiteleinteilung (auch in Arnaulds Übersetzung), dann die des CAG. Die Übersetzung folgt Augustinus: De vera religione / Über die wahre Religion. Übers. von W. Th imme, Stuttgart 1983. 18 Le livre de S. Augustin De la véritable religion. Nouvelle édition, Bruxelles 1675, 69. 19 Augustinus: De vera religione 39/72; De la véritable religion, 143. Im Index Selliers fehlen diese und die folgende Bezugsstelle. 20 – und fehlt in der Übersetzung Arnaulds. Sie wird dort umschrieben; De vera religione 43/80; De la véritable religion, 162. Dafür verwendet Arnauld umschreibend die proportion etwas später in der zitierte Stelle bei der Begründung der Schönheit der Welt, die dans la proportion de ses diverses figures besteht. 21 De vera religione 43/80 f.; De la véritable religion, 162. 22 De la véritable religion, 164: »est vivante dans la Verité eternelle«. 23 J. Mesnard: Les Pensées de Pascal, Paris 1976, 83. 8
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Vgl. zur Geschichte dieser ›Gottesdefi nition‹ G. Poulet: Metamorphosen des Kreises in der Dichtung, Frankfurt a. M. 1966; D. Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, Halle 1937. – An dieser Stelle wäre in den Kontext dieser Schrift auch noch der Cusaner einzubringen als wichtiger Zeuge dieser ›Defi nition‹. 25 Vgl. Kleine Schriften, 81 f. 26 Vgl. Die Vorsokratiker. Hg. von J. Mansfeld, Stuttgart 1987, 606: λέγω τάδε περὶ τῶν ξυμπάντων. Pascal schöpft wieder aus Montaigne: Essais II, 12, 116. 27 Die Anspielung auf Gen 11,4 verschweigen merkwürdigerweise auch die gut dokumentierten Ausgaben. 28 Wiederum aus dem Essai II, 12 von Montaigne. Vgl. zur Sache aber auch Augustinus: De vera religione 33/62. 29 Vgl. H. U. von Balthasar: Die Augen Pascals, in: Ders.: Homo creatus est, Einsiedeln 1986, 61–77. 30 Dies gegen das literarische Auseinanderreißen der Geistigkeit Pascals in mehrere ›Personen‹ bei J. Attali: Blaise Pascal. Biographie eines Genies, Stuttgart 2006. 31 Die Organisation der Apologie Pascals gibt in Weiterführung der Editionen Lafumas und seiner eigenen von 1976 wohl am besten folgende Ausgabe von Ph. Sellier wieder: B. Pascal: Pensées. Édition établie d’après l’›ordre‹ pascalien, Paris 2003. Es ist eine ›objektive‹ Ausgabe, die aber die Stellung der Kapitel nach den (in sich konsistenten) Hinweisen Pascals in den Texten selbst z. T. neu organisiert und auch die von Pol Ernst anhand der Wasserzeichenanalyse herausgearbeitete chronologische Schichtung berücksichtigt. Vgl. auch die einschlägigen Aufsätze in Ph. Sellier: Port-Royal et la littérature: Pascal, 103–182, sowie A. Raffelt: Blaise Pascal, in: Stimmen der Zeit 230, 2012, 541–550. 32 Vgl. D. Descotes: »Disproportion de l’homme«: de la science au poème, in: Th. Goyet (Hg.): L’accès aux Pensées de Pascal, Paris 1993, 145–159. 33 Kleine Schriften, 335. 34 Vgl. die Einleitung von N. Fischer in Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekenntnisse 10, Hamburg 2006. – Zur Interpretation der Pascalschen Bekehrungs-Schrift vgl. A. Raffelt: Pascal als Schüler Augustins, in: N. Fischer (Hg.): Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Bd. 2, Hamburg 2009, 45–58, hier bes. 50–53. 35 Die damaligen Dikussionen über tierische Intelligenz spiegeln sich noch im Rätselfragment von Frosch und Hecht (Laf. 738), das E. Jovy [Investigations péripascaliennes, Paris 1928, 58–66, auch in: Ders.: Études pascaliennes. Recueil de notes sur les Pensées. Hg. von J.-R. Armogathe, Paris 1981, 58–66] aufgelöst hat mit seinem Fund von den böhmischen Fröschen, die den Hechten die Augen auskratzen: »Sie machen es stets so und niemals anders, noch tun sie sonst etwas Geistiges« (738; gleiche Argumentation bei Augustinus: De vera religione 43/80). Eine von den detektivischen Funden fran24
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zösischer Forschung, die in deutschen Pascal-Ausgaben meist nicht rezipiert sind. 36 Der Abschnitt Christliche Moral (351–376) wäre heranzuziehen mit den Fragmenten über den Leib aus »denkenden Gliedern«. 37 Für mich etwa so knappe Formulierungen wie »Pourquoi me tuez-vous à votre avantage? Je n’ai point d’armes. – Et quoi, ne demeurez-vous pas de l’autre côté de l’eau?« (51) oder »La puissance des mouches, elles gagnent des batailles, empêchent notre âme d’agir, mangent notre corps.« (22) und vieles andere mehr, was den literarischen – aber auch sachlichen – Reiz dieses Teils ausmacht. 38 Auch eine Formulierung aus Montaigne: Essais II, 12, 147 f. 39 Blondels »absolument impossible et absolument nécessaire« für das einzig Notwendige, das Übernatürliche (L’Action, 388) – dort nach einem langen Reflexionsgang – scheint mir parallel. Die »attente cordiale du messie inconnu« (ebd.) ist wieder pascalianisch gesagt: Die Ordnung des Herzens und das Entgegenkommen Gottes. 40 Montaigne: Essais II, 12, 385. 41 Die Problematik der Gnadenlehre Pascals besteht m. E. vor allem in dem ›Axiom‹ der Schriften über die Gnade »Es steht fest, daß manche Menschen verdammt und manche gerettet sind« (Kleine Schriften, 195), verbunden mit der Vorstellung der ›massa damnata‹, die an verschiedenen Stellen rezipiert ist (vgl. 201, 219, auch im Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute Nr. 13, Kleine Schriften, 340 f.) und der Prädestinationslehre. Pascal hält aber mit Augustinus die Willensfreiheit aufrecht: »Jener, der uns ohne uns geschaffen hat, kann uns nicht ohne uns retten« (ebd.). Sehr schön ist m. E. die Darlegung im 18. Provinzialbrief, vgl. Briefe in die Provinz, 388 f. 42 Vgl. A. McKenna: Quelques points de repère dans l’histoire posthume des Pensées, in: Th. Goyet (Hg.): L’accès aux Pensées de Pascal, Paris 1993, 51–70, bes. 63 f., wobei die Gleichsetzung einer falschen Pascal-Interpretation mit einer zumindest zweifelhaften Kant-Deutung nochmals problematisch ist. 43 D. Descotes: »Disproportion de l’homme«, 158 f. weist darauf hin. 44 Umfassend herausgearbeitet von J. Mesnard: Le thème des trois ordres dans l’organisation des Pensées, in: Ders.: La culture du XVIIe siècle, Paris 1992, 462–484. Der Aufsatz ist für das Folgende generell heranzuziehen. – Auch im übrigen Werk läßt sich das Schema verfolgen, etwa bei den drei Erkenntnisprinzipien im 18. Provinzialbrief, vgl. B. Pascal: Briefe in die Provinz, 406 f. 45 Dazu hinsichtlich dieses Fragments Mesnard: Le thème des trois ordres, 470. – Besonders intensiv plädiert für die Abhängigkeit von Descartes V. Carraud: Pascal et la philosophie, Paris 1992, 232 (»textuellement peu présent, mais d’une présence d’autant plus rigoureuse […]«). 46 »Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt.« 90 | albert raffelt
Wofür man bei Descartes – wenn man diese Parallele stark machen will – auf die Stellung des Willens verweisen kann (Mesnard: Le thème des trois ordres, 470); Carraud (Pascal et la philosophie, 232) parallelisiert die Ordnungen mit der Stufung der drei Objekte der speziellen Metaphysik »le monde, l’ego, Dieu«, was freilich zu unspezifisch ist, um Pascal nun hier gerade auf Descartes zu beziehen. 48 Vgl. z. B. wieder De vera religione 38/69–71. Umfassend Ph. Sellier: Pascal et saint Augustin, 169–196. 49 C. Jansenius: Discours de la réformation de l’homme intérieur. D’après la traduction … par Robert Arnauld d’Andilly … 1642, Houilles 2004. 50 Falls die ›Kapitelübersicht‹ keine auf Pascal zurückgehende ›Inhaltsübersicht‹ darstellte (Gedanken [Anm. 1], 20; nicht in Lafumas Text; in Selliers früheren Ausgaben Fragment 1, in seiner Ausgabe »d’après l’›ordre‹ pascalien« fehlt es), wären Abweichungen in der Reihenfolge in einigen Fällen denkbar. Für die pascalianische Herkunft ist J. Mesnard: Les Pensées de Pascal, 28; relativierend Ph. Sellier: Port-Royal et la littérature: Pascal, 104 f.: »C’est en fonction des nécessités immédiates de son travail que l’apologiste avait disposé ses dossiers, en ménageant divers groupements utiles, mais non un succession linéaire des ›chapitres‹«. Durch einige direkten Angaben Pascals ergeben sich Verschiebungen, weshalb Sellier den »ordre« Pascals differenziert. 51 Zur Exegese Port-Royals auch Raffelt/Reifenberg: Universalgenie Blaise Pascal, 88–90. 52 Vgl. die Abbildungen in Ebd., (Anm. 3), 96 f. 53 Die übliche Übersetzung »Geister« im Plural gibt m. E. eine falsche Konnotation, die »geistigen Menschen« oder die »Geistigen« wäre je nach Zusammenhang denkbar. 54 Mesnard: Le thème des trois ordres, 471. 55 Neben der Action von 1893 wäre auch die zweibändige Neubearbeitung von 1936/37 zu beachten, die im Rahmen einer Trilogie gegen die mögliche anthropologisch verkürzte Deutung des Frühwerks steht. 56 Die Christologie Pascals ist erstmals umfassend dargestellt von J.-Ch. De Nadaï: Jésus selon Pascal, Paris 2008, zu Laf. 308 allerdings nur sehr knapp 254 f. 57 Leicht zu vergleichen in J.-R. Armogathe/D. Bloth (Hg.): B. Pascal: Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets. Étude et édition comparative de l’édition originale avec les copies et les versions modernes, Paris 2011, 137 f. 58 Um wieder auf Blondel zu kommen: Hier kritisiert er seinen »lieben Pascal«, »dem ich nicht verzeihen werde, daß er nicht danach forscht, warum wir ›mit im Boot‹ sitzen«. M. Blondel: Der philosophische Weg, Freiburg i. Br. 2010, 31. 59 Zu verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten des Wett-Fragments vgl. meinen Aufsatz Fragmente zu einem Fragment: Die Wette Pascals, in: A. Raffelt (Hg.): Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg i. Br. 22001, 207–220, gekürzt in Universalgenie Blaise Pascal (Anm. 3), 104–120. 47
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Das Blondelsche Zitat geht – in der etwas blumigen Sprache seines Itinéraire – so weiter: »[…] daß er das, was wie süße Wahrheiten in die harmonischen Erfi ndungen der Nächstenliebe eintritt, als harte Fakten erträgt – ja, warum ich all das in eine Perspektive bringen mußte, in die, so schien mir, sich noch niemand methodisch hin ausgerichtet und gehalten hatte?« (Blondel: Der philosophische Weg, 31, vgl. dort weiter). 61 Montaigne: Essais II,12, 123 f./Montaigne: Essais. Éd. P. Michel, Bd. 2., Paris 2007, 208: »Il nous faut abêtir pour nous assagir, et nous éblouir, pour nous guider.« 62 Durch die eben genannten »Beweise«. Ich folge hier Selliers Aufteilung in seiner Ausgabe nach dem »ordre« Pascals. 63 In Jean Steinmanns Ausgabe (Pascal: Pensées, Éd. du Rocher, Monaco 1962, hier 229) ist es das letzte, was wie ein Schlußseufzer klingt und die Apologie sehr schön durch diesen theoretisch nicht zu vollziehenden Schritt beenden würde. Aber die nach ihm notwendige Umkehrung der Reihenfolge wegen des arbeitstechnischen ›Auff ädelns‹ der Einzelfragmente durch Pascal (»Dans chaque liasse, les papiers classés les premiers furent recouverts par les suivants. … il est nécessaire de renverser l’ordre de la Copie.«, 10) setzt eine konsequente inhaltliche oder chronologische Folge voraus, was in diesem Stadium der Sammlung nicht gegeben sein konnte. 64 Briefe in die Provinz, 204, vgl. den ganzen 10. Brief. Die von Pascal attakkierten Aussagen wurden von Alexander VII. 1665 (DH 2021) und Innozenz XI. 1679 (DH 2105–2106) verurteilt. Die heutige Kommentierung in DH ist noch erstaunlich antijansenistisch (619). 65 Die Theologie des 20. Jahrhunderts hat sich intensiv um diese Frage bemüht. Um nicht Karl Rahners Frage nach den anonymen Christen oder auch wiederum M. Blondel zu bemühen, der eine analoge Lösung schon fünfzig Jahre vor Rahner formuliert hat, sei die Theorie von Anton Straub SJ genannt, dessen große Arbeit über den Glaubensakt von der intellektuellen Erkenntnis Gottes als Schöpfer und Vergelter durch den vernunftbegabten Erwachsenen ausgeht, die zur einem willentlichen Gottesbezug führt, der in Reue und Liebe einen virtuellen Glauben und eine virtuelle Bejahung der Offenbarung umfaßt, die gewissermaßen den strikten formalen Glauben aufgrund des Zeugnisses Gottes »voto« ersetzt. »Ergo fides virtualis voto fidem formalem continet«, faßt L. Lercher: Institutiones theologiae dogmaticae, Bd. 1, Innsbruck 51951, 430, zusammen. Die Pascalschen Überlegungen böten einerseits ein Überschreiten dieser letztlich doch stark intellektualistisch konzipierten Theorie, andererseits müßten sie befreit werden von problematischen Daten einer Gnadenlehre, die den allgemeinen Heilswillen Gottes nicht fundamental genug ansetzt (vgl. Anm. 42). 66 Vgl. das Gespräch mit Herrn de Sacy in: Kleine Schriften, 111–147. 67 Vgl. die Bemerkung über das »cogito« in: Kleine Schriften, 103 f. 68 Zitat von Augustinus: Sermo 141,2. 60
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Sie ist dies in ganz anderer Tiefe und Aufnahme Pascalscher Motive als die so benannten Méditations pascaliennes Bourdieus. 70 L’Action, 464. 71 J.-L. Marion: Le prisme métaphysique de Descartes, Paris 1986, 357: »Pascal conteste ni la justice, ni la rigueur d’une métaphysique, mais uniquement son caractère inconditionné: une métaphysique ne vaut que dans son ordre.« 72 »Descartes redouble l’onto-théo-logie en sorte d’off rir à Pascal une parfaite métaphysique a dépasser«. Marion: Le prisme métaphysique de Descartes, 377. – Der Titel des Buches von Jacques Paliard: Maurice Blondel ou le dépassement [!] chrétien, Paris 1950, ist nicht nur eine sprachliche Parallele. 73 Vgl. die Stelle über die »Wette« in der Kritik der reinen Vernunft B 853, oder etwa die zeitgenössische Bemerkung Carl Heinrich Heydenreichs in seiner Ausgabe der Ideen über Menschheit, Gott und Ewigkeit von Pascal, Leipzig 1793 über die »Ideen, welche mir von vielen Seiten mit den wichtigsten Sätzen der Kantischen Philosophie übereinzustimmen schienen« (VI) – wobei allerdings gleich auch »die entscheidende Leugnung einer befriedigenden Vernunft religion« genannt wird. 74 Vgl. Vgl. A. Raffelt: Heidegger und Pascal – eine verwischte Spur, in: N. Fischer/F.-W. v. Herrmann (Hg.): Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007, 189–205. 69
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– Rudolf Langthaler –
»Moralische Selbsterkenntnis« – die Idee des »völligen Bewußtseins seiner selbst« – der »Herzenskündiger« Aspekte des Themas ›Endlichkeit und Transzendenz‹ in Kants Religionsphilosophie
1. Die unbegreifliche Wirklichkeit des »moralischen Gesetzes« und das Geheimnis des »unerforschlichen Grundes« der sich in ihr kundtuenden Freiheit In der Erläuterung zu seiner Unterscheidung der »Anlage« des Menschen »für seine Persönlichkeit« von derjenigen »für die Menschheit« derselben, betont Kant – in unübersehbarer Akzentuierung seiner frühen Lehre vom »Faktum der Vernunft« – besonders nachdrücklich die unbegreifliche und unableitbare, »durch keine Vernunft herauszuklügelnde« Wirklichkeit des »Bewußtseins des moralischen Gesetzes« (RGV B 16 Anm.): »Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen, hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst, und zwar höchste, Triebfeder ankündigt, zu ahnen. Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen«.1 Damit ist auch gesagt, daß diese hinsichtlich ihrer eigenen ›unvordenklichen‹ Wirklichkeit eben nicht über sich selbst verfügt und in diesem Sinne ihr Eigen-Sein als ein ›Sich-übereignet-Sein‹ zu verstehen ist, in dem die Idee der Freiheit sich im Anspruch bzw. im »Bewußtsein des moralischen Gesetzes« allererst offenbart (KpV A 5). | 95
Ebendies, daß dieses »eigentliche Selbst« sich immer schon in solchem Anspruch faktisch vorfindet, gehört zur eigentümlichen »Beschaffenheit«, in der dieses »endliche Vernunftwesen« wirklich ist; erst durch die »Annahme« einer solchen frei-gesetzten Befähigung und Verpflichtung wird diese »moralische Persönlichkeit« und damit als »eigentliches Selbst« konstituiert. Erst durch diese Gesetzgebung wird, über das »Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken« als »Wesen selbst« (KrV B 429) hinaus, »unsere Wirklichkeit bestimmbar« und offenbart darin die Freiheit als »Prinzip der Bestimmung meiner Existenz« (KrV B 430 f.). Menschliche Freiheit steht nicht nur »unter dem moralischen Gesetz« hinsichtlich der unbedingten Verbindlichkeit,2 sondern verfügt auch bezüglich der Wirklichkeit dieses Sollensanspruches (»daß ich soll«) nicht über sich selbst. Dies impliziert freilich auch, daß noch vor der dem ›Glauben an die Tugend‹ immanenten Bejahung des ›Gesollten‹ (und seiner Realisierbarkeit) diese Freiheit als Fundament des als ›gesollt Erfahrenen‹ immer schon vorgängig – nicht nur als das ›Sein-Sollende‹, sondern als der reflexiv uneinholbare Grund desselben – voraus-gesetzt ist. Jenes Bewußtsein der ›Unbedingtheit‹ ist zugleich von der Erfahrung ihrer eigenen ›Bedingtheit‹ begleitet, d. h. solcherart durch eine ›bedingte Unbedingtheit‹ ausgezeichnet: Gleichermaßen ›Prinzip und Faktum‹ bleibt es sich selbst in beiderlei Hinsicht in eigentümlicher Weise entzogen; schon diese uneinholbare ›Faktizität‹ als das ›absolut Positive‹ führt einen fundamentalen Endlichkeits-Aspekt vor Augen,3 der innerhalb der kantischen Religionsschrift selbst noch eine unübersehbare Zuschärfung erfährt. Mit Kants neuer ›Freiheitslehre‹ in der Kritik der praktischen Vernunft ist das Verhältnis von »Freiheit« und »Bewußtsein des moralischen Gesetzes« bekanntlich auf ein neues Fundament gestellt,4 zumal ihr zufolge die »Freiheit« allein als »ratio essendi« des »moralischen Gesetzes« angemessen thematisierbar ist. Diese für Kants Freiheitslehre bzw. für seine Moralphilosophie schlechthin zentral gewordene Konzeption erlaubt nun auch eine kritische Anknüpfung an eine frühere These Kants, die in diesem späteren religionsphilosophischen Kontext freilich einen ganz neuen Stellenwert gewinnt – nämlich »daß ich zwar die Handlungen aus Freiheit, aber die Freiheit selbst nicht in meiner Gewalt habe«.5 Konsequenterweise stellt 96 | rudolf langthaler
sich nunmehr freilich die weitere Frage nach der »ratio essendi« dieser sich im »moralischen Gesetz kundtuenden« »Wirklichkeit der Freiheit«, zumal diese Freiheit als »ratio essendi« des »moralischen Gesetzes« nunmehr das Denken – zunächst – auf die unvermeidliche Frage nach dem »unerforschlichen Grund« dieser Freiheit selbst verweist – »unerforschlich« deshalb, »weil er uns zur Erkenntnis nicht gegeben ist« (RGV B 209). Zunächst ist es also dieses zweifache Faktum, daß der Mensch die »Freiheit selbst nicht in (s)einer Gewalt habe« und auch ihr Grund ihm »unerforschlich« sei, der sich so für sein ›Existieren‹ als konstitutiv erweist und in diesem Sinne die Verfassung einer »moralischen Lebensgeschichte« (RGV B 217) bzw. deren Selbstverhältnis fundiert. Im Kontext dieser neuen Freiheitslehre Kants wäre dies auch so zu verstehen, daß darin in eigentümlicher Weise ihr »Offenbar-Werden im moralischen Gesetz« und ihre Selbstentzogenheit unauflöslich miteinander vereint wären: Es wäre vornehmlich die in dieser Reflexion zum Ausdruck gebrachte unauflösliche Verschränkung dieser beiden Aspekte, die auch ihre eigentümliche »Unbegreiflichkeit« demonstriert. Genauer besehen wäre es dabei doch um ein Sich-Ergreifen zu tun, das sich gleichwohl nicht eigentlich zu begreifen vermag und sonach das Denken auf einen ›Grund der Freiheit‹ und seines Wissens von sich selbst verweist. In dieser von Kant als ›zu begreifend‹ geltend gemachten »Unbegreiflichkeit« des »moralischen Gesetzes« ist, in Verbindung mit seinem Hinweis auf die »sich selbst nicht in ihrer Gewalt habende Freiheit«, ›positiv‹ formuliert, zugleich die Abweisung aller schiefen ›Erklärungsansprüche‹ mitenthalten – ebenso ist damit freilich eine unabweisliche Frage eröffnet. Dies geschieht schon durch eine von Kant selbst vorgenommene Differenzierung: Denn obgleich die im Anspruch des »moralischen Gesetzes« sich offenbarende »Freiheit« selbst kein »Geheimnis« sei, so sieht sich das Denken diesbezüglich nach Kant jedoch nicht nur bezüglich des »unerforschlichen Grundes« dieser Freiheit, sondern gleichermaßen hinsichtlich des Bezuges dieser Freiheit »auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft, die Realisierung des moralischen Endzwecks« (RGV B 209), »unvermeidlich auf heilige Geheimnisse« geführt. Dieser gegenläufige Richtungssinn ist sehr bemerkenswert und enthält in beiderlei Sinn aber auch einen indirekten Hinweis auf die Forderung eines angemessenen Gottes»Moralische Selbsterkenntnis« … | 97
begriffs. Implizit ist damit – und zwar in beiderlei Hinsicht – von Kant in indirekter Anknüpfung an eine zentrale Argumentation der ›Ethikotheologie‹ zum Ausdruck gebracht, daß die der Weltstellung des Menschen angemessene Gottesthematik den Rahmen der ›natürlichen Theologie‹ sprengen muß, weil nur so vermieden werden kann, den »Begriff der Gottheit« leichfertig zu »verschwenden« (KU B 403).6 Dies betrifft eben gleichermaßen den »unerforschlichen Grund der Freiheit« wie auch die Reflexion auf den Ermöglichungsgrund jenes »letzte(n) Objekt(s) der praktischen Vernunft«. Die in beiderlei Richtungssinn erfragte »ratio essendi« zielt auf den »Begriff von einer Gottheit«, der nicht allein als »Urquell alles Guten, als seinen Endzweck« (FM A 115), sondern damit auch als »Herzenskündiger« gemäß jenem kritischen »symbolischen Anthropomorphismus« zu denken ist – eine Bestimmung, die demnach in einem »für die Religion tauglichen Gottesbegriff« jedenfalls nicht fehlen darf. Nun gehört zur ›conditio humana‹ offenbar eine eigentümliche Gegenläufigkeit: Kants These, daß das »Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit, […] was er an sich selbst ist, […] einzig und allein das Bewußtsein seiner Freiheit« ist, »welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ, also nur durch den höchsten praktischen Vernunft[gebrauch] kund wird« (Anth BA 27 Anm.), erläutert zum einen lediglich jenes späte Motiv des »Reflexes des Übersinnlichen« als die Seele moralisch erleuchtende Vernunft« (VT A 410).7 Zufolge »gewissen […] apriori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs«, d. i. erst im »Bewußtsein des moralischen Gesetzes«, wird so »unsere Wirklichkeit bestimmbar« (KrV B 430 f.), wodurch jenes Bewußtsein des inhaltlich noch gänzlich leeren »daß ich bin« der »synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption« über alle Grenzziehungen hinaus je ›individuelle‹ Konkretheit gewinnt. Damit sind hinsichtlich der spezifischen »Beschaffenheit« des Menschen, »mit der er wirklich ist«, in einem religionsphilosophischen Kontext weitere Fragen verbunden. Einerseits wird, »was er an sich selbst ist, […] einzig und allein durch den […] höchsten praktischen Vernunft[gebrauch] kund« (Anth BA 27) und er dadurch seiner als »moralischer Persönlichkeit« bewußt – andererseits bleibt er sich darin zugleich in eigentümlicher Weise selbst ›entzogen‹. Denn 98 | rudolf langthaler
nicht nur hält die Vernunft dem Menschen »im moralischen Gesetz den Spiegel vor« (SF A 87), worin er seiner selbst erst als »moralischer Persönlichkeit« inne wird und auch »seine Verwerflichkeit erblickt« (ebd.); darüber hinaus bleibt ihm nicht nur der »Grund der Freiheit« »unerforschlich«, sondern führt ihm überdies – Kehrseite jenes »Offenbar-Werdens seiner selbst« – eine »Unergründlichkeit« und somit eine ›Selbstentzogenheit‹ besonderer Art vor Augen, die Kant als den Abgrund der »moralischen Selbsterkenntnis« bezeichnet hat. Es sind eigentümliche – und auch unterschiedlich akzentuierte – Verknüpfungen von ›Selbstvergewisserung‹ und entzogener ›Selbsterkenntnis‹, die im Ausgang von der eigentümlichen »Beschaffenheit, mit der wirklich ist« (KpV A 15) wohl auch in religionsphilosophischen Kontext besondere Bedeutung gewinnen.
2. Das unaufhebbar »Fragmentarische« der »moralischen Selbsterkenntnis« Als vernünftiges Weltwesen – und gerade auch »im Bewußtsein des moralischen Gesetzes«, das »auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt« (KpV A 74) – steht der Mensch selbst in der unaufhebbaren Differenz des ›Sich-Erscheinens‹ und des ›An-sich-selbst-Seins‹; dies verweist auf ein mit der ›Endlichkeit‹ des Menschen verbundenes Problem, das so neben der »Unerforschlichkeit des Grundes der Freiheit« noch eine ganz andere ›Unergründlichkeit‹ thematisch werden läßt, die deutlich macht, daß er sich auch in seiner moralischen Selbsterkenntnis niemals ›einzuholen‹ vermag, denn: »Die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergründlich. Wer kennt sich gnugsam, wenn die Triebfeder zur Pflichtbeobachtung von ihm gefühlt wird, ob sie gänzlich aus der Vorstellung des Gesetzes hervorgehe, oder ob nicht manche andere, sinnliche Antriebe mitwirken […]« (MSTL A 114; ähnlich TP A 222 f. u. ö.). Ist also jenes bestimmungslose bloße »daß ich bin« zwar in dem »Bewußtsein des moralischen Gesetzes« der moralischen Persönlichkeit aufgehoben und durch jene »positiv bestimmte Verstandeswelt« auch »unsere Wirklichkeit bestimmbar« geworden, so tut sich bezüglich der »moralischen Selbsterkenntnis« somit erst recht ein »Abgrund« auf: »Das moralische Selbsterkenntnis, das in »Moralische Selbsterkenntnis« … | 99
die schwerer zu ergründenden Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang« (MSTL A 104; vgl. RGV B 78).8 Indes, solche schwierige »moralische Selbsterkenntnis« erweist sich dabei freilich nicht lediglich (wie Kant betont) als »aller menschlichen Weisheit Anfang«, sondern gleicherweise als »aller menschlichen Weisheit Ende«. Jedenfalls verbietet sie es auch, die Einsicht, daß »nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses […] den Weg zur Vergötterung« bahnt (ebd.), selbst schon als den damit verheißenen Auftakt zu einer moralischen ›Himmelfahrt‹ beanspruchen zu wollen. Damit verbindet sich die Erinnerung daran, daß auch die »praktisch-regulative« Idee der »Heiligkeit« als ein unentbehrliches Sinnmoment in der Idee des »höchsten abgeleiteten Gutes« enthalten ist und dergestalt auch den der Frage »Was darf ich hoffen?« immanenten Anspruch verdeutlicht. Dann wäre die in der Idee des »höchsten abgeleiteten Gutes« als »eines Ganzen« (KpV A 233) »symbolisch dargestellte«, grenzbegrifflich gedachte »individuelle Totalität« zunächst offenbar selbst als jener mitenthaltene ›terminus ad quem‹ menschlicher Hoffnung begreiflich zu machen, auf den dieses »vernünftige Weltwesen«, gemäß der Idee der »Heiligkeit«, hoffen soll – und dies sodann auch hoffen darf: Themen, die bekanntlich in Kants Religionsschrift im Kontext seiner ›Gnadenlehre‹ (s. RGV B 296 ff.) unter dem Vorzeichen einer ›docta ignorantia‹ zur Sprache kommen und auch jede eudämonistische Engführung wie auch »proportions«-orientiertes Lohn-Kalkül verwerfen.9 Daß nach Kant der darin sichtbar werdende Fortschritt im Bewußtsein der ›Individualität‹ – aber auch deren »Gebrechlichkeit und Abgründe« – erst in der jüdisch-christlichen Tradition manifest geworden sei, nunmehr freilich, d. h. »wenn es da ist«, auch unabhängig davon erkannt werden kann, hängt mit diesen Fragen eng zusammen. Auch insofern ist dieses Motiv der »moralischen Selbsterkenntnis« mit dem von ihm wiederholt angeführten biblischen – d. h. ebenfalls unübersehbar im Sinne jener »durch hergebrachte fromme Lehren erleuchteten Vernunft« zu verstehenden – Motiv des »Herzenskündigers«10 unauflöslich verbunden und führt so in besonderer Hinsicht auf die Idee der »höchsten Weisheit« eines »einigen weisen, allgewaltigen und moralischen Welturhebers«, wobei 100 | rudolf langthaler
freilich der kritische Anspruch des »symbolischen Anthropomorphismus« auch hier zu beachten bleibt. Dieser zwar bloß »subjektiv gegebenen« Gottesidee gemäß erhält »der Mensch […] vermittelst dieser, nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen, eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit […] als Verantwortlichkeit vor einem von uns unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch-gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen« (MSTL A 102).
2.1 »… und die Idee eines »völligen Bewußtseins seiner selbst« in religionsphilosophischem Kontext Jene allein grenzbegrifflich gedachte »Erkenntnis seiner selbst« – d. h. nicht, »wie ich mir erscheine«, sondern als das Offenbar-Werden seiner selbst »an sich« »im Ganzen seiner Existenz«, d. h. seiner »moralischen Lebensgeschichte« – wäre, in praktischer Akzentuierung, in solchem religionsphilosophischen Umfeld begreiflich zu machen. Demgemäß wäre jenes »völlige Bewußtsein seiner selbst«11 – und zwar durchaus gemäß der kantischen Unterscheidung, »nicht wie ich mir erscheine« sondern »an mir selbst bin« (KrV B 157) – als regulative, d. i. »auf das Ganze seiner Existenz« zielende Idee »individueller Totalität« aufzunehmen. Kants Rekurs auf Platon – der »seine Ideen vorzüglich in allem [,] was praktisch ist«, fand (KrV B 371) – verlangt in diesem Kontext eine besondere Akzentuierung. Seine sehr bemerkenswerte beiläufige Erwägung über den »Zustand der Seele im Bewußtsein der Fortdauer in einer anderen Welt«, nämlich der »eines völligen [!] Bewußtseins seiner selbst«,12 lenkt, im Sinne einer als vollendet gedachten ›Individuierung‹,13 offenbar selbst den Gedanken darauf hin und enthält so gleichermaßen einen Verweis auf die im Sinne der ›Aufhebung‹ jener fragmentarischendlichen Selbsterkenntnis zu denkende »unbedingte Totalität«. Darauf zielt jedoch auch ein wesentlicher Aspekt der Bestimmung des »Ich als Idee« im Sinne einer »durchgängigen Bestimmtheit« gemäß einer »Idee«, die ebenfalls »lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat« (KrV B 601); derart läßt sich dieses »Ideal« der vollständigen »Selbsterkenntnis« wohl auch als ein ›Abschlußgedanke‹ der besonderen Art verstehen. In einem wohl durchaus ähnlichen »Moralische Selbsterkenntnis« … | 101
Sinne hat noch der späte Kant betont, daß dergleichen Spannung mit der darin bewußt gewordenen Uneinholbarkeit seiner selbst, »was er [der einzelne Mensch] an sich ist«, zweifellos konstitutiv für seine Endlichkeit ist – ein Wissen, dem dennoch gleichsam das ›Versprechen‹ (gewissermaßen als ›Ich-Ideal‹) bzw. der (durchaus nicht wunsch-fixierte) ›Vorschein‹ eines »völligen Bewußtseins seiner selbst« innewohnt. Darin begreift dieses sich aus einer unaufhebbaren Affinität zu einem freilich nur in Analogie »via eminentiae« zu denkenden – absoluten – ›Ich‹ und weiß ebenso darum, daß in solchem Überschritt von der ›via negationis‹ zur eminenten Bestimmung die ›absolute Differenz‹ gewahrt bleiben muß. Auch die Idee des »höchsten abgeleiteten Gutes« kann so, »in Ansehung unseres ganzen Zustandes« als »vernünftiger Weltwesen«, in unterschiedlichen Akzentuierungen als Bezugspunkt vernünftigen Hoffens thematisch werden, wofür in solcher Perspektive die Idee der »Unsterblichkeit der Seele« doch lediglich eine unbedingte »Voraussetzung in notwendig praktischer Rücksicht« (KpV A 238) anzeigt – und zwar allein insofern, als diese erhoffte »Glückseligkeit« ohne die Idee der »Heiligkeit« (als der unendlich anzustrebenden moralischen Vervollkommnung im Sinne des »obersten Gutes«) auch nicht zureichend gedacht werden kann. Auch in diesem Sinne hat Kant ausdrücklich betont: »Das moralische Gesetz führte […] zur praktischen Aufgabe, welche, ohne allen Beitritt sinnlicher Triebfedern, bloß durch reine Vernunft vorgeschrieben wird, nämlich der notwendigen Vollständigkeit des ersten und vornehmsten Teils des höchsten Guts, der Sittlichkeit, und, da diese nur in seiner Ewigkeit völlig aufgelöst werden kann, zum Postulat der Unsterblichkeit« (KpV A 223). Sofern die damit eng verbundene moralische Idee der »Heiligkeit«14 als »Ideal« die praktisch unaufhebbare Differenz von ›Sein und Sollen‹ zum Ausdruck bringt, wäre die daran geknüpfte Unsterblichkeitsidee genauer besehen nur als »Postulat der praktischen Vernunft« zu behaupten, sofern sie eher, wiederum »viel zu denken veranlassend«, die prinzipielle moralische Unverfügbarkeit des »höchsten Gutes« im Sinne der unüberwind-lichen »Heillosigkeit« der Moralität (als des gleichwohl unangetasteten »obersten Guts«) symbolisiert. Besonders eindringlich ist diese Idee der »Heiligkeit« und die nur von daher zu verstehende ›symbolische‹ Darstellung der ›Unsterblichkeit‹ in der denkwürdi102 | rudolf langthaler
gen Anmerkung der Religionsschrift angesprochen – und zwar in dem allein auf »die Idee von der überwiegenden Wichtigkeit der moralischen Beschaffenheit des Menschen« gestützten »Grund, vertrauen zu können, daß, wenn wir das ganz wären, oder einmal würden, was wir sein sollen, und (in der beständigen Annäherung) sein könnten, die Natur unseren Wünschen, die aber selbst alsdenn nie unweise sein würden, gehorchen müßte« (RGV B 307 Anm.). Daß bei Kant die ›Unsterblichkeits‹-Idee einerseits an die Idee der (nur in unendlicher »Annäherung« »realisierbaren«) »Heiligkeit« gebunden ist, andererseits Gott als »Herzenskündiger« »jedem, was seine Taten wert sind, zukommen« lassen soll (RGV B 139), spiegelt diese Spannung wider und gehört wohl selbst zu den von Kant eingeräumten »Geheimnissen«, die freilich nicht von der gebotenen je individuellen Orientierung am moralischen Fortschreiten ablenken darf.
2.2 Eine ›Inversion‹ von besonderer Art: »cogitor ergo sum«? Jene als »regulative« Idee gedachte »vollendete individuelle Ganzheit« könnte demnach allein in analoger Charakterisierung »nach dem Tode« – als »Gericht« bzw. als »ewiges Leben« – als »gegeben« gekennzeichnet werden;15 das von Kant beiläufig aufgegriffene Bild von dem »aus der Zeit in die Ewigkeit« (EaD A 495) gehenden Menschen wäre somit in eminenter Weise auf das von ihm so bezeichnete »eigentliche Selbst« »im Ganzen seiner Existenz« zu beziehen und könne so lediglich im Sinne der Analogie des »nach dem Tode« gedacht werden. Die – jeweils nur fragmentarisch ›jetzt‹ existierende – autobiographische Einheit und Identität einer ›Lebensgeschichte‹, so darf man Kant hier wohl verstehen, ist eben deshalb nie vollendet, weil sie dies doch nur für ein ›Ich‹ sein könnte, das nicht selbst wiederum bloßes ›Teilmoment seiner selbst‹ als ein gegenwärtiges ›Ich jetzt‹ sein könnte, sondern selbst gleichsam »außer der Zeit« stehen müßte. Indes, ebendies läßt sich Kant zufolge jedoch nur denken im Sinne jener symbolisierenden Wendung, wonach der Mensch »aus der Zeit in die Ewigkeit« (EaD A 495) »übergegangen« wäre, weshalb ›autobiographische Identität‹ auch »immer nur im bloßen Werden« (RGV B 100), d. h. niemals ›totaliter‹ ist – so lange »Moralische Selbsterkenntnis« … | 103
die jeweiligen ›Ich-Jetzt‹-Perspektiven gleichsam unvermeidlich noch auseinanderfallen16 und ihre innere Einheit eben noch nicht ›gewesen‹ ist: Allesamt Themen, die in solcher Hinsicht jener Frage nach der »ganzen Bestimmung des Menschen« überdies noch einen ganz besonderen Akzent verleihen. »Aus der Zeit in die Ewigkeit« zu treten – dieser bemerkenswerterweise von Kant aufgenommene »vornehmlich in der frommen Sprache […] übliche Ausdruck« (EaD A 495) könnte somit wohl nichts anderes bedeuten als dies: »zu erkennen, wie man erkannt ist« – und zwar eben ›im Ganzen seines Daseins‹. Lediglich im Sinne eines solchen (als grenzbegriffliche Idee gedachten) »völligen Selbstbewußtseins seiner selbst« wäre solches »Offenbar-Werden seines Wesens« mit der Idee des »höchsten Gutes« bzw. mit jener »Idee der Glückseligkeit« zu verknüpfen, zumal diese, als »Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht« (KpV A 224), als eine zu denkende ›Totalität‹ und Einheit gedacht wird, die doch allein als stets »aufgegeben« gegeben ist und so, in ihrer Vollendungsgestalt, gleichwohl über sich hinausweist.17 In der in solcher ›Ganzheit‹ gedachten vollendeten Individuierung wäre die in der Idee des ›Ganzen‹ (bzw. der autobiographischen Einheit) der »moralische(n) Lebensgeschichte jedes Menschen« (RGV B 217)18 – als »eines völligen Bewußtseins seiner selbst« – zu begreifende geschöpfliche Wirklichkeit ›in individuo‹ auf eine Weise intendiert, die deshalb in engstem Bezug zur Bestimmung des als »Herzenskündiger« (RGV B 85 und B 139) gedachten »moralischen Welturhebers« zu sehen wäre. Dieses »völlige Bewußtsein seiner selbst« – gedacht nicht nur als grenzbegrifflich aufgegebene »subjektive Realität«, sondern als »objektive Realität« sodann auch »gegeben« – wäre vorgestellt als die über praktische Vernunftansprüche vermittelte »unbedingte Totalität«, d. h. als die das Gemüt belebende »ästhetische Idee« des »jüngsten Gerichts«. Demzufolge liegt wohl mit Rücksicht auf jene »Beschaffenheit«, mit der dieses »vernünftige Weltwesen« wirklich ist und somit im Blick auf das »Ganze seiner Existenz«, die Frage nahe: Resultiert daraus bzw. erlaubt dies letztendlich nicht auch das in jenem »höchsten abgeleiteten [!] Gut« als »Abschlußgedanke« grenzbegrifflich mitzudenkende Motiv eines »Cogitor ergo sum«? Wäre das als eine 104 | rudolf langthaler
selbst dem Anspruch »letzter Gedanken« verpflichtete kantische Antwort auf die Frage »Was darf ich hoffen?«, die so in einer gewissermaßen ethikotheologisch gewendeten und entsprechend modifizierten Gestalt des schon erwähnten aristotelischen »was es war, dies zu sein«: »was ich war, dieser zu sein« eine letzte Gestalt finden könnte?19 Dies scheint sich lediglich aus dem vorgestellten Sachverhalt zu ergeben, dem zufolge die auf die ›gelingende Existenz‹ konzentrierte Hoffnungsfrage darauf abzielt, daß diese »Idee der Glückseligkeit« primär eine ›Natur und Freiheit‹ umgreifende ›Ganzheit‹ anzeigt; die an ihrem »ganzen Gegenstand« Maß nehmende praktische Vernunft (als ihrem letzten »worumwillen«) steht darin zwar unter der unaufhebbaren einschränkenden Bedingung der ›reinen praktischen Vernunft‹, obgleich »die Bestimmung des Menschen im ganzen beurteilende Vernunft« (RGV B 245) darüber noch hinausweist. Demnach wäre, analog zu einer ethikotheologischen Argumentationsfigur Kants (§ 88 der Kritik der Urteilskraft), bezüglich dieses Ideals des »völligen Bewußtseins seiner selbst« zu sagen: Zur »objektiven Realität« dieses »Ideals« wird erfordert, daß letzteres nicht allein für uns eine »unendliche Aufgabe« ist, sondern dieses »Ideal« in seiner »Ganzheit« auch gegeben ist im Sinne jenes »cogitor« – gemäß der Idee meines vollständig individuierten Selbst, das in diesem »cogitor« sich selbst wiedererkennt (›schaut‹, wie es ›an sich ist‹) und als solches auch bejaht. Kants ›Gerichts‹-Motiv bzw. das »Ende aller Dinge« besagt in solcher Hinsicht wohl nichts anderes als dies, mit dem nicht »in Zeitabschnitte zerfallenden« Ganzen seiner »moralischen Lebensgeschichte« in seiner ›Existenz‹ vor dem »Herzenskündiger« zu stehen: »cogitor, ergo sum?«20 Dies scheint auch eine Antwort auf die noch vom späten Kant erhobene Frage zu implizieren, was uns denn dazu »nötige«, Gott als eine »herzenskundig-richterliche Instanz« »außer uns« denken zu müssen. Daß deren ›An-Sprüche‹ an den Menschen indessen keine anderen als diejenigen der ›praktischen Vernunft‹ selbst sind, erweist sich selbst als eine in der »Geschichte der menschlichen Vernunft« (aus der größeren »Bearbeitung unserer sittlichen Ideen«) hervortretende entscheidende Einsicht im Sinne des »Fortschritts im Bewußtsein der Gottheit«, die zugleich auch einen Grund dafür enthält, weshalb uns »die Vernunft nicht ganz ohne Trost« läßt. »Moralische Selbsterkenntnis« … | 105
2.2.1 Anmerkung: »Individuum est ineffabile« – ein schulphilosophisches Motiv im Kontext von Kants »praktischer Metaphysik« Es spricht nun einiges dafür, in einer religionsphilosophischen Akzentuierung auch das metaphysische Prinzip des »individuum est ineffabile« mit jenem Motiv »eines völligen Bewußtseins seiner selbst« zu verknüpfen. In diesem Sinne wäre dieses »ineffabile« auf diese regulative Idee der je ›vollendeten Individualität‹ zu beziehen – d. h. was es in seiner ›Individualität‹ ›gewesen ist‹ und auch gewesen sein wollte, zumal die Hoffnung darauf, »was ich gewesen sein will«, auch eine Selbstwahl impliziert und sich so übrigens durchaus auch recht gut mit Kants Überlegungen zum intelligiblen Charakter in der Reli-gionsschrift (RGV B 48–64) verträgt. Eben darauf wäre gewissermaßen der Letztspruch des Schöpfers bezogen, d. h. aber auch: diesem vorbehalten; impliziert nicht auch dies jenes »Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes« (KU B412 Anm.), welches freilich selbst auf das – jeder endlichen Instanz entzogene – ›absolute‹ Urteil des »Herzenskündigers« gerichtet ist und so allein dem beim Namen gerufenen ›Diesen da‹ in einem ganz ursprünglichen Sinne ›gerecht‹ zu werden vermag – dann aber auch mit keinen anderen Gerechtigkeitsmaßstäben gleichgesetzt werden darf, ohne diese jedoch wiederum zu unterbieten bzw. zu eliminieren?21 Kant hat dies, neben dem Problem der »moralischen Selbsterkenntnis«, der Sache nach wenigstens implizit – obgleich ›ex negativo‹ – in seinem denkwürdigen Hinweis auf die drohende »Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen« und auf die trügerische ›Gewissensruhe‹ in behutsamer Weise ›an den Grenzen der Vernunft‹ zum Ausdruck gebracht; dem steht offenbar auch seine denkwürdige Mahnung und Verwerfung jener »Einbildung von Verdienst« besonders nahe, »keiner solcher Vergehungen sich schuldig zu fühlen, mit denen sie andere behaftet sehen: ohne doch nachzuforschen, ob es nicht bloß etwa Verdienst des Glücks sei, und ob nach der Denkungsart, die sie in ihrem Innern wohl aufdecken könnten, wenn sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Orts, die in Versuchung führen 106 | rudolf langthaler
(lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet werden können), davon entfernt gehalten hätten« (RGV B 37 f.).22
2.3 »Moralischer Weltherrscher« und »Weltrichter«: »Herzenskündiger« und »Menschensohn« Die Kehrseite jenes kathartischen Bewußtseins, dem Urteil eines solchen »Herzenskündigers« ausgesetzt zu sein, wäre dieser kantischen Perspektive zufolge also die Zuversicht, sich in solchem »jüngsten Gericht«, in seinem »Endurteile« (RGV A 36 Anm.), keiner »äußerlich-fremden« Instanz ausgeliefert zu wissen, weil doch der »deus in nobis« (das »Übersinnliche in uns«, das »Ideal des Sohnes Gottes«) mithin zugleich der alleinige »Richter über uns« ist;23 in dessen Urteil und »Gericht« ist somit eben nicht die alles verzehrende »Heiligkeit« allein als maßgebende Instanz vorgestellt, sondern der »Menschensohn«, als die »ihrer Einschränkung und Gebrechlichkeit« bewußte »Menschheit selbst«, »welches eine Gütigkeit ist, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut« (RGV B 213 Anm.)24: Erneut ein beredtes Zeugnis für jenes von Kant nicht zuletzt in diesen Zusammenhängen aktualisierte Motiv der ›docta ignorantia‹. In diesem kritischen Sinne darf auch noch Kants Notiz aus dem ›opus postumum‹ gelesen werden: »Gott ist nichts anderes als die praktische Vernunft in uns«,25 die wohl schon durch seinen Hinweis auf den im »moralischen Selbstbewußtsein« enthaltenen Gottesbegriff behutsam erläutert wird, und zugleich eine einseitig religionskritische Abspannung verbietet. Dies ist nun freilich schon wesentlich ›bestimmter‹ als der kantische Hinweis auf jenen beim Anhören des »moralischen Gesetzes« aufkommenden »Zweifel« über den Ursprung jener »Stimme in uns«, d. i. den »Zweifel« darüber, »ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch diese seine eigene Vernunft spricht, herkomme« (VT 423). Gleichwohl ist die Spannung höchst bemerkenswert, daß Kant in diesem späten kleinen Text über den von ihm diagnostizierten »neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie« einerseits davon spricht, die »Sonne […] in der »Moralische Selbsterkenntnis« … | 107
Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft) […] zu sehen« (VT A 410), jedoch hinsichtlich der Herkunft in den benannten Zweifel verfällt. Diese (eine unverkennbare Unsicherheit anzeigende) Zweideutigkeit zeigt sich auch in Kants einschlägigen Hinweisen auf den allein in dem »Gott in uns« offenbar werdenden »Gott außer uns«. Dies verweist, gemeinsam mit der Bestimmung: »Der Begriff von Gott ist der Begriff von einem verpflichtenden Subject außer mir«,26 darauf, daß diese Verpflichtung sich eben auf die »Prinzipien der praktischen Vernunft« bezieht und keinem WillkürGott ausgeliefert ist, sondern allein dem »Geber« des »categorischen Imperativs«27 untersteht, d. i. jenem »deus in nobis«. Die Subjekte begegnen demzufolge in diesem Gericht (in dieser ›Idee des Gott wohlgefälligen Menschen‹) lediglich ihren eigenen Verfehlungen und damit sich selbst als Verfehlten – darin liegt ihre Strafe: Kants ›Übersetzung‹ des paulinischen »Er (Gott) hat sie dahingegeben ihrem [!] Sinn« (Röm 1,24)? Damit ist freilich nicht in Frage gestellt, daß dieses Gerichtsmotiv einen dadurch noch nicht berührten bzw. abgedeckten ›geschöpflichen Sinnüberschuß‹ enthält.28 Derart stehen diese kantischen Gedanken also mit der von ihm als »Pflicht gegen sich selbst« bestimmten Forderung in engster Beziehung: »Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit […] sondern nach der moralischen in Beziehung auf deine Pflicht – dein Herz – ob es gut oder böse sei« und »was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend […] ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag« (MSTL A 104)29; sie thematisieren so wohl einen ganz besonderen Aspekt dessen, »wie Moral unumgänglich zur Religion führt«. So gewinnt auch seine These noch einmal einen präziseren Sinn, daß und wie auf ihr das »mit der allgemeinen [!] Menschenvernunft auf wundersame Weise« verwebte Motiv eines »Endes aller Dinge« beruht, »weil er unter allen vernünftelnden Völkern, zu allen Zeiten, auf eine oder andre Art eingekleidet, angetroffen wird« (EaD A 496; s. bes. auch A 508 Anm.); gleichwohl konnte dies erst in der »Geschichte der reinen Vernunft« eine hinreichend geläuterte Gestalt finden. Auch in diesen Fragen ist demnach von Kant, wenngleich auf indirekte Weise, ein aufschlußreicher Zusammenhang zwischen Schul- und Weltbegriff der Philosophie mit der Religionsgeschichte angezeigt, der 108 | rudolf langthaler
auch in der »Geschichte der Vernunft« einen nachzuvollziehenden Niederschlag findet. Diese durch die Verknüpfung der kantischen Motive – der »moralischen Selbsterkenntnis, der Idee des »vollständigen Bewußtseins seiner selbst«, dem »cogitor, ergo sum«, dem »Herzenskündiger« und dem »Menschensohn«-Motiv – entstandene religionsphilosophische Konstellation verdient im Kontext der kantischen Ethikotheologie wohl besonderes Interesse. Die dadurch eröffneten Perspektiven stellen zweifellos einen wichtigen Aspekt in dem von Kant gesuchten Aufweis dar, »wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird« (KpV A 236 Anm.) und bilden so gleichsam eine Brücke zwischen der Konzeption des im engeren Sinne so genannten »Vernunftglaubens« und dem »reflektierenden Glauben«, von dem bei Kant in der die »Allgemeine Anmerkung« zum ›Ersten Stück‹ der Religionsschrift beschließenden aufschlußreichen Fußnote (RGV B 64 Anm.) ganz beiläufig die Rede ist.
Anmerkungen
Interessant ist freilich, daß Kant diese Unterscheidung in der noch späteren Tugendlehre der Metaphysik der Sitten mit der Unterscheidung zwischen »Vernunft wesen« und »bloß vernünft igem Wesen« noch einmal besonders akzentuiert: Der Mensch ist auch »Vernunft wesen (nicht bloß vernünft iges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), welches kein Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreif-liche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen läßt« (MSTL A 65). 2 N. Fischer hat wiederholt (ausführlich schon in: Fischer/Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, Kap. Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, Paderborn 1999, 47–230) in dieser Hinsicht eine darin zutage tretende »Inversion der Aktivität« betont, die so einen besonderen ›Endlichkeitsaspekt‹ thematisiert. – Zu beachten bleibt freilich auch dies, daß die Wirklichkeit dieses »intelligiblen Faktums« des Bewußtseins des Sittengesetzes unablöslich an das vernunft-gewirkte »Gefühl der Achtung« gebunden ist. Immer wieder hat Fischer betont: »Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ist keine freie Erfi ndung oder Setzung, der endlichen Vernunft , sondern die vernünft ige Antwort auf Situationen, 1
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in die sich endliche Vernunft wesen ungern gestellt sehen« (Vom Rang und vom Sinn der Gottesfrage in der Philosophie Kants, in: N. Fischer/M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg i. Br. 2010). 3 Er kommt auch in Kants Charakterisierung der von Kant so genannten »Willensbestimmung von besonderer Art« sehr klar zum Ausdruck: »daß, wenn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen; und über das noch die Pfl icht hinzukommt, nach allem Vermögen es zu bewirken, daß ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existiere« (TP A 212 Anm.). 4 Siehe dazu grundlegend: B. Ludwig: Die ›consequente Denkungsart der speculativen Kritik‹. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahr 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze, in: DZPhil 4, 2010, 595–628. – Interessant ist ein diesbezüglicher Passus aus einem Brief Kants an Kiesewetter (von 20. April 1790): »Nun wird [allein!] durchs moralische Gesetz jene transzendentale Idee [der Freiheit] realisiert und […] der Begriff der Freiheit, als Kausalität, wird bejahend erkannt« (AA XI, 155). – Vgl. dazu noch einmal jenen interessanten Brief-Passus (Brief Kants an Jacobi von 30. 8. 1789: AA XI, 76), worin von dem notwendig zur »Spekulation« Hinzukommenden die Rede ist, »aber doch nur in ihr, der Vernunft, selbst liegt u. was wir zwar (mit dem Namen der Freiheit […]) zu benennen, aber nicht zu begreifen wissen« und so »das notwendige Ergänzungsstück derselben« ist. 5 Refl exion 7171; AA XIX, 263. – Diese bemerkenswerte Wendung darf in diesem Kontext nun auch so verstanden werden, daß diese »existenz«konstituierende Erfahrung des gegebenen ›Sich-aufgegeben-Seins‹ – sie klingt noch in dem »Faktum der Vernunft« als einer ›Vergewisserung‹ von besonderer Art nach – schlechthin unverfügbar, sich selbst ›entzogen‹ bleibt als ein ›Anspruch‹, in den dieses »vernünft ige Weltwesen« sich nicht selbst ›versetzt‹ hat; erweist sich doch diese Freiheit in dieser zweifachen Hinsicht, eine berühmte Bemerkung Heideggers über das »Dasein« variierend, »seiend nicht von ihr selbst in ihr Da gebracht« (eine von N. Fischer zitierte berühmte Wendung Heideggers, die unschwer auch mit den hier behandelten Themen Kants zu verbinden ist). Jene frühe kantische Reflexion gewinnt freilich mit Blick darauf noch einmal besonders radikale existenz-erhellende Bedeutung, daß nach Kant der Mensch auch die »höchsten Zwecke« der Freiheit nicht in seiner »Gewalt« hat (AA XXVIII, 791 f.); es sind darin – als »Ursprung und Endzweck« – offenbar zwei gegenläufige Formen dessen angezeigt, denen zufolge die »Freiheit sich nicht in ihrer Gewalt hat«. Diese Themen hatte Kant möglicherweise auch in der schwierigen Reflexion 5008 vor Augen: »Die theoretische Bedingungen alles Praktischen sind Freiheit, Ursprung und Zukunft, oder das innere und die äußere(n) Principien aller unsrer Zwecke zusammen. Diese sind auch die crux philosophorum« (AA XVIII, 58). 110 | rudolf langthaler
Indes darf nicht vergessen werden, daß die »theologische Idee« der »rationalen Theologie« ein unumgängliches »Substrat aller Theologie« bleibt; darauf zu verzichten liefe unweigerlich auf »Religionswahn« hinaus. 7 Vgl. Kants späten Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (VT A 387 ff.). In Abwehr zeitgenössischer neuplatonisierender Tendenzen betont Kant in kritischer Anlehnung an das platonische ›Sonnengleichnis‹: »Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend, zu sehen, wie der ältere Platon tat, ist ganz tunlich« (VT A 410). Diese »die Seele moralisch erleuchtende Vernunft« als »Reflexe« des »Übersinnlichen außer uns« ist nun nichts anderes als jene unbegreifl iche Faktizität der ›bedingten Unbedingtheit‹, die gerade in seinem »Reflexe«-Charakter das Denken im Sinne jener kantischen Variation des platonischen Sonnengleichnisses auf seinen unerforschlichen Grund verweist – ein Motiv, das freilich eine besondere Vertiefung erlaubt, ja sie sogar unumgänglich macht. 8 Schon in seiner ›ersten Kritik‹ hat Kant betont: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit […] zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten« (KrV B 579 Anm.); vgl. auch den denkwürdigen Passus über die »Zufälligkeiten des Lebens, für die niemand kann« (RGV A 169 Anm.). Mit diesem auch in religionsphilosophischer Hinsicht wichtigen Problemsteht Kant unübersehbar in der Tradition des augustinischen Motivs: »incerta sunt bona mea et mala mea« (Enarr. in Ps. 38,10). 9 Auch hier wird, als ein besonderer Aspekt des Zusammenhanges von ›Endlichkeit und Transzendenz‹, deutlich, daß die »Unsterblichkeit der Seele«, dem »praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen« gemäß, genauer besehen als eine »symbolische Darstellung« der Unverfügbarkeit des »höchsten Gutes« und im praktischen Sinnhorizont der »Heiligkeit« zu verstehen ist. Es sei auch darauf hingewiesen, daß nach Kant die »Unsterblichkeit« ja nicht selbst Gegenstand der Hoff nung ist, sondern als ›Postulat‹ eher den »Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht« zugehört; nur so sei die Hoff nung auch für ein unter dem unbedingten Anspruch des Sittengesetzes und somit unter dem ›Ideal der Heiligkeit‹ stehendes endliches Vernunft wesen zu denken. – Gewiß betonte Kant ausdrücklich, »daß man aber diese Heiligkeit hoffen soll, sofern man mit allem Ernste sich befleißigt, nach seinen verliehenen Kräften so gut zu sein, als man kann« (Reflexion 7094; AA XIX, 248). 10 Noch im Opus postumum verwies Kant in seiner Bestimmung des »Herzenskündigers« auf die traditionelle Bestimmung Gottes als »scrutor cor6
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dum« (AA XXVIII, 339. – Mit diesem Motiv des »herzenskundigen Weltrichters«, der den »Gerichtshof im Inneren des Menschen« aufschlägt (und somit keineswegs als eine bloß äußere, heteronome Instanz fungiert), ›übersetzt‹ Kant offensichtlich einen Passus aus dem Hebräerbrief 4, 12 f. (vgl. Apg. 1,24); dem zufolge richtet das »Wort Gottes […] über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden.« Dieses Motiv des »Herzenskündigers« hat in Augustins Bestimmung Gottes, »qui cordis ipsius et intimae voluntatis inspector est« (spir. et litt. 14), eine unübersehbare Vorlage, die freilich zuletzt auf die biblischen Quellen zurückverweist. Aufschlußreiche motivliche Übereinstimmungen mit dem von Augustin benannten »abyssus humanae conscientiae« (Confessiones X, 2), d. h. in bezug darauf, »was ich im Innern bin«, sind hier nicht zu verfolgen. – Aber auch Kants (auf Seneca zurückweisende) Bezugnahme auf die »unmittelbar mit dem Bewußtsein (s)einer selbst« verknüpfte Erfahrung des »bestirnten Himmels über mir« und des »moralischen Gesetzes in mir« und die darin spürbare »wahre Unendlichkeit« (KpV A 289 f.), auf die N. Fischer gerne verweist, bzw. die späte Kennzeichnung des Menschen als ›copula zwischen Welt und Gott‹ nimmt sich in gewisser Weise wie eine ›Übersetzung‹ des alttestamentlichen Wortes aus: »Auch hat er die Ewigkeit in das Herz des Menschen gelegt; nur daß dieser nicht ergründen kann das Werk Gottes, weder Anfang noch Ende« (Kohelet 3,11); naheliegenderweise verbindet sich dies auch mit Kants affi rmativem Bezug auf die »Erhabenheit« des alttestamentlichen Bilderverbotes (KU B 124). 11 Daß nach Kant das »Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst« (als »erstes Gebot aller Pflichten gegen sich selbst«) auf die »Substanz des Menschen« (MSTL A 104) abzielt, ist auch im Blick auf die »moralische Selbsterkenntnis« und auf den daran geknüpften ›Gerichts‹-Gedanken von besonderem Interesse. 12 Vorlesungen Kants über Metaphysik, Psychologie, Theologie. Teilstücke Heinze: AA XXVIII, 770 (vermutlich aus den ersten 1790er-Jahren, was auch sehr gut zu einem wichtigen Motiv der Religionsschrift paßt, s. u. Anm. 22). Darin gewinnt die frühe (und sodann ›kritizistisch‹ verworfene) Auffassung: »In einem Fall kann ich nur das Substantiale erkennen, und das ist, wenn ich mich selbst anschaue […]« (AA XXVIII, 1523), beim späten Kant eine – nunmehr freilich im Sinne einer praktisch-»regulativen Idee« zu verstehende – religionsphilosophische Rehabilitierung. – Dahin weist auch Kants Bemerkung: »denn, so viel er sich kennt, läßt ihm die Vernunft keine andre Aussicht in die Ewigkeit übrig, als die ihm aus seinem bisher geführten Lebenswandel sein eignes Gewissen am Ende des Lebens eröff net« (EaD A 500 f.). Kants Idee des »höchsten abgeleiteten Gutes« wäre, in einer schul- und fundamentalphilosophischen Lesart bzw. Rückbindung, auch im Sinne jenes »Realwesens« metaphysisch zu verstehen – und somit nicht ohne jenes »was es gewesen sein wird«. Es ist die des »Ganzen« einer »moralischen Lebensgeschichte« innegewordene »Selbsterkenntnis« meines (allein hier im ›Praktischen‹ individuell 112 | rudolf langthaler
gedachten) und vollständig individualisierten »intelligiblen Charakters«, die hier bestimmend ist – ein kantisches Motiv, das auch in Schellings Kennzeichnung der ›Essentifi kation‹ aufgehoben ist. Sowohl im Sinne der prinzipiell unabschließbaren Welterkenntnis als auch der (moralischen) Selbsterkenntnis und nicht zuletzt in Beachtung des unumgänglichen »transzendentalen Begriffs von Gott, als dem allerealsten Wesen« stellt sich die Frage, ob und wie Kants Bestimmung des »vernünft igen Weltwesens« eben nicht nur die klassische Bestimmung des ›animal rationale‹ übernimmt, sondern damit sich auch der Sinn der Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als ›homo quodammodo totum est‹ in radikalerer Weise erschließt. 13 Daß gegenüber dem allgemeinen Charakter des »Ich denke, das all meine Vorstellungen begleiten können muß«, jedoch in »praktischer Hinsicht« der je eigene individuelle Charakter im ›ich handle‹ maßgebend wird, zeigt nicht nur einen moralphilosophisch, sondern einen auch religionsphilosophisch durchaus beachtenswerten Sachverhalt an. Verweisen diese beiden unterschiedlichen ›Radikalvermögen‹ implizit auf die zu differenzierende Thematik der ›Subjektivität‹, so muß zudem auch die abgründige Thematik des »radikal Bösen« gebührenden Platz fi nden; dies berührt so auch religionsphilosophisch höchst relevante Fragen bezüglich der ›menschlichen Individualität‹. – Daß der Mensch erst in der im Sinne der »moralischen Persönlichkeit« qualifi zierten Freiheit in sein ›Eigenstes‹ kommt, so aber auch vor eine (mit dem »radikal Bösen« angezeigte) moralische »Abgründigkeit« gerät, bleibt dann auch als Ausgangspunkt für die moraltheologische Vermittlung der Gottesthematik zu beachten, die auch im Kontext der kantischen Auseinandersetzung mit den »philosophischen Sekten« besondere Beachtung verdient (und bekanntlich auch in Schellings Freiheitsschrift eine wichtige Rolle spielt). 14 Auch bezüglich dieses ›Heiligkeits‹- bzw. ›Unsterblichkeitsmotivs‹ bei Kant (als besondere Aspekte der »Endlichkeit der Vernunft ineins mit ihrer Beziehung auf Unendliches«; s. N. Fischer: Art. Endlichkeit, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. von A.G. Wildfeuer/P. Kolmer, Band 1, Freiburg i. B. 2011, 608–624, 616) ist wohl ein Leibniz’scher Einfluß nicht zu übersehen; Leibnizens Vernunft prinzipien der Natur und der Gnade (Nr. 18, Schluß) sind darin – gewiß in modifi zierter Form – wiederzuerkennen: »Aber freilich kann die höchste Glückseligkeit, von was immer für einem beseligenden Schauen oder Erkennen Gottes sie begleitet sein mag, niemals vollständig sein, weil Gott unendlich ist und nicht ganz erkannt werden kann. So wird unser Glück niemals in einem vollen Genusse bestehen (und darf nicht darin bestehen), wo es nichts weiter zu wünschen gäbe und unser Geist stumpf gemacht würde. Und es soll auch nicht darin bestehen, sondern in einem immerwährenden Fortschritt zu neuen Freuden und zu neuen Vollkommenheiten«. 15 Zum Gerichtsmotiv vgl. auch Kants Übersetzung des Motivs des »jüngsten Tags« und seines Zusammenfalls mit dem »jüngsten Gericht« – denn der »jüngste Tag« »ist ein Gerichtstag; das Begnadigungs- oder Verdammungs»Moralische Selbsterkenntnis« … | 113
Urteil des Weltrichters ist also das eigentliche Ende aller Dinge in der Zeit, und zugleich der Anfang der (seligen oder unseligen) Ewigkeit, in welcher das jedem zugefallne Los so bleibt, wie es in dem Augenblick des Ausspruchs (der Sentenz) ihm zu Teil ward. Also enthält der jüngste Tag auch das jüngste Gericht zugleich in sich« (EaD 497 f.), in dem er auf das »Ganze seiner moralischen Lebensgeschichte« hin »erkennt [und zustimmt], wie er erkannt ist« und so auch im Ganzen ›er-innert‹ ist. – Habermas’ Hinweis auf den »moralischen Gehalt des Christentums«, den er mit einer Kritik an der bei Schopenhauer leitenden »abstrakte(n) Selbstaufhebung der Individualität, um das Aufgehen des Individuums im All-Einen« verknüpft, kommt diesbezüglich den religionsphilosophischen Intentionen Kants zweifellos besonders nahe und läßt, wenigstens indirekt, Kants Motive auch in dieser Hinsicht (im Sinne der von ihm betonten »durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete(n) praktische(n) Vernunft«: EaD A 516) – als durchaus ›anamnetisch inspiriert‹ erscheinen: »Die, die am Jüngsten Tage, in Erwartung eines gerechten Urteils, einer nach dem anderen, einzeln, unvertretbar, ohne den Mantel weltlicher Güter und Würden, also als Gleiche, vor das Angesicht Gottes treten, erfahren sich als vollständig individuierte Wesen, die Rechenschaft geben über ihre verantwortlich übernommene Lebensgeschichte. Gleichzeitig mit dieser Idee müßte die tiefe Intuition verloren gehen, daß das Band zwischen Solidarität und Gerechtigkeit nicht reißen darf« (J. Habermas: Zu Max Horkheimers Satz: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel«, in: Ders.: Texte und Kontexte, Frankfurt a. M. 1991, 121). 16 Hinsichtlich dieser aufgegebenen (moralischen) ›Selbsterkenntnis‹ ist eine interessante Bemerkung des Sokrates (im Phaidros 229c –230a) gerade auch mit Blickrichtung auf Kant zu vergegenwärtigen: »ich vermag noch nicht, dem delphischen Spruch nachkommend, mich selbst zu erkennen. Und es erscheint mir als Lächerlichkeit, so lang ich darüber noch unwissend bin, die Dinge zu erforschen, die mich nicht betreffen. Darum lasse ich diese Geschichten auf sich beruhen und indem ich der herkömmlichen Meinung darüber folge, suche ich […] nicht solches zu erforschen, sondern mich selbst: ob ich ein Ungetüm bin, abenteuerlicher zusammengeschlungen und fürchterlicher aufgebläht als Typhon oder ein sanfteres und einfältigeres Geschöpf, das von Natur ohne Aufblähung an göttlichem Lose in gewisser Weise Anteil hat«: geradezu ein sokratisches Motto für Kants ›Weltbegriff der Philosophie‹ und der damit verbundenen Aufgabe der ›Selbsterkenntnis‹? Darauf verweist möglicherweise Kants Notiz: »Erkenne dich selbst moralisch […], lege die Maske in der Theatervorstellung deines Charakters ab, und siehe, ob du nicht vielleicht Ursache habest, dich zu hassen, ja wohl gar zu verachten« (AA XXIII, 403); in einer Anmerkung seiner Anthropologie heißt es gar: »Daß aber wenn er [der Mensch] innere Erfahrungen [über] [von] an sich selbst […] anstellt: [daß] wenn er diese Nachforschung […] noch so weit verfolgt als er kann er doch gestehen müsse das Selbsterkenntnis führe […] zu unergründlicher Tiefe 114 | rudolf langthaler
zum Abgrunde in der Erforschung seiner Natur gehört zur Anthropologie.// Mensch der du dir ein schwer Problema in deinen eigenen Augen bist. Nein ich vermag dich nicht zu fassen« (Anth BA 26 Anm.). Kants Anknüpfung an jenes »Erkenne dich selbst« des Platonischen Phaidros ist freilich über Pope vermittelt: »And all our Knowledge is Ourselves to know« (A. Pope: An Essay on Man, Epistle IV). 17 E. Düsings Kommentar trifft zweifellos zu: »Für Kant bleibt […] eine authentische Selbsterkenntnis –, die über eine Art Indizienbeweis anhand des sich reformierenden empirischen Charakters hinausführt, der Schema des intelligiblen ist, – problematisch. Selbsterforschung bleibt für Kant vom Stachel der Ungewißheit, ob ich die Revolution der Denkungsart wirklich oder nur scheinbar vollbracht habe, beunruhigt; deshalb kann für Kant – wenn sie überhaupt möglich wäre – sittliche Selbstvergewisserung nie einen individuellen Beweisgrund für die persönliche Seelen-Unsterblichkeit erbringen. Mit Furcht und Zittern dürfen wir nach Kant hoffen selig zu werden (Phil 2,12)« (E. Düsing: Das Verhältnis von Ich und Absolutem bei Fichte und Kierkegaard, in: Ch. Danz/R. Marszalek (Hg.): Gott und das Absolute. Studien zur philosophischen Theologie im Deutschen Idealismus, Münster 2007, 89). Von jener gebotenen Selbsterkenntnis unterschied Kant allerdings das bloße »Beobachten seiner selbst« und den daraus möglicherweise resultierenden »Illuminatism oder Terrorism« (Anth BA 13); er resultiert daraus, daß wir »unvermerkt […] hier vermeinte Entdeckungen von dem« machen, »was wir selbst in uns hineingetragen haben« und so auch die »schwärmerisch-schreckenden« Empfi ndungen eines Pascal kennen (Anth BA 58 f.; vgl. AA XXIII, 419). 18 Dieser kantische Bezug auf ein »[vollendetes] Ganzes« als »Totalität«, das auf die autobiographische Identität und die individuelle »moralische Lebensgeschichte« abzielt, sprengt freilich eine lineare Zeitvorstellung; auch dieser Aspekt ist in Schellings Kategorie der »Essentifi kation« zu integrieren und mit der Idee eines »Glück(s) des ganzen Lebens« (KrV B 853) zu einem religionsphilosophischen Motiv zu verbinden. 19 Eine späte Charakterisierung dieser spezifi schen Hoff nungs-Intention durch Kant käme diesem Motiv durchaus entgegen: »Denn das Wesen, welches diese proportionierte Austeilung [›die höchste mit der Moralität zusammenstimmende Glückseligkeit‹] allein zu vollziehen vermag, ist Gott; und der Zustand, in welchem diese Vollziehung an vernünft igen Weltwesen allein jenem Endzweck völlig angemessen verrichtet werden kann, die Annahme einer schon in ihrer Natur begründeten Fortdauer des Lebens, d. i. die Unsterblichkeit [als »ein Zustand, in welchem dem Menschen sein Wohl und Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Wert zu Teil werden soll«]. Denn wäre die Fortdauer des Lebens darin nicht begründet, so würde sie nur Hoffnung eines künft igen, nicht aber ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künft iges Leben bedeuten« (VNAEF A 498). »Moralische Selbsterkenntnis« … | 115
Ein Passus aus dem Zweiten Stück der Religionsschrift bringt diese Motive in besonders konzentrierter Weise zum Ausdruck (und zeigt übrigens indirekt an, wie verfehlt der gegen Kants Konzeption des »höchsten Gutes« häufig gerichtete ›Eudämonismus‹-Vorwurf ist): »Da er [der Mensch] also von seiner wirklichen Gesinnung durch unmittelbares Bewußtsein gar keinen sichern und bestimmten Ausdruck bekommen, sondern ihn nur aus seinem wirklich geführten Lebenswandel abnehmen kann: so wird er für das Urteil des künft igen Richters (des aufwachenden Gewissens in ihm selbst, zugleich mit der herbeigerufenen empirischen Selbsterkenntnis) sich keinen andern Zustand zu seiner Überführung denken können, als daß ihm sein ganzes Leben dereinst werde vor Augen gestellt werden, nicht bloß ein Abschnitt desselben, vielleicht der letzte, und für ihn noch günstigste; hiermit aber würde er von selbst die Aussicht in ein noch weiter fortgesetztes Leben (ohne sich hier Grenzen zu setzen), wenn es noch länger gedauert hätte, verknüpfen. Hier kann er nun nicht die zuvor erkannte Gesinnung die Tat vertreten lassen, sondern umgekehrt, er soll aus der ihm vorgestellten Tat seine Gesinnung abnehmen« (RGV B 103 f.). 21 In diesem religionsphilosophischen Kontext ist daran zu erinnern, daß die Erkenntnis des Individuellen (und damit das Urteil darüber, was es gewesen ist bzw. sein wird) allein Gott vorbehalten ist, der als »Herzenskündiger in seiner reinen intellektuellen Anschauung« (RGV B 85) diese »Existenz« im »Ganzen ihres Daseins« wirklich »beim Namen« kennt und auch »ruft« – und nur so auch das ›In-dividuum‹ ›effabile‹ wird. 22 Hier steht Kant offenbar einem Motiv Lichtenbergs bemerkenswert nahe (so, als ob beide Dostojewkis Schuld und Sühne gelesen hätten): »Wenn du die Geschichte eines großen Verbrechers liesest, so danke immer, ehe du ihn verdammst, dem gütigen Himmel, der dich mit deinem ehrlichen Gesicht nicht an den Anfang einer solchen Reihe von Umständen gestellt hat« (G. Chr. Lichtenberg: Sudelbücher. Heft F, 1205 in: Ders.: Schriften und Briefe, hg. von W. Promies, München/Wien 1968 ff., Bd. I, 635). In diesen thematischen Umkreis der »moralischen Selbsterkenntnis« gehört freilich auch Kants Notiz: »Wir müssen uns vor unseren eignen Augen die mechanic unserer eigennützigen Antriebe verbergen« (AA XIX, 113). 23 So heißt es schon in der Religionslehre Pölitz (AA XXVIII, 1087): »Zugleich wird das Gewissen, dieser unbestechliche Richter in uns, einem jeden die ganze Welt seines Erdenlebens vor Augen stellen, und ihn selbst von der Gerechtigkeit des Urteilsspruches überzeugen«. »Gott richtet uns nach unserem Gewissen, dieses ist hier auf Erden sein Stellvertreter« (ebd. 1089). 24 Vgl. RGV B 212 Anm.: »In der heiligen Weissagungsgeschichte der letzten Dinge wird der Weltrichter (eigentlich der, welcher die, die zum Reiche des guten Prinzips gehören, als die Seinigen unter seine Herrschaft nehmen und sie aussondern wird), nicht als Gott, sondern als Menschensohn vorgestellt und genannt. Das scheint anzuzeigen, daß die Menschheit selbst, sich bewußt, 20
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in dieser Auswahl den Ausspruch tun werde; welches eine Gütigkeit ist, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut. – Dagegen kann der Richter der Menschen, in seiner Gottheit, d. i. wie er unserm Gewissen nach dem heiligen von uns anerkannten Gesetze und unserer eignen Zurechnung spricht, vorgestellt (der heilige Geist), nur als nach der Strenge des Gesetzes richtend gedacht werden, weil wir selbst, wie viel auf Rechnung unserer Gebrechlichkeit uns zu Gute kommen könne, schlechterdings nicht wissen, sondern bloß unsre Übertretung mit dem Bewußtsein unserer Freiheit und der gänzlich uns zu Schulden kommenden Verletzung der Pfl icht vor Augen haben, und so keinen Grund haben, in dem Richterausspruche über uns Gütigkeit anzunehmen«: Unverkennbar eine kantische Version des biblischen: »Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, wie er gehandelt hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse« (2 Kor 5,10), die freilich auch einen indirekten Bezug auf Joh 5, 27 nahelegt, wonach der Vater dem Sohn die »Vollmacht gab, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist«. Vgl. 1 Joh 2,1: »Wenn aber einer sündigt, haben wir einen Beistand beim Vater: Jesus Christus.« – Auf diese kantischen Motive hat H. Blumenberg in erhellender Weise hingewiesen und darin gegenüber der Postulatenlehre der zweiten Kritik noch eine besondere Akzentuierung gesehen: »In einer Anmerkung zu einer ›Allgemeinen Anmerkung‹ seiner Religionsschrift hat Kant das Theologumenon in die philosophische Sprache zu übersetzen gesucht, indem er zum Dogma des Weltgerichts diese ›Allegorese‹ liefert. Er schlägt sich auf die Seite der neutestamentlichen Autoren, die in der heiligen Weissagungsgeschichte der letzten Dinge darauf insistieren, daß der Richter des Weltgerichts nicht als Gott, sondern als Menschensohn vorgestellt und genannt werden muß. Diese Differenz scheint Kant anzuzeigen, daß der Gerichtsspruch von der Menschheit selbst, insofern sie ihrer Einschränkung und Gebrechlichkeit sich bewußt sein kann, ausgehen werde. Dies bedeute zwar Gütigkeit, nicht aber Abbruch an der Gerechtigkeit. Wäre der Menschensohn der Richter der Menschen in seiner Gottheit, könnte er nur in der Intimität der Gewissen nach dem von diesen selbst anerkannten Gesetz und der eigenen Zurechnung der Handlungen forschen und urteilen. Gott würde ein nur nach der Strenge des Gesetzes Recht sprechender Richter sein. Das Selbstgericht der Gewissen kann nur absolut sein, weil moralisches Bewußtsein zur Nachsicht nicht legitimiert ist« (H. Blumenberg: Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hg. von M. Sommer, Frankfurt a. M. 2006, 797 f.). 25 Vgl. dazu AA XXII, 118. 26 AA XXI, 15. 27 AA XXII, 129 f. 28 Und auch Kants Bibel-nahes Motiv: »In ihr, der Idee von Gott als moralischem Wesen, leben, weben und sind wir« (AA XXII, 118) steht einer einseitigen Auflösung entgegen, ebenso dies: »Der categorische Imperativ setzt nicht eine zu oberst gebietende Substanz voraus, die außer mir wäre, sondern ist ein »Moralische Selbsterkenntnis« … | 117
Gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft. – Dem ungeachtet ist er doch als von einem Wesen ausgehend, was über alle unwiderstehliche Gewalt hat, anzusehen« (AA XXII, 51). Vgl. auch AA XXI, 35: »Unter Gott versteht man eine Person, die über alle vernünft ige [Wesen] Gewalt hat. – Dieser Begriff bietet auch ein Maximum [gesetzgeberischer Gewalt] (potestas legislatoriae) dar: ein Wesen, vor dem sich alle Knie beugen derer, die im Himmel, auf Erden usw. sind, das höchste Wesen, der Heilige, der nur ein Einiger sein kann«. Und: »Gott ist der Begriff von einem persönlichen Wesen. Ob ein solches existiere, wird in der Transzendentalphilosophie nicht gefragt« (ebd. 45). Vgl. auch: »Es ist ein Gott. Denn es ist eine Macht die aber auch eine Verbindlichkeit für das Ganze vernünft iger Wesen bei sich führt« (AA XXI, 157). Kants (mehrdeutige) diesbezügliche Äußerungen im Opus postumum sind hier nicht zu verfolgen. 29 Das ist gewissermaßen Kants ›Übersetzung‹ des biblischen – dem HiobBuch entnommenen – Motivs: »Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt, als letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Ihn selber werde ich dann für mich [!] schauen; meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust« (Hiob 19, 25 ff.).
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– Laura Anna Macor –
Die Abhängigkeit des Menschen von Gott Zur Endlichkeit als Geschöpflichkeit bei Johann Joachim Spalding
1. Einleitung Der lutherische Theologe Johann Joachim Spalding (1714–1804) steht zum jetzigen Zeitpunkt im Vordergrund der theologischen und philosophischen Dishuitiemistik. Dank der Bemühungen von Forschern wie Joseph Schollmeier1 und Norbert Hinske,2 die seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf Spaldings Rolle für die Theologie und die Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hingewiesen haben, erfreut sich nunmehr der lange Zeit vernachlässigte Pommersche Prediger und spätere Berliner Probst einer breiten Aufmerksamkeit. So wird er in Essays sowie in Monographien behandelt, und zwar nicht nur als Quelle von mehr bekannten Autoren wie Mendelssohn, Schiller, Kant, Fichte und Schleiermacher,3 sondern auch um seiner selbst willen.4 Einen nicht geringen Anteil an dieser regelrechten Renaissance hat der massive Uminterpretationsversuch von Albrecht Beutel und seinen Mitarbeitern gehabt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, nicht nur Spaldings Schriften zum ersten Mal in einer kritischen Edition zugänglich zu machen,5 sondern auch Spaldings Christentumsauffassung zu erhellen und von den vielen späteren Anschuldigungen des leeren Rationalismus und einseitigen Moralismus zu befreien.6 Der vorliegende Aufsatz zielt darauf ab, Spaldings Betrachtung über den menschlichen Zustand als grundsätzliches Nachdenken über die Geschöpflichkeit ans Licht treten zu lassen. Dies wird von der Tatsache erleichtert, daß sich Spalding ab den späten 50er Jahren einer festen Wendung bedient, um diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, und zwar des Begriffs »Abhängigkeit des Men| 119
schen von Gott« (§ 3). Als notwendige Vorbereitung dafür sollen aber zunächst Spaldings Auffassung der Bestimmung des Menschen als dem Menschen von Gott zugedachte Aufgabe und Spaldings eng damit zusammenhängende Annahme einer natürlichen, ebenfalls von Gott gewollten Anlage zum Guten und Wahren thematisiert werden (§ 2). Beide Lehrstücke verweisen nämlich auf das Angewiesensein des Menschen auf seinen Schöpfer und werden somit zur unabdingbaren Basis für jedwede Frage nach der Endlichkeit überhaupt. An- und abschließend soll am Beispiel des hier thematisierten Begriffs Spaldings Beitrag zum theologischen Sprachschatz der Aufklärung kurz hervorgehoben werden (§ 4).
2. Die Bestimmung des Menschen und die moralische Empfindung Spalding stellt von Anfang seiner theologischen Karriere an den Menschen in den Vordergrund seiner Bemühungen. 1748 publiziert er als noch unbekannter angehender Pfarrer eine kurze Schrift, die zum Erfolgsbuch der Aufklärung werden sollte: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Bis 1802 in elf autorisierten Auflagen (11748, 21748, 31749, 41752, 51754, 61759, 7 1763, 81764, 91768, 101774, 111794) herausgegeben und durch viele Raubdrucke sowie durch mehrere Übersetzungen (ins Französische, Niederländische, Lateinische, Schwedische, Tschechische und Russische) in ganz Europa verbreitet,7 stellt dieses Jugendwerk einen regelrechten Bestseller des damaligen Buchmarkts dar. Der titelgebende, ab der siebten Auflage die ganze Überschrift erschöpfende Begriff wird sogar zum sprachlichen Vehikel für theologische wie moral-, geschichts- und religionsphilosophische Überlegungen bis zu Fichtes gleichnamigem Werk von 1800.8 Als meditationsartiger, in erster Person geführter Monolog verfaßt, beschreibt der Text den introspektiven Prozeß eines fiktiven Ich, das über den Sinn seines eigenen Lebens nachdenkt. Angeregt durch die Feststellung der vielen möglichen Lebensarten, die offensichtlich »ganz verschiedenen Grundregeln« folgen, »deren Wehrt und Folgen« aber keineswegs »einerley sein können«, begibt sich der Soliloquist auf die Suche nach dem »sicherste[n], 120 | laura anna macor
anständigste[n] und vortheilhafteste[n]« Weg, das irdische Dasein seiner eigenen Würde gemäß zuzubringen.9 Er spürt in sich selbst »unläugbar eine Fähigkeit zu wählen, und in [s]einen Entschließungen eines dem andern vorzuziehen«, weswegen er am ratsamsten findet, »die ernsthafteste Ueberlegung auf dasjenige« zu richten, »worauf [s]ein eigentlicher Wehrt und die ganze Verfassung [s]eines Lebens ankömmt«.10 Dieser Entschluß führt zu einem stufenförmigen inneren Aufstieg von der Sinnlichkeit über die geistigen Vergnügen und die Tugend zur Religion und Unsterblichkeit, wobei sich das fiktive Ich allmählich seiner Bestimmung zur Rechtschaffenheit und Gottseligkeit bewußt wird. Als Kompaß fungiert dabei die von Shaftesbury übernommene und von Spalding ›rechristianisierte‹ moralische Empfindung, deren Feststellung laut Spalding das große Verdienst des englischen Lords ausmacht. Dessen »Grundsätze von dem moralischen Gefühl« haben den angehenden Pfarrer sogar dazu bewogen, den damals als Deist berüchtigten englischen Philosophen ins Deutsche zu übertragen und einer ausschlaggebenden Uminterpretation zu unterziehen.11 Spalding übersetzt zuerst The Moralists und dann An Inquiry concerning Virtue, or Merit, und läßt die entsprechenden Bände 1745 bzw. 1747 bei Haude und Spener in Berlin erscheinen.12 Shaftesbury spricht dem Menschen das Vermögen zur Einsicht in die wechselseitigen Verhältnisse aller Dinge untereinander und zur davon herrührenden Tugend zu. Dieses Vermögen ist seiner Auffassung nach »angeboren [innate]« und stammt »nur von der Natur […] und von nichts anderem«, so daß das Wort »Instinkt [Instinct]« gewissermaßen zutreffend ist, insofern es das bezeichnet, »was die Natur lehrt, unabhängig von Kunst [Art], Kultur [Culture] oder Erziehung [Discipline]«.13 Spalding eignet sich diese Ansicht an und formt sie in einen christlichen anthropologischen Grundsatz um: Der Mensch verfügt über ein natürliches, von Gott angelegtes Mittel, um über sich selbst klarzuwerden, und dies erlaubt jedem Einzelnen, anhand einer natürlichen Anlage, wenn nicht immer deutliche, so doch klare Begriffe von seiner Bestimmung zu gewinnen.14 Es bereitet demnach keine Überraschung, daß sich das fiktive Ich der Betrachtung über die Bestimmung des Menschen von derartig spontanen, d. h. nicht in seiner Macht stehenden Empfindungen leiDie Abhängigkeit des Menschen von Gott | 121
ten läßt. Jede Stufe seines inneren Aufstiegs ist durch unwillkürliche Nebengefühle gekennzeichnet, die über die Gültigkeit der jeweils erreichten Etappe entscheiden. Bereits am Anfang seines introspektiven Prozesses, noch bevor es sich auf die eigentliche Selbstfindung einläßt, stellt das sprechende Ich fest, daß »die quälende Empfindung der Reue nach vollbrachten Handlungen nicht in [s]einer Gewalt« sei, was es umso mehr zur ernsthaften Überlegung motiviert.15 Diese unmittelbare Erfahrung eines ›Gegebenen‹ im Menschen, das ihm den Weg zeigt, wiederholt sich auf jeder Etappe der Meditation und äußert sich je nach Kontext auf unterschiedliche Weise. Angesichts der sinnlichen Vergnügungen weiß das Ich von »Ekel und Ueberdruß« zu berichten, welche auf jede sinnliche Befriedigung folgen und insofern die Legitimität einer nur der Sinnlichkeit gewidmeten Lebensweise dementieren.16 Angesichts der geistigen, ausschließlich ich-zentrierten Vergnügen stößt der fiktionale Sprecher wiederum auf Grenzen, die sich diesmal durch die Anwesenheit von moralischen, also altruistischen Trieben kundtun: Er entdeckt in seinem Inneren »Empfindungen der Güte und der Ordnung, die [s]ein bloßer Wille nicht gemacht« habe, und »die auch [s]ein bloßer Wille nicht vernichten« könne. Es handele sich dabei um »ursprüngliche und unabhängliche Triebe [s]einer Sele zu dem, was sich schickt, zu dem, was anständig, großmüthig und billig ist, zu der Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit überhaupt, und vornehmlich in den Wirkungen verständiger und freyhandlender Wesen«.17 Ausdruck dafür seien beispielsweise die »Scham«, die »so oft von aller Besorgniß eines Schadens abgesonderte Reue«18 und das lebendige Interesse an der »Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts«, welche unmittelbar und spontan bei ihm einträten.19 Der Soliloquist erkennt anschließend in einem fast programmatischen Ton, er selbst habe keine Macht über solche Neigungen, die sich in die Ordnung des Weltganzen einfügen ließen und den darin waltenden Verhältnissen entsprächen. Es stehe letztendlich »nicht bey [ihm], die Beziehungen der Dinge unter einander […], noch auch [s]eine Empfindungen davon zu ändern«, weswegen »kein anderer Weg« ihm bevorstehe, als daß er sich so »verhalte, wie es denselben gemäß ist«.20 Selbst der darauffolgende Übergang zur Religion findet seine Entsprechung im Inneren des fiktionalen Sprechers, der »mit ei122 | laura anna macor
nem entzückenden Schauder[,] die Wirklichkeit [eines] obersten Geistes« wahrnimmt, oder besser: »empfinde[t]«.21 Gleichermaßen wird der letzte Schritt, der zur Unsterblichkeit führt, von den inneren Anlagen des Menschen gutgeheißen, denn das fiktive Ich gelangt über die Feststellung der auf der Erde waltenden Ungerechtigkeit, die den soeben entdeckten moralischen Trieben widerspricht, zur Anerkennung der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit seiner eigenen Eigenschaften und der Einfachheit der Seele. Es ist wohl kein Zufall, daß dabei auf folgende Wendungen zurückgegriffen wird: »Ich spüre …«, und »meiner deutlichen Empfindung nach«.22 Der Protagonist des Selbstgesprächs führt die moralische Empfindung, die sich des weiteren auf dunkle Weise schon bei der anfänglichen Reue wie beim sinnlichen Ekel und Überdruß kundgemacht hatte, ausdrücklich auf Gott zurück. Bei seinem »Gewissen« handele es sich um »eine göttliche Stimme«, um »die Stimme der ewigen Wahrheit, die in [ihm] red[e]« und »sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde [s]einer Sele hören« lasse.23 Nur weil er dieser inneren Stimme ehrlich gefolgt sei, habe er sich über »das große Ziel« klar werden können, dazu er »durch [s]eine Natur und von [s]einem Urheber bestimmet« sei, »nämlich rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glückselig zu sein«.24 Das fiktive Ich gelangt also dank eines natürlichen Gefühls zur Einsicht in seine Bestimmung. Es ist dabei zu beachten, daß in beiden Kernstücken, im Mittel (moralische Empfindung) und im Ziel (Bestimmung), die menschliche Geschöpflichkeit zur Sprache kommt. Der Mensch besitzt zwar eigene Mittel, um zu richtigen Ergebnissen zu gelangen, verdankt sie aber keineswegs sich selbst, sondern einem übergeordneten Schöpfer. Öfters begegnende Adjektive und Ausdrücke, die auf die Unabhängigkeit der moralischen Neigungen vom menschlichen Willen aufmerksam machen (»nicht in meiner Gewalt«, »die mein bloßer Wille nicht gemacht hat, und die auch mein bloßer Wille nicht vernichten kann«, »unabhängliche Triebe«, »es nicht bey mir steht […] zu ändern«),25 stehen hierfür als Beweis. Darüber hinaus geben diese dem Menschen eingeschriebenen Triebe über eine Bestimmung Aufschluß, die wiederum nicht vom Menschen stammt, sondern ihm schlicht und einfach auferlegt ist. Der mehrdeutige Terminus ›Bestimmung‹ bezeichnet bei Spalding – sowie bei den ihm in theologischer Hinsicht nahesteDie Abhängigkeit des Menschen von Gott | 123
henden August Friedrich Wilhelm Sack und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem26 – die Absicht, die Gott bei der Erschaffung des Menschen gehabt hat, und aus diesem Grund birgt die Rede von der ›Bestimmung des Menschen‹ ein entscheidendes Maß an Passivität in sich (in der Erlangung der Aufgabe, nicht in deren Erfüllung). Die Tatsache, daß Spaldings fiktives Ich den Gegenstand seiner Betrachtung explizit mit dem Zweck identifiziert, wozu es von seiner Natur und von Gott bestimmt worden ist, mag hier als Beweis ausreichen.27 Die Bestimmung des Menschen rührt also von Gottes Willen her und stellt die dem Menschen von ihm zugedachte Aufgabe dar (was natürlich nicht im mindesten ausschließt, daß der Mensch sie mit Absicht vernachlässigen und verfehlen kann). ›Bestimmung‹ beinhaltet insofern das Angewiesensein des Menschen auf seinen Schöpfer, der ihn erschaffen und folglich mit einem Endzweck versehen hat. Die anhand eines gegebenen Gefühls aufgefundene, von Gott auferlegte Bestimmung wird somit zur unentbehrlichen Grundlage für die Erörterung der Geschöpflichkeit unter einer anderen Leitformel.
3. Die Abhängigkeit des Menschen von Gott Spaldings Nachdenken über den menschlichen Zustand findet seinen reifsten Ausdruck in der Formel ›Abhängigkeit von Gott‹. Dabei handelt es sich um eine Wendung, die angesichts Spaldings eher fließenden Sprachgebrauchs – bei ihm gelten z. B. die Wörter ›Empfindung‹, ›Gefühl‹ und ›Neigung‹ öfters als Synonyme – mit erstaunlicher Kontinuität verwendet wird. Sie bezeichnet die Tatsache, daß der Mensch alles Gott verdankt, und nicht einmal seine natürlichen Kräfte und deren Ergebnisse dem eigenen Verdienst zuschreiben darf. So wenig außer Zweifel steht, daß die Überzeugung der menschlichen Dependenz von Gott tief in Spaldings christlicher Auffassung verankert ist und der Sache nach, sogar in der verbalen Formulierung bereits in seinem Jugendwerk Betrachtung über die Bestimmung des Menschen zu finden ist,28 ebensowenig ist anzuzweifeln, daß nach dem heutigen Stand der Forschung der genaue Wortlaut der Formel erst Ende der 50er Jahre auftaucht. 124 | laura anna macor
Der bei Spalding in Barth zu Gast weilende Johann Kaspar Lavater berichtet 1763, er habe eine »Predigt von Sp[alding] von den Leitungen Gottes, gehalten Epiph[anias] 1758«, gelesen und zitiert daraus einen Passus, in dem die Rede von »unser[er] Abhängigkeit von Gott« ist.29 Von diesem Moment an findet sich die Formel fast unverändert bei Spalding, und zwar mit zunehmender Frequenz. Sie begegnet nämlich nicht nur in neuen Schriften, sondern wird auch in die Neuauflagen einiger zuvor bereits erschienener Schriften eingefügt. In den Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum spricht Spalding bereits in der ersten Auflage (1761) von der menschlichen »Abhängigkeit von Gott« und fügt dann in die zweite (1764) und dritte (1769) weitere Hinweise auf die Tatsache hinzu, daß es sich um eine »gänzliche Abhängigkeit« handelt.30 In der siebten Auflage der Bestimmung des Menschen (1763) begegnet man dem Ausdruck als lexikalischer Neuheit dieser Ausgabe, die in den folgenden beibehalten wird;31 in der programmatischen Schrift Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung finden sich, und zwar in allen drei Auflagen (11772, 21773, 31791), mehrere Stellen, an denen die »Erkentniß unserer Abhängigkeit von Gott, seiner Regierung, seiner Wohltaten und seiner Vergeltung«, »das Gefühl unserer gänzlichen Abhängigkeit von seiner Gnade« und die »nothwendig[e] Empfindung seiner [eigenen] gänzlichen Abhängigkeit von Gott« behandelt werden.32 In den Vertraute[n] Briefe[n], die Religion betreffend verweilt Spalding kurz in der ersten Auflage (1784) bei der »seligen Abhängigkeit von Gott« und ab der zweiten (1785) bei der »Empfindung unserer Abhängigkeit von Gott«.33 Auch in allen Auflagen des Alterswerks Religion, eine Angelegenheit des Menschen stößt man auf Spaldings These der »Abhängigkeit und Beglückung denkender und empfindender Wesen von einer regierenden Gottheit«,34 die auch eine verbale Formulierung findet und in der dritten bis vierten Ausgabe in einem neu hinzugefügten Passus wiederholt wird.35 Mag schon diese Aufzählung allein als beweiskräftig für die Zentralität der hier besprochenen Formel angesehen werden, soll man aber dazu noch die viel beweiskräftigere Liste der Vorkommnisse in den Predigten Spaldings berücksichtigen, die ein breites Spektrum an sprachlichen Lösungen und Kontextualisierungen aufweisen. Die Abhängigkeit des Menschen von Gott | 125
1763 soll Spalding Lavater zufolge seinen Konfirmanden die These beigebracht haben, der »Glaube[n] an Gott« sei die »Erkenntniß unserer Abhängigkeit von ihm«,36 und von der Wichtigkeit dieser Lehre in pastoraler Hinsicht scheint er nie abgewichen zu sein. Seit 1765 wiederholt er vor seiner Gemeinde den Ausdruck wörtlich37 oder verbal variiert,38 und zwar in einer solch hohen Anzahl, daß man legitimerweise von einem Grundbegriff der Theologie, oder besser, der Religionstheologie Spaldings sprechen darf. Drei Fragen drängen sich folglich auf: Aus welcher Quelle hat Spalding diesbezüglich geschöpft? Wann und wie ist Spalding mit dieser Quelle vertraut geworden? Gewinnt das Profil von Spalding als Theologen damit an neuen Konturen? Spalding ist nicht der erste deutsche Theologe, der auf den Begriff zurückgreift: Der etwas ältere, mit Spalding befreundete und später verwandte August Friedrich Wilhelm Sack verwendet ihn bereits 1742. In einer Predigtsammlung beschreibt er nämlich das Verhältnis des Menschen zu Gott als eine »völlige Abhänglichkeit von ihm« und bestimmt demgemäß die Menschen als »schlechterdings und in allen Stücken abhängliche Geschöpfe von Gott«.39 Wenige Jahre danach betont Sack diese Überzeugung und nimmt sich vor, seinen Leser zum Bewußtsein »seine[r] gänzliche[n] Abhänglichkeit«,40 »[s]eine[r] gäntzliche[n] und beständige[n] Abhänglichkeit von diesem alleinigen allerhöchsten Wesen« zu führen,41 denn »all[e] vernünftigen Geschöpf[e] ohne Unterschied« unterlägen dem »große[n]«, »allgemeine[n] und ewige[n] Natur-Gesetz« der »gäntzliche[n] Abhängligkeit von ihrem allgemeinen Schöpfer und Herrn«.42 Denn nur dadurch, daß sie Einsicht in »ihre gäntzliche Abhänglichkeit von ihrem allmächtigen Schöpfer und Erhalter« gewönnen und »sich von ihm führen« ließen, könnten die vernünftigen Geschöpfe ihren Endzweck erfüllen.43 Spalding stand ab 1745 in Kontakt mit Sack, den er während eines kurzen Berliner Aufenthalts kennenlernte. Ende 1745 kehrte Spalding in die preußische Hauptstadt zurück, wo er als Sekretär der schwedischen Gesandtschaft bis zum Frühling 1747 blieb. In dieser Zeit bemühte er sich um die Erneuerung »gute[r] Bekanntschaften«, worunter er diejenige zu Sack als besonders wichtig einschätzte: Dieser habe »bey [ihm] in zu hohem Werthe« gestanden, »als daß [er] nicht seinen Umgang hätte suchen sollen«.44 Sack erwiderte 126 | laura anna macor
Spaldings Hochachtung und zeichnete den jüngeren angehenden Prediger mit »seine[r] Gunst, sein[em] Vertrauen, und […] seine[r] Freundschaft« aus. Er ließ ihn »seine vortreffliche Bibliothek« benutzen und pflegte mit ihm einen ständigen Verkehr, und all dies hat Spalding zur Behauptung motiviert, er sei durch den Umgang mit Sack »unterrichtet und gebessert worden«.45 Es hat also zunächst den Anschein, als verdankte Spalding seinem Freund und Kollegen Sack die Rede von der ›Abhängigkeit des Menschen von Gott‹. Tatsache ist aber, daß Sack selbst den Ausdruck wohl einer anderen Quelle entnommen hat, und zwar nach dem heutigen Stand der Forschung dem Werk A plain account of the nature and end of the Sacrament of Lord’s-Supper, und insbesondere dem dazu beigefügten Anhang Form of Prayers, vom englischen Bischof Benjamin Hoadly.46 Dieser sah in der »Dependence upon Him [= God]«, in der »Dependence upon his great Mercy«, in »our Dependence upon GOD«, in der »entire dependence upon thy [= your] Wisdom, Power, and Goodness« und in der »dependence upon Thee [= you] alone« den Grund des wahren Glaubens.47 Die Menschen seien »dependent, reasonable, and social Creatures« und hätten das entsprechende Gefühl in sich selbst zu kultivieren, um mit Recht andächtig genannt zu werden.48 Sack scheint diese Wendungen bereits in den 30er Jahren rezipiert und deswegen im folgenden Jahrzehnt gebraucht zu haben. Wieso hat Spalding sie aber erst Ende der 50er Jahre übernommen? Immerhin dürfte sein Umgang mit Sack 1745–1747 ihn schon damals von Sinn und Wichtigkeit der Abhängigkeitsthese überzeugt haben. Eine sichere und eindeutige Antwort auf diese Frage läßt sich nicht geben, es lassen sich aber wohl Vermutungen anstellen. 1758 erschien die deutsche, mit einer Vorrede von Sack versehene Ausgabe von Hoadlys Werk,49 die Spalding nachweislich besessen und mit seinem Gast Lavater und dessen Freunden auch positiv kommentiert hat.50 Es gibt einiges, das zu der Annahme berechtigt, diese Übersetzung sei die eigentliche Quelle und Anregung zur Aufnahme des hier thematisierten Begriffs bei Spalding gewesen: Spalding hat nach Lavaters Bekunden erst und genau 1758 seine Gemeinde und nach den von vielen Seiten durchgeführten Untersuchungen ab 1761 seine Leser auf die menschliche Abhängigkeit von Gott hingewiesen; er hat außerdem in der siebten Auflage (1763) Die Abhängigkeit des Menschen von Gott | 127
der Bestimmung des Menschen das ungewöhnliche Lexem ›Abhänglichkeit‹ verwendet,51 das an die Wörter ›Abhänglichkeit‹ bzw. ›abhänglich‹ der deutschen Ausgabe erinnert.52 Es lassen sich jedoch berechtigte Gegenargumente ins Feld führen, die diese Vermutung in Frage stellen: Spalding soll zwar erst 1758 den oben genannten Begriff verwendet haben, aber bereits zu Epiphanias, also vor dem Erscheinen der deutschen Ausgabe von Hoadlys Werk, die zumindest nach dem der Vorrede Sacks vorangestellten Datum, dem 8. April 1758, veröffentlicht worden sein muß. Spalding hat zuerst das Lexem ›Abhängigkeit‹ und erst dann und anscheinend episodisch das ungewöhnlichere, des weiteren bereits von Sack in den 40er Jahren benutzte ›Abhänglichkeit‹ verwendet (die drei Belegstellen des Begriffs ›Abhänglichkeit‹ in der siebten Auflage der Bestimmung des Menschen stellen insofern eine Art ›dreifachen Hapax‹ dar). Hoadly ist nicht der einzige, der von ›dependence upon God‹ spricht: Samuel Clarke und John Tillotson (aber die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortführen) beziehen sich bereits vor ihm darauf.53 Eine vollständig(er)e Begriffsgeschichte würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, und aus diesem Grund sollen diese knappen Hinweise nur als Anregung und Aufforderung zum Weiterforschen aufgefaßt werden. Infolgedessen kann man hier zur Frage nach der theologischen Bedeutung der ›Abhängigkeit des Menschen von Gott‹ bei Spalding voranschreiten. Der Verweis auf das menschliche Angewiesensein auf Gott im Rahmen einer christlichen Theologie mag auf den ersten Blick selbstverständlich und überflüßig scheinen, er spielt jedoch eine entscheidende Rolle in der theologischen Szene der Neuzeit. Angesichts seiner Offenheit für die neueren apologetischen westeuropäischen Tendenzen wie auch für Autoren wie Shaftesbury, der sogar als Deist galt, war Spalding (nicht nur) zu seinen Lebzeiten der Heterodoxie, wenn nicht sogar des Deismus beschuldigt. Seine Überzeugungen galten als pelagianisch und er wurde – wie des weiteren Sack selbst – unter diejenigen »neuern Reformatoren« eingeordnet, deren Lehren den Grund für den damals zunehmenden »Naturalismus« und die parallel wachsende »Irreligion« gelegt hätten.54 Stein des Anstoßes war letztendlich die Zuversicht in die menschlichen Fähigkeiten, die man in allen Schriften Spalding immer wieder antraf und als im Gegensatz zur Allmacht Gottes stehend empfand. 128 | laura anna macor
Sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in moralischer Hinsicht wurden entsprechende Kritiken eingebracht: 1748 ist von »Undankbarkeit gegen die göttliche Offenbarung« und von Unterschätzung der »übernatürlichen Kräften der Gnade« die Rede,55 1754 von Überschätzung der »Natur und innerliche[n] Beschaffenheit des Menschen«,56 1756 von falscher Betrachtung der »Seeligkeit«, die in Wahrheit »Gabe« sei, als menschliches Verdienst;57 1764 von Anschuldigungen »des Pelagianismus und des Socinianismus«.58 Spalding spricht zwar der Natur und den Eigenschaften des Menschen eine wichtige (nicht ausschließliche!) Rolle zu, was die Erkenntnis Gottes sowie die Ausübung der Tugend und die folgende Erlangung der Seligkeit angeht. Er vertritt aber diese Auffassung, nur weil er in der Natur und in den Eigenschaften des Menschen lauter Gaben Gottes sieht und sie insofern als Wirkungen von dessen Gnade betrachtet. Es findet demnach keine Trennung zwischen Natur und Offenbarung bzw. Gnade statt, da alles, die Natur eingeschlossen, seine Existenz Gott verdankt und ohne ihn nicht denkbar ist. »Alles das, wodurch wir zu etwas Gutem geschickt sind, alle Fähigkeiten, alle Veranlassungen, alle Mittel dazu sind das Werk unsers barmherzigen Schöpfers und Vaters, sie mögen uns nun zu Theil werden, auf welchem Wege sie wollen«.59 Aus diesem Grund teilt Spalding nicht im mindesten die lutherische und reformierte orthodoxe Herabwürdigung des Natürlichen und Sinnlichen, denen er vielmehr denselben Wahrheitsgehalt wie der direkten göttlichen Mitteilung zuerkennt: Die »vermittelst der Natur und Vernunft« gewonnene Erkenntnis ist die »erst[e] und ältest[e] Offenbarung Gottes« und darf also keineswegs als bloß menschlich angesehen werden, denn sie rührt in Wirklichkeit von Gott selbst her.60 Führt man sich dies nicht immer vor Augen, läuft man Gefahr, in »das eigentliche Sträfliche des Pelagianismus«, sprich »die Abgötterey gegen sich selbst«, zu fallen.61 Es dürfte nach alledem klar sein, in welchem Sinne die Wendung ›Abhängigkeit des Menschen von Gott‹ bedeutungsvoll ist. Nicht von ungefähr begegnet sie u. a. in einem Passus, der ausgerechnet der Vorbeugung jeglichen ungerechtfertigten Stolzes gewidmet ist: »Es ist offenbar, daß wir der göttlichen Gnade alles zu danken haben, was zum Heil unserer Seelen erfordert wird; und wir würDie Abhängigkeit des Menschen von Gott | 129
den uns der strafbarsten Undankbarkeit schuldig machen, wenn wir unsere guten Erkenntniße, unsere Tugend, unsere Seligkeit selbst so als unser eigenes Werk ansehen wollten, daß es bloß von uns herrührete, oder auf unserer Seite etwas Verdienstliches seyn könnte. Wir können uns nicht genug daran erinnern, wie sehr wir darin alles dem höchsten Urheber unsers Wesens und unserer Wohlfahrt zuzuschreiben haben, damit ja die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von ihm stets in unsern Herzen lebendig erhalten werde.«62 Die Abhängigkeit von Gott, die auf nur scheinbar paradoxe Weise sowohl die Rehabilitation der menschlichen Natur als auch die Bestätigung der menschlichen Dependenz zum Ausdruck bringt, wird mit Rekurs auf die Adjektive ›gänzlich‹,63 ›gänzlich und allgemein‹,64 ›selig‹,65 ›beständig‹,66 ›offenbar‹67 näher präzisiert und wird vornehmlich mit Substantiven oder Wendungen verbunden, die die konstitutive menschliche Schwäche bezeichnen – es geht immer wieder um die ›Ohnmacht‹,68 die ›Demuth‹,69 die ›Unvollkommenheit‹,70 die ›Schuldigkeit‹ oder ›Verbindlichkeit‹71 gegenüber Gott. Die Art und Weise des Innigwerdens dieses Abhängigkeitsverhältnisses ist je nach Kontext und ohne sachliche Unterschiede als emotionaler oder intellektueller Prozeß bestimmt, dessen Ergebnis folglich eine ›(lebhafte) Erinnerung‹ bzw. ein ›Erinnern‹,72 ein ›(lebendiges) Gefühl‹ bzw. ein ›Fühlen‹,73 eine ›(innigste, notwendige, lebhafte, lebendige, beständige, herrschende) Empfindung‹ bzw. ein ›Empfinden‹,74 ein ›Durchdrungensein‹,75 eine ›Erkenntnis‹ bzw. ein ›Erkennen‹,76 ein ›Gedanke‹ bzw. ein ›Denken‹77 oder zuletzt eine ›Überzeugung‹ ist.78 In einem Fall werden sogar die emotionale und intellektuelle Seite zusammen behandelt und nebeneinander gestellt: Der Mensch solle sich darum bemühen, seine »gänzliche Abhängigkeit von Gott […] beßer kennen zu lernen und lebhafter zu empfinden«.79 Auf gleiche Weise hatte sich das fiktive Ich der Betrachtung über die Bestimmung des Menschen bereits 1748 einem Gefühl bzw. einer Empfindung anvertraut, das bzw. die es aber auch zum Erkennen im reinen Sinne, und zwar insbesondere dazu geführt hatte,»[s]ein Gedächtniß zu bereichern, [s]eine Begriffe aufzuklären, [s]einen Witz zu schärfen, [s]eine Einsicht zu erweitern und zu befestigen«.80 130 | laura anna macor
Angesichts des vielschichtigen (und keineswegs verwirrten) kognitiven Modells Spaldings kann man also von einer ganzheitlichen Einsicht in die menschliche Abhängigkeit von Gott ausgehen, was den Kern der wahren Religion und der davon herrührenden inneren Gesinnung ausmacht. Daß sich der Mensch dieses sein Verhältnis zu Gott stets vor Augen hält, stellt die eigentliche Bedingung für das Zustandekommen der echten Frömmigkeit dar, die weder hoffnungslose Verzweiflung wegen des grundsätzlichen Unvermögens des Menschen zu jeglicher Entscheidung (lutherische und reformierte Dämonisierung des Natürlichen) noch ungerechtfertigte Erhöhung der Vernunft (Pelagianismus) ist. Im ersten Fall kann der Mensch nicht umhin, müßig zu bleiben und auf Gottes Hilfe wie auf »ein bloß willkührliches Geschenk« zu warten;81 im zweiten Fall ist er »sich selbst sein Gott«.82 Insoweit ist es also möglich, Spaldings anscheinende sprachliche Paradoxie zu verstehen, und zwar seine parallele Betonung der Unabhängigkeit der menschlichen Gefühle (§ 2) und der Abhängigkeit des Menschen von Gott. Der Mensch ist und bleibt ein Geschöpf, das also über eine von ihm unabhängige natürliche Ausstattung verfügt, und ist trotzdem, oder besser, eben deswegen als von Gott abhängig anzuerkennen. Daß er überdies ein vernünftiges Geschöpf ist, bringt es mit sich, das er es sich zur Aufgabe machen soll, der Einsicht in seine Abhängigkeit gemäß zu handeln und zu leben. Endlichkeit ist sein Grundzug und selbstbewußte Endlichkeit seine Pflicht.
4. Schlußbetrachtungen Spaldings Umgangsweise mit dem theologischen Sprachschatz seiner Zeit und sein Beitrag zur Theologie ergibt sich aus den soeben angestellten Betrachtungen. Der Sache nach mit der menschlichen Abhängigkeit von Gott seit jeher vertraut, übernimmt er den betreffenden, ihm auf welchem Weg auch immer bekannt gewordenen Ausdruck und etabliert ihn als einen theologisch-religiösen Begriff. Spalding scheint des weiteren die Gabe gehabt zu haben, sich von anderen Autoren gebildete oder verwendete Begriffe anzueignen und fruchtbar werden zu lassen. Zwei weitere Beispiele stehen hierDie Abhängigkeit des Menschen von Gott | 131
für als Beweis: ›Bestimmung des Menschen‹ und ›Religion als Angelegenheit des Menschen‹ stellen Grundbegriffe der Aufklärung dar, die bis in den Idealismus und die Frühromantik hinein vordringen. Genauso wie ›Abhängigkeit des Menschen von Gott‹ verdanken sie Spalding ihre Sichtbarkeit, keineswegs aber ihre Prägung.83 Daß in allen drei Fällen der Mensch aus religiöser Perspektive, je als unter der Bestimmung Gottes stehend, an Gott (existentielles) Interesse nehmend oder von Gott abhängend, erörtert wird, sei hier nur als Hinweis auf die entscheidende Vorbereitungsrolle der Aufklärung in Bezug auf die spätere Religionsphilosophie und -theologie erwähnt. Anmerkungen
Vgl. J. Schollmeier: Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967. 2 Vgl. u. a. Die Bestimmung des Menschen, hg. von N. Hinske, Hamburg 1999. 3 Vgl. beispielhaft A. Altmann: Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, 84–108; W. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würzburg 1985, 156–176; L. Fonnesu: Antropologia e idealismo. La destinazione dell’uomo nell’etica di Fichte, Roma-Bari 1993; S. Lorenz: Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte über Johann Joachim Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹, in: M. Albrecht / E. J. Engel / N. Hinske (Hg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, Tübingen 1994, 113–133; A. Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), in: Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 266–298; R. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007; G. Landolfi Petrone: La voix de la raison: la ›Bestimmung des Menschen‹ d’après l’itinéraire kantien, in: L. Bianchi / J. Ferrari / A. Postigliola (Hg.): Kant et les Lumières européennes, Neapel – Paris 2009, 73–81; L. A. Macor: Spalding e Kant. Illuminismo e criticismo a confronto, in: L. Ribeiro Dos Santos / U. R. de Azevedo Marques / G. Piaia / M. Sgarbi / R. Pozzo (Hg.): Was ist der Mensch/Que è o homem? Antropologia, Estética e Teleologia em Kant, Lisboa 2010, 537–553. 4 Vgl. A. U. Sommer: Sinnstift ung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 8, 2001, Heft Nr. 2, 163–200; U. Dreesmann: Aufklärung der Re1
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ligion. Die Religionsphilosophie Johann Joachim Spaldings, Stuttgart 2008; A. Kubik: Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹ als Grundtext einer aufgeklärten Frömmigkeit, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, 16, 2009, Heft Nr. 1, 1–20; G. Landolfi Petrone: La ›Bestimmung des Menschen‹ in Johann Joachim Spalding, in: L. Bianchi / G. Paganini (Hg.): L’umanesimo scientifico dal Rinascimento all’Illuminismo, Napoli 2010, 357–370; C. Tippmann: Die Bestimmung des Menschen bei Johann Joachim Spalding, Leipzig 2011. 5 Seit 2001 erscheint beim Verlag Mohr Siebeck die Kritische Ausgabe von Spaldings Werken (= SpKA), hg. von A. Beutel u. a., deren erste Abteilung Spaldings Schriften, deren zweite Spaldings Predigten enthält. 6 Als einschlägige Leistungen hierfür gelten die folgenden Studien: A. Beutel: Johann Joachim Spalding. Populartheologie und Kirchenreform im Zeitalter der Aufklärung, in: P. Walter / M. H. Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts: konfessionelles Zeitalter, Pietismus, Aufklärung, Darmstadt 2003, 226–243; ders.: Aufklärung des Geistes. Beobachtungen zu Spaldings Pfingstpredigt ›Der Glaube an Jesum, als das Mittel zur Seeligkeit‹, in: A. Beutel / V. Leppin / U. Sträter (Hg.): Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit, Leipzig 2006, 119–128; ders.: Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006. 7 Vgl. Die Bestimmung des Menschen, SpKA, Abt. I, Bd. 1, XXV–XXVII. 8 Zu dieser seit langem als dringendes Desiderat der Forschung angesehenen Begriffsgeschichte erlaube ich mir auf mein nächstes, in Kürze erscheinendes Buch zu verweisen: L. A. Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. 9 Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1 1748), SpKA, Abt. I, Bd. 1, 1. 10 Ebd. 11 Lebensbeschreibung, SpKA, Abt. I, Bd. 6/2, 124. 12 A. A. Cooper, Th ird Earl of Shaftesbury: Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen, aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury [sic] übersetzt [v. Johann Joachim Spalding] nebst einem Schreiben an den Übersetzer, Berlin 1745, Nachdruck: hg. von H. F. Klemme, Bristol 2001; ders.: Untersuchung über die Tugend, aus dem Englischen […] übersetzt [v. Johann Joachim Spalding], Berlin 1747. Zu Spaldings Umgang mit Shaftesbury siehe M.-G. Dehrmann: Das ›Orakel der Deisten‹. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008, 130–139. 13 Th e Moralists, in: A. A. Cooper, Th ird Earl of Shaftesbury: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit paralleler deutscher Übersetzung, hg., übersetzt u. kommentiert von G. Hemmerich / W. Benda / Chr. Jackson-Holzberg / F. A. Uehlein / E. Wolff, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 ff., Abt. II, Bd. 1, 340 (englischer Urtext); Abt. II, Bd. 3, 316 f. (deutsche Übersetzung). Die Abhängigkeit des Menschen von Gott | 133
Spalding ist sich 1775 klar bewußt, man habe »[n]icht von jedem zu verlangen, daß seine Einsichten und Begriffe von Gott gleich deutlich, vollständig, gründlich seyn sollten«, da »Fähigkeiten, Gelegenheiten, Umstände […] darin einen großen Unterschied« machten. »In den Hauptstücken« sei jedoch die Erringung richtiger Einsichten »leicht« (Barther Predigtbuch, SpKA, Abt. II, Bd. 5, 354). 15 Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1 1748), SpKA, Abt. I, Bd. I, 1. 16 Ebd., 5. 17 Ebd., 8. 18 Ebd. 19 Ebd., 11 f. 20 Ebd., 13. 21 Ebd., 15. 22 Ebd., 20 f. 23 Ebd., 17. 24 Ebd., 24 f. 25 Vgl. Anm. 15, 17 und 20. 26 Vgl. J. F. W. Jerusalem: Sammlung einiger Predigten vor den Durchlauchtigsten Herrschaften zu Braunschw. Lüneb. Wolffenbüttel gehalten, Braunschweig 1745, 28, 401; A. F. W. Sack: Vertheidigter Glaube der Christen. Erstes Stück, Berlin 1748, 14, 16 f., 58. 27 Vgl. Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1 1748), SpKA, Abt. I, Bd. 1, 13, 24 f. 28 Vgl. ebd., 15, 134 (»etwas, von dem alles, was ich bisher bewundert habe, abhänget«). 29 J. K. Lavater: Reisetagebücher, 2 Bde., hg. von H. Weigel, Göttingen 1997, Bd. I, Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, hg. von H. Weigel in Zusammenarbeit mit T. Flache-Neumann/R. Deinzer, Göttingen 1997, 138 (16. Juli 1763). Der erste und einzige, der sich mit diesem Thema bei Spalding beschäft igt hat, ist A. Beutel: Aufklärer höherer Ordnung?, 291–295; ders.: Frömmigkeit als ›die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott‹. Die Fixierung einer religionstheologischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II. von Preußen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 106, 2009, Heft Nr. 2, 177–200, wiederabgedruckt in: A. Kubik (Hg.): Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch-theologische Zusammenhänge, Göttingen 2011, 88–109. 30 Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (1 1761), SpKA, Abt. I, Bd. 2, 124; (21764), ebd., 120, 182, 183; (31769), ebd., 51, 74. Alle diese Stellen bleiben in der jeweils folgenden Ausgabe unverändert, die vierte (1773) und die fünfte (1784) eingeschlossen. 31 Die Bestimmung des Menschen ( 7 1763–101774), SpKA, Abt. I, Bd. 1, 201, 233; (71763–111794), ebd., 305; (91768–101774), ebd., 195; (111794), ebd., 221. 14
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Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772, 21773, 31791), SpKA, Abt. I, Bd. 3, 70, 193. 33 Vertraute Briefe, die Religion betreffend, (11784), SpKA, Abt. I, Bd. 4, 118; (21785–31788), ebd., 80. 34 Religion, eine Angelegenheit des Menschen (11797), SpKA, Abt. I, Bd. 5, 97; (21798, 31799, 41806), ebd., 98. 35 Religion, eine Angelegenheit des Menschen (11797–41806), ebd., 29 (»von dem ich gänzlich abhange«); (31799–41806), ebd., 36 (»Abhängigkeit von demselben«). Vgl. auch Von dem Wesentlichen der Religion und von dem Unterscheidenden des Christenthums (1794), SpKA, Abt. I, Bd. 6/1, 388 (»das höhere Wesen, von welchem er abhängt«). 36 Lavater: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, 170. 37 Vgl. Predigten (1 1765, 21768, 31775), SpKA, Abt. II, Bd. 1, 35, 241; Neue Predigten (11768, 21770, 31777), SpKA, Abt. II, Bd. 2, 73, 77, 94, 213, 220, 260, 268; Barther Predigtbuch. Nachgelassene Manuskripte, SpKA, Abt. II, Bd. 5, 15 (1771), 205, 256 (1774), 386, 416 (1775); Neue Predigten. Zweyter Band (1784), SpKA, Abt. II, Bd. 3, 42 (1774); Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, König von Preußen, Berlin 1786, 32. 38 Vgl. Predigten (11765, 21768, 31775), SpKA, Abt. II, Bd. 1, 210, 274; Barther Predigtbuch. Nachgelassene Manuskripte, SpKA, Abt. II, Bd. 5, 151 (1773), 354 (1775); Predigten größtentheils bey außerordentlichen Fällen gehalten (1775), SpKA, Abt. II, Bd. 4, 145 (1770), 233 (1773); Neue Predigten. Zweyter Band (1784), SpKA, Abt. II, Bd. 3, 192, 255, 265; J. J. Spalding: Von der Einigkeit in der Religion. Eine erweiterte Predigt, Berlin 1786, 31. 39 A. F. W. Sack: Predigten über verschiedene wichtige Warheiten [sic] zur Gottseligkeit. Dritter Theil, Berlin 1742, 176, 197. 40 Ders.: Vertheidigter Glaube der Christen. Erstes Stück, Berlin 1748, 12. 41 Ebd., 24. 42 Ebd., 81. 43 Ders.: Vertheidigter Glaube der Christen. Siebentes Stück, Berlin 1750, 108. Diese Zitate sollen hier nur als Beispiel gelten, da Sack an vielen Stellen auf Termini wie ›Abhänglichkeit‹ und ›abhängen‹ zurückgreift. Es würde sich lohnen, eine spezielle Untersuchung dazu zu verfassen. 44 Lebensbeschreibung, SpKA, Abt. I, Bd. 6/2, 130. 45 Ebd. 46 Vgl. M. Pockrandt: Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack und Friedrich Samuel Gottfried Sack, Berlin – New York 2003, 553. 47 [B. Hoadly:] A plain account of the nature and end of the Sacrament of Lord’s-Supper […]. To which are added, Forms of Prayers, London 1735, 105, 114, 195, 204, 217. 48 Ebd., 195. 32
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B. Hoadly: Deutlicher Unterricht von der Natur und dem Zwecke des Heiligen Nachtmals [sic] […]. Aus dem Englischen übersetzt; mit einer Vorrede des Königl. Preußischen Hof-Predigers A. F. W. Sacks von der Redensart: Seine Andacht haben, Berlin – Potsdam 1758. 50 Vgl. Verzeichniß der vom verstorbenen Oberkonsistorialrath und Probst zu Berlin Herrn Spalding hinterlassenen sehr ansehnlichen und wichtigen Sammlung von griech. u. römisch. Klassikern, philolog. histor. litterar. itinerar. schönwiss. theolog. und vermischten Büchern […], Berlin 1804, 180 (Nr. 149); Lavater: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, 416 (2. Oktober 1763), 723 f. (3. Januar 1764). 51 Vgl. Die Bestimmung des Menschen ( 7 1763), SpKA, Abt. I, Bd. 1, 201, 233, 305. Im dritten Fall wird ab der neunten Auflage ›Abhänglichkeit‹ in ›Abhängigkeit‹ verändert (71763–111794, ebd., 305). 52 Vgl. Deutlicher Unterricht von der Natur und dem Zwecke des Heiligen Nachtmals, 96, 177, 198. Vgl. auch ebd., 188. Auf dieses sprachliche Argument hat Beutel (Frömmigkeit als ›die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott‹, 108) zurückgegriffen. 53 Vgl. J. Tillotson: Works […] Containing Two Hundred Sermons and Discourses, on Several Occasions […], Bd. I, London 31722, 322, 346, 415; S. Clarke: Sermons on the Following Subjects […], hg. von J. Clarke, Bd. VII, London 21731, 245, 251, 278, 402. 54 Nachrichten von den neuern Reformatoren in beyden protestantischen Kirchen, in: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen 2, 1779, 18, 21. Noch Troeltsch sah Spalding als einen »deistischen Theologen« an (E. Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, 265). 55 [J. M. Goeze:] Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen, in einem Sendschreiben entworfen von G*** nebst dem Abdruck gedachter Betrachtung selbst, Halle 1748, 7, 21. 56 J. M. Chladenius: Von der Bestimmung des Menschen: nach der Schrifft. 2. Tim. I. 9., in: ders.: Wöchentliche Biblische Untersuchungen […], 29. Stück, Erlangen 1754, 455. 57 Ders.: Beantwortung eines Briefes, darinnen die Nothwendigkeit der guten Werke zur Seeligkeit auf eine neue Art hat behauptet werden wollen, in: ders.: Fortgesetzte Theologische Ergötzungen […], 13. Stück, Erlangen 1756, 197. 58 [S. F. Trescho:] Beurtheilung der Schrift: vom Werth der Gefühle im Christenthum, Frankfurt a. M. 1764, 6. 59 Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772), SpKA, Abt. I, Bd. 3, 201. 60 Gedanken über den Werth der Gefühle im Christenthum (11761), SpKA, Abt. I, Bd. 2, 41. Zur frühneuzeitlichen Annäherung von Natur und Offenbarung/Gnade im Allgemeinen siehe Apologétique 1650–1802. La nature et la grâce, hg. von N. Brucker, mit einer Einl. von A. McKenna, Bern 2010. 49
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Gedanken über den Werth der Gefühle im Christenthum (21764), SpKA, Abt. I, Bd. 2, 119. 62 Barther Predigtbuch. Nachgelassene Manuskripte, SpKA, Abt. II, Bd. 5, 17 (1771). 63 SpKA, Abt. I, Bd. 1, 195, 221, 305; Abt. I, Bd. 2, 51, 74, 120, 182; Abt. I, Bd. 3, 193, 200; Abt. I, Bd. 5, 29; Abt. II, Bd. 1, 241; Abt. II, Bd. 2, 268; Abt. II, Bd. 3, 42, 265; Abt. II, Bd. 4, 145, 233; Abt. II, Bd. 5, 17, 205, 386; Spalding: Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, 32; ders.: Von der Einigkeit in der Religion, 31. 64 SpKA, Abt. II, Bd. 2, 73. 65 SpKA, Abt. I, Bd. 4, 118. 66 SpKA, Abt. II, Bd. 5, 416. 67 SpKA, Abt. II, Bd. 2, 77. 68 SpKA, Abt. I, Bd. 2, 183. 69 SpKA, Abt. I, Bd. 2, 120; Abt. I, Bd. 3, 200; Abt. II, Bd. 2, 268. 70 SpKA, Abt. II, Bd. 2, 268. 71 SpKA, Abt. I, Bd. 1, 201; SpKA, Abt. II, Bd. 2, 260; Abt. II, Bd. 4, 233. 72 SpKA, Abt. I, Bd. 1, 233; Abt. II, Bd. 2, 73; Abt. II, Bd. 5, 151. 73 SpKA, Abt. I, Bd. 1, 305; Abt. I, Bd. 2, 74; Abt. I, Bd. 3, 193; Abt. I, Bd. 4, 118; Abt. II, Bd. 2, 94. 74 SpKA, Abt. I, Bd. 2, 120, 182; Abt. I, Bd. 3, 200; Abt. I, Bd. 4, 80; Abt. II, Bd. 1, 241; Abt. II, Bd. 2, 77, 213; Abt. II, Bd. 2, 268; Abt. II, Bd. 3, 42; Abt. II, Bd. 4, 145; Abt. II, Bd. 5, 17; Abt. II, Bd. 5, 386; Spalding: Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, 32. 75 SpKA, Abt. I, Bd. 2, 183. 76 SpKA, Abt. I, Bd. 2, 51; Abt. I, Bd. 3, 70; Abt. II, Bd. 5, 256, 416. 77 SpKA, Abt. II, Bd. 2, 260; Abt. II, Bd. 3, 255; Abt. II, Bd. 4, 233. 78 SpKA, Abt. II, Bd. 3, 192. 79 SpKA, Abt. II, Bd. 5, 205 (Kursivschrift von der Verfasserin). 80 SpKA, Abt. I, Bd. 1, 6. 81 Die Bestimmung des Menschen (111794), SpKA, Abt. I, Bd. 1, 187. 82 Neue Predigten (11768–31777), SpKA, Abt. II, Bd. 2, 94. 83 Dazu siehe Macor: Die Bestimmung des Menschen, Teil I, Kap. I, § 8 u. Teil II, Kap. III, § 14. 61
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– Lenka Karfíková –
Zeitlichkeit und Authentizität nach Sein und Zeit Einige Probleme der Zeitauffassung Heideggers und ihre Parallelen bei Augustin
Die Frage »Was ist die Zeit?« ist in der europäischen Philosophiegeschichte unumgänglich mit dem Namen von Aurelius Augustinus verbunden. Im Unterschied zu den Vorstellungen Platons (von der Zeit als dem »beweglichen Abbild der Ewigkeit«1), des Aristoteles (als der »›Meßzahl der Bewegung hinsichlich des ›davor‹ und ›danach‹«2) und auch Plotins (als dem Leben der Seele3), wird die Zeit in der Analyse Augustins etwas persönlich Erfahrenes, nämlich eine vom individuellen Geist erlebte Zeit. Die Zeit stellt nach Augustins Ausführungen in seinen Bekenntnissen4 eine »Erstrecktheit des (individuellen) Geistes« (animi distentio) dar,5 der durch seine Aufmerksamkeit (intentio) den vergehenden Dingen folgt6 und in sich selbst die Kontinuität und das Maß ihrer Bewegung behält.7 Die Zeit ist jedoch für Augustin nicht nur ein Intervall der vergehenden Dinge, wie der Geist sie beobachtet und behält, sondern auch eine mit dem ständigen Verlassen des Vergangenen verbundene Erstreckung (extensio) des Geistes in die Zukunft. In dieser sehr wichtigen Passage seiner Zeitanalyse, in der Augustin an Philipperbrief 3,12–14 anknüpft, denkt er jedoch vor allem an die Erstreckung auf die eschatologische Zukunft hin. Durch diese Erstreckung versucht der Geist seine Zerstreuung (distentio) in den Dingen8 zu überwinden und durch die Konzentrierung (intentio) auf die unbewegliche Ewigkeit wieder eins mit sich selbst zu werden.9 Diese individuell erlebte Zeit benötigt dabei, wie Augustin selber ahnt, als sein Korrelat eine mit der Welt erschaffene Zeit, die Zeit als eine Seinsart des Geschaffenen.10 Die Zeit als distentio bedarf noch eines anderen geschaffenen Geistes als des menschlichen (vielleicht der Weltseele, die Augustin mindestens als eine Hypothese kennt).11 | 139
Die Zeit bedeutet daher für Augustin dreierlei: erstens die Erstreckung des Geistes nach den vergehenden Dingen, die der Geist durch seine eigene Kontinuität messen kann, zweitens seine vereinigende Erstreckung zum Künftigen hin, durch die der Geist seine Zerstreuung in den Dingen zu überwinden verlangt, und drittens die Weltzeit, die immer schon da ist, sobald die Welt da ist. Diese dreifache Hinsicht scheint für Augustins Zeitanalyse wesentlich zu sein. Es geht also nicht nur um eine nicht reduzierbare Komplementarität der gelebten und der objektiven Zeit, wie es Paul Ricoeur in seinen sehr interessanten Analysen ausführt, in denen die Zeitauffassungen von Augustin und Aristoteles, Husserl und Kant, Heidegger und die der Naturwissenschaften als aufeinander systematisch bezogen und aufeinander angewiesen gezeigt werden.12 Die erlebte Zeit hat nämlich (wie Ricoeur selber gut weiß13) für Augustin zwei Aspekte: den der Erstrecktheit auf das Künftige hin und den der Zerstreuung in den Dingen. Nicht nur wegen der historischen Filiation, sondern vor allem aus systematischen Gründen halte ich es für wichtig, diese Analyse Augustins vor Augen zu haben, wenn wir verstehen wollen, was Martin Heidegger über die Zeit sagt.14
1. Die authentische und unauthentische Zeitlichkeit nach ›Sein und Zeit‹ In Heideggers Analysen der Zeitlichkeit im zweiten Teil von Sein und Zeit spielt bekanntlich die Unterscheidung zwischen der authentischen und unauthentischen Seinsart des Daseins eine wichtige Rolle. Worin jedoch diese Unterscheidung und ihre Bedeutung für die Zeitlichkeit eigentlich besteht, ist nicht ganz einfach zu sagen. In diesem Beitrag sollen die Ausführungen Heideggers zu diesem Thema kurz dargestellt werden, zugleich versuche ich jedoch auf mögliche Schwierigkeiten der Zeitauffassung Heideggers aufmerksam zu machen und eine (etwas ketzerische) Reinterpretation anzubieten. Die Zeitlichkeit wird in Sein und Zeit in Anknüpfung an die Analyse der Sorge als des fundamentalsten Existenzials des Daseins in Szene gesetzt (§ 65). Das Dasein ist in seinem Sein nicht einfach gegeben, sondern ist sich selbst als Sorge auferlegt,15 um sich selbst 140 | lenka karfíková
durch sein Entwerfen zu gestalten. Allerdings handelt es sich um ein Entwerfen, das schon immer auf seiner Geworfenheit gründet. Dieser Seinscharakter des Daseins ist der Kern seiner Zeitlichkeit: Als dasjenige, was es immer schon geworden ist, entwirft sich das Dasein in diejenigen Möglichkeiten, die es als seine eigenen erfaßt hat. Dies kann das Dasein, so Heidegger, auf eine doppelte Weise tun, die seine doppelte Seinsart begründet. Die authentische (die eigentliche) Seinsart hängt für Heidegger mit der Endlichkeit des Daseins sehr eng zusammen. In dieser Modalität seines Seins verdeckt sich das Dasein nicht, daß es ein »Sein zum Ende« ist, es läßt sich nicht durch eine tröstliche Vergessenheit des Todes beruhigen, wie sie »das Man« anbietet, das sich immer den Sorgen des Tages zuwendet. Das Dasein setzt sich vielmehr frei dem eigenen Tod als seiner eigensten Möglichkeit aus (nämlich der Möglichkeit, in der es durch niemanden vertreten werden kann). Dies und nur dies ermöglicht dem Dasein, ebenso seine anderen Möglichkeiten eigentlich zu ergreifen (§ 53). Für die Authentizität des Daseins ist jedoch zugleich die Entschlossenheit charakteristisch, seine Geworfenheit zu übernehmen, zu der strukturell auch sein »Schuldig-sein« gehört. Das Dasein ist nämlich zwar sein eigener Grund, jedoch ein Grund, der sich nicht selber gründet und der deswegen durch eine Negativität bestimmt und durchdrungen ist, da es nie alle seine Möglichkeiten sein kann (§ 58). Diese Seinsmodalität, in der das Dasein seiner Endlichkeit nicht ausweicht, sondern sich entschlossen als ein Schuldiger entwirft, der sein »Sein zum Tode« versteht, nennt Heidegger die »vorlaufende Entschlossenheit« (§ 62). Für die authentische Seinsmodalität ist typisch, daß das Dasein seine endlichen Möglichkeiten als endliche ergreift, d.h. es ergreift bewußt diese Möglichkeiten und entwirft sich in sie, sodaß sich gerade und nur in diesen Entwürfen entscheidet, was das Dasein sein wird und worauf es verzichtet (§ 60). Diese authentische Zukunft als eine entschlossene Aussetzung der eigenen Endlichkeit gegenüber nennt Heidegger »das Vorlaufen«. Zur authentischen Zukunft gehört jedoch, daß sich das Dasein als dasjenige entwirft, was es schon geworden ist. Das Dasein ergreift damit die eigenen Möglichkeiten unter Einbeziehung seiner Geworfenheit, zu der auch sein »Schuldig-sein« und seine eigene Vergangenheit oder »GewesenZeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹ | 141
heit« gehört, die in jedem Entwurf je neu angeeignet oder ›wiederholt‹ werden. Diese gegenseitige Wechselbeziehung von Entwerfen (als endlichem Vorgang) und von Gewesenheit, mit der sich das Dasein in diese Möglichkeiten entwirft, lassen eine Gegenwart im Sinne des »Augenblicks« entstehen, d.h. eine Situation, in der etwas auf dem Spiel steht.16 Dasjenige, worum es dem Dasein geht, ist nach Heidegger sein Sein selbst, das kein weiteres ›wozu‹ hat, sondern selbst der Sinn (das, worumwillen das Dasein handelt) ist. Die Einheit dieser drei Zeitekstasen, nämlich der Zukunft im Sinne des Vorlaufens, der Gewesenheit im Sinne einer neuen Aneignung der eigenen Vergangenheit und der Gegenwart im Sinne des Augenblicks, in dem etwas auf dem Spiel steht, bilden für Heidegger die authentische Zeitlichkeit des Daseins (§ 68a). Die unauthentische (uneigentliche) Seinsart stellt dagegen diejenige Modalität der Existenz dar, in der das Dasein der eigenen Endlichkeit ausweicht und sie zu vergessen sucht, d.h. seinen eigensten Charakter des »Seins zum Ende« und des »Schuldig-seins« dadurch unterdrückt, daß es sich völlig in den zu besorgenden Seienden verliert und sogar sich selbst aus ihnen heraus versteht. Diese Seinsart kann jedoch nie durch das Dasein allein gebildet werden, sondern nur im »Mitsein« mit den Anderen, die in ihrer Anonymität immer schon ein Milieu des unbestimmten »Man« vorbereitet haben, in dem das Dasein dem Anspruch des Selbstseins entgeht, beruhigt durch das allgemeine Bewußtsein, was ›man‹ erwartet, was ›man‹ für wichtig hält usw. (§§ 25–27). Auch die unauthentische Modalität der Zeitlichkeit ist nach Heidegger durch den Charakter bestimmt, der in ihr der Zukunft eignet. Das Dasein ergreift hier nicht mehr seine endlichen Möglichkeiten, sondern läßt sich von demjenigen bestimmen, was kommt, was ›man‹ erwartet, was ›man‹ für dringend hält, als ob dies unendlich dauern sollte. Diese Zukunft ist nicht mehr ein »Vorlaufen« zum Tode, sondern ein »Gewärtigen«, da sich das Dasein durch etwas anderes bestimmen läßt, als es selber ist. So wird auch hier die Gewesenheit nicht neu ergriffen, sondern unterdrückt und vergessen, weil sich das Dasein völlig in dem zerstreut, was ›man‹ gerade als aktuell ansieht. Durch die Wechselbeziehung dieser Zukunft und dieser Gewesenheit entsteht jedoch nicht ein »Augenblick«, in dem sich etwas entscheidet, sondern eine Selbstverlorenheit in der Ge142 | lenka karfíková
genwart oder ein »Gegenwärtigen«, das ganz in die zu besorgenden Dinge eintaucht. Das Dasein versteht sich dann nicht aus sich selbst heraus, sondern aus den zu besorgenden Dingen. Die Einheit der drei Zeitekstasen in dieser Modalität, nämlich der Zukunft als des »Gewärtigen«, was ›man‹ für aktuell oder dringend halten wird, der durch die Selbstvergessenheit in den besorgten Dingen unterdrückten Gewesenheit und der Gegenwart, die sich durch dieses Selbstverlieren völlig bestimmen läßt, bildet die unauthentische Zeitlichkeit (§ 68a). Es ist kein Zufall, daß Heidegger gerade aus dieser zweiten Zeitmodalität des Daseins auch die Innerzeitigkeit der zu besorgenden Dinge und ihre scheinbar konstitutive Bedeutung für die Zeitlichkeit des Daseins selbst ableitet. Das in den Dingen verlorene Dasein, das sich selbst aus diesen Dingen versteht, findet sogar den eigensten Kern seines Seins, nämlich die Zeitlichkeit, paradoxerweise in den zu besorgenden Dingen, als ob diese ihm die Zeitlichkeit geben würden. In der Tat ist jedoch die Datierbarkeit durch »jetzt, da…«, »damals, als…« und »dann, wann…« ein »Widerschein« der ekstatischen Zeitlichkeit des sich sorgenden Daseins selbst. Aufgrund des Mitseins mit den Anderen wird diese in die zu besorgenden Seienden projizierte Zeit »veröffentlicht« und gemeinsam gemacht (§ 79). Folglich wird auch die Zeit als solche nach den öffentlich zugänglichen Seienden gemessen (z. B. nach der Sonne, die noch als die Quelle des Lichts eine direkte Bedeutung für das Besorgen des zu Besorgenden hat, dann jedoch auch nach beliebigen Seienden, die zuhanden sind) und als die »Zeit der Welt« begriffen. Diese behält noch eine gewisse existenziale Bedeutung, da sie doch zur Welt als einem Existenzial des sich sorgenden Daseins gehört, das immer auch ein »In-der-Welt-sein« ist. Zugleich ist es jedoch eine Zeit, »in der« die innerweltlichen Seienden auftreten und datierbar sind (§ 80). Falls jedoch die Zeitanalyse (wie sie zum ersten Mal Aristoteles durchführt) die Zeit in eine nichtzentrierte Folge von »Jetzt(Momenten)« nivelliert, dann wird ihre Verknüpfung mit der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins völlig verdeckt, und die Zeit erscheint als ein kommender und vergehender Fluß, der letztlich in jede erdenkliche Richtung strömen könnte. Da es sich um eine dem unbestimmten »Man« ‒ nicht dem endlichen Dasein ‒ gehörende Zeit handelt, erscheint diese Zeit unendlich (§ 81). Soweit also die Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹ | 143
Darstellung der Genesis der »vulgären« Zeit, wie sie Heidegger versteht, nämlich als einer nichtzentrierten Zeit des »Man« aufgrund der unendlichen Jetzt-Folge. Die Begründung dieser Zeit in der authentischen Zeitlichkeit des Daseins bleibt gewöhnlich verdeckt; ja das Dasein versteht sich zuerst und zumeist als in eine unendliche Zeit eingegliedert, deren Teil, Spanne oder Erstreckung für die ihm ausgemessene Zeit gehalten wird.
2. Ein Reinterpretationsversuch Die Heideggersche Analyse finde ich besonders aus dem Grund interessant, weil sie die Zeitlichkeit als eine Grundstruktur der Sorge versteht. Sie scheint mir jedoch zugleich problematisch in zwei Punkten, die eng miteinander zusammenhängen. Heidegger scheint nämlich (1) die notwendige Verknüpfung des Daseins als Mitsein und als »In-der-Welt-sein« mit der authentischen, nicht nur mit der unauthentischen Zeitlichkeit gering zu schätzen; (2) die authentische und besonders die unauthentische Zeitlichkeit unnötig zu moralisieren. (1) Auch die authentische Zeitmodalität als Einheit der drei Ekstasen (der Zukunft, der Gewesenheit und der Gegenwärtigkeit) umfaßt nämlich notwendigerweise nicht nur die Erstreckung des Daseins zu seinen eigenen (wesenhaft endlichen) Möglichkeiten und ein neues Ergreifen seiner eigenen Gewesenheit, sondern auch seine Zuwendung zu den zu besorgenden Dingen (die Ekstase der Gegenwart). Beim »Augenblick«, in dem etwas auf dem Spiel steht, in dem es um den Sinn des Seins des Daseins geht, handelt es sich nämlich nie um eine gegenstandslose Situation. Das Dasein wählt sich selbst, nur indem es sich für und gegen etwas entscheidet, indem es sich für eine Möglichkeit auf Kosten einer anderen einsetzt, indem es ihm um etwas geht. So und nur so wählt das Dasein sich selbst in der authentischen Gegenwart eines situierten Augenblicks. Ansonsten wäre das authentische Selbstsein des Daseins »unbestimmt und leer« (diese Bedrohung wird im § 57 sichtbar).17 Diese Interessiertheit »an etwas« erscheint als eine unentbehrliche Komponente der Zeitlichkeit des Daseins. Zum »Augenblick« der authentischen Zeitlichkeit gehört nämlich eine Situation, in der 144 | lenka karfíková
sich das Dasein samt seiner Gewesenheit auf die endliche Zukunft hin entwirft. In dieser Situation ist jedoch das Dasein nie allein, sondern teilt sie mit den Anderen, mit denen oder gegen die es sich einsetzt, die es in seiner Erwägung der Möglichkeiten berücksichtigt, die einen Teil seiner Gewesenheit bilden usw. Die Situation, in der der Modus der Existenz des Daseins auf dem Spiel steht, betrifft also das Dasein keineswegs alleine in der Vereinzelung, in die das Dasein durch seine Entschlossenheit geführt wird und in der es sich dem eigenen Tod aussetzt (wie es Heidegger im § 53 schildert). Die authentische Zeitlichkeit, die so beschaffen ist, daß sie sich für etwas einsetzt, trifft damit notwendig die Zeitlichkeit der Anderen, zumindest der anderen daseinsartigen Wesen, vielleicht jedoch auch die der nicht-daseinsartigen Seienden in ihren Verläufen. In diesem Aufeinandertreffen bedeutet die Miteinbeziehung der Anderen vielleicht nicht unbedingt einen Fall in die unauthentische Zeitlichkeit des unbestimmten »Man«, sondern sie scheint im Kern des »Augenblicks« selbst gegenwärtig zu sein. Im »Augenblick« als einer Situation, in der sich etwas entscheidet, in der man etwas wegen jemandem und gegen jemanden durchsetzt. Diese Miteinbeziehung gehört, so meine ich, zur Endlichkeit aller menschlichen Entwürfe selbst, die nicht nur durch ihr Vorlaufen zum eigenen Tod und durch das Bewußtsein des eigenen Schuldigseins endlich sind, sondern auch durch die Grenzen, die ihnen die Anderen setzten. Sie stellen nämlich für das Dasein nicht nur eine Bedingung der Möglichkeit dar, sondern auch eine Begrenzung. Die Beziehung zu den Anderen, in das Herz selbst der authentischen Zeitlichkeit hereingelassen, bleibt jedoch für die Analyse der Zeitlichkeit nicht ohne Folgen. Falls die Zeitlichkeit des anderen Daseins zur authentischen Zeitlichkeit als je meiner unentbehrlich gehört, dann gehört auch meine Zeitlichkeit in die Zeitlichkeit der Anderen. Meine Zeitlichkeit für den anderen und seine Zeitlichkeit für mich gehören damit zur Zeitlichkeit selbst, insofern das Sein des Daseins immer zugleich ein Mitsein konstituiert. Das Dasein der Anderen ist mir selbstverständlich in einer anderen Weise gegeben als was ich als Dasein für mich selbst bin. Sein Entwerfen der eigenen Gewesenheit auf seine, von ihm ergriffenen Möglichkeiten hin erscheint mir als ein Verlauf, den ich sozusagen ›von außen her‹ beobachte, und auf die gleiche Weise erscheine Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹ | 145
auch ich dem Anderen. Aufgrund dieser Erfahrung mit dem Anderen kann das Dasein auch sich selbst als einen sozusagen ›von außen her‹ beobachteten Verlauf verstehen, inwiefern nämlich gilt, daß den Anderen das Dasein auf diese Weise erscheint und daß zu seinem Sein (als Mitsein) immer auch dasjenige gehört, was die Anderen für das Dasein selbst sind und was es wiederum für die Anderen ist. (Mit der ›Beobachtung‹ meine ich hier nicht eine interessenfreie Kontemplation, sondern eine Komponente des in verschiedenem Maße interessierten Umgehens mit den Anderen.) Die Voraussetzung dafür, daß ich an einem anderen Dasein dasjenige erfahren kann, was mir an meinem eigenen Dasein unzugänglich bleibt, scheint daher nicht so stark mit der Seinsweise des Daseins unvereinbar, wie es Heidegger für die Erfahrung des Todes behauptet (§ 47). Vielleicht weiß ich auf Grund des Todes der Anderen18 auch um den eigenen Tod; und sogar mein eigener Tod wird nicht so sehr für mich selbst, als für die anderen, die mir nahe stehen, ein Ereignis sein.19 Das Todesbewußtsein ist eine grundsätzliche Belehrung, die mir die Beobachtung der Anderen geben kann. Auch hier finden wir also das Mitsein im innersten Heiligtum der Authentizität selbst, sogar als ihre grundsätzliche Bedingung, insoweit das authentische Sein ein Übernehmen des Seins zum Tode ist. Mit der Zeitlichkeit des Daseins in der Weise des Mitseins hängt auch die »Weltzeit« eng zusammen, die als eine »vulgäre Zeit« interpretiert wird, d.h. als der gemeinsame Rahmen der daseinsartigen Zeitlichkeiten. Sie entsteht jedoch nicht erst durch ein Nebeneinander- oder Nacheinandersetzen der ›von außen her‹ beobachteten Zeitlichkeiten, sondern ist immer schon da (wie ein Kant’sches a priori), und die einzelnen ›von außen her‹ beobachteten Zeitlichkeiten werden in sie eingegliedert oder aus ihr herausgenommen. Es ist jedoch die Zeit des Weltganzen, nicht nur des unbestimmten »Man«, wie sie Heidegger schildert. Das Dasein kann sich als ihr Intervall oder als eine in sie eingegliederte Spanne verstehen dank der Erfahrung, die es mit der Beobachtung der Anderen hat. In diesem Sinn gilt in der Tat, daß die »vulgäre« Zeit als die Zeit des Weltganzen aufgrund der an den Anderen beobachteten Zeitlichkeit abgeleitet wird, und nicht aufgrund derjenigen Zeitlichkeit, in der sich das Dasein selbst zeitigt. Wollen wir diese Perspektive, in der sich das Dasein aufgrund 146 | lenka karfíková
dessen versteht, was es für die Anderen ist und was die Anderen für das Dasein sind, die »unauthentische« Zeitmodalität nennen, dann muß der Begriff der »Unauthentizität« radikal entmoralisiert werden. (2) Die doppelte Zeitlichkeit, wie oben dargestellt, unterscheidet sich deutlich von den Ausführungen Heideggers zu diesem Thema, und die Bezeichnungen »authentisch« bzw. »unauthentisch« erscheinen hier nicht ganz adäquat (deswegen setze ich sie im weiteren Verlauf des Beitrags in Anführungszeichen, und es wäre vielleicht besser, diese Terminologie völlig aufzugeben). Die ›authentische‹ (vielleicht besser gesagt: die ›endliche‹) Zeitlichkeit, in der sich das Dasein der eigenen Endlichkeit aussetzt, ist nun nicht mehr nur ein entschlossenes Vorlaufen zum Tode, sondern zugleich ein Einsetzten für und gegen etwas in einer Situation, die das Dasein mit den Anderen teilt und in der seine Möglichkeiten auch durch die Anderen begrenzt werden. Das Ergreifen der eigenen endlichen Möglichkeiten (nämlich als Möglichkeiten, die ein Gewicht haben, weil sie sich nicht ins Unendliche wiederholen lassen), unterscheidet das Dasein von den nichtdaseinsartigen Wesen. Die »unauthentische« Zeitlichkeit des Daseins (oder vielleicht besser gesagt »die Zeitlichkeit des Mitseins«) ist die eigene Zeitlichkeit sozusagen ›von außen her‹ betrachtet aufgrund der Beobachtung der Zeitlichkeit des Anderen, die als ein Verlauf oder eine Erstreckung aufgefaßt wird. Es handelt sich um einen Aspekt, der zur Zeitlichkeit des Daseins als eines Mitseins konstitutiv gehört. Das Miteinandersein mit den Anderen bildet damit ein Medium der »Unauthentizität« nicht nur in der latent oder offensichtlich moralisierenden Bedeutung des selbstvergessenen Verfallens an das »Man«, sondern auch in dem Sinne, daß zu der »authentischen« Zeitlichkeit des Daseins ein Aufeinandertreffen mit der ›von außen her‹ gesehenen Zeitlichkeit der Anderen gehört. Damit gehört zu ihr jedoch auch die immer schon gegenwärtige Möglichkeit, dieses Aufeinandertreffen in einen breiteren Rahmen einzugliedern, den das Dasein nie allein bildet, in den es sich jedoch immer schon eingegliedert sieht, insofern zu seinem Sein auch dasjenige gehört, was es für die Anderen darstellt und bedeutet. Dieser Aspekt der Zeitlichkeit könnte vielleicht auch auf die nichtdaseinsartigen WeZeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹ | 147
sen erweitert werden. Auch sie sind nämlich zeitlich (z. B. die Tiere und die Pflanzen, vielleicht aber auch die niedrigeren Wesen), da sie nicht einfach gegeben, sondern nur dasjenige sind, wozu sie erst werden. Sie müssen sozusagen ebenso um ihr Sein »sorgen« (wie es Heidegger selbst für eine reifende Frucht zeigt, um jedoch darauf zu schließen, daß es sich um kein »Sein zum Ende« und daher auch um keine Authentizität handelt, vgl. § 48). Das Dasein ist nicht nur immer schon mit den anderen daseinsartigen Wesen, sondern ist zusammen mit ihnen in einer Welt, in der es deren einzelne Wesen in ihrer Zeitlichkeit beobachtet (d. h. mit ihnen umgeht) und sich selbst aus dieser Beziehung zu ihnen heraus begreift. In diesem Sinne gilt folglich, daß sich das Dasein aufgrund des Umgangs mit den zu besorgenden Dingen versteht, wie Heidegger die unauthentische Seinsmodalität charakterisiert. Das Ergebnis dieser ketzerischen ›relecture‹ bildet somit nicht nur eine Dialektik der persönlich erlebten und der universalen Zeit als zwei komplementären, aufeinander angewiesenen Momenten der Zeitlichkeit,20 sondern auch die Einsicht in die Notwendigkeit des Beibehaltens aller drei Motive, die wir oben bereits bei Augustin gefunden haben: der (in der Terminologie Heideggers) »authentischen«, der »unauthentischen« Zeitlichkeit des Daseins und der »Weltzeit«, die eng mit der »unauthentischen« Zeitlichkeit des Daseins verbunden bleibt. Diese Begriffe gewinnen jedoch einen neuen Sinn, der auf einer anderen Bewertung des Daseins als Mitsein und In-der-Welt-Sein gründet. Die endliche Zeitlichkeit des Daseins bleibt dabei der eigentliche Kern der Zeitlichkeit; aufgrund der Seinsweise des Mitseins und des In-der-Welt-Seins wird jedoch diese Zeitlichkeit immer schon in einen Rahmen eingegliedert, den sie nicht allein bildet, sondern als immer schon gegenwärtig in ihrem Aufeinandertreffen mit der Zeitlichkeit der anderen zeitlichen Seienden vorfindet.
3. Heidegger und Augustin Im Vergleich zu Augustin können wir sagen, daß die authentische Zeitlichkeit Heideggers in ihrer unbestimmten Leere des Vorlaufens zum Tode mutatis mutandis der Erstreckung Augustins zu der 148 | lenka karfíková
eschatologischen Zukunft nahe kommt, die auch ein Verlangen darstellt, die Zerstreuung in den Dingen los zu werden. Heideggers unauthentische Zeitlichkeit bedeutet ähnlich wie bei Augustin eine Verflechtung in den Dingen, die (für beide Autoren) es zugleich ermöglicht, die Zeit zu messen und sie als die Zeit der vorübergehenden Dinge zu verstehen. Beide Autoren (für Heidegger jedoch viel deutlicher) moralisieren in einem gewissen Sinne diese Zeitlichkeit, die als Verfallen bzw. als Zerstreuung aufgefaßt wird. Die »Weltzeit« wird zwar letztlich bei Augustin im Sinne einer »vulgären« Zeit analysiert, die Heidegger durch die Welt als Existenzial des Daseins ersetzen will; zugleich gilt jedoch wahrscheinlich auch für Augustin, daß die Weltzeit eine ekstatische Zeitlichkeit voraussetzt, wenn auch nicht des menschlichen Daseins (sondern der Weltseele). Wenn wir also Heideggers Zeitauffassung gerecht werden wollen, müssen wir zugeben, daß die beiden problematischen Punkte seiner Ausführungen ‒ nämlich die unbestimmte Leere der authentischen Zeitlichkeit (die fast den Eindruck erweckt, als ob das Dasein nicht mehr als Mitsein und als In-der-Welt-sein existiert) und die Moralisierung der authentischen und der unauthentischen Zeitlichkeit ‒ eine genaue Parallele auch bei Augustin besitzen. Andererseits ist bei beiden Autoren die Tatsache interessant, daß sie eine Zeitauffassung entwickeln, der die Zeit des endlichen Wesens zu Grunde liegt (d. h. beide Autoren verstehen den Menschen als ein Wesen, das sich einer Zukunft aussetzt, die zu seiner Zeit nicht mehr gehört). Diese Zeitlichkeit ist zugleich immer eine Bezogenheit auf vergehende Dinge, nach denen sie sich erstreckt, bzw. eine Sorge um ein Zuhandenes, aufgrund dessen sie sich als eine Erstreckung versteht. Als eine Erstreckung faßt sich ferner diese Zeitlichkeit als ein Teil der Weltzeit auf, die selbst durch eine daseinsartige ekstatische Zeitlichkeit konstituiert wird (bei Heidegger des Daseins selbst, bei Augustin eines anderen Geistes). Heidegger zeigt überdies sehr überzeugend, daß die Zeitlichkeit des endlichen Wesens auf dessen Existenz als Sorge gründet, ohne jedoch, meiner Meinung nach, genügend in Betracht zu ziehen, daß die Sorge immer ein Mitsein und ein In-der-Welt-Sein impliziert.
Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹ | 149
Anmerkungen
Nach Platon ahmt die Zeit die unbewegliche Dauerhaft igkeit der Ewigkeit des Seins im Selben durch die Kreisbewegung der Sterne nach, die immer wieder auf ihre ursprünglichen Positionen zurückkehren. Vgl. Timaios 37d. 2 Bei Aristoteles wird die Zeit unter der Hinsicht der Bewegung ausgelegt, die die Zeit für die Seele zählbar und damit auch meßbar macht. Vgl. Physik IV,11, 219b1 f.: τοῦτο γάρ ἐστιν ὁ χρόνος, ἀριθμὸς κινήσεως κατὰ τὸ πρότερον καὶ ὕστερον. Ein Maß (μέτρον) der Bewegung (Physik IV,12, 220b32 f.) ist die Zeit in einem abgeleiteten Sinne, nämlich im Verhältnis zu dem Grundmaß, das die Kreisbewegung des Himmels darstellt. Eine Meßzahl der Bewegung ist sie jedoch im Verhältnis zur Bewegung überhaupt. Die Zeit wird damit gerade deswegen zum Maß der Bewegung, weil sie ihre Zahl ist. 3 Nach Plotin entsteht die Zeit dank der Bewegung der Seele »zu immer Weiterem und Späterem, niemals Selbigem, sondern immer wieder Anderem« (εἰς τὸ ἔπειτα ἀεὶ καὶ τὸ ὕστερον καὶ οὐ ταὐτόν, ἀλλ’ ἕτερον εἶθ’ ἕτερον) (Enn. III,7[45],11,17–19). 4 Die Zeitanalyse Augustins in Confessiones XI habe ich anderswo ausgeführt, vgl. dazu L. Karfíková: Zeit, Selbstbeziehung des Geistes und Sprache nach Augustin, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 54, 2007, 230–249. 5 conf. XI,26,33 (CCL 27, 211): Inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi. 6 conf. XI,27,36 (CCL 27, 213): […] immo sonuit et sonabit: nam quod eius iam peractum est, utique sonuit, quod autem restat, sonabit atque ita peragitur, dum praesens intentio futurum in praeteritum traicit deminutione futuri crescente praeterito, donec consumptione futuri sit totum praeteritum. 7 conf. XI,27,36 (CCL 27, 213): In te, anime meus, tempora metior. […] Affectionem, quam res praetereuntes in te faciunt et, cum illae praeterierint, manet, ipsam metior praesentem, non ea quae praeterierunt, ut fieret; ipsam metior, cum tempora metior. Ergo aut ipsa sunt tempora, aut non tempora metior. 8 conf. XI,29,39 (CCL 27, 214): […] ecce, distentio est vita mea […]. 9 conf. XI,29,39 (CCL 27, 214 f.): […] et a veteribus diebus conligar sequens unum, praeterita oblitus, non in ea quae futura et transitura sunt, sed in ea quae ante sunt non distentus, sed extentus, non secundum distentionem, sed secundum intentionem sequor ad palmam supernae vocationis (Phil. 3,13 f.), ubi audiam vocem laudis (Ps. 25[26],7) et contempler delectationem tuam (Ps. 26[27],4) nec venientem nec praetereuntem. Zu Augustins Zeitanalyse vgl. N. Fischer: Augustins Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der Chorismos-Problematik, Bonn 1987, 296–322; ders.: Confessiones XI: »Distentio animi«. Ein Symbol der Sehnsucht nach Entflüchtigung des Zeitlichen, in: N. Fischer/C. Mayer (Hg.): Die Confessiones des Augustinus von Hippo: Einführung und Interpretationen zu den 1
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dreizehn Büchern, Freiburg i. Br. 1998, 489–552; ders.: »Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit …« Einführung zum elften Buch von Augustins Confessiones, in: Theologie und Glaube 88, 1998, 304–323; Aurelius Augustinus: Was ist Zeit? Confessiones XI / Bekenntnisse 11. Eingel., übers. und mit Anm. versehen von N. Fischer, Hamburg 2000; N. Fischer: Die Zeit, die Zeiten und das Zeitliche in Augustins Confessiones, in: Ders. / D. Hattrup (Hg.): Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus: Confessiones 11–13, Paderborn 2006, 51–64. 10 conf. XI,13,15 (CCL 27, 202): Id ipsum enim tempus tu feceras, nec praeterire potuerunt tempora, antequam faceres tempora. Si autem ante caelum et terram nullum erat tempus, cur quaeritur, quid tunc faciebas? Non enim erat tunc, ubi non erat tempus. Vgl. den ganzen Passus conf. XI,13,15 – XI,14,17 (CCL 27, 202). 11 conf. XI,31,41 (CCL 27, 215): Certe si est tam grandi scientia et praescientia pollens animus, cui cuncta praeterita et futura ita nota sint, sicut mihi unum canticum notissimum, nimium mirabilis est animus iste atque ad horrorem stupendus, quippe quem ita non lateat quidquid peractum et quidquid reliquum saeculorum est, quemadmodum me non latet cantantem illud canticum, quid et quantum eius abierit ab exordio, quid et quantum restet ad finem. Sed absit, ut tu, conditor universitatis, conditor animarum et corporum, absit, ut ita noveris omnia futura et praeterita. Vgl. dazu R. J. Teske: The World-Soul and Time in St. Augustine, in: AugSt 14, 1983, 75–92 (der Verfasser setzt jedoch zugleich voraus, daß Augustin die Weltseele und die individuellen Seelen als eine einzige Seele versteht, was aus Augustins Schriften nicht zu belegen ist). Augustin gibt zu, daß er in der Frage nach der Weltseele keine sichere Antwort geben könne (vgl. De cons. evang. I,23,35 : CSEL 43,34 n.); es ist ihm jedoch klar, daß die Weltseele keineswegs Gott selbst sein könne (vgl. De Gen. litt. VII,4,6: BA 48,516), da diese als geschaffen gelten müßte (vgl. Retract. I,11,4: CCL 57,35). Siehe dazu K. Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo, Das XI. Buch der Confessiones (Text – Übersetzung – Kommentar), Frankfurt a. M. 1993, 404– 415; A.-I. Bouton-Touboulic: L’ordre caché. La notion d’ordre chez saint Augustin, Paris 2004, 201–210. N. Fischer lehnt in seiner Analyse von Conf. XI die Weltseele als unnötig ab und versucht die konstitutiven Elemente der Zeit, die der individuelle Geist nicht leisten kann, in Gott selber zu verankern, vgl. N. Fischer: »Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit …«, 315 mit der Anm. 22. Die zitierte Stelle versteht N. Fischer als ein »Gedankenexperiment«, nicht als eine Anspielung auf die Weltseele, vgl. Aurelius Augustinus: Was ist Zeit, 111, Anm. 187. 12 Vgl. P. Ricoeur: Temps et récit, III, Paris 1985, 19–144. 13 Vgl. P. Ricoeur: Temps et récit, I, Paris 1983, 19–53. 14 Zu Heideggers Auslegung der conf. XI und Augustins Zeitauff assung vgl. F.-W. von Herrmann: Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt a. M. 1992; ders.: Die Confessiones des Heiligen Augustinus im Denken Heideggers in: Quaestio 1, 2001, 113–146, bes. 130–146; ders.: Begegnungen mit Augustinus in den Phänomenologien von Edmund Husserl Zeitlichkeit und Authentizität nach ›Sein und Zeit‹ | 151
(1859–1938), Max Scheler (1874–1928) und Martin Heidegger (1889–1976), in: N. Fischer (Hg.): Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Bd. 2: Von Descartes bis in die Gegenwart, Hamburg 2009, 253–264, bes. 262–264; K. Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones (Text – Übersetzung – Kommentar), Frankfurt a. M. 1993, 51–63; C. Esposito: Martin Heidegger. La memoria e il tempo, in: Esistenza e libertà. Agostino nella filosofia del Novecento, ed. L. Alici et alii 1, Roma 2000, 87–124, bes. 115–124; C. A. Corti: Ewigkeit und Zeit. Die Funktion der Ewigkeit für die Zeitanalyse des elften Buches der Confessiones Augustins und ihre Rezeption durch Martin Heidegger, in: N. Fischer/D. Hattrup (Hg.): Schöpfung, Zeit und Ewigkeit, 29–49, bes. 42–49. N. Fischer versucht auch umgekehrt Augustins Zeit- und Ewigkeitsauffassung durch Heideggers Daseinsanalysen zu lesen, vgl. N. Fischer: Sein und Sinn der Zeitlichkeit im philosophischen Denken Augustins, in: Revue des Études Augustiniennes 33, 1987, 205–234; ders.: Was ist Ewigkeit? Ein Denkanstoß Heideggers und eine Annäherung an die Antwort Augustins, in: F. Van Fleteren (Hg.): Martin Heidegger’s Interpretationes of Saint Augustine: Sein und Zeit und Ewigkeit, New York 2005, 155–184. 15 Zur Sorge als Heideggers Weiterführung der augustinischen inquietudo vgl. C. Esposito: Martin Heidegger, 90–94. 16 Der Augenblick, in dem etwas auf dem Spiel steht, scheint Heideggers Weiterführung des neutestamentlichen ›Kairos‹ zu sein, s. dazu K. Lehmann: Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger, in: Philosophisches Jahrbuch 74/1, 1966, 126–153, bes. 129–139. G. Haeff ner versucht von da aus einen Begriff der Ewigkeit abzuleiten, vgl. G. Haeff ner: Heidegger über Zeit und Ewigkeit, in: Theologie und Philosophie 64, 1989, 481–517, bes. 511–517. 17 Heideggers Auffassung der Authentizität, die das In-der-Welt-Sein des Daseins und daher auch sein Sein bei den Dingen zu unterschätzen scheint, wird auch von I. Chvatík kritisiert, vgl. I. Chvatík: Schwierigkeiten mit der Eigentlichkeit, in: H. Vetter (Hg.): Siebzig Jahre Sein und Zeit. Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997, Frankfurt a. M. 1999, 165–174. 18 Vgl. E. Lévinas: La mort et le temps, hg. von J. Rolland, Paris 1992. Auch das Zeitbewußtsein Augustins ist vielleicht durch den Tod seines vorzeitig verstorbenen Freundes geschärft worden, vgl. conf. IV,4,7 – 11,14, (CCL 27, 43–47); s. dazu N. Fischer: Augustins Philosophie der Endlichkeit, 297; ders.: Sein und Sinn der Zeitlichkeit, 209–212. 19 Vgl. P. Ricoeur: La marque du passé, in: Revue de Métaphysique et de Morale 103, 1998, 7–31, bes. 21–23. P. Ricoeur stellt hier (21) der »verschlossenen Phänomenologie des Seins zum Tode« (»la phénoménologie fermée de l’être-pour-la-mort«) eine »offene Phänomenologie der Zukünft igkeit« (»phénoménologie ouverte de la futurité«) entgegen, die er mit der »Erwartung« Augustins verbindet. 20 Zu dieser Komplementarität P. Ricoeur, vgl. oben, Anm. 12. 152 | lenka karfíková
– Friedrich-Wilhelm von Herrmann –
Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers
1. Die »Philosophie des lebendigen Lebens« als Blickbahn für »die wahrhafte Religionsphilosophie und das Philosophieren überhaupt«. »Die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie« Die frühen Briefe Martin Heideggers von 1916 bis 1918 an seine Braut und spätere Ehefrau Elfride Petri sind von großer Bedeutung, weil sie zeigen, daß die erste Grunderfahrung für Heideggers eigenste Fragestellung zeitlich bereits in das erste Drittel des Jahres 1916 fällt. In seinem Brief vom 5. März 1916 spricht er von der Vorlesung, die er im Wintersemester 1915/16 gehalten und nunmehr abgeschlossen hat, welche Weg-weisende Einsicht er in dieser Vorlesung für sein Philosophieren gewonnen habe: »was ich letztlich suchte u. worunter ich beständig litt, hab ich gefunden, die erste u. die letzte Vorlesung dieses Semesters sind in mir zu einer einzigen Wirklichkeit geworden – was vordem mir immer Schranke, Problem, Zweifelhaftes, Fernes war, ist mir nun Nähe, Gewißheit, Fraglosigkeit, Befreiung – […] ich weiß heute, daß es eine Philosophie des lebendigen Lebens geben darf – daß ich dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären darf – ohne dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen – ich darf es – ich muß es – u. so steht heute vor mir die Notwendigkeit des Problems: wie ist Philosophie als lebendige Wahrheit zu schaffen u. als Schöpfung der Persönlichkeit wert- u. machtvoll«.1 Es ist die Grunderfahrung von der sich ihm stellenden Aufgabe, den Weg zu einer ›Philosophie des lebendigen Lebens‹ zu bahnen, ›Philosophie als lebendige Wahrheit zu schaffen‹. Es ist die Weg-weisende Einsicht, daß es im Unterschied zum theoretischen Erkenntnisleben das vor- und a-theoretische Leben gibt, in dem wir immer schon vor der Aufnahme der theoretischen Erkenntnishaltung leben und aus dem sich das theoretische Erkenntnisleben | 153
erhebt, daß es aber die primäre Aufgabe der Philosophie ist, dieses vor- und a-theoretische, das lebendige Leben in seiner Eigenheit zur Auslegung zu bringen. Das so Gesichtete und Ausgelegte des lebendigen Lebens ist dann die ›lebendige Wahrheit‹über das ›lebendige Leben‹. Was Heidegger zunächst als das ›lebendige‹ Leben in seinen Blick nimmt, wird auf dem von ihm eingeschlagenen Weg als das ›faktische‹ Leben und Dasein und schließlich als die ›Alltäglichkeit‹ des Daseins entfaltet. In das Jahr 1916 fällt auch die Korrekturarbeit für den Satz und Druck von Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, die im Herbst erscheint. Für die Drucklegung verfaßt Heidegger einen 12 Seiten langen ›Schluß‹ mit dem Titel Das Kategorienproblem. Dieser ›Schluß‹ bewegt sich nicht mehr nur auf der gedanklichen Ebene der Habilitationsschrift, sondern bereits auf jener gewandelten Ebene, die sich in jenem Brief vom 5. März 1916 ausspricht. Es ist die neu gewonnene Ebene des ›lebendigen Lebens‹, das dem theoretischen Leben voraufgeht. Es ist die Rede von einer feinen Disposition »sicheren Hineinhörens in das unmittelbare Leben der Subjektivität und der ihr immanenten Sinnzusammenhänge«.2 Dann aber heißt es: »Innerhalb des Reichtums der Gestaltungsrichtungen des lebendigen Geistes ist die theoretische Geisteshaltung nur eine,weshalb es ein prinzipieller und verhängnisvoller Irrtum der Philosophie als ›Weltanschauung‹ genannt werden muß, wenn sie sich mit einem Buchstabieren der Wirklichkeit begnügt und nicht, was ihres eigentlichsten Berufes ist, über eine immer vorläufige, die Gesamtheit des Wißbaren aufraffende Zusammenfassung hinaus auf einen Durchbruch in die wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit abzielt«.3 Ferner lesen wir: »Wenn irgendwo, dann muß gerade beim Problem der Anwendung der Kategorien […] die nur objektiv-logische Behandlungsart des Kategorienproblems als halbseitig erkannt werden. Das erkenntnistheoretische Subjekt deutet nicht den metaphysisch bedeutsamsten Sinn des Geistes, geschweige denn seinen Vollgehalt. Und erst durch Hineinstellung in diesen erhält das Kategorienproblem seine eigentliche Tiefendimension und Bereicherung. Der lebendige Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes«.4 Die hier ausgesprochene Einsicht deutet Heidegger in einem Brief an seine Braut vom 13. Juni 1916 so an: »ich [habe] ei154 | friedrich-wilhelm von herrmann
nen großen Wurf getan, der letztere bestand darin, daß ich ein fundamentales Problem der Kategorienlehre entdeckte – die Lösung kommt von selbst, für die Forschung ist immer das Problemstellen entscheidend«.5 Das ›fundamentale Problem der Kategorienlehre‹ ist dieses, daß es außer der bisher allein gesehenen ›objektiv-logischen Behandlungsart‹ die Frage nach den eigensten, ganz anderen Kategorien des ›lebendigen Lebens‹ und ›lebendigen Geistes‹ gibt, die es allererst zu enthüllen gilt. Dieser Hinweis ist ein Vorgriff auf das, was seit 1919/20 als Gehaltssinn, Bezugssinn und Vollzugssinn des faktischen Lebens und schließlich in Sein und Zeit als die Existenzialien des existierenden Daseins gehoben wird. Gegen Ende des neu verfaßten ›Schluß‹-Kapitels der Habilitationsschrift sagt Heidegger: »Im Begriff des lebendigen Geistes und seiner Beziehung zum metaphysischen ›Ursprung‹ eröffnet sich ein Einblick in seine metaphysische Grundstruktur«.6 Der Text endet mit den Worten von der »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit«,7 mit denen Heidegger die Philosophie des lebendigen Lebens zusammenfaßt. Die Philosophie des lebendigen Lebens und des lebendigen Geistes schließt somit die Gottesfrage als Frage nach der ›verehrenden Gottinnigkeit‹ ein. Das ist die philosophische Gottesfrage nunmehr in der Blickbahn der inaugurierten Philosophie des lebendigen Lebens. Innerhalb dieser Blickbahn schreibt Heidegger an seine Braut in dem Brief vom 1. Januar 1916: »ahnst Du nicht, daß nur der unendliche, persönlichste Geist Gottes in seiner absoluten Fülle uns u. unserem Dasein letztes Ziel u. Ende sein kann«.8 Hierzu gehört auch der Auszug aus dem Brief vom 3. Januar: » ›wahres Gotteserlebnis‹ ist eine wundersame, seltene Gnade, deren man nur würdig wird durch Leid«.9 In seinem Brief vom 12. Mai 1918 formuliert Heidegger schließlich die folgende programmatische Aussage: »Religiöse Toleranz ist nur da möglich u. wertvoll, wo wahrhaft religiöses Bewußtsein lebendig ist – das die ahnend verstehenden Blicke hat, die alles in das Ursprüngliche zurückverlegen. Aus einer solchen Atmosphäre persönlichen Zusammenlebens mit den ständig wirksamen Perspektiven religiöser Verinnerlichung wird mir die wahrhafte Religionsphilosophie u. das Philosophieren überhpt. erwachsen«.10 Die seit Beginn des Jahres 1916 angestrebte Philosophie des lebendigen Lebens ist nicht etwa nur ›die wahrhafte Religionsphilosophie‹, aber sie schließt Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 155
die gesuchte ›wahrhafte Religionsphilosophie‹ ein. Doch auch das ›Philosophieren überhaupt‹ über die Religionsphilosophie hinaus soll Heidegger aus den ›ständig wirksamen Perspektiven religiöser Verinnerlichung‹ erwachsen. Die gesuchte ›wahrhafte Religionsphilosophie‹ soll ihre Wahrhaftigkeit aus den neuen philosophischen Grundlagen der Philosophie des lebendigen Lebens gewinnen. Das ›Philosophieren überhaupt‹ nennt die philosophische Entfaltung der Philosophie des lebendigen Lebens. Auf diesem neuen philosophischen Boden soll dann auch die ›wahrhafte Religionsphilosophie‹ gesucht und entfaltet werden. Die frühen Briefe Heideggers an seine Braut und Ehefrau zwischen 1916 und 1918 geben uns einen gewissen Einblick in die denkerische Grundhaltung seiner frühesten Vorlesungen vom Wintersemester 1915/16 bis zum Wintersemester 1916/17, von denen im Nachlaß Heideggers nichts erhalten ist und von denen bislang auch keine studentischen Mitschriften aufgetaucht sind. (Vom Sommersemester 1917 bis Ende 1918 hatte Heidegger kriegsbedingt nicht gelesen). Das Erstaunliche ist, daß bereits Heideggers erste Vorlesung als Privatdozent, die unter dem Titel Über Vorsokratiker: Parmenides angekündigt war, von der Idee einer Philosophie des lebendigen Lebens getragen war. Die beiden folgenden Vorlesungen vom Sommersemester 1916 und Wintersemester 1916/17 hatten zum Thema Kant und die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts und Wahrheit und Wirklichkeit: Über Fichtes Wissenschaftslehre von 1794. Weil diese Vorlesungen von der Idee einer Philosophie des lebendigen Lebens direkt oder indirekt geleitet waren, wäre es ein großer Gewinn, wenn wir durch die eine oder andere Mitschrift ihren gedanklichen Verlauf verfolgen könnten. Als ich während der Zeit, da Heidegger mit mir seine geplante Gesamtausgabe vorbereitete, ihn nach dem Verbleib dieser Vorlesungsmanuskripte fragte, gab er mir zur Antwort, daß er diese nicht aufbewahrt habe, weil ihm damals nicht klar war, daß diese einmal Manuskripte von besonderer Bedeutung werden könnten. Ende des Jahres 1918 kehrt Heidegger von seinem aktiven Frontdienst bei der Frontwetterwarte in der Nähe von Verdun in die Heimat zurück. Am 9. Januar 1919 schreibt er an den mit ihm befreundeten Freiburger Dogmatiker Engelbert Krebs einen seit seiner Erstveröffentlichung durch Bernhard Casper viel zitierten 156 | friedrich-wilhelm von herrmann
Brief, in dem er seine seit 1916 gewonnene eigenste philosophische Grunderfahrung in einer Wortwahl, die für den Briefadressaten zugänglich ist, zusammenfaßt: »Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich mich um eine prinzipielle Klärung meiner philosophischen Stellungnahme mühte […], haben mich zu Resultaten geführt, für die ich, in einer außerphilosophischen Bindung stehend, nicht die Freiheit der Überzeugung und der Lehre gewährleistet haben könnte. Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht – nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne)«.11 Hier ist wohl zu beachten: Weder das Katholische als Frömmigkeit und Religiosität noch das Christentum, sondern nur das spezifische ›System‹, die rational-theoretische Ausformung des katholischen Christentums, ist es, was sich mit Heideggers philosophischer Grunderfahrung vom vortheoretischen Leben nicht mehr verträgt. Das Christliche des Christentums soll gerade in seiner unangetasteten Ursprünglichkeit auf dem neu zu legenden Boden einer Philosophie des lebendigen Lebens in der inaugurierten ›wahrhaften Religionsphilosophie‹ zu einer neuen Aneignung gelangen. Desgleichen soll an der Metaphysik festgehalten werden, wenn auch so, daß die Metaphysik in einem neuen Sinn ins Blickfeld rücken soll. Ihren neuen Sinn erhält die Metaphysik dadurch, daß sie ihrem bisherigen rein rationalen Boden entzogen und auf dem neuen Boden des lebendigen Lebens angesiedelt wird. Die Metaphysik wird zur Metaphysik des lebendigen, des faktischen Lebens, zur Metaphysik des Daseins. Das erste Semester nach Beendigung des Krieges erhält die Bezeichnung ›Kriegsnotsemester‹ und dauert vom 25. Januar bis zum 16. April 1919. In seiner Kriegsnotsemester-Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem12 bringt Heidegger seine seit 1916 angezielte Philosophie des lebendigen Lebens als ›vortheoretische Urwissenschaft‹ von der vor-theoretischen Erlebnissphäre in Ansatz. Die vortheoretische Erlebnissphäre ist die primäre, alles Theoretische fundierende Sphäre der ›Umwelterlebnisse‹, d. h. der Erlebnisse, des Erlebens des Umweltlichen in seinem primären Bedeutsamkeitscharakter. ›Bedeutsamkeit‹ meint hier nicht so etwas wie ›besondere Wichtigkeit‹, sondern das BeAnsatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 157
deutungshafte, in dem alles umweltliche Seiende primär begegnet. Das umweltliche Seiende begegnet nicht primär als sinnlicher Erfahrungs- und Erkenntnisgegenstand, sondern als das jeweilig so und so Bedeutsame. Das primäre Erleben des Bedeutsamen und das ihm entsprechende Sichverhalten zu ihm macht grundsätzlich und wesentlich die ›Lebendigkeit‹ des ›lebendigen Lebens‹ aus. Die eigenste Struktur dieses lebendigen Umwelterlebens hat nicht Vorgangs-, sondern Ereignis-charakter. Er-eignis soll hier besagen: das Leben und sein Umwelterleben ›leben aus dem Eigenen‹. Alle Umwelterlebnisse sind »Er-eignisse, insofern sie aus dem Eigenen leben und Leben nur so lebt«.13 Was hier als Er-eignis in den Blick genommen wird, wird später als Existenz gefaßt. In der Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 Grundprobleme der Phänomenologie14 wird die philosophische Urwissenschaft vom Umwelterleben systematisch zur ›Ursprungswissenschaft vom faktischen Leben‹ ausgebaut. Der Weltcharakter der Lebenswelt wird gegliedert in Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt, der Welt- als Bedeutsamkeitscharakter des konkreten Lebenserfahrungszusammenhanges gelangt zur schärferen Abhebung. Darüberhinaus werden auch erstmals die drei Sinnrichtungen des lebendigen, des faktischen Lebens gehoben: der Gehaltssinn als die Sinnrichtung des Welt-verstehenden Weltverhaltens, der Bezugssinn als die Sinnrichtung des Sorgetragens für den jeweiligen Bezug zur Welt (Bedeutsamkeit) und der Vollzugssinn als die Sinnrichtung dessen, wie der Bezug vollzogen wird. In der Vorlesung vom Sommersemester 1920 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks stoßen wir auf eine hochbedeutsame Textpassage, die an die im Brief vom 12. Mai 1918 geforderte ›wahrhafte Religionsphilosophie‹ anschließt. Dieser Text lautet: »Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie; christlich keine Etikette für eine schlechte und epigonenhaft griechische. Der Weg zu einer ursprünglichen christlichen – griechentumfreien – Theologie«.15 Die prinzipielle Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie soll zeigen, daß diese auf einem theoretisch angesetzten Boden erwachsen ist, der den primären vortheoretischen Boden des lebendigen, faktischen Lebens ver158 | friedrich-wilhelm von herrmann
schließt. Dies besagt, daß die Begrifflichkeit der griechischen Philosophie nicht unmittelbar aus dem faktischen Leben gewonnen ist. Demgegenüber aber lebt die frühchristliche Existenz so, wie sie uns im Neuen Testament entgegenkommt, aus der faktischen Lebenserfahrung des vortheoretischen, lebendigen Lebens. Wird nun aber die christliche Existenz mit den Begriffen etwa der Aristotelischen oder Neuplatonischen Philosophie interpretiert, dann wird die vortheoretisch lebende christliche Existenz durch die theoretische Begrifflichkeit verunstaltet. In einer so ausgerichteten Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie umwillen der Befreiung der christlichen Existenz von der griechischen Begrifflichkeit wird zugleich der Weg zu einer griechentumfreien, d. h. ursprünglichen christlichen Theologie gebahnt. Die zitierte Textpassage aus der Vorlesung von 1920 hat somit einen weit vorausgreifenden programmatischen Charakter. Dieses religionsphilosophische Programm – im Zuge der Philosophie des lebendigen Lebens, der Philosophie als Ur- und als Ursprungswissenschaft vom faktischen Leben – wird in den beiden folgenden Semestern ein Stück weit ausgeführt. In der grundlegenden religionsphänomenologischen Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 Einleitung in die Phänomenologie der Religion16 stellt Heidegger zuerst im Rückgriff auf die vorangegangenen systematischen Vorlesungen zur Philosophie (Phänomenologie) des faktischen Lebens die Grundstrukturen des faktischen Lebens heraus: den Gehaltssinn, den Bezugssinn und den Vollzugssinn, um auf diesem Boden eine hermeneutisch-phänomenologische Durchdringung von drei Paulus-Briefen in Gang zu setzen. Auf diesem Wege soll die urchristliche Religiosität des Neuen Testaments als urchristliche Lebenserfahrung im Sinne der faktischen Lebenserfahrung zur Auslegung gelangen. Mit den drei Sinnrichtungen des faktischen Lebens wird dessen Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit zur Abhebung gebracht. Im Zentrum der hermeneutisch-phänomenologischen Aufschließung des Galater-Briefes steht das Phänomen der paulinischen Verkündigung, in dem »der unmittelbare Lebensbezug der Selbstwelt des Paulus zur Umwelt und Mitwelt der Gemeinde erfaßbar ist«.17 In der hermeneutisch-phänomenologischen Auslegung der beiden Paulus-Briefe an die Thessalonicher rücken die Phänomene des Christgewordenseins der Thessalonicher und deren Erwartung Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 159
der Parousie Christi ins Blickfeld. Das Christgewordensein ist das eigene Vollzugswie des christlichen Lebens, das nicht etwa den Gehaltssinn (den Weltbezug) aufgibt, sondern diesen durch den Gottesbezug (Christusbezug) bestimmt sein läßt. Das christliche Leben vollzieht sich in seinem In-der-Welt-sein als ein Wandeln vor Gott und als ein Erharren der Parousie Christi. In dieser Weise ›lebt die christliche Religiosität die Zeitlichkeit‹, »die eine Zeit ohne eigene Ordnung und feste Stellen« ist.18 Der Sinn dieser ursprünglichen Zeitlichkeit »ist auch für die faktische Lebenserfahrung grundlegend, ebenso für Probleme wie etwa das der Ewigkeit Gottes«.19 An späterer Stelle heißt es: »Der Sinn der Zeitlichkeit bestimmt sich aus dem Grundverhältnis zu Gott, so allerdings, daß die Ewigkeit nur versteht, wer die Zeitlichkeit vollzugsmäßig lebt. Erst aus diesen Vollzugszusammenhängen kann der Sinn des Seins Gottes bestimmt werden«.20 In der religionsphänomenologischen Vorlesung, die auch als Paulus-Vorlesung bezeichnet werden kann, geht es vorerst nur um die hermeneutisch-phänomenologische Struktur-Auslegung des christlichen Lebens und seiner Sinnrichtungen, weil erst im Ausgang von diesen Klärungen die Fragen nach der Ewigkeit Gottes und nach dem Sinn des Seins von Gott (Christus) gestellt und einer Beantwortung entgegengeführt werden können. In der ebenfalls religionsphänomenologisch ausgerichteten Vorlesung vom Sommersemester 1921 Augustinus und der Neuplatonismus21 interpretiert Heidegger die durch die Gottsuche Augustins geleitete Selbstauslegung der anima bzw. vita aus dem X. Buch der Confessiones als weitgehend bestimmt durch die faktische Lebenserfahrung und deren Sinnrichtungen des Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinnes. Von den drei Selbstauslegungsanalysen Augustins im X. Buch ist es nicht so sehr die erste, die Selbstauslegung der memoria, sondern sind es die zweite und die dritte: die Selbstauslegung des Lebens in seiner Gottsuche als der Sorge (cura) um die vita beata (das glückselige Leben) und die Selbstauslegung des Lebens in seinem Grundcharakter der tentatio, der Versuchung, von denen Heidegger zeigt, daß sie Selbstauslegungen des vortheoretischen faktischen Lebens sind. In der Selbstauslegung der Sorge um die vita beata sind es die beiden Vollzugsweisen dieser Sorge, denen das vorrangige Interesse gilt. In der einen Vollzugsweise wird das glückselige Leben in diesen oder jenen lebensweltlichen Bedeutsamkeiten gesucht, d. h. 160 | friedrich-wilhelm von herrmann
im Abfallen von der primären Hinwendung zu Gott. In der anderen, entgegengesetzten Vollzugsweise der suchenden Seele ist es die Sorge um das wahre selige Leben, das als Leben mit und in Gott erfahren wird. In dieser Vollzugsweise läßt das faktische Leben seinen Weltbezug aus der primären Sorge um das wahre selige Leben bestimmt sein. Die Vollzugsweise des Abfallens vom wahren seligen Leben und Verfallens an die absolut genommenen weltlichen Bedeutsamkeiten zeigt, daß die vita, das faktische Leben des Menschen, wesenhaft durch die Versuchung (tentatio) bestimmt ist. Die Selbstauslegung des faktischen Lebens in seinem Grundcharakter des Versuchtwerdens bzw. Sichversuchens hebt drei Hauptrichtungen der tentatio heraus: die Versuchung durch die concupiscentia carnis (die Begierlichkeit des Fleisches), die Versuchung durch die concupiscentia oculorum (die Neugier) und die Versuchung durch die ambitio saeculi (die Eitelkeit der Welt). Die tentatio als Grundzug des in der Seinsweise der Sorge sich vollziehenden faktischen Lebens hält dieses Leben im Zwischen der beiden Seinsmöglichkeiten (Möglichkeiten des Vollzugssinnes) des Sichselbstverlierens und des Sichselbstgewinnens. Im Sichselbstverlieren gibt es der einen oder anderen tentatio nach und verfällt an die umweltlichen oder mitweltlichen oder selbstweltlichen Bedeutsamkeiten. In der Vollzugsweise des Sichselbstgewinnens holt sich das Leben aus seinem Verfallensein an die lebensweltlichen Bedeutsamkeiten zurück, um als weltbezügliches Selbst primär aus seinem Gottesbezug zu leben, der seinem Weltleben eine gewandelte Orientierung gibt. Sowohl in der Paulus- wie auch in der Augustinus-Vorlesung wird die christliche Existenz griechentumfrei, also ohne Rückgriffe auf aristotelische, neuplatonische oder stoische Begrifflichkeit aus dem faktischen Leben und dessen Seinscharakteren ausgelegt.
2. Die Philosophie »in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit« als »prinzipiell a-theistisch« Auf die beiden religionsphänomenologischen Vorlesungen folgt im Wintersemester 1921/22 die Vorlesung, die den zweiteiligen Titel trägt Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung.22 Ausgeführt wird in dieser Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 161
Vorlesung jedoch nur die ›Einführung in die phänomenologische Forschung‹, die aber im Dienst der ›Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles‹ steht, die das Thema der Vorlesung des Sommersemesters 1922 werden: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik.23 In der ›Einführung in die phänomenologische Forschung‹ schließt Heidegger an seine hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens aus seinen vorangegangenen Vorlesungen an und baut diese in beträchtlicher Weise aus. Zunächst knüpft er an die Sinnrichtungen des faktischen Lebens an: der Gehaltssinn des faktischen Lebens als ›Welt‹ qua Bedeutsamkeit; der Bezugssinn dieses Lebens als das Sorgen. Dann werden im Sinne der ausbauenden Erweiterung die Kategorien im Bezugssinn des Lebens zur Abhebung gebracht: die Neigung, die das Leben in seine Welt drängt; der Abstand und die Abstandstilgung; die Abriegelung, die Erleichterung als Wegsehen von sich selbst. Daran anschließend werden die Bewegungskategorien in der Neigung, in der Abstandstilgung und in der Abriegelung (Reluzenz und Praestruktion) freigelegt. Im Blick auf diese Bewegungskategorien kommt es zur Enthüllung der Ruinanz als jener Bewegtheit, die das faktische Leben gegen sich selbst vollzieht. In der Ruinanz zeigt sich die eine der beiden Vollzugsweisen des Vollzugssinnes, die Vollzugsweise des Sichselbstverlierens aus der Augustinus-Vorlesung. Auch diese so erweiterte und ausgebaute Analytik des faktischen Lebens könnte den Boden für einen Ausbau der phänomenologischen Religionsphilosophie abgeben, in die insbesondere die erste religionsphänomenologische Vorlesung vorerst nur eingeleitet hat. Doch in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Ende der Augustinus-Vorlesung und dem Beginn der Wintersemestervorlesung ist Heideggers Grundauffassung der Philosophie von einem tiefgreifenden Wandel erfaßt worden. In einem Aufzeichnungsblatt zu dieser Vorlesung, das die Überschrift trägt ›Zur Einleitung‹, heißt es: »Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein. Sie darf sich gerade ob ihrer Grundtendenz nicht vermessen, Gott zu haben und zu bestimmen. Je radikaler sie ist, umso bestimmter ist ein weg von ihm, also gerade im radikalen Vollzug des ›weg‹ ein eigenes schwieriges ›bei‹ ihm«.24 Hier schlägt Heidegger einen völlig neuen Ton an: Philo162 | friedrich-wilhelm von herrmann
sophie als hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens muß von der Gottesfrage freigehalten werden. Die philosophische Enthaltsamkeit gegenüber der Gottesfrage wird gekennzeichnet als »prinzipieller Atheismus«.25 Was besagt es, daß die Philosophie im radikalen Vollzug des ›weg‹ von Gott ein eigenes schwieriges ›bei‹ Gott ist? Bleibt dann noch eine dunkle Ahnung von Gott zurück, die aber nicht in die Philosophie des faktischen Lebens einbezogen werden darf ? Diese befremdende neue Haltung gegenüber der philosophischen Gottesfrage und einer phänomenologischen Religionsphilosophie verschärft sich um ein weiteres in dem Natorp-Bericht (Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles [Anzeige der hermeneutischen Situation]) von 1922, der die Gedankenführung der beiden aufeinander bezogenen Vorlesungen von 1921/22 und 1922 verdichtend darstellt: »wenn […] Philosophie gesonnen ist, das faktische Leben in seiner entscheidenden Seinsmöglichkeit in Sicht und Griff zu bringen, das heißt, wenn sie bei sich selbst radikal und klar ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten sich dafür entschieden hat, das faktische Leben von ihm selbst her aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten auf sich selbst zu stellen, das heißt, wenn die Philosophie grundsätzlich atheistisch ist und das versteht – dann hat sie entscheidend gewählt und für sich zum Gegenstand erhalten das faktische Leben hinsichtlich seiner Faktizität«.26 Zum Wort ›atheistisch‹ gibt es eine erläuternde Fußnote: »›Atheistisch‹ nicht im Sinne einer Theorie als Materialismus oder dergleichen. Jede Philosophie, die in dem, was sie ist, sich selbst versteht, muß als das faktische Wie der Lebensauslegung gerade dann, wenn sie dabei noch eine ›Ahnung‹ von Gott hat, wissen, daß das von ihr vollzogene sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens, religiös gesprochen, eine Handaufhebung gegen Gott ist. Damit allein aber steht sie ehrlich, d. h. gemäß der ihr als solcher verfügbaren Möglichkeit vor Gott; atheistisch besagt hier: sich freihaltend von verführerischer, Religiosität lediglich beredender Besorgnis. Ob nicht schon die Idee einer Religionsphilosophie, und gar wenn sie ihre Rechnung ohne die Faktizität des Menschen macht, ein purer Widersinn ist?«27Angesichts dieser schroffen Absage an die philosophische Gottesfrage, die Heidegger auf dem ersten Wegabschnitt der Hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens so Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 163
ernsthaft und fruchtbar gestellt und ausgearbeitet hat, drängt sich die Frage auf, was sich wohl im Denken Heideggers innerhalb weniger Monate ereignet hat. Ist er in der voranschreitenden Ausarbeitung seiner Philosophie des faktischen Lebens auf einen oder gar mehrere Sachverhalte gestoßen, die von sich aus ein Fragen nach dem Gottesbezug und nach Gott selbst als unvereinbar oder gar widersprüchlich erscheinen lassen? Oder sollte es sich um ein existenzielles Motiv handeln: der plötzliche Verlust der sonst so tief erfahrenen Gottesnähe, ein Verlust, der ihn nicht mehr zur Fortsetzung seines Fragens nach der wahrhaften Religionsphilosophie anstößt? Gehen wir einigen besonders markanten Wendungen aus der Zurückweisung der Gottesfrage nach. Die Wendung von der Philosophie ›in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit‹ könnte die Meinung aufkommen lassen, daß auf dem bisher zurückgelegten Weg der Philosophie des faktischen Lebens diese ihre Fraglichkeit noch nicht ›auf sich selbst‹, sondern auf ein Anderes, etwa auf Gott gestellt hat, wenn diese Philosophie zugleich die Gottesfrage aus dem faktischen Leben heraus stellt. Doch eine solche Meinung geht in die Irre. Es muß klar gesehen und ausgesprochen werden, daß die Hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens seit ihrem ausdrücklichen Einsatz in der Kriegsnotsemester-Vorlesung ihre Einsichten ohne Anleihen beim alt-und neutestamentarischen Offenbarungswissen rein hermeneutisch-phänomenologisch aus der ›Sache selbst‹, die das faktische Leben ist, gewonnen hat. Ein solches hermeneutischphänomenologisches Vorgehen stellt seine Fraglichkeit ›auf sich selbst‹, ohne aber dadurch auch schon ›atheistisch‹ sein zu müssen. Es steht vielmehr vor zwei Möglichkeiten: sich entweder auf das allein phänomenologisch Freigelegte zu beschränken und damit auf eine philosophische Gottesfrage zu verzichten oder aber bewußt aus der Quelle der Offenbarung zu schöpfen und zu fragen, wie der Gottesbezug von den Möglichkeiten des faktischen Lebens her gefaßt werden kann. Letztere Möglichkeit hatte Heidegger auf seinem bisherigen Wegabschnitt ergriffen, ohne daß er dadurch das phänomenologische Prinzip der ›sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit‹ fallengelassen hätte. Wenn die Philosophie des faktischen Lebens auf ihrem rein phänomenologisch gelegten Boden nunmehr auch die Gottesfrage stellt, so, wie sie diese in der Ein164 | friedrich-wilhelm von herrmann
leitung in die Phänomenologie der Religion gestellt hat, dann vermißt sie sich nicht, ›Gott zu haben und zu bestimmen‹. Denn sie versucht nicht, Gott auf phänomenologischem Wege aus dem faktischen Leben zum Aufweis zu bringen, um ihn so zu haben und zu bestimmen. In ihrer phänomenologischen Gottesfrage ergreift sie bewußt die Quelle der Offenbarung, so wie diese sich in den Schriften des Neuen Testaments niedergeschlagen hat, um nun zu fragen, wie vom faktischen Leben her der Bezug zum geoffenbarten Gott und der in diesem Bezug erfahrene Gott bestimmt werden können. Radikal und radikaler ist die Philosophie des faktischen Lebens, wenn sie sich ausschließlich an das phänomenologische Prinzip hält und dieses von der Offenbarungsquelle unterscheidet. Wenn sie dann auf dem rein phänomenologisch gewonnenen Boden des faktischen Lebens mit Blick auf die Offenbarungsquelle die Gottesfrage stellt, gibt sie nicht etwa nachträglich ihre anfängliche Radikalität wieder auf. Entscheidet sich aber die Philosophie, die philosophische Gottesfrage nicht zu stellen, dann müßte sie deshalb nicht als ›a-theistisch‹ und ein ›weg‹ von Gott bestimmt werden. Die Verwendung des Wortes ›a-theistisch‹ ist in jedem Fall verfänglich, ja sogar irreführend, es sei denn, es spräche aus dieser Wortwahl eine Absage an die eigene Wahrheit der Offenbarung. In dem zitierten Textstück aus dem Natorp-Bericht wird die Philosophie des faktischen Lebens zunächst in ihrem rein hermeneutischphänomenologischen Charakter beschrieben. Die Philosophie, die gesonnen ist, ›das faktische Leben in seiner entscheidenden Seinsmöglichkeit in Sicht und Griff zu bringen‹, ist eine solche, die sich ›radikal und klar ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten‹ entschieden hat, ›das faktische Leben von ihm selbst her aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten auf sich selbst zu stellen‹. Die Wendungen: ›ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten‹ und ›das faktische Leben von ihm selbst her [nur] aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten her‹ auszulegen, kennzeichnen das hermeneutisch-phänomenologische Vorgehen und damit diejenige Vorgehensweise, der die bisher ausgeführte Hermeneutik des faktischen Lebens gefolgt ist. Wenn es aber bei Heidegger heißt: ›ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten‹ das faktische Leben ›auf sich selbst stellen‹ und wenn diese Vorgehensweise der Philosophie als ›grundsätzlich atheistisch‹ Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 165
erklärt wird, dann soll damit mehr gesagt werden. Dann sind mit den ›weltanschaulichen Betriebsamkeiten‹ auch die Religion und die religionsphilosophische Gottesfrage gemeint, dann heißt das Sich-auf-sich-selbst-stellen des Lebens: das Leben nicht auf etwas anderes als das Leben, nicht auf Gott stellen. Läßt sich aber Religion in den Begriff der weltanschaulichen Betriebsamkeiten einordnen? Und wenn auf dem rein phänomenologisch aufgewiesenen Boden des faktischen Lebens mit Blick auf die Offenbarungsquelle die Gottesfrage gestellt wird (wie in der Einleitung in die Phänomenologie der Religion), dann wird der rein phänomenologische Aufweis des faktischen Lebens nicht etwa rückgängig gemacht, sondern das nur phänomenologisch Aufgeschlossene erhält aus der Offenbarung zusätzlich eine Überformung, die die Phänomenologie selbst nicht zu geben vermag. In dem zitierten Fußnotentext aus dem Natorp-Bericht wird die sich auf sich selbst stellende Fraglichkeit der Philosophie des faktischen Lebens als ein ›sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens‹ und dieses als ›eine Handaufhebung gegen Gott‹ aufgefaßt. Das klingt wieder so, als ob der bisherige Gang der Hermeneutik des faktischen Lebens mit Hilfe der Gottesfrage beschritten sei.Wir aber haben streng unterschieden zwischen der rein phänomenologischen Aufschließung des faktischen Lebens ohne Mitaufschließung des Gottesbezuges und der anschließenden Gottesfrage auf dem Boden des faktischen Lebens und unter Inanspruchnahme der Offenbarungsquelle. Die Selbstbeschränkung der Philosophie auf die bloße phänomenologische Aufweisung und der daraus sich ergebende Verzicht auf eine philosophische Gottesfrage muß nun aber nicht als eine ›Handaufhebung gegen Gott‹ verstanden werden – es sei denn, aus dieser sprachlichen Wendung bekundete sich nicht nur eine legitime Beschränkung, sondern so etwas wie ein Infragestellen der Offenbarung. Zwar wird gesagt, es bestehe ›noch eine Ahnung von Gott‹, so daß die Philosophie in ihrer Handaufhebung gegen Gott ›ehrlich vor Gott‹ stehe. Welcher Art ist diese ›Ehrlichkeit‹? Ehrlich vor Gott stehen soll nach Heidegger heißen: gemäß der Möglichkeit, über die die Philosophie verfügt, vor Gott stehen. Es ist die phänomenologische Möglichkeit, das faktische Leben zu sich selbst zurückzureißen und von ihm selbst her aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten auszulegen. Ehrlich ist dieses 166 | friedrich-wilhelm von herrmann
Philosophieren vor Gott dann, wenn es sich auf das beschränkt, was es aus eigenem Vermögen zum Aufweis bringt. Diese Haltung der Philosophie kennzeichnet Heidegger als ›a-theistisch‹, weil sie sich frei hält von einem Verhalten, das Religiosität ›lediglich beredet‹. Aber seine eigene phänomenologische Religionsphilosophie war doch das ganze Gegenteil von einem bloßen Bereden der Religiosität. Ihretwegen braucht die sich fortsetzende Phänomenologie des faktischen Lebens nicht die scheinbar ehrliche Haltung des prinzipiellen A-theismus anzunehmen. Und inwiefern ist ›schon die Idee einer Religionsphilosophie ein purer Widersinn‹? Ein Widersinn und Widerspruch zur streng phänomenologisch vorgehenden Philosophie des faktischen Lebens wäre die phänomenologische Religionsphilosophie, wenn die Philosophie ihrerseits den phänomenologischen Nachweis führen könnte, daß einerseits das phänomenologisch Aufgewiesene dem Offenbarungsgehalt und daß andererseits der Offenbarungsgehalt dem phänomenologisch Aufgeschlossenen widerspricht. Dieser Nachweis kann aber nicht geführt werden. Was Heidegger hier vom ›Widersinn‹ sagt, ist bereits ein Vorgriff auf seine spätere Kennzeichnung der christlichen Philosophie als ein ›hölzernes Eisen‹, der wir uns noch zuwenden werden. In seiner Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs – jene Vorlesung, die in ihrem Hauptteil eine vorlesungsmäßige Darstellung des Ersten Abschnitts von Sein und Zeit (1927) ist – geht Heidegger erneut auf den a-theistischen Charakter der Hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens und Daseins ein: »Philosophische Forschung ist und bleibt A-theismus, deshalb kann sie sich die ›Anmaßung des Denkens‹ leisten, nicht nur wird sie sich sie leisten, sondern sie ist die innere Notwendigkeit der Philosophie und die eigentliche Kraft, und gerade in diesem A-theismus wird sie zu dem, was ein Großer einmal sagte, zur ›Fröhlichen Wissenschaft‹«.28 Die ›Anmaßung des Denkens‹ ist die sich auf sich selbst stellende Fraglichkeit, ist der Verzicht auf die Gottesfrage, nicht nur aus Selbstbeschränkung der Philosophie, sondern darüberhinaus aus der Erfahrung »Gott ist tot«, die Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft ausspricht, auf die Heidegger sich hier bezieht. Somit enthält Sein und Zeit,29 die systematisch durchgeführte Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, in die der 1919 Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 167
beginnende Weg der Phänomenologie des faktischen Lebens einmündet, auch keinen Hinweis mehr auf die einst aus der Hermeneutik des faktischen Lebens entfaltete Gottesfrage. Allerdings teilt Heidegger 1947 in einem Brief an Max Müller diesem mit, daß die erste Ausarbeitung des 1927 dann nicht mit veröffentlichten III. Abschnittes Zeit und Sein außer der ontologischen als der transzendentalen Differenz von Sein und Seiendem eine »transzendente (theologische) Differenz«30 von Sein und Gott unterschieden habe. Diese erste Ausarbeitung wurde aber von Heidegger in den Januartagen von 1927 vernichtet. Die neue, die zweite Ausarbeitung der Thematik des III. Abschnittes Zeit und Sein, die Heidegger im Sommersemester 1927 als Vorlesung unter dem Titel Die Grundprobleme der Phänomenologie31 angelegt, aber auch nicht veröffentlicht hat, handelt wohl ausführlich von der ontologischen Differenz als dem ersten der insgesamt vier fundamentalontologischen Grundprobleme, aber nennt nirgendwo die ›transzendente (theologische) Differenz‹. Die Erwähnung dieser theologischen Differenz in der ersten Ausarbeitung geschah nicht, um die Gottesfrage an Hand der theologischen Differenz auszuarbeiten. Daß die theologische Differenz gegenüber der transzendentalen Differenz von Sein und Seiendem eine transzendente Differenz genannt wird, sollte anzeigen, daß ›Gott‹ gegenüber dem Sein, d. h. der Erschlossenheit oder Wahrheit des Seins, die allein das Thema der Philosophie des Daseins ist, transzendent ist, also außerhalb der philosophischen Forschung liegt. In diesen Zusammenhang gehört der im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit ausgearbeitete, am 8. Juli 1927 in Tübingen gehaltene und am 14. Februar 1928 in Marburg wiederholte Vortrag Phänomenologie und Theologie.32 Denn er bedenkt und bestimmt das Verhältnis der Hermeneutischen Phänomenologie des Daseins von Sein und Zeit zur christlichen Theologie, und umgekehrt das Verhältnis der christlichen Theologie zur Hermeneutischen Phänomenologie des Daseins. Heidegger umgrenzt das Wesen des christlichen Glaubens (des Gegenstandes der Theologie) als »eine Existenzweise des menschlichen Daseins«.33 Das erinnert sofort an die religionsphänomenologische Vorlesung von 1920/21 Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Auch jetzt in der a-theistisch ausgerichteten Phänomenologie des Daseins hält Heidegger an 168 | friedrich-wilhelm von herrmann
dieser frühen Einsicht fest, nur mit dem Unterschied, daß er diese Bestimmung und das Weitere, das sich daraus ergibt, nicht mehr in einer Religionsphänomenologie bearbeitet. Wenn der christliche Glaube eine Existenzweise des Daseins ist, dann ist er eine Weise des Existierens im Da als der Erschlossenheit der Welt qua Bedeutsamkeit. Als das Eigentümliche dieser Existenzweise hebt Heidegger hervor, daß sie weder aus dem faktischen Dasein, noch durch das Dasein »aus freien Stücken gezeitigt wird«34 wie die sonstigen Existenzweisen bzw. Existenzmöglichkeiten des Daseins. Denn die Existenzweise des Glaubens wird gezeitigt »aus dem Geglaubten«,35 d. h. aus dem Offenbarten der Offenbarung, und dieses kennzeichnet Heidegger als »Christus, der gekreuzigte Gott«.36 In der glaubenden Teilhabe am Kreuzigungsgeschehen wird »das ganze Dasein als christliches, d. h. kreuzbezogenes vor Gott gestellt«.37 Dies aber ist das »Umgestelltwerden der Existenz in und durch die gläubig ergriffene Barmherzigkeit Gottes«.38 In der Existenzweise des Glaubens nimmt das existierende In-der-Welt-sein einen neuen Modus an und eine neue Orientierung. Damit greift Heidegger den Vollzugssinn und das Vollzugswie aus der Paulus-Vorlesung auf. Im Glauben bleibt das daseinsmäßige In-der-Welt-sein, was es ist, aber es modifiziert seine Existenzmöglichkeiten des In-der-Welt-seins in deren Ausgerichtetheit in einer Weise, zu der es von sich allein aus nicht fähig wäre. Denn in der Existenzweise des Glaubens ist das Dasein »zum Knecht geworden, vor Gott gebracht und so wiedergeboren«.39 Diese Wiedergeburt ist »der eigentliche existenzielle Sinn des Glaubens«.40 Heidegger unterstreicht: »Der Glaube [selbst außerhalb seiner theologisch-wissenschaftlichen Thematisierung] bedarf nicht der Philosophie«,41 denn er ist autonom. Doch die Theologie als Wissenschaft vom Glauben und Geglaubten bedarf der Philosophie in Gestalt der hermeneutisch-phänomenologischen Ontologie des Daseins. Aber die Theologie bedarf der Phänomenologie »nicht zur Begründung und primären Enthüllung […] der Christlichkeit«,42 die sich allein in der Offenbarung enthüllt und aus dieser begründet. Die Theologie bedarf der Phänomenologie als der Existenzialontologie des Daseins »nur mit Rücksicht auf ihre Wissenschaftlichkeit«.43 Aus der Unterscheidung zwischen der christlichen Existenzweise und der Existenz als solcher in ihrer existenzialontologischen Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 169
Verfaßtheit ergibt sich der Unterschied, daß »alle theologischen Grundbegriffe« einen christlichen, aus der Offenbarungsquelle geschöpften und einen »sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational faßbaren Gehalt«44 haben. Rein rational faßbar heißt hier: nicht aus der Offenbarung stammend. Es ist der rein hermeneutisch-phänomenologisch aufweisbare Gehalt dessen, was die Existenzialontologie an existenzialer Struktur der Existenz freilegt und was den rein christlichen Gehalt der theologischen Begriffe ontologisch bestimmt. Exemplarisch hebt Heidegger am theologischen Begriff der Sünde den rein christlichen, zur Offenbarung gehörenden, und den rein phänomenologisch faßbaren ontologischen Gehalt ab. Sünde ist zuerst der Begriff eines reinen Glaubensphänomens. Für die theologisch-begriffliche Auslegung des Sündenbegriffes ist jedoch der »Rückgang auf den Begriff der Schuld«,45 auf den existenzialontologischen Begriff des existenzialen Schuldigseins (Sein und Zeit § 58), erforderlich. Aus diesem Rückgang ergibt sich der Bezug der Theologie zur Phänomenologie als der phänomenologischen Existenzialontologie des seinsverstehenden Daseins. Der existenziale Schuldbegriff fungiert somit als ontologischer »Leitfaden für die theologische Explikation der Sünde«.46 Heidegger kennzeichnet nun diese ontologische Leitfadenfunktion der existenzialen Begriffe für die theologischen Grundbegriffe mit dem Begriff der ›Korrektion‹.47 ›Korrektion‹ bedeutet hier nicht etwa ›Korrektur‹. Die theologischen Grundbegriffe sollen nicht durch die existenzialontologischen Begriffe ›korrigiert‹ werden. Der Begriff ›Korrektion‹ wird von Heidegger vielmehr in der Bedeutung der ›Mitleitung‹48 verwendet. Der theologische Begriff der Sünde erhält durch den existenzialontologischen Begriff des existenzialen Schuldigseins diejenige Korrektion, also Mitleitung, »die für ihn als Existenzbegriff [als Begriff von einer ontischen Existenzweise] seinem vorchristlichen Gehalte nach notwendig ist.«49 Der theologische Begriff der Sünde erhält seine Mitleitung, seine Korrektion, aus der Existenzialontologie. Aber seine »primäre Direktion«, seine »Herleitung«, »den Ursprung seines christlichen Gehaltes«,50 empfängt er allein aus dem Glauben und der Offenbarung. Wie bereits erstmals in der Vorlesung von 1921/22, so wird auch in Phänomenologie und Theologie die Philosophie der Daseinsontologie, also die so verstandene Phänomenologie, bestimmt als »das 170 | friedrich-wilhelm von herrmann
freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins«.51 Es ist das philosophische Fragen, das sich selbst von der Offenbarung freihält, indem es das seinsverstehende Dasein nur soweit zum Thema hat, wie das Dasein ohne Offenbarungswissen rein hermeneutischphänomenologisch zum Aufweis und zur Auslegung gebracht werden kann. Daher verzichtet die Daseinsphänomenologie auf eine Phänomenologie der Religion, in der sie sich auch auf die Offenbarungsquelle beziehen müßte. Aus dieser Selbstbestimmung der Philosophie als phänomenologischer Daseinsontologie gibt nun Heidegger eine Charakterisierung der Existenzmöglichkeit des Glaubens in ihrem Verhältnis zur Existenzmöglichkeit der Philosophie als der Hermeneutischen Phänomenologie des Daseins (Fundamentalontologie). Obwohl die Existenzialontologie die ontologische Korrektion des vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe ist (z. B. das existenzielle Schuldigsein als ontologische Korrektion für den vorchristlichen Gehalt der Schuld im theologischen Begriff der Sünde), bleibt »der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen […] Existenzform der Todfeind«.52 Gläubigkeit aus der Offenbarungsquelle, die nicht phänomenologisch wie die Existenzialien des Daseins aufgewiesen werden kann, weil sie eine Quelle sui generis ist, und ›freie Selbstübernahme des ganzen Daseins‹ stehen in einem ›existenziellen Gegensatz‹.53 Daraus folgt für Heidegger: »Es gibt daher nicht so etwas wie eine christliche Philosophie, das ist ein ›hölzernes Eisen‹«,54 somit ein Widerspruch. Der ›existenzielle Gegensatz‹ zwischen Gläubigkeit und der Philosophie als der freien Übernahme des ganzen Daseins soll somit kein konträrer, sondern ein kontradiktorischer Gegensatz, ein Widerspruch sein, ein hölzernes Eisen. Was besagt nun aber genauer besehen die Bestimmung des Glaubens als ›Todfeind‹ der Daseinsphilosophie? Was ist es am Glauben, daß er im Widerspruch zur Daseinsphilosophie steht? Die von Heidegger verwendeten Begriffe ›Todfeind‹ und ›hölzernes Eisen‹ bedürfen jetzt von uns aus der kritischen Befragung und Überprüfung. Die Rede vom ›Todfeind‹ will sagen, daß der Kern des christlichen Glaubens der Feind sei, der auf den Tod, auf die Negation dessen, was die Daseinsphilosophie als Wesen der Endlichkeit des Daseins rein phänomenologisch aufschließt, ausgerichtet ist. Der existenzialAnsatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 171
ontologische Begriff des Todes, wonach der Tod die »Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit«55 ist, scheint durch den Offenbarungsgehalt der ›Auferstehung vom Tode‹ verneint zu werden. Der christliche Glaube scheint zu verneinen, was die Daseinsphänomenologie zu Recht als einen wirklichen Aufweis beansprucht. Doch was hier so scheint, ist doch wohl ein bloßer Schein. Denn der Glaubensgehalt von der Verheißung des ewigen Lebens richtet sich nicht gegen den phänomenologisch aufweisbaren phänomenalen Gehalt des Seins-zum-Tod und des in dieser Seinsweise als Tod Verstandenen. Vielmehr bleibt die phänomenologische Einsicht in den daseinsmäßigen Tod als die schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit durch den Glaubensgehalt unangetastet. Denn der Offenbarungsgehalt von der ›Auferstehung‹ intendiert solches, was sich im Tod als der abgründigen Verschlossenheit verbirgt. Aber auch umgekehrt: Der sich als schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit im Da des Daseins zu verstehen gebende Tod vermag seinerseits nicht den Glaubensgehalt vom ›ewigen Leben‹ in rein phänomenologischer Weise in Frage zu stellen oder zu negieren. So weit reichen die Möglichkeiten des phänomenologischen Aufschließens nicht. Das ›ewige Leben‹ leugnet nicht den daseinsmäßigen Tod. Der im existierenden Sein zum Tod sich erschließende Tod als die schlechthinnige Verschließung der Erschlossenheit des Daseins muß nicht verleugnet werden, um für die geoffenbarte Auferstehung frei zu werden. Die Offenbarung von der Auferstehung hat vielmehr den Tod als schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit zur konstitutiven Voraussetzung. Denn je radikaler die hermeneutisch-phänomenologische Aufschließung des Daseins und seiner Endlichkeit sich vollzieht, desto vernehmbarer kann der aus der Offenbarung ergehende Anruf an die selbsthaft erschlossene Existenz ergehen. Wenn die hermeneutisch-phänomenologische Daseinsanalytik sich auf das rein phänomenologisch Aufweisbare beschränkt, was ihr gutes Recht ist, dann würde sie ihre Selbstbeschränkung in dem Falle doch überschreiten, in dem sie den aus der Offenbarung lebenden Glauben im Widerspruch zu ihrem phänomenologischen Aufweis der Endlichkeit des Daseins sieht. Denn sie würde sich anmaßen, von ihrem Aufweis des Todes als der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit her den jenseits des daseinsmäßigen Todes sich haltenden Glaubensgehalt von der ›Auferstehung‹ und dem 172 | friedrich-wilhelm von herrmann
›ewigen Leben‹ als widersinnig zu erklären. Solange sich daher die Daseinsphilosophie nur innerhalb ihrer Grenzen des rein phänomenologisch Aufweisbaren hält, gerät sie in keinen Widerspruch zum Offenbarungsgehalt des Glaubens. In einem solchen Selbstverständnis ist die Daseinsphänomenologie zwar keine »christliche« Philosophie, aber auch keine antichristliche Philosophie. Damit ist aber andererseits die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß eine hermeneutisch-phänomenologische Philosophie des Daseins im klaren Wissen um den Unterschied zwischen dem phänomenologisch Aufweisbaren und der Offenbarungsquelle sich in einem zweiten Schritt auch auf den Boden des Offenbarungswissens stellt, um auf dem Boden des rein phänomenologisch Aufgewiesenen eine phänomenologische Religionsphilosophie zu entfalten, ohne zum ›hölzernen Eisen‹ zu werden. Diesen Weg hatte Heidegger selbst in seiner religionsphänomenologischen Vorlesung eingeschlagen. Und nach allem, was wir jetzt über das Verhältnis des phänomenologisch Aufweisbaren und des in der Offenbarung Offenbarten ausgeführt haben, sind wir legitimiert, an diesen frühen fruchtbaren Weg Heideggers anzuschließen und diesen Weg fortzusetzen, ohne von den Schreckbildern des ›Todfeindes‹ und ›hölzernen Eisens‹ gehindert zu werden. In dem 1937/38 verfaßten Manuskript Ein Rückblick auf den Weg56 und hier innerhalb des ersten von zwei Texten mit der Überschrift Mein bisheriger Weg57 gibt Heidegger einen Überblick über seinen Weg des Denkens von seiner Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (1913) bis zum Abschluß des seinsgeschichtlichen Grundwerkes Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1937/38). Daran anschließend äußert er sich in einem längeren Absatz zu seiner ›Auseinandersetzung mit dem Christentum‹. Wir zitieren diesen Absatz in seiner vollständigen Länge: »Und wer wollte verkennen, daß auf diesem ganzen bisherigen Weg verschwiegen die Auseinandersetzung mit dem Christentum mitging, – eine Auseinandersetzung, die kein aufgegriffenes ›Problem‹ war und ist, sondern Wahrung der eigensten Herkunft – des Elternhauses, der Heimat und der Jugend – und schmerzliche Ablösung davon in einem. Nur wer so verwurzelt war in einer wirklichen gelebten katholischen Welt, mag etwas von den Notwendigkeiten ahnen, die auf dem bisherigen Weg meines Fragens wie unterirdische Erdstöße wirkten. Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 173
Die Marburger Zeit brachte dazu noch die nähere Erfahrung eines protestantischen Christentums – alles aber schon als Jenes, was von Grund aus überwunden, nicht aber zerstört werden muß. – Es ist nicht schicklich, von diesen innersten Auseinandersetzungen zu reden, die nicht um Fragen der Dogmatik und der Glaubensartikel sich drehen, sondern nur um die eine Frage, ob der Gott vor uns auf der Flucht ist oder nicht und ob wir selbst dieses noch wahrhaft und d. h. als Schaffende erfahren.«58 Auf dem ›ganzen bisherigen Weg‹ ging die ›Auseinandersetzung mit dem Christentum‹ verschwiegen mit: zuerst als Auseinandersetzung mit dem System des Katholizismus (1916), sodann als die erste und für alles weitere entscheidende Auseinandersetzung mit dem Christentum als solchem (seit Winter 1921/22), so daß sich die Philosophie der Hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens als ›a-theistisch‹ in dem erläuterten Sinne selbst bestimmt. Die Auseinandersetzung wird angezeigt als ›schmerzliche Ablösung‹ in der gleichzeitigen Wahrung der eigensten Herkunft. Die Ablösung geschah aus ›den Notwendigkeiten‹, die auf dem bisherigen Weg ›wie unterirdische Erdstöße‹ wirkten. Die ›nähere Erfahrung eines protestantischen Christentums‹ in der Marburger Zeit gehörte schon zu dem, ›was von Grund aus überwunden‹ werden muß. In der Tat, als Heidegger zum Wintersemester 1923/24 nach Marburg in die Nähe Bultmanns kam, hatte er die entscheidende Ablösung vom Christentum und der christlichen Gottesfrage aus dem Wintersemester 1921/22 hinter sich. Wenn nun aber Heidegger von seinen Auseinandersetzungen mit dem Christentum sagt, daß sie sich ›nur um die Eine Frage [drehen], ob der Gott vor uns auf der Flucht ist oder nicht und ob wir selbst dieses noch wahrhaft und d. h. als Schaffende erfahren‹, dann kennzeichnet er diese Auseinandersetzungen jetzt aus der Blickstellung seines seinsgeschichtlichen Denkens, in das sich das transzendental-horizontale Denken von Sein und Zeit gewandelt hat. Das seins- oder ereignisgeschichtliche Denken denkt aus der Erfahrung der seinsgeschichtlichen ›Flucht‹ des alttestamentarisch-neutestamentarischen Gottes. Es steht in der Einen, also entscheidenden Frage, ›ob der Gott vor uns auf der Flucht ist oder nicht‹. Diese Frage wird also noch im ›ob – oder‹ formuliert. Zu dieser Einen Frage gehört, ob wir selbst die Flucht oder Nicht-Flucht wahrhaft ›als Schaffende‹ erfahren. Hier lehnt 174 | friedrich-wilhelm von herrmann
sich Heidegger an Hölderlin und Nietzsche an: an »die Spur der entflohenen Götter« aus Hölderlins Elegie Brot und Wein, 9. Strophe, Vers 147,59 und an die Wendung Nietzsches aus Der Antichrist »Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott«,60 die den Gedanken des schaffenden Erdenkens eines neuen Gottes einschließt.
3. »Der letzte Gott« als der »ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen« Gott. Das Ereignis und der »letzte Gott« Anfang der dreißiger Jahre wandelt sich die transzendental-horizontale Blickbahn der Hermeneutischen Phänomenologie des Daseins (Sein und Zeit) in die seins- oder ereignisgeschichtliche Blickbahn, in der die Zusammengehörigkeit der Wahrheit des Seins und des Da-seins im und als ›Ereignis‹ erfahren und gedacht wird. Mit diesem immanenten Wandel des Denkens Heideggers wandelt sich auch Heideggers Stellungnahme zur Gottesfrage. Während seit dem Wintersemester 1921/22 die christliche Gottesfrage einer hermeneutisch-phänomenologischen Religionsphilosophie und christlichen Philosophie aus der Philosophie als der Hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens und Daseins herausgenommen und aufgegeben wird, taucht mit dem Einsatz des seinsgeschichtlichen Denkens die Gottesfrage als solche wieder auf, aber nicht als christliche, sondern nunmehr als ereignisgeschichtliche Gottesfrage, in der die christliche Gottesfrage endgültig verabschiedet bleibt. Das Grundwerk für das seins- oder ereignisgeschichtliche Denken sind die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–38).61 Wie kommt es zu dem – wie wir betonen – immanenten Wandel des Denkens von Sein und Zeit zu den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)? In welchem Verhältnis steht das letztere zum ersteren? Wo setzt der Wandel innerhalb des Sachfeldes von Sein und Zeit für den Übergang in das Sachfeld der Beiträge an? Bei der Bedeutung des ›Da‹ aus dem Da-sein. Das Da bedeutet in Sein und Zeit ›Erschlossenheit‹, Lichtung als Gelichtetheit, Erschlossenheit des Seins im Ganzen, d. h. als selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit des Seins als Existenz in deren Existenzialien, und als horizontale Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 175
Erschlossenheit des Seins alles nichtdaseinsmäßigen Seienden, in die die Existenz ekstatisch-verstehend entrückt ist. Sie ist entrückt in ihren fundamentalen Seinsweisen der Geworfenheit in die Erschlossenheit und des geworfenen Entwerfens, d. h. Mitaufschließens der Erschlossenheit. Der seinsgeschichtliche Wandel setzt in der denkerischen Erfahrung ein, daß das Da, die ganzheitliche Erschlossenheit von Bedeutsamkeitswelt und Sein, daß die Erschlossenheit, also die Gelichtetheit des Seins, an ihr selbst geschichtlich ist. Das Da des Da-seins erweist sich als eine jeweilige geschichtliche Gelichtetheitsweise. Als seinsmäßige Herkunft dieser geschichtlichen Gelichtetheitsweise zeigt sich die seinsmäßige Herkunft der Geworfenheit aus einem werfenden-lichtenden Zuwurf, dem die Geworfenheit in die geschichtliche Gelichtetheitsweise und in das mitlichtende Entwerfen entspringt. Den lichtenden Zuwurf nennt Heidegger ein ›Er-eignen‹, insofern die geworfen-entwerfende Existenz darin zum ›Eigentum‹ der lichtenden Lichtung des Seins wird. Hierzu korrespondierend erhält die Geworfenheit des Entwerfens die Kennzeichnung eines ›Ereignetseins‹ aus dem ereignenden Zuwurf. Der er-eignende Zuwurf der Lichtung des Seins und der ereignete mitlichtende Entwurf bilden zusammen die beiden gegenschwingenden Wesensbezüge, die das ausmachen, was Heidegger ›das Ereignis‹ nennt. Das Denken des Ereignisses durchläuft in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) einen Aufriß von sechs Kapiteln, die Heidegger ›Fügungen‹ nennt und die in ihrem Geschehenszusammenhang ›die Fuge‹ des Ereignisses bilden. Diese Fügungen sind: Der Anklang, Das Zuspiel, Der Sprung, Die Gründung, Die Zukünftigen, Der letzte Gott. Das als Gegenschwung von ereignendem Zuwurf der Lichtung des Seins und ereignetem Entwurf des Da-seins verfaßte Er-eignis ist in der sechsten Fügung der Erscheinungsraum des ›letzten Gottes‹. Über der sechsten Fügung ›Der letzte Gott‹ steht als Motto »Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen«.62 Hier wird der Gott, der als der ›letzte‹ angesprochen wird, der ›ganz Andere‹ genannt, der ganz andere Gott gegenüber den ›Gewesenen‹, den gewesenen griechischen und römischen, aber auch germanischen, und ›zumal‹, d. h. besonders, vor allem gegenüber dem christlichen Gott. Dieser Absetzung des ›letzten Gottes‹ gegen die gewesenen Götter liegt der seinsgeschicht176 | friedrich-wilhelm von herrmann
liche Grundgedanke zugrunde, daß alle gewesenen Götter zu jener seinsgeschichtlichen Bestimmung des Seins gehören, die das Sein als die Seiendheit des Seienden gefaßt hat. In dieser Bestimmung des Seins des Seienden verhüllte sich das ursprünglichere Wesen des Seins, dem das Sein als Seiendheit entspringt, die Wahrheit als die Lichtung des Seins. Die griechischen Götter und der christliche Gott gehören zur Bestimmung des Seins als Seiendheit des Seienden, während der ›letzte Gott‹ der Gott der Lichtung des Seins ist. Warum nun aber der ›letzte Gott‹? Hierzu heißt es in den Beiträgen: »Wie aber, wenn der letzte Gott so genannt werden muß, weil zuletzt die Entscheidung über die Götter unter und zwischen diese bringt und so das Wesen der Einzigkeit des Gottwesens ins Höchste hebt«.63 Das ›zuletzt‹ bezieht sich auf den Gang der Geschichte des Seins, die für Heidegger im frühen Griechentum ihren Anfang, den ›ersten‹ Anfang nimmt, dessen Fortgang die mit Platon beginnende Geschichte der Metaphysik ist, die in ihrem Ende und als ihr Ende den Übergang in den ›anderen Anfang‹ anzeigt. Zum ›anderen Anfang‹ gehört die seinsgeschichtliche Entscheidung über die Götter, die unter und zwischen die Götter bringt und ›das Wesen der Einzigkeit des Gottwesens ins Höchste hebt‹. Diese Wendung weist auf den Gott des anderen Anfangs der Geschichte des Seins, auf den Gott, der zum Sein als der Lichtung des Seins gehört. In diesem Gott ist die Einzigkeit des Gottwesens in ihr Höchstes gehoben. Das Sein des ›anderen Anfangs‹ ist als die Wahrheit oder Lichtung des Seins ›das Ereignis‹. Der ›letzte Gott‹ ist der Gott des Ereignisses. Daher muß nun gefragt werden, in welchem Verhältnis der ›letzte Gott‹ zum Ereignis steht. Heidegger antwortet: »Der letzte Gott ist nicht das Ereignis selbst, wohl aber seiner bedürftig als jenes, dem der Dagründer zugehört«.64 Das will sagen: Zwischen dem ›letzten Gott‹ und dem Ereignis waltet ein Wesensunterschied, eine Differenz, die man im Unterschied zur ontologischen die theologische Differenz nennen könnte. Aufgrund dieser Differenz ist der ›letzte Gott‹ nicht das Ereignis selbst. Aber der letzte Gott ist des Ereignisses bedürftig, er bedarf des Ereignisses, innerhalb dessen er erscheinen kann. Der ›letzte Gott‹ bedarf für sein Erscheinenkönnen des Ereignisses, dem der ›Dagründer‹ zugehört. Der ›Dagründer‹ ist der daseinsmäßige Mensch, das Da-sein, das qua existierendes Sein im Da als der ereignete Entwurf dem Ereignis zugehört. Denn Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 177
das Ereignis ist die Zusammengehörigkeit von er-eignendem Zuwurf und ereignetem Entwurf. Der daseinsmäßige Mensch ist der Dagründer, sofern er in der Weise seines mitlichtenden Entwerfens das Da mitgründet. In welchem Bezug aber steht der ›letzte Gott‹ zum daseinsmäßigen Menschen? Hierzu heißt es in den Beiträgen: »Das Ereignis übereignet den Gott an den Menschen, indem es diesen dem Gott zueignet. Diese übereignende Zueignung ist Ereignis«.65 Es ist also das Ereignis, der ereignende Zuwurf, das den Gott an den Menschen übereignet, den Gott dem Menschen zu eigen gibt, und das den Menschen dem Gott zueignet, d. h. zu eigen gibt. Das Ereignis ist es, das in seinem ereignenden Übereignen und Zueignen den letzten Gott und den Menschen einander zu eigen gibt. Zwischen dem Ereignis und dem ›letzten Gott‹ waltet so etwas wie ein ›Vorrang‹ des Ereignisses gegenüber dem ›letzten Gott‹. Die Entscheidung über das Erscheinen des ›letzten Gottes‹ kommt nicht aus dem ›letzten Gott‹ selbst, sondern aus dem Ereignis. Das Ereignen des Ereignisses als ereignender Zuwurf und als ereignendes Übereignen und Zueignen waltet als ein ›Schicken‹: der jeweiligen geschichtlichen Lichtungsweise, des Übereignens des erscheinenden ›letzten Gottes‹ an den Menschen, des Zueignens des Menschen dem ›letzten Gott‹. Das Ereignis zeigt sich somit als das Schickende aller Weisen des Schickens, als die Versammlung dieses vielfältigen Schickens, als das Ge-schick. Dem Ereignis als dem Geschick untersteht auch der ›letzte Gott‹. Heidegger schließt hier an das frühgriechische Denken des Parmenides an, der im Fragment VIII, 37 f. von der Moira spricht als der Zuteilung, die gewährend verteilt und beschickt.66 Diesen frühgriechischen Gedanken aus dem ersten Anfang übernimmt Heidegger für sein Denken des anderen Anfangs: das Ereignis als das Geschick teilt außer den Lichtungsweisen auch das Erscheinen oder Nichterscheinen des ›letzten Gottes‹ zu. Ganz anders verhält es sich im Denken des alttestamentarisch-neutestamentarischen Gottes, der selbst die Fülle des Seins ist, aus der die göttliche Schöpfung geschieht. Gegen Ende des zweiten Abschnitts haben wir gesagt: Wir sind aus unseren Ausführungen und von der Sache her legitimiert, an Heideggers frühen Entwurf einer Phänomenologie der christlichen Religion auf dem Boden der Hermeneutischen Phänomenologie 178 | friedrich-wilhelm von herrmann
des faktischen Lebens und Daseins anzuschließen. Schon der Erweiterung und Differenzierung der Hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens in jener Vorlesung Heideggers, in der er die Gottesfrage für seinen weiteren Weg des Denkens ausschied und nun den a-theistischen Grundzug der Philosophie hervorhob, konnten wir entnehmen, daß nichts aus der Erweiterung und Differenzierung gegen ein Verbleiben bei der christlichen Gottesfrage sprach. Die Erweiterung und Differenzierung setzt sich einschließlich bis zu Sein und Zeit fort. Das Grundphänomen, das in Sein und Zeit die Mitte für die Analytik des Daseins wird, ist die Erschlossenheit, die in sich in die selbsthaft-ekstatische und in die horizontale Erschlossenheit dimensioniert ist. Aber auch die Erschlossenheit, die bereits in Sein und Zeit die Wahrheit des Seins im Ganzen ist, spricht nicht gegen die Etablierung der christlichen Gottesfrage auf dem Boden der Hermeneutik des Daseins. Daß die christliche Existenzweise hineingehört in das Ganze dessen, was die existenzialontologische Daseinsanalytik zum Aufweis gebracht hat, hat Heidegger selbst in Phänomenologie und Theologie dargelegt: die Existenzialontologie des Daseins als die ontologische Korrektion für die Thematisierung der christlichen Existenz. Somit sind wir von der Sache her befugt, die Linie der christlichen Gottesfrage auch durch Sein und Zeit hindurch zu ziehen, ohne uns eines ›hölzernen Eisens‹ schuldig zu machen. Wie aber steht es nun mit dem dritten, dem seinsgeschichtlichen Wegabschnitt Heideggers, mit dem Denken der Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seins als Ereignis? Zu diesem Wegabschnitt, zum Denken des Ereignisses, gehört in wesentlicher Weise das Denken des ›letzten Gottes‹, der in einem äußersten Gegensatz zum christlichen Gott steht. Läßt sich die christliche Gottesfrage innerhalb des Ereignis-Denkens ansetzen? Zeigt sich auch hier die Möglichkeit, die Linie der Gottesfrage über Sein und Zeit in das Ereignis-Denken hinein auszuziehen? Gegen diese Möglichkeit spricht der ›letzte Gott‹ und der ›Vorrang‹ des als Geschick gedachten Ereignisses vor dem im Ereignis erscheinenden Gott. Auf welchem Weg hat Heidegger die Einsicht in den ›letzten Gott‹ und in den ›Vorrang‹ des Ereignisses vor dem ›letzten Gott‹ gewonnen? Für den Verfasser des vorliegenden Textes war es stets ein entscheidendes Anliegen zu zeigen, wie sich mit dem transzendental-horizontalen Ansatz von Sein Ansatz und Wandlungen der Gottesfrage bei Martin Heidegger | 179
und Zeit auch dessen Fassung der hermeneutischen Phänomenologie in das seinsgeschichtliche Denken gewandelt hat, so, daß auch das seinsgeschichtliche Denken hermeneutisch-phänomenologisch verfährt.67 Und so läßt sich zeigen, daß das seinsgeschichtliche Denken in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) zumindest in den ersten vier Fügungen (Anklang, Zuspiel, Sprung, Gründung) weitgehend hermeneutisch-phänomenologisch nachvollziehbar ist. Gelegentlich gibt es Textstellen, in denen das hermeneutischphänomenologische Denken von seinem phänomenologisch Aufzeigbaren abspringt in einen ›Bereich‹, der selbst nicht phänomenologisch aufgewiesen werden und deshalb nur im Vollzug des Abspringens in den Blick des Denkens genommen werden kann. Was dagegen in den Fügungen der ›Zukünftigen‹ und des ›letzten Gottes‹ gedacht wird: der ›letzte Gott‹ selbst und der seinsgeschichtliche ›Vorrang‹ des Ereignisses vor dem ›letzten Gott‹ übersteigen weitgehend den hermeneutisch-phänomenologischen Grundzug des Denkens. Der ›Vorrang‹ des Ereignisses und der ›letzte Gott‹ lassen sich hermeneutisch-phänomenologisch nicht in der Weise sichtbar machen, wie die Seinsverlassenheit des Seienden im ›Anklang‹ der Wahrheit des Seins, wie das Sichzuspielen dieser Wahrheit des Seins des anderen Anfangs im Denken der Seiendheit des ersten Anfangs, wie der denkende ›Sprung‹ in die Wahrheit des Seins und deren Ereignisgefüge, wie das denkende Gründen qua Ergründen der zugeworfenen Lichtungsweise des Seins als das geschichtliche Da des Da-seins. Um von hier aus in die beiden Fügungen der Zukünftigen des ›letzten Gottes‹ und des ›Vorrangs‹ des Ereignisses als des Geschickes vor dem ›letzten Gott‹ überzugehen, muß das seinsgeschichtliche Denken von dem hermeneutisch-phänomenologisch Sichtbargemachten abspringen in einen ›Bereich‹, der zwar noch denkend nachvollzogen, aber nicht mehr denkend so sichtbar gemacht werden kann, daß sich daraus die Einsicht einstellt: zum Ereignis gehört der ›letzte Gott‹ und kein anderer, und das Ereignis hat als Geschick einen ›Vorrang‹ vor dem ›letzten Gott‹ in ihm. Im seinsgeschichtlichen Denken des Ereignisses ist ein Andenken des ›letzten Gottes‹ ein möglicher, aber – wie wir denkerisch überzeugt sind – nicht der einzige Weg des Denkens. Ein anderer möglicher Weg ist das Denken des christlichen Gottes in seinem Verhältnis zum Ereignis. Dieses Denken kann sich dabei auf die (hi180 | friedrich-wilhelm von herrmann
storisch bezeugte) Offenbarung des alt- und neutestamentarischen Gottes berufen. Die Offenbarung hat ihren eigenen Faktizitätscharakter, der in die phänomenologisch allein aufweisbare Faktizität (Geworfenheit) des Daseins hineinschlägt. In welchem Verhältnis steht dieser zweifach geoffenbarte Gott zum Ereignis? In diesem Verhältnis hat das Ereignis keinen ›Vorrang‹ vor dem christlichen Gott, obwohl die Differenz von Ereignis und dem Gott gewahrt bleibt. Wenn dieser Gott auch des Ereignisses bedarf, um in ihm für den daseinsmäßigen Menschen erscheinen zu können, dann – so sagen wir vorläufig – ›bereitet sich‹ dieser Gott das Ereignis für sein Erscheinenkönnen. Zur sich ereignenden Wahrheit qua Lichtung des Seins gehört die herkünftige verbergende Verborgenheit. Aus dieser Verborgenheit kommt der jeweilige lichtende Zuwurf, und aus dieser Verborgenheit erscheint auch der Gott. Wie sich dieser Gott für sein ereignishaftes Erscheinenkönnen die jeweilige Ereignung des Ereignisses ›bereitet‹, bleibt dem Denken entzogen. Denn das ›Sichbereiten‹ der Ereignung für sein Erscheinen verbleibt in der verbergenden Verborgenheit, die ihrerseits von Heidegger als das unzugängliche Geheimnis gekennzeichnet wird. Das seinsgeschichtliche Denken und die Geschichtlichkeit des ereignenden Ereignisses ist für das Denken des christlichen Gottes ein Gewinn. Denn das Ereignis-Denken bietet eine fruchtbare Möglichkeit, die Bezüge des christlichen Gottes zum glaubenden Menschen und des glaubenden Menschen zum christlichen Gott in ihrer Geschichtlichkeit und in ihrem geschichtlichen Wandel zu denken. Das Ereignis-Denken läßt es zu, nicht nur von der Zuwendung Gottes zum Menschen zu sprechen, sondern diese Zuwendung selbst geschichtlich zu denken. Zu dieser ereignenden Zuwendung Gottes gehört die ereignete Hinwendung des Menschen zum sich zuwendenden Gott. In der ereignenden Zuwendung geschieht die göttliche Gnade, in der ereigneten Hinwendung die Freiheit des Menschen. Das Ereignis-Denken ermöglicht dem christlichen Gottesdenken das Denken der Geschichtlichkeit von Gnade und Freiheit.
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Anmerkungen
M. Heidegger: »Mein liebes Seelchen«. Briefe Martin Heideggers an seine [Braut und] Frau Elfride 1915–1970, hg., ausgew. und komm. von G. Heidegger, München 2005, 36 f. – Siehe die grundlegende Literatur zur Gottesfrage bei Heidegger: P.-L. Coriando (Hg): ›Herkunft aber bleibt stets Zukunft‹. Martin Heidegger und die Gottesfrage, Frankfurt a. M. 1998. – F.-W. v. Herrmann: Stationen der Gottesfrage im frühen und späten Denken Heideggers, in: R. Langthaler / W. Treitler (Hg): Die Gottesfrage in der europäischen Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2007, 19–31. – N. Fischer/F.-W. v. Herrmann (Hg): Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007. – N. Fischer / F.-W. v. Herrmann (Hg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, Hamburg 2011. 2 M. Heidegger: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: Frühe Schriften. GA 1, hg. von F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1978, 401. 3 Ebd., 406. 4 Ebd., 407. 5 M. Heidegger: »Mein liebes Seelchen«, 41. 6 M. Heidegger: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 410. 7 Ebd. 8 M. Heidegger: »Mein liebes Seelchen«, 29. 9 Ebd., 29 f. 10 Ebd., 66. 11 M. Heidegger: Brief an Engelbert Krebs v. 9. Januar 1919, in: B. Casper: Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909–1923, in: Freiburger Diözesanarchiv 100, 1980, 534–541. 12 M. Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. Frühe Freiburger Vorlesung Kriegsnotsemester 1919, in: Zur Bestimmung der Philosophie. GA 56/57, hg. von B. Heimbüchel, Frankfurt a. M., 2. durchg. und erg. Auflage 1999, 1–117. 13 Ebd., 75. 14 M. Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie. Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20. GA 58, hg. von H.-H. Gander, Frankfurt a. M. 1993. 15 M. Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1920. GA 59, hg. von Cl. Strube, Frankfurt a. M. 1993, 91. 16 M. Heidegger: Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1920/21, hg. von M. Jung / Th. Regehly, in: Phänomenologie des religiösen Lebens. GA 60, Frankfurt a. M., 2. überarb. Auflage 2011, 1–156. 17 Ebd., 80. 1
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Ebd., 104. Ebd. 20 Ebd., 117. 21 M. Heidegger: Augustinus und der Neuplatonismus. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1921, hg. von Cl. Strube, in: Phänomenologie des religiösen Lebens, 157–299. 22 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1921/22. GA 61, hg. von W. Bröcker / K. Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 1985. 23 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1922. GA 62, hg. von G. Neumann, Frankfurt a. M. 2005. 24 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, 197. 25 Ebd., 196. 26 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) (1922), in: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, 363. 27 Ebd., 363. 28 M. Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriff s. Marburger Vorlesung Sommersemester 1925. GA 20, hg. von P. Jaeger, Frankfurt a. M. ³1994, 109 f. 29 M. Heidegger: Sein und Zeit. GA 2, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1978. 30 M. Heidegger: Brief an Max Müller v. 4. November 1947, in: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hg. von H. Zaborowski / A. Bösl, Freiburg/München 2003, 14 f. 31 M. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung Sommersemester 1927. GA 24, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1975, 1 (Fn. 1). 32 M. Heidegger: Phänomenologie und Theologie, in: Wegmarken. GA 9, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1976, 45–78. – Siehe hierzu vom Verfasser: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins und christliche Theologie, in: ZusammenKlang. Festschrift für Albert Raffelt, hg. von M. Becht / P.Walter, Freiburg/Basel/Wien 2009, 296–307. – Derselbe: Fundamentalontologie und Gottesfrage, in: Die Spannweite des Daseins. Philosophie, Theologie, Psychotherapie und Religionswissenschaft im Gespräch. Festschrift für Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld O. Praem, hg. von K. Baier / M. Riedenauer, Göttingen 2011, 43–56. 33 M. Heidegger: Phänomenologie und Theologie, 52. 18
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Ebd., 52. Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd., 53. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., 61. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd., 63. 45 Ebd., 64. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd., 65. 52 Ebd., 66. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 M. Heidegger: Sein und Zeit, 333. 56 M. Heidegger: Ein Rückblick auf den Weg, in: Besinnung. GA 66, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1997, 409–428. 57 M. Heidegger: Mein bisheriger Weg, in: Besinnung, 411–418. 58 Ebd., 415. 59 Fr. Hölderlin: Gedichte, hg. von J. Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, 291. 60 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, in: Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden, hg. von K. Schlechta, München 1954, 2. Band, 1178 (19). 61 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). GA 65, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1989. – Siehe hierzu vom Verfasser: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Frankfurt a. M. 1994. 62 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 403. – Siehe hierzu: P.-L. Coriando: Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen ZeitRäumlichkeit des Übergangs in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, München 1998. 63 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 406. 64 Ebd., 409. 65 Ebd., 26. 66 M. Heidegger: Moira (Parmenides Fragment VIII, 34–41), in: Vorträge und Aufsätze. GA 7, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, 256. 67 Siehe hierzu von Verfasser: Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens, Frankfurt a. M. 1990. 34 35
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– Jean Greisch –
Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz Am Anfang von Heideggers im Wintersemester 1927/28 gehaltener Vorlesung Einleitung in die Philosophie stoßen wir auf die These, daß »das innerste und längst nicht in seiner zentralen Funktion erfaßte Wesen der Philosophie« ihre Endlichkeit ist. »Diese ist nicht damit begriffen«, betont Heidegger, »daß man in scheinbarer Bescheidenheit und in gewisser Rührung schließlich eingesteht, unser Wissen sei Stückwerk. Die Philosophie ist nicht deshalb endlich, weil sie nie zu Ende kommt. Die Endlichkeit liegt nicht am Ende, sondern am Anfang der Philosophie, d. h. die Endlichkeit muß in ihrem Wesen in den Begriff der Philosophie aufgenommen werden. Entscheidend ist nicht, die einmal gewonnenen Wege in der Endlosigkeit doch zu Ende gehen wollen, sondern je wieder einen neuen Weg einzuschlagen.«1 Wenn wir uns diese These näher ansehen, läßt sie sich in mehrere Behauptungen aufschlüsseln. 1. Die erste ist eine polemische Abgrenzung gegenüber einer falsch verstandenen Bescheidenheit, die im Gewand der Rührseligkeit auftritt. Dem Anschein zum Trotz verbaut ein rührseliges Reden von der Endlichkeit uns gerade den Zugang zum Verständnis des Wesens der Philosophie. Eine ganz andere Frage ist, ob man ungerührt und unbeteiligt über die Endlichkeit sprechen kann. Vielleicht könnte man dem Philosophen im Sinne Heideggers folgende Worte in den Mund legen: »Meine Bescheidenheit – mein Bekenntnis zur Endlichkeit – ist mein Stolz!« Dieser Stolz ist auch dort noch angebracht, wo der Philosoph sich den Schlußversen des ersten Korintherbriefs nicht verschließt, die offensichtlich Heideggers Aussage unterschwellig begleiten: »Prophetisches Reden hat ein Ende, / Zungenrede verstummt, / Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, / Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, / ver| 185
geht alles Stückwerk. Als ich ein Kind war, / redete ich wie ein Kind, / dachte wie ein Kind / und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, / legte ich ab, was Kind an mir war. Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter ihnen ist die Liebe.«2 2. »Die Endlichkeit liegt nicht am Ende, sondern am Anfang der Philosophie, d. h. die Endlichkeit muß in ihrem Wesen in den Begriff der Philosophie aufgenommen werden«. Dies ist Heideggers Hauptthese, die er in seinem 1929 erschienenen Kantbuch anhand einer Interpretation von Kants vier Grundfragen: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?«, »Was ist der Mensch?« zu begründen versucht. Indem er die vierte »anthropologische« Frage in die Frage nach der Endlichkeit verwandelt, schafft Heidegger die Voraussetzungen einer neuen »Ersten Philosophie«, deren Grundtenor die konstitutive Endlichkeit der menschlichen Vernunft selbst, und in eins damit, die »Endlichkeit im Menschen selbst« ist. Jede der drei modalen Differenzierungen der kantischen Fragestellung – Können, Sollen, Dürfen, Sein – spiegelt eine spezifische Erfahrung der Endlichkeit wieder: »Endlich« ist ein Wissen, das sich vernünftigerweise mit der Alternative: Können oder Nichtkönnen? konfrontiert sieht. »Endlich« ist ein Handeln, das sich noch nicht endgültig erfüllt hat, so daß ihm nichts mehr zu tun übrig bleibt und dem es deshalb fraglich ist, was es überhaupt soll. »Endlich« ist ein Hoffen, dessen Dürfen fraglich ist, und das sich nie sicher ist, was »ihm zugestanden ist oder versagt bleibt«.3 Endlich ist der als Dasein verstandene Mensch, weil es ihm in seinem Sein und dieses selbst geht. In diesen vier Fragen verrät die menschliche Vernunft ihre wesenhafte Endlichkeit, wobei sie zugleich bezeugt, daß ihr »innerstes Interesse«4 auf die Endlichkeit selbst gerichtet ist. »Es geht ihr darum«, so Heidegger, »nicht etwa das Können, Sollen und Dürfen zu beseitigen, also die Endlichkeit auszulöschen, sondern umgekehrt darum, dieser Endlichkeit gerade gewiß zu werden, um in ihr sich zu halten.«5 186 | jean greisch
»Die Endlichkeit« folgert Heidegger, »hängt demnach der reinen menschlichen Vernunft nicht einfach nur an, sondern ihre Endlichkeit ist Verendlichung, d. h. ›Sorge‹ um das Endlich-sein-können.«6 Damit trifft er eine Grundentscheidung hinsichtlich eines bestimmten Verständnisses der Endlichkeit, das im Existential der Sorge und dem daraus resultierenden Verständnis der ursprünglichen Zeitlichkeit wurzelt. Dies ist auch Heidegger zufolge der Grund, warum die drei ersten Fragen Kants sich wesensmäßig und nicht rein zufällig auf die vierte nach Art eines »möglichen Sammelbeckens«7 beziehen. Das Bild des zufällig bereitstehenden Sammelbeckens wird hinfällig, sobald man einsieht, daß die vierte Frage den drei andern nicht nur »rechtmäßig nachgeordnet« ist, sondern sich »zu der ersten, die die drei übrigen aus sich entläßt«8 verwandelt, d. h., wiederum bildlich ausgedrückt, daß sie die Quelle ist, aus der drei unterschiedliche Ströme entspringen. Es ist diese Verwandlung oder Umkehr, in der die »letzte« Frage zur »ersten« wird, welche die Anthropologie als solche nicht nachvollziehen kann. Wenn das »Erfragte« der Frage: »Was ist der Mensch?«, in Wirklichkeit die »Endlichkeit im Menschen«9 ist, dann kann sie nur im Rahmen einer »Metaphysik des Daseins« beantwortet werden, die sich mindestens drei Fragen stellt: 1. Die (phänomenologische) Wie-Frage: »Wie soll nach der Endlichkeit im Menschen gefragt werden?« 2. Die Wesensfrage: Worin besteht das Wesen der menschlichen Endlichkeit und der menschlichen Vernunft? 3. Die ›kritische‹ Frage, inwiefern »diese Endlichkeit den Menschen als das Seiende, das er ist, vom Grund aus im ganzen bestimmt«.10 Die Überlegenheit eines solchen Fragens gegenüber jeder philosophischen oder außerphilosophischen Anthropologie drückt Heidegger in folgender These aus: »Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm.«11 3. »Entscheidend ist nicht, die einmal gewonnenen Wege in der Endlosigkeit doch zu Ende gehen wollen, sondern je wieder einen neuen Weg einzuschlagen.« Dieser letzte Satz unseres Ausgangszitates läßt sich in mehrfacher Weise verstehen. a) Zunächst enthält er einen versteckten Hinweis auf Heideggers eigenen Denkweg. Die in Sein und Zeit gewonnenen Wege der Daseinsanalytik und der Fundamentalontologie sind nicht zu Ende Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 187
gegangen worden, sondern wurden abgebrochen. Zunächst wurden sie in eine »Metaphysik des Daseins« »umgekehrt«, sodann etwa in der Mitte der dreißiger Jahre in einer neuen und noch einschneidender ›Kehre‹, zugunsten eines »andersanfänglichen Anfangs des Denkens« überwunden, in dem die Endlichkeit wiederum ein neues Gesicht erhält. b) Wir können denselben Satz aber auch als Einladung verstehen, uns selbst auf einen neuen Weg zum Verständnis der Endlichkeit zu begeben, der nicht so bedingungslos an die Grundvoraussetzungen einer Analytik der Sorge gebunden ist. Es ist ein solcher Weg, der hier ansatzweise beschritten werden soll. Wegführend sind dabei zwei Thesen: 1. Ebenso wie die ›Transzendenz‹ bedarf die ›Endlichkeit‹ einer ›Hermeneutik‹, anders gesagt einer Interpretation der vielfachen Erfahrungen, die sich mit diesem Begriff verknüpfen lassen. 2. ›Transzendenz‹ und ›Endlichkeit‹ lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, sondern müssen in der rechten Weise aufeinander bezogen werden.
1. Die Vieldeutigkeit des Begriffs der Endlichkeit Der Philosoph ist ein Begriffsarbeiter und als solcher hat er es mit inhaltlichen Bestimmungen zu tun. Darüber vergißt er gern, daß es bei Verstehensbemühungen nicht nur auf das ›Was‹ des Gesagten, sondern auch auf das ›Wie‹ des Sagens ankommt. Was das für die Rede von der Endlichkeit und das Verständnis der Endlichkeit bedeutet, möchte ich an Hand von Gottfried Benns vierteiligem Gedicht Destille12 erläutern, das mir seit meinen Schülertagen immer noch in den Ohren klingt. Destille I Schäbig; abends Destille in Zwang, in Trieb, in Flucht Trunk – doch was ist der Wille gegen Verklärungssucht. 188 | jean greisch
Wenn man die Seele sichtet, Potenz und Potential, den Blick aufs Ganze gerichtet: katastrophal ! Natürlich sitzen in Stuben Gelehrte zart und matt und machen aus Tintentuben ihre Pandekten satt, natürlich bauten sie Dome dreihundert Jahre ein Stück wissend, im Zeitenstrome bröckelt der Stein zurück, es ist nicht zu begreifen, was hatten sie für Substanz, wissend, die Zeiten schleifen Turm, Rose, Krypte, Monstranz, vorbei, à bas und nieder die große Konfession, à bas ins Hühnergefieder konformer Konvention – abends in Destillen verzagt, verjagt, verflucht, so vieles muß sich stillen, im Trunk Verklärungssucht. Im ersten Teil des Gedichtes setzt sich der Dichter aus der »schäbigen« Perspektive eines Trinkers mit dem Ewigkeitsanspruch der menschlichen Kulturleistungen auseinander, welcher der Erfahrung der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aller Dinge nicht gewachsen zu sein scheint. Zweimal, am Ende der ersten Strophe und der letzten Strophe fällt das Reizwort »Verklärungssucht«. Das Bedürfnis nach »Verklärung« ist für das lyrische Ich dieses Gedichtes, das man mit Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 189
Guillaume Apollinaires Alcools vergleichen könnte, nicht Ausdruck einer authentischen Suche, sondern eine Sucht wie jede andere, die nur im Trunk, also als »Destille« irgendwie befriedigt werden kann. Zweimal verwendet der Dichter das Wort »natürlich«, um den Einwand eines imaginären Gegners, der ihm die Bildungsarbeit des Geistes und die heilig-heile Welt des Mittelalters vor Augen hält, zu entkräften. Was das Sakrale anbelangt, ist die Frage nach der seelischen Substanz der Künstler unzertrennlich von der des »Geistes«, der sie inspirierte und beflügelte. Umso drastischer klingt die harte Behauptung, daß der »Heilige Geist«, der diese Welt hervorgebracht hat, inzwischen nur noch als »Hühnergefieder konformer Konvention« in Erscheinung tritt. Ohne diesen ersten Teil des Gedichtes im Einzelnen zu erläutern, können wir als dessen Grundtenor das Stichwort ›Vergänglichkeit‹ festhalten. Aus einer ähnlichen Stimmung heraus ist Sigmund Freuds kleiner, im November 1915 geschriebener Essay Vergänglichkeit entstanden. Freuds diesbezügliche These könnte man ohne Abstriche auch Benns Gedicht zugrunde legen: »Allein diese Ewigkeitsforderung ist zu deutlich ein Erfolg unseres Wunschlebens, als daß sie auf einen Realitätswert Anspruch erheben könnte. Auch das Schmerzliche kann wahr sein. Ich konnte mich weder entschließen, die allgemeine Vergänglichkeit zu bestreiten, noch für das Schöne und vollkommene eine Ausnahme zu erzwingen. Aber ich bestritt dem pessimistischen Dichter, daß die Vergänglichkeit des Schönen eine Entwertung desselben mit sich bringe.«13 II
Es gibt Melodien und Lieder, die bestimmte Rhythmen betreun, die schlagen dein Inneres nieder und du bist am Boden bis neun. Meist nachts und du bist schon lange in vagem Säusel und nickst zu fremder Gäste Belange, durch die du in Leben blickst. 190 | jean greisch
Und diese Leben sind trübe, so trübe, du würdest dich freun, wenn ewig Rhythmenschübe und du bliebest am Boden bis neun. Im zweiten Gedichtteil rückt untermalt von synkopischen Klängen eines Jazz-Musikers, ein neuer Aspekt der Endlichkeit in den Blick. Jetzt ist es nicht mehr die Vergänglichkeit aller menschlichen Kulturleistungen, die im Vordergrund steht, sondern die Trübsal des faktischen Lebens, die sich in diesem Fall als ›Verfallenheit‹ oder ›Niedergeschlagenheit‹ kundgibt, die das zweimalige »am Boden bis neun« besonders akzentuiert. III
Ich erlebe vor allem Flaschen und abends etwas Funk, es sind die lauen, die laschen Stunden der Dämmerung. »Du mußt dich doch errichten empor und hochgesinnt!« »Ich erfülle meine Pflichten, wo sie vorhanden sind.« Mir wurde nichts erlassen, Tode und oft kein Bett, ich mußte mit Trebern prassen im zerrissnen Jackett. Doch nun ist Schluß, ich glühe von Magma und von Kern, von Vor-Quartär und Frühe wort-, schrift- und kupferfern, ich lasse mich überraschen, Versöhnung – und ich verzieh: aus Fusel, Funk und Flaschen die Neunte Symphonie. Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 191
Im dritten Teil des Gedichtes meldet sich das ›lyrische Ich‹ selbst zu Wort. Es stellt nicht mehr die generelle Frage nach der Verfallstendenz des Lebens als solchen, sondern die persönliche Frage nach seiner eigenen Erlebnisfähigkeit bzw. Erlebnisunfähigkeit. In der zweiten Strophe nimmt die Frage die Gestalt eines inneren Dialogs an, gleichsam als ob sich die innere Stimme des Gewissens, der Aufruf zur moralischen Verbesserung und Aufrüstung (anders gesagt: die ins Moralische gewendete »Verklärungssucht«) zu Worte melden würde. »Ich erfülle meine Pflichten, soweit sie vorhanden sind«, lautet die lakonische Antwort auf diesen Appell. Nichts deutet darauf hin, daß die Gewissenstimme, von der Heidegger sagt, daß sie »aus mir« und doch »über mich«14 kommt, die Grenzen der Endlichkeit sprengen würde. Ganz im Gegenteil: Der als »Ruf der Sorge« verstandene Gewissensruf bestätigt die Endlichkeit der praktischen Vernunft, eine Endlichkeit, die sich in der folgenden Strophe in eine Anspielung auf das biblische Gleichnis des verlorenen Sohnes verwandelt. Genauso wie der Dichter sich dem biblischen Gleichnis, das in mehrfacher Hinsicht ein Gleichnis der Versöhnung und des Verzeihens ist, nicht verweigert, erkennt er die Größe von Beethovens Vertonung von Schillers Ode an die Freude an. Aber er weiß, daß auch dieses gewaltige Werk von einem endlichen Wesen geschaffen wurde, und Entstehungsbedingungen unterworfen ist, die auf ihre Weise diese Endlichkeit, oder das was Paul Celan im Meridian »Neigungswinkel der Kreatürlichkeit« nennt, bestätigen. IV
Ich will mich nicht erwähnen, doch fällt mir manchmal ein zwischen Fässern und Hähnen eine Art von Kunstverein. Die haben etwas errichtet, eine Aula mit Schalmei, da wird gespielt und gedichtet, was längst vorbei.
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Ich lasse mich zerfallen, ich bleibe dem Ende nah, dann steht zwischen Trümmern und Ballen eine tiefe Stunde da. Im vierten Teil des Gedichtes wendet der Dichter diese Einsicht auf sein eigenes künstlerisches Schaffen an. Das ironische »Ich will mich nicht erwähnen«, das gleichsam das Markenzeichen der falschen Bescheidenheit ist, wendet sich hier gegen die Ehrsucht der Künstlergilden, die wie etwa der ›George-Kreis‹ den Künstler zu einer Kultfigur stilisieren möchten. Das lyrische Ich, das sich in der letzten Strophe zweimal in einer fast bekenntnishaften Sprache zu Worte meldet, nimmt seine Endlichkeit im Gestus des Sich-zerfallen-lassens und des dem Endenahe-Bleibens an, in der paradoxen Hoffnung (falls man dieses Wort überhaupt in diesem Zusammenhang verwenden darf) daß dies die einzige Möglichkeit ist, die Endlichkeit nicht zu überwinden, wie das die »Verklärungssucht« tut, ihr aber doch vielleicht einen tieferen Sinn abzuringen. Wer sagt: »Ich lasse mich zerfallen« und »Ich bleibe dem Ende nah«, der trifft damit eine existenzielle Entscheidung, die auf eine bestimmte Interpretation der Endlichkeitserfahrung hinausläuft.
2. Bedarf die Endlichkeit einer ›Hermeneutik‹? Aufgabe des Dichters ist nicht, den Begriff der Endlichkeit als solchen zu erläutern. Er belehrt uns nicht darüber, was das Wesen der Endlichkeit ist, sondern er zeigt, wie er persönlich mit ihr umgeht. Hierin unterscheidet er sich grundsätzlich vom Philosophen, dem es um die Klärung der Begriffe geht.15 Im ersten Kapitel seiner unabgeschlossenen, posthum veröffentlichten umfangreichen Untersuchung Le Désir de Dieu fragt sich der französische Reflexionsphilosoph Jean Nabert, ob die Idee der Endlichkeit nicht Elemente enthält, welche die Eindeutigkeit des Begriffs sprengen.16 Wenn das zutrifft, sind wir gezwungen, in unserem Selbstbewußtsein diejenigen Aspekte der Endlichkeit aufzuspüren, die am innerlichsten mit unserem Selbstverständnis zusammenhängen. Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 193
Gegenüber einem Verständnis der Endlichkeit, demzufolge eine äußerliche, heteronome Instanz das selbstherrliche oder selbstüberhebliche Subjekt »in seine Schranken verweist«, erhebt Nabert einen Einwand, den er in eine rhetorische Frage kleidet: »Wiegt eine Endlichkeit, die sich die Mühe der Selbstprüfung, der Arbeit an sich selbst und der tatsächlich Erfahrung eines Begehrens, dessen Geschichte sich mit der Entstehung des Bewußtseins deckt, erspart, nicht zu leicht?«17 Nabert geht so weit, daß er sich fragt, ob »Endlichkeit« der sachgerechteste Ausdruck ist, oder ob er nicht durch einen anderen, bzw. durch mehrere andere Ausdrücke ergänzt werden muß.18 Damit wird der Terminus »Endlichkeit« in neuer Weise fragwürdig, insofern wir mit einer Frage konfrontiert sind, die man in gleicher Weise an den überlieferten Terminus »Transzendenz« richten könnte: Was sind die Erfahrungen, die sich in diesem Begriff wiederspiegeln, und was berechtigt uns dazu, sie in einem einheitlichen Begriff zusammenzubinden? Tatsächlich finden wir in der Tradition eine Vielzahl von Bezeichnungen, die eine gewisse Familienähnlichkeit miteinander verbindet: Endlichkeit, Kontingenz, Vergänglichkeit, Faktizität, Fehlbarkeit, ohne daß es von vornherein ausgemacht wäre, welcher Terminus als Oberbegriff fungiert und wie die übrigen sich zu ihm verhalten. Vor jeder ausdrücklichen Reflexion über den Begriff der Endlichkeit haben die damit verbundenen Erfahrungen schon Spuren in der menschlichen Sprache hinterlassen, wobei die Vielfalt der Bezeichnungen ein unterschiedliches Gesicht der Endlichkeitserfahrung widerspiegelt. Es sind diese Erfahrungen, die dem philosophischen Begriffsspektrum der Termini: ›Endlichkeit‹, ›Kontingenz‹, ›Vergänglichkeit‹, ›Faktizität‹, ›Fehlbarkeit‹ zugrunde liegen. Im Rückgriff auf eine der ältesten Unterscheidungen der abendländischen Poetik, könnte man versuchsweise die Trias ›Endlichkeit, Faktizität, Fehlbarkeit‹ je einer spezifischen literarischen Gattung zuordnen: Elegie, Epos und Drama.19 a) Tempus fugit, Bonjour Tristesse, usw.: Eine elementare Weise, sich der Endlichkeit zu nähern, ist das Klagelied (bzw. der Klagepsalm), der »barbarischer Jammerruf asiatischer Melodien«, wie es in Iphigenie auf Tauris heißt. »Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt«20 lautet einer der wunderbarsten Verse Vergils. 194 | jean greisch
Die Trauer, die sich des Dichters angesichts des Sterblichen und Vergänglichen bemächtigt, ist kein rein subjektiver Seelenzustand, den der eine empfindet und der andere nicht. Es ist eine Grundstimmung, die wie Heidegger sagen würde, ihre Wurzel im Sein selbst hat. »Sunt lacrimae rerum«: Diese Tränen sagen nicht nur etwas über den Seelenzustand des Dichters in einem bestimmten Augenblick seines Lebens aus; gleichwie ob man das »lacrimae rerum« als genitivus objectivus oder genitivus subjectivus versteht, haben sie eine ontologische Tragweite, die von anderen Dichtern, etwa Alfred de Musset in seinem Gedicht Nuit d’octobre moralisierend verwässert wird: […] L’homme est un apprenti, la douleur est son maître, Et nul ne se connaît tant qu’il n’a pas souffert. C’est une dure loi, mais une loi suprême, Vieille comme le monde et la fatalité, Qu’il nous faut du malheur recevoir le baptême, Et qu’à ce triste prix tout doit être acheté. Les moissons pour mûrir ont besoin de rosée; Pour vivre et pour sentir l’homme a besoin des pleurs; La joie a pour symbole une plante brisée, Humide encor de pluie et couverte de fleurs. […] b) Von der Endlichkeit kann man aber auch im Modus des Epischen, anders gesagt in dem des Erzählens sprechen. Ob es ›endlose Geschichten‹ gibt, darüber mag man streiten. Eine anfangs- und endlose Erzählung wäre gar keine Erzählung mehr, sondern nur eine Karikatur des »schlechten Unendlichen«, des »ewigen Undsoweiter«, dem Hegel die wahre Unendlichkeit des Geistes gegenüberstellt. Jedes Erzählen ist ein Ringen mit der Endlichkeit, sei es auch nur, weil Anfang und Ende einer Geschichte zu einem sinnvollen Ganzen miteinander verbunden werden müssen. Nacht für Nacht besiegt Scheherazade mit einem Märchen über den Schatten des Todes. Wenn Frank Kermode die Fähigkeit, etwas zu Ende zu bringen einklagt, dann liegt dem die Überzeugung zugrunde, daß das »Ende« kein bloßer Schlußpunkt sein kann: »Bis hierhin und nicht weiter«, sondern daß in ihm tatsächlich etwas zur Vollendung Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 195
kommt, einen Abschluß findet. Dieser Aspekt ist auch in der Definition der Endlichkeit festgehalten, die wir Rudolf Göckel verdanken: »Finitas, finitudo est perfectio finiti, quatenus finitum est: ac intendit tam potentiam passivam limitationis, quam actum et terminationis seu finitionis et dimensionis.« Was vom Ende gesagt wird, läßt sich ebenso gut vom Anfang sagen: Es gibt Anfänge, mit denen wir nichts ›anfangen‹ können, weil in ihnen nichts ›initiiert‹ wird. Erstaunlicherweise haben die Philosophen, die sich mit der Endlichkeit der menschlichen Lebenszeit auseinandergesetzt haben, diese meistens vom zweiten Ende, nämlich vom »Sein-zum-Tode«, und nicht vom anfänglichen Ende, nämlich vom Phänomen der ›Gebürtigkeit‹ her verstanden. Das mag damit zusammenhängen, daß niemand Zeuge seiner eigenen Geburt gewesen ist. Aber das trifft ja in gleicher Weise auf den Tod zu. In beiden Fällen besteht ein ›Erfahrungsdefizit‹, das unser Selbstverständnis als endliche Wesen in entscheidender Weise prägt. c) Schließlich darf der Modus des Dramatischen nicht unerwähnt bleiben, eine Kategorie, die der polnische Philosoph Jozef Tischner nicht nur als literarische Gattung, sonders als Interpretament des menschlichen Daseins versteht.21 In diesem Fall liegt der Akzent nicht so sehr auf der Begrenztheit, als auf der Verletzlichkeit, der Gefährdetheit und Brüchigkeit des Daseins, die uns zwingt, den Wesenszusammenhang von ethischer und tragischer phronesis zu bedenken.22 Falls wir es uns verbieten, diese Termini für austauschbar zu halten, sind wir mit der umgekehrten Frage konfrontiert, ob jeder von ihnen nicht in derart unterschiedlichen Erfahrungen und Problemstellungen gründet, daß sie nichts miteinander gemeinsam haben. Demgegenüber will ich es im Folgenden auf den Versuch ankommen lassen, zu zeigen, daß es trotz allem eine gewisse Familienähnlichkeit gibt, die sich mithilfe eines bestimmten Komplexitätsschlüssels aufschlüsseln läßt. Anstatt unsere Frage in einem Gewaltakt lösen zu wollen, können wir uns ihr schrittweise nähern. a) Der erste Schritt läßt sich als ›dialektisch‹ bezeichnen. Er besteht darin, daß man jedem der drei erwähnten Termini einen polaren Gegensatzbegriff zuordnet. Auf diese Weise erhalten wir eine Reihe von ›Gegensätzen‹, in denen Naberts Frage nach den mehrfachen 196 | jean greisch
Gesichtern der Endlichkeit in schärferes Profil erhält: das Endliche und das Endlose (peras-apeiron); Kontingenz und Notwendigkeit; Faktizität und Gültigkeit; Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit, die ihrerseits als Nunc stans oder sempiternitas verstanden werden kann; Fehlbarkeit und Unfehlbarkeit, wobei letztere als vollständige Vermittlung oder als vollkommene Synthesis verstanden wird. Nabert zufolge ist indessen der Versuch, das Wesen der Endlichkeit im Rückgriff auf einen polaren Gegenbegriff zu bestimmen, nicht so ertragreich, wie man vermuten könnte. Es genügt, sich auf die tatsächliche Erfahrung des Verlustes eines geliebten Wesens zu besinnen, oder auf das Gefühl einer Unangemessenheit des Selbst sich selbst gegenüber, die all unsere Akte unterschwellig begleitet,23 zu achten, um einzusehen, daß es sich hierbei um »etwas Anderes und Tieferes handelt«.24 b) Wie können wir uns diesem »Anderen und Tieferen‹ nähern? Hier empfiehlt es sich, auf Kants Unterscheidung von Begriff und sinnlichem Schema zurück zu greifen. Selbst wenn wir das Problem des Zusammenhangs von Schematismus und Zeitlichkeit außer Acht lassen, können wir uns fragen, welche sinnlichen Schemata sich mit den fünf Begriffen, die wir isoliert haben, assoziieren lassen. 1. Streng genommen entspricht der Begriff der Endlichkeit dem Schematismus der Grenze, der seinerseits in dreifacher Weise verstanden werden kann: als unüberwindliche Schranke, wie die ehemalige ›Berliner Mauer‹, als Grenze, die sich unter bestimmten Bedingungen überschreiten läßt und als »Umrandung« die uns dazu einlädt, wie bei Jacques Derrida, die Grenze als Differenz bzw. als »différance« zu verstehen. Die hermeneutische Kennzeichnung dieser Unterscheidung verstärkt sich noch, falls man sie bestimmten Tropen oder Redefiguren zuordnet. Dem Schematismus der Schranke entspricht in diesem Fall der Literalsinn, der sich in einer strikten Beobachtungssprache niederschlägt, in der es nicht den geringsten Spielraum für irgendwelche ›Mehrmeinung‹ gibt. Demgegenüber sind »lebendige Metaphern«, im Sinn wie Paul Ricoeur sie versteht, kontrollierte Grenzüberschreitungen, die keineswegs nur im Dienst einer poetischen »Verklärungssucht« stehen, sondern uns unschätzbare Dienste bei der WirklichkeitserschlieHermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 197
ßung leisten. Der Schematismus der »marge«, der Umrandung, entspricht eher der Funktion der Metonymie, den die rhetorische Tradition als Tropus der Kontiguität bestimmt. 2. Um den Unterschied von Endlichkeit und Kontingenz zu kennzeichnen, drängt sich uns der Schematismus des sowohl logisch wie physisch verstandenen »Akzidenzes« auf, ein Wort das Heidegger mit Hinzugeratenheit übersetzt. Die »Welt ist alles, was der Fall ist«: Mit diesem Paukenschlag setzt Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus ein. Zu den zahllosen Tatsachen, in die die Welt zerfällt,25 gehören auch Unfälle aller Art. Der Logiker mag sich mit dem Bestehen von »Sachverhalten« begnügen und insofern mit Wittgenstein behaupten, daß in der Logik »nichts zufällig«26 ist. In der Alltagserfahrung gibt es indessen Begebenheiten und Ereignisse, die wir nicht anders als »Unfälle« bezeichnen können. Der Besucher des Turiner Marienheiligtums der Consolata entdeckt dort eine lange Galerie von ex-votos, die ihm eine eindrucksvolle Anschauung von solchen Unfällen geben, denen das menschliche Leben ausgesetzt ist. Wenn man diese Produkte der Volksfrömmigkeit anhand eines philosophischen Begriffs qualifizieren wollte, könnte man mit Paul Ricœur von einer »Pathetik des menschlichen Elends«27 sprechen. Freilich enthält diese »Pathetik« noch andere Elemente als die Idee der Kontingenz, die, wie wir weiter unten sehen werden, bereits auf den Begriff der Fehlbarkeit vorausweisen. Pascal erinnert uns daran, daß das Elend des Menschen seinen Grund nicht nur in der Tatsache hat, daß wir in einer kontingenten Welt leben, die wir niemals vollständig im Griff haben. Aus diesem Grund kann man den neuerdings häufig gebrauchten funktionalen Religionsbegriff als »Kontingenzbewältigungspraxis« (H. Lübbe) ähnlich wie den Begriff der ›Vergangenheitsbewältigung‹ nur unter gewissen kritischen Vorbehalten verwenden: Eine Kontingenz, die sich ›bewältigen‹ läßt, ist keine wahre Kontingenz! Die Frage ist höchstenfalls, wie man mit der Kontingenz umgeht. 3. Welche sinnliche Schematismen lassen sich mit dem Begriff der Vergänglichkeit verknüpfen? Offenbar hängt er besonders eng mit dem der Kontingenz zusammen, die aber in diesem Fall hauptsächlich aus dem Blickwinkel der Zeitlichkeit betrachtet wird. Die 198 | jean greisch
Zeit, um die es sich hier handelt, ist die flüchtige Zeit der Sterblichen. Selbst die glücklichsten Augenblicke lassen sich nicht festhalten und wir können dem »schönen Augenblick« nicht gebieten, zu »verweilen«. Der sinnliche Schematismus ist in diesem Fall der Schematismus der Streuung bzw. Zerstreuung, der universalen Pulverulenz, die einen besonders deutlichen literarischen Ausdruck im biblischen Kohelet erhält. Dieselbe Vorstellung greift Augustinus im Begriff des defluxus in multum wieder auf. Auch Benns: »Ich lasse mich zerfallen« ist einer Augustinischen Lektüre zugänglich! In meinem philosophischen Bestiarium gibt es nicht nur Platz für die Eulen der Minerva, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnen und damit bezeugen, daß die Arbeit des begrifflichen Verstehens erst beginnen kann, wenn eine Welt ›zu Ende‹ ist. Ich möchte auch einem Insekt, der Ephemera communis, einen bescheidenen Platz einräumen. Die Bekanntschaft mit diesem Insekt, daß erst bei Sonnenuntergang seiner Larve entschlüpft und nach einem kurzen Hochzeitsflug bei Einbruch der Nacht stirbt, verdanke ich meinem Biologielehrer, der mich mehrere Jahre hintereinander im ›Wonnemonat‹ Mai beauftragte, eine gewisse Menge dieser Insekten einzufangen, die der Gegenstand seiner Forschungsarbeit waren. Dieser lebendige Anschauungsunterricht verschaffte mir meine ersten Einblicke in das Wesen der Vergänglichkeit. 4. Welcher Schematismus entspräche am besten Heideggers Begriff der Faktizität, der seine in den frühen Freiburger Jahren entwickelte »Hermeneutik des faktischen Lebens« beherrscht? Daß dieser Begriff nicht auf den der Tatsächlichkeit reduzierbar ist, eine Tatsächlichkeit, die mehr als einmal in einem »fait accompli« besteht, liegt auf der Hand. Wiederum ist es Augustinus, dem Heidegger eine entscheidende Einsicht verdankt: »Ich bin mir selbst zur Last geworden«. Es ist der »Lastcharakter des Daseins«, und die Augustinische molestia, die Heidegger zum Wesensmerkmal der Faktizität erhebt. Auch dort, wo uns etwas ›leicht fällt‹, steht der Lastcharakter des Daseins immer noch im Hintergrund. Was im Register der Befindlichkeit als Last (onus) und als Belästigung (molestia) empfunden wird, wird auf der Ebene des Verstehens als »Schwierigkeit« (difficultas) erfahren: Factus sum mihi terra sudoris et difficultatis nimii. Die Schwierigkeiten, um die es sich hierHermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 199
bei handelt, sind keine rein intellektuellen Rätsel. Sie hängen unmittelbar mit dem zusammen, was uns ›schwer fällt‹, anders gesagt mit dem Fraglichkeitscharakter des faktischen Lebens zusammen. Eine weitere Signatur der Faktizität ist die spezifische Bewegtheit des faktischen Lebens, das eigener Interpretationskategorien bedarf, um sich selbst verständlich zu werden. Insofern kann man sagen, daß die Hermeneutik kein interpretativer Überbau ist, der sich über die nackte Faktizität stülpt, sondern ihr wesensmäßig zugehört. Für Heidegger bedeutet das letzten Endes, daß der »Grundsinn der faktischen Lebensbewegtheit […] das Sorgen« ist. Hinter dem Substantiv Sorge (cura), legt die Hermeneutik der Faktizität die vielfältigen Sorgensbewegtheiten des Lebens auf, das »lebensweltwärts« verläuft. Wenn der frühe Heidegger, wiederum in Anlehnung an den Augustinischen Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang von der »Verfallensgeneigtheit des faktischen Lebens« spricht, dann bestätigt er damit indirekt, daß der Begriff der Faktizität Bedeutungselemente enthält, die nicht im Begriff der als Begrenztheit verstandenen Endlichkeit als solcher enthalten sind. Noch auffälliger wird dieser Unterschied in der Auslegung der drei Grundformen der Versuchung im 10. Buch der Confessiones, die bereits auf das vorausweisen, was Heidegger in Sein und Zeit »die beständige Versuchung zum Verfallen«28 nennen wird. Nicht jede Endlichkeit ist von sich aus schon »versucherisch«. Nur ein Dasein, »dem es in seinem Sein um dieses selbst geht«29 ist ständig der ›Versuchung‹ ausgesetzt, und zwar, Heidegger zufolge, in erster Linie der Versuchung, sich selbst aus dem Wege zu gehen! Ein weiteres Wesensmerkmal der Faktizität ist eine spezifische Form der Nichtransparenz, die Heidegger als Diesigkeit bezeichnet, die freilich nicht mit einer blinden Dösnis30 verwechselt werden darf, weil sonst die Hermeneutik sich in eine Hermetik verwandeln würde.31 Eng hiermit verbunden ist das Kennzeichen der Umwegigkeit. Ebensowenig wie das faktische Leben selbstdurchsichtig ist, läuft es schnurstracks auf ein einmal gesetztes Ziel zu. Auch das ›Außerplanmäßige‹ muß verarbeitet und verstanden werden, wobei sehr viel davon abhängt, ob es uns gelingt, solche ›Umwege‹ in unser Selbstverständnis zu integrieren. Auch diesbezüglich sind die Confessiones ein besonders hilfreicher und lehrreicher Wegweiser. 5. Der letzte Terminus des Bedeutungsspektrums, von dem aus 200 | jean greisch
sich der Spielraum einer Hermeneutik der Endlichkeit erkunden läßt, ist der Begriff der Fehlbarkeit, der das Herzstück von Paul Ricoeurs philosophischer Anthropologie bildet. Es ist, wie ich anderswo ausführlich nachgewiesen habe, eine Anthropologie auf phänomenologischer Grundlage.32 Trotz des zeitlichen Abstands von zehn Jahren, der Ricoeurs 1950 erschienene Phänomenologie des Willentlichen und Unwillentlichen und seine Anthropologie der Fehlbarkeit in Verbund mit der Symbolik des Bösen voneinander trennt, können alle drei Bücher als Auseinandersetzung mit dem Begriff der Endlichkeit gelesen werden. Schon im ersten Werk wird die methodologische Neutralität der Beschreibung der Phänomene des Willentlichen und Unwillentlichen spätestens dort aufgehoben, wo Ricoeur sein philosophisches Glaubensbekenntnis formuliert: »Der philosophische Glaube, der uns inspiriert, besteht im Willen, die Einheit des Seins, die der Notwendigkeit einen radikaleren Todesstoß als die Reflexion versetzt, auf einer höheren Ebene der Hellsichtigkeit und der Glückseligkeit wieder herzustellen. Die Philosophie ist für uns die Betrachtung des Ja und nicht eine gehässige Verstärkung des Nein. Die Freiheit will kein Aussatz, sondern die Vollendung der Natur sein, soweit dies in diesem Zeitalter, das wir als Wanderer durcheilen, möglich ist. Deshalb betrachten wir die Negation nur in der glühenden Hoffnung, sie überwinden zu können.«33 In einem fast elegischen Tonfall lädt Ricoeur seine Leser dazu ein, drei unterschiedliche Gesichter der »Betrübnis des Negativen« zu betrachten, wodurch seine Hermeneutik der Endlichkeit eine besondere Kontur erhält. Die erste Quelle der Betrübnis besteht in der Entdeckung der Beschränktheit und Einseitigkeit unseres Charakters: »Ich leide daran, daß ich eine endliche und partielle Weltansicht und Wertansicht bin. Ich bin dazu verdammt, die ›Ausnahme‹ zu sein: dieser und nicht alles, dieser und nicht jener.«34 Virgils »sunt lacrimae rerum« erhält hier eine anthropologische Begründung in der Gestalt der ›Betrübnis des Endlichen‹: »Manchmal ist es unerträglich, singulär, unnachahmlich und dazu verdammt zu sein, nur sich selbst vergleichbar zu sein.«35 ›Überwältigung‹, ›Unbegrenztheit‹, ›Formlosigkeit‹: Die zweite Quelle der Betrübnis hängt mit der narzissistischen Verwundung Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 201
zusammen, die aus der Entdeckung des Unbewußten resultiert. Selbst in meinem eigenen Haus bin ich nicht Herr und Meister! Paradoxerweise besteht die Erfahrung der Endlichkeit in diesem Fall darin, daß ich mir selbst undurchsichtig bin und jederzeit von den doppelten Mächten des Unbewußten und des Überichs überwältigt werden kann, die sich aus denselben Kräften speisen: »Ich bin immerzu der Reiter, der auf dem Punkt ist, aus dem Sattel geworfen zu werden«, »oder der Zauberlehrling, der einem Aufruhr ausgesetzt ist, den er nicht als erster ausgelöst hat. […] So ist jeder Selbstbesitz von einem Nichtbesitz umzäunt und das Schreckliche steht vor der Tür und mit ihm alle Unordnung und aller Wahnsinn.«36 Während die Beschränktheit des Charakters sich im Bild eines Gefängnisses ausdrücken läßt, ist das Unbewußte einem stürmischen Meer vergleichbar, das die leichte Barke des Ich zum Kentern bringt. Es zieht die Einsicht nach sich, daß ich »eine undurchdringliche Dunkelheit und eine verdächtige Spontaneität«37 bin, die mich mit der ›Betrübnis des Formlosen‹ konfrontiert. Der Begriff des Lebens ist der Inbegriff alles dessen, was wir nicht erwählt haben und an dem wir nichts ändern können: »An der Wurzel und in der Herzmitte der Freiheit ist es die reine Setzung eines Faktums.«38 Die hiermit verbundene »Betrübnis der Kontingenz« macht sich in einer besonderen Form der Negativität bemerkbar, die sich unter mindestens vier Hinsichten kennzeichnen läßt. a) Zunächst die durch das Leiden hervorgerufene Seinsminderung. In diesem Zusammenhang weist Ricoeur auf die räumliche Metaphorik hin, die es nahe legt, das Wirkungsfeld des Willens als eine Erweiterung zu denken, während das Leiden als eine Verkleinerung und eine Kontraktion gedacht wird. Angustia, ›Beklemmung‹: Es gibt ›Engpässe‹ der Existenz, die sich nicht nur im Geistigen, sondern auch im Körperlichen bemerkbar machen. b) Zweitens die Bedrohung, die die körperliche Äußerlichkeit für die Intimität des Ich darstellt. Es ist der von Augustinus im Zehnten Buch seiner Bekenntnisse beschriebene defluxus in multum, auf den Heidegger manchmal anspielt.39 c) Gegenüber Bergson betont Ricoeur, daß auch die Zeit als »ein Prinzip der Entfremdung und der Zerstreuung« erfahren wird. Dies zeigen nicht nur die Abnutzungserscheinungen des Alterns,40 sondern schon das bloße Faktum, daß »meine eigenen Metamorphosen 202 | jean greisch
rätselhaft und entmutigend sind«41 und daß die Veränderungen, die uns widerfahren, eher kakophonisch als melodisch sind. Hier zeichnet sich ein Thema ab, mit dem Ricoeur sich erneut in seiner Trilogie Zeit und Erzählung und in seiner Hermeneutik des Selbst befassen wird. Es ist das Problem dessen, was Dilthey Zusammenhang des Lebens nannte und was Ricoeur unter dem Titel »narrative Synthesis des Heterogenen« weiter verfolgt. Die »narrative Einheit des Lebens« ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muß im Gegenteil mühsam in mehr oder weniger dramatischen ›Wachstumskrisen‹ gewonnen werden. Ricoeurs Sprache ist sehr beredt: »Es handelt sich um ›Formen der Distension‹ gegenüber denen ›Intentionen‹ zurückerobert werden müssen, die diese zu vereinigen im Stande sind«.42 Dies ist die Sprache des Heiligen Augustinus im 11. Buch seiner Confessiones, der das innere Zeitbewußtsein als spannungsvolles Verhältnis von intentio und distentio animi beschreibt. Genau diese Terminologie greift Ricoeur in Zeit und Erzählung I wieder auf, um die jedem Erzählen zugrunde liegende ›Synthesis des Heterogenen‹ zu kennzeichnen. d) »Meine Organisation verkündet mir meine Pein, mein Wachstum verkündet mir mein Altern. Welches Nichts aber verkündet mir meine Geburt?«.43 Diese Frage mag erstaunen, weil es scheinbar ›logischer‹ ist, die Analyse der Negativitäten des Lebens mit dessen Zu-Ende-sein, nämlich mit dem Tod zu beenden.44 Dies ist in der Tat Heideggers Verfahren in seiner Daseinsanalytik. Seit den ersten Augenblicken unserer Existenz wissen wir, daß es mit uns ›zu Ende‹ geht. Besonders beeindruckend ist Heideggers Paraphrase des cartesischen sum existo in der zweiten Metaphysischen Meditation, das Heidegger zufolge als ein »sum moribundus«45 verstanden werden muß. Geboren werden bedeutet, in eine Welt geworfen zu sein, in welcher der Tod uns bereits erwartet. Im Gegensatz zu Heidegger bemüht Ricoeur sich, diejenigen Aspekte der Kontingenz und Faktizität in den Vordergrund zu rücken, die Hannah Arendt als »Gebürtigkeit« kennzeichnet. ›Endlichkeit‹ bedeutet auch, und vielleicht sogar in erster Linie, daß niemand Zugriff auf seinen eigenen Ursprung hat, nicht nur, weil er über kein unmittelbares Wissen über Umstände seiner Geburt verfügt, sondern auch weil niemand sich wirklich an dieses Urereignis erinnert.46 Das Ereignis des Geborenwerdens ist gleichsam der blinde Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 203
Fleck im Erinnern, das die Identität des Ichs konstituiert. Ricoeur zufolge impliziert »meine vergangene Geburt […] eine gegenwärtige Struktur, die das Nichtsein der Kontingenz umfaßt: der ›von der Frau geborene Mann‹ (Hiob) kann nicht durch sich selbst sein«.47 Diese Tatsache bestreiten zu wollen, würde bedeuten, daß man den unmöglichen Status einer ›causa sui‹ beansprucht. Mit dieser Vorstellung mag man wohl in Form einer literarischen Fiktion spielen, wie das Amélie Nothomb in ihrem ›autobiographischen‹ Roman La métaphysique des tubes48 getan hat, aber eben um zu zeigen, daß diese Fiktion unhaltbar ist. Ricoeur zufolge verleiht die Faktizität unserer Geburt der Idee der Kontingenz eine eigentümliche Note: »Du bist nicht Du, sagt die Kontingenz; Du kommst aus dem Nichts, kommentiert meine Geburt.«49 Erst nach dieser ausführlichen Besinnung auf das Phänomen der Geburt setzt Ricoeur sich mit der »letzten Quelle des Schrekkens«50 auseinander, die der Tod darstellt. Alles, was bisher über die Quellen der Betrübnis gesagt wurde, bezieht sich auf menschliche Grunderfahrungen. Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich von der Beschränktheit meines Charakters, der dunklen Macht des Unbewußten, vom Wachstum und Niedergang meines Lebens und selbst noch von meinem Geborensein spreche. Niemand hat aber eine Erfahrung des Todes, es sei denn, daß man die schwer deutbaren, von Dr. Moody gesammelten Grenzerfahrungen ins Feld führt. Gegenüber Heidegger betont Ricoeur, daß »der Todesgedanke […] ein ganz und gar von Außen erlernter Gedanke« bleibt, »der kein in das Cogito eingraviertes subjektives Äquivalent hat«.51 Noch deutlicher ist der Unterschied in folgender Aussage: »Nichts in der inneren Erfahrung des Cogito zeigt mir meinen Tod an. Selbst meine Grenzen sind noch eine Qualifizierung und manchmal eine Verherrlichung meiner Anwesenheit. Der Tod ist das Ende, der Abbruch der Grenzen, wie der Vermögen. Er ist folglich eine Negation, die aus der Reihe tanzt, und die von Außen her in das Cogito einbricht.«52 Ricoeur zufolge reflektiert die Gewißheit des sum moribundus ein Wissen, und nicht eine Erfahrung. Natürlich handelt es sich dabei um ein eigentümliches Wissen, das man anhand des folgenden Gedichtes von Hilde Domin erläutern könnte: 204 | jean greisch
Unterricht Jeder der geht belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten. Alle Spiegel so klar wie ein See nach einem großen Regen, ehe der dunstige Tag die Bilder wieder verwischt. Nur einmal sterben sie für uns, nie wieder. Was wüßten wir je über sie? Ohne die sicheren Waagen, auf die wir gelegt sind, wenn wir verlassen werden. Diese Waagen, ohne die nichts sein Gewicht hat. Wir, deren Worte sich verfehlen, wir vergessen es. Und sie? Sie können die Lehre Nicht wiederholen. Dein Tod oder meiner der nächste Unterricht: so hell, so deutlich, daß es gleich dunkel wird.53 Die Erfahrungen des Sterbens der Anderen, des Todeskampfes, des Leichnams, der Begräbnisriten und der Trauerzeremonien oder die von Freud eindringlich beschriebene »Trauerarbeit«, sind nur Approximationen an eine für immer unzugänglich bleibende Selbsterfahrung in der ersten Person. Bestenfalls können wir im Rückgriff auf einen Grundgedanken Gabriel Marcels sagen, daß »das Gesetz der Sterblichkeit mich umso mehr betrifft und verwundet, als der Andere durch die Liebe mein alter ego geworden ist«54 und daß in Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 205
dieser Hinsicht der Tod des geliebten Menschen die entscheidende Begegnung mit dem Tod darstellt. Selbst in diesem Fall bleibt der Tod eher ein schmerzvoller und angstbesetzter Gedanke als eine antizipierte Erfahrung: »Weil der Tod nicht Ich ist, wie es das Leben ist – und wie es auch die Pein, das Altern und die Kontingenz sind – bleibt er immer der Außenseiter.«55 Wie sich diese Anthropologie der Fehlbarkeit auf einer Kantischen Basis entfalten läßt, soll hier nicht weiter erörtert werden. Die Situation, die uns auf die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens aufmerksam macht, ist unbeschadet gewisser Analogien, eine andere, als diejenige, in der wir uns der Grenzen unseres Handlungsvermögens bewußt werden, und wiederum eine andere als diejenige, in der die Betrachtung des »radikal Bösen« uns mit der Frage: »Was darf ich hoffen?« konfrontiert. Entscheidend ist, daß Ricoeur seine Anthropologie der Fehlbarkeit als eine Anthropologie der »Disproportion« konzipierte. Die Nähe zu Naberts Versuch, den Begriff der Endlichkeit im Gefühl der Unangemessenheit des Selbst gegenüber den Ansprüchen, mit denen es konfrontiert ist, ist unübersehbar. Beiderseits liegt der Akzent auf einem »Verständnis der Endlichkeit, die von einem immerzu in seine Schranken verwiesenen und immer neu aufbrechenden Begehren der Überwindung dieser Endlichkeit durchzogen ist, ein Begehren, das zuinnerst mit den Bedingungen des Selbstverständnisses zusammenhängt.«56 Deshalb kann man sich fragen, ob eine gleichsam selbstgenügsame Endlichkeit, die ohne einen Unendlichkeitspol auskommt, dieser Situation genügend Rechnung trägt. Oder ins Anthropologische gewendet: Die auf Proklos zurückgehende Bestimmung des Menschen als »horizon et confinium« hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, falls man wie Ricœur, die Fehlbarkeit des Menschen im Licht einer Dialektik der Endlichkeit und der Unendlichkeit versteht, die im Gegensatz zur Hegelschen Philosophie des absoluten Geistes keine vollständige Vermittlung zuläßt. Ausschlaggebend ist dabei, daß die jeweiligen ›Bruchstellen‹, an denen der Begriff der Fehlbarkeit sich festmachen läßt, im erkenntnistheoretischen, handlungstheoretischen und affektiven Bereich ein sehr verschiedenes Gesicht zeigen, weil es sich hierbei um »verschiedenartige Vermittlungen« handelt, »die den Akt des menschlichen 206 | jean greisch
Existierens kennzeichnen, anders gesagt, eben jenen Akt, der darin besteht, Vermittlungen zwischen allen Weisen und allen Ebenen des Wirklichen außerhalb und innerhalb des Menschen auszeichnen«.57 Fügen wir noch hinzu, daß es dem Philosophen nicht gelingt, den Unterschied zwischen der »Pathetik des Elends« und dem Begriff der Fehlbarkeit ganz und gar einzuebnen. Die Menschheit hat nicht auf die Philosophen gewartet, um sich ihrer Disproportion bewußt zu werden, und sie zur Sprache zu bringen. Die in diesem Aufsatz zitierten Gedichte bezeugen, daß dieses Ringen mit der Sprache auch heute noch weiter geht. Das ist aber kein Grund, anzunehmen, daß die begrifflichen Verstehensbemühungen der Philosophen gescheitert sind. Weil eine Philosophie der Affekte keine affektive Philosophie sein kann, muß der Philosoph sich, wie bereits eingangs bemerkt, jeden rührseligen Ton verbieten, was aber nicht bedeutet, daß ihn nichts berühren würde. Der beste, weil der härteste Prüfstein für diese These und damit verbunden die Überzeugung, daß der Begriff der Fehlbarkeit über den der als Begrenzung verstandenen Endlichkeit hinausführt, ist die Konfrontation mit dem Problem des radikal Bösen. Wie immer man die Ausgangspunkte wählt und die Leitbegriffe bestimmt – Endlichkeit, Kontingenz, Vergänglichkeit, Faktizität, Fehlbarkeit –, eines dürfte klar geworden sein: ›Endlichkeit‹ und ›Transzendenz‹ sind keine einander ausschließenden Gegensätze. Es ist kein Zufall, daß Heidegger in derselben Vorlesung, in der er die Endlichkeit der menschlichen Vernunft zum Ausgangspunkt seiner Einleitung in die Philosophie nimmt, im Fortgang seiner Überlegungen in kritischer Abgrenzung gegenüber jeder erkenntnistheoretischen und theologischen Engführung des Transzendenzbegriffs betont, daß »das Dasein als solches […] transzendierend – transzendent« ist: »Das Grundwesen der Seinsverfassung des Seienden, das wir je sind, ist der Überstieg von Seiendem. Mit diesem Überstieg, der Transzendenz, liegt im Dasein als solchem eine ureigene Erhöhung seiner selbst.«58 Wenn Gottfried Benn in dem eingangs zitierten Gedicht von sich selbst sagt: »Ich lasse mich zerfallen«, dann ist in diesem Bekenntnis der Gedanke der ›Erhöhung‹ und des Selbstüberstiegs bereits enthalten. Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 207
»Philosophieren als Transzendieren«, behauptet Heidegger, »geschieht nicht als eine beliebige Verhaltung unter anderen, sondern im Grunde des Daseins als solchen«.59 Folglich ist die Frage, ob ein durch und durch endliches Wesen sich die Bewegung des Transzendierens leisten kann oder nicht, nicht nur falsch gestellt, sondern sie kommt viel zu spät, da wir als Existierende und als endliche Wesen je schon an diesem ›Spiel der Transzendenz‹ beteiligt sind, oder besser: von ihm ergriffen sind. Die wirkliche Frage, die nur eine »Hermeneutik der Transzendenz«60 beantworten kann, ist die nach den verschiedenen Weisen, in denen sich dieses Transzendieren vollzieht.
Anmerkungen
M. Heidegger: Einleitung in die Philosophie. GA 27, hg. von O. Saame / I. Saame-Speidel, Frankfurt a. M. ²2001, 24. 2 1 Kor 13, 8–13. 3 M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. GA 3, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. ²2010, 216. 4 Ebd., 216. 5 Ebd., 217. 6 Ebd. 7 Ebd., 212. 8 Ebd., 217. 9 Ebd. 10 Ebd., 219. 11 Ebd., 229. 12 G. Benn: Destille, in: Gesammelte Werke in 3 Bänden. 1. Gedichte, hg. von D. Wellershoff, Frankfurt a. M. ²2004, 275. 13 S. Freud: Vergänglichkeit, in: Gesammelte Werke, hg. von A. Freud u. a., Bd. 10, Frankfurt a. M. 1960 ff., 357. 14 M. Heidegger: Sein und Zeit, § 57, 275. 15 Im folgenden greife ich auf einige im ersten Kapitel meiner Untersuchung L’Arbre de vie et l’Arbre du savoir entwickelte Gedanken zurück. Vgl. J. Greisch: L’Arbre de vie et l’Arbre du savoir, Paris 2000, 11–32. 16 J. Nabert: Le Désir de Dieu, Paris 1996, 25. 17 Ebd., 27. 18 Ebd., 38. 19 Zur anthropologischen Bedeutung dieser Trias vgl. Emil Staigers bahnbrechende Abhandlung: Die Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946. 1
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20 21
Vergil: Aeneis I, 462. J. Tischner: Filozofia dramatu, 1986 / Das menschliche Drama, München
1989. Vgl. hierzu P. Aubenque: La prudence chez Aristote, Paris 1963 / Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007; M. Nussbaum: The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986; P. Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer, München 1996. 23 J. Nabert: Le Désir de Dieu, 33. 24 Ebd., 74. 25 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe in 8 Bänden. Band I. Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher, Philosophische Untersuchungen, hg. und durchges. von J. Schulte, Frankfurt a. M. 121999, 11, Vgl. ebd.: »Die Welt zerfällt in Tatsachen.« (I. 2) 26 Vgl. den Satz 2.012 im Tractatus: Ebd., 11. 27 P. Ricoeur: Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg/München ³2002, 17–33. 28 M. Heidegger: Sein und Zeit, 177. 29 Ebd., 179. 30 Vgl. M. Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie. Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20. GA 58, hg. von H.-H. Gander, Frankfurt a. M. 1993, 113. 31 Derselbe Gedanke wird in Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1921/22. GA 61, hg. von W. Bröcker / K. BröckerOltmanns, Frankfurt a. M. 1985, 88 wieder aufgegriffen, wobei Heidegger ausdrücklich unterstreicht, daß diese Nichtransparenz ihre Quelle im faktischen Leben hat, wobei die Schwierigkeit darin besteht zu verstehen, daß es sich hierbei weder um eine »Metaphysik«, noch um ein bloßes Bild handelt: »Das ist keine Metaphysik, aber auch kein Bild!«. 32 Vgl. hierzu J. Greisch: Fehlbarkeit und Fähigkeit. Die philosophische Anthropologie Paul Ricoeurs, Münster 2009. 33 P. Ricoeur: Philosophie de la Volonté. Le volontaire et l’involontaire, Bd. 1, Paris 1950, 419. 34 Ebd., 420. 35 Ebd., 421. 36 Ebd., 422. 37 Ebd., 421. 38 Ebd., 422. 39 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hg. von Cl. Strube, Frankfurt a. M. ²2011, 205–211. 40 Zum anthropologischen Thema der Lebensalter vgl. neuerdings: E. Deschavanne / P.-H. Tavoillot: Philosophie des âges de la vie, Paris 2007. 41 P. Ricoeur: Le volontaire et l’involontaire, 426. 22
Hermeneutik der Endlichkeit und Hermeneutik der Transzendenz | 209
Ebd. Ebd., 425. 44 M. Heidegger: Sein und Zeit § 48, 245, sowie § 50, 249. 45 M. Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriff s. Marburger Vorlesung Sommersemester 1925. GA 20, hg. von P. Jaeger, Frankfurt a. M. ³1994, 437. 46 Zur Phänomenologie der Gebürtigkeit, vgl. die glänzenden Analysen der paradoxen Ereignishaft igkeit dieses Phänomens bei Cl. Romano: L’événement du monde, Paris 1998, 112–137. 47 P. Ricoeur: Le volontaire et l’involontaire, 427. 48 A. Nothomb: Métaphysique des tubes, Paris 2000, Metaphysik der Röhren, Übers. von W. Krege, Zürich 2002. 49 P. Ricoeur: Le volontaire et l’involontaire, 428. 50 Ebd., 429. 51 Ebd., 429. 52 Ebd., 430. 53 H. Domin: Nur eine Rose als Stütze, Frankfurt a. M. 1978. 54 P. Ricoeur: Le volontaire et l’involontaire, 432. 55 Ebd., 434. 56 J. Nabert: Le Désir de Dieu, 27. 57 Ebd., 13. 58 M. Heidegger: Einleitung in die Philosophie. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1928/29, 207. 59 Ebd., 227. 60 Vgl. hierzu meinen unveröffentlichten Aufsatz: Das Spiel der Transzendenz: ›Trans-Aszendenz‹, ›Trans-Deszendenz‹, ›Trans-Passibilität‹, ›TransPossibilität‹. 42 43
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– Jakub Sirovátka –
Ethische Transzendenz und transzendente Ethik Zur Philosophie von Emmanuel Levinas
Dieu n’est pas dans le ciel. Il est dans le sacrifice des hommes, dans la miséricorde des hommes les uns envers les autres. Le ciel est vide mais la miséricorde des hommes est pleine de Dieu. Emmanuel Levinas1 Der Königsweg der metaphysischen Transzendenz ist die Ethik. Emmanuel Levinas: TU, 32
Das Bedenken der fundamentalen Beziehung zwischen Endlichkeit und Transzendenz bildet eine der zentralen Achsen des Denkens von Emmanuel Levinas. Ein solches Verhältnis birgt in sich stets eine Spannung, da die Gefahr besteht, daß die Endlichkeit in ihrem Selbststand entwertet wird und in der Transzendenz aufgeht oder daß die Transzendenz immanentisiert wird und so ihrer Absolutheit verlustig geht. Levinas ist sich dieser Gefahr bewußt und versucht, dieser Spannung denkerisch gerecht zu werden, indem er auf der radikalen Trennung beider Pole besteht bei gleichzeitiger Wahrung einer echten Beziehung zwischen beiden. Der endliche Mensch ist und bleibt auf den unendlichen Gott bezogen, jedoch immer nur aus der eigenen, endlichen Perspektive seiner Existenz. Die ursprüngliche Beziehung zu Gott ist für Levinas allein in einer ethischen Beziehung zu einem anderen Menschen denkbar. Im konkreten Leben sind beide Dimensionen ineinander verschränkt ‒ die Transzendenz ist bereits in die Endlichkeit eingesenkt und das endliche Wesen lebt immer schon vom Anderen (der Welt, der anderen Menschen und von Gott) her. Indem Levinas die Ethik als »philosophie première« (TI, 281) etablieren möchte, etabliert er da| 211
mit zugleich auch eine neuartige Metaphysik, da bei ihm die konkrete Anwesenheit des Anderen immer schon in einer ›Gegenwart‹ (als Spur) des Unendlichen geschieht. Die folgenden Ausführungen zur Ethik, zur engen Verknüpfung von Ethik und Religion im Werk von Levinas dürfen nicht als neuer Versuch mißverstanden werden, die Existenz Gottes zu beweisen. Levinas beschreitet einen anderen Weg, indem er der »phänomenologischen Konkretion« der Bedeutung des Wortes ›Gott‹ nachspürt und zwar auch dort, wo sie über alle Phänomenalität hinausgeht.2 Seine Philosophie beschreibt »den Umstand, unter dem der eigentliche Sinn des Wortes Gott ins Denken einfällt« (WGDE, 222). Zugleich ist sich Levinas dessen bewußt, daß es sich bei dem Versuch, das Unendliche zu denken und philosophisch zur Sprache zu bringen, um einen Versuch handelt, das Unmögliche zu sagen. Da sich »die Fragen in Bezug auf Gott« nicht durch Antworten lösen lassen, »in denen das Fragen nicht mehr weiterhallt, in denen es vollständig zur Ruhe kommt« (WGDE, 14), müßte dem Dire auf der theoretischen Ebene stets ein Dédire folgen, eine Zurücknahme der affirmativen Aussagen über Gott, weil Gott eben nicht letztlich wie ein ›Thema‹ zu fassen ist. Es gibt jedoch auch ein Sagen, das nicht zurückgenommen werden muß: dem Anderen die Welt sagen, das Sagen als praktisch-ethisches Geben, das Sagen als »Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen« (JS, 116 ff.). Mit seinem Versuch, das Unendliche endlich zu sagen, stößt Levinas an die Grenzen der Sprache, indem er einen Sinn zu zeigen versucht, der über das Sagbare hinausgeht. Bei einem solchen »Anrennen gegen die Grenzen der Sprache« handelt es sich aber keineswegs um ein aussichtsloses Unterfangen, sondern es hat seinen Sinn. Es war Ludwig Wittgenstein, der dieses Anrennen positiv würdigt und sogar als ethisch qualifiziert. Im Zusammenhang der Unsagbarkeit der höchsten menschlichen ‒ ethischen und religiösen ‒ Existenzvollzüge schreibt Wittgenstein: »Trotzdem rennen wir gegen die Grenzen der Sprache an. Dieses Anrennen hat auch Kierkegaard gesehen und es sogar ganz ähnlich (als Anrennen gegen das Paradoxon) bezeichnet. Dieses Anrennen gegen die Grenze der Sprache ist die Ethik. Ich halte es für sicher wichtig, daß man all dem Geschwätz über Ethik ‒ […] ‒ ein Ende macht. […] Aber die Tendenz, das Anrennen, deutet auf etwas hin.«3 Wittgestein zeigt sich überzeugt, 212 | jakub sirovátka
daß auch die negativen Ergebnisse der Philosophie eine eigene Bedeutung besitzen: »Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen« (PU, § 119).4 In dieser Hinsicht ist vielleicht auch die Sprache des späteren Werkes von Levinas Autrement qu’être ou au-delà de l’essence eine Beule, die sich der Autor bei dem Versuch geholt hat, das Unsagbare neu zu sagen. Der Wert der Entdeckung von Levinas könnte in der Betonung des Sachverhalts liegen, daß es sowohl theoretisch als auch praktisch in der Beziehung des endlichen Menschen zum unendlichen Gott zur »Inversion der Aktivität«5 kommt. In der Idee des Unendlichen denkt das Denken immer mehr als es denkt und in praktischer Hinsicht werde ich vom ethischen Anspruch durch die faktische Gegenwart des Anderen heimgesucht, der meine Verantwortung für ihn weckt. Und durch diese Verpflichtung, die mir im Antlitz des anderen Menschen auferlegt wird, »kommt auf mich […] ‒ Gebot eines Gottes, der ›den Fremden liebt‹, eines unsichtbaren, nicht thematisierbaren Gottes« (WGDE, 219).
1. Wie von Gott sprechen? Mit seiner zentralen Frage, »ob Gott nicht in einer vernünftigen Rede, die weder Ontologie noch Glaube wäre, ausgesagt werden kann«,6 stellt sich Levinas entschieden auf den Boden der Philosophie. So stellt sein Werk den Versuch dar, Gott philosophisch auf neue Weise zu sagen: zwischen der Skylla der Ontologie und der Charybdis des Glaubens, eine Offenheit des Denkens und Sprechens zu entwickeln, die weder ins Verstummen verfällt noch das Unendliche in ein System einfängt, bis es seine Transzendenz verliert, noch einen Glauben bedeutet, der auf ein kritisches Denken verzichtet. Levinas treibt Philosophie und versucht Gott philosophisch zu sagen, also im Rahmen eines endlichen Denkens und Sprechens das Unendliche schlechthin vernünftigerweise zum Ausdruck zu bringen. Da das Bewußtsein alles auf sich bezieht und die ganze Wirklichkeit unter den »panoramahaften Blick« (regard pano-ramique; TI, 195/TU, 319) stellt, ist ein transzendenter Gott alleine in einem Ethische Transzendenz und transzendente Ethik | 213
»Bruch des Bewußtseins« (rupture de conscience; DD 104 f.) denkbar. Nicht das Denken bemächtigt sich des Unendlichen, sondern im Denken des Unendlichen bemächtigt sich das Unendliche des Denkens, indem es das Denken aufbricht und über sich hinaus öffnet: »Gott ‒ Eigenname und Einziger, in keine grammatische Kategorie passend […] und so nicht-thematisierbar und auch hier nur Thema, weil sich in einem Gesagten alles für uns ausdrücken läßt, selbst das Unsagbare, doch um den Preis eines Verrats« (JS, 353). Die Stärke des Konzepts von Levinas liegt in dem Bemühen, beiden Polen der Relation zwischen Mensch und Gott gerecht zu werden. Sowohl das Subjekt soll in seiner unersetzlichen Subjekthaftigkeit gedacht werden als auch Gott in seiner radikalen Unendlichkeit. Die Beziehung des endlichen Subjekts zum Unendlichen soll weder zu einem Auflösen seiner Identität im Absoluten führen, noch soll das Absolute verweltlicht gedacht werden.
2. Die Endlichkeit des Endlichen Am Anfang der Nikomachischen Ethik des Aristoteles steht der bekannte Satz: »Jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie allgemein angenommen wird.« (NE 1094a 1 ff.; Πᾶσα τέχνη καὶ πᾶσα μέθοδος, ὁμοίως δὲ πρᾶξίς τε καὶ προαίρεσις ἀγαθοῦ τινος ἐφίεσθαι δοκεῖ).7 Unter ›Gut‹ wird das Ziel verstanden, »zu dem alles strebt« (›agaton‹ also nicht im moralischen Sinne als ›das Gesollte‹, sondern als das natürlicherweise Erstrebte). Da es jedoch eine Vielzahl an Gütern gibt, die angestrebt werden (können), fragt Aristoteles nach dem höchsten Gut, nach dem ›Endziel‹ aller Menschen. Dieses allen gemeinsame letzte Ziel scheint das »Glück«, die εὐδαιμονία zu sein (NE 1095a): »Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck.« (NE 1097a)8 So bringt bereits die Antike die offenkundige Tatsache zur Sprache, von der sich jeder tagtäglich selbst überzeugen kann: der Mensch ist als ein bedürftiges und endliches Wesen von Natur aus auf die Suche nach Glück ausgerichtet. Auch Levinas beschreibt den Menschen im Ausgang von phänomenologischer Beobachtung in seinem natürlichen Prozeß der Her214 | jakub sirovátka
ausbildung der Identität innerhalb seiner ›Lebenswelt‹. Der Vollzug der endlichen Existenz vollzieht sich zunächst in Bahnen eines ›natürlichen‹ Lebens, das das Leben als Ganzes bejaht und einen unmittelbaren positiven Bezug zur Welt besitzt. Der zentrale Begriff für diese Tatsache ist für Levinas der Begriff des Genusses (jouissance). Der Genuß als unmittelbarer Bezug zum eigenen Leben in der Welt stellt die »universale Kategorie der Empirie« (TU, 187) dar. Dank des Glücks des Genusses kann das Subjekt für sich sein, eine Innerlichkeit herausbilden (und sie durch Arbeit sichern), die ihm die Unabhängigkeit von der Welt gewährleistet (vgl. TU, 152). Das Ich bleibt zwar auf die Welt angewiesen, vermag sich jedoch in ihr zu halten. Die Endlichkeit des Menschen zeigt sich gerade in der Ambivalenz von Selbststand, d. h. der Fähigkeit, die Existenz aus eigener Kraft zu führen und von Angewiesenheit auf das Andere der Welt, auf die Anderen. Doch die endliche Existenz, die sich in einer vormoralischen Art und Weise entfaltet und so die egohafte Identität des Subjekts bildet, wird von dem Anderssein der Welt und vor allem von dem anderen Menschen gestört. Die konkrete Anwesenheit des Anderen fordert mich heraus und stellt die unbedingte Forderung, den Anderen zu achten und ihn mit Güte zu begegnen. Die Störung durch den Anderen stellt eine ›metaphysische Störung‹ dar, indem sie das egohafte Subjekt – das alles auf sich bezogen hat und deshalb als ein Selbes, als le Même (vgl. TI, 6 ff.) von Levinas bezeichnet wird – als ein egoistisches entlarvt und zur Entscheidung herausfordert. Durch die Not des Anderen, der mir in seiner Armut und zugleich in seiner Höhe erscheint, aus dem der ethische Anspruch kommt, wird die Fragilität der endlichen menschlichen Existenz sichtbar: die Verwundbarkeit in Ausgesetztheit an die eigene Sterblichkeit. Die Endlichkeit der Existenz mit seiner Verletzlichkeit läßt mich letztlich den höchsten Sinn des menschlichen Lebens entdecken: die Güte. Es geht letztlich um die Frage, wie ethisches Verhalten, wie eine »Version du Même vers l’Autre«9 möglich ist. Laut Levinas gibt die reine Güte gegenüber einem anderen Menschen »der Subjektivität ihre irreduzible Bedeutung« (JS, 57). Die höchste Verwirklichung der endlichen Existenz des Menschen ist in dem Moment zu sehen, in dem ich die Furcht und die Sorge um das eigene Leben aufgebe zugunsten der Sorge um den Anderen. Das Menschliche Ethische Transzendenz und transzendente Ethik | 215
des Menschlichen liegt in der Gabe, in der ich dem Anderen dasjenige gebe, was ich selber zum Leben brauche: »Sich-selbst-entrissen-werden-zugunsten-eines-Anderen im den-eigenen-BissenBrot-dem-Anderen-Geben« (JS, 312). In den phänomenologischen Beschreibungen der endlichen Existenz zeigt Levinas ihre zwei grundsätzliche ›Dimensionen‹: die des natürlichen Lebens und die des ethischen Verhaltens. Die endliche Verfassung des Menschen mit seiner Bedürftigkeit und Verletzlichkeit ist die Bedingung dafür, daß ich mich von der Not des Anderen ansprechen lassen kann.
3. Die radikale Transzendenz In einer großen Geste läßt sich Levinas zu der Aussage hinreißen, die »Geschichte der abendländischen Philosophie« gleiche einer »Destruktion der Transzendenz«.10 Levinas nimmt diese zu plakative These teilweise inhaltlich wieder zurück, wenn er sich positiv auf die Bestimmung des Göttlichen »jenseits der Seiendheit« (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας; Politeia 509b) bei Platon11 oder auf die angeborene Idee des Unendlichen im dritten Buch der Meditationes von Descartes12 bezieht, in der das Ich einen unendlichen Bedeutungsgehalt denkt, den er nicht allein aus einem endlichen Denken heraus zu denken vermag. Das Unendliche kann nicht vom Endlichen begriffen werden (III, 25), sondern nur gleichsam im Gedanken berührt (attingere) werden (III, 38). Levinas hätte sich jedoch ebenso mit Recht auf einige Denker des Mittelalters beziehen können. Das völlige Fehlen der mittelalterlichen Philosophie gehört zu einem der frappierendsten und bis heute von der Forschung nicht befriedigend geklärten Fakten im Werk von Levinas. Seine Berechtigung zieht die These von der Destruktion der Transzendenz im abendländischen Denken sicher aus der Konstruktion von einigen Versuchen, Gott als die Spitze eines theoretischen Systems zu denken, als ob sich die transzendente Wirklichkeit Gottes einem endlichen be-greifenden Denken beugen müßte. Im Hintergrund steht sicher auch die Kritik Immanuel Kants an den sog. ›Gottesbeweisen‹13 (d. h. die Unmöglichkeit eines theoretischen, zwingenden Beweises für das Dasein Gottes) und die Kritik Martin Heidegger an der »onto-theologischen Verfassung der Metaphysik«.14 216 | jakub sirovátka
Im Levinasschen Konzept läßt sich in philosophiegeschichtlicher Hinsicht eine interessante Beobachtung machen. In der engen Verbindung von Ethik und Metaphysik werden zwei eher disparate Denkansätze miteinander verbunden: das Gedankengut der Mystik (im Hinblick auf die Absolutheit und Unendlichkeit Gottes) und das der praktischen Philosophie Kants (im Hinblick auf den Primat des Moralisch-Praktischen). Auch wenn sich Levinas selbst ausdrücklich in seinem Gottdenken vor allem auf Descartes bezieht und der Mystik eher ablehnend gegenüber steht, lassen sich doch etliche Denkfiguren in der philosophisch-christlichen Mystik ausfindig machen, die inhaltlich Levinas sehr nahe stehen. Der breite Strom der christlichen Mystik, die viele Elemente der platonischen und neuplatonischen Tradition aufgenommen und transformiert hat, steht für die Hervorhebung der dem endlichen Menschen unzugänglichen Verborgenheit Gottes. Gegenüber dem ›nahen‹ Gott wird vielmehr die Inkommensurabilität des Endlichen mit dem Unendlichen betont, die u. a. in dem bekannten Satz von Nikolaus von Kues ihren Ausdruck findet: Finiti ad infinitum nulla est proportio (De Visione Dei 23, 101; fast identische Formulierung steht bereits bei Thomas von Aquin in der Summa theologica I,2,2: finiti autem ad infinitum non est proportio). Das Denken von Nikolaus von Kues eignet sich vielleicht am besten dazu, die Verwandtschaft mit der Philosophie von Levinas aufzuzeigen. Im Zusammenhang der völligen Anderheit Gottes unterstreicht Levinas, Gott sei »nicht einfach der ›erste Andere‹, oder der ›Andere schlechthin‹ oder der ›absolut Andere‹, sondern ein Anderer als der Andere, in anderer Weise ein Anderer«.15 Eine fast wörtlich übereinstimmende Formulierung finden wir bei Cusanus in seinem Werk De non aliud, in dem Gott als das ›Nicht-Andere‹, als das Andere des Anderen (aliud ipsius aliud; prop. 18) charakterisiert wird. Gott steht als Ursprung von allem über der Differenz zwischen dem Selben und dem Anderen. Die Einsicht der »belehrten Unwissenheit« (docta ignorantia), daß der unendliche Gott alleine in einer nichtbegreifenden Weise begriffen werden kann,16 läßt an Levinas’ Forderung denken, das endliche Denken müsse auf das Unendliche hin infiniert werden (vgl. TU, 26).17 In Anlehnung an Descartes sagt Levinas, daß die Idee des Unendlichen dem endlichen Denken »zur Blendung wird«, da es sich um ein Denken handelt, »das mehr oder das besser denkt, als es der Ethische Transzendenz und transzendente Ethik | 217
(theoretischen) Wahrheit nach denkt« (TU, 11).18 Im Denken der Idee des Unendlichen übersteigt das cogitatum das cogito unendlich, indem das Unendliche das Endliche affiziert.19 Die Blendung besteht jedoch nur auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft. Auf dem Feld des Praktischen erhält sie einen positiven Sinn, indem eine neuartige Beziehung zum Unendlichen möglich wird. In der Dimension der Höhe, aus der zu mir das Antlitz des Anderen mit seinem ethischen Anspruch spricht, »blendet das Unendliche nicht die Augen, die sich zu ihm erheben. Das Unendliche spricht […]« (TU, 105). Als ob Levinas eine Stelle Kants in seine eigene Sprache übersetzt hätte, in der Kant in derselben Intention den Umweg des Unendlichen über das praktische Moralgesetz hervorhebt: »Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend, zu sehen, wie der ältere Platon tat, ist ganz tunlich« (VT A 410). Diese Interpretation des ursprünglichen platonischen Motivs führt dessen Ansatz nur weiter. Bei Platon ist im Sonnengleichnis (auch im Höhlengleichnis) ebenso die Rede von der Unmöglichkeit des Hineinsehens in die Sonne, die als Idee des Guten und des Schönen das Höchste schlechthin repräsentiert.20 So führt ebenfalls das Denken des Mittelalters (und der Renaissance) die Metaphern von Licht und Dunkel unter Anknüpfung an Platon fort und gestaltet es für die eigenen Zwecke um. In diesem Sinne läßt sich eine Analogie zwischen der Denkfigur der Blendung und der Rede vom »unzugänglichen Licht« (Cusanus: Vom Sehen Gottes, 7) ziehen. Die Unendlichkeit Gottes ist so groß, daß sie für jedes Begreifen unbegreiflich bleibt und letztendlich nur in Paradoxien zum Ausdruck gebracht werden kann wie der von der ›Dunkelheit des unsichtbaren Lichts‹ Gottes. Durch die Betonung der ethischen Verantwortung für den Anderen, durch die scharfe Herausstellung des konkreten – immer auch materiellen – Gebens wird Levinas vor der Gefahr bewahrt, die im mystischen Ansatz latent vorhanden ist: vor der Aufgabe der menschlichen Subjekthaftigkeit im immer größeren Absoluten. Der unendliche Gott verweist bei Levinas stets auf den Anderen, sodaß die Richtung des endlichen Subjekts von der Vertikale in die Horizontale verwiesen wird. Durch die ›Ethisierung‹ der Transzendenz21 218 | jakub sirovátka
und der damit verbundenen Beharrung auf der radikalen Trennung zwischen Mensch und Gott entgeht Levinas auch der Gefahr der Immanentisierung des Absoluten, sodaß das Absolute Alles in Allem wird. Die absolute Exteriorität des Unendlichen wird in der Bewegung auf den Anderen hin für das Endliche ›ertragbar‹: in der ethischen Beziehung bleibt die Beziehung zum Unendlichen bestehen und bekommt einen konkreten positiven Sinn, ohne die Bedingungen der endlichen conditio humana zu zerstören. Gott als der absolut »Ersehnenswerte«, Désirable verweist mich auf den non-désirable, den l’indésirable, auf den Anderen in seiner Not, die letztlich darin besteht, der eigenen Sterblichkeit ausgesetzt zu sein.22 In einer anderen ‒ poetologischen ‒ Weise23 vergegenwärtigt Rainer Maria Rilke die Einsicht in die Unableitbarkeit des Absoluten. Trotz seiner sich selbst attestierten »beinah rabiaten Antichristlichkeit«24 zehrt Rilke in seiner Dichtung vom Christentum und von Religion im Allgemeinen. Die Nähe Gottes zeigt sich in Rilkes Werk in seinem unendlichen, »äußersten Abstand«.25 Im Verhältnis zu Gott ist jedwedes Besitzdenken26 fehl am Platz, religiöse Besitztümer kann es in der Beziehung zum Absoluten nicht geben: Auch der dich liebt und der dein Angesicht erkennt im Dunkeln […] besitzt dich nicht. Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt, so daß du kommen mußt in sein Gebet: Du bist der Gast, der wieder weiter geht. Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein, von keines Eigentümers Hand gestört.27 Das Motiv des unzugänglichen Lichts, in dem Gott wohnt, findet ebenfalls ihre poetologische Entsprechung in den Versen des Stunden-Buchs: Gott, du bist groß. Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin, wenn ich mich nur in deine Nähe stelle, Ethische Transzendenz und transzendente Ethik | 219
Du bist so dunkel; meine kleine Helle an deinem Saum hat keinen Sinn. Dein Wille geht wie eine Welle und jeder Tag ertrinkt darin. Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn und steht vor dir wie aller Engel größter: ein fremder, bleicher und noch unerlöster, und hält dir seine Flügel hin.28 Die expliziten Nennungen und Bilder Gottes werden im Verlauf der dichterischen Entwicklung Rilkes immer mehr zurückgenommen zugunsten der wachsenden Einsicht in die Unsagbarkeit, Unaussprechlichkeit des Unendlichen. Das »Dunkel Gottes, in dem allein Gemeinschaft ist« verdichtet sich immer mehr. Diese Dunkelheit darf indessen ‒ genauso wie bei Cusanus ‒ nicht als eine Minderung verstanden werden, sondern als eine angemessene Vergegenwärtigung des Absoluten. Rilke stellt fest, daß zwischen ihm und Gott »eine unbeschreibliche Diskretion« entstanden ist, »und wo einmal Nähe war und Durchdringung, da spannen sich neue Fernen […] Das Faßliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug, und es entsteht eine Namenlosigkeit, die wieder bei Gott anfangen muß, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein.« (Briefe II, 395; Brief an Ilse Jahr vom 22. 2. 1923) Die Dunkelheit Gottes ‒ der Abstand zwischen Gott und Menschen, die radikale Trennung im Sinne von Levinas ‒ muß ausgehalten und sogar durchlebt werden, denn nur durch diesen Abstand hindurch scheint eine Beziehung des Irdischen zum Göttlichen möglich: »Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur Sinn, wo der Abstand zugegeben wird zwischen Gott und uns ‒; aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er hinab und heule drin […]. Erst zu dem, dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel um, und alles tief und innig Hiesige […] kommt zurück« (Brief an Ilse Jahr vom 22. 2. 1923).
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4. Transzendente Ethik als »Religion für Erwachsene« Die zwischenmenschliche Beziehung ist für Levinas stets allem voran eine ethische Beziehung, zugleich stellt jedoch jede ethische Beziehung eine religiöse Beziehung dar und zwar in dem Sinne, daß jede menschliche Güte, verstanden als Antwort auf den Anspruch des Anderen, in die vertikale Dimension involviert ist. Levinas zitiert in diesem Zusammenhang Franz Rosenzweig, der die Einteilung der Menschen in »religiöse« und »nichtreligiöse« ablehnt, als ob es sich »um eine besondere Beanlagung [handelt], die man hat oder nicht hat« und unterstreicht, daß es sich um Fragen handelt, »die an jeden Menschen gerichtet werden«.29 Wenn die faktische Wirklichkeit qua Wirklichkeit eine solche religiöse Dimension aufweist, dann geht sie alle Menschen unabhängig von der (Nicht-) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion an. Weder mystische Vision, weder Schauer vor dem Numinosen noch theoretische spekulative Theologie führt nach Levinas zu einer echten Beziehung zum unendlichen Gott, sondern der praktische Weg der Ethik. Levinas fordert in diesem Zusammenhang eine »Religion für Erwachsene« (vgl. SchF, 21–37). Aufgrund der engen Verbindung von Religion und Ethik läßt sich mit einer gewissen Berechtigung ebenfalls über eine ›Ethik für Erwachsene‹ sprechen. Was ist damit gemeint? Daß eine Beziehung zwei getrennte, für sich selbst stehende Subjekte fordert, wurde bereits aus der Charakteristik des endlichen Subjekts im oberen Kapitel sichtbar. Die Forderung der Trennung gilt auch für die Beziehung zu Gott, die die Bedingung der menschlichen Freiheit und des Handelns nicht zerstören darf. Das Verhältnis zwischen dem menschlichen, endlichen Subjekt und dem unendlichen Gott kann sich nur im Modus der Mündigkeit ereignen. Diese Mündigkeit ist indes alleine um den Preis der Gefahr des Atheismus zu erreichen. Eine Religion für Erwachsene muß laut Levinas die reale Möglichkeit des Atheismus miteinschließen und sie zugleich überwinden: »Ein Gott für Erwachsene manifestiert sich gerade durch die Leere des kindlichen Himmels.« (SchF, 110) Indem sich Gott in seiner Abwesenheit zeigt, appelliert er »an die Reife des voll verantwortlichen Menschen« (SchF, 111). Der Verzicht Gottes auf die vollständige Determinierung der Welt durch seinen Willen stellt die unerläßliche Bedingung der EntfalEthische Transzendenz und transzendente Ethik | 221
tung der menschlichen Freiheit dar. Die Reife des Menschen besteht darin, daß er sich für den Zustand der Welt verantwortlich weiß und diese Verantwortung in die Tat umsetzt. Die göttliche Größe offenbart sich in diesem Vertrauen in den Menschen, in der Übergabe der Welt in seine Verantwortung, von der ihn jedoch niemand entlasten kann.30 Wenn es heißt, daß Gott den Menschen »als Selbst«, nur »als Singularität« lieben kann (SchF, 140 f.), dann ist damit die Forderung nach Mündigkeit impliziert, die sich jeder Mensch selbst im Vollzug seiner Freiheit erkämpfen muß. In dieser Mündigkeit, meine Verantwortung zu tragen, besteht »der ganze Ernst und die Schwere der Nächstenliebe« (WGDE, 214 f.). So wie eine mündige Religion die reale Gefahr des Atheismus in Kauf nehmen muß, so ist auch die Verwirklichung einer echten Moral alleine mit der Gefahr einer unmoralischen Welt verbunden: »Die Moral fordert die absolute Freiheit, aber in dieser Freiheit liegt bereits die Möglichkeit einer unmoralischen Welt, das heißt das Ende der Moral; die Möglichkeit der unmoralischen Welt ist also in den Bedingungen der Moral eingeschlossen.« (SchF, 80) Mit anderen Worten gesagt, eine echte Freiheit ‒ nicht die »Freiheit eines Bratenwenders« (KpV A 174) ‒ muß sich immer auch verfehlen können. »Im Nächsten ist«, wie Levinas betont, »reale Anwesenheit Gottes. In meiner Beziehung zum Anderen vernehme ich Gottes Wort. […] Ich sage nicht, daß der Nächste Gott ist, aber daß ich in seinem Antlitz Gottes Wort höre.« (ZU, 140). Gott kennen, heißt »wissen, was zu tun ist«. Levinas geht soweit, daß er sagt, »daß alles [Hervor. durch Verf.], was ich von Gott weiß, und alles, was ich von Seinem Wort hören und Ihm vernünftigerweise sagen kann, einen ethischen Ausdruck finden muß« (vgl. SchF, 29). Falls diese These in ihrer Ausschließlichkeit vielleicht (nicht nur) für christliche Ohren befremdlich klingt, dann gilt es auf die Intention zu achten, die mit ihr verbunden ist. Levinas selbst schwächt die Strenge seiner These ab, indem er eine philosophische Metaphysik in geschriebenen Werken vorlegt und Auslegungen des Talmud vorträgt. Unsere ›Ahnung‹ von Gott erschöpft sich also nicht nur in der zwischenmenschlichen Beziehung. Die Beziehung zum Anderen ist jedoch der ›Probierstein‹ dessen, wie ernst es mir mit meiner Beziehung zu Gott ist. Und sie ist sicher auch unerläßlich in einer solchen Beziehung zum Unendlichen, denn sie entformalisiert und konkretisiert 222 | jakub sirovátka
sie, sodaß der Primat des Praktischen, wie er bereits im Denken Platons oder Kants wirksam ist, bei Levinas ebenfalls durchschlägt.31 Auch die theoretische Mühe um die Darstellung der Wirklichkeit des Unendlichen wird letztlich bei Levinas ins Praktische gewendet und als désir charakterisiert.32 Es geht um die Suche nach einer Gottesbeziehung in voller Konkretion der Lebenswelt, es geht um das »Jenseits«, das sich »innerhalb der Totalität und der Geschichte, innerhalb der Erfahrung« widerspiegelt (TU, 22), auch wenn es die Erfahrung und die Geschichte übersteigt. Die Charakterisierung Gottes als barmherzig bedeutet das Gebot, es ihm gleich zu tun und barmherzig zu sein wie Er. Dies ist nicht nur ein biblisches Gebot, sondern trifft genauso für den Geist Platons zu. Im Theaitetos 176c wird Gott als der »Gerechteste« (δικαιότατος) und in der Politeia 443de die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) als höchste und diejenige Tugend vorgestellt, die die Harmonie zwischen den anderen Tugenden bewirkt. Und wenn gilt, daß jedem Menschen die Aufgabe der »Anähnlichung an Gott soweit als möglich« (ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν; Theaitetos 176b) auferlegt ist,33 dann soll er genauso gerecht und gut ‒ die »Idee des Guten« (ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ), die »jenseits der Seiendheit« (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) angesiedelt ist,34 steht für die Wirklichkeit Gottes ‒ handeln wie Gott. Mit Worten von Levinas ausgedrückt: »Die Transzendenz ist keine Vision des Anderen ‒ sondern ein ursprüngliches Geben. […] Die Transzendenz ist keine Optik, sondern die erste ethische Geste.« (TU, 252 f.)
5. Ethik als Beziehung zwischen Endlichkeit und Transzendenz Der natürliche, lebensmäßige Vollzug der endlichen Existenz spielt sich, wie dargelegt worden ist, innerhalb der Welt ab, die das Subjekt in einer ursprünglichen ›Annehmlichkeit‹ in der Weise des Genusses bejaht. Das Subjekt zeigt sich als autochthon ‒ zwar auf die Welt als ein Anderes angewiesen und dadurch von ihr abhängig, dank seiner Innerlichkeit hält es sich jedoch in einer »extraterritorialité« (TI, 104) gegenüber der Welt, also unabhängig. In einer den Analysen Heideggers nicht unähnlichen Beschreibung wird von Levinas ein Subjekt vorgestellt, das sich seine Identität innerhalb der Welt Ethische Transzendenz und transzendente Ethik | 223
herausbildet und sichert. Der Sinn der endlichen Existenz wird aber von Levinas nicht in der Sorge um das eigene Sein, um das eigene Existieren gesehen. Die höchste Verwirklichung der eigenen Endlichkeit liegt in der Befreiung von der Sorge um das eigene Leben und zwar gerade angesichts der endlichen Dauer des Lebens.35 Diese Befreiung geschieht jedoch nicht um der eigenen Selbstübersteigerung willen, sondern um des Anderen willen. Der letzte Sinn der Endlichkeit ‒ das Menschliche des Menschlichen ‒ liegt in der Sorge um das Leben des anderen Menschen: in der Ethik. Wenn gilt, daß ein echtes Geben nicht aus einem Überfluß heraus geschieht, sondern in der Gabe von demjenigen, das ich selber zum Leben brauche (vgl. JS, 304 und 311 f.), dann gilt dies im höchsten Maße über die eigene Existenz. Im ethischen Verhalten gegenüber dem Anderen werde ich in eine Beziehung zum Unendlichen ›verstrickt‹. Der ethische Anspruch, den der Andere an mich stellt, ist keine wissentlich-willentliche Forderung, die der Andere stellt. Dieser ethische Anspruch ist mit der ›Anderheit‹ des Anderen gegeben und kommt ›aus der Höhe‹ des Antlizes, das wiederum die plastische Form des konkreten Gesichtes übersteigt. Die Forderung, Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, kommt aus dem personalen Kern des Anderen. Mit Worten Kants gesprochen, der Andere zeigt sich mir als ein absoluter Zweck an sich selbst, als eine Person, die Respekt und Güte fordert. Dieser radikal unbedingte Imperativ ist für Levinas ohne die Beziehung auf ein Absolutes nicht denkbar. Mit der Beziehung zum Anderen trete ich zugleich in eine Beziehung zu Gott, als ob die Radikalität des ethischen Anspruches ohne die radikale Anderheit des Anderen und ohne die radikale Transzendenz des Unendlichen nicht verstehbar wäre. So gesehen ist jede ethische Beziehung eine religiöse und vice versa: eine echte Gottesbeziehung ohne ethische Beziehungen zu anderen Menschen ist unmöglich, wenn sie nicht zu einem leeren Spiritualismus verkommen soll. Der Sinn der endlichen Existenz ist nicht im immanenten Vollzug zu sehen, sondern in einer ethischen Öffnung auf den Anderen hin. Diese Öffnung bewirkt zugleich eine Öffnung auf das Absolute hin. Das Absolute verweist nach Levinas erneut auf den Anderen, indem es sich entzieht. Die enge, geradezu unerläßliche Verbindung von Ethik und Religion im Denken von Levinas ‒ »Es gibt keine Moral ohne Gott; ohne Gott ist die Moral nicht gegen die Unmoral 224 | jakub sirovátka
gefeit« (SchF, 80) ‒ drückt sich unter anderem auch darin aus, daß Levinas in seinen späteren Werken auf den religiösen Begriff der Heiligkeit rekurriert. Laut Jacques Derrida unterstreicht Levinas in einem Gespräch die Wichtigkeit der »Perspektive der Heiligkeit«:36 »Wissen Sie, man spricht oft von Ethik, wenn man beschreiben will, was ich mache, doch was mich letzten Endes interessiert, ist nicht Ethik, nicht Ethik allein, es ist das Heilige, die Heiligkeit des Heiligen.«37 Somit wandelt sich meine Lebenszeit mit seiner Sorge um das eigene Sein in die Sorge um den Anderen und wird zugleich zu einer Zeit A-Dieu, zu einer Bewegung des endlichen Subjekts »Hin zu Gott«.38
Anmerkungen
M. de Saint Cheron: Entretiens avec Emmanuel Levinas 1983–1994, Paris 2010, 28. 2 Vgl. WDGE, 13. 3 Vgl. dazu L. Wittgenstein: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis, Frankfurt a. M. 1989, 68 f. 4 Vgl. L. Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, 301. 5 Vgl. dazu N. Fischer: Suchen und Finden: zur Inversion der Aktivität in der Beziehung zu Gott, in: G. Kruck (Hg.): Gottesglaube‒Gotteserfahrung‒ Gotteserkenntnis: Begründungsformen religiöser Erfahrung in der Gegenwart, Mainz 2003, 259–280. 6 Vgl. E. Levinas: Gott und die Philosophie, in: B. Casper (Hg.): Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München 1981, 85. 7 Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 1997, 5; Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, Düsseldorf/Zürich 2001, 9. 8 Vgl. auch I. Kant: »Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünft igen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz […], sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürft ig ist« (KpV A 45) und »Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünft igen Wesen […] als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit« (GMS BA 42). 9 E. Levinas: Positivité et transendance, Paris 2000, 33. 10 Vgl. E. Levinas: Gott und die Philosophie, 83. 1
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(Pseudo-)Dionysius Areopagita verwendet den Begriff ὑπερουσίως, um denselben Sachverhalt ausdrücken: Gott übersteigt alles Sein und Erkennen, er ist ὑπὲρ πᾶσαν οὐσίαν καὶ γνῶσιν; De myst. theol. I, 1 (997b). So steht Levinas mit seinem Versuch, Gott unabhängig von ontologischen Kategorien zu denken, nicht völlig singulär dar. Ähnlich gelagerte Motive lassen sich in der (neu)platonischen Tradition ausfi ndig machen, ein Weiterdenken bietet JeanLuc Marion in seinem Buch Dieu sans l’être. 12 Vgl. R. Descartes: Meditatio de prima philosophia III, 22–39. Zu jedem großen Philosophen – und Emmanuel Levinas ist dazu zu zählen – gehört scheinbar der Gestus des radikalen Bruches mit der bisherigen Geschichte des Denkens, um der Neuartigkeit der eigenen Position mehr Nachdruck zu verleihen. Nichts desto trotz bezeugen auch die Werke von Levinas, daß er weiß, was er der Tradition vor ihm verdankt. 13 Vgl. dazu das 3. Hauptstück Das Ideal der reinen Vernunft in der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft B 595–670. 14 Vgl. dazu z. B. Heideggers Aufsatz Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik in: Ders.: Identität und Differenz, Stuttgart 101996, 51–67. 15 E. Levinas: Gott und die Philosophie, 108. 16 Vgl. u. a. De docta ignorantia I, V: Ex his clarissime constat maximum absolute incomprehensibiliter intelligibile pariter et innominabiliter nominabile esse. Zur Frage nach Gott bei Cusanus vgl. N. Fischer: Die Beziehung zwischen Unendlichem und Endlichem im Denken des Cusanus, in: W. A. Euler (Hg.): Der Gottes-Gedanke des Nikolaus von Kues, Trier 2012, 291–314. 17 Zum Gedanken der ›Infi nition‹ vgl. ebenso N. Fischer: Die philosophische Frage nach Gott, Paderborn 1995, 118 ff. 18 Vgl. auch E. Levinas: Gott und die Philosophie, 102 f. »Blendung [eblouissement], in der das Auge mehr aushält als es aushält.« 19 Vgl. E. Levinas: Über die Idee des Unendlichen in uns, in: H. H. Henrix (Hg.): Verantwortung für den Anderen und die Frage nach Gott, Aachen 1984, 38 f. 20 Vgl. Politeia 506b–509b und 514a–518b. 21 Vgl. TU, 106 f.: »Das Transzendente als fremd und arm zu setzen, bedeutet, daß die metaphysische Beziehung mit Gott sich nicht in der Unkenntnis der Menschen und Dinge vollziehen darf. […] Eine Beziehung mit dem Transzendenten […] ist eine soziale Beziehung.« 22 Vgl. DD, 113. 23 Rilkes Dichtung erzeugt »mit genuin poetischen Mitteln« einen Sinn, der zu ›denken gibt‹, einen poetologischen Sinn, der einen denkerischen Anspruch in sich enthält. Vgl. M. Engel: Vorwort in Rilke-Handbuch, XII. 24 Vgl. Briefe I, 413; Brief an Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe vom 17. 12. 1912. 25 Damit paraphrasiere ich die Überschrift des Gesprächs mit dem Germanisten Rio Preisner. Vgl. R. Preisner: Když myslím na Evropu II [Denke ich 11
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an Europa II], Praha 2004, 909. Preisner bezieht sich auf Malte (KA III, 633): »Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand.« 26 In einem Brief an Ilse Jahr am 22. 02. 1923 schreibt Rilke fast programmatisch: »statt des Besitzes erlernt man den Bezug« (KA I, 596). 27 Buch von der Pilgerschaft, KA I, 229. 28 KA I, 170 f. 29 Vgl. SchF, 136 und 139: »Noch bevor die Religion ein Bekenntnis ist, ist sie das Pulsieren des Lebens selbst, in dem Gott mit dem Menschen und der Mensch mit der Welt in Beziehung tritt.« Levinas hätte sich mit genauso gutem Recht auch auf Kant berufen können. Denn nach Kant ist Metaphysik alleine als »Naturanlage« (KrV B 21) der menschlichen Vernunft möglich. Der Vernunft wohnt eine »rastlose Bestrebung« inne, der Metaphysik als »ihrer wichtigsten Angelegenheit nachzuspüren« (KrV B XV): »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (KrV A VII) 30 Diese Verantwortung geht laut Levinas sogar so weit, daß »jeder so handeln muß, als wäre er der Messias« (SchF, 95). In seinem zentralen Begriff der Verantwortung akzentuiert Levinas einen anderen Aspekt als etwa Hans Jonas in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung, das er selbst als ein »Tractatus technologico-ethicus« bezeichnet hat. Dort entwirft Jonas eine eher politisch-gesamtgesellschaft liche »Zukunft sethik«, eine »Ethik der Fernverantwortung«, die die als verheerend angesehenen Folgen des technologischen Fortschritts vorwegzunehmen und ethisch vertretbar zu steuern versucht mit dem Ziel der Bewahrung des menschlichen Lebens und der Natur für künft ige Generationen. Vgl. Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1984, 10 und 61 ff. u. a. 31 Levinas spricht über den »Primat des Ethischen« (TU, 108). 32 Vgl. dazu TI, 21 f./TU, 62 f. 33 Vgl. dazu den ganzen Passus bei Platon: »Das Böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber, und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß. Deshalb muß man auch trachten, von hier dorthin zu entfl iehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht. […] Gott ist niemals auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne vollkommen gerecht, und nichts ist ihm ähnlicher, als wer unter uns ebenfalls der Gerechteste ist.« (Theaitetos 176a–c) 34 Vgl. Politeia 509b. Ethische Transzendenz und transzendente Ethik | 227
Vgl. E. Levinas: »Sterben für …« Zum Begriff der Eigentlichkeit bei Martin Heidegger, in: F. J. Klehr (Hg.): Den Andern denken, Stuttgart 1991, 176: »Ich bin einverstanden mit dem Begriff des Seins des Menschen als Sorge um das Sein, und der Tod ist die Verneinung dieser Sorge um das Sein. Aber ich sehe diese Sorge um das Sein immer auch als Konkurrenz mit dem Anderen, als Begrenzung meines Seins und in diesem Sinne als Tod; alles, was mein Sein begrenzt, ist Tod. Und die Möglichkeit, den Tod des Anderen als wichtiger als meinen Tod zu denken, ist das Menschliche: das ist der Mensch, das Menschliche im Menschlichen.« 36 Vgl. E. Levinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien 1995, 9. 37 J. Derrida: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München/Wien 1999, 12. Zur Heiligkeit vgl. meinen Aufsatz Ethik als Anspruch der Heiligkeit. Zu Leben, Werk und Wirkung von Emmanuel Levinas in: N. Fischer / J. Sirovátka (Hg.): »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas, Paderborn 2006, 9–23. In der Kritik der praktischen Vernunft hebt ebenso Kant hervor, daß die »Heiligkeit des Willens« dem Menschen zum Urbild dienen soll, »welchem sich ins Unendliche zu nähern, das einzige [Hervorh. durch Verf.] ist, was allen endlichen vernünft igen Wesen zusteht« (KpV A 58). 38 Vgl. ZU, 212 ff. 35
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– August Stahl–
Ostia und Ulsgaard Göttliche Fügung und irdische Nähe: zwei Begegnungen
Im neunten Buch der Confessiones erinnert Augustinus, dankbar zurückblickend, nach Jahren, wichtige Ereignisse seines Lebens, den Rückzug auf das Landgut eines Freundes nahe Cassiciacum, die Aufgabe seines Amtes als Lehrer der Rhetorik nach dem Ende der Ferien, die Taufe Ostern 387 im Dom zu Mailand, den Aufbruch zur Rückkehr nach Nordafrika, den erzwungenen Aufenthalt im Hafen von Ostia und ein Gespräch mit der Mutter wenige Tage vor ihrem Tod1 und ihre Beisetzung schließlich in der Fremde. Die Chronologie dieses Lebensabschnitts wird immer wieder angehalten, erweitert und ergänzt durch Einblendungen vorausgegangener Erfahrungen, Ereignisse aus dem eigenen Leben, dem der Freunde, des Sohnes und vor allem dem der Mutter und Ausblicke auch auf die nachfolgende Zeit bis in die Gegenwart des schreibenden Bischofs von Hippo. Das Ineinander von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft findet seine Einheit und seinen inneren Zusammenhang in der Ausrichtung auf das göttliche ›du‹ und die von ihm erhoffte rettende Botschaft.2 Ihm wird die Lebensgeschichte vorgetragen, dankend und als Lob zugleich. Darüber hinaus aber sind die Bekenntnisse Augustins, wie der Schluß-Absatz des neunten Buches zeigt, auch eine Ermunterung und eine Einladung3 zu einer in Gott versöhnt geborgenen Gemeinschaft. Dies geschieht, wie James J. O’Donnell bemerkt,4 in einer »solemn liturgical language«: »et inspira, domine meus, deus meus, inspira servis tuis, fratribus meis, filiis tuis, dominis meis, quibus et corde et voce et litteris servio, ut quotquot haec legerint, meminerint ad altare tuum Monnicae, famulae tuae«. (conf. 9,37) | 229
Der bewegende Ton dieses Gebets ist entschieden mitbestimmt von der rhetorischen Inszenierung, den Wiederholungen, den abwechslungsreichen Reihungen, den Parallelismen, den Alliterationen. Der Wechsel zwischen Erzählen und Deuten, zwischen Preis und Dank, der Wechsel von der Vergangenheit in die Gegenwart, vom Gebet zur Feier und vom »du« zum »wir« findet, wie man teilnehmend erfährt, nicht nur statt zwischen Büchern und Kapiteln. Der Wechsel und die Einheit ist ein prägendes Merkmal des Stils und spürbar durchgehend in der Wahl und der Ordnung der Worte, den syntaktischen Fügungen, der Grammatik, dem sensibel und differenzierend eingesetzten Wandel der temporalen Bestimmungen. »impendente autem die, quo ex hac vita erat exitura (quem diem tu noveras ignorantibus nobis), provenerat, ut credo, procurante te occultis tuis modis, ut ego et ipsa soli staremus, incumbentes ad quandam fenestram unde hortus intra domum quae nos habebat prospectabatur, illic apud Ostia Tiberina, ubi remoti a turbis post longi itineris laborem instaurabamus nos navigationi.« (conf. 9,23) Man versteht bei der Lektüre so wohlgestalteter Sprache, daß der Verdacht aufkommen mag, die »rhetorische Manier« könne, wie Kurt Flasch sich ausdrückt, dem heutigen Leser »zu schaffen« machen.5 Gary Wills, einer der bedeutenden amerikanischen Augustinus-Übersetzer, erwähnt zwar die »Puristen«, die den »Rhetoriker« verurteilten, und bedauert es zugleich, daß viele Seiten der Sprachkunst Augustins unübersetzbar (»untranslatable«) seien. Für Wills ist die kunstvolle Form der Confessiones keine »Manier«. Er wertet sie als Zeichen eines Glaubens, dem die Mittel der Rede (»means of rhetoric«) wie die Mittel der schriftlichen Überlieferung (»means of scriptural texts«) Spiegelungen waren der Geheimnisse Gottes (»both, [Augustine] felt, reflected the mysteries of God.«).6 Man wird also die dichte Abfolge der verschiedenen Partizipialkonstruktionen (praesentis, futuri, perfecti – impedente, exitura, ignorantibus, incumbentes, remoti) und die eingeschobenen flektierten Formen im Plusquamperfekt, im Präsenz und Imperfekt verstehen als Ausdruck eines Bewußtseins, das Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges verbindet, erinnernd, betrachtend und erwartend.7 Dabei sind Erinnerung, Betrachtung und Erwartung 230 | august stahl
nicht immer leicht und auch nicht notwendigerweise voneinander zu trennen. Ist der Glaube (»ut credo«) an die göttliche Vorsehung nur ein späteres Bekenntnis des Schreibenden und keine Erinnerung, und ist die Unwissenheit (»ignorantibus nobis«) nur eine Erinnerung und keine noch immer schmerzende Erfahrung? Der Ablativus absolutus und das Participium praesentis in »procurante te« halten fest, was galt und gilt, verkünden ein zeitloses Vertrauen in die (unauffällig wirkende) Güte Gottes. Bekenntnis und Zuversicht sind besonders betont durch die syntaktische Ordnung, die Unterbrechung des Satzflußes, durch den zwischen das Verbum des Hauptsatzes (»provenerat«) und den Nebensatz (»ut […] staremus«) eingeschobenen Zusatz (»ut credo«). Dieser Zusatz verbindet die erinnerte Vergangenheit mit der erinnernden Gegenwart. Die »interclusio«8 schiebt den Kern der Aussage nicht nur hinaus, sie hebt ihn auch hervor, stellt ihn gewißermaßen heraus: das Zusammensein von Mutter und Sohn: »provenerat […], ut ego et ipsa soli staremus« Die Übersetzer hatten mit diesem Gefüge große Schwierigkeiten. Die meisten störte die Reihenfolge der Pronomina (»ego et ipsa«). Das haben sie korrigiert und »ego et ipsa soli« als »sie und ich allein« (Kurt Flasch) übertragen, als »die Mutter und ich, allein« (Otto F. Lachmann), sie haben daraus »she and I were alone« gemacht (Philip Burton) oder einfach: »wir beide allein«. Was durch die Umstellung bzw. die Zusammenfassung im »wir« und der Ergänzung (»beide«) verlorenging, das war vermutlich in der Übertragung sowieso kaum zu retten, der lautliche Charme, den die Alliteration erzeugt: »ego et ipsa soli staremus«. Die lautliche Einbindung verstärkt die Betonung, die mit dem Pronomen »ipsa« ohnehin vorbereitet ist. Die vorhergehenden Kapitel (8,17–9,22) sind mit dem Leben der Mutter befaßt, in der Form eines Rückblicks, der ausgeht von dem Tod der Mutter,9 zu dem der ihrer gedenkende Sohn wieder zurückkehrt am Schluß. Das »ipsa« ist insofern ganz im Sinne der lateinischen Grammatik eine »besondere Hervorhebung« der Gestalt der Mutter, entsprechend dem von ihr gezeichneten Bild und der strahlenden Rolle, die sie im Leben des Sohnes spielte.10 Die Zeichnung der Situation des Zusammenseins im Hafen von Ostia, an einem Fenster mit Blick in den Garten,11 verdient unabOstia und Ulsgaard | 231
hängig noch von dem folgenden Gespräch12 größte Aufmerksamkeit bis in die Wortwahl hinein. So ist z. B. nicht die Begegnung als Vorgang beschrieben sondern nur der Zustand, gewißermaßen ist das Ergebnis der Bewegung festgehalten: »staremus incumbentes ad quandam fenestram«. Dem Weg, der die beiden schließlich zusammenführte, ist keine Aufmerksamkeit gewidmet und kein Anlaß ist angegeben, keine Absicht der am Fenster zusammen Gekommenen erkennbar. Frei und unabhängig von eigenen Vorsätzen und Planungen, sind sie offen für Neues und Unbekanntes. Das Verbum (»provenerat«) hat kein persönliches Subjekt und das entspricht dem Absehen von Details, die eine Initiative der beteiligten Personen hätten erkennen lassen. Also gebrauchen die Übersetzer im Deutschen das neutrale »es« (»es geschah« – »da traf es sich« – »da begab es sich«), im Französischen das »il« (»il arriva«), im Englischen »it came about«. Garry Wills verwendet das Passiv (»we happened to be standing«), auch eine überzeugende Umsetzung der lateinischen Vorgabe. Die Begegnung von Mutter und Sohn an ›irgendeinem Fenster‹ (»ad quandam fenestram«) mit Blick in den Garten hat es (vermutlich)13 gegeben und sie war, obwohl von beiden nicht geplant und auch nicht gesucht, so doch vorhergesehen, wenn auch nicht von ihnen selbst. Die eingeschobene Erklärung (»ut credo«) ist zugleich Bekenntnis des Glaubens und ein Wort des Dankes. Was sich zwischen den beiden begab, die glückliche Begegnung, ist für den zurückblickenden Augustin kein Zufall. Für ihn möglich geworden ist die Begegnung mit der Mutter durch eine Fügung der immer um den Menschen besorgten Aufmerksamkeit Gottes (»procurante te«). In diesem Sinne sind die Confessiones‚ »eine Hymne auf die Gnade Gottes«14 und man darf mit Garry Wills hier an die Nähe zu einem »scriptural text«15 denken, an den Psalm 118 (Vers 24) zum Beispiel: »Haec est dies quam fecit Dominus. Exsultemus et laetemur in ea«. Wie im Falle der Begegnung am Fenster in Ostia hat Augustinus auch bei der Beschreibung anderer für den eigenen Lebensweg entscheidender Erfahrungen die Überzeugung geäußert, sie seien durch die Hilfe Gottes möglich geworden. Zu erinnern wäre an die Deutung der Stimme aus dem Nachbarhause, die der unruhig und leidend um Rat und Hilfe betende Augustin schließlich als 232 | august stahl
Zuspruch Gottes auslegt: »nihil aliud interpretans divinitus mihi iuberi«. (8,29) Die Zusätze, das »procurante te« und das »divinitus mihi iuberi«, sind alles andere als beiläufige Anmerkungen, sie sind Ausdruck der fundamentalen Welt- und Geschichtsdeutung Augustins. Für den Kirchenvater ist das in seinem Zusammenhang dem Menschen oft undurchschaubare Faktische als Werk Gottes doch immer von der göttlichen Vorsehung her zu werten. Nicht umsonst gilt in den einschlägigen Überlegungen zum Thema von Kontingenz und Zufall16 Augustinus als der ›wirkungsmächtigste‹ Verfechter der »spätantikchristlichen annihilatio fortunae und auch der christlichen Annihilation jedes Zufallsbegriffs«.17 Die »göttliche Vorsehung, heißt es, lenkt alles. Sie bestimmt über alle Dinge, und alle Dinge (Ordnung und Kausalität) sind ihr unterworfen«.18 Die Begegnung mit der Mutter und die Stimme im Nachbarhaus sind solche ›Dinge‹, deren Ordnung und Zusammenhang gerade durch ihre Rätselhaftigkeit einen transzendenten Hintergrund nahelegen. Fragen sind nur die Folge der menschlichen Unwissenheit (»ignorantibus nobis«) und sie finden ihre Antwort im Vertrauen auf die göttliche Fürsorge (»procurante te«). Die uneinsehbare Abfolge der Ereignisse vermittelt eine Ahnung der Wirkung und Größe des Schöpfers. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß Augustinus den Einfluß und das Handeln Gottes nicht einfach als gegeben beschreibt und als Tatsache. Augustinus stellt nicht bloße Behauptungen auf. In erkenntnistheoretischer Bescheidenheit übernimmt er »als Suchender«19 in entscheidenden Dingen und in zentralen Aussagen die Verantwortung für seine Urteile. Das Wirken der göttlichen Vorsehung (»procurante te« – »divinitus mihi iuberi«) ist nur garantiert in der Erfahrung des bekennenden Schreibers: »ut credo« und »interpretans«. Der Glaube, heißt das, ist eine Leistung des glaubenden Subjekts. Man darf sich da an O’Donnells Urteil über Augustins »silent god« erinnern: »For Augustin’s god is a silent god. Though […] god hears human prayers, the response is, to every mortal ear, silence.«20 Der Glaube aber bewahrt den Menschen vor der Entmutigung durch diese Stille, der Glaube erhält das Vertrauen in die verborgen wirkende Gnade Gottes: »procurante te occultis tuis modis«. Daß Augustinus nicht mehr behauptet hat, als was nachvollziehbare Erfahrung ist, macht die Authentizität seiner Rede aus und ihre Ostia und Ulsgaard | 233
Lebendigkeit bis heute. Sie ist legitimiert als Bekenntnis des dankbar bemühten Menschen.21 Die von Augustinus gefeierte göttliche Fügung hat ihre Entsprechungen in der Literatur von der Franziskus-Biographie Thomas von Celanos22 und Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux bis zu Sören Kierkegaards Entweder-Oder, Texte in denen vom Öffnen eines Buches und der Entdeckung einer Bibelstelle berichtet wird, von den Bekenntnissen Augustins in der Reisetasche und einer zu der weiten Aussicht vom Mont Ventoux passenden Stelle des zehnten Buches23 und schließlich von einem überraschend aufspringenden Schreibtischfach mit einem bedeutenden Manuskript.24 Einer der Dichter, bei denen man das Motiv sich wie von selbst auf der richtigen Seite öffnender Bücher findet, ist Rainer Maria Rilke. Daß die Lektüre ein besonderes Mittel der Übertragung von Botschaften ist, verwundert bei einem Dichter nicht mehr als bei Heiligen und Philosophen. Aber die vorausgehende Vermittlung der Lektüre, der Fund und die Öffnung des Buches mit der passenden Seite, das ist die Arbeit, die Augustinus der göttlichen Vorsehung verdanken will, und sie unterscheidet sich nicht von der Arbeit, die eine Begegnung ermöglicht und betreibt (»procurante te«) wie die Begegnung mit der Mutter Monnica im Hafen von Ostia. Natürlich ist die Begegnung zweier zusammen reisender Familienmitglieder kein ungewöhnliches Ereignis, schon gar nicht wenn sie zurückgezogen (»remoti a turbis«) in einem Hause zusammen wohnen. Die providentia dei macht aber keine Unterschiede, sie wirkt »ohne Umwege […] auf die Welt ein« und nicht nur, wenn es um die »Gründung menschlicher Reiche« geht.25 Augustins ausdrücklicher Hinweis auf die göttliche Teilhabe an der Begegnung in Ostia muß aber als eine besondere Betonung gewertet werden und sie bot ihm die Gelegenheit zu einem dankbaren Bekenntnis zum segensreichen Werk Gottes. Eine so hoch einzustufende Begegnung gibt es auch in Rilkes großem Prosabuch Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und diese Begegnung sei hier erwähnt, weil sie in mancher Hinsicht, der Begegnung Augustins und Monnicas ähnelt, in mancher Hinsicht, aber nicht in jeder. Zu den Ähnlichkeiten zählt der Tod der Mutter, der Blick aus dem Fenster (»a turbis remotus«), die Be234 | august stahl
gegnung ohne Zeugen (»soli«), das von der Vergangenheit in die Gegenwart wechselnde Schreiben, die Nachhaltigkeit der Folgen. Die Rede ist von Maltes Begegnung mit Abelone, der jüngsten Schwester seiner Mutter, der Begegnung im Park von Ulsgaard gelegentlich seiner Heimkehr von der Adels-Akademie zu Beginn der Ferien. Dieser Begegnung erinnert sich Malte an zentraler Stelle seiner Aufzeichnungen, der 36. von insgesamt 71.26 Die 36. Aufzeichnung ist im Ganzen eine Erinnerung an die, nach der Mutter, bedeutendste Frauengestalt in seinem Leben. Es mag als ein äußeres Indiz gelten, daß die Figur neben der Mutter die am häufigsten angesprochene Person ist bis zur vorletzten (70.) Aufzeichnung, aufgerufen als Zeugin, Ratgeberin, Gesprächspartnerin, Geliebte, bewundernd meistens. Die Begegnung, die in der 36. Aufzeichnung erinnert ist, fand statt »in dem Jahr nach Mamans Tod«: »Ich interessierte mich dafür, weshalb Abelone nicht geheiratet hatte. Sie kam mir alt vor verhältnismäßig, und daß sie es noch könnte, daran dachte ich nicht. ›Es war niemand da‹, antwortete sie einfach und wurde richtig schön dabei. Ist Abelone schön? fragte ich mich überrascht. Dann kam ich fort von Hause, auf die Adels-Akademie, und es begann eine widerliche und arge Zeit. Aber wenn ich dort zu Sorö, abseits von den andern, im Fenster stand, und sie ließen mich ein wenig in Ruh, so sah ich hinaus in die Bäume, und in solchen Augenblicken und nachts wuchs in mir die Sicherheit, daß Abelone schön sei. Und ich fing an, ihr alle jene Briefe zu schreiben, lange und kurze, viele heimliche Briefe, darin ich von Ulsgaard zu handeln meinte und davon, daß ich unglücklich sei. Aber es werden doch wohl, so wie ich es jetzt sehe, Liebesbriefe gewesen sein. Denn schließlich kamen die Ferien, die erst gar nicht kommen wollten, und da war es wie auf Verabredung, daß wir uns nicht vor den anderen wiedersahen. Es war durchaus nichts vereinbart zwischen uns, aber da der Wagen einbog in den Park, konnte ich es nicht lassen, auszusteigen, vielleicht nur, weil ich nicht anfahren wollte, wie irgendein Fremder. Es war schon voller Sommer. Ich lief in einen der Wege hinein und auf einen Goldregen zu. Und da war Abelone. Schöne, schöne Abelone. Ostia und Ulsgaard | 235
Ich wills nie vergessen, wie das war, wenn du mich anschautest. Wie du dein Schauen trugst, gleichsam wie etwas nicht Befestigtes es aufhaltend auf zurückgeneigtem Gesicht. Ach, ob das Klima sich gar nicht verändert hat? Ob es nicht milder geworden ist um Ulsgaard herum von all unserer Wärme? Ob einzelne Rosen nicht länger blühen jetzt im Park, bis in den Dezember hinein? Ich will nichts erzählen von dir, Abelone. Nicht deshalb, weil wir einander täuschten: weil du Einen liebtest, auch damals, den du nie vergessen hast, Liebende, und ich: alle Frauen; sondern weil mit dem Sagen nur unrecht geschieht.«27 Abelone war ihrer älteren Schwester nach deren Heirat von Urnekloster, dem Stammsitz der Brahes, nach Ulsgaard, dem Stammsitz der Brigges, gefolgt und sie blieb dort auch nach dem Tod ihrer Schwester, der Mutter Maltes. Das wird nicht eigentlich erzählt, nicht einmal erwähnt und schon gar nicht begründet und datiert. Man erfährt nichts über das Wann und Warum. »Abelone«, heißt es eingangs der Aufzeichnung, »Abelone war immer da.« Für Malte wird sie zu einer wichtigen Bezugsperson allerdings erst nach dem Tod der Mutter. Da sie dem Neffen oft von ihrer Schwester, seiner Mutter, erzählte, ist es verständlich, daß dieser viel von seinen Gefühlen für die Mutter nach deren Tod auf die jüngere Schwester übertrug. Dabei geschah es beinah unmerklich, daß sich die Gefühle wandelten und aus der Vertrauten eine Geliebte wurde, so wie aus den Briefen ganz unabhängig von ihrem Inhalt Liebesbriefe wurden. Die Einsicht in diesen Wandel bringt allerdings erst die Begegnung zu Beginn der Ferien im Park von Ulsgaard in der Nähe eines Goldregens. Dieser Goldregen im Park von Ulsgaard ist nicht nur eine (schön blühende, giftige) Pflanze. In der bildenden Kunst (Tizian, Rembrandt, van Dyck, Klimt) ist die auf Ovid zurückgehende Geschichte der Königstochter Danaë oft dargestellt worden. Die von ihrem Vater in einen Turm Verbannte wird von Zeus in Form eines Goldregens besucht und wird die Mutter des berühmten Helden Perseus.28 Rilkes Anlehnung an die mythische Tradition wird durch die kreative Abwandlung besonders gewinnend und die Begegnung der Liebenden erhält geradezu hintergründig eine erhebende 236 | august stahl
Weihe. Der zurückhaltende Anschluß an den Mythos ist einer Erfahrung angemessen, die sprachlich allenfalls vergleichsweise (»wie«), im Kontrast (»nichts«) oder als Möglichkeit (»vielleicht«) faßlich erscheint. Die Begegnung von Mutter und Sohn am Fenster des Hauses in Ostia feiert Augustinus als Werk der göttlichen Vorsehung, den Besuch des göttlichen Liebhabers bei der eingekerkerten Tochter anzunehmen, lernt der königliche Vater zu spät, die Begegnung des Neffen und der Tante verklärt der Rilkesche Malte zu einem alle Erwartung übertreffenden aber willkommenen Glück: »Schöne, schöne Abelone.« Die Deutung der Briefe als Liebesbriefe ergab sich für Malte nachträglich (»wie ich es jetzt sehe«) und sie war die Konsequenz aus der Begegnung im Park schließlich. Das ist der Sinn des ›DennSatzes‹, daß er die Erklärung liefert für die veränderte Einschätzung der Briefe. Die Briefe, die Begegnung im Park von Ulsgaard und die veränderte Einschätzung, das sind Stationen in den Erinnerungen Maltes, deren Aufzeichnung mit dem Pariser Aufenthalt einsetzt und die insofern zur Pariser Gegenwart gehören (»wie ich es jetzt sehe«), so wie die Bekenntnisse Augustins zurückblicken von Hippo aus auf den Aufenthalt in Ostia und das Gespräch an einem Fenster mit Blick in den Garten. Das Wiedersehen im Park ohne Zeugen (»nicht vor den anderen«) war nicht vereinbart, geschah aber »wie auf Verabredung«. Negation und Vergleich befreien die Liebenden und lassen sie zu absichtslos und unabhängig voneinander am Geschehen Beteiligte werden. Die Begegnung wird zu einem Ereignis höherer Ordnung, unbeeinflußt vom Wollen und Planen der beteiligten Partner, wie die Begegnung von Augustin und Monnica im Hafen von Ostia. Die emphatische Negation (»durchaus nichts«), mit der die Erinnerung an die Begegnung einsetzt, schafft den Raum für ein Liebesglück, dessen Wirklichkeit weder moralisch zugelassen noch überhaupt offen gewünscht29 sein soll und das eben darum auch alle Erwartung nicht nur übertrifft, sondern überhaupt erst konturiert, wenn auch nachträglich. Die Vorstellung eines ohne alle Einmischung des eigenen Selbst erreichbaren Glückes gehört zu den größten Hoffungen der Rilkeschen Poetik. Ein solches Glück wäre auch frei von über das Ich vermittelten Konventionen und den daraus folgenden Zwängen, Vorbehalten und Ängsten. Kein Wunder, daß Ostia und Ulsgaard | 237
für die Beschreibung solchen Glückes keine Sprache zur Verfügung steht und mit »dem Sagen nur unrecht geschieht«. In diesem Kontext schaffen die Verneinungen häufig den Raum für beglückende Vorahnungen, die alle Leere übertreffen, unabhängig machen von jeder Erfüllung oder allem schließlich Gewährten erst seinen Glanz verleihen. Beispielhaft dafür sei aus einem Brief zitiert, in dem Rilke die Fürstin Marie von Thurn und Taxis über die gerade möglich gewordene Unterkunft in dem »entlegenen alten Schlößchen Berg« unterrichtet: »Das ergab sich so plötzlich, ohne mein mindestes Zuthun, bot sich einfach, ich konnte nicht widerstehen. Zumal es in einem merkwürdigen Moment mir zur Wahl gestellt wurde. Ich kam – Sie errathen nicht woher –, Fürstin, – ich kam aus Paris, wo ich, ebenso unvermuthet, sechs Tage zugebracht habe, unbeschreibliche Herbsttage, herrliche, – und es war […] in einem alle Erwartung weit übertreffenden Maaße – mein Paris, das ehemalige, ich möchte sagen: ewige.«30 Das »ergab sich« ließe sich angemessen mit dem augustinischen »provenerat« übersetzen. Und die Erklärung des Kirchenvaters oder genauer gesagt: die von ihm vorgetragene Vermutung des von der göttlichen Vorsehung geleiteten, begleiteten und gestärkten Lebensweges, auch sie findet bei Rilke eine Entsprechung. Aber die Rilkesche Gewißheit bleibt namenlos, offen und sie führt nicht vom Leben weg in eine jenseitige Welt. Rilkes Feier des über alle Erwartung erhaben Gewährten strömt immer wieder den Zauber aus, der dem Gegenwärtigen, dem »Hiesigen« die »augenfällige Freundschaft und Heiterkeit der Erde«31 beläßt oder zurückgibt. Bei der Beschreibung der Teppiche der »Dame mit dem Einhorn«, die Malte Laurids in pathetischer Zwiesprache mit und für Abelone betrachtet, ist von der Vorbereitung eines Festes die Rede und da heißt es: »Aber es kommt noch ein Fest, niemand ist geladen dazu. Erwartung spielt dabei keine Rolle. Es ist alles da. Alles für immer.«32 Die Worte sind an eine Liebende gerichtet, die um der inneren Unabhängigkeit willen das Verzichten lernen soll, die Liebe ohne ein Gegenüber. Augustinus wendet sich in den Confessiones dankend an den allmächtigen Gott, dessen Zuwendung und Hilfe er 238 | august stahl
erbittet. Rilke wirbt um den von allem Einfluß freien, von aller Wertung und einschränkenden Konvention unabhängigen, um den offenen Zugang zum »Hiesigen«. Der Heilige erreicht einen Blick auf die Wahrheit (»veritas«), der Dichter die Eröffnung des Zugangs zur Schönheit der Welt (»Schöne, schöne Abelone.«). Aber der Dichter braucht wie der Heilige eine die eigenen Kräfte übersteigende Hilfe, und sei es, wie im Falle Rilkes, eine Hilfe aus der leeren Transzendenz. Das Glück, »illius vitae iucunditas«, finden Monnica und Augustinus jenseits der Welt des Sinnlichen und des Himmels,33 während Malte Laurids Brigge sich erinnert, daß es die »schöne Abelone« war, die ihm die »Himmel öffnen« sollte.34 Die Himmel, von denen da die Rede ist, liegen nicht außerhalb der Erde jenseits der »carnalium sensuum«, sie sind gegenwärtig, »hiesig«,35 sinnlich wahrnehmbar, sichtbar in der Schönheit Abelones und hörbar in ihrem Gesang.36 Anmerkungen
Vgl. conf. 9,27: »interea vix intra quinque dies aut non multo amplius decubuit febribus«. Die Confessiones sind zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe, übersetzt von W. Th imme, mit einer Einleitung von N. Fischer, Düsseldorf/Zürich 2004. 2 Diese göttliche Botschaft , die Augustinus in die Worte des Psalms 34,3 (»salus tua ego sum«) gefaßt hat, gehört zum »Grundton der Bekenntnisse Augustins«. Vgl. den Hinweis von Erich Feldmann auf G. N. Knauer: Psalmenzitate in Augustins Konfessionen, Göttingen 1955, 66 ff. 3 Diese Ausrichtung auf die Praxis des Lesers hat Erich Feldmann (Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones) in die ›protreptische Tradition‹ gestellt und in Anlehnung an Ciceros Hortensius fruchtbar gemacht für die gattungsgeschichtliche Beschreibung der Confessiones. In: N. Fischer / C. Mayer (Hg.): Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern, Freiburg/Basel/Wien 1998, 11–59, bes. 44–50. 4 In seiner introduction to book nine: »The parting of the ways of A. and his mother is marked at the end of the book with solemn liturgical language.« Der Kommentar O’Donnells ist zitiert nach der im Internet zugänglichen Fassung. 5 Kurt Flasch in seiner Einleitung zu: Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von K. Flasch, übers., mit Anm. versehen und hg. von K. Flasch u. B. Mojsisch, Stuttgart 2005, 7. 1
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»It is true that he loves and indulges himself in puns, alliteration, antitheses, jingles, anaphora, chiasmus, polyptoton, and other classical devices. Some of these are untranslatable.« In: Saint Augustine. Confessions, transl. with an Introduction by G. Wills, New York 2006, XI. Es lohnt sich, die Stelle weiter zu zitieren: »Since God is the Word (Logos, or Verbum), the hidden affi nities and capacities of language were the ways to trace the subterranean thought-connection of our own mind.« 7 Vgl. N. Fischer: »[Augustins] Antwort auf die Frage nach dem Sein der Zeit besagt zunächst, daß nicht Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem Sein zukommt, sondern der Gegenwart des Vergangenen in der memoria, der Gegenwart des Gegenwärtigen im contuitus, der Gegenwart des Zukünftigen in der exspectatio.« In: »Gibt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauffassung Augustins in der Dichtung Rilkes, in: Blätter der Rilke-Gesellschaft 30, 2010, 283–304; Zitat 292. 8 Es handelt sich nicht gerade um eine (H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, München ²1972, 427, zu zitieren) »konstruktionsfremde Zwischenschaltung«, aber doch um eine deutlich, auch zeitlich gegliederte Fügung. Vgl. auch Quintilian: Institutio Oratoriae, IX, 23: »interpositio vel interclusio«. 9 »et cum apud Ostia Tiberina essemus, mater defuncta est«. 10 J. J. O’Donnell: Augustine: A new Biography, New York 2005, 55: »No bit player in the history of autobiographie plays quite the role that she plays in Augustine’s.« 11 Einmal sensibilisiert für die nuancierende Diktion Augustins, darf man überlegen, ob das Passiv (»unde hortus […] prospectabatur«) so angemessen paraphrasiert ist. 12 Vgl. dazu D. Hattrup: Die Mystik von Cassiciacum und Ostia, in: N. Fischer / C. Mayer (Hg.): Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern, Freiburg/Basel/Wien 1998, 389–439. 13 Insoweit wäre die Begegnung erzählt. Zu dieser Leistung der Confessiones s. E. Feldmann: Das literarische Genus, 20 f. und Anm. 55. 14 Mark G. Henninger, SJ, in seinem ›Foreword‹ zu einer der ganz jungen Übersetzungen der Confessiones (H. M. Helms: The Confessions of Saint Augustine, Brewster/Massachusetts 2010): »The Confessions are, in essence, a hymn to this grace of God.« 15 Vgl. Saint Augustine. Confessions, transl. with an Introduction by G. Wills, New York 2006, XI. 16 Vgl. P. Vogt: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011; darin über Augustinus vor allem 542–547 und: Graevenitz, G. von / Marquard, O. in Zusammenarbeit mit M. Christen (Hg.): Kontingenz, München 1998. 17 Vogt: Kontingenz und Zufall, 542. 6
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Vincent Cioffari, zitiert bei Vogt: Kontingenz und Zufall, 546: »Providence controls all. It extends over all things, and all things (order and causality) are subject to it […]. All things are regulated and all things are administered by it – omnia, et animalia et corporalia, in genere suo divinae providentiae legibus subdita administrantur (De Ag. Chr. viii, 9).« 19 Vgl. N. Fischer: Augustinus und Kant, in: G. Förster / A. E. J. Grote / Chr. Müller (Hg.): Spiritus et Littera. Beiträge zur Augustinus-Forschung. Festschrift zum 80. Geburtstag von Cornelius Petrus Mayer OSA, Würzburg 2010, 591: »Augustinus präsentiert sich selbst bis zum Ende seines Wegs als ein Suchender«. 20 J. J. O’Donnell: Augustine: A new Biography, 293. 21 Man wird davon ausgehen dürfen, daß in dieser Haltung die »große Wirkungsgeschichte« der Confessiones gründet. Vgl. E. Feldmann: Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones, 11. 22 Thomas von Celano: Leben und Wunder des Heiligen Franziskus von Assisi, Einf., Übers., Anm. von E. Grau OFM, Werl/Westfalen 1964, 158: Kapitel II: »Wie er beim Öff nen der Heiligen Schrift die Absicht des Herrn mit ihm erkannte.« Und 161: »Es geschah aber, daß er beim Öff nen des Buches zuerst auf das Leiden unseres Herrn Jesus Christus stieß«. (Lat: »Factum est autem«.) 23 Ich zitiere nach einer jüngeren Ausgabe (Die Besteigung des Mont Ventoux, Frankfurt a. M. / Leipzig 1996, 27 ff.): »Zufällig aber bot sich mir das zehnte Buch dieses Werkes dar. Ich rufe Gott zu Zeugen an […] daß dort, wo ich die Augen zuerst hinheftete, geschrieben stand: Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge […] und haben nicht acht ihrer selbst.« 24 S. Kierkegaard: Entweder – Oder, Teil I und II, übers. von H. Fauteck, München 51998, Vorwort, 14: »Die Schublade war zu und die Schublade blieb zu. Dagegen geschah etwas anderes. Ob mein Schlag gerade diesen Punkt getroffen hat, oder ob die totale Erschütterung in der gesamten Organisation des Sekretärs der Anlaß gewesen ist, ich weiß es nicht, aber das weiß ich, daß eine geheime Tür aufsprang, die ich nie zuvor bemerkt hatte.« Von hier aus wäre die erfolglose Mühe von Maltes »Maman« mit »Ingeborgs kleinem Sekretär« neu zu lesen: »Sie hatte dabei immer die Vorstellung, es könnte sich plötzlich noch etwas fi nden in einem geheimen Fach, an das niemand gedacht hatte und das nur dem Druck irgendeiner versteckten Feder nachgab.« (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit R. Sieber-Rilke, besorgt durch E. Zinn, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1966, 789) 25 Vogt: Kontingenz und Zufall, 544. Vogt bezieht sich auf De Civitate Dei. 26 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (vgl. Anm. 24), 709–966, sind nicht nummeriert. Die Zählung stammt von Rilke-Spezialisten, von Armand Nivelle zuerst. 27 Ebd., 825 f. 28 Ovid: Metamorphosen IV,10 f.: »neque enim Iovis esse putabat/Persea, quem pluvio Danaë conceperat auro.« 18
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Verständlich, daß der Psychologe Erich Simenauer (Rainer Maria Rilke. Legende und Mythos, Bern 1953, 258–260) die Beziehung Maltes zur Schwester der Mutter inzestuös nennt und in Abelone eine »Ersatzperson für die Mutter« sieht. 30 Brief vom 19. November 1920 (nach dem Einzug am 12. November). In: Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis. Briefwechsel, hg. von E. Zinn, 2 Bände, Zürich 1956, Band 2, 623 f. Zum Thema und zu diesem Brief vgl. meinen Beitrag »französisch gedacht«. R. M. Rilke und Charles Vildrac, in: Etudes Germaniques, 63e année, Janvier-Mars 2008, Numéro 1, 49–88. 31 Der Brief des jungen Arbeiters, SW 6, 1115 und 1116. 32 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, SW 6, 829. 33 Vgl. conf. 10,24: »perambulavimus gradatim cuncta corporalia et ipsum caelum«. 34 SW 6, 825: »Ich ahnte nicht, daß Abelone mir noch ganz andere Himmel öff nen sollte.« 35 Zitat aus Die Sonette an Orpheus (I, 13): »sonnig, erdig, hiesig –: /O Erfahrung, Fühlung, Freude –, riesig!« 36 SW 6, 824: »Übrigens hatte Abelone ein Gutes: sie sang.« In der Sprache Augustins könnte man sagen: »Abelone cantans dulcissime vana erat« (vgl. conf. 1,23). Den kritischen Ton müßte man aber verkehren. 29
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– Dieter Hattrup –
Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken 1. Die drei Pinakotheken These 1: Die Neuzeit hatte den Versuch gemacht, die unendliche Identität Gottes zu beerben – zum Schluß sogar auf Kosten der eigenen endlichen Identität. So die Erkenntnis eines Museumsbesuchs. 1.1 Der folgende Essay über die Identität wurde angestoßen durch einen Besuch in der Residenzstadt München. Ich schlenderte vor Jahresfrist durch die Räume der drei Pinakotheken in der Stadt, als ich plötzlich einen Gedanken deutlich vor mir stehen sah. Die Malerei machte mir den Geist der Neuzeit sichtbar! Als ich in der dritten, in der Pinakothek der Moderne vor einem Bild des russischen Malers Wassily Kandinsky saß, überfiel es mich wie ein Blitz. Ich meine, es war vor seinem Gemälde Träumerische Improvisation aus dem Jahr 1913. Der Blitz, das war der Ausruf: Jetzt ist die Person wieder weg! Es durchlief mich von oben bis unten: Identität verloren! Der Blitz war kurz, doch bedurfte er einer längeren Vorbereitung, er bedurfte eines Ganges durch alle drei Pinakotheken der Stadt. Etwas ausführlicher lautete der Ausruf: In der ersten, in der Alten Pinakothek, gibt es die einzelne menschliche Person noch nicht; in der zweiten, in der Neuen Pinakothek, steht sie in voller Blüte; und hier, in der dritten Bildsammlung, hat sich die individuelle Person wieder aufgelöst, es gibt sie nicht mehr. Die abstrakte Kunst malt keine Gestalten mehr, und mit viel Recht hat sich Kandinsky den Schöpfer der abstrakten Malerei genannt. Das ist die Grundlinie, welche die drei Häuser verbindet und unterscheidet, von der es im Detail natürlich viele Abweichungen gibt. Wie kommt der Eindruck zustande? Aus welchen Elementen war der Blitz aufgebaut? In der Alten Pinakothek herrschen die religiösen Motive vor. Vereinfacht kann man sagen: Dort gibt es die | 243
menschlichen Personen noch nicht, es gibt nur die eine göttliche Person in der Gestalt Christi, nur sie hat Identität. Natürlich gibt es auch ein paar Landschaften und einige antike Szenen, doch das kommt nicht auf gegen den Gesamteindruck. Hier wird die eine göttliche Person in allen ihren Einzelheiten auf Erden dargestellt, und die menschlichen Personen machen keinen Anspruch, selbst als Individuen zu erscheinen. Ihr persönliches Leben spiegelt sich im Leben Christi wieder. Von der Zeugung bis zum Grab, von der Verkündigung Mariens bis zum Tod am Kreuz, immer wieder ist nur eine einzige Person dargestellt; und die Gottesmutter, die Jünger, das Volk bilden die Staffage. Selbst in der Gruppe der Vier Apostel von Albrecht Dürer, in der Christus nicht sichtbar ist, ist er dennoch unsichtbar anwesend durch die Haltung der vier Männer, die geprägt sind von seiner Gegenwart im Wort der Schrift. So sind zum Beispiel auch Bauern, Handwerker und Arbeiter in der ersten Pinakothek dargestellt, jeder Mann, jede Frau kann das eigene Leben abgebildet finden, allerdings in der Gestalt des einen Heiligen und seiner vielen Heiligen. Wenn der Handwerker sich sucht, findet er sich wieder beim Zimmermann Joseph in dem Bild Die Heilige Familie von Rembrandt aus dem Jahr 1633. Das Gemälde zeigt das alte Motiv der Maria Lactans, der säugenden Gottesmutter, allerdings schon stark säkularisiert, ohne das früher übliche Attribut des Heiligenscheins. Im Hintergrund ist einiges Werkzeug zu erkennen, wie es wohl zur Werkstatt eines Zimmermanns von damals und von heute passen mag, aber dargestellt sind Jesus, Maria und Joseph. Erstes Ergebnis aus der ersten Pinakothek: Es gibt nur Gott, nur eine einzige Substanz, die in sich selber steht. Die endliche Person des Menschen begründet sich in der unendlichen Person Gottes, eine von Gott unterschiedene Identität kennt sie nicht und braucht sie nicht. 1.2 Gehen wir 170 Jahre weiter, betreten wir jetzt die Neue Pinakothek! Da finden wir wiederum eine Maria Lactans, aber jetzt soll die Familie nicht mehr die hl. Familie sein, sondern sie stellt einen glücklichen Bürger mit Frau und Kleinkind dar. In dem Familienbildnis von Johann Georg Edlinger, entstanden um das Jahr 1800, sehen wir eine stillende Mutter mit einem zufriedenen Vater, beide aufmerksam über den Säugling gebeugt. Die Situation hat sich ge244 | dieter hattrup
dreht: Die endliche Person des Menschen begründet sich jetzt in sich selber, eine in Gott begründete Identität braucht sie nicht mehr. So sieht es in der gesamten Neuen Pinakothek aus: Die Natur steht in sich selber, und der Mensch steht in der Natur, damit ebenfalls in sich selber. Die Endlichkeit hat es geschafft, Substanz zu sein. Gott gibt es noch, aber er wird nicht mehr recht gebraucht, er ist nur eine Wirklichkeit unter anderen Wirklichkeiten. Sogar eine hl. Familie finden wir, etwa ein Bild von Friedrich Wilhelm von Schadow aus dem Jahr 1818, aber die Heiligen haben ihre Heilsbedeutung verloren. Das heißt, sie begründen nicht mehr das Leben des Menschen in der Natur. Aber die Romantik in dieser Zeit, könnte man einwenden, ist sie nicht eine Bewegung gegen die Säkularisierung des Lebens? Ein Caspar David Friedrich malte damals nur religiöse Bilder, die das Scheitern des Endlichen und die Ahnung des Unendlichen zeigen. Er zwingt die Natur, ihre unhaltbare Seite zu offenbaren, ihren Mangel an Substanz. Sein Bild Das Eismeer zeigt die Selbstzerstörung der Natur, ihre flüchtige Identität. Natur ist nicht alle Wirklichkeit bei Caspar David Friedrich, auch wenn er fast nur Naturbilder gemalt hat. Ist die Romantik also nicht ein Gegenbeispiel? Ja, vielleicht, da ahnt die Epoche oder einzelne Personen in der Epoche die Unmöglichkeit, das Leben nur in der Natur und im Menschen zu begründen. Die Romantik will in lebensvollere Zeiten zurückfliehen, aber der Zugang in die vermeintlich paradiesische Vergangenheit ist dennoch abgeschnitten. Ein Sturm weht vom Paradiese her, und dieser Sturm treibt den Menschen unaufhaltsam in die Zukunft; wir nennen ihn den Fortschritt, diesen Sturm. Der herrschende Naturalismus ließ keinen Widerstand gegen den Fortschritt zu, denn im 19. Jahrhundert schien der Optimismus noch recht zu haben: Je weniger Gott das Leben auf Erden begründet, um so mehr steht der Bewohner der Erde in sich selbst und kann sich so seine Heimat schaffen. Die Romantik ist zwei Jahrhunderte zu früh gekommen, um mehr als ein unwohles Gefühl beim Gedanken an die volle Autonomie der Natur zu hinterlassen, mit deren Feier die wissenschaftlichen, technischen und politischen Kräfte des Jahrhunderts vollauf beschäftigt waren. Hören wir den Philosophen Ludwig Feuerbach, dessen Botschaft um das Jahr 1850 ganz einfach lautete: Je weniger Gott, desto mehr Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 245
Mensch! »Mit diesen Worten, meine Herren, schließe ich diese Vorlesungen und wünsche nur, ich hätte die mir in diesen Vorlesungen gestellte, in einer der ersten Stunden ausgesprochene Aufgabe nicht verfehlt, die Aufgabe nämlich, Sie aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Geständnis zufolge halb Tier, halb Engel sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen.«1 Zweites Ergebnis aus der zweiten Pinakothek: Es gibt nur die Natur und den Menschen, der in der Natur in sich selber steht. Genauer sollten wir sagen, wir sehen den Menschen, wie er nach dem Programm der Neuzeit in sich selber stehen sollte. Denn das Programm zur Gestaltung der Wirklichkeit ist nicht schon die Wirklichkeit selber. So muß Feuerbach sein Programm einschränken, er sieht die Gefahr heraufziehen: Er kann nur dem Menschengeschlecht insgesamt, nicht dem einzelnen Menschen die Identität zusprechen; die einzelne Person kann er nicht zum ganzen Menschen machen. Man könnte auch sagen: Feuerbach muß Nebel verbreiten, um wenigstens einen Teil des Autonomie-Planes zu retten. Denn den persönlichen Tod in der Natur abzuschaffen, ein solches Versprechen abzulegen getraute er sich nicht. »Gott ist der personifizierte Gattungsbegriff des Menschen, die personifizierte Göttlichkeit und Unsterblichkeit des Menschen.« 1.3 Aber selbst diese Gattungsidentität ist kaum zu halten, wenn wir über das 19. Jahrhundert hinaus blicken und jetzt die dritte Pinakothek, die Pinakothek der Moderne betreten. Damit nehmen wir das 20. Jahrhundert in Augenschein. Es gibt noch einige Gestalten zu sehen, so bei Max Beckmann. Dieser Moderne hat die Form am stärksten zu halten gesucht, wurde dafür aber auch am stärksten getadelt. In seinem figurenstarken Stil habe er den Geist der Zeit nicht verstanden. Doch auch im Protest gegen die Formlosigkeit bezeugt Beckmann noch einmal die Katastrophe der endlichen Gestalt, die bei allem Verlangen nach Substanz am Ende ohne Substanz dasteht. Die Kunst ist ein empfindliches Organ, sie zeigt den Zusammenbruch der Identität an, die auch in der Wissenschaft und in der Politik nicht zu halten ist. In voller Auflösung begriffen sehen wir den Menschen bei Pablo Picasso. Seine Personen explodieren 246 | dieter hattrup
wie Bomben, ihre Körperteile machen sich selbständig, sie verlieren den Zusammenhang mit dem Zentrum, sie wandern auseinander, es gibt keine ordnende Mitte mehr, die Identität geht verloren. Bei Kandinsky dann ist das Werk der Auflösung vollbracht. Der abstrakte Künstler sieht keine Gestalten mehr. Ja, um auch in Zukunft und endgültig nichts mehr zu sehen, nimmt Kandinsky der sinnlichen Wahrnehmung das Ziel: Sie kreist jetzt um sich selber, die fünf Sinne erkennen nur noch die fünf Sinne. Deshalb ist Kandinsky wohl zu recht ein Synästhetiker genannt worden, ein Mensch, für den alle sinnlichen Eindrücke verschmelzen. Er hört, was er sieht, er sieht, was er riecht und so die ganze Palette der fünf Sinne hindurch. Er ordnete den Farben gerne auch handgreifliche Empfindungen zu; zum Beispiel die Farbe Blau fühlte sich für ihn weich an, sie schmeckte für ihn aromatisch, während er die Farbe Gelb scharf und stechend erlebte. Und so weiter, da alle Substanz sich aufgelöst hat: »Der Punkt ist Urelement, Befruchtung der leeren Fläche. Die Horizontale ist kalte, tragende Basis, schweigend und schwarz. Die Vertikale ist aktiv, warm, weiß. Die freien Geraden sind beweglich, blau und gelb. Die Fläche selbst ist unten schwer, oben leicht, links wie Ferne, rechts wie Haus.«2 Diese synästhetische Verschmelzung kann kaum ein Zufall sein, und bei allem Zauber des ästhetischen Spiels ist sie eine Katastrophe, sie zeigt den Zusammenbruch der endlichen Substanz an. Die Sinne tun nicht mehr, für was sie gedacht sind, sie nehmen die Gestalten nicht mehr wahr. Sie tun es deshalb nicht, weil es keine ernsthaften Gestalten der Wahrnehmung mehr gibt: Gott gibt es nicht mehr, den Menschen gibt es nicht mehr, die Natur gibt es nicht mehr, allüberall hat die Identität sich aufgelöst. Denn wenn die Endlichkeit nicht mehr in sich selber steht und auch nicht in Gott, dann gibt es keine Gestalten mehr. Die gleiche Beobachtung läßt sich im 20. Jahrhundert auf dem Gebiet der Wissenschaft machen. Ja, in den Jahren, in denen Kandinsky im Geist der vollendeten Neuzeit seine Bilder malte, betrieb Einstein im Geist der Neuzeit seine Physik. Das Programm der vollendeten Physik bei Einstein lautet ganz ähnlich wie beim russischen Maler: »Ich bin fasziniert von Ihrem Vergil und wehre mich beständig gegen ihn. Es zeigt mir das Buch deutlich, vor was ich geflohen bin, als ich mich mit Haut und Haar der Wissenschaft verschrieb: Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 247
Flucht vom Ich und vom Wir in das Es […].«3 Das Ich wäre tot, es gäbe keine Identität für den Menschen, wenn die von Einstein geliebte mechanische Wissenschaft recht hätte. Aber er weiß, wie trügerisch seine Flucht ist, gerade die Wissenschaft ist dabei, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen: »Ich kann mir keinen persönlichen Gott denken, der die Handlungen der einzelnen Geschöpfe direkt beeinflußte oder über seine Kreaturen direkt zu Gericht säße. Ich kann es nicht, trotzdem die mechanistische Kausalität von der modernen Wissenschaft bis zu einem gewissen Grade in Zweifel gestellt wird.«4 Die Natur, sollte sie die alleinige Wirklichkeit sein, gibt dem Menschen keine Substanz, sondern behält sie für sich. Gott mag auch Substanz sein, aber wenn er personal ist, dann reicht er seine Substanz weiter. Die mechanische Natur dagegen reicht nichts weiter; die Mechanik nimmt nur, indem sie reduziert und die Phänomene zerstört. Einstein fühlte es mit sicherem Instinkt, er wollte sich in die Reduktion ergeben, denn alle personale Wirklichkeit war ihm ein Greuel. Drittes Ergebnis aus der dritten Pinakothek: Es gibt nichts, was in sich selber steht, weder Gott, noch Mensch, noch Natur. Der naive Kopf mag noch irgendwo eine Substanz vermuten und sie Natur nennen, die empfindliche Kunst sagt: Die Identität ist weg. Das Programm der Entkernung der Substanz, also der Entfernung all dessen, was in sich selber steht, hatte im 20. Jahrhundert auch seine Fürsprecher gefunden, siehe Einstein. Es geht noch skurriler. Einer entfaltete seine Weltsicht gerne gegen die Weltsicht des hl. Augustinus. Dieser Kirchenvater hatte vor Zeiten die natürliche Neugierde des Erdenbürgers getadelt. Seine Begründung war einfach: Wenn die Zeit des einzelnen Menschen endlich bemessen ist, kann er sich nicht für alles interessieren, was es gibt, es sind einfach zu viele Sachen in der Welt. Jedermann muß seine natürliche Wißbegier zügeln, er muß lernen, wesentliche von unwesentlichen Zielen zu unterscheiden. Das war die Ehrfurcht Augustins vor der endlichen Substanz, vor dem Menschen. Dagegen scheint die Wissenschaftsidee der Neuzeit vom umgekehrten Trieb geprägt zu sein: Wissen, was zu wissen ist; machen, was zu machen ist, ohne Frage nach dem Warum und Wozu. Das hat eine kuriose Verachtung des einzelnen Menschen im Gefolge. 248 | dieter hattrup
Die grenzenlose Neugierde ist verständlich, weil die Wissenschaft von der Leidenschaft für das Allwissen angetrieben ist. Wagner, der Famulus des Dr. Faust, ruft es musterhaft aus: »Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen.« Dieses kindliche Bemühen, auf eine Unterscheidung von Wissenswürdigem und Beliebigem zu verzichten, wird ermöglicht durch die Ausschaltung der Endlichkeit des Subjektes. Die Integration einer potentiell unendlichen Reihe forschender und in zeitübergreifenden Funktionskomplexen tätiger Subjekte vollzieht sich, indem »je individuelles Leben und Wahrheitsbedürfnis weder Anspruch noch Maßstab für das zu leistende Ganze des Wissens sein können.«5 Das Programm der grenzenlosen Neugierde muß es wie Feuerbach oder Einstein machen und dem Individuum, der einzelnen Person, die Identität nehmen, sonst scheitert das Programm schon vor seinem Beginn. So endet der Prozeß der Selbstbehauptung der modernen Zeit in der Selbstenthauptung des modernen Menschen. Die unendliche Identität Gottes verschlingt die endliche Identität des Menschen ins Unendliche. Der Aufstand gegen die unendliche Identität Gottes verschlingt die endliche Identität des Menschen ins Nichts.
2. Das Lob der Grenze These 2: Die Identität scheint nur eine sekundäre Eigenschaft der Wirklichkeit zu sein, dem Selbstsein voraus geht eine Eigenschaft, die sich im Denken als Grenze zeigt. Wir treffen sie an bei Sokrates, Anselm, Kant und in der Quantentheorie. 2.1 Wir befinden uns in einer merkwürdigen Lage, nachdem wir die drei Pinakotheken durchwandert haben und jetzt auf die entschwundene Identität blicken, das heißt vor dem Nichts stehen. Wir sind mit einigem, vielleicht naivem Recht der Meinung, da draußen, da muß es doch etwas geben und nicht einfach nichts. Deshalb können wir fragen: Wieso soll es denn in der Welt keine Substanz mit Identität geben, wenn es dort doch etwas gibt? Ob wir von der Wirklichkeit, vom Sein, von der Natur oder von Gott reden sollen, das lassen wir zunächst außer acht, aber es gibt doch etwas, nicht wahr? Selbst wenn die Existenz der Wirklichkeit ein Traum sein Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 249
sollte, so existiert eben doch etwas als Wirkliches, wenn auch möglicherweise nur in der Gestalt eines Traumes. Wenn ich träume, so ist meine Existenz doch wenigstens kein Traum. Aber habe ich eine Identität? Und wenn ja, welche? Hier beginnen die Schwierigkeiten. Die Wirklichkeit für eine Illusion zu halten ist widersprüchlich und unreif, auch wenn es gegen den Illusionismus nur dieses Argument des Descartes gibt, das sich wohl nicht zu einer fundamentalen Identität fortführen läßt. Aber die Gestalt der Wirklichkeit zu bestimmen ist kaum weniger widersprüchlich und dennoch eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, wenn wir uns in der Welt bewegen. Und wir wollen uns in der Welt bewegen, weil wir in der Welt bewegt sind. Wie widersprüchlich die Suche nach der Gestalt und der Substanz der Wirklichkeit sein kann, haben wir gerade beim Museumsbesuch gesehen: Wir können die Substanz der Wirklichkeit nicht wirklich finden, noch weniger können wir sie festhalten. Jedenfalls, immer wenn wir etwas Wirkliches fest benannt zu haben gemeint hatten, zerfloß die Wirklichkeit unter unseren Händen. Gott, Mensch, Natur, alles fließt, nichts steht fest, nachdem wir es mit Namen genannt haben. Und dennoch gibt es etwas! Die lange Erfahrung der Geschichte sollte in unser Denken eingehen, vor allem jetzt das Entschwinden der Identität, nachdem wir sie mit einem Namen belegt haben. Ein Philosoph aus Frankreich, Auguste Comte mit Namen, hat im 19. Jahrhundert das Denken in eine geschichtliche Reihenfolge zu bringen versucht. Er setzte drei Phasen an: Erst glaubten die Menschen, so Comte, die Substanz sei in vielen Göttern oder in einem einzigen Gott zu finden, dann suchten sie die letzte Wirklichkeit in einem philosophischen Sein auf, schließlich und endgültig sollte die Wissenschaft den Schlußpunkt setzen, indem sie alle Wirklichkeit als Natur benannte, neben der es keine andere Wirklichkeit geben sollte. Mit diesem sogenannten Positivismus meinte Comte, die letzte Substanz in der Natur gefunden zu haben, die selbst mit der Wissenschaft immer neu aufzufinden sei. Das Festhalten und Entgleiten der Identität hat Comte gut beobachtet, nur bleibt die Frage: Warum ist Schluß bei der dritten Phase? Wenn wirklich Festhalten und Entgleiten die Phasen der Geschichte bestimmen, dann ist nicht einzusehen, warum Schluß 250 | dieter hattrup
sein sollte mit der Natur und mit der Wissenschaft. Warum sollen sie nicht auch wieder entgleiten? Ich meine, der Philosoph aus dem 19. Jahrhundert hat zwei Punkte übersehen, einen praktischen Gesichtspunkt, den er hätte wissen können, und einen theoretischen, den er in seiner Zeit fast notwendig übersehen mußte. Zum einen: Wenn alle Wirklichkeit nur Natur wäre, dann hätte der Mensch sein Ende gefunden, er würde sich in nichts auflösen. Der Priester der Humanität, wie Comte genannt wurde, hätte für seine positive Religion kein Fundament mehr gehabt, wenn er sich selbst richtig verstanden hätte. Und diesen nihilistischen Zug der Neuzeit hat zwar die Kunst leise bemerkt, bei Nietzsche hat der Nihilismus sogar laut aufgeschrien, aber der Verkünder der positivistischen Philosophie und seine Anhänger haben nichts gemerkt. Der naive Positivismus hat sich von dem raffinierten Nihilismus nichts sagen lassen wollen. Und zum zweiten: Theoretisch hat die optimistische, auf die Natur sich gründende Philosophie die Tragweite der Wissenschaft überschätzt, was allerdings erst im 20. Jahrhundert an den Tag getreten ist. Die Wissenschaft hat sich selber eine neue Grenze in der Natur gezogen. Nach ihr ist nicht nur die Notwendigkeit in der Natur echt, sondern ebenso echt ist der Zufall. Das Identitätsprinzip und sein Gegenprinzip, sie sind beide echt, und das erzeugt eine merkwürdige Situation. Der Zufall zerstört die Identität in der Natur und sorgt für ihre Bewegung. Der alte metaphysische und physische Grundsatz: Natura non facit saltus, ist nicht in vollem Umfang zu halten. Das ist die große Erfahrung des 20. Jahrhunderts: Auch die Natur, die vom Wissenschaftler zum Objekt gemacht wurde, besitzt nicht die kernige Substanz, die das Zeitalter erwartet hatte. Und wenn nicht alle Wirklichkeit allein Natur ist, kann man seine Weltsicht nicht mehr allein auf die Natur gründen. Comte muß auch seine dritte Phase durchstreichen. Dieses vergebliche Warten auf die Substanz zwingt uns zum Innehalten. Was sollen wir als Identität, als letzte Wirklichkeit ansprechen? Ein Ergebnis, das wir festhalten sollten und bei dem wir doch nicht feststehen können, lautet: Alle Formen der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft, sie alle schienen etwas erfassen zu wollen, eine Identität oder eine Substanz, aber diese Sache wanderte, nachdem sie sich gezeigt hatte und nach jedem Versuch, sie einzufangen, wieder weiter, ohne sich selbst gleich zu bleiben. Gott, die Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 251
Natur, der Mensch, sie scheinen alle eine Proteusnatur zu besitzen oder, ohne Mythologie gesprochen: Was wir als ihre Substanz und Identität ansprechen wollten, wandelt dauernd seine Gestalt. Dieser Wandel zwingt uns zu der Rückfrage: Was haben wir eigentlich gesucht, als wir fragten: Was ist das? Oder was haben wir gemeint, als wir sagten: Das ist das! Oder als wir den berühmten biblischen Satz vom Dornbusch nachgesprochen haben: Ich bin, der ich bin! Die naheliegende Antwort lautet: Was wir von Natur aus suchen, ist Leben, ist Identität, ist Selbstsein, mit dem wir uns vor dem Tode und seinem Raub des Selbstseins retten wollen. 2.2 Aber sollen wir wirklich die Identität und die Erhaltung des Lebens im Darwinischen Kampf ums Dasein zur leitenden Maxime des Lebens erheben? Ein naturalistisches Vorurteil scheint den Menschen fest im Griff zu haben, wenn er die Identität für den höchsten Wert des Lebens oder des Seins oder der Natur oder Gottes hält. Tatsächlich, wenn wir mit Aristoteles den unbewegten Beweger, der alles bewegt, selber aber von nichts bewegt wird, für die letzte Wirklichkeit halten, oder mit Einstein das unpersönliche Es der Weltformel als letzte Substanz ansehen wollen, dann verehren wir die Identität, dann haben wir unser Herz an das unbewegte Selbstsein gehängt, dann sind wir geflohen vom Ich und vom Du in das Es. Einstein und Aristoteles könnten sich über zwei Jahrtausende hinweg die Hand reichen! Und Darwin ist in diesem Bunde der Dritte. Auch gemäß der Evolutionsbiologie ist die Erhaltung der Identität im Kampf ums Leben das höchste Ziel in der Natur. Nur fügt die Evolutionslehre noch einen Satz hinzu: Es ist nicht möglich! Keiner der Kämpfer wird seinen Kampf ums Dasein überleben, so viel Substanz hat die Natur nicht, und der Mensch weiß darum, denn er weiß um seine Sterblichkeit. Vielleicht hat Aristoteles deshalb diese träumerische Definition Gottes gegeben, die ja durchaus die Sehnsucht eines jeden Menschen widerspiegelt: Ich will nicht sterben, ich will ich selbst bleiben, ich will, selbst unbewegt, alles bewegen. Es ist, als ob bei Aristoteles der Mensch zurückblicke auf seine Herkunft wie einst die Frau des Lot, um auszurufen: Nur nicht das Leben verlieren, festhalten am Besitz, auch wenn das Leben dabei zur Säule erstarrt. Nicht umsonst war Aristoteles stolz darauf, 252 | dieter hattrup
als erster Philosoph die Ewigkeit der Welt ohne Anfang und Ende gelehrt zu haben. Er hatte gehofft, die Identität ohne geschichtlichen Wandel festhalten zu können. Dabei weiß der Mensch, wie sehr er sein Leben vom Anderen durch Nicht-Festhalten empfangen hat, von den Eltern, von der Gesellschaft, von der Natur, von Gott. Nach der Erfahrung der Jahrhunderte im Denken scheint es deshalb nicht mehr sehr vernünftig zu sein, die Identität oder die Erhaltung des endlichen Lebens als letztes Ziel des Lebens, als Kern der Wirklichkeit auszugeben. Aber Gott, so wird der Einwand lauten, ist er nicht die Identität? Ist er nicht das Sein des Seienden? Das Leben, das sich selbst gebiert? Ist er nicht eine Causa sui, die einzige, die überhaupt denkbar ist? Ist er nicht »a se«, während alles andere »ab alio« ist? Und lautet nicht die erste große Selbstvorstellung Gottes in der Bibel, wie wir gerade gehört haben: Ich bin, der ich bin. Ja, so ist Gott oft benannt worden, aber vielleicht ist er auf diese Weise mit einem schiefen Namen angerufen worden. Eher sollten wir mit Martin Buber die Stelle am Dornbusch so wiedergeben: »Ich werde dasein, als der ich dasein werde.« Jedenfalls kommt hier Bewegung in die Identität. Die unbewegte Identität in der Natur wird zu einem träumerischen Begriff, wenn die Natur nicht alle Wirklichkeit sein sollte. Das Verlangen nach Selbstsein ist zwar verständlich, weil aus der Not des Menschen geboren, der so oder so, mit Gott oder gegen ihn, seine Sterblichkeit loswerden möchte, aber mit dem bloßen Wunsch ist noch nicht das letzte Wort über die wirkliche Lage des Menschen in der Welt gesprochen. Die Religionskritik hat an diesem Punkte angesetzt, und das mit einigem Recht. In populärer Form lautet ihr starkes Argument: »Was der Mensch als Gott verehrt, das ist sein Herz nur umgekehrt.« Schon auf den ersten Seiten der Bibel verlockt der Teufel mit einer ähnlichen Verheißung: »Dann werdet ihr sein wie Gott.« Der Teufel und die Religionskritik beneiden Gott um seine makellose Identität, die unerschütterlich im Sein zu beharren scheint. Deshalb hat die Religion mit ihrem Verlangen nach Identität ganz recht gehabt, sagt die Religionskritik, nur muß man die Identität dort suchen, wo sie zu finden ist, in der Natur und nicht in Gott, mit Hilfe der Wissenschaft und nicht mit der Religion. Ist diese Empfehlung sinnvoll? Wer Identität verlangt und sie für die letzte Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 253
Wirklichkeit ausgibt, tritt allerdings in den Kampf der Konkurrenz ein, ob mit oder gegen Religion. Denn Identität in der Natur muß gesichert werden. Und weil dieser Kampf nicht zu gewinnen ist, endet die europäische Fortschrittsgeschichte, die eine Identität in der Natur festhalten wollte, wie zu erwarten war, wie auch viele Geister nachträglich festgestellt haben, im Gegenteil, im Nihilismus. Denn die Natur räumt gnadenlos mit jedem Leben auf, weshalb auch das Programm der Religionskritik wohl eine Illusion war, noch mehr als die für illusionär gehaltene Religion. Was zeigt sich am Ende der langen Suche nach der Identität? Es zeigt sich das Nichts. Erfahrung macht klug, sagt das Sprichwort, jedenfalls manchmal. Wir sollten also erproben, ob nicht im Gegenteil, in der Nicht-Identität, die höhere Wahrheit liegen könnte. Hegel hatte schon ähnliche Gedanken gehegt. Er meinte, diese NichtIdentität im Widerspruch zu finden, denn wenn von Rangordnung unter den beiden die Rede sein sollte, so wäre, seiner Meinung nach, der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Doch Hegels Versuch mit der Antithese war wohl zu eindeutig, er landete zu schnell bei der Synthese als einer neuen These, und damit wäre die Identität wieder hergestellt. Hegel ist noch zu sehr Identitätslogiker, sein Zugeständnis an die Nicht-Identität war nur taktisch gemeint. Wir sagen besser: Die endliche Nicht-Identität zeigt sich als Grenze, als zeitliches und räumliches Anstoßen an ein Anderes, das nicht unbedingt zum Selben zurückkehrt. Ich, der ich jetzt spreche, war nicht immer, und ich werde nicht immer sein, der ich jetzt in der Natur bin; und ich bin auch nicht alles, weil ich sehr viele andere Personen und andere Dinge kenne, an die ich manchmal stoße, wenn ich nicht vorsichtig bin, manchmal auch mit Absicht. Ob ich zu mir zurückkehre, wenn ich nicht mehr bin, kann ich zwar hoffen, aber diese Rückkehr kann ich aus mir selbst nicht garantieren. Was sollen wir über die nicht-endliche Identität sagen, über Gottes Sein? Wenn wir im endlichen Sein die Identität aufgeben, so könnte es angemessen sein, auch im anderen Fall die Identität als Letztbegriff aufzuheben. Nur allerdings nicht in die Richtung einer Minderung, sondern einer Mehrung der Identität. Gott ist dasjenige Sein, das sein Sein nicht festhält; nach klassischer Lehre verströmt er sein Gutsein, er ist das »bonum diffusivum sui«. Er gibt es weg, 254 | dieter hattrup
ohne dadurch eine Minderung zu erleiden, was auf Erden allerdings ganz anders ist, da auf den Menschen, wenn er sein Sein verliert, das Nicht-Sein wartet und das heißt der Tod, jedenfalls zunächst. Unter-Identität hier, Über-Identität dort! Bisher ist die Trinität kein großes philosophisches Thema gewesen, oder sie war bei Hegel mit zu viel Identitätslogik kopiert worden. Selbst die Theologie hat von einem mysterium stricte dictum gesprochen, das seine Quelle allein in der Offenbarung habe, um die Dreifaltigkeit vor den Anmaßungen einer bloßen Vernunft zu schützen. Das könnte sich ändern, wenn wir nicht mehr die Substanz oder die Identität als höchste Erscheinungsweise der Wirklichkeit und des Seins ansehen, sondern etwas anderes. Aber was? Können wir den Satz der Identität ablösen, um an seine Stelle einen Satz der Trinität setzen zu können? 2.3 Es gilt, das Denken der Nicht-Identität einzuüben. Dafür empfehle ich, die großen philosophischen Entdeckungen der Grenze noch einmal zu durchlaufen. Ich kenne eigentlich nur vier Stationen, Sokrates, Anselm, Kant und die Quantentheorie, in denen die Grenze, ja der Widerspruch des Begriffs zum Zentrum des Denkens gemacht worden ist. Man könnte sagen, was von den drei Denkern als Erfahrung im Bewußtsein entdeckt worden ist, das wird in der Physik des 20. Jahrhunderts zur Erfahrung des Seins. Was einstmals spekulativ war, ist jetzt empirisch geworden. Wir beschränken uns auf die Grundlinien. Sokrates können wir zurecht als den Erfinder, besser noch als den Entdecker der Philosophie bezeichnen. Er entdeckte mit Hilfe der Vernunft die Grenze der Vernunft, indem er die Grenze des Wissens entdeckte. Nicht nur das aktuelle Wissen hat eine Grenze, das ist eine Binsenweisheit, sondern das begriffliche Wissen selbst erzeugt grundsätzlich diese Grenze, und dieses Wissen ist eine eher seltene Weisheit. Auf welche Weise erscheint die Grenze? Alles Wissen ist auf den Begriff und auf den Gebrauch des Begriffs mit Hilfe der Kausalität angewiesen. Nehmen wir Ursache und Wirkung als Begriffe! Zwischen Ursache und Wirkung stiftet die Kausalität eine Brücke: Wenn diese Ursache gesetzt ist, dann folgt jene Wirkung. Und Wissen heißt, Kenntnis zu haben von einer solchen Brücke. Zum Beispiel: Drücke beim Autofahren als Ursache den Gashebel herunter, Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 255
dann wird als Wirkung das Auto beschleunigen. Dieses Wissen und noch ein wenig mehr muß der Autofahrer besitzen, wenn er seinen Wagen lenken will. Im grenzenlosen Gebrauch führt dieser Wissenserwerb aber nicht zum grenzenlosen Wissen aller Wirklichkeit, sondern nach Sokrates zu einem Widerspruch. Wir brauchen jetzt nicht die ganze Diskussion des Phaidon darzulegen, aber in diesem Dialog, in dieser Gründungsurkunde der Philosophie, verkündet Sokrates an zentraler Stelle: »Denn dieses Mal entsteht die Zwei aus der genau entgegen gesetzten Ursache: dort ist es, weil eines dem anderen angenähert und hinzu gesetzt wurde, jetzt aber, weil das eine vom anderen weggenommen und getrennt wird.« (97ab) Sokrates hatte untersucht, wie aus der Eins die Zwei wird, oder wie aus einer Sache zwei Sachen werden. Dabei hatte er den Zufall im Denken entdeckt, der die notwendig ablaufende Kausalität von Ursache und Wirkung unterbricht. Denn einmal ist es das Wegnehmen, das andere Mal das Hinzufügen, das aus der einen Sache zwei Sachen macht. Zur Definition: Ein Zufall liegt in einem System dann vor, wenn aus der gleichen Ursache nicht immer die gleiche Wirkung folgt oder wenn aus verschiedenen Ursachen die gleiche Wirkung folgt. Man kann auch nach Sokrates sagen: Natura facit saltus, weil wir mit den Werkzeugen des Begriffs und der Kausalität nicht den vollen Überblick über die Bewegungen in der Natur bekommen können. Die Folgerung, die Sokrates aus seiner Entdeckung zog, hat Geschichte gemacht. Die große Schiffahrt zur Eroberung allen Wissens ist seiner Ansicht nach zum Scheitern verurteilt, nur die kleine Schiffahrt an der Küste ist möglich, immer in dem Bewußtsein, nach dem das volle Wissen unerreichbar ist. Kaum war in der Antike durch Anaxagoras der Traum von der Theorie aller Dinge geträumt worden, wird er auch schon von Sokrates beendet, um doch in späteren Zeiten immer wieder neu aufgelegt zu werden. Die zweite Grenze im Denken hat Anselm von Canterbury vor tausend Jahren entdeckt. Obwohl selbst ein Mönch und Theologe, hat er doch einen der größten Gedanken der Philosophie aufgefunden. Allein mit der Vernunft, sola ratione, also ohne biblische Offenbarung, wollte er den Gott der biblischen Offenbarung als wirklich existierend nachweisen. Dabei ist er auf die Grenze der Ratio gestoßen und zugleich auf eine Wirklichkeit, die größer ist 256 | dieter hattrup
als die Wirklichkeit des aristotelisch unbewegten Bewegers. Um die Wirklichkeit zu erfassen, reicht es nach Anselm nicht aus, zu einem unbewegten Beweger aufzusteigen, denn ein solcher wäre ohne Freiheit und ohne Personalität. Anselm mußte etwas mehr tun. Und er tat mehr, indem er an die Grenze des Begriffs ging und so auf eine Wirklichkeit verwies, die dem Begriff und dem Begreifbaren vorangeht. Der Gedanke in seinem Werk Proslogion ist in Kürze dieser: Wenn Gott diejenige Wirklichkeit ist, über die hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, dann kann diese Wirklichkeit höchstens der unbewegte Beweger der Metaphysik oder die Weltformel der Physik sein. Oder anders gesagt: Der Mensch dringt mit dem Begriff nur bis zu derjenigen Wirklichkeit vor, die er begreifen und die er mit dem Begriff stillstellen kann. Das erste Ergebnis von Anselm lautet also: Alles, was begreifbar ist, ist begreifbar und existiert. Aber als zweites Ergebnis findet Anselm: Nicht alle Wirklichkeit kann begreifbar sein, denn es gehört zum Begriff Gottes, größer zu sein als jeder Begriff. Denn Gott ist unendlich, der Begriff aber ist es nicht. An dieser Stelle kommt vielleicht eine theologische Anregung ins Denken, die aber doch ganz von der Ratio und ihrer Grenze getragen ist, also zur echten Philosophie gehört. Das dritte Beispiel liefert Immanuel Kant. Er war in seiner Jugend beeindruckt gewesen von der Newtonschen Mechanik und bewunderte sie wegen ihrer Unwidersprechlichkeit. Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 zeigt dies. Doch als er reif wurde, kam zur Bewunderung der Schrecken hinzu. Kant sah plötzlich die Gefahr, die von der mechanischen, so überaus erfolgreichen Wissenschaft ausging. Sie war zu erfolgreich, sie schien keine Grenzen in der Natur zu kennen. Doch wenn sie alle Wirklichkeit in der Natur kausal notwendig oder deterministisch erklären kann, dann, so sah Kant, war die Freiheit gefährdet. Wenn heute schon feststellbar ist, was ich morgen tun werde, dann habe ich wohl keine Freiheit, dann bin ich eine Marionette und Maschine in der Gewalt blinder Naturkräfte. Deshalb kann man das Ziel der Philosophie Kants in der Rettung der Freiheit sehen. Er selber sagt es so: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.« (KrV B 564) Dies schreibt er 1781 in der Kritik der reinen Vernunft zum ersten Mal, um das Wort dann Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 257
in den folgenden Jahren einige Male in seinen Schriften zu wiederholen. Die Newtonsche Physik stellt die Erscheinungen der Natur dar, und wenn die Erscheinungen schon alle Wirklichkeit wären, wenn sie keinen Unterschied zulassen würden zu den Dingen an sich, dann ließe sich die personale und ethische Dimension des Menschen nicht halten, die Freiheit, die der Mensch innerlich zu erfahren meint, wäre eine Illusion. Und wenn alles vorherbestimmt wäre, dann könnte der Mensch nur eine Maschine sein, wie ein de la Mettrie schon 1748 verkündet hatte: L’ homme machine. Weil Kant nun die Freiheit vor Newton retten will, der übrigens selbst vor seinem Determinismus erschrocken war, entwirft er das Gedankenexperiment des Dings an sich. Der Königsberger kann nicht mehr tun, als dieses Ding zu postulieren; er kann es plausibel machen mit seiner transzendentalen Erkenntnislehre, die Existenz dieses Dings beweisen kann er nicht. Ein Beweis der Freiheit angesichts der Mechanik ist das also nicht, wie Kant selber weiß. Er nennt auch den Grund: Weil man der Freiheit keine Anschauung beilegen kann, deshalb ist sie weder beweisbar noch widerlegbar. Man kann den Mangel aber auch positiv wenden: Die Freiheit darf nicht voll beweisbar sein, sonst würde sie ihren subjektiven, personalen Charakter verlieren. Jedenfalls ist dieser Versuch zur Rettung der Freiheit plausibler als der Versuch, den Leibniz fünfzig Jahre zuvor in Hannover unternommen hatte. Dieser wollte im Vertrauen auf die Stärke des Begriffs mit seiner prästabilierten Harmonie die Freiheit retten ‒ immerhin wußte Leibniz, worauf es in der Philosophie ankommt. Kant macht es philosophischer: Er setzt auf die Schwäche des Begriffs, um so die Freiheit zu fördern, wie eben auch Sokrates und Anselm auf die Schwäche des Begriffs gesetzt haben, um den Raum zu öffnen für die größere Wirklichkeit. Berühmterweise spricht Kant diese Grenze sogar öffentlich aus, wenn er 1787 sagt: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.« (KrV B XXX) Jetzt kommt die große Überraschung: Die Grenze des Begriffs wird erfahrbar, wird empirisch, sie wird meßbar. Nicht die Freiheit wird meßbar, sondern eine Voraussetzung für die Freiheit, die Einschränkung der Notwendigkeit. Die Grenze ist nicht mehr nur eine Erfahrung des Denkens in der Metaphysik, sie wird zu einer Erfahrung der Natur in der Physik. Die Kantischen Schwierigkeiten, die 258 | dieter hattrup
ihn zu seinem System der Transzendentalphilosophie gezwungen haben, hatten in der Physik des 17. Jahrhunderts begonnen, und, wie man jetzt sagen kann, sie endeten in der Physik des 21. Jahrhunderts. Der Vorgang ist ziemlich rätselhaft: Wie kann ein Ereignis der Metaphysik ernsthaft zu einem Ereignis der Physik werden? Die schulmeisterliche Verwarnung vor dem Sprung über die Grenzen der Kategorien gilt hier jedenfalls wenig. Alles fruchtbare Denken springt über Grenzen hinweg, auch wenn es schwierig erscheint zu sagen, warum nach Jahrtausenden der Denkerfahrung die Erfahrung der Grenze plötzlich empirisch geworden ist. Aber sie wird es, und das muß uns erst einmal genügen, weshalb ich mich hier auch nicht an der Lösung dieses Rätsels versuchen werde. Der Hinweis auf das Rätsel erregt Erstaunen genug. Eine Bemerkung beleuchtet den Sprung. Ein ehemaliger Assistent von Carl Friedrich von Weizsäcker erzählte mir vor ein paar Monaten, wie dieser gemeint habe, Kant hätte im 18. Jahrhundert das Ding an sich nicht erfunden, er hätte es nicht nötig gehabt, wenn er die Quantentheorie des 20. Jahrhunderts gekannt hätte. Diese Bemerkung ist nur mündlich überliefert, schriftlich konnte ich keinen Beleg für sie finden. Sie ist dennoch glaubhaft, denn die Quantentheorie und die Philosophie Kants zählten zu den Schwerpunkten im Denken des Physikers und Philosophen von Weizsäcker. Und noch glaubhafter wird die Bemerkung, wenn wir uns hier die Sache selbst vor Augen führen. Der Sinn der Kantischen Philosophie liegt in der Rettung der Freiheit, sie ist also eine konservative Philosophie, wenn sie für die Rettung auch das revolutionäre Mittel des transzendentalen Denkens einsetzt. Kant sah, was die Freiheit des Menschen damals am meisten gefährdete, das war der Determinismus aus der Physik. Dagegen spannte er den Rettungsschirm des Dings an sich auf, dessen wesentliche Aufgabe darin bestand, vom physikalischen Determinismus nicht berührt zu sein. Die Erscheinungen, die unter den subjektiven Bedingungen des Subjekts erkannt werden, gab Kant dem Determinismus preis. Mehr konnte er damals nicht tun. Hier tritt nun die Quantenmechanik ein und bereitet der so gefährlichen Newtonschen Mechanik ein Ende. Als großes und unbestrittenes Ergebnis der Physik des 20. Jahrhunderts kann wohl gelten: Nicht nur die determinierende Notwendigkeit ist in der Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 259
Natur echt, auch der Zufall ist dort echt, der die Determination gelegentlich und damit im Prinzip unterbricht. Das soll heißen: Aus gleichen Ursachen folgen nicht immer gleiche Wirkungen, die Erscheinungen stehen nicht mehr ganz unter einem deterministischen Gesetz. Deshalb ist kein Ding an sich mehr nötig. Wenn man Natur diejenige Wirklichkeit nennt, die sich gesetzmäßig, also kausal erfassen läßt, dann kann man das große Ergebnis auch so formulieren: Nicht alle Wirklichkeit ist Natur. Wie aus einer Denkerfahrung eine empirische Erfahrung werden kann, das möge später einmal ein stärkerer Denker feststellen. Möglicherweise ist der Zusammenhang auch unaufklärbar, weil der Versuch, einen Überblick über das Verhältnis von Subjekt und Objekt zu bekommen, dem Versuch des Baron von Münchhausen gleichkommt, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen.
3. Freiheit vor Identität These 3: Der epochale Widerstreit zwischen Gott und Natur in der Neuzeit fordert zu einer Neubewertung letzter Eigenschaften auf: Ursprünglicher als die Identität ist die Freiheit, die in der Liebe tätig wird. 3.1 Von Thomas von Aquin ist der Satz überliefert: Res naturalis inter duos intellectus constituta est. (De Veritate I, 2) Also wörtlich: »Die Natur ist zwischen zwei Vernunftwesen gestellt.« Ich meine, wir sollten etwas freier übersetzen und genauer sagen: Die Natur ist geschaffen zwischen zwei personalen Wesen, zwischen Gott und dem Menschen. Nicht das Verstehen oder das Erkennen macht das Wesentliche von Gott und Mensch aus, obwohl es wesentlich dazu gehört, sondern ihre personale Freiheit, die Verstehen und Erkennen als Werkzeuge einsetzt. Deshalb hatte sich Kant in seiner Philosophie das Ziel gesetzt, die Freiheit zu retten, man kann auch sagen, er wollte Gott und den Menschen als denkmöglich erweisen. Dagegen hatte die Neuzeit eine Neigung, aus der Dreiheit von Gott, Natur und Mensch eine Einheit zu machen, in der nur eine Wirklichkeit wirklich sein sollte, die Natur. Wir haben das berühmte ›Deus sive natura‹ des Baruch Spinoza im Ohr, auf das sich noch Einstein im 20. Jahrhundert berufen hatte und mit ihm viele ähnliche Gei260 | dieter hattrup
ster. Entsprechend sollten Gott und Natur das gleiche sein, oder es sollte überhaupt nur noch von der Natur die Rede sein. Auch der Mensch sollte als Primat verschluckt werden von der Natur, indem er nur noch als dressierter Affe oder als Träger eines egoistischen Gens existierte. 3.2 Wir erkennen die Situation und wir erkennen sie an: Die von Natur aus so begehrte Identität ist uns entzogen worden, nachdem wir sie bekommen haben, und sie wird uns immer neu entzogen werden. In der Kunst wurde es unmittelbar gefühlt, in der Wissenschaft wurde es später nachgewiesen und im Denken kann es jetzt gewußt werden: Weder in der Zeit noch in der Ewigkeit scheint die Identität ganz ursprünglich zu sein. Vielleicht sollten wir deshalb das Denken auf ein anderes Fundament gründen, auf eines, das nicht unerschütterliche Identität heißt, sondern Freiheit, die in der Liebe tätig ist. Sollen wir wirklich den Verlust der Identität als einen Gewinn feiern? Ja, das meine ich, und wir sollten auch nicht, wie Hegel es versucht hat, auf Umwegen zur Identität zurücklenken. Identität ist eine sekundäre Eigenschaft der Wirklichkeit, die neben die NichtIdentität tritt und damit Raum schafft für die in der Neuzeit hoch gefährdete Freiheit, weshalb sich Kant ja berufen fühlte, sie zu retten. Wie aber sollen wir den Zusammenhang zwischen Identität und Freiheit bestimmen? Zunächst einmal scheint die Identität einfacher zu sein als die Freiheit. Denn zur Identität gehört zwar eine Bewegung, aber doch nur eine äußerliche, die zudem noch abgewehrt werden soll, damit ihr in Raum und Zeit das Selbstsein erhalten bleibt. Ja, selbst die Bewegung aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit ist abzuwehren, weshalb der Gott der Metaphysik als reiner Akt, als actus purus gefeiert wurde, dem alle Möglichkeiten schon Wirklichkeiten sind. Dagegen gehört es zur Erscheinungsweise der Freiheit, Bewegung aus sich hervorzubringen und etwas, das nicht ist, ins Dasein zu führen. Einfacher ist also wohl die Identität, aber sie ist eine künstliche, eine gemachte Einfachheit, die voller Angst an ihrem Dasein festhält, in das sie geworfen ist. Das Einfache ist nur im mechanischen Weltbild das Ursprüngliche; wo Freiheit und Leben ist, da ist mehr als Identität. Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 261
Hier liegt es nahe, von primären und sekundären Eigenschaften des Seins zu sprechen. Und so sollten wir die Sprechweise probieren: Identität ist eine sekundäre Eigenschaft, und sekundär sind die Beigaben der Identität, also das Wissen, die Macht, die Anwesenheit und so weiter. Ins Grenzenlose gesteigert kommen wir so zu den klassischen Eigenschaften Gottes, als da sind Ewigkeit, Unveränderlichkeit, Allwissen, Allmacht, Allgegenwart und noch anderes mehr. Sie alle sind jedoch nur Hilfsmittel für die primäre Eigenschaft, für die Freiheit, die in der Liebe tätig wird. Nun können wir die Ernte einfahren: Wenn wir die Nicht-Identität neben der Identität stehen lassen, wenn wir sie nicht zurücklenken zur Identität, dann gelangen wir zur Freiheit als der primären Eigenschaft der Natur und aller Wirklichkeit, also auch Gottes. Wir sehen sie nicht in voller Klarheit, eher im Schatten, aber sie erscheint doch klarer als alles, was man sonst als letzte Eigenschaft des Seins angeben könnte. Das heißt, wir brauchen Gott und Natur nicht mehr zu trennen, und wir tun damit gerade das, was die Neuzeit in einem dunklen titanischen Antrieb ebenfalls versucht hatte, als sie Gott und Natur in eins gesetzt hat. Aber wir tun es in einem anderen Sinne, wenn wir die letzte Wirklichkeit das personale Sein nennen, das seine Identität im Anderen hat. Gottes Unendlichkeit und des Menschen Endlichkeit wären dann, weil zur Identität gehörig, nur sekundäre Eigenschaften. Natur ist dasjenige, was Identität hat, aber eine solche wird zwischen Gottes und des Menschen Freiheit ausgetauscht, siehe Thomas. Das alte theologische Tauschmotiv »Gott wurde Mensch, damit der Mensch zu Gott wird« bekommt jetzt einen festen Boden im Denken. Wir fangen mit der endlichen Freiheit an, eines Menschen oder auch eines anderen Naturwesens. Welche Elemente sind unerläßlich, damit Freiheit in der Natur möglich ist? Das eine Element ist die Identität, wir können auch kausale Notwendigkeit sagen; sie hält zeit- und raumübergreifend in der Natur, in der Wirklichkeit etwas fest, sie ermöglicht das Wissen und Handeln. Zum Beispiel garantiert die Kausalität eine Brücke von der Ursache zur Wirkung, womit ein Weg von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft gebahnt ist. Das heißt Wissen, die Brücke von der Ursache zur Wirkung im voraus im Blick zu haben. Der oftmals praktizierte Gegensatz von Kausalität und Freiheit findet nicht statt. Sowohl 262 | dieter hattrup
Gott wie der Mensch brauchen kausale Gesetzmäßigkeiten, um in der Welt, wie wir sie kennen, handeln zu können. Nur darf diese kausale, gesetzliche Notwendigkeit nicht grenzenlos sein, sonst wäre diese Identität starr wie ein mechanisches System, das nur A = A kennt und jede Beziehung zu einem B ausschließt. Eine solche Identität wäre der Tod der Freiheit. Es muß auch das Gegenteil der Identität in der Wirklichkeit realisiert sein, die Nicht-Identität oder der Zufall. Es gibt den Zufall in einem unechten, subjektiven Sinn, wenn wir eine Wirkung erkennen, von der wir die Ursache nicht vollständig wissen. Das ist der Zufall des Unwissens, und nur einen solchen Zufall wollte die mechanisch fühlende Neuzeit erlauben. Die Wissenschaft aber hat unter großen Schmerzen und sehr widerwillig den echten Zufall anerkannt: Aus der gleichen Ursache folgt nicht immer die gleiche Wirkung, und keine künftige Forschung kann eine kausale Ergänzung finden, die zur vollen Kausalität zurücklenken würde. Kein noch so großer Forschungseinsatz kann die Kausalität wieder komplett machen. Erst dieses negative und zugleich so positive Ergebnis ermöglicht den Gedanken, nach dem die Identität nicht die primäre Eigenschaft der Wirklichkeit ist: Ursprünglicher ist die Freiheit. So zeigt sich Freiheit in der Natur, aber sie zeigt sich zugleich als nicht zugehörig zur Natur, wenn Natur jene Wirklichkeit ist, die sich ergreifen läßt. Freiheit in der Natur kann nicht das Anfangenkönnen einer Kausalkette bedeuten, wie das fast alle Leute bisher gemeint haben, wenn sie von Freiheit reden. Höchstens die unendliche Freiheit Gottes könnte man auf diese Weise bestimmen; doch die Freiheit als autonomes Beginnen aufzufassen, hat wiederum eine immense Konkurrenz des Endlichen zum Unendlichen in die Welt gesetzt, zugleich auch eine Konkurrenz im Endlichen. Eine angemessene Definition der Freiheit ist auf diese Weise wohl nicht möglich und auch nicht wünschenswert. Freiheit ist ein Selbstsein, das doch nicht vollständig bei sich selber sein kann. Freiheit ist von ihrer Definition her eine subjektive Eigenschaft, und diese entzieht sich einer adäquaten oder objektiven Definition. Ja, hier offenbart die Freiheit noch einen anderen Zug, den sie bisher kaum gezeigt hat. Von Ferne werden wir dabei an die Lehre von den Postulaten bei Kant erinnert. Die Erkenntnis und das Leben der Freiheit hat einen kleinen Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 263
willkürlichen Zug. Von Zufall und Notwendigkeit in der Natur kann ich mit vollem Wissen reden, zuerst von der Notwendigkeit, dann mit der gleichen Klarheit von der Negation der Notwendigkeit, vom Zufall. Die Logik stellt hier ein kleines Problem dar, denn wenn die Notwendigkeit eine Definition ist, dann ist der Zufall nur eine Exfinition; der Zufall ist etwas, das nicht in meinen Begriff fällt. Von der Freiheit selbst kann niemand klar reden, allenfalls mit einem hohen Prozentsatz, vielleicht mit 75 Prozent. Alles in der Naturwissenschaft läuft auf die Erkenntnis von Zufall und Notwendigkeit hinaus, und diese drängen und konvergieren auf Freiheit hin, aber nicht ohne den Einsatz des Menschen, der seine Freiheit gebrauchen muß, um die Freiheit zu erkennen. Aus der Ferne hören wir Heidegger: »Es gilt, dieses Eignen, worin Mensch und Sein einander ge-eignet sind, schlicht zu erfahren, d. h. einzukehren in das, was wir das Ereignis nennen.«6 Wenn wir statt Sein nun Freiheit sagen, wird die Parallele erkennbar. Man kann sich auch weigern und bei Zufall und Notwendigkeit stehenbleiben, dann aber muß man klagevoll ausrufen: Der Mensch ist endgültig aus seinem vieltausendjährigen Traum erwacht, er hat seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit im Universum erkannt. Er hat seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums, das gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen ist. So etwa redete der bekannte Molekularbiologe Jacques Monod. 3.3 Gott und Natur, oder auch Gott und Mensch, standen in einem großen Konflikt in der Neuzeit. Weil der Mensch von der Identität träumte und diese Eigenschaft auf Gott projizierte, konnte er auf Gott einen Gottesneid entwickeln und dessen Eigenschaft für die Erde einfordern. Wir haben davon bei Feuerbach und seinen Freunden, den Weltveränderern gehört. Aber besser stufen wir mit Heidegger die Identität herab und stellen sie in Dienst: »Das Wesen der Identität ist ein Eigentum des Ereignisses.« Die Ernte der Herabstufung der Identität und der Höherstufung der Freiheit kann sich sehen lassen: Wenn vor der Identität die Freiheit kommt, die in der Liebe tätig wird, dann fallen die Konkurrenz und der Neid hinweg. Liebe ist das Wohlwollen gegenüber dem anderen, nicht der Besitz des anderen und seiner Eigenschaften. Wie sollte ich auf Gott neidisch sein, da er mich be264 | dieter hattrup
jaht und geschaffen hat? Was kann ich anderes machen, als er selber gemacht hat und ihn nachahmen?
Anmerkungen
L. Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion. Nebst Zusätzen und Anmerkungen, Berlin 31984, 320 und 307. 2 W. Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. Beiträge zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926. 3 B. Hoff mann: Albert Einstein. Schöpfer und Rebell, Zürich 1976, 298. 4 A. Einstein: Briefe, Zürich 1981, 63. 5 H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Bd. 3, Frankfurt a. M. 31983, 114. 6 Vgl. M. Heidegger: Der Satz der Identität, in: Ders.: Identität und Differenz, Stuttgart 101996, 24. 1
Der Satz der Identität und ein Besuch dreier Pinakotheken | 265
– Karl Kardinal Lehmann –
Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre I. Wir stehen im Blick auf die Notwendigkeit einer Förderung von Bildung in einer zwiespältigen Situation, die nach meinem Dafürhalten zu wenig zur Kenntnis genommen und genauer analysiert wird.1 Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse der letzten Jahre haben uns gezeigt, daß wir im Wettbewerb der Länder und Kontinente immer mehr auf eine besonders schöpferische Fähigkeit zur Innovation zurückgeworfen werden, weil wir in vielen Bereichen der Rohstoffgewinnung, der Produktion und auch des weltweiten Vertriebs nicht immer an vorderster Stelle mitzuhalten vermögen. Jedenfalls liegt die Speerspitze der Herausforderung und ihres Bestehens zweifellos in der intellektuell-rationalen Kompetenz. »Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land. Wissen können wir aber nur durch Bildung erschließen. Wer sich den höchsten Lebensstandard, das bessere Sozialsystem und den aufwendigsten Umweltschutz leisten will, der muß auch das beste Bildungssystem haben.«2 Es ist gut, daß dieses Bildungsverständnis breit und zugleich tiefer formuliert ist, indem Wertorientierung, Praxisbezug und internationale Wettbewerbsfähigkeit von Anfang an impliziert sind. Praxisbezug soll nicht heißen, daß es nur um vordergründig verwertbares Wissen geht. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß der Praxisbezug, wo er sinnvoll und angemessen ist, im Bereich universitärer Bildung größere Beachtung verdient. So wie Bildung im Blick auf die Schule nicht mit bloßem Vielwissen oder einem Schulsack verwechselt werden darf, so muß man sich auch hier vor falschen Antithesen hüten: Bildung versus Ausbildung und Leistung. Echte Bildung hat immer auch mit Forderung und Förderung von Leistung zu tun. | 267
Aber es besteht auch kein Zweifel, daß hier eine dünne Grenzlinie verläuft, die mit einer Gratwanderung verbunden ist. Denn wenn man den Praxisbezug des Wissens hervorhebt, muß man sich mit allen Kräften dagegen wehren, Bildung nur auf die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten zu beschränken. Gerade die Forderung nach einer Erneuerung der Bildung käme so in den Verdacht, als würde sie letztlich nur aus unmittelbaren Nützlichkeitserwägungen heraus ins Gespräch gebracht werden. Bildung ist in keinem Fall bloß eine nützliche Vorstufe für eine bestimmte Ausbildung. Nun weiß jeder, daß eine nähere Ausgestaltung des Bildungsverständnisses rasch an weltanschauliche, philosophische und religiöse Grenzen stößt. Man fürchtet mit Recht jede ›ideologische‹ Gebundenheit und Verengung. Der Bundespräsident hat in seiner schon zitierten Rede vom 05.11.1997 Bildung in engen Zusammenhang gebracht mit einem »Leben in Freiheit und Selbstbestimmung«, wobei er die Anstrengung und die Verantwortung solcher Freiheit hervorhebt. Bildung soll darauf vorbereiten. Damit ist klar zum Ausdruck gebracht, daß Bildung ein unverzichtbares personales Element enthält. Bildung schafft eine Disposition, durch die jemand fähig ist oder befähigt wird, sein menschliches Seinkönnen in Freiheit zu entfalten. Bildung zielt darauf, daß der Mensch ein vielfaches ›Können‹, das in jedem Menschen als Potential angelegt ist, in Freiheit legitim entfalten und verwirklichen kann. Solche Bildung ist auf Dauer hin verstanden, wobei damit weniger die Konstanz des erlernten Einzelwissens gemeint ist – es gibt freilich durchaus ein dauerhaftes Grundwissen –, sondern die Fähigkeit der Aneignung immer neuer Fragen und Probleme auf einem soliden Fundament. Diese habituelle Prägung von Bildung geht mit einem lebenslangen Lernen einher. Darum ist wahre Bildung immer auch unabschließbar. Sonst erliegt sie einem Ideologieverdacht, wenn sie zu einem geschlossenen System wird. Gerade in dieser Hinsicht ist eine zu starke Engführung auf reine Wissensvermittlung hin problematisch, denn das erlernte Einzelwissen hat ja eine stets kürzer werdende Verfallszeit. Um so mehr kommt es auf den ›harten Kern‹ und die habituellen Fähigkeiten an, die in diesen Wandlungen Bildung bestimmen. 268 | karl kardinal lehmann
Bildung betrifft aber nicht nur den Einzelnen in seinen rationalintellektuellen Fähigkeiten. Der Einzelne bringt durch seine Teilhabe am Gespräch der Gesellschaft und durch seine persönliche Prägung Licht in seine Welt und in die Welt aller. Darum gehören zum personalen Element der Bildung auch Bewußtseinserhellung als öffentliche Mitverantwortung und die Ausbildung sozialer Sensibilität. Das personale Element wäre mißverstanden, wenn in ihm neben Individualität nicht gleichursprünglich auch der Bezug zur Gemeinschaft mitgedacht wird. Dabei muß man sich nicht nur der gesellschaftlichen Verflechtung innewerden, sondern man muß auch seine soziale Haftung mit anderen und für andere wirksamer entdecken und die soziale Kompetenz vertiefen. Bildung erstreckt sich darum auf Geist, Gemüt und Leib; Bildung beansprucht den ganzen Menschen: mit Leib und Seele, als Individuum und in Gemeinschaft. So muß es als Ausgestaltung von Bildung in diesem umfassenden Sinn auf einem begrenzten Sektor auch so etwas wie eine politische und soziale Bildung geben. Gerade wo der elitenhafte Charakter von Bildung und Erziehung betont wird, bedarf es in hohem Maß einer solchen sozialen Sensibilität und politischen Verantwortung im weitesten Sinne.
II. Bildung ist im Kern von diesen Elementen her bestimmt und darf darum nicht von einem außerhalb liegenden Nutzeffekt oder bloßen Arbeitsbedürfnissen her verstanden werden. Bildung hat mit Werten und Zielen zu tun, die keiner weiteren Zwecksetzung unterliegen, in diesem Sinne unbedingt sind. Sie haben Rang und Bedeutung aus sich heraus. Ohne ein solches Moment unverzweckter Gültigkeit zerstört sich der Bildungsbegriff selbst. An dieser Stelle muß nun intensiver von der ›Theorie‹ die Rede sein, die je auf ihre Weise zur Bildung und zur Wissenschaft gehört. Ich brauche hier nicht den Ursprung der Universität und des Wissenschaftsverständnisses darzulegen. Dies darf ich voraussetzen.3 Nur wenn man die Theorie als Ursprung von Lehre und Forschung richtig ansetzt, kann man ausreichend Wissenschaft und Wissensvermittlung unterscheiden und auch wieder zusammenführen. Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre 269
Auch hier darf man keine falschen Alternativen aufbauen. Theorie hat immer schon einen Bezug auf Praxis. Sie muß die Lebensäußerungen und Handlungen des Alltags voraussetzen, auf die sie sich bezieht. Dies heißt noch nicht, daß diese Lebenspraxis in ihren Motiven, in ihrem Verlauf und in ihren Ergebnissen von vornherein und schlechthin bejaht wird. Es geht nicht um eine blinde Rechtfertigung von Praxis. Zuvor Unbewußtes muß zuerst bewußt gemacht werden. Die Intelligibilität der Lebenspraxis ist nur schwer aufhellbar und oft nur bei stetiger Abwehr gegenläufiger Tendenzen sichtbar zu machen. Der menschlichen Praxis wohnt die Vernünftigkeit weder notwendig noch faktisch inne. Solange sie nicht mittels verallgemeinerungsfähiger Grundsätze und Interessen gerechtfertigt werden kann, bleibt ihr das Odium der Unvernunft. Zumal in der unbegriffenen und begriffslosen Praxis, die man sich selbst überläßt, haust gerne das Irrationale. Gleichwohl ist die eigene Sinnhelle, die der Tat innewohnt, nicht zu übersehen.4 Auflichtende Erkenntnis dient zuletzt – versteht sie sich selbst recht – dem Tun selber. Nachhaltige Veränderung kommt letztlich einzig durch gediegene Erkenntnis zustande. Das theoretische Begreifen kann dem konkreten Gang von Handlungsprozessen förderlich sein, indem es das Handeln selbst verbessern, im guten Sinne stabilisieren kann. Es gibt jedoch auch andere Perspektiven. Der ›Zwangscharakter‹ der Praxis kann bis zu einem gewissen Grad aufgehoben werden, der Handelnde wird in der Reflexion auf sich gestellt und damit frei. Die Praxis gibt der Theorie immer noch genügend Aufgaben, die mit der Endlichkeit und Vereinzelung des Praktischen, dem Angewiesensein auf kontingente Beziehungen, der Unablösbarkeit vom Realen und dem jeweiligen konkreten Vollzug mit dem nicht völlig abwägbaren Risiko und der entsprechenden Verantwortung sowie mit dem Eingebundensein von Praxis innerhalb eines begrenzten Spielraums der realen Möglichkeiten zusammenhängt. Darum kann man der Praxis ihren Sinn, den sie zunächst in sich trägt, auch nicht einfach von außen vorschreiben. Sie hat eine eigene Weisheit, die es freilich transparent zu machen gilt. Jedenfalls ist der Vollzug des Handelns nicht über die Sicherung einer Theorie allein zugänglich. Vielmehr ist die Praxis gerade auf den neuen Vollzug verwiesen und ist darum trotz aller ›Endgültigkeit‹ gesetzter Handlungen merkwürdig offen. Wenn man jede 270 | karl kardinal lehmann
Zweideutigkeit des Tuns und damit auch das Risiko der Freiheit aus der Praxis ausschließen will, ruft man notwendig den Zwang herbei. Darum kommt auch eine Theorie, die eine direkte Applikation und Konsequenz für die Praxis sein will, so leicht in Gefahr, gewalttätig zu werden.5 Gerade vor diesem Hintergrund hat die Theorie gegenüber aller Praxis eine eigene Funktion. Erst diese macht die Wissenschaft zur Wissenschaft. Als Theorie hat sie das Recht und die Pflicht, in unbegrenzter Weite und in einer Rücksichtslosigkeit des Fragens radikal zu sein. In diesem Sinne hat Martin Heidegger recht, wenn er sagt, das Fragen sei die Frömmigkeit des Denkens. Und dies ist gar nicht so weit entfernt von dem Jesuswort: Die Wahrheit wird euch frei machen.6 Erst die unbeschränkte, nach allen Seiten hin offene, durch keine Verbote gehinderte Vernunft gewährt Zugang zur Wahrheit. Zur Theorie gehört die Möglichkeit, mit methodischer Grundsätzlichkeit kritisch auf Traditionen zu reflektieren, Autoritäten in Frage zu stellen, sofern die Gründe dafür ausreichend sind und die Argumente zutreffen. Da die Theorie weiß, daß sie in praktischen Situationen fälliger Entscheidungen ohnehin meist nachhinkt, hat sie ihrerseits Zeit, Zweifel um Zweifel zu lösen. In der Praxis des Lebens muß man nicht selten – wenigstens für eine bestimmte Zeit – bei einmal getroffenen Entscheidungen bleiben, auch wenn man bald einsieht, daß man anders besser hätte handeln können und sollen. In einer wirklichen Theorie hat man das Privileg, mit gewöhnlich äußerst geringen Folgen oder sogar folgenlos Irrtümer korrigieren zu können. Diese Vollkommenheit und Unabhängigkeit strebt die Theorie an und darum ist sie auch allein der Wahrheit verpflichtet. Will sie vorbehaltlos der Wahrheit dienen, darf sie auch als Theorie der Praxis im Prinzip keinem Zeit- und Handlungsdruck ausgesetzt werden. Wo Theorie mit Handlungsvorstellungen, die von außen aufgedrängt werden, gleichgeschaltet wird oder sich gleichschalten läßt, gibt sie jene kritische Distanz preis, die sie als Wissenschaft auszeichnet. Als Theorie der Praxis transzendiert sie Handlungszwänge und suspendiert in der kritischen Distanzierung zunächst jeglichen Praxisbezug. Dies ist das Privileg und die Würde jeder Theorie. Es zeigt aber auch ihre Grenze an. Descartes hat darum gewußt, daß man diese Radikalität des Zweifels und der Skepsis z. B. nicht in gleicher Weise für die Ethik und die sittliche Praxis ansetzen darf. Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre 271
Je mehr die Theorie auf eine Praxis bezogen ist, um so potenzierter muß ihre wirklich ›kritische‹ Reflexion sein. Nur allzu leicht gerät sie in die Gefahr, die Frage der Wirksamkeit zu einem Kriterium für die Wahrheit zu machen. Wenn dies geschieht, wird Theorie am Ende in Pragmatismus oder in eine Technologie von Aktionen umgesetzt. Theorie darf sich keinem ihr fremden Zweck unterordnen. Darin besteht auch heute noch der harte Kern der antiken Lehre von der Autarkie und Selbstzwecklichkeit der Theorie. Dies ist gleichbedeutend mit der Ansicht, daß der Wahrheitsbegriff nicht funktionalistisch unterlaufen werden darf. So muß z. B. auch zwischen der Verständlichkeit einer Äußerung und der Anerkennung des Wahrheitsanspruchs von Aussagen unterschieden werden. Nur unter solchen Bedingungen kann Theorie auch immun sein gegen eine unbedachte Übernahme nur modischer Phraseologien, gegen eine allzu willige Bedienung und Erfüllung flüchtiger Gegenwartsbedürfnisse oder gegen eine unkritische Anpassung an herrschende Trends. Wegen dieser Grundstruktur ist auch die Behauptung falsch, jede selbständige, nicht gesellschaftsbezogene Theorie sei ›an sich‹ schon das Resultat geronnener gesellschaftlicher Arbeit. Natürlich gehört eine kritische Interessenanalyse zur Funktion von Theorie. Aber mit der erwähnten globalen These wäre die prinzipielle Differenz von Theorie und Gegenständlichkeit und damit auch die Gültigkeit von Aussagen aufgehoben. In der Struktur von Theorie liegt es darum, daß sie zwar die Reflexe von Zeitphänomenen in sich aufnimmt und somit auch in der Zeit wurzelt, daß sie gleichzeitig aber durch die Anstrengung des Begriffs diese »Zeit in Gedanken erfaßt« (Hegel) und damit die prinzipielle Überlegenheit über das beweist, was die jeweilige Gegenwart in ihren herrschenden Tendenzen, in ihren fraglos angenommenen Meinungen und damit auch in ihrer Beschränktheit darstellt. Jeder Praxisbezug wirklich vollzogener Theorie ist in jedem Fall durch die kritische Distanznahme gebrochen und damit bestenfalls ›indirekt‹. Darum vermag die Theorie ihrerseits auch keine Informationen zu liefern, die direkt das künftige Handeln der Betroffenen vorwegnehmen. Dies schließt nicht aus, daß dabei eine Art von Handlungsvorbereitung oder besser Handlungsorientierung erfolgt. Die notwendigen theoretischen Operationen werden zunächst einmal eine Erhellung, eine Erweiterung und vielleicht auch eine Veränderung des prakti272 | karl kardinal lehmann
schen Bewußtseins und in deren Folge eine Einstellungsänderung erwirken. Es ist eine ganz wesentliche Aufgabe der Theorie, Reflexions- und Aufklärungsprozesse dieser Art auszulösen, wie z. B. Barrieren der Verständigung abzubauen.7 Der Gültigkeitsanspruch reflektiver Theorie kann im Übrigen nicht durch irgendein Diktat durchgesetzt werden, sondern die Reflexionsprozesse sollen dahin führen, daß die theoretisch ableitbaren Interpretationen zwanglose Anerkennung finden. Die Theorie hat immer auch die Aufgabe, nach Möglichkeit die Kommunikation zwischen den Teilnehmern an einer Konsensbemühung oder an einem Gespräch zu entzerren und zu verbessern.
III. Von dieser ›Theorie‹ lebt die Wissenschaft. Sie darf sich nicht gängeln lassen von außerhalb ihrer liegenden Interessen. Sie wird es darum gegenüber dem angeblich gesunden Menschenverstand immer schwer haben. Die Geschichte von Thales aus Milet hat auch heute noch ihre Wahrheit. Man hat sich bekanntlich von ihm erzählt, er sei, während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe. In diesem Sinne ist Theorie immer ein ›exotisches‹ Verhalten.8 Nun gibt es gewiß hier auch ein Abgleiten von Theorie in Richtung eines am Ende wirklich wenig sinnvollen Glasperlenspiels. In seiner fiktiven Beichte vor Augustin läßt sich Petrarca (1304–1374) von dem Kirchenvater bestätigen, daß die Methode der Dialektik »eine ungeheuerliche Art des Studiums« sei: »Ach, diese Altweibergeschwätzigkeit der Dialektiker, die nie ein Ende findet, die nur von Definitionen lebt und deren Stolz das Wiederkäuen ihrer alten ewigen Streitereien ist! […] Dieser Sippe von Menschen, die […] sich voll Übereifer mit dem Überflüssigen abgibt, sollte man entgegenrufen: Ihr Ernsten! Was arbeitet ihr immer so nutzlos in den Tag hinein und quält den Geist mit öden Haarspaltereien? Der Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre 273
Dinge Wesen kennt Ihr nicht und unter lauter leeren Wörtern altert Ihr, mit weißem Haar und runzliger Stirn treibt Ihr noch kindische Spielereien.«9 Die humanistische Kritik des mittelalterlichen Wissenschaftsbegriffes hat nicht selten auch mit dem Argument gekämpft, gerade die Naturwissenschaften würden zwar einen außerordentlichen Glanz für die Erkenntnis erzeugen, hätten aber keinen Nutzen für das Leben. Einen solchen hätte nur eine Lehre, die von den Sitten und Tugenden des Menschen handelt, also von der konkreten Humanität. Wo es zu den besagten weniger sinnvollen Spielereien kommt, kann nur die Wissenschaft selbst entscheiden. Sie braucht dafür freilich Mut zur Wahrheit und zum Streit, was etwas anderes als Polemik ist. Der sprichwörtliche Zerfall des Rezensionswesens spricht nicht gerade dafür, daß diese Selbstreinigung der Wissenschaft heute überall mit gleichem Ernst betrieben wird. Was hat zur Schaffung von Universitäten und zu ihrer Fortbildung getrieben? Letztlich, so scheint es mir, ist dies der Drang nach Wissen, nach Erkenntnis, nach Wahrheit: der ›amor sciendi‹. Dies erinnert nicht nur an Hans Blumenbergs wichtige Untersuchungen zur Funktion und den Wandlungen der Neugierde,10 sondern auch an Kant, der auf die Frage eines Lehrers, warum er theologische Vorlesungen höre, geantwortet haben soll: »Aus Wißbegierde«. Es scheint mir hilfreich zu sein, in diesem Zusammenhang an den ursprünglichen, griechischen Sinn von Theorie zu erinnern. Das Wort ›theoria‹ (θεωρία) meint beobachten, z. B. von Sternkonstellationen, Zuschauer sein. Es meint nicht ein bloßes ›Sehen‹, das Vorhandenes bloß feststellt oder Informationen anhäuft. Contemplatio verweilt nicht nur bei einem einzelnen Gegenstand oder in einem augenblicklichen Akt. Es ist Dabei-sein in dem Doppelsinne, der nicht nur Gegenwart und Anwesenheit besagt, sondern daß der Anwesende auch ganz bei der Sache ist. Dies ist das wahre Interesse. Es verlangt ein Hingegebensein an die Sache, die eine hohe Erfüllung verspricht. Darum war für die Griechen die ›theoria‹ eine Steigerung des Lebens in der Hingabe an die dauerhafte Gegenwart dessen, was ist. Es ist nicht zufällig, daß diese ›theoria‹ als Fähigkeit zur Erkenntnis von Wahrheit etwas mit dem Göttlichen zu tun hat,11 ähnlich wie die contemplatio im christlichen Gottesverständnis den Geist der Freiheit und die Bereitschaft zur Anbetung voraussetzt. 274 | karl kardinal lehmann
Ich bin fest davon überzeugt, daß dieser Sinn von Theorie nicht nur historisch am Ursprung der Wissenschaft und der Universitäten steht, sondern daß er auch heute eine durchlaufende Perspektive der Wissenschaftseinrichtungen darstellen muß. Daraus folgt, daß die Universität eine hohe Autonomie braucht, um ihre Dinge nach Art der Wissenschaft zu regeln. Je mehr Eingriffe von außen erfolgen, um so eher entsteht die Gefahr, daß sachfremde Einwirkungen die Oberhand behalten. Wenn die Universität ihre Strukturen und Aufgaben selbst gestaltet, muß sie zwar von der Mitberatung vieler ausgehen, die im Raum der Universität tätig sind, aber die erwiesene wissenschaftliche Kompetenz muß ein entscheidendes Kriterium für die Beteiligung an Entscheidungen bleiben. Leider ist auch diese Unabhängigkeit vielfach gefährdet. Es wäre ein fatales Zeichen, wenn die Universität im Zuge einer kurzsichtigen Tendenz zur Verbesserung technologisch verwertbaren Wissens im Blick auf ihre Grundstruktur mehr von der Aufgabe der Wissensvermittlung als der Wissenschaft bestimmt wäre. Ich weiß natürlich, daß dies nicht falsche Alternativen sein dürfen. Aber wir sind doch in Gefahr, auf lange Zeit schädliche und vielleicht auch dann nicht mehr zu ändernde Transformationen zu veranlassen und hinzunehmen. Auch und gerade die moderne Universität braucht als harten Kern ihrer Existenz die größtmögliche Freiheit zur Theorie. Hier muß es auch Zeit und Finanzen geben für eine Forschung, deren Ergebnisse nicht von Anfang an schon feststehen. Wir wissen, wie produktiv Sokrates und auf seine Weise Plato das Nicht-Wissen angesehen haben, nämlich das Ausprobieren aller denkbaren Wege, einschließlich der Holz-, Fehl- und Irrwege. Oft meldet sich erst nach dieser negativen Erfahrung überraschend und unkalkulierbar das Gesuchte. Dazu gehört auch die Existenz von Disziplinen, die nicht unmittelbar einträglich sind, die aus vielen Gründen keine hohen Studentenzahlen verbuchen können und die unter quantitativen und kurzsichtigen finanziellen Gesichtspunkten leicht ins Abseits gestellt werden können. Es scheint mir auch in ähnlicher Weise fatal zu sein, Kürzungen und Streichungen dort vorzunehmen, wo z. B. Lehrstühle relativ kurzfristig durch eine gerade jetzt eintretende Vakanz frei geworden sind. Oft wird mit einem Federstrich in Frage gestellt, was über lange Zeit gewachsen ist und seine Fruchtbarkeit erwiesen hat, auch wenn dies nicht so Vom Anspruch der ›Theorie‹ in Wissenschaft, Bildung und Lehre 275
lauthals herausposaunt wird. Was hier in manchen Bundesländern durch solche Beliebigkeiten an wissenschaftlichem Erbe gefährdet ist oder schon zerstört wurde, stimmt nicht gerade hoffnungsvoll für die noch größeren Aufgaben. Ich sage dies nicht nur im Blick auf die Theologie und vergleichbare Fächer, sondern hinsichtlich der Universität als ganzer.12 In dieser Situation ist es freilich nicht angebracht, nur nach dem Staat und seinem langen Arm zu rufen. Vieles entscheidet sich in der Universität selbst. Wenn keine sachfremden Maßstäbe von außen angelegt werden sollen, dann gibt es nur die Möglichkeit, daß die Universität die sich selbst regulierenden und sich erneuernden Kräfte in ihrem Raum stärker motiviert und zum Einsatz bringt. Gegenüber allen problematischen Planungen von außen gibt es nur ein wirkliches Gegengewicht, daß nämlich die Universität selbst sich die geistige Führung nicht aus der Hand nehmen läßt. Dies setzt aber voraus, daß sie ihre Situation reflektiert und selbst nach Vorschlägen sucht. Ohne einen Aufbruch der Universität selbst läßt sich vieles nicht verhindern. Dabei kommt es auch auf die universitäre Solidarität der Fakultäten und Disziplinen an. Wer von manchen gesellschaftlichen und politischen Tendenzen eher begünstigt ist, sollte seine ›ärmeren‹ Nachbarn und Verwandten nicht vergessen. Die Universität lebt nicht nur von der organisierten Interdisziplinarität, sondern auch von der Kollegialität und der wenigstens immer wieder zu suchenden Einheit der Disziplinen. Nur dann ist sie eine wirkliche ›universitas litterarum‹. Dies klingt phantomhaft und utopisch, es bleibt dennoch wahr. Ich möchte schließen mit dem nachdenklichen und mahnenden Wort eines großen Denkers unseres Landes, der – im Jahr 1900 geboren – das ganze 20. Jahrhundert mitgelebt und mitgestaltet hat, Hans-Georg Gadamer. Er sieht in der Bewußtseinslage einer vom reinen Machenkönnen beseelten Menschheit eine besonders große Gefahr. »Was unsere technische Zivilisation prämiert, sind eigentümliche Tugenden der Biegsamkeit, der Anpassung, der Einpassung. Das Ideal der technischen Weltverwaltung formt auch noch den Menschen nach seinem Bilde und macht ihn zum technischen Verwalter, der vorgeschriebene Funktionen sachgerecht ausübt, ohne sich um anderes zu kümmern. Darin scheint mir mehr als in allem anderen der Engpaß unserer Zivilisation zu liegen, und 276 | karl kardinal lehmann
das verlangt mehr als alles andere Aufklärung. Aufklärung aber ist geblieben, was sie von jeher war: Auf die Urteilskraft, auf das Selberdenken kommt es an und auf die Pflege dieser Kräfte. So bestimmt sich der gegenwärtige Sinn des kantischen Wahlspruchs der Aufklärung: ›Sapere aude – Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen‹, auf eine neue Weise, als der Appell an unsere gesellschaftliche Vernunft, aus dem technologischen Traum zu erwachen.«13
Anmerkungen
Der folgende Text stellt ein erweitertes und etwas aktualisiertes Statement dar, das ich zu verschiedenen Zeiten in Gesprächen an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Mainz zum Thema ›Wissenschaft statt Wissensvermittlung‹ vortragen konnte. 2 Bundespräsident a. D. Prof. Dr. Roman Herzog in seiner Berliner Rede Aufbruch in der Bildungspolitik vom 05. 11. 1997 in Berlin, in: R. Herzog: Zukunft bauen, Stuttgart 1998, 67–87, Zitat: 67 f.; ders.: Mut zur Erneuerung. Bilanz einer Amtszeit, Berlin 1999, 131–146. 3 Vgl. stellvertretend für viele andere W. Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa, Band 1–4, München 1993–2010; L. Honnefelder (Hg.): Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee, Berlin 2011, 9ff., 51 ff., 97ff., 382 ff. u. ö. 4 Vgl. grundlegend vor allem zu M. Blondel besonders P. Henrici: Philosophie aus Glaubenserfahrung, Freiburg i. Br. 2012; zu E. Lévinas vgl. J. Wohlmuth (Hg.): E. Lévinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1998; S. Sandherr: Die heimliche Geburt des Subjekts, Stuttgart 1998. 5 Dazu vgl. K. Lehmann: Das Theorie-Praxis-Problem und die Begründung der Praktischen Theologie, in: F. Klostermann / R. Zerfaß (Hg.): Praktische Theologie heute, München 1974, 81–102. 6 Vgl. G. Kaiser: Die Wahrheit wird euch frei machen, in: Ders.: Spätlese, Tübingen 2008, 449–493. 7 Vgl. zu Aristoteles H. Schweizer: Zur Logik der Praxis, Freiburg i. Br. 1971; F. Rese: Praxis und Logos bei Aristoteles, Tübingen 2003; B. Schnell: Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1995, 184 ff., 401 ff., 412 ff.; J. Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, 9–33; O. Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 584–589, 487–491; ders.: Aristoteles, München ³2006, 235 f.; R. Elm: Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn 1996. Vgl. auch W. Beierwaltes: Fußnoten zu Plato, Frankfurt a. M. 2011, 105 ff. 1
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Vgl. J. Mansfeld (Hg.): Die Vorsokratiker, Stuttgart 1987, 47; H. Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin, Frankfurt a. M. 1987, 9 ff. 9 F. Petrarca: Prose, Mailand-Neapel 1955, 52. 10 Vgl. Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. 1973 (überarbeiteter dritter Teil von Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966); neue Ausgabe: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996, III. Teil: 263–528. 11 Dazu O. Höffe: Lebenskunst und Moral, München 2007, 186–188. 12 Dies gilt besonders auch als Anfrage zur jüngsten Phase der Modularisierung, dazu kritisch M. Reiser: Bologna: Anfang und Ende der Universität, Bonn 2010. Die dort vorgebrachten Einwände verdienen jedenfalls eine ernsthafte Auseinandersetzung. 13 H.-G. Gadamer: Lob der Theorie, Frankfurt a. M. 1983, 102; ders.: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1976, 7 ff., 54 ff., 125 ff.; ders.: Das Erbe Europas, Frankfurt a. M. 1989, 35 ff., 87 ff., ders.: Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a. M. 1993, 11 f. 8
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Siglenverzeichnis AA Anth CAG CCL conf. CSEL
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JS MSTL Mur. NE Phil. PU Retract. RGG RGV Sest. SF SchF spir. et litt. SpKA S. theol. Stob. Ecl. SVF SW TI TP TU Tusc. VNAEF VT WGDE ZU
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Levinas) Metaphysik der Sitten. Anfangsgründe der Tugendlehre (Kant) Pro Murena (Cicero) Nikomachische Ethik (Aristoteles) Philippicae orationes (Cicero) Philosophische Untersuchungen (Wittgenstein) Retractationes (Augustinus) Religion in Geschichte und Gegenwart Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant) Pro P. Sestio (Cicero) Der Streit der Fakultäten (Kant) Schwierige Freiheit (Levinas) De spiritu et littera (Augustinus) Spalding Kritische Ausgabe Summa Theologiae (Thomas von Aquin) Ioannis Stobaei Eclogarum physicarum et ethicarum Stoicorum veterum fragmenta, Leipzig 1903ff. Sämtliche Werke (Rilke) Totalité et Infi ni (Levinas) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (Kant) Totalität und Unendlichkeit (Levinas) Tusculanae disputationes (Cicero) Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (Kant) Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (Kant) Wenn Gott ins Denken einfällt (Levinas) Zwischen uns (Levinas)
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Personenregister
A Abbt, Thomas 132 Albrecht, Michael 132 Alexander VII. 92 Althoff, Jochen 21 Altmann, Alexander 132 Ambrosius von Mailand 42 Anaxagoras 256 Anselm von Canterbury 249, 255–258 Antipater von Tarsos 32 Apollinaire, Guillaume 190 Archimedes 73, 78 Arendt, Hannah 203 Aristoteles 27, 30, 43, 53, 70, 139 f., 143, 150, 161 ff., 183, 209, 214, 225, 252 f., 277 Armogathe, Jean-Robert 89, 91 Arnauld, Antoine 69 f., 88, 91 Attali, Jacques 89 Atticus 45 Aubenque, Pierre 209 Augustinus 7, 9, 11, 49–65, 69, 71, 73, 76, 85 f., 88 ff., 92, 139, 150 ff., 160 ff., 183, 199, 202 f., 229 f., 232 ff., 237–241, 248 B Bäbler, Balbina 47 Baier, Karl 183 Balthasar, Hans U. von 88 f. Becht, Michael 183 Beckmann, Max 246 Beierwaltes, Werner 277 Benda, Wolfram 133
Benn, Gottfried 10, 188, 190, 199, 207 f. Bentham, Jeremy 27 Bergson, Henri 202 Beutel, Albrecht 119, 132 ff., 136 Bianchi, Lorenzo 132 Blondel, Maurice 67, 78, 81, 86 f., 90–93, 277 Bloth, Daniel 91 Blumenberg, Hans 117, 265, 274, 278 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 45 Böhm, Benno 21 Born, Friedrich G. 19 Bösl, Anton 183 Bourdieu, Pierre 67, 87, 92 Bouton-Touboulic, Anne-Isabelle 151 Boyancé, Pierre 47 Brandt, Reinhard 132 Bringmann, Klaus 46 Bröcker, Walter 183, 209 Bröcker-Oltmanns, Käte 183, 209 Brucker, Nicolas 136 Brunner, Otto 45 Brunschvicg, Léon 75 Buber, Martin 253 Bultmann, Rudolf 174 Burton, Philip 231 C Cancik, Hubert 47 Carraud, Vincent 90 f. Casper, Bernhard 156, 182, 225 Celan, Paul 10, 192 Chevalier, Jacques 80 Chladenius, Johann M. 136 | 299
Christen, Matthias 240 Chrysipp 29 f., 39 Chvatík, Ivan 152 Cicero, Marcus T. 5, 9, 23 ff., 28, 33–47, 53, 239 Cioffari, Vincent 240 Clarke, John 136 Clarke, Samuel 128, 136 Comte, Auguste 250 f. Conze, Werner 45 Coriando, Paola-Ludovica 182, 184 Corti, Agustín C. 152 Cousin, Victor 82 D Daidalos 15 Danaë 236, 241 Danz, Christian 115 Darwin, Charles 252 De Saint Cheron, Michaël 225 Dehrmann, Mark-Georg 133 Deinzer, Roland 134 De Nadaï, Jean-Christophe 91 Demokrit 71 Derrida, Jacques 197, 225, 228 De Sacy, Silvestre 92 Descartes, René 67, 71, 76, 82, 85 f., 90 f., 93, 152, 216 f., 226, 250, 271 Deschavanne, Eric 209 Descotes, Dominique 72, 75, 87, 89 f. Dilthey, Wilhelm 203 Diogenes Laertios 13, 32, 39, 45 Diogenes von Babylon 32 Dionysios Arepoagita (Pseudo) 226, 284 Domin, Hilde 10, 204, 210 Dreesmann, Ulrich 132 Duns Scotus, Johannes 154, 182 Dürer, Albrecht 244 Düsing, Edith 87, 115
300 | Personenregister
E Edlinger, Johann G. 244 Einstein, Albert 247 ff., 252, 261, 265 Elm, Ralf 277 Engel, Eva J. 132 Engel, Manfred 226 Epiktet 25, 28, 31, 41, 85 Epikur 38 Ernst, Pol 89 Esposito, Costantino 152 Euler, Walter A. 226 F Faugère, Prosper 80 Fauteck, Heinrich 241 Feldmann, Erich 239 ff. Ferrari, Jean 132 Feuerbach, Ludwig 245 f., 249, 264 f. Feyreirolles, Gérard 87 Fichte, Johann G. 115, 119 f., 132, 156 Fischer, Norbert 86 f., 89, 93, 109 f., 112 f., 150 ff., 182, 225 f., 228, 239 ff. Flache-Neumann, Tatjana 134 Flasch, Kurt 151 f., 230 f., 239 Flashar, Hellmuth 47 Fonnesu, Luca 132 Forschner, Maximilian 9, 47, 109 Förster, Guntram 241 Franziskus (hl. Franz von Assisi) 234, 241 Freud, Anna 208 Freud, Sigmund 88, 190, 205, 208 Friedrich, Caspar D. 245 Friedrich, Hugo 87 G Gadamer, Hans-Georg 276, 278 Gander, Hans-Helmuth 182, 209 Gilson, Étienne 82 Göckel, Rudolf 195 Goeze, Johann M. 136 Görler, Woldemar 46 Gorman, Robert 47 Goyet, Thérèse 89 f.
Graevenitz, Gerhard von 240 Grau, Engelbert 241 Gregor von Nyssa 42 Greisch, Jean 10, 208 f. Grote, Andreas E. J. 241 H Habermas, Jürgen 114 Haeff ner, Gerd 152 Harris, Jill 46 f. Harvey, William 70 Hattrup, Dieter 11, 109, 151 f., 240 Hegel, Georg W. F. 195, 206, 254 f., 261, 272, 277 Heidegger, Gertrud 182 Heidegger, Martin 10, 67, 86 f., 93, 110, 139–149, 151–157, 159 f., 162–171, 173–179, 181–187, 192, 195, 198 ff., 202 ff., 207–210, 216, 223, 226, 228, 264 f., 271 Heimbüchel, Bernd 182 Helms, Hal M. 240 Hemmerich, Gerd 133 Henninger, Mark G. 240 Henrici, Peter 277 Henrix, Hans H. 226 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 10, 87, 93, 151, 182 ff., 208 Herzog, Roman 277 Heydenreich, Carl H. 93 Hinske, Norbert 9, 21, 119, 132 Hoadly, Benjamin 127 f., 135 Höffe, Otfried 277 f. Hoff mann, Banesh 265 Hölderlin, Friedrich 175, 184 Honnefelder, Ludger 277 Horkheimer, Max 114 Horn, Friedrich W. 46 Hume, David 27 Husserl, Edmund 140, 151 I Innozenz XI. 92
J Jackson-Holzberg, Christine 133 Jacobi, Friedrich H. 110 Jaeger, Petra 183, 210 Jahr, Ilse 220, 227 Jansenius, Cornelius 76, 91 Jerusalem, Johannes Fr. W. 124, 134 Jaspers, Karl 7, 11 Jesus von Nazareth (Jesus Christus) 60, 76, 79 f., 84 f., 91, 117, 241, 244, 271 Johannes von Damaskus 25 Jonas, Hans 227 Jong, Albert de 47 Journet, Charles 81 Jovy, Ernst 89 Jung, Matthias 133 K Kaiser, Gerhard 277 Kandinsky, Wassily 243, 247, 265 Kant, Immanuel 7, 9 f., 17 ff., 21, 27, 86, 90, 93, 95–119, 132, 140, 146, 156, 186 f., 197, 206, 208, 216 ff., 223 ff., 227 f., 241, 249, 255, 257–261, 264, 274, 277 Karfíková, Lenka 10, 150 Kermode, Frank 195 Kierkegaard, Sören 115, 212, 234, 241 Kiesewetter, Johann G. K. Ch. 110 Klehr, Franz J. 228 Klein, Hans-Dieter 88 Klein, Richard 47 Klemme, Heiner F. 133 Kleobulos 20 Klimt, Gustav 236 Klostermann, Ferdinand 277 Knauer, Georg N. 239 Koch, Bernhard 45 Kolmer, Petra 113 Koselleck, Reinhart 45 Kössler, Henning 45 Koster, Severin 46 Krebs, Engelbert 156, 182 Personenregister | 301
Krege, Wolfgang 210 Kruck, Günther 225 Kubik, Andreas 132, 134 Kues, Nikolaus von (Cusanus) 217 f., 220, 226 Kunzmann, Ulrich 82, 87 f. L La Mettrie, Julian O. de 258 Lachmann, Otto F. 231 Lafuma, Louis 87, 89, 91 Landolfi Petrone, Giuseppe 132 Langthaler, Rudolf 9, 182 Lausberg, Heinrich 240 Lavater, Johann K. 125, 127, 134 ff. Le Guern, Michel 88 Lehmann, Karl 11, 91, 152, 277 Leibniz, Gottfried W. 113, 258 Leonhard, Jürgen 45 Leppin, Volker 133 Lercher, Ludwig 92 Levinas, Emmanuel 10, 109, 152, 211–228, 277 Lichtenberg, Georg Ch. 116 Locke, John 27, 44 Lorenz, Stefan 132 Lübbe, Hermann 198 Ludwig, Bernd 110 M Machiavelli, Niccolò 29 Macor, Laura A. 10, 132 f., 137 Maeda, Yoichi 68, 88 Mahnke, Dietrich 88 Maine de Biran, François-PierreGonthier 87 Mansfeld, Jaap 89, 278 Marcel, Gabriel 205 Marion, Jean-Luc 86, 93, 226 Marquard, Odo 240 Marszalek, Robert 115 Mayer, Cornelius 150, 239 ff. McKenna, Antony 90, 136 Mendelssohn, Moses 119, 132 302 | Personenregister
Mesnard, Jean 70, 78, 88, 90 f. Michel, Pierre 92 Mill, John St. 27 Mojsisch, Burkhard 239 Monnica (Mutter Augustins) 11, 229, 234, 237, 239 Monod, Jacques 264 Montaigne, Michel de 68 ff., 74, 82, 85, 88 ff., 92 Montesquieu, Charles de 27 Montfaucon, Bernard de 20 f. Moritz, Karl Ph. 13 Müller, Christof 241 Müller, Max 168, 183 Musset, Alfred de 195 N Nabert, Jean 193 f., 196 f., 206, 208 ff. Nesselrath, Heinz-Günther 47 Neumann, Günther 183 Neymeyr, Barbara 47 Newton, Isaac 257 ff. Nietzsche, Friedrich 29, 167, 175, 184, 251 Nivelle, Armand 241 Nothomb, Amélie 204, 210 Nussbaum, Martha C. 45, 209 O O’Donnell, James J. 229, 233, 239 ff. Ovid 236, 241 P Paganini, Gianni 132 Paliard, Jacques 93 Panaitios 33 Parmenides 156, 178, 184 Pascal, Blaise 9, 16, 21, 67–93, 115, 198 Paulus (Apostel) 60 f., 63, 159 ff., 169 Paulus Iulius 47 Pedius 47 Penn, William 44 Perseus 236 Petrarca, Francesco 234, 273, 278
Petri, Elfride (Heidegger, Elfride) 153 Piaia, Gregorio 136, 291 Picasso, Pablo 247 Pico della Mirandola, Giovanni 71 Platon 7, 15, 17, 29 f., 42, 49, 56 f., 61, 65, 88, 101, 111, 114, 139, 150, 177, 216, 218, 223, 227 Platz, Hermann 87 Plotin 65, 139, 150 Pockrandt, Mark 135 Pope, Alexander 114 f. Pöschl, Viktor 24, 45 ff. Poseidonios 33 Postigliola, Alberto 132 Poulet, Georges 88 Pozzo, Riccardo 132 Preisner, Rio 226 f. Proklos 206 Proust, Gilles 87 Promies, Wolfgang 116 Q Quintilian 240 R Raffelt, Albert 9, 87, 89, 91, 93, 183 Rancan de Azevedo Marques, Ubirajara 132 Ravaisson, Félix 87 Regehly, Thomas 182 Reifenberg, Peter 87, 91 Rembrandt (van Rijn) 236, 244 Rescher, Nicholas 87 Rese, Friederike 277 Reiser, Marius 278 Ribeiro Dos Santos, Leonel 132 Ricoeur, Paul 140, 151 f., 197 f., 201–204, 206, 209 f. Riedel, Wolfgang 132 Riedenauer, Markus 183 Rilke, Rainer M. 11, 219 f., 226 f., 234, 236–242 Ritter, Joachim 277 Rolland, Jacques 152
Romano, Claude 210 Rosenzweig, Franz 221 Rousseau, Jean-Jacques 27 Rüegg, Walter 277 S Saame, Otto 208 Saame-Speidel, Ina 208 Sabundus, Raimundus 68, 74 Sack, August Fr. W. 124, 126 ff., 134 f. Sack, Friedrich S. G. 135 Sandherr, Susanne 277 Schadow, Friedrich W. von 245 Scheler, Max 67, 152 Schelling, Friedrich W. J. 112 f., 115 Schiller, Friedrich 27, 119, 132, 192 Schlechta, Karl 184 Schleiermacher, Friedrich 119, 132 Schmidt, Jochen 47, 184 Schmitt, Hans-Christoph 45 Schnell, Bruno 277 Schofield, Malcolm 30, 45, 47 Schollmeier, Joseph 119, 132 Schopenhauer, Arthur 114 Schulte, Joachim 209 Schweizer, Herbert 277 Sellier, Philippe 69, 80, 87 ff., 91 f. Seneca 41, 112 Sgarbi, Marco 132 Shaftesbury, Th ird Earl of ( AshleyCooper, Anthony) 121, 128, 133 Sieber-Rilke, Ruth 241 Simenauer, Erich 242 Simon, Richard 76 Sirovátka, Jakub 10, 228 Sokrates 9, 13–17, 21, 114, 249, 255 f., 258, 275 Sommer, Andreas U. 132 Sommer, Manfred 117 Sorabji, Richard 45 Spaemann, Robert 45 Spalding, Johann J. 10, 119 ff., 123–137 Spinoza, Baruch 261 Personenregister | 303
Stahl, August 10 f. Staiger, Emil 208 Steinmann, Jean 92 Stilett, Hans 88 Stobaeus, Johannes 33 Strasburger, Hermann 46 Sträter, Udo 133 Straub, Anton 92 Strube, Claudius 182 f., 209 T Tavoillot, Pierre-Henri 209 Teske, Roland J. 151 Thales von Milet 13, 273 Th imme, Wilhelm 88, 239 Thomas von Aquin 17, 25, 42 f., 47, 217, 260, 262 Thomas von Celano 234, 241 Thomasius, Christian 17 Thurn und Taxis, Maria von 226, 238, 242 Tietz, Johann D. 88 Tillotson, John 128, 136 Tippmann, Caroline 133 Tischner, Jozef 196, 209 Tizian 236 Treitler, Wolfgang 182 Trescho, Sebastian Fr. 136 Troeltsch, Ernst 136 U Uehlein, Friedrich A. 133
304 | Personenregister
V Van Dyck, Anthonis 236 Van Fleteren, Frederick 152 Vetter, Helmuth 152 Vogt, Katja M. 45 Vogt, Peter 240 f. Voltaire 27, 81 Vildrac, Charles 242 W Walter, Peter 133, 183 Weigel, Horst 134 Weiß, Otto 87 Weizsäcker, Carl Fr. von 259 Wellershoff, Dieter 208 Wildfeuer, Armin G. 113 Williams, Roger 44 Wills, Gary 230, 232, 240 Wittgenstein, Ludwig 198, 209, 212, 225 Wohlmuth, Josef 277 Wolff, Erwin 133 X Xenophon 9, 13, 17 f., 21 Z Zaborowski, Holger 183 Zeller, Dieter 21 Zerfaß, Rolf 277 Zenon 29 f., 32, 47 Zeus 31 f., 236 Zimmermann, Bernhard 47 Zimmermann, Ruben 46 Zinn, Ernst 241 f. Zippelius, Reinhold 48
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2406-4 ISBN E-Book: 978-3-7873-2418-7
Umschlagabbildung: Augustinus, Wandmalerei unterhalb der Kapelle Sancta Sanctorum beim Lateran. Foto: Norbert Fischer www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2012. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: book factory, Bad Münder. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.