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German Pages 360 Year 2018
Susi K. Frank (Hg.) Bildformeln
Image | Band 59
Susi K. Frank (Hg.)
Bildformeln Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa
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Inhalt
Einleitung | 7
Susi K. Frank
I.
Formeln des Sowjetischen »Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben«: Wie das Foto vom theatralen Sturm zum historischen Dokument wird | 37
Sylvia Sasse Von ... bis ...: Etappen einer Bildformel im Dokumentarfilm über die Sowjetunion | 63
Irina Sandomirskaja Die Bildformel des »Flaggenhissens« in Fotografie und Film | 89
Alexander Schwarz Die Kunst des Hasses: Der »edle Zorn« und Gewalt in der sowjetischen Kultur der Kriegszeit | 109
Evgeny Dobrenko
II. (Osteuropäische) Bildformeln des Holocaust in der Spannung zwischen Dokument und Monument Ihr Schrei wurde zum Schrei der Welt: Dmitrij Bal’termanc’ Leid und die Universalisierung des Holocaust durch ästhetische Mittel | 137
David Shneer
6 Il’ja Sel’vinskij: Poetik und Politik der Shoah-Zeugenschaft. Eine Rekonstruktion | 167
Maxim Shrayer Bewegte und unbewegte Blicke der Toten: Aus dem Warschauer Ghetto und Charkiv | 213
Jeremy Hicks Bilder, die bleiben, Helden, die gehen: Wanda Jakubowskas Die letzte Etappe | 229
Magdalena Saryusz-Wolska Aus dem Bildarchiv der Augenzeugen: Am Bahndamm (Text – Bild – Reenactment) | 251
Magdalena Marszalek
III: Bildformeln zwischen Bild und Text – Instrumente der Konstruktion und Revision des kulturellen Gedächtnisses Pathosformel »tote Mutter« zwischen Bild und Text | 269
Susi K. Frank Bilder von Orten, Bilder der Geschichte: Eine Lektüre von Július Kollers Archiv | 305
Tomáš Pospiszyl Das Tor des Gedächtnisses | 317
Piotr Piotrowski Fliegen und andere Insekten. Epiphanien des Scheiterns in der postkommunistischen Kultur Ost- und Südosteuropas | 335
Tanja Zimmermann Autorinnen und Autoren | 357
Einleitung S USI K. F RANK
Wenn man von der Macht der Bilder im Zusammenhang der Konstitution kulturellen Gedächtnisses 1 spricht, so lassen sich drei Manifestationsformen dieser Macht ausmachen: Erstens werden Bilder als wichtiges Instrument von Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken genutzt und dienen vielfach der Konstruktion, aber auch der Reflexion von Geschichte, von historischen Konstellationen usw. (Bsp. der Kniefall von Willy Brandt in Warschau). Zweitens gewinnen Bilder dank ihrer momentanen globalen Verbreitung in den Medien selbst den Status historischer Ereignisse, machen die Rezipienten zu unmittelbaren Augenzeugen und erzwingen als Fakten einen historisierenden Umgang (09/11 oder Explosion in Fukushima). Und drittens manifestiert sich die Macht der (fotografischen) Bilder gelegentlich darin, dass sie als Zeugnisse das Verdrängen bestimmter historischer Ereignisse aus dem kollektiven Bewusstsein verhindern. Das Interesse des vorliegenden Bandes richtet sich zunächst vor allem auf den ersten der drei genannten Aspekte. Hier werden Bilder bzw. Bildformeln als wichtiges Instrument der Konstruktion kollektiven und kulturellen Gedächtnisses untersucht und es wird nach den Dimensionen ihrer Wirkmächtigkeit gefragt. Dabei spielen allerdings immer wieder auch der Zeugnischarakter bzw. die mögliche Zeugnisfunktion und der Status als Ereignis, den Bilder manchmal erhalten können, eine wichtige Rolle. Was sind das für Bilder, die eine Schlüsselfunktion für die Konstitution des kulturellen Gedächtnisses und/oder der kulturellen Identifikation bzw. Zugehö-
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Der Begriff »kulturelles Gedächtnis« wird hier im Sinne von Jan Assmann verwendet. Vgl. Assmann 2006: 67–75.
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rigkeit übernehmen (können)? Woher erhalten sie ihre Macht bzw. wer hat die Macht, ihnen diese Funktion zu verleihen? Und wie genau funktionieren sie? Mit dem Begriff »Bildformeln« soll in einer weit entwickelten Debatte im Bereich der Bildwissenschaften, der historischen Kulturforschung und der Bildsoziologie ein neue Akzent gesetzt werden, der in mancher Hinsicht bisher aufgesplitterte Positionen zu synthetisieren erlaubt. Als Bezeichnung derjenigen Bilder, die durch Rezeption, mediale Zirkulation und Kanonisierung außergewöhnliche Symbolkraft gewinnen sowie wesentlich zur Formung kollektiven Bewusstseins beitragen, hat in der deutschen Kunstwissenschaft Michael Diers den Begriff »Schlagbilder«2 geprägt. Parallel dazu ist in der insbesondere am Fernsehen orientierten Mediensoziologie der Begriff »Schlüsselbilder«3 verbreitet. In beiden Fällen geht es um singuläre Bilder, die ihren symbolischen Status durch die Rezeption erhalten. Der hier vorgeschlagene Begriff »Bildformel« richtet sich auf die Bilder selbst, ihre Verfasstheit bzw. Poetik und ihre ikonographischen Bezüge, die – so die These – dazu beitragen, dass sie als Träger kultureller Semantik eine Schlüsselfunktion erhalten. »Bildformel« knüpft an Aby Warburgs Begriff der »Pathosformel« an, den dieser zuerst in seinem Aufsatz über »Dürer und die römische Antike« (1906: 55-60) eingeführt und erläutert hat. Warburg geht von einer ikonographisch kodierten Gebärdensprache aus, die in der europäischen Kunst seit der Antike zur Anwendung kommt, und deren Zeichen-Elemente (pathetische) Gesten sind. Warburgs erstes Beispiel war die Beschreibung der Wanderung und Wandlung der Darstellung des Todes von Orpheus in der europäischen Tradition. Die Pathosformel besteht in ihrem ikonografischen Kern hier in der erschrockenen Armgeste, mit der Orpheus versucht, die Angreifer abzuwehren und den eigenen Körper zu schützen: »auch andere, ganz verschiedenartige Kunstwerke mit Bildern vom Tode des Orpheus, […] zeigen fast völlig übereinstimmend, wie lebenskräftig sich dieselbe […] Pathosformel, auf eine Orpheus- oder Pentheusdarstellung zurückgehend, in Künstlerkreisen eingebürgert hatte; vor allem beweist dies aber der Holzschnitt zur Venezianischen Ovidausgabe von 1497 […] da diese Illustration gleichfalls […] auf dasselbe antike Original zurückgeht […]« (Warburg 1906: 58). Warburgs späterer Mnemosyne-Atlas macht deutlich, dass es ihm bei der Wahl des Begriffs »Pathosformel« als Bezeichnung eines Elements der Gebärdensprache v.a. auch darum ging, dass die Gebärden alias »Formeln« zwar als
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Vgl. Diers 1997.
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Vgl. Ludes 2001.
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Elemente einer Sprache aufrufbar sind, aber je nach Kontext immer wieder semantisch neu aufgeladen werden können. »Formel« steht also für ein visuell komplexes Gebilde – z.B. eine Gebärde – welches ikonographisch als Geste höchster affektiver Erregung kodiert wird und dadurch immer wieder neu zum Einsatz gebracht werden kann und – qua Kodierung mit dem Wiedererkennungseffekt zugleich auch Verständnis garantiert. Auf diesen Kodierungs- und Umkodierungsmechanismus soll mit dem hier gewählten Begriff »Bildformel« ebenfalls Bezug genommen werden. Denn die Grundannahme besteht darin, dass Bilder gerade dadurch, dass sie nicht ganz neu sind, sondern in der ein oder anderen Weise aus vorhandenen ikonographischen Kodes generiert, besondere Wirkmächtigkeit gewinnen können, dass gerade eine gewisse – vielleicht im inhaltlichen Zusammenhang ganz unerwartete – Lesbarkeit ihre Wirkmächtigkeit erhöht. Im Prozess der Kodierung und Umkodierung generieren sie selbst einen neuen Kode und werden damit ihrerseits als »Formeln« anwendbar. Damit ist der Begriff »Bildformel« zugleich etwas weiter und etwas enger gefasst als Aby Warburgs »Pathosformel«: hier soll nicht nur die Affektdarstellung und Affektwirkung im Vordergrund stehen, vielmehr soll der ikonographische Aspekt der Kodierung, das Formelhafte als Klammer für die hier untersuchten Bilder im weitesten Sinn ausreichen. Manche erzielen ihre Macht (Signifikanz) ganz ohne Pathos, allein durch ihre hohe Symbolkraft bzw. die Symbolkraft des Dargestellten. Eine Verengung im Vergleich mit Warburgs Verständnis von Pathosformel ergibt sich daraus, dass hier zumeist nicht Gebärden als »Formeln«, die semantisch komplett flexibel sind, untersucht, zusammengestellt und verglichen werden, sondern komplexere ikonografisch kodierte Motive, die in den historischen und regionalen Transformationen einen konstanten semantischen Kern beibehalten und gerade wegen dieser Semantik wiederverwendet werden. Ein weiterer Aspekt, der bei Warburg ständig präsent ist, aber nicht reflektiert wird und bislang auch in der Sekundärliteratur noch zu wenig beleuchtet wurde, kommt in einigen Beiträgen dieses Bandes zentral zur Sprache: Intermedialität bzw. das Funktionieren von Bildformeln im Dialog zwischen Bild und Text. In Hinblick auf die Übertragbarkeit des Begriffs ›Pathosformel‹ auf Texte sah schon Warburgs Mitarbeiterin, Gertrud Bing, eine Parallele zum Begriff ›Topos‹ und schrieb 1965: »In der Rhetorik wird eine zur Konvention gewordene Formel, die laufend verwendet wird, um eine Bedeutung oder eine Stimmung mitzuteilen, Topos genannt. Warburg stellt das Vorhandensein von etwas analo-
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gem in der bildenden Kunst fest.« (Bing 1992: 437-454) 4 Auch Ernst-Robert Curtius, der eine sehr ›vereinfachte‹ Perspektive auf die Bildkunst als im Vergleich zur Literatur ganz unmittelbar rezipierbares Medium hatte, ging von einer völlig unproblematischen Äquivalenz zwischen Topos – in der Literatur – und Pathosformel in der Bildkunst aus. Kritik an diesem einfachen ›Kurzschluss‹ wurde in neuerer Zeit vor allem von Seiten der Kunsthistoriker geübt. (Vgl. Pfisterer 2003: 21-47)5 Warburg selbst schenkte dem Aspekt der intermedialen Bezüge große Aufmerksamkeit ohne ihn dabei zu explizieren oder gar zu problematisieren. Vgl. z.B.: »[…] Hier ertönt zum Bild die echt antike, der Renaissance vertraute Stimme, denn daß der Tod des Orpheus […ein] leidenschaftlich und verständnisvoll nachgefühltes Erlebnis aus dem dunkeln Mysterienspiel der Dionysischen Sage war, beweist das früheste italienische Drama Polizians, sein in ovidianischen Weisen sprechender ›Orfeo‹, […].« (Warburg 1906: 58)
Warburgs Argumentation macht deutlich, dass er Bilder häufig als Illustrationen bzw. bildlich performative Inszenierungen von Textvorlagen auffasste und gerade dieses intermediale Verhältnis mit dem Begriff »Pathosformel« bezeichnete. Warburg explizierend akzentuieren die Herausgeber der einbändigen WarburgAusgabe, Sigrid Weigel, Martin Treml und Perdita Ladwig (2010: 9-30) die intermediale Dimension des Begriffs6 und verstehen »Pathosformel« als eine Art medial invertierte Ekphrasis, als »eine Ekphrasis, deren performatives Element – die in der Zeit stattfindende dramatische Aufführung – im Modus des VorAugen-Führens als Bewegung im Bild festgehalten ist.« (Weigel/Treml/Ladwig 2010: 37) In mehreren Beiträgen dieses Bandes wird das Wandern von »Bildformeln« zwischen Bild und Text und Text und Bild nachvollzogen, in manchen von ihnen werden gerade die dafür zentralen Strategien der Visualisierung oder aber der kritischen Reflexion von Sichtbarkeit und Darstellbarkeit zum Gegenstand der Analyse.
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Vgl. neuere Überlegungen zur Differenzierung zwischen Pathos und Topos in der
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Zu einem aktuellen Versuch, den Begriff „Pathosformel“ für die Literaturwissenschaft
6
Zur intermedialen Dimension bei Warburg vgl. auch Isolde Schiffermüller, die den
Bildkunst bei Pfisterer/Seidel 2004. fruchtbar zu machen, vgl. Knape 2010: 25-44. analytischen Stil Warburgs ›intermedial‹, in Hinblick auf die analytische Bezugnahme auf das pathetische Bildmaterial, interpretiert: Schiffermüller 2009: 7-21.
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Die Parallele des Funktionierens von Bildformeln in Bild und Text betrifft, wie im vorliegenden Band ebenfalls zur Sprache kommt, auch eine energetische Dimension, die ebenfalls für Warburgs Pathosformel-Begriff in Anschlag gebracht wurde. Horst Bredekamp hat diesen Aspekt in der seinem Konzept des »BildAkts« zugrundeliegenden Warburglektüre expliziert. Nach Bredekamp beschreibt Warburg mit »Pathosformel« eine Technik der »bildenergetischen Bewältigung« von größter Angst, Todesangst, von Ereignissen von höchster, die Grenzen des Erträglichen überschreitender emotionaler Intensität. »Die PathosFormel« – so Bredekamp – »begründet im Verständnis von Warburg die Möglichkeit, nicht zu bewältigende, zerstörerische Energien des Psychischen und Sozialen durch visuelle Formen zu entäußern und damit beherrschbar zu machen […].« (Bredekamp 2005) Dabei geht es jedoch nicht darum zu entschärfen, sondern vielmehr »um eine bildenergetische Bewältigung von tödlicher Naturangst. Indem die Angst distanziert wird, entsteht Kultur«.7 Dieses Unfassbare, über alle Maßen Erschreckende wird – so die Warburg explizierende These – mithilfe ikonografischer Formeln, die über Jahrhunderte tradiert werden, in den Rahmen des Erfahrbaren und damit repräsentativ und narrativ Bearbeitbaren integriert. Auch in Hinblick auf die energetische Funktion – darauf verweisen neben Bredekamp auch Weigel und Treml8 – erweist sich die Parallele zwischen Bild und Text: Denn auch in der Rhetorik dien(t)en Pathosverfahren der darstellerischen, kommunikativen und manipulativen Bewältigung von Undarstellbarem bzw. unsagbar Großem, Schrecklichem, Mächtigem oder Schönem. Und auch in der Rhetorik fungieren intermediale Figuren, die z.B. auf eine ›Visualisierung‹ zum Zweck der Vergegenwärtigung abzielen, als wichtiges Pathos-Instrument. Diese energetische Dimension des Begriffs »Pathosformel« soll auch für den Begriff »Bildformel« in Anspruch genommen werden, denn in praktisch allen hier diskutierten Fällen geht es darum, eine in anderer Form nicht auszudrückende semantische Komplexität mithilfe von symbolischer Verdichtung und Kodierung in einer Bildformel kommunizierbar zu machen. Die Beiträge gehen davon aus, dass Bildformeln eine Schlüsselfunktion im Prozess der Konstituierung kulturellen Gedächtnisses und kultureller Identität erhalten können, und dass sie tradier- und zitierfähig werden, weil sie die Kraft ent-
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Bredekamp (2005) verweist auf Warburgs Bericht über den Tanz der Hopi-Indianer beim Schlangenritual, wo durch Bilder der Schlangen und Bildgesten eine Distanz geschaffen wird, die es schließlich ermöglicht, die Giftschlange furchtlos in den Mund zu nehmen.
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Ebd.
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wickeln, in komprimierter Form die Werte und die höhere Wahrheit der Wirklichkeit, die sie vorgeben zu zeigen – und tatsächlich natürlich konstruieren: so z.B. Machtverhältnisse, Recht und Unrecht, Gut und Böse, Sieger und Verlierer. Oder es sind Bilder, die dem Abgebildeten/Gezeigten besonders hohe Symbolkraft verleihen, indem sie es als (arche)typische Schlüsselsituation kenntlich machen, in der sich zentrale Werte dieser Kultur konzentriert, evident und unhinterfragbar manifestieren. Dabei geht es auch um den Aspekt der Macht der Bilder, den Horst Bredekamp mit dem Begriff des »Bild-Akts« aufs Tableau gebracht hat. (Vgl. Bredekamp 2010) Leonardo folgend, versteht Bredekamp Bildkunst als »Einladung zur Gefangenschaft«, d.h. als Einladung zum Überwältigtwerden durch eine Kunstform die, indem sie »vor Augen stellt«, ein Sich-Entziehen von Seiten des Rezipienten verunmöglicht. Bilder haben das Vermögen bereits in sich, welches Aristoteles’ Poetik zufolge die Rhetorik für die Sprache erwerben soll: enárgeia. Bredekamp lehnt den Begriff »Bildakt« eigentlich nur deshalb an den Begriff »Sprechakt« an, um den Unterschied deutlich zu machen: Mit Bildern wird nicht wie mit Wörtern gehandelt, sie handeln selbst, sind nicht Objekt, sondern – wie der Sprecher – Subjekt des Handelns (vgl. Bredekamp 2010: 51), ihr Objekt sind die Rezipienten, auf die sie wirken. Die hier vorgeschlagene Perspektive auf die Wirkmächtigkeit von Bildformeln soll uns einen Schritt weiterbringen, indem auch die Wirklichkeit selbst als Objekt der mithilfe von Bildformeln vollzogenen Bildakte berücksichtigt wird. Denn – wie einige der in diesem Band diskutierten Beispiele deutlich zeigen – geht es hier nicht immer nur um die Konstruktion von Bewusstsein, des kulturellen Gedächtnisses und kultureller Werte, sondern vor allem auch um die Schaffung von (historischen) Tatsachen. Viele der hier diskutierten Bilder resp. Bildformeln erwiesen sich als mächtig genug, Fakten zu schaffen. Auch diese performative Dimension bedingt das starke Interesse an Bildformeln als Forschungsgegenstand. Weiterhin ergibt sich aus Bredekamps Ansatz die – von einigen Autoren auch an ihr Untersuchungsmaterial gerichtete – Frage danach, wer außer den Bildern selbst diese zur Entfaltung ihrer Wirkung und zur Ausübung ihrer Macht befähigt. Genau wie die Bilder sind kulturelle Gedächtnisse symbolische Konstrukte, welche Werte und Werthierarchien implizieren und sich strukturell aus Narrativen und aus Kartographien zusammensetzen. Bildformeln brauchen, um zu funktionieren, um kommuniziert zu werden und produktiv zu bleiben einen kulturellen und institutionellen Kontext, der ihnen die Macht zur Entfaltung ihrer Bildmacht verleiht. Einige der Beiträge fragen ganz gezielt nach den institutionellen Kontexten und Konstellationen, in denen die jeweils untersuchte Bildfor-
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mel funktioniert, und zeigen und reflektieren die Machtverhältnisse, die dabei im Spiel sind. Und einige untersuchen Konflikte um Deutungshoheiten und versuchen, mithilfe alternativer Bildformeln der dominierenden symbolischen Ordnung Gegennarrative entgegen zu setzen. Die Macht der Bildformeln »vor Augen zu stellen« deutet auf die Problematik der Authentizität, die einen weiteren Schwerpunkt des vorliegenden Bandes bildet. Wenn Bilder gerade als Bildformeln kulturelles Gedächtnis konstituieren und wenn man schon davon ausgeht, dass kulturelles Gedächtnis sowieso konstruiert ist, wie können solche Bilder dann gleichzeitig Authentizität beanspruchen? Und welche Rolle spielt das eigentlich? Einige Beiträge gehen gerade den Verfahren der Authentisierung nach, versuchen sogenannte »Evidenzformeln« ausfindig zu machen, ein ganzes Repertoire an Verfahren der Authentisierung. Andere Beiträge zeigen Fälle, wo das Faktum der künstlerischen Inszenierung niemals verborgen wurde, die Bilder aber dennoch als authentische rezipiert wurden. Wie die – zumeist aus dem 20. Jahrhundert stammenden – Beispiele zeigen, wird nicht immer mithilfe authentischer Augenblicksaufnahmen, Fotografien oder Filmaufnahmen eines historischen Geschehens Geschichte gemacht. Manchmal wird das kulturelle Gedächtnis mithilfe von Bildern kodiert – welche dann als Bestandteile dieses Gedächtnisses zu Bildformeln werden –, Bilder, die eigentlich fiktive Nachstellungen dieser historischen Ereignisse dokumentieren, wie im Fall der Oktoberrevolution (vgl. den Beitrag von S. Sasse). Manchmal ist es ein Spielfilm, dessen Bilder die allgemeine Vorstellung von der historischen Wahrheit viel stärker prägen als authentische Aufnahmen (wie im Fall des Holocaustfilms, den Saryusz-Wolska diskutiert), und manchmal sind es Kunstwerke, künstlerische Inszenierungen die, ganz dezidiert eingreifend, das historische Bewusstsein und das Geschichtsverständnis und das Empfinden kultureller Zugehörigkeit prägen (vgl. den Beitrag von P. Piotrowski). In manchen Beiträgen, die nach der Autorschaft wirkmächtiger Bilder fragen, wird deutlich, dass es sich bei weitem nicht immer um Akteure und Agenten der Informationsmedien, Journalisten oder Reporter handelt, sondern oft um Künstler, die auch die Bilder, die doch historische Wahrheit vermitteln sollen, als Kunstwerke intendiert hatten. Und manche Fälle zeigen, dass die Wirkmächtigkeit der Bildformeln nicht nachlässt, wenn der Autor in Vergessenheit gerät. Als Bildformeln erzeugen Bilder – z.T. in narrativer Entfaltung – die Evidenz historischer Wahrheit und machen sie zum Bestandteil des kulturellen Gedächt-
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nisses. Aus dieser Potenz resultiert noch eine weitere: die der emotional affizierenden Wirkung, die nicht nur Identität stiftet, sondern durch den emotionalen Nachvollzug ein vergegenwärtigendes Nacherleben des Geschehenen ermöglicht und dadurch eine Disposition zum Handeln provozieren kann. Dies ist ein Aspekt, der von einigen Beiträgen des Bandes speziell für die hier in den Blick genommene Region »Osteuropa« veranschlagt wird. In der sowjetischen Einflusszone – so argumentieren etwa die Beiträge von Evgenij Dobrenko, Jeremy Hicks oder Alexander Schwarz – diente die Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses nicht nur der reflektierenden Aufarbeitung und narrativen Integration der historischen Ereignisse, sondern zugleich auch der Agitation zum Handeln (im Sinne einer Vergeltung des Zugefügten Leids). Daher basiert der regionale Schwerpunkt dieses Bandes, Osteuropa, nicht etwa darauf, dass mehr oder weniger kontingentes Material aus dieser Region untersucht wird, sondern bildet selbst einen Kernaspekt der Fragestellung. Denn hier wird gefragt, ob es spezifisch osteuropäische Bildformeln gibt, d.h. solche, die das kulturelle Gedächtnis speziell des sowjetischen Raums bzw. der (ehemaligen) sowjetischen Einflusszone mitkonstituieren, und deren Entstehung und Produktivität wesentlich durch den kulturellen und politischen Kontext der Region mitbedingt sind? Es wird weiterhin gefragt, wie die Unterschiede, die Korrespondenzen und der Dialog zwischen den Bildgedächtnissen Ost- und Westeuropas und darüberhinaus aussehen? Und ob sich in der historischen Analyse eine Spezifik der Bildpolitik in Osteuropa bzw. im sowjetischen und postsowjetischen Raum ausmachen lässt? Welche historischen Wurzeln und welche Auswirkung sie auf die Entstehung und dauerhafte Wirksamkeit von Bildformeln hat? Bereits während des »Großen Vaterländischen Kriegs« – so zeigen einige Studien dieses Bandes – wurden die Grundlagen gelegt für die Erinnerungspolitik, die heute noch die stärkste Klammer der kollektiven Identität in Russland bildet, die aber in den sich inzwischen von ihrer sowjetischen Vergangenheit abgrenzenden Ländern zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzung geworden ist: die Erinnerungspolitik, die den Kampf gegen den Nationalsozialismus und den Sieg über Hitlerdeutschland v.a. seit den 1960er Jahren zur Grundlage der kollektiven Identität gemacht hat, wobei nicht der Rassismus der Nazis und der Genozid an den Juden im Zentrum standen und stehen, sondern das Leiden und die heroische Verteidigung des sowjetischen Volkes, welches als (multinationale) Einheit aufgefasst wurde. Bereits in den Kriegsjahren entstanden Pressebilder, deren Funktion über das bloße Dokumentieren hinausging: Sie sollten helfen, die grauenvollen Erfahrungen zu deuten, in einen geschichtlichen Horizont einzu-
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ordnen, und zugleich identifizierten und charakterisierten sie die Kontrahenten des Krieges als Täter und als Opfer und halfen letzteren, ihre Rolle als Verteidiger und Rächer zu internalisieren. Der vorliegende Band, dessen Beiträge sich auf Material aus unterschiedlichen Medien (zumeist Fotografie, Film, Text) und verschiedenen Künsten beziehen – in manchen Fällen auch aus der Literatur oder sogar aus der Plastik –, aber manchmal auch nichtkünstlerische dokumentierende Berichterstattung, gliedert sich in drei inhaltliche und systematisch definierte Teile: »Sowjetische Bildformeln – Formeln des Sowjetischen«, »(Osteuropäische) Bildformeln des Holocaust in der Spannung zwischen Dokument und Monument« und »Bildformeln zwischen Bild und Text – Instrumente der Konstruktion und Revision des kulturellen Gedächtnisses« Die unter der Überschrift Sowjetische Bildformeln – Formeln des Sowjetischen versammelte Gruppe von Texten beschäftigt sich mit Bildformeln, die entweder speziell zur symbolischen Konzeptualisierung der sowjetischen Identität und eines sowjetischen kulturellen Gedächtnisses entwickelt wurden oder aber in ihrer Verwendung im sowjetischen Kontext eine spezifische Adaption erfahren haben. Sylvia Sasse fragt in ihrem Beitrag, wie es dazu kam, dass das Bild eines theatralischen Reenactments zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution – Nikolaj Evreinovs »Erstürmung des Winterpalais’« – im kulturellen Gedächtnis der Sowjetunion, Russlands und der ganzen Welt zum kanonischen Dokument der Oktoberrevolution selbst werden konnte. Ludwig Jägers an Foucault anknüpfender Fragestellung folgend, zeigt Sasse, in welch komplexem Prozess der Remediatisierung die das Foto der theatralen Inszenierung nach und nach zu einem Dokument gemacht wurde: wie es in unterschiedlichen Kontexten – Geschichtsbüchern, Fotoreportagen etc. – immer wieder als Zeugnis des historischen Ereignisses dargestellt worden ist, wie die Darstellung durch Bildunterschriften, Kommentare, Zeugenaussagen, durch eine klassische Ekphrasis, aber auch durch Fotomanipulation, durch das Entfernen theatraler Hinweise, die eine Distanz schaffen könnten, und durch das Heranzoomen des Bildausschnitts als Dokument für die Erstürmung des Winterpalais präpariert wurde. Quer durch historische Darstellungen der Geschichte des Bolschewismus und der Sowjetmacht, aber auch des sowjetischen Theaters der 1920er Jahre verfolgt Sasse den Einsatz der Fotografie von Evreinovs Inszenierung und ihre jeweilige Kommentierung. Sie zeigt, wie durch partikulares, die
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Inszeniertheit vertuschendes Abfilmen eine nahsichtige Zeugenperspektive hergestellt wurde, die genau jene Evidenz schaffen sollte, die das Bild selbst nicht zeigen konnte. Sasse spricht in diesem Zusammenhang von Evidenzformeln, d.h. Formeln, die dem Foto einen dokumentarischen Charakter zuschreiben und – normativ – eine entsprechende Rezeption fordern. Aber bereits auch in der theatralen Inszenierung wurde auf die Erzeugung von Dokumentarizität geachtet: z.B. durch die Beteiligung von Zeitzeugen, die 1917 am Sturm auf das Winterpalais bereits teilgenommen hatten oder die damals als Personal der Kerenskij-Regierung im Winterpalais arbeiteten, an der Nachstellung der Erstürmung. Sie sollten das theatrale Ereignis, das somit das historische Ereignis substituieren sollte, beglaubigen. Die Besonderheit des Fotos von der Erstürmung des Winterpalais sieht Sasse darin, dass es hier nicht nur um die Dokumentwerdung mittels Evidenzerzeugung geht, sondern darum, dass der historisch dokumentarisierende Blick bereits im fotografierten Ereignis, der theatralen Inszenierung selbst angelegt war. Denn Evreinov erhielt einen staatlichen Auftrag zur Theatralisierung von Geschichte, aber er sollte etwas historisch-künstlerisch rekonstruieren, das es – jedenfalls als dokumentiertes historisches Ereignis – (noch) nicht gab, das vielmehr nur im politisch Imaginären existierte. Mit den Worten Joachim Paechs: Evreinov sollte eine »gültige Interpretation der Revolutionsereignisse mit den Mitteln des Theaters« schaffen (Paech 1974: 331). Was Evreinov macht, funktioniert – so Sasse – gewissermaßen analog zu dem, was der Regisseur und Theatertheoretiker an anderer Stelle als Theatertherapie konzipiert hat. Diese verstand Evreinov als acting cure, die hilft, durch Performation ein Ereignis, ein Erlebnis zu substituieren, das man persönlich zuvor nicht erfahren konnte. Mithilfe des Theaters sollten die Theaterzeugen so zu echten Zeitzeugen gemacht werden. So gelingt es Sasse erstens nachzuweisen, dass Evidenzeffekte weder abhängig von der Authentizität des Materials sind, noch davon, dass Verfahren und Inszenierungsbedingungen verborgen werden. Auch Kunst, die sich als solche zu erkennen gibt, kann Evidenz erzeugen. Zweitens zeigt sie, dass Realität vor Augen zu stellen, bei Evreinov nicht heißt, sich auf sie zu beziehen, sondern Reales durch das Theater zu schaffen. Evreinov glaubte an die wirklichkeitsstiftenden Effekte des Theaters, und die Rezeption hat ihm Recht gegeben: Mit seiner (re)konstruktiven Inszenierung der Erstürmung des Winterpalais schuf Evreinov die Bildformel der Oktoberrevolution. Juris Podnieks’ Mēs? (Hello, Do You Hear Us? in der BBC-Ausstrahlung 1991, Soviets in der amerikanischen Version, Wir? [My?] in der sowjetischen, 1989-
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1991) wird von Irina Sandomirskaja als letztes berühmtes Zitat einer von Dziga Vertov geprägten und für den sowjetischen Dokumentarfilm kanonischen Bildformel verstanden, deren Ziel es war, eine die Gesamtheit der Sowjetunion umfassende kollektive Identität zu suggerieren. Die Sowjetunion als »Einheit der Vielfalt« als Einheit »von... bis...« knüpfte an imperiale Einheitskonzepte an und modifizierte diese. Als neue Spielart der Karte, des karthographischen »von... bis...«, so Sandomirskajas These, begründete der Dokumentarfilm das Bild der Sowjetunion bzw. der sowjetischen Heimat geographisch. Vertovs »Kino-Auge« schuf dieses Bild konsequent. Was Sandomirskaja zeigt, sind die Kontinuität und die Transformationsstufen dieser Bildformel von Vertov über die Stalinära, die Brežnev-Zeit bis zur ausgehenden Perestrojka: Wie aus dem agitierenden Einheits-»Wir!« nach und nach eine normative Einheit in unendlicher Vielfalt und schließlich eine Frage »Wir?« wurde, die aber immer noch von jenem starken Glauben und einer starken Zukunftshoffnung getragen ist, wie sie am Anfang stand. Diese weniger durch die Einheit der Bilder als durch die Identität des semantischen Kerns geprägte Bildformel wird für Sandomirskaja gerade erst aus der historischen Distanz sichtbar, zu einem Zeitpunkt, als auch die letzte der beschriebenen Transformationsstufen bereits in die unwiederbringliche Vergangenheit des 20. Jahrhunderts entrückt ist. Mit der sie verbindenden Bildformel archivieren die Filme Dziga Vertovs, Sluckijs, Brauns’/Franks und Podnieks’ die Erinnerung an die geraubte Revolution und lassen sie als Bestandteil eines ebenso verlorenen Gedächtnisses erkennen. Alexander Schwarz interessiert sich für sowjetische und postsowjetische Bilder des Fahnenhissens als semiotische und rhetorische Akte der Ikonisierung und deren Kanonisierung. Im Anschluss an Cornelia Brink versteht Schwarz diese Bilder als »säkuläre Ikonen« (Brink 2000), womit er sich von dem »eher für leitmotivische Standbilder und Fernsehsequenzen« geeigneten Begriff »Schlüsselbilder« distanziert. Seine Palette reicht von der Revolution bis zum Pionierlager, vom Nordpol über den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg bis zur Annexion der Krim 2014. Anhand von Beispielen sowohl aus der Fotografie als auch aus dem Film (Dokumentar- und Spielfilm) geht Schwarz dem Prozess der Kanonisierung des Flaggehissens als Formel der Identifikation und/oder Inbesitznahme nach, deren Realisierungen zu medialen Ikonen mit starker affektiver und identifikatorischer Wirkung werden konnten. Zuerst, so Schwarz, hat der sensationelle Erfolg des
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Bronenosec Potëmkin diesen Bildakt kodizifiert, kanonisiert und den Symbolträger aufgewertet. Mithilfe der Bildformel des Flaggehissens werden – territoriale oder politische – Herrschaftsansprüche erhoben und in der Dokumentation mithilfe authentisierender Medien (Fotografie und Film) diese Ermächtigungen zugleich als heroische Taten und historische Ereignisse besiegelt. Ihre Verbreitung und Rezeption zielt auf patriotische Identifikation und Verehrung oder, nach außen, auf Abschreckung. Schwarz geht es darum, den Prozess der Ikonisierung in seiner Mehrstufigkeit von Repräsentation und Symbolisierung zur Kanonisierung und politischen Instrumentalisierung anhand von Beispielen – wie z.B. der filmisch vielfach festgehaltenen Inszenierung und Repräsentation des morgendlichen Fahnenappells im Pionierlager Artek nahe Jalta auf der Krim – nachzuvollziehen. Am Beispiel der sowjetischen und postsowjetischen ›Ikonen‹ der Nordpoleroberung – das Flaggehissen im Rahmen der Expedition »Nordpol 1« (»SP 1«), 1937, und der privat finanzierten U-Boot-Geologenexpedition von 2007 – zeigt Schwarz, dass das Flaggehissen nicht nur der Sichtbarmachung des an sich unsichtbaren und auf bewegten Eisschollen nicht festzumachenden nördlichen Scheitelpunkts der Meridiane dient, sondern immer wieder auch der Beglaubigung und Affirmation der als symbolische auch realen heldenhaften Inbesitznahme dieses Punktes – dem oft auch die Bedeutung des Gipfels der Erde zugeschrieben wurde. Das vielleicht berühmteste Bild des Zweiten Weltkriegs, Evgenij Chaldejs »Hissen der roten Fahne auf dem Reichstag«, dessen Nachgestelltheit freilich bereits vielfach diskutiert wurde, inszeniert mithilfe der Bildformel metonymisch den Sieg über den Faschismus als heroische Tat der Sowjetarmee. Auch hier ist die Funktion der Dokumentation verbunden mit der symbolischen Konstruktion des Ereignisses als ›Gipfelsturm‹ sowie mit der Agitation patriotischen Heldentums. Anhand des Beispiels der Dokumentation der Krimannexion in den russischen Medien zeigt Schwarz wie das Bild des Fahnehissens auch heute zur Agitformel wird, »die die zugrundeliegende Grenzüberschreitung als nicht diskutierbar und irreversibel darstellt.« Gerade mithilfe der Bildformel werden historische Fakten geschaffen, die manchmal ihrerseits durch Gegenbilder bekämpft werden. Z.B. wenn ein ukrainischer Aktivist mitten in der russischen Hauptstadt, auf einem der Moskauer Stalinhochhäuser die ukrainische Fahne und den Sowjetstern in den ukrainischen Landesfarben bemalt. Obwohl die Bildformel des Fahnehissens global mit ähnlichen Konnotationen zum Einsatz kommt, so wird in Alexander Schwarz’ Beitrag doch die
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kontinuierlich hohe Virulenz dieser Formel im sowjetischen und postsowjetischen Kontext deutlich. Im Beitrag zu Bildformeln des Hasses und der Gewalt in der sowjetischen Literatur und Bild- bzw. Fotokunst des Zweiten Weltkriegs geht es Evgenij Dobrenko darum, eine Wende in der an die Massen adressierten sowjetischen Propaganda nachzuzeichnen: von der »ideologischen und visuellen Sterilität der Vorkriegskunst« zur Inszenierung von Gewalt, Grausamkeit und Zerstörung zum Zwecke der unmittelbaren emotionalen Wirkung und Agitation. »Die Generierung grausamer Bilder von Tod und Zerstörung wurde zu einer charakteristischen ›künstlerischen Strategie‹ der Kriegszeit« – schreibt Dobrenko. Der Aufsatz argumentiert an Text- und Bildmaterial gleichermaßen, zeigt die Entsprechung zwischen beiden und berücksichtigt neben Pressetexten und -fotos auch fiktionale Texte, Spielfilme und Gemälde von symbolischem Gehalt. Es geht um den Kriegsdiskurs der Epoche, dessen radikalen und agitierenden Charakter Dobrenko dem durch Überflutung mit Gewaltbildern abgestumpften heutigen Leser klarzumachen versucht. Naturalistisch und expressionistisch wirkende Szenen von Gewalt und Tod waren als Aufrufe zur Handlung intendiert. Mit durch Grausamkeit überraschenden, aber ikonographisch zugleich gefestigten, kodierten Bildern resp. Bildformeln funktionierte das – so zeigt Dobrenko – noch effektiver. Statt den eher abstrakten »unvergleichlichen Heldentaten« der Vorkriegszeit wurden in der Kriegszeit Helden als Opfer in krasser Entstellung und Rächer kodifiziert. Dobrenko bringt als berühmtes Beispiel die »erschütternde Aufnahme des Journalisten Sergej Strunnikov von der hingerichteten Zoja Kosmodem’janskaja in der Zeitung Pravda«, die ihren toten in den Schnee gedrückten Körper aus schockierender Nähe zeigt und dadurch den Betrachter direkt in das Ereignis hineinzieht. Deutlicher könnte die Differenz zur Frauenikonographie des Sozrealismus der 1930er Jahre nicht sein: dort – abstrakte Idealisierung einer fast geschlechtslosen Vitalität, hier – ein hilfloser, vom Leiden gezeichneter toter Frauenkörper, der neben religiösen Opfergedanken und erotischen Konnotationen v.a. auch Rachegelüste weckt. Bilder, die in maximaler Drastik die unvorstellbare Grausamkeit des Krieges zeigen, durchziehen die gesamte sowjetische Lyrik und Prosa, den Film und die Pressefotografie der Kriegszeit. Dobrenko spricht von einer »Kunst des Hasses«, die im Stalinismus der Kriegszeit aufkam, aber auch heute noch (oder: wieder) relevant sei. Unter der Überschrift (Osteuropäische) Bildformeln des Holocaust in der Spannung zwischen Dokument und Monument sind Beiträge versammelt, die
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zum einen die Spezifik des osteuropäischen, genauer: des sowjetischen und polnischen Holocaust-Bildgedächtnisses untersuchen. Ausgangspunkte bilden zum einen die Tatsache, dass die Dokumentation des Holocaust bereits 1941 in der Sowjetunion begann, und zum anderen der Umstand, dass die sowjetische Darstellung sich durch das politische Gebot der ethnischen Nicht-Spezifizierung der dokumentierten Opfer, die einfach als »sowjetisches Volk« gesehen werden sollten, deutlich unterschied. Die Beiträge fragen nach der Spezifik der Bildformeln, die zur Darstellung und symbolischen Konzeptualisierung des Massenmords und des Leids gefunden wurden und befassen sich auch mit deren grenzüberschreitender, weltweiter Rezeption. Sie zeigen, dass die Holocaust-Dokumentation der sowjetischen Einflusssphäre sich in ihrer unmittelbaren Wirkungsintention grundlegend von den zu Kriegsende entstandenen Dokumentationen der Alliierten unterschied, insofern sie nicht nur Dokument der Befreiung, sondern auch Aufruf zur Vergeltungstat sein wollte. Und sie weisen nach, dass die in diesen Dokumentationen etablierten Bilder im Lauf der Rezeption zu international immer wieder zitierten Bildformeln wurden. Dabei, so wird gezeigt, kam es immer wieder zu wesentlichen Transformationen ihrer Semantik, wodurch sie oft gar nicht mehr auf den Holocaust bezogen, sondern verallgemeinert bzw. universalisiert wurden. Ein Beitrag beschäftigt sich mit der postmemorialen Reflexion der Konstitution der Holocaust-Bildformeln im nationalen und transnationalen kulturellen Gedächtnis. David Shneer diskutiert in seinem Beitrag eines der berühmtesten sowjetischen Kriegsfotos. Es entstammt einem zweiseitigen Foto-Essay des Fotografen Dmitrij Bal’termanc, der 1942 in der Zeitschrift Ogonëk publiziert wurde. Shneer zeigt, dass Dmitrij Bal’termanc’ unter dem Titel »Leid« überliefertes Bild, gerade weil es ikonographisch mit der Tradition der kriegskritischen Schlachtfelddarstellungen korrespondiert, zu einer Ikone des sowjetischen und auch des internationalen Kriegsgedächtnisses werden konnte. Zugleich aber geht Shneer der Frage nach, warum dieses berühmte Bild »auch lange nach dem Ende der Sowjetunion keinen Eingang in das ikonografische Pantheon des Holocaust fand«, obwohl seit seinem Entstehen Anfang 1942 und ganz sicherlich seit den ausführlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte bekannt ist, dass es den Mord an 7000 Juden Ende 1941 auf der Krim in der Nähe von Kerč dokumentiert. Im innersowjetischen Kontext hatte dies klare Ursachen: Zum einen ließ die während und insbesondere nach dem Krieg antisemitisch gefärbte Politik unter Stalin eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Judenmord nicht zu, und zum anderen war es konstitutiv für die sowjetische Kriegsdarstellung und -reflexion, nicht zwischen Opfergruppen zu differenzieren, sondern das sowjetische Volk insge-
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samt als Opfer des »Großen Vaterländischen Krieges« zu modellieren. Aber warum wurde Bal’termanc’ Fotografie auch im Westen nicht als Holocaustbild rezipiert? Shneer findet zwei Gründe dafür: Zum einen die vielfache Dekontextualisierung in Verlauf der Rezeption; und zum anderen die Tatsache, dass sich die Ästhetik der Fotografie einer partikularen Leseweise widersetzt. Indem Bal’termanc eine »Pathosformel« fand bzw. sich einer solchen bediente und auch durch die verschiedenen Titel, die er dem Bild immer wieder gab, trug der Fotograf mit dazu bei, dass seine Fotografie als zeitlose Ikone der Kriegsleiden rezipiert werden konnte. Shneer zeigt, dass diese Rezeption durch Bal’termanc’ ästhetische Bezugnahme auf die Tradition der »Pathosformeln der Schlacht« (Bronfen) möglich wurde: auf Peter Paul Rubens’ Die Konsequenzen des Krieges und Francisco Goyas Die Schrecken des Krieges bis zu den Fotografien des 20. Jahrhunderts, die das Bild einer vor Leid wahnsinnig gewordenen Frau mit ausgebreiteten Armen nutzen, um die Schrecken des Krieges wirkungsvoll zu vermitteln, aber – mithilfe der Formel – doch emotional verarbeitbar darzustellen. Wie viele der Kerč’-Fotografen (Turovskij, Ancelovič oder Redkin) greift Bal’termanc auf die christologische Formel der trauernd leidenden Mutter zurück und erhöht damit die Wirkungskraft des Bildes zu Lasten seiner Authentizität. Denn Bal’termanc wusste auch, dass zahllose Frauen und Kinder unter den Opfern waren, aber seine Fotografien zeigen fast nur tote Männer und trauernde Frauen. Shneer vollzieht nach, wie Bal’termanc’ Fotografie auf ihrer Wanderung durch die sowjetische und dann die europäische Presse immer mehr und immer anders dekontextualisiert wurde, so dass manchmal nicht nur die Tatsache, dass es sich um einen Massenmord an Juden handelte, verschwand, sondern auch die, dass die Opfer Bürger der kommunistischen Sowjetunion waren. Es war Bal’termanc’ Bildästhetik selbst, die diesen Rezeptionsbedürfnissen entgegenkam, denn sie dekontextualisierte, rekontextualisierte und verallgemeinerte in einer sehr ›passenden‹ Weise, wie Shneer schreibt. Maxim Shrayer untersucht in seinem Beitrag ein Gedicht, welches dasselbe Ereignis zum Gegenstand hat wie Bal’termanc Fotografie und auf das sich der Titel der Fotografie, »Gore« – »Leid«, auch zitierend bezieht: Das berühmte ShoahGedicht des Dichters und Journalisten, Il’ja Sel’vinskij, »Ich habe das gesehen« (»Ja ėto videl«), der auf der Krim für die Pravda unterwegs war. Als Literaturhistoriker begibt Shrayer sich auf die Suche nach den Spuren der Entstehung. Shrayer rekonstruiert, was Sel’vinskij, der zu diesem frühen Zeitpunkt der erste und allem Anschein nach einzige landesweit bekannte poetische Zeuge der Sho-
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ah auf der Krim war, tatsächlich gesehen hat, mit welchen Tatzeugen er unter Umständen gesprochen hat usw. »Ja ėto videl« – »Ich habe das gesehen« mit dieser Formel des Bezeugens, die nicht nur zeigend eine Beschreibung einleitet, sondern primär das »GesehenHaben« bezeugt, tritt Sel’vinskij gleichzeitig als Dichter und als Zeuge auf, der an den Ort des Verbrechens gekommen ist, um es mit eigenen Augen zu sehen und literarisch zu dokumentieren. Wenn, wie Shrayer zeigt, Sel’vinskij dabei auf einen Topos der neuhebräischen Dichtung zurückgreift, so inszeniert er den Augenzeugen als Träger der jüdischen Kulturtradition. Das Poem »Beir Gagarego« (wörtlich: »In der Stadt des Gemetzels«, 1904) des neuhebräischen Dichters Chaim Nachman Bjalik über das Pogrom von Kišinev, welches in der russischen Übersetzung von Vladimir (Zeev) Žabotinskij (1911) den Titel »Die Sage vom Pogrom« (»Skazanie o pogrome«) erhielt, rief in seinen Versen ebenfalls zum Bezeugen als der zentralen Aufgabe der Überlebenden auf. Dort wie bei Sel’vinskij verknüpft sich die Formel des Bezeugens an das Eingeständnis der Unmöglichkeit, passende Worte für das Gesehene zu finden. Für Shrayer ist es keine Frage, dass die Publikation jüdisch-russischer Gedichte zwischen 1944 und 1946, in denen die Vernichtung des jüdischen Volkes, sowohl auf den besetzten sowjetischen Territorien als auch in den Todeslagern des okkupierten Polens, offen und unverblümt zur Sprache gebracht wird – nach Sel’vinskijs Gedichten waren dies v.a. ein sechsteiliger Gedichtzyklus von Il’ja Ėrenburg (Novyj mir, Januar 1945), Antokol’skijs »Vernichtungslager« (Znamja, Oktober 1945) und Ozerovs »Babij Jar« (Oktjabr’, März/April 1946) –, wesentlich mitbeigetragen hat zur Befreiung der Vernichtungslager und ihrer nachfolgenden Dokumentation. 1947 jedoch fand dieses literarische Dokumentieren in der Sowjetunion ein jähes Ende, als die Veröffentlichung von Il’ja Ėrenburgs und Vasilij Grossmans Schwarzbuch von offizieller Seite zuerst hinausgezögert und schließlich verboten wurde. Shrayer weist darauf hin, dass das Wort »Jude«, das Sel’vinskij in der ursprünglichen Fassung des Gedichts zweimal benutzt hatte, in späteren Fassungen verschwindet und durch »Semiten« ersetzt wird. Für den Zusammenhang von Undarstellbarkeit und Bildformeln im west-osteuropäischen Vergleich interessiert sich der Beitrag von Jeremy Hicks. Undarstellbarkeit ist ein durchgängiger Topos der Holocaust-Darstellung, in der Fotografie wie in der Literatur. Aber zugleich, so stellt Hicks im Anschluss an Studien von Georges Didi-Hubermann (2008) und Libby Saxton (2008) fest, spielen Bilder auch bei der Modellierung des Holocaust-Gedächtnisses eine zentrale Rolle. Und gerade im Fall des Holocaust lässt sich »eine auffällige Wiederho-
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lung stets derselben sehr wenigen Bilder« feststellen, »die immer und immer wieder ikonisch und emblematisch zur Bezeichnung dieses Ereignisses verwendet wurden« (so Marianne Hirsch 2012: 106). In der bisherigen Forschung zur bildlichen Darstellung des Holocaust, standen fast ausschließlich westliche Beispiele im Mittelpunkt. Mithilfe der Gegenüberstellung eines der emblematischsten westlichen Holocaustbilder – der Fotografie eines kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto mit erhobenen Händen, aufgenommen von einem Mitglied der SS für den sogenannten Stroop-Bericht, der die Liquidierung des Warschauer Ghettos feiert – mit einem sowjetischen will Hicks zeigen, dass die sowjetische Visualisierung anders kodiert ist, mit einer anderen Bildsprache arbeitet, andere Bildformeln findet für die Aussagen, die getroffen und Wirkziele, die erreicht werden sollen. Das Bild des Jungen im Warschauer Ghetto hat deshalb so weite Verbreitung gefunden, weil – so haben davor auch Hirsch und Raskin (vgl. Hirsch 2002; Raskin 2004: 19) vermutet – es den Betrachter nicht quält, ihn nicht zum Wegschauen zwingt und daher auch immer wieder angeschaut werden kann. Außerdem war es – ähnlich wie im Fall der von David Shneer analysierten Fotografie von Dmitrij Bal’termanc – erlaubte auch hier die stetige Dekontextualisierung das Vergessen des Ursprungs. Die Rezeption dieser Fotografie hat sie zu einer echten Ikone des Holocaust gemacht: Speziell auch durch das Zitat in Alain Resnais’ halbdokumentarischem Film Nacht und Nebel (Nuit et brouillard, 1956) – in dem auch die von Saryusz-Wolska in diesem Band besprochenen Filmbilder von Jakubowska eingefügt wurden – und Abdrucke im Life Magazine (1960) und in Ingmar Bergmans Persona (1966) (vgl. Raskin 2004: 105). Später diente das Bild sogar zur Propagierung des durch die Israelis verursachten Leids der Palästinenser. Hicks’ sowjetisches Beispiel stammt aus Aleksandr Dovženkos Dokumentarfilm Der Kampf um unsere sowjetische Ukraine (Bitva za našu Sovetskuju Ukrainu) (1943), der einen Abschnitt über die Befreiung Charkivs und die Enthüllung der von den Nazis in dieser Stadt verübten Kriegsverbrechen beinhaltet. Es zeigt zunächst einen verwesenden Frauenschädel in einem Massengrab, der den Zuschauer aus seinen leeren Augenhöhlen direkt anschaut. Dovženkos Filmbild wirkt extrem beklemmend und erschütternd. Aber Hicks möchte die sowjetische Strategie nicht einfach als Propaganda abtun und fragt daher genauer nach ihrer kommunikativen Struktur. Dabei macht er folgende interessante Beobachtung: Während das Bild des Jungen im Warschauer Ghetto (stellvertretend für andere westliche Holocaustbilder) ein Täterbild ist, das ursprünglich nicht zur Aufdeckung, sondern unter dem Titel Mit Gewalt aus den Bunkern hervorgeholt zur
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Legitimierung des Holocaust gedacht war, und dessen kommunikatives Dilemma heute darin besteht, dass der Fotograf oder Kameramann und somit auch der Betrachter eingeladen sind, an der Erniedrigung des Opfers zu partizipieren, es also eine emotionale Kluft zwischen den Fotografierten und den Fotografierenden gibt, versetzen uns die sowjetischen Bilder in die Position von jemandem, der den Hinterbliebenen oder Verstorbenen nahe steht, eines Landsmanns, der aufgerufen ist, den Verlust zu vergelten. Die sowjetischen Bilder wirken, indem sie die Massengräber als tiefe ›Wunden‹ zeigen und sowjetische Zuschauer gezielt adressieren, ihr Bewusstsein prägen und ihr kulturelles Gedächtnis konstruieren. Dieser sowjetischen Konstruktion eines nationalen Opfer- und MärtyrerGedächtnisses, welches zugleich auch ein Aufruf zur Handlung, zur Vergeltung ist, stellt Hicks die Konstruktionen der Westeuropäer, Israelis und Amerikaner gegenüber, die Bilder der Lagerbefreiungen durch die Amerikaner oder Briten kanonisieren, worin die Opferrolle der Juden betont wird, aber auch der Beitrag der Demokratien zum Sturz des Nationalsozialismus, darin bestehend, den Verbrechen des Regimes ein Ende gesetzt und in Europa ein Zeitalter der Menschenrechte und der Demokratie eingeläutet zu haben. Da es, so Hicks’ Fazit, kein allgemeingültiges visuelles Holocaustgedächtnis gibt, plädiert Hicks für die gegenseitige Kenntnisnahme der Differenz und die Integration der jeweils anderen Bilder ins eigene kulturelle Gedächtnis. Magdalena Saryusz-Wolska setzt sich in ihrem Beitrag zu Wanda Jakubowskas Holocaust-Spielfilm Die letzte Etappe (Polen 1947) mit dem Paradox auseinander, dass gerade der weltweit erste – und als solcher von Anfang an höchst umstrittene – Spielfilm über den Holocaust zum Reservoir für Bildformeln wurde, die europa- und weltweit zum Grundbestand des visuellen HolocaustGedächtnisses gehören. Und das obwohl schon Jakubowskas Projekt und später auch der Film selbst Gegenstand heißer Diskussionen waren. Jakubowska erhob mit ihrem Spielfilm dokumentarischen Anspruch und erhärtete diesen mit Argumenten, die zunächst die Produktion betrafen. Sie war selbst Auschwitz- und Ravensbrücküberlebende, d.h. sie arbeitete als Zeugin. Und sie gab an, den Film, insbesondere auch die Figuren nach authentischen Vorbildern konstruiert zu haben, was – so Saryusz-Wolska – später überprüft und weitgehend bestätigt werden konnte. Eine weitere Authentizitätsdimension wurde dadurch in den Film gebracht, dass er an authentischen Schauplätzen wie z.B. Auschwitz gedreht wurde. Die echten Lager wurden für diesen Film als Kulissen z.T. wieder aufgebaut. Vergleiche mit den atrocity Bildern der Alliierten einerseits oder mit dem 1944 von Filmtruppen der polnischen Armee gedrehten Dokumentarfilm Majdanek:
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Friedhof Europas (pl. Majdanek: cmentarzysko Europy) bestätigen ebenfalls die Realitätsnähe von Jakubowskas Aufnahmen und zeigen zugleich, dass Jakubowskas Film im Grunde keine neuen Tatsachen ans Licht bringt. Während die DEFA eine Kooperation eine Kooperation wegen Geschmacklosigkeit ablehnte, erhielt Jakubowska bei der Vorbereitung und Produktion des Films von sowjetischen Kollegen Unterstützung, was neben der politischen Einstellung der Regisseurin zum einen mit der politischen Konzeptualisierung des Holocaust und zum anderen mit der Ästhetik des Films zu tun hat. Es harmoniert weniger mit der polnischen Gedächtnispolitik, die Auschwitz bis in die 2000er Jahre hinein als »Ort polnischen Leids« aufgefasst hat, sondern v.a. mit der sowjetischen Gedächtnispolitik, dass Auschwitz von Jakubowska als Ort der allgemeinmenschlichen Tragödie und nicht als ein Symbol für die Vernichtung der Juden dargestellt wird. Ohne die Tatsache, dass der Massenmord insbesondere an Juden vollzogen wurde, auszuklammern, ist das in Die letzte Etappe dargestellte Opferkollektiv dezidiert international. Ganz bewusst arbeitet der Film mit Vielsprachigkeit und klammert zugleich nationale Zugehörigkeiten aus seinem Wertesystem, das rein politisch funktioniert, aus. Filmästhetisch und -narrativ weist der Film ein Hybrid aus Avantgarde und Sozrealismus. Der Ejzenštejnschüler Boris Monastyrskij mag als Kameramann dazu beigetragen haben, dass der in der Sowjetunion stark rezipierte ungarischfranzösische Montagetheoretiker Bela Balasz Jakubowskas Film als Pionierleistung der filmischen Holocaust-Darstellung lobte, und die spezifische Kombination der auf Einzelbilder fokussierten Montagetechnik mit einem auf illusionistische Authentizitätseffekte ausgerichtetem ›Realismus‹ mag der Grund für die enorme Wirkungsmacht dieses Films sein. Was den Realismus des Films betrifft, so manifestiert er sich v.a. in der ›Geschichte‹, die, reich an Details des sozialen Lebens im Lager, hier doch erzählt wird: die Geschichte der polnischen Jüdin und Kommunistin, Marta Weiss, die als Dolmetscherin beim Lagerkommandant von dessen Liquidierungsplänen erfährt und sie torpedieren will. Dass viele der Bilder zugleich metaphorischen und metonymischen Charakter haben, ist bereits den ersten Zuschauern aufgefallen, ebenso die Tatsache, dass Jakubowska bei der Darstellung des Lagers von atrocity-Momenten eher absieht. Man hat dem Film auch Ästhetisierung vorgeworfen. Aber gerade diese und der Symbolcharakter einzelner Bilder mögen dazu beigetragen haben, dass zahlreiche Einzelbilder kanonisiert wurden und als Garanten für Authentizität in der bildlichen Darstellung des Holocaust galten: die Tore von Auschwitz, brüllende SS-Männer, Stacheldraht vor Himmelhintergrund, ein Muselmann im Stacheldraht, ein Berg von Haaren, das Sortieren von Wertgegenständen, Gefangene, die in gleichmäßigen Reihen auf dem Appellplatz stehen, Kinder, die ins Gas
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gehen oder die Jagd auf zufällig ausgewählte Häftlinge. Bilder aus Jakubowskas Film wurden zu Bildformeln der Holocaust-Darstellung und sind es bis heute geblieben. Was Jeremy Hicks in Bezug auf die westlichen Holocaust-Bildformeln – hier: das Bild des Jungen aus dem Warschauer Ghetto – beobachtet hatte: dass nämlich die durch Bilder von leidenden Kindern evozierte übermäßig starke emotionale Wirkung dazu führt, dass der Rezipient die Distanz und damit die Bedingung der adäquaten – nämlich kontextbezogenen – Reflexion verliert, erkennt auch Magdalena Marszalek in ihren Analysen der dominanten Gedächtnisstrategie der Gegenwart: eine Tendenz zur emotionalen Vergegenwärtigung, die kritische Metareflexion behindert. Indirekt geht es Marszalek dabei auch um die Parallele und den Dialog zwischen Literatur und Fotografie bzw. Bildkunst, die auch in den Aufsätzen von Evgenij Dobrenko und Susi K. Frank relevant ist. Marszalek untersucht die fotografische Installation Zacisze des polnischen Fotokünstlers Tadeusz Rolke, die im Herbst 2010 im Rahmen des Festivals der jüdischen Kultur in Warschau ausgestellt wurde. Die Installation bestand aus einer großen (2,5 x 2 m) Schwarz-Weiß-Fotografie, die in einem kleinen Raum platziert wurde. Auf der Fotografie war eine auf den Gleisen liegende, knapp bekleidete, bewusstlose bzw. tote Frau zu sehen. Ein Poster am Eingang enthielt einen einführenden Text mit einer Kindheitserinnerung und ein kleines Foto von Tadeusz Rolke aus dem Jahre 1942. Rolke nannte das nachgestellte Erinnerungsbild, das auf einem toten Gleis in Warschau aufgenommen wurde, »Versuch der Rekonstruktion meiner Erfahrung«. Rolkes Eigenkommentar folgend, nennt Marszalek dieses Werk ein »fotografisches Reenactment«, das – wie zahlreiche vergleichbare Projekte – zu einer ganzen Strömung der gegenwärtigen Reenactment-Kunst gerechnet werden kann. Das Besondere an Rolkes Werk, so Marszalek, besteht aber darin, keine ReInszenierung einer medialen Darstellung zu sein, sondern ein inneres Bild im performativen und fotografischen Akt zu ›veräußerlichen‹, sichtbar zu machen und auszustellen. Auch wenn es sich dabei um eine subjektive Erinnerung handelt, die auf ein singuläres Ereignis und seine Augenzeugenschaft rekurriert, greift das fotografische Bild Rolkes ikonografisch ein Motiv auf, das im polnischen kulturellen Gedächtnis vor allem in der literarischen Überlieferung präsent ist. Als visuelle Verdichtung eines für das polnische Holocaust-Gedächtnis zentralen Themas in einem geradezu emblematischen Bild erscheint Rolkes Werk, wenn man seine Spuren zurückverfolgt in eine berühmte Erzählung der Pionierin der polnischen Holocaust-Literatur, Zofia Nałkowska. In »Am Bahndamm« liegt eine jüdische Frau, die beim Sprung aus dem Zug ins Vernichtungslager ange-
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schossen wurde, einen Tag lang verletzt auf den Gleisen, wobei Dorfbewohner sie entdecken, aber nicht helfen. Am Abend wird die Frau von einem jungen Mann, der ihr zuvor Wodka und Zigaretten besorgt hatte, erschossen. Die Verschränkung der Erzählerstimme mit der eines Zeugen deutet – so Marszalek – darauf hin, dass es hier wesentlich um eine Reflexion des prekären Verhaltens der Augenzeugen geht. Dies zeigte auch die erste Visualisierung des Sujets, eine Verfilmung von Andrzej Brzozowski aus dem Jahr 1963, die – obwohl die Erzählung die ganze Zeit zum Schulkanon gehörte – in Polen 28 Jahre lang wegen der Drastik der Bilder verboten war. In der fotografischen Aufnahme seiner performativen Nachstellung durch Tadeusz Rolkes wird – so Marszalek – das von Nalkowskas Erzählung und ihrer Verfilmung durch Brzozowski modellierte Erinnerungsbild ikonisch. Das »fotografische Reenactment« macht das Sujet in seiner semantischen Essenz wörtlich »evident«, stellt diese »vor Augen«, aber zugleich – fügt Marszalek hinzu – reflektiert dieses Bild als Inszenierung Evidenz als Verfahren, indem es die Bildformel sichtbar und sich selbst als postmemoriales Trugbild zu erkennen gibt. Damit wiederum trägt Rolke zur Reflexion einer Praxis bei, die, wie Marszalek erklärt, gegenwärtig eine enorme Konjunktur in Polen erfährt: populäre Reenactments, die vor allem auf das affektive Nacherleben setzen und (immer) weniger auf das intellektuelle Zeugnis und dabei bestrebt sind, in der Vergegenwärtigung die zeitliche Distanz aufzuheben. In der dritten Abteilung, Bildformeln zwischen Bild und Text – Instrumente der Konstruktion und Revision des kulturellen Gedächtnisses, sind Beiträge versammelt, die sich anhand von Material aus verschiedenen historischen Epochen, Künsten und nationalen Kontexten mit dem Aspekt der (inter)medialen, aber auch der inhaltlichen und symbolisch-funktionalen Reflexion von Bildformeln und dem ihnen eignenden Potential an Selbstreflexivität befassen. Um eine Auslotung der verschiedenen Dimensionen des Begriffs »Pathosformel« kümmert sich der Beitrag von Susi K. Frank, dessen Anliegen es zugleich ist, auf eine bislang kaum beachtete Pathosformel in der Tradition der europäischen Kriegsdarstellung aufmerksam zu machen: die »tote Mutter mit lebendigem Kind«. In einer Rekapitulation des Forschungsstands werden zunächst die semantische, die wirkungsästhetische, die pragmatische und die (inter)mediale Dimension des von Aby Warburg 1905 in Umlauf gebrachten Begriffs erläutert. Von Getrud Bing, Warburgs Mitarbeiterin, bis Sigrid Weigel und Martin Treml reicht
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die Reihe derer, die »Pathosformel« im Kontext von Bild-Text-Relationen erörtert haben. Als besonders relevant für die hier zu untersuchende Pathosformel erweist sich Horst Bredekamps Analyse der energetisch-affektökonomischen Dimension von Warburgs Begriff, die gezeigt hat, dass Pathosformeln oft dazu dienen, traumatische bzw. emotional und rational schwer zu verkraftende Ereignisse mithilfe einer ikonographisch kodifizierten Formel handhabbar und erzählbar zu machen und so in den Horizont des kulturellen Gedächtnisses zu integrieren. Dies ist für die seit der Antike als Formel zur Darstellung der Schrecken des Krieges verwendete Pathosformel »tote Mutter« besonders wichtig. Im Hauptteil des Aufsatzes geht es darum, anhand von historischen und kontextuellen Varianten das angesprochene Motiv als Pathosformel mit einem formalen und einem semantischen Kernbestand zu erweisen und zu analysieren. Dabei zeigt sich bei fast allen Beispielen eine spezifische (Inter)medialitätsreflexivität. In der Beobachtung des Wanderns der Pathosformeln zwischen Bildern und Texten wird deutlich, dass die Pathosformel »tote Mutter« meist in besonderer Weise die mittels Visualisierung auf Evidenz abzielende Pathosstrategie reflektiert und ihre Grenzen auslotet. Im Unterschied zu den anderen hat dieser Beitrag keinen ausgeprägten Osteuropa-Schwerpunkt, auch wenn ein Großteil der exemplarisch ausgewählten Beispiele aus Osteuropa, genauer: der russischen Kunst und Literatur stammt. Dennoch enthält er zwei implizite Thesen zur osteuropäischen (russischen) Rezeption der Pathosformel »tote Mutter«: Erstens macht die Zusammenstellung der Beispiele deutlich, dass diese auf die antike Theorie der Malerei (Plinius) zurückgehende Formel europäisches Gemeingut ist, an welchem osteuropäische Kulturen gleichermaßen partizipieren. Und zweitens weisen die erwähnten sowjetischen Beispiele eine Differenzqualität auf, welche in anderen Beiträgen dieses Bandes als typisch für die sowjetische Bildpolitik herausgearbeitet wird: eine agitierende, zum Handeln – im konkreten Fall zur Vergeltung – aufrufende Qualität. Tomáš Pospiszyl interessiert sich in seinem Beitrag für einen slowakischen Künstler, Július Koller, dessen umfangreiche und schwer einzuordnende Collagensammlung er als Archivkunst beschreibt. Man könne Kollers Werk, so Pospiszyl, in seinen Verfahren und seiner Intention nach mit Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas vergleichen, welcher Warburgs wichtigstes Instrument der Bestimmung von Pathosformeln in der europäischen Kunst war. Indem Koller sich jedoch im Unterschied zu Warburg nicht primär um einzelne sich wiederholende Elemente oder Formeln der versammelten Bilder, sondern um die ordnend-
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kompositorische Qualität und Macht der Sammlung kümmert, hebt er ein Moment hervor, das in Warburgs Konzept der Pathosformel unberücksichtigt blieb. Pospiszyl zeigt Kollers Archiv als einen Versuch, das ganze Universum von Bildern und Texten, die nicht nur das, was wir darauf sehen, beschreiben und dokumentieren, sondern die vor allem durch ihre Existenz und wirksame Distribution unsere Vorstellung von der Welt konstituieren, physisch zusammenzutragen. Inhaltlich hat Kollers Archiv starke Bezüge zur Kulturgeschichte Osteuropas und der Slowakei. Das Archiv enthält zahlreiche Verweise auf die slawischen Wiedergeburtsbewegungen bis hin zum Nationalismus. Aber Koller beschränkt sich in seinen Zusammenstellungen nicht auf wissenschaftlich erwiesene Zusammenhänge, sondern mutmaßt und erfindet – gleichsam als Geopoetologe – aus festgestellten lautlichen oder ikonographischen Äquivalenzen neue, höchst unwahrscheinliche, phantastisch anmutende wie z.B. zwischen dem spanischen und portugiesischen Wort »costa« und dem slawischen Deminutiv des Vornamens »Konstantin«: »Kostja«. Mit seinen Collagen suggeriert, ja – so Pospiszyl – generiert er eine globale Kontinuität und Verflechtung von Themen und Motiven, die wiederum stark an Warburgs Atlas gemahnt. Pospiszyl meint, dass Koller mit seiner Geste des kreativen Kulturschaffens eine wichtige Dimension der slawischen, genauer slowakischen Nationalbewegung akzentuiert: die Möglichkeit, in selbstbestimmten, performativen, mystifikatorischen Akten kulturelle Fakten wie z.B. eine Nationalkultur mit ihrer erfundenen Geschichte zu schaffen. Kollers Sammeln zitiert gewissermaßen die ›archivarische‹ Tätigkeit der Gründungsväter der Nationalbewegung, Ján Kollár (1793-1852) oder Ľudovít Štúr (1815-1856) und betont damit den kreativkünstlerischen Charakter von deren als rein historiographisch ausgegebenem Schaffen. Und Koller weist damit auch auf die nachhaltige Wirkung und die Kontinuität der Verfahren der Gründungsväter über die Epochen hinweg bis zu den Avantgarden und dem Konzeptualismus des 20. Jahrhunderts hin. Indem er die Prinzipien der nationalen Wiedergeburt bzw. deren kreative Regeln übernahm, schuf Koller ein Paralleluniversum, welches er mit esoterischen und paranormalen Elementen anreicherte. Während die Wiedergeburtsbewegung das slowakische Volk, seine Sprache und Kultur ausschließlich mit den Kulturen des Altertums verknüpft hatte, verwebte Koller sie zusätzlich mit dem Mythos von Atlantis oder Überlegungen zu außerirdischen Zivilisationen. In einer anarchischen Geste der Privatisierung der öffentlichen Bilder macht Koller auf die Macht der offiziellen Bilder und Bildarchive mit ihren vorgegebenen Ordnungen aufmerksam und widersetzt sich ihnen, indem er ihre »Archivformel« sichtbar macht. Mit einer Freiheit, die sich – so Pospiszyl – aus dem
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Ansatz der Konzeptkunst ableiten lässt, richten sich Kollers kreative Karten gegen eine zentral gesteuerte Welt – sei es gegen den sozialistischen Staat oder gegen das System der internationalen Kunst. Auch in Piotr Piotrowskis Beitrag geht es um die Instanzen und Institutionen, die die Macht über die Bilder und deren Macht bei der Organisation des kulturellen Gedächtnisses haben. In diesem Fall ist es die Frage, wie die Kunst und die von ihr produzierten Bildformeln als Instrument oder sogar Waffe im Streit um das ›richtige‹, der historischen Wahrheit entsprechende Gedächtnis genutzt werden. Piotrowskis Beispiel ist die Danziger Werft, von der 1980 die SolidarnośćBewegung ihren Anfang nahm, und die nun schon seit einiger Zeit als nationaler Erinnerungsort umkämpft ist. Piotrowski, der einleitend im Rekurs auf theoretische Positionen auf das Spannungsverhältnis von »Gedächtnis« und »Geschichte« aufmerksam macht (Ewa Domańska und Pierre Nora), geht es um das Potential der Kunst, Kritik an der offiziellen, von den Instanzen der staatlichen Macht verordneten Gedächtnispolitik zu üben und mit etwas, das manche als »Anti-Geschichte« bezeichnet haben, Einspruch zu erheben und ein »Gegen-Gedächtnis« zu etablieren. Piotrowski untersucht zwei Beispiele: die Ausstellung »Strażnicy Doków/ Dockwächter« der Kuratorin Aneta Szyłak und des Küstlers Grzegorz Klaman, die 2005 auf der Danziger Werft zu sehen war, und die Arbeit »Lech Wałęsas Gedenkraum« desselben Künstlers. Die Ausstellung fiel zeitlich mit dem 25-jährigen Gründungsjubiläum der Solidarność zusammen. Ihr zuvor ging die Ausstellung »Wege zur Freiheit« (2000), von der Grzegorz Klamans Skulpturprojekt »Tore« (bestehend aus »Tor I« und »Tor II«, das in seiner Form an Tatlins »Denkmal der Dritten Internationale« erinnert) stehen blieb. Ebenso wie die spätere Ausstellung wurde dieses Skulpturprojekt als kritische Reaktion auf die triumphalistische offizielle Geschichte der Solidarność aufgefasst. Für Piotrowski ist offensichtlich, dass Klamans »Tore« den offiziellen staatlichen Diskurs, der die Kontrolle über die Geschichte der anti-kommunistischen Bewegung an sich gerissen hat, kritisieren und ein Gegen-Gedächtnis etablieren wollen, und zwar gerade an einem Ort, den alle Seiten der Gesellschaft gleichermaßen als nationalen Erinnerungsort von großer symbolischer Signifikanz beanspruchen und daher zu harten Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit bereit sind. Nichts weniger als die ›richtige‹ Erinnerung an Lech Wałęsa und das Erbe der Solidarność-Bewegung steht hier anscheinend auf dem Spiel, und dabei ist auch die Frage, ob und wie Wałęsa politisiert werden soll.
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Klaman und Szyłak, so Piotrowski, waren nicht primär an Wałęsas historischer Rolle interessiert, sondern an der Erinnerung an einen Arbeiter, der zu einem Anführer von Weltformat wurde. Daher wollten sie Kritik an einer dominierenden Gedächtnispolitik üben, die alternative, individuelle oder randständige Stimmen ausschließt. Programmatisch subjektiv und subversiv, schlug »Dockwächter« eine absichtlich marginale Erzählung vor, »weil nur eine marginalisierte Stimme in dieser Sphäre eine bedeutende Stimme sein kann« (Szyłak 2005: 78f.) ... und, wie die Geschichte gezeigt hat, auch wurde. Am Erinnerungsort »Werft« wollten Klaman/Szyłak Wałęsas Gedächtnis präsent halten. Als wichtiges Instrument in Klamans symbolischem Kampf erwies sich das Zitat von Tatlins »Denkmal der Dritten Internationale« als Bildformel des revolutionären Internationalismus. Gerade sie – so Piotrowski – ermöglichte es, dem Widerstand gegen die offizielle Gedächtnispolitik das symbolische Gewicht zu geben, das es brauchte. Und Piotrowski wertet es als Zeichen des Erfolgs von Klamans bildästhetischer Strategie, dass es auch 2012 gegen den Protest der Nationalisten gelang, das Werfttor mit dem ursprünglichen Namen »Lenin-Werft« zu rekonstruieren und in dieser Gestalt als Denkmal zu schützen. Nachdrücklich konnte Klaman damit ein zweites Mal an die aufständische, die revolutionäre Tradition der Solidarność erinnern und dieser Erinnerung mithilfe des Denkmalschutes Nachhaltigkeit verleihen. Da er an die Vorgeschichte der heutigen politischen Situation in Polen erinnert, hat Piotrowskis Artikel – der hier posthum als einer seiner letzten Texte publiziert wird – gerade heute besondere Aktualität. Auch in Tanja Zimmermanns Aufsatz bildet Vladimir Tatlins Denkmal zur Dritten Internationale einen Bezugspunkt – jedoch einen negativen: Denn hier geht es um eine Bildformel, die mit dem visionären Utopismus der Moderne, für den Tatlins Denkmal emblematisch ist, radikal bricht: »[...] die winzige, punktartige Fliege [ist] zum turmartigen Schwarm angewachsen und hat den Platz des kommunistischen Neuen Menschen eingenommen.« – so Zimmermann über die Verfestigung der Fliegen zur Bildformel des posthumanen, sich metamorphotisch vertierenden Menschen in der zeitgenössischen Kunst und Literatur Ostund Südosteuropas. Und Zimmermann bringt einen ganzen Schwarm von Beispielen: vom Konzeptualisten Ilya Kabakov (Das Leben der Fliegen 1992) über Viktor Pelevins Erzählzyklus Das Leben der Insekten (1993), Georgi Gospodinovs Natürlicher Roman (Estestven roman, 1996) bis Tomaž Lavrič oder Enki Bilals mehrbändiger Tetralogie des Monsters (1998-2007) reicht die Palette, die Bilder, Installationen, Romane, Fotos, Filme und Graphic Novels umfasst. Natürlich knüpfen die meisten Autoren an die bis in die Antike (Lukian von Samo-
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satas Lob der Fliegen) zurück reichenden Tradition der Fliegensymbolik, auch der Fliege als Fabeltier (La Fontaine, Krylov usw.) an, und natürlich setzen die russischen Autoren die in der russischen Literatur seit der Romantik gepflegte Tradition fort, in der die Fliege für dionysische und gnostische religionsphilosophische Konzepte der Auflösung und der Leere steht. Dazu gibt es bereits einige Forschung (z.B. Hansen-Löve 1999 oder Hansen-Löve 2007). Ebenso zu Fliegen als memento mori-Symbol in der barocken Tradition, als Symbol für das Verstoßene und Abscheuliche oder für das Parasitäre im Gegensatz zur Ordnung des Bienen- oder Ameisenstaates (Drouin 1992: 333-345; Drouin 2005: 3-14), für Fliegen als Symbol des Anarchischen und der politischen Anomie, wie in Sartres Drama Die Fliegen (1943) oder der Willkürherrschaft wie z.B. in William Goldings Roman Der Herr der Fliegen (1954). In den sich zu einer Bildformel verfestigenden postkommunistischen Inszenierungen der Fliegen – so zeigen Zimmermanns Beispiele – geht es jedoch insbesondere um eine Störung und Auflösung der Ordnung und der Grenzen des Anthropologischen, inhaltlich und strukturell. Philosophisch haben – wie Zimmermann im Rückgriff auf Giorgio Agamben (Agamben 2003: 11-13) argumentiert – diese Szenarien der Vertierung ihren Ursprung in der gnostischen Tradition. Diese Auflösung der Grenze, aber auch die Kraft, das Begehren, das den Menschen metamorphotisiert, wie Gilles Deleuze und Felix Guattari es schon in Tausend Plateaus beschrieben haben, ist das Thema, wenn Pelevin und andere zeitgenössische Autoren Fliegen agieren lassen. Nach 1989 – so resumiert Zimmermann den facettenreichen Einblick in die Produktivität der Fliegen-Formel – »rückt das Insekt vom Parergon ins Ergon«, denn genau sie führt das Ende des Anthropozentrismus, der die Moderne im weitesten Sinn bestimmt hat, vor Augen. Daher erweist sich die Fliege »nicht nur als ein Topos, sondern auch als ein subversives Strukturprinzip, das Grammatik, Syntax und Komposition der Bildund Textnarrative erfasst.« Als Bildformel, die die Zersetzung des Anthropologischen generell indiziert, überschreitet ihre symbolische Reichweite die Grenzen Osteuropas, beansprucht sie universelle Signifikanz. Damit bestätigt auch der den Band abschließende Beitrag von Tanja Zimmermann das Anliegen des gesamten Bandes, mithilfe des Begriffs der Bildformeln die Erinnerungskulturen und -politiken Osteuropas in transregionaler Perspektive in den Blick zu nehmen und zugleich nach ihrer durch die sowjetische Prägung bedingten Spezifik und nach dem Dialog und nach den Gemeinsamkeiten mit Bildformeln des westeuropäischen und globalen kulturellen Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts zu fragen.
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L ITERATUR Assmann, Jan (2006): »Das kulturelle Gedächtnis«, in: ders., Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006, S. 67–75. Bing, Gertrud (1992): »Aby M. Warburg«, in: Dieter Wuttke (Hg.), A.M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden 1992, S. 437454. Böll, Heinrich/Pawek, Karl (Hg.) (1964): Weltausstellung der Photographie. 555 Photos von 264 Photographen aus 30 Ländern zu dem Thema: Was ist der Mensch? Hamburg. Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts. Frankfurter AdornoVorlesungen 2007, Berlin 2010. Brink, Cornelia (2000): »Secular icons. Looking at Photographs from Nazi Concentration Camps«, in: History & Memory 12.1, S. 135-150. Diers, Michael (1997): Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt. Hirsch, Marianne (2002): »Nazi Photographs in Post-Holocaust Art: Gender as an Idiom of Memorialization«, in: Omer Bartov/Atina Grossman/Mary Nolan (Hg.), Crimes of War: Guilt and Denial in the Twentieth Century, New York, S. 100- 120. — (2012). The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York. Knape, Joachim: Rhetorischer Pathosbegriff und literarische Pathosnarrative«, in: Cornelia Zumbusch, (Hg.), Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, S. 25-44. Kofler, Peter (Hg.): Ekstatische Kunst – Besonnenes Wort. Aby Warburg und die Denkräume der Ekphrasis, Bozen 2009, S. 7-21. Ludes, Peter (2001): Mulitmedia und Multi-Moderne: Schlüsselbilder. Fernsehnachrichten und World Wide Web – Medienzivilisierung in der Europäischen Union, Wiesbaden. Paech, Joachim (1974): Das Theater der russischen Revolution. Theorie und Praxis des proletarisch-kulturrevolutionären Theaters in Rußland 1917-1924, Kronberg. Pfisterer, Ulrich (2003): »Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte«, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.), Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. München/Berlin 2003, S. 21-47.
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D ANKSAGUNG Es ist mir ein großes Anliegen, mich bei Sabine Hänsgen für die inspirierende Zusammenarbeit an der Humboldt Universität in den Jahren 2011-2013 zu bedanken, aus der die Idee zunächst zu einer Vortragsreihe und dann zu diesem Band erwachsen ist. Ohne sie wäre dieser Band nicht zustandegekommen. Dass er jetzt ohne ihren Beitrag herauskommt, bedauere ich sehr. Für die schon zum wiederholten Mal großartige Zusammenarbeit sei Paul Löwenstein gedankt, der die vielen englischsprachigen Texte des Bandes wunderbar ins Deutsche übertragen und auch die Formatierung der meisten Beiträge übernommen hat. In der heißen Endphase hat mich schließlich Natalia Grinina mit sehr viel Engagement und großer Zuverlässigkeit unterstützt und damit wesentlich zum Abschluss der Druckvorbereitung beigetragen. Ich danke ihr dafür.
I. Formeln des Sowjetischen
»Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben« Wie das Foto vom theatralen Sturm zum historischen Dokument wird S YLVIA S ASSE
1971 erschien in Moskau der vom bekannten sowjetischen Fotojournalisten Leonid Volkov-Lannit herausgegebene Band Istorija pišetsja ob''ektivom (Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben). In diesem Band mit dem unfreiwillig selbstentblößenden Titel sind ganz unterschiedliche Fotografien der ersten Stunden und Tage der Oktoberrevolution von 1917 versammelt. Aber nicht nur die Fotografien werden in diesem Band als Zeitzeugnisse herangezogen, sondern auch die Fotografen als Zeitzeugen. Sie erscheinen in Interviews oder über Zitate aus ihren Memoiren und beglaubigen weniger das Ereignis als die Zeugnishaftigkeit ihrer Fotos. Besonders prekär ist das in einem prominenten Fall. Oder besser gesagt im Fall eines prominenten Fotos, als dessen Urheber in diesem Band der Fotograf Ivan Kobozev vorgestellt wird. Er soll der Autor des berühmten Fotos der Erstürmung des Winterpalais sein, das als Urszene der sowjetischen Geschichtsschreibung gilt. Pathetisch heißt es dazu in Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben: »Die Fotogeschichtsschreibung des Großen Oktober beginnt mit einer historischen Fotodokument-Rarität, die auf den 26. Oktober 1917 datiert ist. Genau nach einem halben Jahrhundert wurde diese in Vergrößerung auf der Jubiläumsfotoausstellung der VDNCH ›50 Jahre Oktoberrevolution‹ präsentiert. Schauen wir auf die Aufnahme. Von einem erhöhten Standpunkt aus gemacht, erfasst sie das ganze Panorama des Platzes vor dem Winterpalais in Petrograd. Auf dem hinteren Teil des Bildes ist das Winterpalais. Im Vordergrund ein Trupp bewaffneter Soldaten, der auf das Palais zuläuft. Zuvorderst überdacht sie
38 | SYLVIA S ASSE ein Panzerwagen. Ein anderes Fahrzeug hat sich bereits dem Palast genähert und eine Qualmwolke hinter sich gelassen. Das Foto ist einzigartig ausdrucksstark. Es berührt durch seine Authentizität. Dabei zeichnet es sich durch eine solche kompositorische Vollendung aus, dass sogar Zweifel an seiner Dokumentarizität aufgekommen sind. Einige hielten die Aufnahme – im besten Fall – für ein Standbild aus dem Film Oktober von Sergej Ėjzenštejn, mit anderen Worten für eine talentierte Inszenierung. Tatsächlich gibt es in der bemerkenswerten Arbeit unseres herausragenden Regisseurs einige Filmkader, die genau die Komposition und den Stil historischer Archivaufnahmen wiederholen. Zu diesen gehört auch jenes zur Quelle gewordene Foto.« (Volkov-Lannit 2017: 243)1
Die rhetorische Anstrengung des Verfassers ist nicht zu überlesen. Er nimmt quasi, wie bei der Figur der argumentativen Retorsion, alle Argumente, die gegen die Echtheit des Dokuments sprechen könnten, vorweg und dreht sie um, damit sie als Argumente der Echtheit dienen können. Aus der selbst ins Spiel gebrachten »kompositorischen Vollendung« des Dokuments wird nicht der Rückschluss gezogen, dass es sich um ein inszeniertes Foto handeln könnte. Vielmehr soll das kompositorisch vollendete Dokument nachfolgend als Inspiration, sogar als Quelle für künstlerische Inszenierungen gedient haben. VolkovLannit nennt Ėjzenštejn, der sich seiner Ansicht nach an der Ästhetik des historischen Dokuments orientiert habe. Ėjzenštejn soll, als er Oktober drehte, dieses Foto beim Dreh der Sturmszene vor Augen gehabt haben. Das historische Dokument soll die ästhetische Rekonstruktion überhaupt erst ermöglicht haben. Im
1
»Фотолетопись Великого Октября начинается с редчайшего исторического фотодокумента, датированного 26 октября 1917 года. Ровно через полвека его экспонировали в увеличении на юбилейной фотовыставке ВДНХ 50 лет Октябрьской революции. Вглядимся в снимок. Сделанный с верхней точки, он охватывает всю панораму Дворцовой площади Петрограда. На заднем плане кадра – здание Зимнего. На переднем – отряд идущих к нему вооруженных солдат. Впереди их прикрывает броневик. Другая машина уже приблизилась к дворцу и оставила за собой облако дыма... Фотография на редкость выразительна. Она волнует своей достоверностью. При этом отличается такой композиционной законченностью, что даже вызывала сомнение в ее документальности. Некоторые считали снимок, в лучшем случае, кинокадром из фильма С. Эйзенштейна Октябрь, иначе говоря, талантливой инсценировкой. Действительно, в замечательной работе нашего выдающегося кинорежиссера немало
кадров,
точно
повторяющих
композицию
и
стиль
фотодокументов. К ним относится и этот, ставший первоисточником.«
архивных
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weiteren Verlauf des Textes werden noch weitere Beweise der Echtheit angeführt, u.a. der 1922 zur 5-Jahres-Feier des Sturms publizierte Sammelband 5 let vlasti Sovetov (5 Jahre Sowjetmacht), in dem das Foto bereits 5 Jahre vor dem Dreh von Ėjzenštejns Oktober abgedruckt worden ist. Mit dieser kruden Argumentation, die auf den Beweis zielt, dass es sich nicht um eine Aufnahme aus Ėjzenštejns Film handle, soll die ›Dokumentarizität‹ des Fotos unterstrichen werden. Die Evidenz des Bildes wird durch die Ekphrasis und den Kommentar regelrecht erzwungen, obwohl der Kommentar und die Ekphrasis gerade darauf bestehen, dass die Evidenz des Bildes im Bild selbst schon vorhanden sei, in seiner beinahe ›künstlichen‹ Authentizität. Aber damit nicht genug: Zur weiteren Verifizierung des Fotos als Dokument wird der maßgebliche Zeuge, also der Fotograf, gebeten, die Umstände seiner Aufnahme darzulegen. Kobozev, der noch für weitere Aufnahmen im Kontext des Sturms verantwortlich gemacht wird, schildert den Moment der Aufnahme wie folgt: »Gegen acht Uhr morgens war Schichtwechsel. Meščerjakov löste mich auf dem Posten mit einem anderen Genossen ab ... Mit einer Kamera ausgerüstet machte ich mich mit meinem Assistenten Grigorij Ščerbakov auf den Weg zum Winterpalast. Wir gingen zu Fuß über den Nevskij. Dort war es ungewöhnlich menschenleer. Und schon sind wir auf dem Platz hinterm Palast und suchen uns einen Platz für die Aufnahme. Hier ist alles voller Neugieriger. Ich fotografiere den Winterpalast und eine Gruppe von Matrosen, die am Sturm teilnehmen.« (Volkov-Lannit 2017: 292)2
Kobozev berichtet also davon, dass er diese Aufnahme gemacht hat, morgens, und dass er den Sturm auf das Winterpalais fotografiert habe. Seine Schilderung wechselt im entscheidenden Moment vom Präteritum ins Präsens und holt damit auch die Leser näher an die Geschehnisse heran. Betrachtet man allerdings die historischen Fakten, wird schnell deutlich, warum alle diese Verfahren von Volkov-Lannit ins Feld geführt werden müssen: In der Nacht zum 25. Oktober 1917 nahmen die Bol’ševiki strategische Punkte (Waffenkammer, Telegrafenstation, Nationalbank, sämtliche Neva-Brücken, die
2
»Часов в восемь утра пришла смена. Мещеряков поставил на пост вместо меня другого товарища... Вооружившись фотоаппаратом, со своим помощником Григорием Щербаком я отправился к Зимнему. Шел пешком по Невскому. Людей здесь было необычно мало. И вот мы на Дворцовой площади, выбираю точку для съемки. Здесь полно любопытных. Фотографирую Зимний, группу матросов-участников штурма.« (Volkov Lannit 1971: 65)
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fünf Bahnhöfe) der Stadt ein. Am nächsten Tag erkannte Ministerpräsident Kerenskij den Ernst der Lage und setzte sich zu den loyalen Truppen an der Nordfront ab. Im Unterschied zur Version der sowjetischen Geschichtsschreibung weiß man heute, dass das Winterpalais kaum verteidigt wurde: Nur ein Dutzend Offiziersschüler, einige Kosaken sowie ein Trupp bewaffneter Frauen, das sogenannte Todesbataillon, standen am Abend des 7. November dort bereit. Die Provisorische Regierung im Winterpalais war nur noch durch wenige Minister vertreten, u.a. durch den parteilosen Außenminister Michail Tereščenko, und hatte bereits kapituliert aufgrund ihrer Unterlegenheit. Als in der Nacht, nicht etwa am Morgen, zum 8. November ein paar Rotgardisten und Matrosen durch das Hauptportal marschierten, fielen nur wenige Schüsse, die Minister warteten in einem Kabinett der 2. Etage auf ihre Verhaftung. Man weiß auch, dass der Panzerkreuzer Avrora nie auf das Palais gefeuert, sondern nur einen Signalschuss abgegeben hat. Mit anderen Worten, es hat keinen Sturm auf das Winterpalais gegeben, der einzige Sturm, der stattgefunden hat, war der Plünderungssturm der Weinkeller in der Eremitage (Corney 2004: 34). Wie Corney in Telling October schreibt, sind es die feindlichen Gazetten, die auf das Ereignis als beschämendes Ereignis anspielen (ebd.: 32) und im Grunde verhindern, dass die Schilderung eines Sieges oder einer Überwältigung bzw. der Verteidigung von Seiten der provisorischen Regierung möglich ist. Aber selbst die Bol’ševiki hatten unmittelbar nach dem 25. Oktober nicht vor, den Palast zu einem »major focus of their revolutionary narrative« (ebd.: 34) zu machen. Sie reagierten vielmehr auf die Erzählung der fehlenden Verteidigung und setzten eine »künstlerisch-historische Kommission des Winterpalais« (»chudožestvenno-istoričeskaja komissija Zimnego dvorca«) ein, um den Sturm in ein politisch-ästhetisches Ereignis zu verwandeln, das sich in seiner politischen Dimension vergleichen lässt mit dem Sturm auf die Bastille (ebd.: 35). Volkov-Lannit verweist in seinem Kommentar darauf, dass das Foto bei den Jubiläumsfeierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution als Dokument des historischen Ereignisses präsentiert worden ist. Seine eigene Beschreibung zielt darauf ab, die Dokumentarizität des Fotos noch weiter zu bezeugen und gleichzeitig die eigentliche Ereignis-Quelle des Fotos zu verbergen: Das Foto stammt nicht aus Ėjzenštejns Oktober, sondern lichtet eine Szene aus Nikolaj Evreinovs 1920 inszeniertem Massenschauspiel Vzjatie Zimnego dvorca (Einnahme des Winterpalais) ab. Evreinov hatte im Sommer 1920 den kulturpolitischen Auftrag bekommen, für die Petrograder Bevölkerung die Erstürmung des Winterpalais zum dritten Jahrestag in einem großen Spektakel, für das ein riesiges Budget und neueste Technik zur Verfügung gestellt wurden, mit weiteren
»G ESCHICHTE WIRD
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Künstlern zu reinszenieren. Im Grunde übernimmt diese Inszenierung bereits eine dokumentaristische Funktion, denn der angebliche Sturm wird dort wie in einem Reenactment nachgestellt. Über dieses Theaterereignis wird detailliert berichtet, in autobiografischen Zeugnissen, in Zeitungsberichten, Fotos und Filmen. Allerdings erscheinen gerade in den zeitgenössischen Zeitungsberichten keine Fotos des Ereignisses, sondern nur eine von Jurij Annenkov, dem verantwortlichen Bühnenbildner des Massenschauspiels, angefertigte Skizze. Später werden die Fotografien jedoch in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gezeigt. Entweder sind sie Dokument für das größte theatrale Massenspektakel nach der Revolution oder Dokument eines historischen Ereignisses. Bei der Verwendung der Fotos kommt es allerdings zu einer zentralen Unterscheidung: Während auf den zahlreichen Fotos, die das Theaterereignis dokumentieren sollen, die Bühnen, also die theatralen Elemente und Hunderte kostümierter Statisten gezeigt werden, ist auf dem einen Foto, das als historisches Dokument verwendet wurde bzw. verwendet werden konnte, keine Bühne zu sehen. Es lässt sich nur mutmaßen, ob die Bilder von vornherein so produziert worden sind, mit und ohne Bühne, mit und ohne Markierungen von Theatralität, oder ob sich dies günstigerweise so ergeben hat. Weder aus Evreinovs Beschreibungen des Theater-Ereignisses noch aus dem Archivbefund lässt sich eine Intention oder eine Genealogie des Fotos ablesen. Darum soll es mir hier auch nicht gehen, ich will mir vielmehr zunächst das dokumentaristische Narrativ anschauen, d.h. den Versuch, das Foto zu einem Dokument zu machen – für Theater oder Geschichte. In diesem Zusammenhang spreche ich später auch von Evidenzformeln, also von Formeln, die dem Foto einen dokumentarischen Charakter zuschreiben. In einem zweiten Schritt soll es dann um die Analyse des Theaterereignisses gehen und um die Frage, welche Rolle das Theater und die Erzeugung einer Evidenzillusion für das kulturelle Gedächtnis spielen.
1. D OKUMENTWERDUNG B ILDBÄNDE , F ILM )
DES
F OTOS (ARCHIV , P RESSE ,
Als Michel Foucault Ende der 1960er Jahre in der Archäologie des Wissens darauf insistierte, das Dokument wieder als Monument zu behandeln, ging es ihm darum, die Geschichtswissenschaft für die Funktionen des Dokumentaristischen im Diskurs zu sensibilisieren. Seine allgemeine an die Geschichtswissenschaft gerichtete Forderung galt bzw. gilt um so mehr, wenn man es mit Materialien aus der Sowjetzeit zu tun hat, die für sich beanspruchen, dokumentarischen Charakter zu besitzen – wie das Foto von der Erstürmung des Winterpalastes. Fou-
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cault forderte eine »archäologische Beschreibung« der Quellen, die »nicht mehr die Aufgabe hat, es (das Dokument, S.S.) zu interpretieren, nicht zu prüfen, ob es die Wahrheit sagt [...], sondern es von innen zu bearbeiten und es auszuarbeiten.« (Foucault 1981: 14). Es geht Foucault also darum, sich dem Dokument, seinem Material, seinen Strukturen, seinen Serien, Einheiten und Beziehungen zu widmen, und nicht dem, worauf es als Spur verweisen soll. »An die Stelle der transzendenten Deutung des Dokuments soll die immanente Beschreibung des Monuments« treten, so reformuliert es im Anschluss an Foucault Ludwig Jäger (Jäger 2008: 5). Foucaults Forderung einer archäologischen Beschreibung folge dem Bewusstsein einer »erneuten Schreibung« von Geschichte, einer »regulierten Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist« (Foucault 1981: 200). In dieser ist wiederum für Jäger eine »allgemeine Logik kultureller Semantik verborgen« (Jäger 2008: 4), die für alle Theorien des kulturellen Gedächtnisses relevant ist. Jägers Idee ist es zu sagen, dass es so etwas wie eine dokumentarische Semantik ohnehin gar nicht geben kann, weil diese den Prozess der »erneuten Schreibung« schon von vornherein leugnet oder zumindest übersieht, weil sie keinen Blick für die stete Re-Mediatisierung des Monuments durch den Interpreten hat. Stattdessen haben wir es bei den Speicherprozessen des kulturellen Gedächtnisses immer mit permanenten und wechselseitigen intra- und intermedialen Vorgängen zu tun, die, nimmt man sie wahr, eine Dokumentarisierung des Monuments gar nicht erst zulassen. Geschichte bzw. unser kulturelles Gedächtnis, so Jäger, sei deshalb ein Prozess einer permanenten Re-Mediatisierung von historischen Ereignissen. Liest man Texte, Fotografien, Filme etc. als Dokumente, verkenne man den in diesen Materialien angelegten Lektüre- und damit verbunden Remediatisierungsprozess. Für die Betrachtung des Bildes vom Sturm sind die von Jäger beschriebenen Remediatisierungsprozesse insofern interessant, als dass man an ihnen die Dokumentwerdung eines Fotos analysieren kann, und zwar eines Fotos, das gar keine historische Quelle hat, anders gesagt, kein historisches Ereignis abbildet. Denn wir haben es mit einem schon mediatisierten theatralen Ereignis zu tun, das erst durch seine erneute fotografische Mediatisierung als historisches zu existieren begann. Wir haben es also mit Prozessen zu tun, in denen Medien, hier ein Schauspiel und ein Foto, als Dokumente für historische Ereignisse systematisch inszeniert worden sind. Ich will versuchen, einige Beispiele der Dokumentwerdung des Fotos in unterschiedlichen Archivierungs- und Publikationsprozessen zu geben: Im Petersburger Archiv CGAKFFD (Central’nyj gosudarstvennyj archiv kinofotofonodokumentov, dt. Zentrales Staatsarchiv für Film-, Foto- und Tondokumente) sind vier Versionen des Fotos abgelegt, drei davon im Bestand von Evreinov,
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eines unter im Bestand der Oktoberrevolution. Alle vier Fotos sind als »Inscenirovka ›Vzjatie Zimnego dvorca‹« (»Inszenierung ›Einnahme des Winterpalais‹«) markiert. Insgesamt liegen in diesem Archiv 54 Fotos von der Inszenierung, wobei auf keinem einzigen Bild ein Urheber genannt wird. Vielmehr heißt es: »Avtor s’’emki neizvesten« (»Der Autor der Aufnahme ist unbekannt«)3. Die Fotos sind aber alle auf das Jahr 1920 datiert und als Ort der Aufnahme wird Petrograd genannt. Das Archiv beteiligt sich also zumindest bei der Einordnung nicht an der Dokumentwerdung des Fotos, vielmehr lässt es sogar Schlüsse auf die Verwendung sowie auf das Verhältnis von Original und Manipulation zu. Von den vier Bildern, die den Sturm zeigen, sind drei als Originalaufnahmen gekennzeichnet, das vierte als Reproduktion. Das erste Bild (Gr 3245, orginal – negativ – steklo) entspricht der Aufnahme, wie wir sie in den meisten Bildbänden finden (z.B. Istorija pišetsja ob’’ektivom [1971]). (Abb. 1) Auf der Archivaufnahme ist ganz deutlich eine Fotomanipulation zu erkennen. Die Aufnahme erinnert an die schlecht ausgeführten Retuschen, die David King in seinem Buch Stalins Retuschen beschreibt. Auf dem ›Original‹ sind die Retuschen deutlich sichtbar und man erkennt sofort, was versteckt wird, nämlich die theatralen Merkmale, ein Gerüst rechts neben der Aleksandr-Säule und Zuschauer bzw. die »Neugierigen« rechts neben dem Wagen, von denen der angebliche Fotograf Kobozev gesprochen hatte und die auf dem Foto für die Publikation von 1971 längst schon entfernt worden waren. Man kann ihre weißlich fleckigen Schatten, die beim Entfernen übriggeblieben sind, noch deutlich sehen. Kobozev hat also über das Foto gesprochen, das noch nicht manipuliert worden war. Sein Hinweis auf die »Neugierigen« ist geradezu ein Zeugnis der Manipulation des Bildes. Noch genauer zu sehen ist die Entfernung des Gerüstes. Aus Nikolaj Evreinovs Aufzeichnungen wissen wir, was auf dem Platz gestanden hat: »ein haushoher Kasten (so hoch wie ein einstöckiges Haus), ausgerüstet mit einer ganzen Reihe von Telefonen und Signalanlagen, mitten auf dem Platz als Kommandobrücke erbaut (direkt neben der Säule)« (Evreinov 2017: 44). Offenbar war es an der nunmehr leeren Stelle nötig geworden, die Fenster der Ermitage von Hand nachzumalen. Allerdings ist dieses Nachmalen nicht besonders gelungen, die Fenster
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Die meisten Fotografien liegen im CGAKFFD SPb, Центральный государственный архив кинофотофонодокументов unter den Fondnummern Gr und Dr und sind mit eindeutigen Annotationen versehen. Die vier Bilder vom Sturm, »Inscenirovka ›Vzjatie Zimnego dvorca‹«, haben die Ziffern: Gr 3248, Gr 3245, Dr 3220, Ar 86597. Von den 54 Fotos wurden 16 1960 archiviert, die restlichen 1974. Auf den 60er-Bildern fehlt der Hinweis, dass sie aus dem Lensovet stammen. Diese 16 Bilder zeigen alle relativ eindeutig, dass es sich um eine Inszenierung handelt.
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sind schief, man erkennt sie deutlich als gemalt. Viel entlarvender ist jedoch noch ein anderes Bilddetail, das man bei der Retusche offensichtlich übersehen hatte: der (rote) Sowjetstern, der gut sichtbar über dem Eingang zum Palast hängt. Dieser Stern ist auf allen Retuschen zu sehen und dekonstruiert das Foto von ganz allein als Aufnahme des historischen Ereignisses.4 Das zweite Bild (Gr 3248) zeigt dieselbe Szene, nur zu einem etwas späteren Zeitpunkt (Abb. 2): Das vordere Auto ist schon durch das Tor gefahren und die Perspektive ist eine andere. Beim dritten Bild (Dr 3220) handelt es sich um eine Reproduktion (reprodukcija – steklo), eigentlich um einen Ausschnitt des ersten Bildes, der abschneidet, was auf dem Original retuschiert werden musste. (Abb. 3) Der Name des Fotografen, der auf das Foto geschrieben wurde, ist übrigens bis zur Unleserlichkeit durchgestrichen. Auch wurde fälschlicherweise zuerst Leningrad statt Petrograd als Ort der Aufnahme hingeschrieben, vermutlich Spuren der Neuarchivierung von Material zu Evreinov aus dem Jahr 1974. Dieses Foto findet sich ebenfalls in verschiedenen Bildbänden wieder, u.a. bei King in seinem Retuschenbuch. Womit Volkov-Lannit in seinem Buch Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben Recht hatte: Das manipulierte Foto von der Theaterattacke wurde bereits 1922 im Band 5 Jahre Sowjetmacht publiziert. Hier ist es unterschrieben mit »Ataka Zimnego dvorca v Petrograde« ohne Angabe von Autor und Zeitpunkt. (Abb. 4) Umgekehrt werden in den sowjetischen Sammelbänden, die von Evreinovs theatraler Masseninszenierung Fotografien publizieren, fast ausschließlich jene Fotos gezeigt, auf denen die riesigen Bühnen zu sehen sind. Man könnte auch sagen, die Bilder der Attackenszene werden von sowjetischer Seite aus nicht mit dem Theaterereignis in Verbindung gebracht. Besonders deutlich wird dies im 1986 publizierten Band Agitacionno-massovoe iskusstvo (Massen-AgitationsKunst). Dort sind insgesamt sechs Fotos von Evreinovs Masseninszenierung zu sehen, allerdings sind es – bis auf eine – Szenen, in denen das Ereignis als theatrales sichtbar wird (Abb. 5, 6). Die berühmte Sturmszene fehlt.5 Sie wird zu die-
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Auf den Sowjetstern wies bereits Boris Schneider in seinem Artikel »Das Bild als Quelle« (Schneider 1973: 533). Vgl. auch Frank Kämpfer, »Fotografie als historische Quelle: Anmerkungen zu einigen Rußland-Fotobänden« (Schneider 1982: 247f.).
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Vgl. Tolstoj (1984: Abb. 194-200); King (1997: 32). David King schreibt, dass es keine Fotos oder Filmaufnahmen vom historischen Ereignis gebe. Seine Angaben zum Foto sind allerdings auch nicht ganz korrekt, er erwähnt, dass jährlich Reinszenierun-
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sem Zeitpunkt vermutlich schon viel zu eindeutig mit dem historischen Ereignis assoziiert, als dass man sie noch als Teil einer Theaterinszenierung ausweisen könnte. Nur in René Fülöp-Millers 1926 publiziertem Buch Geist und Gesicht des Bolschewismus erscheint das gleiche Foto wie im Band 5 Jahre Sowjetmacht. Auf diesen beiden ist das Gerüst zu sehen, das bei allen anderen, später publizierten Aufnahmen, die auf das historische Ereignis verweisen, fehlt. Bei FülöpMiller sieht man aber auch die Zuschauer bzw. die »Neugierigen«, auf der rechten Seite neben dem voranfahrenden Auto, die bereits auf dem Foto, das 1922 in 5 Jahre Sowjetmacht publiziert wurde, entfernt worden waren. Das Foto in Fülöp-Millers Band ist wohl jenes, das man am ehesten als Original bezeichnen könnte, archiviert ist es ebenfalls im CGAKFFD in St. Petersburg mit korrekter Bezeichnung, allerdings nicht im Fond von Evreinov (Abb. 7, 8). Auch auf den Filmaufnahmen, einem 15-minütigen Zusammenschnitt, die in Krasnogorsk im Archiv liegen, und im etwas kürzeren dokumentarischen FilmÜberblick über das sowjetische Theater: Die Formierung des sowjetischen Theaters: Kino-Zeugnisse der Epoche (Stanovlenie sovetskogo teatra. Kinosvidetel’stva ėpochi) gibt es Aufnahmen des theatralen Sturms.6 Allerdings ist die Szene des Sturms aus Normalsicht gefilmt, d.h. man sieht den Sturm nie ganz. (Abb. 9) Die Nahsicht in dieser Dokumentation, die Zeugenfunktion des Zuschauers, ist so stark, dass man nur die Menschen und den Wagen sehen kann, sie entspricht den Fotografien, bei denen Zuschauer und Gerüst weggeschnitten sind. Man könnte auch sagen, die nahsichtige Zeugenperspektive soll genau jene Evidenz schaffen, die das Bild selbst nicht zeigen kann, sie soll den Zuschauer als Zeugen ins Bild holen. Wir haben es also mit einem Foto zu tun, das in unterschiedlichen Kontexten – Geschichtsbüchern, Briefmarken, Wandtellern, Schulbüchern oder Fotoreportagen etc. – immer wieder als ein Dokument für ein historisches Ereignis dargestellt worden ist. Die Darstellung des Fotos als Dokument für die Erstürmung des Winterpalastes erfolgte durch Bildunterschriften, Kommentare, Zeugenaussagen und, wie bei Volkov-Lannit, durch eine klassische Ekphrasis des Fotos.
gen der Einnahme des Winterpalais stattgefunden hätten und dass das Foto wohl aus einer dieser Inszenierungen stamme. 6
Genauere Angaben zu dem Filmdokument sind im Dokument selbst nicht enthalten (Jahr, Regisseur). Es handelt sich um einen Überblick über Aufführungen zu Beginn der Sowjetunion. Zeitgenössische Zeitungsberichte, etwa in Žizn’ iskusstva oder in Vestnik teatra, kommen ohne Abbildungen aus, auch in Piotrovskijs Theaterüberblick von 1925 ist kein Foto der Masseninszenierung zu finden.
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Sie erfolgt aber auch durch Fotomanipulation, durch das Entfernen theatraler Hinweise, die eine Distanz schaffen könnten, und durch das Heranzoomen des Bildausschnitts, durch die Evokation einer Nahsichtigkeit, die die Betrachter als Zeugen konzipiert. Nahsichtigkeit rechtfertigt zudem Unschärfe, wer ganz nah an ein Ereignis herangeht, ja von einem Ereignis selbst umstellt ist, der nimmt weniger Bilder, sondern eher Atmosphären oder Aura war. Als ein solches Herstellen einer Atmosphäre lassen sich die auf einen Ausschnitt reduzierten Fotografien und die Filmaufnahme lesen.
2. E VIDENZFORMELN Es ist sicherlich kein Zufall, dass Volkov-Lannit in seinem Kommentar versucht, die Dokumentarizität des Bildes mit dessen Evidenz zu begründen, also mit etwas, das im Bild selbst zu sehen sein soll. Es sei das Bild, so seine Argumentation, das seine Authentizität, auch wenn dieses fast schon unheimlich weil ästhetisch sei, zu erkennen gibt. Ich möchte die externe Evidenzzuschreibung, die auf dem Glauben insistiert, man könne aus einem Bild heraus dessen Evidenz erkennen, hier als Evidenzformel bezeichnen. Ich meine mit einer Evidenzformel also keine ikonischen Konstellationen zur Evidenzerzeugung im Bild, sondern Zuschreibungsmuster an das Bild von außen. Man könnte sie Rezeptionsformeln nennen, denn, so meine These, Evidenz ist immer ein Rezeptionsphänomen. Die von mir beobachteten Evidenzformeln führten stets zu einem paradoxen Rezeptions- und Medienerlebnis. Sie behaupten, einerseits, die Evidenz sei im Bild selbst schon vorhanden, sie machen sie zu einem Ereignis des Bildes. Andererseits verlangen sie vom Betrachter, diese im Bild schon vorhandene Evidenz zu sehen. Man muss also sehen können, was sich im Bild selbst schon zeigt. Nicht das Gezeigte, sondern das sich selbst Zeigende, das Evidente, soll gesehen werden. Dabei hat man es mit einer medialen und performativen Übersetzung zu tun, die sich hier – im Fall des Fotos der Einnahme – vor allem zwischen Text und Bild ereignet. Eine Evidenzformel ist also eine, die Evidenz außerhalb des als evident geltenden Mediums behauptet, indem sie die Evidenz dem Bild selbst schon zuschreibt. Volkov-Lannit führt uns diesen Rezeptionsakt in seinem Text beispielhaft vor. Dabei befindet er sich mitten in jenem Rezeptionsparadoxon der Evidenz. Er sieht für uns die Evidenz des Bildes, um uns das Gezeigte als Evidentes vorzuführen bzw. vorzusehen. Gleichzeitig verwendet er typische sekundäre Evidenzverfahren, die die Evidenz des Bildes bestätigen sollen. Dazu gehören die schon erwähnte Ekphrasis als hermeneutische Operation sowie das Herbeirufen
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zweier Zeugen bzw. Rezipienten – Ėjzenštejn und Kobozev. Der eine, Kobozev, der vermeintliche Fotograf, soll bezeugen, dass es sich um ein Foto des historischen Ereignisses handelt, er ist Rezipient des historischen Ereignisses, der andere, Ėjzenštejn, wird als Rezipient des Fotos eingeführt, des Fotos, dessen Echtheit Ėjzenštejn mit seinem Film bestätigt habe: »Tatsächlich gibt es in der bemerkenswerten Arbeit unseres herausragenden Regisseurs einige Filmkader, die genau die Komposition und den Stil historischer Archivaufnahmen wiederholen. Zu diesen gehört auch jenes zur Quelle gewordene Foto.« (Volkov-Lannit 1971, 64) Wir haben es bei Volkov-Lannits Evidenzerzählung geradezu mit der Darstellung einer Rezeptionskette zu tun, die im Sinne Jägers auf einer Remediatisierung beruht: Das Ereignis bedingt das Foto, das Foto führt zum Film. Allerdings ist Remediatisierung hier dazu da, das Ereignis und das Foto als Abbildung des Ereignisses zu bezeugen. Wenn Jäger festgestellt hatte, dass bei Texten, Fotografien, Filmen etc., die als Dokumente gelesen werden, die in diesen Materialien angelegten Lektüre- und damit verbundenen Remediatisierungsprozesse vergessen bzw. geleugnet werden, dann zeigt das Beispiel von Volkov-Lannit, dass auch Lektüreprozesse für die Dokumentwerdung inszeniert werden können. Die erneute Schreibung wird hier nicht geleugnet, vielmehr dient sie als Beweis für die Echtheit, für die Dokumentarizität des Fotos und für dessen Evidenz. Wenn man, wie Jäger, davon ausgeht, dass die Evidenz eines Fotos Resultat medialer Verfahren sei, dann können diese Verfahren sowohl das Foto selbst als auch die das Foto erklärenden und kommentierenden Medien betreffen. Beim Foto vom Sturm handelt es sich um mediale Verfahren, die, wie Jäger es als typisch für die Evidenzerzeugung betrachtet, ihre eigenen Darstellungsverfahren (Manipulation des Fotos) kaschieren. Und es handelt sich zugleich um Rezeptionsszenen, die das Foto als ein aus sich heraus Evidentes, und zwar als empirisch Evidentes7 präsentieren. Die »diskursive Evidenz«8 stellt hier die empirische Evidenz erst her. Es ist geradezu die Rezeption, die das angebliche Original zu einem echten Original machen soll. Man könnte sogar sagen, dass Evidenzerzeugung auf der Erkenntnis beruht, dass Evidenz ein Rezeptionsphänomen ist, dass aber genau dies geleugnet wer-
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Jäger unterscheidet zwischen empirischer und diskursiver Evidenz, wobei er hinzufügt, dass auch das empirisch Evidente eine mediale Vermittlung brauche, um überhaupt zur Erscheinung zu gelangen: »Allgemein möchte ich davon ausgehen, dass Evidenz prinzipiell als Resultat von Verfahren der Evidenzgenerierung angesehen werden muss, auch dann, wenn sie gleichsam in schlichter ›Selbsthabe‹ auf einem ›Feld des Unproblematischen‹ (Schütz) gegeben ist« (Jäger/Lethen 2009: 92).
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Ebd.: 92.
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den muss. Ein Bild oder Text, also ein diskursives Erzeugnis, kann nicht an und für sich evident sein, es kann höchstens Effekte erzeugen, die als evident wahrgenommen werden. Schon in der antiken Rhetorik wurde auf die Frage des Rezeptionseffekts hingewiesen, und zwar auf einen Rezeptionsakt, der ebenfalls durch einen Übersetzungsprozess bestimmt ist. Die evidentia stellt in der Rhetorik den Rhetor vor die Aufgabe, etwas so vor Augen zu stellen, als wäre man selbst dabei gewesen, als sei man Zeuge einer Situation gewesen. Er muss Vorstellung in Gefühl und dieses wiederum in Rede verwandeln. Ansgar Kemmann paraphrasiert die Situation des Vor-Augen-Führens, der evidentia, wie folgt: »Ihr Gebrauch fordert den Redner nicht nur rational, in Beobachtung und Analyse, sondern auch emotional: da, wo er nicht selbst erlebt hat, muss der Redner erst einmal in eigener Vorstellung durchleben oder leiden, was er hernach vor Augen führen will. Denn nur wer selbst der Sache wie ein Augenzeuge gegenübersteht, vermag sie so deutlich, lebendig oder detailliert zu schildern, dass alle sich als Augenzeuge fühlen.« (Kemmann 1996: 40)
An der entsprechenden Stelle bei Quintilian, auf die Kemmann in diesem Zusammenhang verweist (Institutio oratoria VI 2: 29-36), geht es auch um die wirkungsästhetischen Aspekte der vor Augen führenden Vorstellungskraft. Denn nur wenn der Redner tatsächlich vor Augen zu stellen vermag, habe die Rede auch genau jene Wirkung auf die Zuhörer, die ihnen das Gefühl, »als wären wir bei den Vorgängen selbst dabei gewesen« (Institutio oratoria VI 2: 32), vermittelt. Die Als-Ob-Zeugenschaft wird nicht durch intellektuelle Überzeugungskraft oder durch die Faktizität des Materials, sondern durch eine affektive Wirkung erreicht. Bei Quintilian heißt es: »Häufig habe ich mich so ergriffen gefühlt, daß es nicht nur Tränen bekundeten, die mich überkamen, sondern sogar Erblassen und ein solcher Schmerz, als wäre er echt« (ebd.: 36). Lachmann macht mit Verweis auf Aristoteles genau auf diesen wirkungsästhetischen Effekt der evidentia aufmerksam. Sie schreibt: »Vermittels eines intensiven Gefühls, besser einer Gefühlsenergie, die die Wahrheit der Aussage, ihren Realitätsbezug, außer Acht lässt, sollen Hörende auf eine Weise affiziert werden, dass sie das in der Rede entworfene Bild quasi vor sich sehen. Die freigesetzte Energie schafft eine durch nichts als die Wortbild-Gewalt begründete Evidenz.« (Lachmann 2011: 97)
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Der Rezipient als Zeuge verwandelt Gehörtes in Gesehenes, er wird vom Ohrenzum Augenzeugen, indem er die »Gefühlsenergie«, die ihm der Rhetor übermittelt, zur Erschaffung eines Bildes nutzt. Für die antike Rhetorik ist das Verfahren der evidentia eines, das sowohl auf produktions- wie auf rezeptionsästhetischen medialen Transformationsprozessen beruht. Evidentia ist dann erzeugt, wenn entsprechende Affekte und Vorstellungen evoziert werden, evidentia ist das Ergebnis eines gelungenen Medienwechsels. Im Fall des Fotos über die Erstürmung des Winterpalais haben wir es aber nicht nur mit der Dokumentwerdung eines Fotos mittels Evidenzerzeugung zu tun, sondern damit, dass der historisch dokumentarisierende Blick nicht erst durch den Historiker an das Foto herangetragen wurde, sondern im fotografierten Ereignis selbst schon angelegt ist. Die Theaterinszenierung will das historische Ereignis nicht nur reproduzieren, sie will es selbst schon dokumentieren. Auch sie verwendet, wie wir gleich sehen werden, Mittel der theatralen Erzeugung von Evidenz. Allerdings leugnet das Theaterereignis seine Künstlichkeit nicht, vielmehr stehen für Evreinov Evidenzerzeugung und Theater bzw. Künstlichkeit in keinerlei Widerspruch.
3. D IE T HEATERINSZENIERUNG
ALS
S UBSTITUT ?
Hat, so kann man sich fragen, die Inszenierung ganz bewusst schon Bilder produziert, die als Ersatz für die Bilderlosigkeit des historischen Ereignisses bzw. für das Nichtvorhandensein des historischen Ereignisses selbst dienen sollten? War das Spektakel gar zu diesem Zweck konzipiert? War es als Substitut konzipiert? Die Frage lässt sich nicht mehr beantworten, zumindest nicht aus den mir vorliegenden Quellen. Dennoch ist der Substitut-Gedanke aus mehreren Gründen interessant, erstens weil es zu Beginn des Jahrhunderts nicht unüblich war, historische Ereignisse, die nicht dokumentiert werden konnten, durch theatrale zu ersetzen,9 zweitens weil die Idee des Ersatzes auf einer anderen als der Dokumen-
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Als Beispiel für eine theatrale Dokumentarizitäts-Manipulation lässt sich die Reinszenierung von Kriegshandlungen aus dem Russisch-Japanischen Krieg anführen. Auch dort wurden Reenactments veranstaltet, die als Ersatz für die Bilderlosigkeit des historischen Ereignisses (freilich nicht für das Ereignis selbst) inszeniert worden sind. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Theaterevents, sondern um geheime und pragmatische Reinszenierungen, die für die Presseberichterstattung über den Russisch-Japanischen Krieg notwendig wurden. Der Grund: Die Japaner erlaubten nur
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tarebene durchaus Evreinovs Idee von Theater entspricht. Im Fall der Einnahme des Winterpalais lässt sich jedoch schwerlich von einer gezielten Reproduktion des Ereignisses zum Zwecke der Manipulation eines Dokuments sprechen. Dafür war der Aufwand zu groß. Man könnte eher davon sprechen, dass man mit dem Reenactment mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte: So ließ sich der Gründungsmythos der Sowjetunion sowohl durch eine performative als auch durch eine fotografische Reproduktion erzählen. Doch vorerst zur Reinszenierung unter der Leitung von Evreinov im Jahr 192010: Zur Reinszenierung gehörten drei Bühnen, eine ›natürliche‹ (der Platz vor dem Winterpalais und das Palais selbst) und zwei ›künstliche‹. Die beiden künstlichen Theater-Bühnen standen auf der gegenüberliegenden Seite des Winterpalais, links und rechts neben dem Triumphbogen des Generalstabsgebäudes. Sie waren riesig, Evreinov spricht von 40 Metern Länge pro Bühne. Eine Bühne war weiß, eine rot. Auf der weißen, luxuriös ausgestatteten Bühne wurden Szenen der Provisorischen Regierung dargestellt. Die rote Bühne war wie eine Fabrik aufgebaut. Dort zeigte man »Heroische Handlungen zur Vorbereitung des proletarischen Kampfes« (Evreinov, o. D.: 3), wobei die Arbeiter und Bauern erst noch völlig unorganisiert waren, sich dann aber in Kollektiven formierten. Auf der weißen Bühne war es umgekehrt, die anfängliche Ordnung mündete im Chaos. Das Ganze kulminierte in der Attackenszene, der Erstürmung des Palastes, die auf dem Platz selbst stattfindet. Beteiligt sind daran ca. 300 Statisten, die als Matrosen und Rotarmisten agieren. Sie kommen durch den Triumphbogen und laufen auf das Winterpalais zu. Bei der Attacke wird das Licht auf den beiden Bühnen gelöscht und die Aufmerksamkeit auf den Palast gelenkt, die Beletage wird ganz erleuchtet. Am Schluss marschierten schließlich 400 Kavalleristen und 1500 Matrosen zu einer Parade auf, die bereits als Gedenkfest an die Revolution gedacht war.
Zeichnungen, die Russen gestatteten keine Bilder. Hughes Laurent, französischer Filmarchitekt, schreibt in seinen Erinnerungen von 1957: »In jenen Tagen war die große Neuigkeit der Russisch-Japanische Krieg. In diesem Fall stellte man die von den Sonderberichterstattern der großen Tageszeitungen übermittelten Meldungen nach. […] Die kleinen Erdhügel bei Montreuil, wo Sand abgebaut wurde, waren an manchen Tagen mit hundert bis hundertfünfzig Statisten bevölkert, die als russische und japanische Soldaten ausstaffiert waren. Absolut unwahrscheinliche Kostüme. Gelegentlich sägten wir Profile aus, die im Gegenlicht aufgenommen und mit Gebüsch drapiert als Silhouetten von Pagoden herhalten mussten.« (Zischler/Danius 2008: 58). 10 Die Ausführungen zu Evreinovs Inszenierung finden sich auch leicht variiert in: Sasse 2012 und Sasse 2014.
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Zur Reinszenierung gehörte also am Schluss schon die Inszenierung des Erinnerungsaktes an das Ereignis dazu. Der Jubel am Ende konnte so sowohl dem historischen Ereignis als auch dem Theaterereignis gelten, beide Ereignisse verschmelzen am Schluss zu einem (Abb. 10). Für Evreinov beginnt mit diesem Auftrag eine völlig neue Möglichkeit, Theater zu machen, ein Theater, das historisches »Originalmaterial für die schöpferische Arbeit bei der Regie« (»original’nyj material dlja režisserskogo tvorčestva«) nutzt. Mit 10.000 Statisten/Akteuren sollte unter der Leitung von Evreinov (u.a. mit den Theaterkritikern Konstantin Deržavin und Aleksandr Kugel’, dem Theaterwissenschaftler Aleksandr Movšenson, dem Künstler Jurij Annenkov, dem Dirigenten Hugo Warlich, dem Komponisten und späteren OscarPreisträger Dmitrij Temkin) reinszeniert werden, was historisch von einigen wenigen Akteuren unbeobachtet durchgeführt worden war. Evreinov befand sich also in dem Dilemma, etwas historisch-künstlerisch rekonstruieren zu sollen, das es nicht gab, das vielmehr nur im politisch Imaginären existierte. Er bekam gewissermaßen den staatlichen Auftrag zur Theatralisierung von Geschichte. Paech schreibt dazu, dass eine »gültige Interpretation der Revolutionsereignisse mit den Mitteln des Theaters« geschaffen werden sollte (Paech 1974: 331). Evreinov schreibt zu diesem Umgang mit den historischen Fakten übrigens nichts, auch das unveröffentlichte Manuskript Einnahme des Winterpalais setzt sich nicht mit dem historischen Ereignis selbst auseinander. Ganz im Gegenteil: Evreinov berichtet in seinen Erinnerungen, dass unter denjenigen, die in der Nachstellung das Palais stürmten, solche waren, die 1917 am Sturm auf das Winterpalais bereits teilgenommen hatten oder die damals als Personal der Kerenskij-Regierung im Winterpalais arbeiteten. Diese wenigen Zeugen der Revolution hatten eine wichtige Funktion: Sie sollten das theatrale Ereignis beglaubigen, so dass die Zeugen der theatralen Veranstaltung auch zu Zeugen am historischen Ereignis werden konnten. Der Einsatz der Zeugen als »lebendige Dokumente«11 machte die Inszenierung vor allem dort authentisch, wo sie von den historischen Ereignissen abwich. So konnte das theatrale Ereignis das historische Ereignis substituieren. Folgt man Evreinovs Theatertheorie, so könnte ein solcher Schluss der Substitution tatsächlich auch konzeptuell nahe-
11 Von »lebendigen Dokumenten« schreibt Dorota Sajewska in einem anderen Zusammenhang in
ihrem Buch Nekroperformans. Kulturowa rekonstrukcja teatru Wielkiej Wojny (Warszawa 2016: 338) mit Verweis auf Magnus Hirschfeld, Andreas Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkriegs, Hanau 1995, 348. Evreinov hat auch andere »lebendige Dokumente« rekrutiert, und zwar Veteranen des Ersten Weltkriegs für die weiße Bühne.
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liegen. 1920 verfasst Evreinov eine Art Manifest im Journal Žizn’ iskusstva (Das Leben der Kunst), das den programmatischen Titel »Theatertherapie« trägt, und 1923 veröffentlicht er in seinem Text »O novoj maske« (»Über die neue Maske«) einige Beispiele für eine angewandte Theatertherapie. Theatertherapie meint bei Evreinov, dass der Mensch durch das Theaterspielen im Alltag aus seinem gewohnten Leben herausgerissen werde und dadurch eine Verwandlung erleben kann, die eine therapeutische Wirkung hat. Das Theater könne jene Situationen, die der Mensch im realen Leben nicht erleben konnte, ersetzen. Damit entwickelt Evreinov eine Therapie, die nicht wie bei Freud auf Wiederholung, sondern auf Substitution basiert. Während Freud dem Patienten in der Hypnose oder der talking cure erlauben wollte, »einen der heißesten Wünsche der Menschheit« zu erfüllen, nämlich »etwas zweimal tun zu dürfen« (Freud 1987: 193), also im Grunde ein therapeutisches imaginäres Reenactment zu vollziehen, wird Evreinovs Therapiekonzept allein durch die Möglichkeit zur Verwandlung durch den ausgelebten Instinkt zum Theater-Spielen erreicht. Zudem ist Evreinovs Therapie nicht passiv, sie findet nicht durch Imagination oder durch sprachliche Abreaktion statt, sondern ist eine acting cure. Die Evreinov’sche Theatertherapie richtet sich deshalb nicht wie bei Freud auf das Begehren, etwas zweimal tun zu dürfen, sondern auf das vielleicht noch ›heißere‹ Begehren, etwas überhaupt erleben zu dürfen, auch wenn dieses Tun nur im Spiel erfolgt. Das heißt auch, dass Evreinov gar kein Ereignis benötigte, auf das sich die ›Rekonstruktion‹ bezieht, das Theater war aus seiner Perspektive in der Lage, die mit einem solchen Ereignis verbundenen Erlebnisse zu schaffen. Evreinovs Einnahme des Winterpalais hatte damit eine sowohl kollektiv wie auch individuell substituierende Funktion. Es sollte für die Akteure das historische Ereignis für die künftige kollektive Erinnerung, die die individuelle korrigiert, herstellen. Ganz in diesem Sinne schreibt Evreinov in seinen Erinnerungen, dass es darum gehe, den »majestätischen Moment« (»veličestvennyj moment«) der Geschichte in eine »authentische und majestätische Aufführung« (»podlinnoe i veličestvennoe zrelišče«) zu »übertragen« (»peredat’«), die ihrerseits auch »historisch unvergesslich« bleibt (»istoričeski nezabyvaemyj«) und die, im Unterschied zum wiederholten Ereignis, selbst unwiederholbar sein soll (Evreinov 1924: 1). Evreinov will also ein dem historischen Ereignis nicht nur adäquates, sondern dieses eigentlich noch überhöhendes Theater-Ereignis schaffen, dessen Erinnerungswürdigkeit die des historischen Ereignisses übertrifft. Während also die Theaterzeugen durch das Theater zu Zeitzeugen werden sollten, das historische Ereignis durch das Theater erleben sollten, wurden die Zeitzeugen im Unterschied dazu der Freud’schen Wiederholungstherapie ausgesetzt, und zwar einer, die das historische Ereignis mithilfe des Theaters ›heilt‹. Auch die Zeitzeugen
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sollten die Möglichkeit bekommen, das Ereignis so durchzuspielen, wie es das kollektive Gedächtnis künftig von ihnen verlangen wird. Das historische Nichtereignis wurde quasi durch das Theater für die, die es nur aus der Überlieferung kannten, in eigenes Erleben verwandelt und für die anderen, die es bereits erlebt hatten, repariert. *** Geht es um Evidenz oder um die Sehnsucht nach Evidenz, dann wird eigentlich immer das Paradoxon thematisiert, auf das schon Roland Barthes aufmerksam machte. Entweder man »setze ein für die Geschichte vollkommen durchlässiges Reales und ideologisiere« dies, oder man setze ein »undurchdringliches, nicht reduzierbares Reales«, und »poetisiere« dieses (Harrasser, Lethen, Timm 2009: 7). An dieser Gegenüberstellung von Ideologie und Literatur bzw. Kunst arbeitet sich seither eine Reihe von Wissenschaftlern ab, dies auch, um beide miteinander zu versöhnen und »ohne Preisgabe der Evidenzskepsis« den Blick für die Eigenlogik der Dinge zu schärfen (ebd.: 8). Mit der Analyse von Evreinovs Theaterkonzept wollte ich auf eine andere Frage in Bezug auf Evidenz aufmerksam machen. Mich interessierte nicht so sehr der unmittelbare Zugang zum Realen, sondern die Frage, welche realen Evidenzeffekte das Vermittelte schafft, ganz egal, ob es Ideologie oder Kunst ist. Aus dem Beispiel von Evreinovs Theatertheorie und der Verwendung des berühmten Fotos lassen sich zwei abschließende Thesen ableiten: Evidenzeffekte sind weder abhängig von der Authentizität des Materials, noch davon, dass Verfahren und Inszenierungsbedingungen verborgen werden. Auch Kunst, die sich als solche zu erkennen gibt, kann Evidenz erzeugen. Bei Evreinovs Attackenszene haben wir es mit einer Art Reenactment innerhalb einer Theaterveranstaltung zu tun, das am Originalschauplatz und mit Zeugen stattfindet. Gerade in dieser Gegenüberstellung erscheint die Rekonstruktion des historischen Ereignisses, des Sturms, authentisch. Und dennoch bleibt sie Teil einer theatralen Gesamtkomposition, bei der es Evreinov nicht darum ging, etwas vor Augen zu stellen, das der totalen Realitätsillusion dient. So sollten auch die Teilnehmer nicht zu Zeitzeugen der historischen Ereignisse gemacht werden, sondern zu Zeitzeugen des Theaterereignisses, das in der Lage ist, das historische Ereignis in ein neues Ereignis zu verwandeln. Für Evreinov kann das Theater bzw. die Theatralität mit ihrer Kraft der Verwandlung Erlebnisse herbeiführen und Gefühle evozieren, die ebenso real sind wie jene, die man beim Durchleben eines historischen Ereignisses gehabt haben kann. Evreinov glaubt an die wirklichkeitsstiftenden Effekte des Theaters, eines Theaters, dass sich nicht darum kümmern muss, ob es die
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Realität richtig abbildet. Die Realität vor Augen zu stellen, heißt bei Evreinov nicht, sich auf sie zu beziehen, sondern Reales durch das Theater zu schaffen.12
L ITERATUR Barthes, Roland (1989): Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, aus dem Französischen von Dietrich Laube, Frankfurt a. M. Corney, Frederick C. (2004): Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution, Cornell. Čubarov, I. (2005): »›Teatralizacija žizni‹ rukovodstvom N.N. Evreinova (1920god)«, in: Chans Gjunter (Hans Günther)/Sabine Chėnsgen (Sabine Hänsgen) (Hg.), Sovetskaja vlast’ i media, Sankt-Peterburg, S. 281-295. Džurova, Tat’jana (2010): Koncepcija teatral’nosti v tvorčestve N.N. Evreinova, Sankt Peterburg. Evreinov, Nikolaj (2002): »Teatr kak takovoj«, in: ders., Demon teatral’nosti, Moskva, Sankt-Peterburg, S. 31-96. — (2002): »Teatr dlja sebja«, in: ders., Demon teatral’nosti, Moskva, SanktPeterburg 2002, S. 115-406. — (1922): »Metod chudožestvennoj rekonstrukcii teatral’nych postanovok«, in: ders., Teatral’nye novacii, Petrograd, S. 79-83. — (1920): »Teatroterapija. Quasi – paradox«, in: Žizn’ iskusstva, 578, 579/Okt., S. 1. — (o.D.): Vzjatie zimnego dvorca. Vozpominanija ob inscenirovke, v oznamenovanie 3-j godovščiny Oktjabr’skoj revoljucii, Typoskript, RGALI, Fond 982 (N.N. Evreinov), op. 1, ed. chr. 51. Evreinov, Nikolaj & andere (2017): »Sturm auf den Winterpalast«, hg. von Inke Arns, Igor Chubarov, Sylvia Sasse, Zürich, Berlin. Fischer-Lichte, Erika (1997): Die Entdeckung des Zuschauers, Tübingen/Basel. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main. Freud, Sigmund (1987): »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, in: ders., Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband. Nachtragsband, Frankfurt a.M., S. 81-95.
12 Teile des Textes sind bereits erschienen unter Sylvia Sasse, »›Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben‹. Wie das Foto vom theatralen Sturm zum historischen Dokument wird«, in: Nikolaj Evreinov u.a. 2017, 291-302.
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MIT DEM
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ABBILDUNGEN
Abb. 1: »Odna iz scen inscenirovki ›Vzjatie Zimnego dvorca‹«, Petrograd 1920, CGAKFFD SPb (Центральный государственный архив кинофотофонодокументов), Gr 3245.
Abb. 2: »Odna iz scen inscenirovki ›Vzjatie Zimnego dvorca‹«, Petrograd 1920, CGAKFFD SPb, Gr 3248.
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Abb. 3: »Krasnogvardejcy v avtomobile na Dvorcovoj ploščadi – scena iz inscenirovki ›Vzjatie Zimnego dvorca‹«, Petrograd 1920, CGAKFFD SPb, Dr 3220.
Abb. 4: »Ataka Zimnego dvorca v Petrograde«, in: 5 let vlasti Sovetov (1922), Petrograd, S. 16.
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.
Abb. 5: »Ėpizod ›Zaem svobody‹ na ›beloj ploščadke‹. Naverchu ›vremennoe pravitel’stvo‹. Vnizu ›damy‹ i ›gospoda‹. Fotografija LGAKFD (Gr. 41356)«, in: Tolstoj, Vladimir u.a. (Hg.) (1984): Agitacionno-massovoe iskusstvo. Oformlenie prazdnestv. Materialy i dokumenty 1917-1932, Band 2, Moskva, Abb. 198
Abb. 6: »Scena iz inscenirovki na ›krasnoj‹ ploščadke«, in: Tolstoj, Vladimir u.a. (Hg.) (1984): Agitacionno-massovoe iskusstvo. Oformlenie prazdnestv. Materialy i dokumenty 1917-1932, Band 2, Moskva, Abb. 196. Dort ist die Archivangabe LGAKFD (Gr. 41356) falsch, das Foto ist archiviert in: Staatliches Zentrales Museum für Zeitgeschichte Russlands, 1948_1079.
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Abb. 7: »›Erstürmung des Winterpalais‹ mit Aufgebot echter Truppenmassen, Geschütze und feuernder Panzerautos«, in: Fülöp-Miller, René (1926): Geist und Gesicht des Bolschewismus, Wien (Nachdruck: Siepmann, Eckard (Hg.) (1978): Fantasie und Alltag in Sowjet-Russland. Ein Augenzeugenbericht, Hamburg), S. 151.
Abb. 8: »Inszenierung ›Vzjatie Zimnego dvorca‹ – eine der Szenen – bewaffnete Rotarmisten auf dem Schlossplatz« (Inscenirovka ›Vzjatie Zimnego dvorca‹ - eodna iz scen – vooružennye krasnoarmejcy na Dvorcovoj ploščadi), Petrograd 1920, CGAKFFD SPb, Ar 86597.
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Abb.
9:
Stanovlenie
sovetskogo
teatra.
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Kinosvidetel’stva
ėpochi,
1920,
http://www.youtube.com/watch?v=H3LYAciehes, 11:32, gesehen am 20.08.2017.
Abb. 10: »Parad voinskich častej, prinimavšich učastie v inscenirovke ›Vzjatie Zimnego dvorca‹«, Petrograd 1920, CGAKFFD SPb (Центральный государственный архив кинофотофонодокументов), Gr 3250.
Von … bis … : Etappen einer Bildformel im Dokumentarfilm über die Sowjetunion I RINA S ANDOMIRSKAJA
… Rybnikov komponiert die Oper Liturgie der Katachumenen. Die Folgen des Mescheten-Pogroms in Usbekistan. Die Folgen des Erdbebens in Armenien. Ein Arbeiterstreik in einer Jaroslavler Maschinenbaufabrik. Die Folgen des Unfalls von Černobyl’. Akademiemitglied Sacharov kehrt aus dem Exil zurück. In BergKarabach erhebt sich die nationale Unabhängigkeitsbewegung. In Lettland erhebt sich die nationale Unabhängigkeitsbewegung. In Moskau erhebt sich die demokratische Bewegung. In Moskau erhebt sich die antidemokratische Bewegung. Eine Gruppe Hippies ruft in einem Waldlager zu Veränderungen im Zeichen der Liebe und des Evangeliums auf. Das Mitglied des Politbüros El’cin legt den Kern seiner Reformideen dar. Selbstverbrennung von Frauen in Mittelasien. Die Einwohner der Stadt Kiriši im Gebiet Leningrad fordern die Schließung eines gesundheitsschädigenden Betriebs. Die Rockband »Alisa« spielt ein Lied. Und so weiter. So könnte die archivische Annotation zu Juris Podnieks’ Film lauten, der 1991 vom britischen Fernsehen unter dem Titel Mēs? (Hello, Do You Hear Us? in der BBC-Ausstrahlung, Soviets in der amerikanischen Version, Wir? [My?] in der sowjetischen, 1989-1991)1 produziert wurde, wenn sie denn im russischen
1
Antra Cilinska (Riga, Jura Podnieka Studija) stellte DVD-Kopien dieses und anderer Filme Podnieks’ zur Durchsicht zur Verfügung und gewährte Zugang zu Zeugnissen seiner Arbeit aus erster Hand; vgl. auch den auf einem Interview mit Antra Cilinska beruhenden Artikel »Something for Everyone« (Pearson 1993). Unter den wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat sich die Dissertation von Maruta Zane Vitols (2008) als die umfangreichste Informationsquelle zum Werk des lettisch-sowjetischen
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Filmarchiv zu finden wäre. Diese imaginäre Annotation lässt den Film wie eine schwarze Parodie auf das Storyboard des alltäglichsten sowjetischen Kinoereignisses – der Wochenschau-Filmchronik vom Typ »Nachrichten des Tages« erscheinen, in der uns unsere Heimat – die UdSSR – präsentiert wurde. Das monumentale Kino-Fernseh-Epos (der Film besteht aus fünf Teilen mit einer Länge von jeweils gut 50 Minuten) besitzt ungeachtet der überwältigenden Vielfalt dramatischer Ereignisse eine leicht erkennbare Struktur. Nur dass scheinbar ein böses Genie die durchgehend positiven Berichte aus den entlegenen Winkeln der Heimat, die Nachrichten von den Feldern und aus den wissenschaftlichen Laboratorien, die Meldungen von Buchneuerscheinungen, die Bilder von Bestarbeitern und Delegationen auf Freundschaftsvisite durch schreckliche Zeugnisse von Leid, Gewalt und Widerstand ausgetauscht hat. Podnieks Filmcrew durchfurcht die Weiten der Heimat, wie es die offiziellen sowjetischen Filmchronisten getan hatten – »von einem Ende zum anderen«, »von den Bergen im Süden bis zu den Meeren im Norden« und stößt überall statt auf Bilder des blühenden friedlichen Lebens auf Spuren der Katastrophe. Wie oft sahen wir die Heimat – oder sahen sie vielmehr nicht – in den Wochenschau-Nachrichten, im Kinosaal sitzend, nicht auf die Leinwand schauend, unaufmerksam, uns mit dem Nachbarn unterhaltend und darauf wartend, dass der richtige Film endlich anfängt. Das ist das Darstellungsprinzip, in dem wir unsere Heimat – die UdSSR – letztendlich kennen (nicht kennen) und in dem wir uns an sie erinnern (nicht erinnern). Verschlissen durch die Jahrzehnte, war es von einem einst originellen Einfall längst zur Gewohnheit geworden. Die »Nachrichten des Tages« hatten sich unendlich vergrößert, sich unendlich in der Zeit ausgedehnt, waren aufgequollen von Blut und Gewalt: »Nachrichten des letzten Tages«. Wie fast alle Erfindungen des sowjetischen Dokumentarfilms verdanken wir auch dieses Format Dziga Vertov. Seinen Meisterwerken Ein Sechstel der Erde (Šestaja čast’ mira) (1926), Drei Lieder über Lenin (Tri pesni o Lenine) (1934) und Wiegenlied (Kolybel’naja) (1937) liegt das Darstellungsprinzip des Intervalls2 zugrunde – »von einem Ende zum anderen«. Darauf beruhen auch seine
Dokumentarfilmers Juris Podnieks (1950-1992) erwiesen. Vgl. ebenso die dem lettischen Kino gewidmete Ausgabe der Zeitschrift KinoKultura 2012. 2
»Das Kino«, behauptet Vertov, »ist ebenso die Kunst der Erfindung der Bewegung«: »Der Stoff – die Elemente der Bewegungskunst – sind die Intervalle (die Übergänge von einer Bewegung zu anderen) und keinesfalls die Bewegung selbst. Sie (die Intervalle) geben auch der Handlung die kinetische Lösung. Die Organisation der Bewe-
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späteren, weniger bekannten und nach allgemeiner Meinung weniger interessanten Arbeiten für die Wochenschau »Nachrichten des Tages«. Die gesamte Geschichte des Stalinismus ist abgesteckt durch die Projekte Vertovs: Ein Sechstel der Erde entstand im romantischen Geist der frühen Industrialisierung, Drei Lieder über Lenin an der Schwelle zum ›Hochstalinismus‹, Wiegenlied in den Jahren des stalinistischen Terrors und die »Nachrichten des Tages« wurden vom Krieg und den anschließenden antisemitischen und antiformalistischen Kampagnen begleitet. Das Darstellungsprinzip, nach dem Podnieks in seinem Film Wir? arbeitet, geht genealogisch auf Vertovs »Kino-Auge« (»Kino-Glaz«) als ein Verfahren der dokumentarischen Kinematografie zurück. Dieser Aufsatz bietet eine kleine archäologische Untersuchung eben dieses Vertov’schen Verfahrens. Die Sowjetunion zerfiel gleichzeitig mit ihrem Film. »Ende 1991 ging unter anderem auch die Ära des großen sowjetischen Films zu Ende. Die Doktrin, mit der das Werk der berühmten und niemandem bekannten Nachkommen der Brüder Lumière, wo im Sechstel der Erde sie auch immer leben mögen, verknüpft wird – ob im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung oder dem Widerstand gegen sie –, war Geschichte.« (Dondurej 1995: 126)3. Der kritische Film der 1980er Jahre (Podnieks’ Ist es leicht, jung zu sein? [Legko li byt’ molodym?], Vasilij Pičuls Kleine Vera [Malen’kaja Vera], Tengiz Abuladzes Die Reue [Pokajanie]) zersetzte den sowjetischen Mythos und trug so zu seinem Fall bei. Diese Filme stellten auch das sowjetische Wirtschaftsmodell der Filmproduktion infrage, da sie alle große Kassenerfolge waren und die Hoffnung auf ein Überleben unter marktwirtschaftlichen Bedingungen schürten. Auf der anderen Seite begann das sowjetische System seine institutionellen Positionen nach und nach aufzugeben,
gung ist die Organisation ihrer Elemente, d.h. der Intervalle in Sätzen.« (Vertov 1973: 10-9) 3
Zur Statistik und Analyse des »Einbruchs« der Zuschauerzahlen am Ende der sowjetischen Periode und im russischen Kinobetrieb der 1990er Jahre vgl. Dondurej 1995. Zu den Gründen desselben, dem Widerspruch zwischen Filmsprache und Wirklichkeit zum einen und Film- und Fernsehästhetik zum anderen, vgl. Shepotinnik 1991. Ausführlicher zur Geschichte des Dokumentarfilms der Glasnost’-Zeit vgl. die Monografie The Zero Hour: Glasnost and Soviet Cinema in Transition (Horton/Brashinsky 1992); aus einer Gegenperspektive, unter dem Aspekt der sowjetischen Restauration und der Suche nach dem ideologischen Feind, wird diese bei Mal’kova (2002) beleuchtet.
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darunter auch die in der Filmindustrie.4 Der Staat sagte sich von seinem Film los und der Film von seinem Staat. Diese gegenseitige Zerstörung war eine umgekehrte Spiegelung der Situation zu Beginn der 1920er Jahre, als Film und Staat sich unterstützt und einander geholfen hatten: der Staat mit Geld und Privilegien, der Film mit symbolischem Kapital.5 »Wir kämpften derart gegen das System, schlugen auf diese Wand ein, ohne Hände und Köpfe zu schonen. ›Die Wand‹ fiel und dahinter zeigte sich ein Spiegel. Und jeder blieb im Eins-gegen-Eins mit seinem Spiegelbild, mit sich selbst«, zitiert Daniil Dondurej (2007: 5) die von Ėlem Klimov Anfang der 1990er Jahre gesprochenen Worte. Wir? hat sich als ein eben solcher Spiegel erwiesen. Der Film, der seine Geburt dem westlichen Fernsehen verdankt, gehört genetisch zur sowjetischen Filmproduktion und stellt die letzte Aussage über die UdSSR in der Sprache des epischen sowjetischen Dokumentarfilms dar. Wir? schließt das über Jahrzehnte aufgeschichtete sowjetische epische Filmnarrativ ab und bietet dabei seine Dekonstruktion an.
4
Mit der institutionellen Krise des Films, u.a. den Ereignissen des Fünften und Sechsten Kongresses der Filmemacher, setzt sich George Faraday (2000) auseinander. Als einen der Gründe dafür, warum das Kino in Konkurrenz zum Videosalon und Fernsehen seine Zuschauer nicht halten konnte, nennt er das messianische Selbstbild des Filmemachers als heroischen Künstler, der dazu berufen ist, dem Publikum seine Bedingungen zu diktieren. Zu den heftigen Konflikten im Emanzipationsprozess des sowjetischen Films nach der Aufhebung der Zensur und der Gründung der Konfliktkommission zur Rehabilitierung verbotener Filme vgl. u.a. die Beiträge von Irina Rubanova und Andrej Plachov (dem Vorsitzenden der Kommission) in der Broschüre des Filmfestivals Rotterdam (1991). Ein weiterer – ideologischer und ästhetischer – Grund könnte darin gesehen werden, dass die UdSSR sich als ein Imperium behaupten wollte und gleichzeitig auf der Suche nach einer nationalen Identität war – eine schizophrene Selbstidentifikation, die sich in der Krise widerspiegelt, die Podnieks in Wir? eingefangen hat (vgl. Condee 2009).
5
»Für die sowjetische Leinwand war das Staatswesen immer die wichtigste stützende Tradition gewesen. Deshalb zog die Tragödie des auseinandergebrochenen Staates – der UdSSR – auch die Tragödie seiner Filmkunst nach sich. […] Entstanden als eine staatliche, dem Wesen nach hybride ›Kunst-Ideologie‹ teilte er [der Dokumentarfilm] das Schicksal dieses Staates bis hin zur Selbstzerstörung …« (Džulaj 2005: 7-13).
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Der Dokumentarfilm begründete das Bild unserer Heimat als einer Einheit, nachdem er die Repräsentation der imaginativen Geografie der UdSSR übernommen hatte und zu einer Spielart der geografischen Karte geworden war (ausführlicher dazu Widdis 2003; Sandomirskaja 2008). Diese Karte wurde in den 1920er Jahren vom »Kino-Auge« erschaffen, das Menschen mit Kameras in alle Richtungen sandte, um ihr Material anschließend im Zentrum zu sammeln und die Montagefragmente nach den im Zentrum ausgearbeiteten Prinzipien zu einem einheitlichen Ganzen der visuellen Repräsentation der UdSSR zusammenzufügen. Die Evolution der Kinematografie Vertovs ist das beste Beispiel für die geschichtliche Dynamik des Zentrifugalen und Zentripetalen: Während sich die Reportagen in Ein Sechstel der Erde in ihrem Bestreben vom Zentrum wegzukommen und zu den entlegensten Winkeln vorzustoßen über die Weiten der UdSSR verstreuen, ist in Wiegenlied, das zur Hälfte aus solchen Bildern wie vom Skilanglauf oder Fallschirmsprung, Auto- oder Fahrradrennen oder einer Kajakfahrt besteht, alle Bewegung zum Herzen unserer Heimat auf dem Roten Platz gerichtet. In dieser magischen, beweglichen Karte drückt sich der Triumph des Sowjetischen aus.6 Und auch Juris Podnieks, der in Wir? Bilder vom Zerfall des sowjetischen Raums malt, orientiert sich an dieser Karte. Der Anblick der Orte, zu denen uns diese Karte in diesem Bild führt, ist »unerträglich und undenkbar« (Gilles Deleuze).7 Unter Anwendung einer ganzen Reihe sowjetischer Verfahren (deren Urheber Vertov ist) hat Podnieks die so greifbar vertrauten optimistischen Filmnarrative mit Figuren aus Dantes Inferno besiedelt. Der Vergleich ist banal, drängt sich aber auf, denn nicht umsonst beginnt der Film – dies eine Art Epigraf – mit Glockenläuten, Bildern von zerstörten Kirchen und Rybnikovs Liturgie der Katachumenen. Podnieks liefert eine Reportage aus der Hölle. In den Weiten der UdSSR, von einem Ende zum anderen, von Moskau bis zu den äußersten Rän-
6
Darüber, dass die Karte der UdSSR neben Lenins Portrait zur Ikone des frühen Sowjetstaates wurde, schrieb Walter Benjamin in seinem 1927 verfassten Essay »Moskau« (Benjamin 1972, IV, 1).
7
Zu den Transformationen des »Erhabenen« (»des Unerträglichen und des Undenkbaren«) in der Evolution des westlichen Films von der Avantgarde des »BewegungsBildes« zum Autorenfilm des »Zeit-Bildes« der Nachkriegszeit vgl. Deleuze 2008. Untersuchungen zum osteuropäischen, darunter auch sowjetischen Spielfilm, die von Deleuz’ Theorie des Zeit-Bildes ausgehen, finden sich bei Drubeck-Meyer/Murašov 2010.
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dern, herrscht der Tod: Leichen mit aufgeschnittenen Kehlen, alte Frauen in der verstrahlten Zone von Černobyl’, Kinder in einer durch einen Chemiebetrieb verseuchten Stadt, Frauen im vom Boden verschluckten Spitak, 8 usbekische Komsomolzinnen, die ihre mit Kerosin übergossenen Kleider anzünden, um ihre Ehre zu verteidigen: Sie alle sind noch am Leben, doch irgendwie bereits nicht mehr vorhanden und ihre farbigen Filmschatten, die durch den Lichtstrahl des Filmprojektors oder die Fernsehröhre erzeugt werden, erweisen sich in ihrer Materialität als äußerst angemessen, um den Eindruck ihres Schattendaseins zu vermitteln. Die Rezeption des Films, schrieb Walter Benjamin über die Kinematografie als solche und über Filme wie Ein Sechstel der Erde, geht nicht mit der tiefen Kontemplation einher, in der das von einer Aura umgebene Kunstwerk den Betrachter gefangen nimmt und versinken lässt. Der Zuschauer nimmt den Film nicht auf dem Wege der Aufmerksamkeit, sondern auf dem der Gewohnheit wahr – ähnlich einem Passanten, der in seine Gedanken vertieft ist, im Unterschied zu einem Reisenden, der sich am Anblick des Architekurdenkmals weidet. Benjamin nennt eine solche Wahrnehmung »taktil« (Benjamin 1990, I, 2: 502). Etwas im Film sehen, bedeutet, so Dziga Vertov, es »mit den Augen berühren«9, es also gewissermaßen ertasten. Montage und perspektivische Einstellung haben auf die zerstreute Aufmerksamkeit einen erschütternden Effekt: Der so ausgelöste Repräsentationsschock weckt das (Klassen-)Bewusstsein. Vertovs kinematografisches Bild will mit seiner Gewalt die Dominanz der kommerziellen Repräsentation brechen, in Folge dessen sich das Proletariat das neue, reine Sehen des »Kino-Auges« aneignen soll.10 Die perzeptive Gewalt – »beunruhigende Bilder zu erschaffen«, »den Zuschauer zu beunruhigen« – hielt auch Ėsfir’ Šub für die wichtigste Aufgabe des Dokumentarfilms (Šub 1972: 205ff.). Ein ähnliches Programm der radikalen Rezeptionserneuerung schlug auch Benjamin
8
In der Region um die nordarmenische Stadt Spitak ereignete sich am 7. Dezember 1988 ein schweres Erdbeben, dem Schätzungen zufolge mindestens 25 000 Menschen zum Opfer fielen, etwa eine Million Menschen wurden obdachlos.
9
Eigene Übersetzung: In der ansonsten zitierten deutschen Ausgabe heißt es: »Nicht anschauen« (Vertov 1973: 15) (A.d.Ü.).
10 »Wir erklären die alten Kinofilme, die romantizistischen, theatralisierten u.a. für aussätzig. – Nicht nahekommen! – Nicht anschauen! – Lebensgefährlich! – Ansteckend! […] Wir fordern auf: – Weg – von den süßdurchfeuchteten Romanzen, vom Gift des psychologischen Romans, aus den Fängen des Liebhabertheaters, mit dem Rücken zur Musik – Weg – ins reine Feld, in den Raum der vier Dimensionen (drei + Zeit)! Auf der Suche nach ihrem Material, ihrem Jambus, ihrem Rhythmus!« (Vertov 1973: 7f.).
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vor. Mit seiner »göttlichen« Gewalt stellt sich das Bewegungsbild einer anderen Art von Gewalt entgegen – der Macht des durch Tradition gefestigten, ideologisch und politisch stabilen, reaktionären Symbols (vgl. Benjamin 1989a, II, 1). Gegenüber letzterem ist die Gewalt der künstlerischen Repräsentation ebenso legitim wie die Gewalt der Aufständischen gegenüber der repressiven Staatsmaschine. Die »reine Gewalt« des revolutionären Bildes trägt das Bewusstsein in die ausgebeutete Masse hinein und damit zu ihrer Transformation von einer formlosen Masse in eine Klasse bei. »Der Tod des ›Kinematographen‹ ist notwendig für das Leben der Filmkunst. – Wir rufen dazu auf, seinen Tod zu beschleunigen« (Vertov 1973: 7). Der frühe linke Film – der Film des BewegungsBildes, wie Gilles Deleuze ihn genannt hat, – diktiert eine »Beziehung zu einem Ganzen, das nur in einer höheren Stufe des Bewußtseins gedacht werden kann; die Beziehung zu einem Denken, das nur im unterbewussten Verlauf der Bilder dargestellt werden kann; die sensomotorische Beziehung zwischen Welt und Mensch, Natur und Denken.« (Deleuze 2008: 214) In Ein Sechstel der Erde präsentiert uns Vertov die UdSSR als eine schöpferische Aufgabe: Man muss sich Mühe geben, das »Sechstel« mit dem neuen »Kino-Auge« zu sehen, um es anschließend als Gemeingut in Besitz zu nehmen. Der Filmschock soll dieser Aneignung des »Sechstels« durch den Blick und das Bewusstsein seines neuen Herrn, des Proletariats, dienen. »Ihr – seid die Herren dieser Erde, in Euren Händen liegt EIN SECHSTEL DER ERDE«, riefen in Vertovs Film die Zwischentitel von der Leinwand. Doch bereits 1927 äußerte sich Walter Benjamin skeptisch zu dieser Art von Film, nachdem er in Ein Sechstel der Erde einen Versuch der filmischen Kolonisierung erkannt hatte, einen misslungenen Versuch wohlgemerkt. 11 Der spätere sowjetische Dokumentarfilm übernahm zwar die Vertov’schen Formen, gab aber die ihnen innewohnende »reine Gewalt« an die repressiven Staatsapparate ab. Im Film der 1930er Jahre wird der Fausthieb des revolutionären Bildes durch die grenzenlose Freude einer glücklichen und optimistischen Repräsentation ersetzt und so ein »ideologisches Produkt« erzeugt. »Waren die Filmemacher gegen eine solche Bevormundung? Natürlich nicht!« (Džulaj 2005: 20) Der zur Kategorie der Ausdrucksmittel gehörende Schock verwandelt sich in ein Charakteristikum der Alltagswirklichkeit und die von Vertov gesuchte neue Synthese kippt in die totale Ästhetik. Eine
11 »So hat man denn jetzt eben den ›Sechsten Teil der Erde‹, ein Filmepos vom neuen Rußland, herausgebracht. Die Hauptaufgabe, in charakteristischen Bildern das ganze ungeheure Rußland in seiner Umprägung durch die neue Gesellschaftsordnung zu zeigen, hat der Regisseur Wertoff allerdings nicht gelöst. Die filmische Kolonisierung Rußlands ist fehlgeschlagen …« (Benjamin 1989b, II, 2: 748).
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vom Dauerschock durchsetzte Wirklichkeit repräsentierend erlangte die »Kinematographie« mit ihren »erlahmten Nerven« (Vertov) einen offiziellen Status und fungierte von nun an als schockabsorbierendes Medium, als »Werkzeug zur kulturpolitischen Erziehung der breitesten Arbeiter- und Bauernmassen«.12
V OM »K INO -AUGE « ZUM »K INO -B LICK «: D IE S CHOCKABSORPTION In einem ihrer Fragmente, die während der Leningrader Blockade verfasst wurden, hat Lidija Ginzburg mit der ihr eigenen Lakonie die dreigliedrige Formel der stalinistischen Kunst der Vorkriegszeit herausgestellt: »alle sind gut«, »allen geht es gut«, »alles ist gut« (Ginzburg 2011: 100). Ein Tag der neuen Welt (Den’ novogo mira) (von Michail Sluckij13 und Roman Karmen, 1940) – ein Film, in dem die Drehbuchautoren zwei Vertov’sche Formate, das des »Sechstels« und das des »einen Tages« (Der Mann mit der Kamera [Čelovek s kinoapparatom]) zusammengeführt und dabei »das Leben, wie es ist« durch eine fast durchgehende Inszenierung ersetzt haben,14 – bedient sich im Vertov’schen Arsenal zur Syn-
12 »Na bol’ševistskie rel’sy« (Pravda vom 14.12.1931), zit. nach Džulaj 2005: 20. 13 Džulaj (2005: 37) über Michail Sluckij: »Nur wenige Berichterstatter der dreißiger Jahre besaßen eine solch feine propagandistische Begabung«. 14 Vertovs utopisches Prinzip »das Leben, so wie es ist« erwies sich als unvereinbar sowohl mit der Technologie der Filmproduktion als auch mit den Prinzipien des Sozrealismus. Der inszenierte Dokumentarfilm der 1930er Jahre war die filmische Verkörperung der Vorstellungen Gor’kijs vom Wesen des Sozrealimus und vom »Recht der Kunst, zu übertreiben«, wonach es für die Kunst des Sozrealimus »nicht reicht, das Sein abzubilden, man muss an das Wünschenswerte und an das Mögliche denken« (zit. nach Mal’kova 2002: 74-78). Die Geschichte des stalinistischen Dokumentarfilms spiegelt die internen Konflikte innerhalb der kanonischen Kunst wider. Mitte der 1930er Jahre wurde der Dokumentarfilm infolge der von der RAPP (Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller) losgetretenen Kampagne des Klassenkampfes in der Kunst mit dem Vorwurf des schädlichen Formalismus angegriffen. 1937 bezeichnete Ėsfir’ Šub in ihren öffentlichen Auftritten den Dokumentarfilm, diesen verteidigend, mehrfach als »lasterhaftes« Genre. Das Erscheinen eines solch groß angelegten und offensichtlich teuren Films wie Ein Tag der neuen Welt zeigt, dass es dem Dokumentarfilm bis 1940 gelungen war, sich zu rehabilitieren und seine Loyalität unter Beweis zu stellen, wodurch sich teilweise auch der ihn durchziehende Enthusiasmus erklärt.
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thetisierung einer totalen Wirklichkeit des allumfassenden Wohlergehens. Die Gewalt des Lebens erlischt in der inneren Ruhe eines perfekt ausbalancierten, synchronisierten und von den Regisseuren vollständig kontrollierten Bildes. Diese Wirklichkeit wird bereits nicht mehr durch das »Kino-Auge« synthetisiert, sondern durch den »Kino-Blick«. Die Heimat stellt keine Aufgabe mehr dar, sondern hat sich in ein Objekt der Verzückung verwandelt, die Filmbewegung in eine selbstzufriedene, durch nichts zu erschütternde Tautologie. »Grüße dich, meine große Heimat, / An der ich mich nicht sattsehen kann …« – singt der Chor im Off.15 »In den Wäldern, auf den Bergen, an den Meeren und an den Flüssen – / Der sowjetische Mensch lebt überall …« Der Sprecher erklärt, dass an ein und demselben Tag, dem 24. August 1940, 97 Kameraleute die wichtigsten Ereignisse des Tages an den entferntesten Punkten der Sowjetunion gefilmt haben.16 »In den Weiten der herrlichen Heimat« halten sie das Leben nicht so fest, wie es ist, sondern wie es sein soll. Die Weiten werden bevölkert von Helden der Arbeit und Musterschülern der militärischen und politischen Ausbildung, die in den unterschiedlichsten Situationen – im Flugzeug oder im Zugabteil, am Arbeitsplatz oder im Urlaub, mitten bei der Arbeit im Kollektiv oder beim Frühstück am Familientisch – leicht gehemmt sich selbst spielen. Vertov sah im Film »die Kunst der Organisation der notwendigen Bewegungen der Dinge im Raum und in der Zeit«.17 In der ideologischen und bürokratischen Synchronisation der Arbeit Dutzender über das Land verstreuter Kameraleute demonstriert Ein Tag der neuen Welt die Kunst der Organisation des Filmproduktionsprozesses. Bei Vertov ist der Raum konkret, die Zeit hingegen abstrakt, reduziert auf ein extrem verallgemeinertes »Jetzt« (im Gegensatz zum kapitalistischen und imperialistischen »Früher«). In Ein Tag der neuen Welt ist das »Jetzt« des riesigen Landes harmonisiert, geordnet und mit einer chronometrischen Präzision auf die Minute genau dargestellt. Sogar die Sonne geht »streng
15 Aus der Filmmusik, Textautor ist Lebedev-Kumač. 16 Das Erzählformat »ein Tag des ganzen Landes« erwies sich als produktiv. Nach Ein Tag der neuen Welt, an dem 97 Kameraleute mitwirkten, folgte 1942 Michail Sluckijs Ein Kriegstag (Den’ vojny), für den das Material von 160 Kameraleuten, die am 13. Juni 1942 an der gesamten Front und in der Etappe gefilmt hatten, montiert wurde. 1947 erschien Il’ja Kopalins und Irina Setkinas Ein Tag des Siegerlandes (Den’ pobedivšej strany) über den Wiederaufbau, der am 14. August 1947 von 50 Kameraleuten gefilmt worden war. 17 Die deutsche Ausgabe weist an dieser Stelle Lücken auf und musste ergänzt werden, vgl. Vertov 1973: 9 (A.d.Ü.).
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nach Kalender« auf und unter. Die Zeit unterliegt der vollständigen Kontrolle und der Film kann ihrem Verlauf in mehreren Punkten gleichzeitig folgen. Wenn der Leuchtturm im Fernen Osten erlischt, hören die Menschen in Moskau noch am Abend des vorigen Tages Čajkovskijs Sechtse Sinfonie. Dem Eilzug, der zu Beginn des Films in Vladivostok abfährt (die Räder schlagen im Takt der Sinfonie), steht bis Moskau noch eine Fahrt von neun Tagen bevor. Die Kurgäste, die mit dem Flugzeug von Moskau Richtung Kislovodsk abfliegen, werden bereits am Abend Bäder nehmen. Der »Kino-Blick« ist in der Lage, die Rhythmen des riesigen Landes optimal zu synchronisieren. Raum und Zeit vernähen sich zu einer einzigen Erzählung, sich in Kontrasten vereinend: Kriegssequenzen werden durch Bilder des friedlichen Lebens abgelöst, Arbeit durch Erholung (auf Vertovs Stränden und in seinen Stadien). Der Zweck jeglicher Arbeit erschöpft sich in ein und demselben: »der sowjetische Mensch […] ehrt sein Vaterland durch seine Mühen« (aus dem Lied). Industrielle Motive wechseln sich mit landwirtschaftlichen ab, Ballett mit Jagd, Fabrikhalle mit Bürogebäude. Die von Punkt zu Punkt springende Filmkamera demonstriert nicht nur die Vielfalt der Natur-, Kultur-, und Produktionslandschaften, sondern diszipliniert diese Menge auch, indem sie sie der Zeitmessung unterwirft. Die Vielfalt der Heimat wird auch in einer Auflistung von Berufen vor Augen geführt. Hier treffen wir auf Bauarbeiter der Bajkal’-Amur-Magistrale, dort auf georgische Schafhirten, am Ural auf Arbeiter aus Magnitogorsk, im Baltikum auf litauische Weber. Die Kamera wird nicht nur durch Anweisungen aus dem Zentrum gesteuert, sie kehrt in ihrer Bewegung auch ständig von den Rändern nach Moskau zurück, als ob sie nicht die Kraft hätte, sich von Moskau loszureißen: Vladivostok – Moskau – Leningrad – L’vov – Moskau – Narym – Baltikum – Moskau – Kazbek – Moskau – Černivci – Moskau usw. Mit Hilfe dieser Sprünge konstituiert sich die UdSSR als eine Vielfalt von Orten und Tätigkeiten, wobei diese Vielfalt klug geschnittener Sequenzen die Gesamtharmonie des riesigen organischen Ganzen nicht zerstört, sondern ganz im Gegenteil die Freunde an der zentralen Organisation veranschaulicht. An eben dieser Organisation erfreut sich der Blick, wenn er über die Heimat, an der er sich nicht satt sehen kann, schweift. Der Totalitätseffekt wird durch die stilistisch einheitliche Arbeit der Kameraleute, den Monolog des Sprechers und die glatten dramaturgischen Übergänge zwischen den Sequenzen erzielt. Das mit dem »Kino-Blick« erfasste Territorium der UdSSR ist der räumliche Ausdruck einer in ihrer Geschlossenheit und Natürlichkeit vollendeten, in ihren Erscheinungsformen komplett synchronisierten und harmonisierten, mit sich selbst identischen Welt ohne jegliches Anzeichen des Anderen, weder innen noch außen. Wie um sich der Unerschütterlichkeit der Identität der UdSSR zu versichern, eilt
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die Kamera von Zeit zu Zeit zur Inspektion der Staatsgrenzen; mal nimmt sie die Grenze zum Iran in Augenschein, mal stürzt sie in den Westen, um zu prüfen, wie sich die Bürger der wiederbefreiten baltischen Republiken auf die außerordentlichen Sitzungen ihrer Volksparlamente vorbereiten (eben jener, die den »freiwilligen Beitritt« beschlossen haben). Der Westen der UdSSR mit seinen unlängst erweiterten Grenzen bedarf besonderer Aufmerksamkeit: Seit der Unterzeichnung des Molotov-Ribbentrop-Paktes ist genau ein Jahr vergangen. Wir sehen einen friedlichen Morgen im sowjetischen L’vov, im Vordergrund das Mickiewicz-Denkmal (der große Dichter hat in der UdSSR seine wahre Heimat gefunden); im selben morgendlichen Halbschlaf Leningrad (das alles sind natürlich Zitate aus Der Mann mit der Kamera) – die Stadt schläft friedlich, da sie keine Grenzstadt mehr ist; einen jüdischen Zimmermann aus Černivci, der mit seiner vielköpfigen Familie in die Wohnung seines einstigen Hausherren zieht. Seine kleine Tochter drückt mit einem Fingerchen auf den Tasten des von den enteigneten Vorbesitzern zurückgelassenen Klaviers herum. Und noch eine rührende Szene: Hochzeit in der Bukowina. Die befreiten Bauern der sowjetischen Westukraine tanzen in prunkvollen Volkstrachten, während der Hochzeitszug mit munteren Liedern in die Ferne schreitet, vorbei an der Kirche, an der der verdutzte Pope vergeblich auf Braut und Bräutigam wartet. Das geplünderte und vom Sinn befreite Vertov’sche Repertoire rächt sich an seinem neuen Herrn. »Wenn die Gewalt nicht mehr die des Bildes und seiner Vibrationen, sondern die des Repräsentierten ist, fällt man in eine blutige Arbitrarität, und wenn die Größe nicht mehr die der Komposition ist, sondern reines und einfaches Anschwellen des Repräsentierten, gibt es keine geistige Stimulation und kein Entstehen des Denkens mehr. Eher handelt es sich um eine allgemeine Schwäche bei Autor und Zuschauern« (Deleuze 2008: 215).
D ER S TURZ
DER
E NGEL . F ILM S OCIALISME
1967 wurde Dziga Vertovs Leichnam vom Miusskoe-Friedhof zum Novodevič’e-Friedhof überführt. 1966 entsandten der Regisseur Uldis Brauns vom Kinostudio Riga und der Drehbuchautor, und später auch bedeutende Regisseur, Gerc Frank, die Begründer der Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms, vier Kamerateams in alle Ecken der Sowjetunion, um die »schönsten, würdigsten, warmherzigsten und bedeutendsten Erscheinungen der menschlichen Seele«
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(Fulger 2011)18 filmen zu lassen, wozu sie ihnen neben Anweisungen auch Exemplare von Vertovs Tagebuch mitgaben. Der Film entstand zu Ehren Vertovs, nach Motiven von Ein Sechstel der Erde, und sollte die Wiedergeburt seiner Repräsentationspolitik in Opposition zur »quantitativen Mittelmäßigkeit« (Deleuze 2008: 215) des Mainstreams – zu den unzähligen inszenierten Dokumentarfilmen und der ritualisierten Pseudo-Filmchronik – darstellen. Ursprünglich hieß der Film »UdSSR – 1966« und wurde, wie Vertovs Filme, im Zusammenhang mit zwei Großereignissen gedreht: dem XXIII. Parteitag der KPdSU und dem 50. Jahrestag der Oktoberrevolution. Erschienen ist er unter dem Titel 235 000 000, gemäß der Einwohnerzahl des Landes, als spräche er im Namen aller seiner Bürger, die im Film denn auch mitspielen – Menschen im Alter zwischen drei Monaten und 176 Jahren, wie der Vorspann zu wissen gibt. Der Film eröffnet mit der Metaphorik des »Sechstels«: Die Tore eines Hangars werden aufgestoßen und ein Flugzeug hinausgeschoben. Das Vertov’sche Flugzeug begibt sich auf eine neue Route. Am Ende des Films sehen wir das Flugzeug vom Boden abheben und im Himmel verschwinden. Dieses neue »Sechstel der Erde« der Tauwetterperiode beginnt mit der Figur der Rückkehr der Geschichte selbst und endet mit der Figur der grenzenlosen, nach allen Richtungen hin offenen Zukunft. Stalins Tod im Film: Als wäre der beherrschende »Kino-Blick« im Tauwetter geschmolzen, hätte seine Struktur verloren, wäre stilistisch auseinandergefallen. Vertov selbst hätte Brauns’ und Franks Film wohl als eine Rückkehr zur reaktionären Kunsthaftigkeit aufgefasst. Und tatsächlich sollte man sich 235 000 000 nicht als einen Film im eigentlichen Sinne anschauen, sondern als eine Arbeit aus dem Bereich der Video-Kunst: Noch besser würde er als eine Installation auf zwei Leinwänden gleichzeitig aussehen. Eine solche Verdoppelung der Aufbaukomplexität entspräche seiner Struktur. Seine gesamte Handlung (wenn man das als Handlung bezeichnen kann) gründet auf den Gegenüberstellungen von Krieg und Frieden, Himmel und Erde, Männlichkeit und Weiblichkeit, Gewalt und Liebe. Die 235 000 000 leben in einem Raum des poetischen Mythos und nicht der ideologischen Rationalisierung. Hier erwarten unzählige Bräute ihre Helden – Fallschirmjäger, die zu ihnen vom Himmel fallen. Der Sündenfall der Engel, die zum Beischlaf mit irdischen Frauen fliegen? Von Raketenträgern und aus unterirdischen Silos rauschen phallische Raketen in die Höhe. Eine alchemistische Vermählung zwischen Erde und Himmel? Der Film erlaubt es dem Zuschauer dies und jenes zu sehen und noch vieles mehr, er ist
18 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Films, den technischen Prinzipien und den Dreharbeiten vgl. die Rezension von Eksta 2012.
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nicht mehr darauf aus, die Interpretation der Leinwandrealität zu diktieren: Der Monologismus des stalinistischen »Kino-Blicks« gehört der Vergangenheit an. Der Sturz des »Kino-Blicks« führt nicht nur zu einer Fragmentierung, sondern auch zu einer Deterritorialisierung. Die UdSSR verfügt über keine klaren Grenzen »von einem Ende zum anderen« mehr, über keinen verständlichen inneren Monolog, weder der Montage noch des Sprechers, der sie als eine territoriale Einheit beschreiben würde (der Verzicht auf einen Sprechertext resultierte aus dem Wunsch, sich von den herkömmlichen Methoden des Dokumentarfilms zu distanzieren: Das visuelle Bild sollte ohne Worte verständlich sein [vgl. Eksta 2012]). Es gibt kein Territorium mehr, weil es kein Zentrum mehr gibt, das dieses Territorium durch strahlenförmige Linien organisiert hatte. Der Film wird von einem peripheren Filmstudio aus koordiniert und auch seine Handlung spielt vorwiegend an der Peripherie. Selbst die Szenen, die im Herzen der UdSSR gedreht wurden, auf den Tagungen des Parteitags im Kreml, spielen hinter den Kulissen, am Rande dieses wichtigen Ereignisses, außerhalb des offiziellen Filmbildes. Wir hören keine Programmreden, keine Begrüßungen, keine Direktiven, nur Bruchstücke aus Unterhaltungen und Interviews, das Gebrumme einer undeutlichen, zusammenhangslosen Rede. Der Parteitag, der die Einheit der Partei mit dem Volk und dem kollektiven Willen der Werktätigen repräsentiert, verwandelt sich in eine weitere Alltagserscheinung, in eine von vielen. Der Film enthierarchisiert die UdSSR, indem er ihre Fragmente in einen Raum des nicht in Epochen messbaren alltäglichen Lebens setzt, in dem alle gleichgestellt sind, weil alle gleichermaßen endlich sind. 235 000 000 – das ist die Unendlichkeit der Endlichkeit. Im Museum betrachten junge Leute die Gesichter lang verstorbener Menschen auf alten Porträts und erkennen darin sich selbst. Auf eine merkwürdige, beunruhigende Weise wird diese Welt der endlosen Wiederholung durch Kriegssymbolik gerahmt. In einer Drohgebärde lässt der symbolische Körper der Nation Raketen aufsteigen, nervös rasselt er mit Motoren und Kampftruppen. Im Inneren dieses eisernen Panzers jedoch verbirgt sich ein weicher, zarter Kern: Kinder und junge Bräute. Das Alltagsleben erblüht zwischen zwei Kriegen: einem, an den wir uns erinnern (»Dein Name ist unbekannt, deine Heldentat ist unsterblich« – das Ritual der Beisetzung des unbekannten Soldaten am Filmanfang) und einem anderen, auf den wir uns erst noch vorbereiten (Szenen der Ausbildung der Raketen- und Fallschirmjägertruppen im letzten Teil). Eingefasst in seinen grobschlächtigen eisernen Rahmen wirkt der Alltag schwerelos, wie ein Brautschleier, wie Blütenstaub, der jeden Moment vom Windstoß des Krieges fortgeblasen zu werden droht. Die Fallschirmjägerszenen im Wechsel mit den Bildern von den Bräuten im Hochzeitsgewand bannen durch ihre beunruhigende Schönheit. Der halbdurchsichtige Stoff des Fall-
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schirms umhüllt den Körper des Fallschirmspringers mal wie ein Brautschleier, mal wie ein Leichentuch. Die Gewalt des militaristischen Bildes löst sich in den Bildern der schwerelosen Leichtigkeit, der Unschuld und der Reinheit. Das Harte und das Heldenhafte vermählen sich mit dem Zarten und dem Sinnlichen.19 Schließlich ist der Erinnerung an die gefallenen Helden das rituelle Opfer dargebracht, der Donner des Kriegsorchesters verklungen, die Blumen niedergelegt, die Tränen weggewischt. Sobald das »Sechstel der Erde« der Erinnerung an den unbekannten Soldaten seinen Tribut gezollt hat, vergnügt es sich, von einem Ende zum anderen, auf Hochzeiten: in der russischen Siedlung, in den Nomadensiedlungen der Rentierzüchter im hohen Norden, im moldauischen Dorf, in Mittelasien, in Georgien, im Zigeunerlager … So wie der Raum vom Territorium befreit ist, so ist auch die Zeit im Film unabhängig von Uhr und Kalender. Als seien die menschlichen Gestalten in Form eines visuellen Aorists dargestellt, eine unendliche Wiederholung des Moments: »Jetzt«, also der Augenblick des »Lebens, wie es ist«, bedeutet »immer«. Das Vermögen der Kamera, eine Alltagsszene in eine Allegorie der ewigen Wiederkunft zu verwandeln, ist grenzenlos. Ein verliebtes Paar auf dem Karussell – eine Braut beim Anprobieren eines Hochzeitsschleiers (man fühlt sich an die Vertov-Szene erinnert, in der eine Frau einen Tschador ablegt) – Hochzeiten – Auswahl eines Kinderwagens – Kinder, die Laufen lernen, tanzen, Eis essen, zur Schule gehen, das Reifezeugnis erhalten – junge Männer, die zur Armee gehen – junge Frauen, die auf ihre Rückkehr warten. Die Jugend der Welt in unaufhörlicher Bewegung (wieder Vertov-Zitate): ein Tanz der Rentierzüchter, eine Kasachin auf einem Pferd, eine junge Pilotin auf dem Flugplatz, Abreisende eilen zur Elektritschka, Besucher einer Flugschau suchen unter einem Flugzeugflügel Schutz vor dem Regen, Speläologen steigen in eine Höhle hinab, – Vulkanologen in einen Vulkankrater, eine Karawane in der Wüste, Alpinisten in den Bergen, eine alte Frau wischt sich bei der Abschiedsfeier für den Wehrpflichtigen die Tränen ab. Es ist das Augenblickliche-Ewige, jetzt und immer, gleichzeitig hier und überall. Über die Entstehung des Treatments ist mir nichts bekannt, doch sein Skelett schimmert durch das Gewebe des Films geradezu hindurch. Sowjetische Menschen gedenken des Krieges und halten die Erinnerung an die Soldaten-Befreier
19 »So gesehen ist das Programm der Tauwetterperiode eine direkte Folge, ein Widerhall der programmatischen Kinematografie der Kriegszeit […] Die wichtigsten Filme der Tauwetterperiode haben ihren Ausgangsstützpunkt in der Kriegsthematik. Deshalb sollte von ihr aus auch der neue Aufschwung des Dokumentarfilms der 60er Jahre ausgehen« (Džulaj 2005: 103).
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in Ehren. Die Sorge der Partei um das friedliche Leben der sowjetischen Bürger. Die glückliche Kindheit sowjetischer Kinder. Bildung und Kultur. Arbeit und Muße. Verschärfung der internationalen Lage. Der Wehrdienst – die ehrenvolle Pflicht des sowjetischen Bürgers. Brauns und Frank bewegen sich im Rahmen der Parteiphraseologie und setzen dabei ihrer Leere den Versuch der Rehabilitierung der Filmsprache entgegen, den Versuch, den Glauben des Zuschauers an ihre Fähigkeit, Träger der Wahrheit zu sein, wieder herzustellen. Indem sie die phraseologischen Leerstellen mit Bildern des Alltags füllen, entspannen sie ein Stück weit die offizielle Rhetorik, da sie die Maßstäbe des kommunistischen Projekts den Maßstäben des menschlichen Lebens, die »Plan-Kolosse« (»gromad’ë planov«) 20 den bescheidenen menschlichen Wünschen angleichen. Der verschwommene Ausdruck »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« gewinnt in 235 000 000 vollste Anschaulichkeit. Das in Großaufnahme gezeigte Gesicht verdeckt die Totale des offiziellen Rituals. Die Kamera sucht nach Gesichtern in der Menschenmenge, bei Militärmanövern, bei offiziellen Zeremonien, in privatem Umfeld, in der Schule, in der Fabrik. Wohin die Kamera ihren Blick auch wendet, ihre hastige Bewegung wird überall vom Gesicht eines Menschen aufgehalten. Der Sozialismus mit menschlichem Antlitz ist ein Sozialismus der menschlichen Antlitze, aller Zweihundertfünfunddreißig Millionen. In der Gleichheit dieser Millionen vor dem Kameraobjektiv, für das alle Erscheinungen des Lebens gleich wichtig und interessant sind, triumphiert das demokratische Prinzip des »Kino-Auges«. 235 000 000 ist ein film socialisme (wie Jean-Luc Godard einen seiner letzten Filme nannte). Dieser zärtliche Sozialimus des weichen, poetischen Alltags existiert der geopolitischen Realität seiner Zeit wie zum Trotz, inmitten der Unruhen des Kalten Krieges mit seinen Raketen und Granaten, dem metallenen Klacken der Ladeverschlüsse und dem Heulen der Triebwerke, dem Wettrüsten der immer weiter perfektionierten Massenvernichtungstechnik. Die bedrohlichen Militärmanöver enden mit einem Treffen zwischen einem Soldaten und seiner Freundin, worin die verstörende Diskrepanz zwischen der Naivität der jungen verliebten Paare und der Raffinesse der militärischen Spitzentechnologie gleichsam aufgehoben wird. In der Welt, in der Brauns’ und Franks 235 000 000 leben, »sind sie gerecht, wahr und stellen das Leben dar. Sie
20 Es handelt sich um ein Zitat aus Vladimir Majakovskijs Poem »Gut und schön!« (»Horošo!«) von 1927: »Я / планов наших / люблю громадьё…« (Majakovskij 1955-1961: 313); (»Ich lieb / unsrer Pläne / gigantischen Schwung«) (Majakowskij 1980: 406).
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erleben eine einfache Geschichte, doch die Welt um sie herum lebt nach einem schlechten Drehbuch.«21
D ER F ILM –
DAS
O RGAN DES
KRITISCHEN
D ENKENS
Juris Podnieks, der der Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms entstammt, arbeitet bereits in einer ganz anderen Zeit. Ein Kritiker der Glasnost’Epoche bezeichnete die Dokumentarfilme dieser Zeit als den »unbekannten Film« (Mouratov 1992: 9-18) und tatsächlich ist dieser Film der Vergessenheit anheimgefallen. Das, was er zeigt, – Elend, Verängstigung, Gewalt, ökologische Katastrophen als Folge der sowjetischen »Unterwerfung der Natur«, die Augen der Häftlinge stalinistischer und heutiger Lager, ihre Erzählungen – das alles ist für das sowjetische Auge unerträglich, doch die Pflicht gegenüber der Wahrheit zwingt einen, dieses Unerträgliche anzuschauen. Der sozial orientierte Film muss unser Leben besser machen, behauptete die sowjetische Kritik. Doch bereits 1987 sucht ein scharfsichtiger westlicher Produzent in Moskau einen Regisseur, der in der Lage ist, die nahende Apokalypse zu dokumentieren. Er wendet sich mit diesem Angebot an Podnieks, nachdem er sieht, welche Unruhe sein Film Ist es leicht, jung zu sein? (1986) beim Publikum ausgelöst hat. Podnieks erhält die Blankovollmacht »alles zu filmen, was du willst, selbst ein Telefonbuch« (Pearson 1993). Die Aufzeichnungen seines Teams umfassten 100 Stunden Film- und 200 Stunden Tonmaterial. Das britische Fernsehen wusste nicht, wie es daraus einen Film machen sollte. Auswahl und Montage nahmen ein Jahr in Anspruch. Schließlich zeigten das britische und danach auch das russische Fernsehen fünf einstündige Folgen (vgl. ebd.). Im Format des Fernsehmehrteilers schließt Wir? die Reihe der Monumentalserien, die das sowjetische Fernsehen zu dieser Zeit produzierte, gewissermaßen ab. Den ersten Versuch einer mehrteiligen historischen Filmchronik – Chronik eines halben Jahrhundets (Letopis’ poluveka) (Filmstudio »Ėkran«), die dem 50. Jahrestag der Revolution gewidmet war und aus 50 Episoden bestand, zeigte das Fernsehen bereits Ende der 1960er Jahre. Unsere Biografie (Naša Biografija) (1977), die zum 60. Jahrestag der Revolution entstand, hatte entsprechend 60 Episoden. Die Serie Die Wahrheit des großen Volkes (Pravda velikogo naroda) wurde 1982 zum 60. Gründungstag der UdSSR produziert. Zur selben Zeit dröhnte die sowjetisch-amerikanische Serie Der unbekannte Krieg (Neizvestnaja
21 Jean-Luc Godard über die jungen Verbrecher, die Helden seines Films Bande à part (1964), zit. nach Deleuze 2008: 224.
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vojna) über die Bildschirme.22 Das alles veranschaulicht nicht nur den Hang der späten Brežnev-Ära zu einem neuen Monumentalismus im Geiste Stalins. Auch schienen die neuen technologischen Möglichkeiten des Fernsehens den Filmemacher seinem Traum vom totalen Film näherzubringen. In dem Titel Wir? (in der Version des sowjetischen Fernsehens) zitiert Podnieks Vertovs Wir. Variante eines Manifestes; das Fragezeichen schwebt dabei nicht nur über der sowjetischen Wirklichkeit, sondern auch über den Prinzipien ihrer filmischen Aufnahme. Podnieks löst sich von der poetischen Tradition der überpolitischen Allegorien und kehrt zu Vertovs politischem Film zurück, zum Film als bürgerlichem Aktivismus. 235 000 000 haben ihre Stimmen erhoben und der Film wird zum Verfechter ihrer Ansichten, zum Verstärker ihrer Stimmen (»Generation, hörst du uns? Wir sind hier«, singt die Band »Alisa« am Ende einer Episode). Jetzt »dokumentiert [der Film] das Leben innerhalb des Vulkans. Das eigentlich Neue dabei ist, dass der sowjetische Dokumentarfilm, wie der Glasnost’-Film insgesamt, anstatt den Vulkan als friedliches Tal zu tarnen, sich mit diesem Vulkan unterhält« (Horton/Brashinsky 1992: 156).23 Der Film erteilt dem »Vulkan« das Rederecht und hört ihm zu, als sei er im Zweifel: »Wir!« ruft das »Kino-Auge« der frühen Stalin-Epoche, »Wir?« fragt das »Kino-Auge« der Glasnost’-Epoche. Dieser »Vulkan« ist nichts anderes als die Geschichte. Der Zerfall der in sich geschlossenen, organischen sowjetischen Welt, wie wir ihn in Uldis Brauns’
22 Vgl. ausführlicher dazu Mal’kova 2002: 126-128. Darin erscheint Podnieks als die seit Stalin erkennbare Figur des Verräters und Schädlings, der Wasser auf die Mühlen der Westpropaganda gießt: »Den Erfolg von ›Wir?‹ kann man als doppelköpfigen Janus bezeichnen. Sich an das westliche Publikum wendend bestätigt der Epos die dort lang gehegten Stereotypen, die er in ein ungewohntes, doch in die Mode kommendes Gewand des sowjetischen Monumentalismus hüllt, welches uns wiederum so vertraut und zur Gewohnheit geworden ist, dass es die unbewusste Annahme eines neuen Stereotyps erlaubt, das dem alten, ›sowjetischen‹ geradewegs entgegengesetzt ist. Viele Einschätzungen und Schlussfolgerungen des Regisseurs wären verdächtig, fremdartig erschienen, wären sie in einer anderen, für die BBC typischen stilistischen Form mitgeteilt worden. In der ›eigenen‹, monumentalen muteten sie wie Offenbarungen an.« (ebd. 134) 23 Die Bestimmung des öffentlichen Raums der Perestrojka-Zeit als »Vulkan« bezieht sich nicht nur auf das historische Bewusstsein, sondern auch auf die Dissonanz der Weltanschauungen, die grundsätzlich für diese Zeit charakteristisch ist. Die vielschichtige und -dimensionale Komplexität des intellektuellen Raums der Perestrojkaund Glasnost’-Epoche behandelt Magun (2010).
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fragmentierter Poetik gesehen haben, ist in Podnieks’ Film keine ästhetische Position mehr, sondern ein realgeschichtlicher Zustand. Die Sowjetunion zerfällt so rasch und in so viele Richtungen gleichzeitig, dass die Kamera kaum folgen kann. Jede Kleinigkeit, jedes Detail kommt in seiner Bedeutung einem historischen Dokument gleich. Selbst nach mehrmaliger Durchsicht der mir vorliegenden Filmversion habe ich immer noch nicht alle Details erfasst, aus denen er zusammengesetzt ist. Mit jedem Durchsehen tauchen neue, zuvor entgangene Sequenzen auf, die das kompositorische Gleichgewicht neu austarieren und das scheinbar bereits Erfasste neu akzentuieren. Deshalb ändert der Film ständig seine Stimmung, mal schäumt er über vor Tragik, mal vor Absurdität, mal macht er Angst und ruft Mitleid mit seinen Figuren hervor, mal geht er mit seinem endlosem Stimmengewirr aus leeren Reden, der »Hysterie der unverblümten Wahrheit« (»bešenstvom pravdy-matki«), auf die Nerven. Die lebendige Geschichte entfaltet sich mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit und wirft dem Zuschauer in irrsinnigem Rhythmus immer neue Sujets hin, immer neue Widersprüche. Kann die Kamera der Geschichte nicht folgen, so kann der Zuschauer der Kamera erst recht nicht folgen. Genauso verwirrt, nicht imstande mit den schwindelerregenden Perspektivwechseln Schritt zu halten, sah sich Benjamin seinerzeit im Moskau des Jahres 1927 Ein Sechstel der Erde an. Wir beobachten die rasche Veränderung der Veränderung selbst, die Transformation der Transformation als solche – und kommen nicht hinterher. Bleiben wir zumindest beim ersten Teil, der auf Englisch Red Hot heißt, kurz stehen. Die Einführung in die sowjetische Geschichte ist denkbar knapp: Die Potemkin’sche Treppe, Lenin in der Filmchronik, Stalin in der Filmchronik, eine Erschießung, ein Raketenstart, ein Parteitag, eine atomare Explosion, Brežnev, Brežnevs Beerdigung, Černenko, Černenkos Beerdigung. Rybnikov komponiert die Oper Liturgie der Katachumenen. Die »Katachumenen« rufen auf einer Kundgebung: »Lenin, die Partei, Gorbačëv!!!« Auflösung der Kundgebung. Fallschirmjäger diskutieren über die Perestrojka. Ein lutherischer Geistlicher sagt, dass sich nichts ändern wird, solange es den KGB gibt. Hunderte von Soldaten mit Maschinengewehren. Amateuraufnahmen von Pogromen, verbrannte Leichen mit aufgeschnittenen Kehlen werden aufgeladen. Spitak. Obdachlose Menschen auf verschneiten Trümmern. Unter den Trümmern liegen 80 000. Brotausgabe. Eine alte Frau lässt einen Brotlaib in den Dreck fallen und fällt selbst hin (TC: 00:17:41-00:17:44). Die Kamera verlangt mehr von uns, als das Auge zu leisten im Stande ist. Die wahnsinnige Geschwindigkeit beim Wechsel zwischen den Montageelementen, die äußerste Grausamkeit des Gezeigten: Der Filmschock ist zurück und rehabilitiert – »Komm und sieh!«. Die Katastrophe des unus mundus – wenn man
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sie schon nicht begreifen kann, so muss man sie doch wenigstens gesehen haben und sich merken. Wir? ist nicht nur eine Dokumentation über unser damaliges Heute, sondern auch eine in die Zukunft gerichtete Botschaft: ein SOS-Notruf (»Hört ihr uns?«) oder aber eine Erinnerungsplakette ähnlich der, die in Raumsonden ins All geschossen werden, ins Nichts, ins Nirgendwohin: Das waren wir dann und dann (Ort und Zeit der Ereignisse werden durch Untertitel angegeben, bei Amateur- oder Spezialaufnahmen durch den Zähler der Videoaufzeichnung). Der rasche Wechsel zwischen den Sehschocks und den Interviews, die voll von Offenbarungen des letzten Tages sind, lähmt das Denken. Ähnlich dem, wie das mechanische Sehen des »Kino-Auges« am Anfang seiner Geschichte den Zuschauer zum neuen kollektiven Bewusstsein führte, überholt nun das »grausame Sehen« der Filmkamera das gelähmte, versteinerte Denken. Jede Folge von Wir? beginnt mit Glockenschlägen und Bildern einer zerstörten Kirche. Das »Sechstel der Erde« hat sich in einen Ort des Glaubens verwandelt: Es ist eine unerträgliche und unbegreifliche, unmögliche Welt, eine Welt des Glaubens und der Wahrheit. Alle verlangen die Wahrheit. Die streikenden Arbeiter des Motorenwerks in Jaroslavl’ zum Beispiel. In dieser Hölle arbeiten Frauen des Anspruchs auf eine Wohnung wegen, sie bekommen ihre Kinder kaum zu Gesicht und schleppen den ganzen Tag 30 kg schwere Teile. Eine junge Kranführerin, voll Ruß und Schmutz, träumt von der inneren Freiheit und vergleicht sich mit Aschenputtel. Um den Plan zu erfüllen, produziert die Fabrik Ausschuss und für die Herstellung dieses Ausschusses sind die Arbeiter gezwungen, 21 Sonntage im Jahr unbezahlt zu arbeiten, während im Betrieb nebenan nur zwei Sonntage unbezahlt gearbeitet wird. Hinter den Sprechenden ist der Betrieb, ein Produkt der stalinistischen Industrialisierung, fast ausschließlich manuelle Arbeit, Rauch, Finsternis, schädliche Gase. Ungeachtet der Drohungen sind die Arbeiter in den Streik getreten und bereit, bis zum Schluss zu kämpfen, weil sie an die Perestrojka und Glasnost’ glauben. Dann ein Ort, an dem eigentlich kein Glaube mehr möglich ist. Die verlassene Stadt Pripjat’ im November 1988. In völliger Menschenleere gibt ein Lautsprecher auf einem Hausdach die Aufzeichnungen eines Naturforschers durch: »In der Natur ist eine herrliche Zeit angebrochen …«24 1986 trugen hier Freiwillige mit bloßen Händen radioaktiven Schutt ab. Heute kommt man aus Prestigegründen hierher und wegen des Geldes25, um seine Männlichkeit und seinen Na-
24 TC: 00:33:03-00:33:07 25 TC: 00:38:01-00:38:17.
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tionalstolz unter Beweis zu stellen26 (»die Franzosen, die Schürzenjäger, wären gleich davongelaufen, die kennen wir«). Plünderer gibt es hier noch – ihretwegen wird eine kleine Kirche zugenagelt. Ein Ikonensammler27, der aufliest, was in der Panik der Evakuierung zurückgelassen wurde und was Diebe nicht davongetragen haben. Alte Frauen gibt es hier noch: Sie haben ihre neuen Wohnungen jenseits des Dnepr aufgegeben und sind, wie Partisaninnen, nachdem sie zwei Wochen mit den Kühen im Wald verbracht hatten, nach Hause zurückgekehrt, in die Zone. Sie schimpfen auf Gorbačëv.28 Sie warten auf Brot, das einmal die Woche mit dem Lastwagen hineingefahren (oder auch nicht hineingefahren) wird. Muntere radioaktive Hunde laufen hinter ihnen her. »Was denn, messen die wieder die Radioaktivität aus? Nein nein, die drehen einen Film«. 29 Der Glaube an die eigene Kraft: »Nach dem Krieg haben wir die Hungersnot überlebt – das überleben wir auch.«30 Die Hoffnung: »Die Regierung wird uns nicht im Stich lassen«. Nicht weit vom Glauben ist, natürlich, die Wahrheit. Über sie spricht Sacharov hingekauert auf einem schmalen Bänkchen bei sich zu Hause nach seiner Freilassung aus dem Arrest in Gor’kij. (Die Szene seiner nächtlichen Ankunft am Bahnhof: allein, umringt von ausländischen Journalisten, russische Stimmen sind nicht zu hören.)31 Wir (die Dissidenten) wollten die Wahrheit, schließt sich Elena Bonnėr ihm an, wir gingen keinen antisowjetischen Aktivitäten nach. 32 Die Wahrheit über die stalinistischen Repressionen verlangen die Straßenkundgebungen in Riga, in Moskau, in Berg-Karabach. Die Wahrheit verlangt Jel’cin. Die Wahrheit suchen in Moskau auch eine junge Usbekin, die von ihren Angehörigen unter Duldung der Staatsanwaltschaft schikaniert wird und der ehemalige Leiter einer regionalen Gesundheitsbehörde, der seine Arbeit verlor, weil er gegen einen gesundheitsschädigenden Betrieb protestiert hatte. An die Wahrheit glauben auch die streikenden Arbeiter und die Afghanistan-Veteranen und eine 18-jährige Feministin, die weder Kinder noch Küche reizvoll findet, dafür aber die Politik (»In fünf Jahren vielleicht, wenn bei mir der Mutterinstinkt erwacht, wird es komplizierter«). Auch die Hippies, die in einem Waldlager das Evangelium lesen, glauben, ebenso wie die Mitglieder der Vereinigung »Erinne-
26 TC: ca. 00:34:51-00:35:55. 27 TC: ca. 00:39:37-00:41:10 28 TC: 00:45:03-00:45:05 29 TC: 00:46:21-00:46:30 30 TC: 00:47:24-00:47:29 31 TC: (2. Folge) ca. 00:07:32-00:09:20 32 TC: (2. Folge) ca. 00:10:03-00:10:21.
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rung«, die sich beim erzreaktionären Ideologen Vasil’ev versammeln. Die Wahrheit und die Aufklärung der Verbrechen des Stalin-Regimes verlangen die Massenkundgebungen der ›Lettischen Volksfront‹ (eine Folge von Wir? ist der Chronik der dissidentischen, religiösen und demokratischen Bewegungen in Lettland gewidmet). Die revolutionäre Energie entzieht der »Pravda« die Wahrheit. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. »Wir sind dort nicht hingefahren, um zu töten, sondern um zu beschützen«.33 Ein afghanischer Junge erzählt von der Säuberung in seinem Dorf: »Sie haben niemanden am Leben gelassen«.34 Die Rede eines Kommandeurs: »Soldaten des Friedens«, »die Strapazen haben uns abgehärtet«, »haben uns innerlich stark gemacht«. Das Begräbnis eines Afghanistan-Soldaten, feierlich, mit Blasorchester und Ehrengeleit, die Mutter, die vor Kummer ganz außer sich ist, stürzt beinahe ins offene Grab.35 Das Orchester verlässt unter den Klängen des Marsches »Wir sind geboren, um das Märchen wahr werden zu lassen«36 den Waldfriedhof. Die Mutter bleibt zurück. Verkrüppelte Afghanistan-Soldaten. Verkrüppelte afghanische Kinder. Ein kriegsversehrter Afghanistan-Soldat im Krankenhaus: »Es ist ein Fehler, doch es fällt mir schwer, das zuzugeben.«37 Wer ist schuld? Der Invalide: »Niemand ist schuld. Wer gedient hat, hat keine Schuld.«38 Sacharov wird nach seiner Arbeit an der Atombombe gefragt und erwidert, er sei nicht mehr schuld als andere: Alle sind schuld.39 Der sowjetische Mensch setzt sich mit seinem Sowjetischsein auseinander: Er sagt sich nicht von ihm los, leugnet nicht seine Schuld, sondern hält ein strenges Gericht über sich selbst.
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Das Kino, sagt Deleuze, gibt mit seinen Mitteln nicht die Welt als solche wieder, sondern den Glauben des Menschen an diese Welt: »Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben – dies ist die Macht des modernen Kinos« (Deleuze 2008: 224). Gerade dieser Frontalzusammenstoß mit der Welt des Perestrojka-Films,
33 TC: (3. Folge) 00:13:33-00:13:35 34 TC: (3. Folge) 00:15:49-00:15:51 35 TC: (3. Folge) ca. 00:18:17-00:18:39 36 TC: (3. Folge) 00:19:28-00:19:37 37 TC: (3. Folge) 00:20:04-00:20:15. 38 TC: (3. Folge) 00:20:28-00:20:32 39 TC: (2. Folge) ca. 00:11:58-00:12:12; 00:12:19-00:12:30.
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die sich aus dem Glauben an die Wahrheit speist, erschüttert mich, eine Zuschauerin der Putin-Ära, am meisten. Spricht man über die Verluste und die Errungenschaften unserer Epoche, so ist das gegenwärtige Fehlen dieses Glaubens an die Gerechtigkeit der Geschichte das Erste, was dem heutigen Rezipienten des Dokumentarfilms der Perestrojka-Zeit schmerzlich bewusst wird. Zum ersten Mal seit 20 Jahren schaute ich mir Podnieks’ Film zusammen mit meinen Kollegen im Hörsaal einer kleinen schwedischen Universität an. Ich war erstaunt festzustellen, wie sehr ich diesen Film vergessen hatte und wie gut ich mich gleichzeitig an ihn erinnerte, nachdem ich ihn Anfang der 1990er Jahre im russischen Fernsehen gesehen hatte. Das war am 10. Dezember 2011, dem Tag, an dem in Moskau eine Kundgebung auf dem Bolotnaja-Platz stattfand. Es war der erste Massenprotest in zehn Jahren unter Putin und der größte seit den Demonstrationen in den 1990er Jahren. Hin und wieder ließen wir uns von unserem Programm ablenken und schalteten in die Internetübertragung der Kundgebung. Die Bewegungsbilder, die wir dort sahen, waren den Bildern von vor 20 Jahren erstaunlich ähnlich – und frappierend unähnlich. Der Mann mit dem iPhone hatte sich, unter neuen technologischen und politischen Bedingungen, in den Mann mit der Kamera verwandelt. Mich verblüffte damals die Kontinuität zwischen der Filmrealität der Perestrojka-Zeit und der neuen Videorealität: Die neue Revolution, dargebracht in den im Internet ausgestellten Videoreportagen vom Ort des Geschehens, präsentierte sich im Format des frühen sowjetischen Films wie in vorgefertigten Formen der Revolution. Fast noch erschütternder war es jedoch festzustellen, wie weit diese Zeit von der jetzigen russischen entfernt ist. Der ästhetische Schock, den ich an jenem Tag zusammen mit der kleinen Zuschauergruppe erlitt, wirkt bis heute nach, weshalb es mir schwerfällt, darüber in Begriffen der Semiotik zu sprechen. Eher war es die Erfahrung dessen, was Walter Benjamin als das »dialektische Bild« der Geschichte bezeichnet hat: Der Zusammenprall der geschichtlichen Momente des »Jetzt« und des »Damals« und die kurzzeitige Erhellung beider durch den Blitz des Erkennens und Verstehens. Der Effekt dieses Blitzes, der nach Benjamin den Kern der dialektischen Methode ausmacht, ist zweiseitig. Zum einen rettet der Historiker so den Augenblick der Vergangenheit vor dem Verschwinden; zum anderen aktualisiert sich infolge des Zusammenpralls mit der Vergangenheit unsere Gegenwart, wir nehmen Positionen ein, von denen aus unser »Jetzt« kritisch betrachtet werden kann. Der Zusammenbruch des Staates führte zu einem seltsamem Zustand seines Verschwindens- und Nicht-Verschwindens: Die UdSSR gibt es schon lange nicht mehr, doch in nicht greifbaren Substanzen ist ihre Gegenwart spürbar: im Lebensstil, in Erinnerungen, in der Nostalgie, in sexuellen Phantasien, in kom-
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merziellen Phantomen. Angesichts der Bemühungen der offiziellen Propaganda, uns von der Wirklichkeit der UdSSR zu überzeugen, ist sie für uns zu einer Traumrealität geworden, ähnlich Paris – der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, der Benjamin in den 1930er Jahren gewahr wurde und die er in seinem PassagenWerk festhielt. Die Figuren und Formen, die der Mann mit der Kamera in der Aufbruchszeit der UdSSR im Projekt der proletarischen Aneignung des »Sechstels der Erde« erfand, wurden in der Folge vom Regime vereinnahmt und für den sozrealistischen Film instrumentalisiert, später rehabilitiert und mit den Mitteln des allegorischen poetischen Films von den stalinistischen Falsifikationen gereinigt und schließlich erneut, nun von der kritischen Filmkamera, vereinnahmt und in der Eigenschaft einer politischen Aussage wiedergeboren. »Aber das Wesen des Kinos […] hat als oberstes Ziel das Denken und nichts anderes als das Denken und seine Funktionsweise.« (Deleuze 2008: 220) Schaut man sich heute solche inzwischen vergessenen Filme an, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit dem Verschwinden dieses »unbekannten« Films das Organ des kritischen Denkens amputiert wurde und Russland nichts mehr hat, womit es denken könnte. Im Moment scheint es, als sei der russische Film wieder am Nullpunkt angelangt, bei den »süßdurchfeuchteten Romanzen«, um mit Vertov zu sprechen. Dieser neue-alte Status des Films – die Wiederholung der für seine Vorgeschichte charakteristischen Stufen auf einer neuen, postfilmischen Ebene – verweist auch auf etwas Wesentliches im Bezug auf die Umwandlung der sowjetischen Identität in eine postsowjetische, die damit verbundenen »Verluste und Errungenschaften«, die Neuerungen im Lebensstil oder, im Gegenteil, seine konservative Archaisierung. Wie im Kino Dziga Vertovs, so auch in den Filmen Sluckijs, Brauns’ und Podnieks’, die ihn auf die eine oder andere Weise beerbt haben, erscheint vor uns eine immer-schon geraubte Revolution! Vor dem Hintergrund dieser Transformationen der Subjektivität und Identität bleibt der Dokumentarfilm ein Archiv, in dem die Erinnerung an die geraubte Revolution bewahrt wird.40
40 Dieser Aufsatz entstand im Anschluss an die Filmvorführungen und Symposien, die vom Zentrum für baltische und osteuropäische Studien der Universität Södertörn (Schweden) zwischen 2010 und 2011 unter der Mitwirkung des Russischen Staatlichen Archivs für Film- und Fotodokumente, des Staatlichen Filmmuseums (Moskau) und des Juris Podnieks Studios (Riga) organisiert wurden. Ich danke Natalija Kalantarova, Naum Klejman, Elena Kolikova und Antra Cilinska für die Bereitstellung der Materialien, die Organisationshilfe und die ungemein nützlichen Diskussionen. Der Originalaufsatz erschien 2012 unter dem Titel »Ot avgusta k avgustu: Dokumen-
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Übersetzung aus dem Russischen: Paul Löwenstein
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Die Bildformel des »Flaggenhissens« in Fotografie und Film A LEXANDER S CHWARZ
E INFÜHRUNG Bereits vor der Entwicklung von Massenmedien gehörten Fahnen als Zeichen militärischer Einheiten und Feudalstaaten sowie Flaggen als Kennzeichnung von Schiffen zu den bekanntesten, privilegiertesten und [funktionalsten] Zeichen von Politik und Macht. Mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert hat die durch Fotografie und Film ›bezeugte‹ oder inszenierte Bildformel des Fahnen- bzw. Flaggenhissens noch weiter an Bedeutung gewonnen. ›Fahne‹ wird übrigens zwar oft synonym für ›Flagge‹ gebraucht. Eigentlich aber ist mit ›Fahne‹ (russ. znamja, auch: Banner) bereits seit der römischen Antike das Signum der Streitmacht eines Reiches bezeichnet worden. Sie ist in engerem Sinn ein reich verziertes oder auch geweihtes Einzelstück oder besonders in Ehren gehaltenes Exemplar und wird in der Regel an einer Fahnenstange fixiert getragen. ›Flaggen‹ (russ. flag) hingegen können beliebig vervielfältigt werden, wurden ursprünglich v.a. zur Kennzeichnung von Schiffen eingesetzt und werden an einem Fahnenmast gehisst. Der kaum eine Minute lange, frühe Film Raising Old Glory over Morro Castle (1899) findet eine Kurzformel für das Ende des Spanisch-amerikanischen Krieges und den amerikanischen Triumph: »We see a pole with a Spanish flag in front of a crudely painted backdrop of a castle. This flag is lowered and replaced with an American flag that flaps in the breeze for 20 seconds.« (Eberwein 2013: 81) Manche Fotografien (und Filmbilder) vom Akt des Flaggenhissens, in der Regel inszenierte, erreichen gar den Status einer ›Ikone‹, im populärkulturellen Sinn. Beispiele dafür sind Joe Rosenthals berühmtes, preisgekröntes und millio-
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nenfach verbreitetes Foto mit dem Titel Raising the Flag on Iwo Jima vom Februar 1945 oder die erstmalige Platzierung des amerikanischen Sternenbanners auf dem Mond 1969. Dabei verschiebt sich ihre referenzielle Bedeutung hin zur symbolischen. Die ursprüngliche Intention und die historischen Umstände treten zugunsten projizierter Werte zurück (vgl. Mortensen 2013: 17). Robert Hariman und John Lucaites weisen darauf hin, dass der Wahrnehmung ikonischer Bilder kulturelle und politische Kontinuität unterstellt wird, aber die Botschaft nicht im Bild absolut ›fixiert‹ ist und nicht über Kulturkreise und längere Zeiträume hinweg konsistent verstanden werden muss (Hariman/Lucaites 2007: 111). Die vermeintliche universelle Botschaft bedarf zur Interpretation vielmehr des historischen Hintergrundes und kann erst dann aktuelle politische Haltungen legitimieren oder appellativen Charakter entfalten (vgl. Mortensen 2013: 17). Gerade weil solche »Schlagbilder« (Diers 1997) für politische, wirtschaftliche oder historiografische Zwecke instrumentalisiert werden, ist ihre Kehrseite oft die eindimensionale, schematische Darstellung (ebd.: 19). Die emotionelle und affektive Wirkung lässt sich nicht präzise steuern. Cornelia Brink hat bei solchen ›säkularen Ikonen‹ vier Eigenschaften zutreffend festgestellt, die sie mit religiösen KultBildern gemein haben: Authentizität, Symbolhaftigkeit, Kanonisierung und eine Gleichzeitigkeit von Präsentation und Verhüllung von Realität (Brink 2000: 135-150). Wie werden Flaggen als privilegierte Zeichen historisch instrumentalisiert und politisch funktionalisiert? Wie haben Fotografien und Filme im direkten und übertragenen Sinn ›Flagge gezeigt‹? Dies soll anhand einiger zentraler Beispiele der sowjetischen und russischen Agitation untersucht werden, die per se als ikonische Bilder wohlbekannt sind: von der Revolution bis zum Pionierlager, vom Nordpol über den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg bis zur Annexion der Krim 2014.
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Die von Peter Ludes Mitte der 1990er Jahre eingeführte Kategorie der »Schlüsselbilder« greift am ehesten bei leitmotivischen Standbildern und Sequenzen der Fernsehberichterstattung. Hier soll stattdessen die semiotische und rhetorische Funktion solcher privilegierter Zeichen wie der Flaggensetzung im Fokus stehen. Dazu kommt entscheidend die ›Karriere‹ von Visualisierungsstrategien, also eine Kanonisierung, die Fahlenbrach und Viehoff als »Ikonisierung der primären Wahrnehmung« bezeichnen (Fahlenbrach/Viehoff 2005: 372). Eine solche Kanonisierung legt einen in der Regel epochen- und kulturabhängigen ikonografi-
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schen Code durch intensive Verbreitung und politischen Druck gezielt fest. Dieser Code bedient sich oft Symbolen. Das durch die Abbildung Bezeichnete steht zum Symbol in einer arbiträren Beziehung. Der Objektbezug entsteht durch »Schluss aus einer Gebrauchsregel« (Kanzog 2007: 44). Als Beispiel werden dafür häufig Signalflaggen genannt, die kein Ähnlichkeitsbezug (ikonischer Code) und keine kausale Relation (indexikalischer Code) mit dem Bezeichneten verbindet. Natürlich sind auch Nationalflaggen einmal willkürlich festgelegte, dann gelernte Konventionen und damit Symbolzeichen. In Fotos und Filmen, in denen Flaggen und Fahnen abgebildet sind, werden diese zwar fotochemisch oder digital aufgenommen und hinterlassen indexikalisch eine Spur darin. Sie sind dahingehend also ›authentisch‹. Zugleich wirkt die Symbolhaftigkeit des Zeichens ›Flagge‹: Semantisch verbunden sind damit (tendenziell offene) Konnotationen wie Patriotismus, Krieg oder territoriale Markierung und sie üben eine starke affektive Wirkung aus. Aber erst in der Kanonisierung durch massenhafte Verbreitung, die zur ›Verehrung‹ des Bildes bzw. des Abgebildeten und zur emotionalen Identifikation führt, wird das Bild des Setzens, Eroberns oder Verbrennens von Fahnen zur medialen Ikone. Dies ist jedoch zugleich ein selbstreferentieller Prozess, denn diese Ikone selbst wird durch die Aufnahme in den Kanon der bedeutenden Bilder mit dem Gewicht der Geschichte beladen (vgl. Hariman/Lucaites 2007: 1-2). Diese tendenzielle Überfrachtung hat paradoxe Folgen: »the visible makes us blind« (Brink 2000: 144) – die Bilder schieben sich wie eine Folie zwischen uns und die Wirklichkeit. Es liegt nahe, mit der roten Fahne der Revolution zu beginnen. Eines der berühmtesten Beispiele aus dem Kanon der Filmgeschichte nutzt dieses hochgradig ideologische Zeichen wenige Jahre nach der erfolgreichen sog. Oktoberrevolution, um die 20 Jahre zurückliegende Vorgeschichte der Fahne abzurufen, zu aktualisieren und zu instrumentalisieren. Bronenosec Potëmkin / Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Ėjzenštejn (1925) spielt die Meuterei auf einem Schlachtschiff der zaristischen Seekriegsflotte 1905 durch. Der ganze Film ist in der Kadrierung, Perspektive, Kamerahandlung, in der Mise-en-scène wie in der Montage besonders stark determiniert und hat Ėjzenštejn auch als Vehikel zur Entwicklung einer neuen Filmtheorie und -sprache gedient. In der Gegenüberstellung zweier Einstellungen wird deutlich, dass hierbei auch die Flaggen eine zentrale Rolle spielen (Abb. 1). Im zweiten Akt lässt der Kapitän auf Deck Mannschaft und Offiziere antreten und will diejenigen isolieren, die gegen die schlechte Versorgung protestieren. Die Kamera befindet sich auf dem Geschützturm. Die beiden Geschützrohre zeigen parallel zu den Reihen der Matrosen Richtung Bug und sind perspektivisch über die Köpfe der Schiffsleitung gerichtet. Im Bildhintergrund weht am Fockmast die zaristische Seekriegsflagge (Andreevskij flag)
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mit dem blauen Andreaskreuz. Kurz darauf ist der Hauptmast ohne Segel und Flagge zu sehen; der Kapitän droht die Meuterer dort aufhängen zu lassen; in einer ›Vision‹ erscheinen dort zwei Gehenkte. Später in Akt II flattert während der Kämpfe die Seekriegsflagge groß im Bild.
Abb. 1: Standbilder aus Bronenosec Potëmkin, 1925, Regie: S. Ėjzenštejn
Nach der erfolgreichen Revolte an Bord hissen (Mitte Akt III, verteilt auf zwei Einstellungen) die Revolutionäre im Hafen von Odessa die rote Fahne (eigentlich Flagge) auf dem Hauptmast. Zur Verstärkung der Wirkung dieser Einstellung wurde die Fahne damals handkoloriert und bei der Rekonstruktion im Münchner Filmmuseum erneut einzelbildweise rot eingefärbt (Abb. 1). In der folgenden Sequenz zu Beginn des IV. Aktes erarbeitet Ėjzenštejn eine Komposition von Linien, Flächen und Bewegungsrichtungen (Masten und Segel der entgegenfahrenden Jollen, die rote Fahne), die er später als das »Organische und das Pathos« des Filmes nennt. Sie vereinigt »[...] das Banner der Revolution, [...] den Panzerkreuzer, die Jollen und das Ufer [...]« mit der jubelnden Menge (Eisenstein 1934: 148). In Akt V, nach dem Massaker auf der Treppe von Odessa, warten die Meuterer an Bord des Panzerkreuzers die Nacht ab und streichen die zaristische Seekriegsflagge, holen sie also vom Fockmast. In der Sequenz des Wartens auf die drohende Konfrontation mit dem Admiralsgeschwader signalisieren die Revolutionäre ihren Kameraden mit Signalflaggen, dass sie überlaufen sollen. Der Panzerkreuzer fährt dann »unter der roten Fahne« dem Geschwader entgegen. Im letzten Zwischentitel des Films heißt es: »Stolz wehte die rote Fahne der Freiheit. Ohne einen einzigen Schuss fuhr der aufständische Panzerkreuzer durch die Reihen des Geschwaders« (restaurierte Fassung Deutsche Kinemathek 2007). Ėjzenštejn schrieb zu seiner filmsprachlichen Zielsetzung damals: »Das Ding wird nicht bloß demonstriert, sondern wird als Ding [...] ein Handlungsfaktor.
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Sowohl auf dem Weg seiner Vorführung, auch in seiner Darbietung selbst ist das Ding psychologisiert [...].« (Eisenstein 1926: 130f.) Ėjzenštejn selbst benennt als derart funktionalisierte Dinge die Geschützrohre und die ›aufbrüllenden‹ Steinlöwen. Klaus Kanzog weist nach, wie die »implizite Argumentation des Films« etwa den Kneifer des Schiffsarztes und das Kruzifix des Popen als »Herrschaftszeichen konstituiert« (Kanzog 2007: 62). Die gehisste rote Fahne und das Abnehmen der zaristischen Seekriegsflagge sind als vorbestehende Symbole jedoch bereits schon vor dem Film privilegierte und kodifizierte Zeichen. Sie werden in Kontext, Handlungsverlauf und filmspezifischer Sprache dieses Spielfilms zu starken ideologischen Zeichen, die dem Publikum in Odessa, dem Geschwader und dem Filmzuschauer den revolutionären Machtwechsel an Bord anzeigen. Da nach Lenins Lesart hier bereits der Funke der Oktoberrevolution aufglomm, eignete sich das (historisch gescheiterte) Unternehmen als Exempel zur politischen Indoktrination durch diesen Jubiläumsfilm von 1925. Die rote Fahne ist (neben dem Porträt Lenins und dem Sowjetstern) das zentrale Zeichen der neuen Zeit. Rot war üblicherweise mit Liebe, mit Feuer, Blut und Gefahr konnotiert und wurde nun (abgeleitet auf die Französische Revolution) zum Revolutionszeichen. Das Wehen der Fahne ist mit Dynamik und Naturkräften assoziiert. Die Fahne per se steht stellvertretend für einen Herrschaftsanspruch bzw. die herrschende Staatsmacht. Entsprechend wurde die rote Fahne bald nach dem Oktober 1917 zur sowjetischen Nationalflagge. Die Bildformel des Hissens verbindet demonstrativ all diese Konnotationen. Der sensationelle Erfolg des Bronenosec Potëmkin hat diesen Bildakt kodizifiert, kanonisiert und den Symbolträger aufgewertet. Im spektakulären Finale von Vsevolod Pudovkins Film Desertir / Deserteur (1933) über den Revolutionsversuch in Hamburg 1923 muss dann die rote Fahne, die die Streikenden beim Sturm der Bannmeile um das Rathaus mit sich tragen, unter Einsatz vieler Leben gegen die stürmende berittene Polizei verteidigt werden. Sie ist bereits Sinnbild und pars pro toto der von der Sowjetunion angestrebten Weltrevolution und im ideologischen System der langen Reihe von Revolutionsfilmen jedes Menschenleben wert.
F AHNENAPPELL DER P IONIERE Deutlich wird dieser mehrstufige Prozess der Ikonisierung, von Repräsentation und Symbolisierung zur Kanonisierung und politischen Instrumentalisierung, ebenso am Beispiel des morgendlichen Fahnenappells der Pionier-Jugendorganisation im Ferienlager. Besonders gut dokumentiert ist dies in Artek, dem 1925 gegründeten, größten und bekanntesten Pionierlager, nahe Jalta auf der
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Krim. Die Einladung, dort einige Wochen zu verbringen, war für die betreffenden zehn bis 15 Jahre alten, uniformierten Pioniere bereits eine Auszeichnung, als Klassenbeste oder für einwandfreie Gesinnung. Das ursprünglich als Kur und Sonnentherapie und auf das Gemeinschaftserlebnis ausgelegte Programm nahm bereits in den 1930er Jahren immer mehr paramilitärische Züge an. Rund 20 Spielfilme in der frühen und mittleren Sowjetära spielen ganz oder teilweise dort. Diverse Dokumentarfilme, darunter sogar 1949 einer in 3D, wurden in Artek gedreht. 1940 legte man als Geschenkausgabe ein repräsentatives Fotoalbum über alle Aspekte des Lagers mit rund 300 Fotografien auf. Zu runden Jubiläen gab es immer wieder neue Alben, heute sind diese auf den offiziellen und Fanund Ehemaligen-Webseiten über Artek zu sehen. Meist bedient sich die Dramaturgie in diesen Fotoserien und Filmdarstellungen der Chronologie von der Ankunft der blassen Pioniere über die täglichen Abläufe – Wecken, Gymnastik, Sonnenbad, Schwimmen, Essen, die sogenannte ›tote Stunde‹ des Mittagsschlafs, Ausflüge, Sport, Arbeitseinsätze, Lagerfeuer, Musik – bis zur Erneuerung des Pionier-versprechens an Lenin und Stalin als großer Abschlussveranstaltung bis zur Abreise der sonnengebräunten, glücklichen jungen Sowjetbürger. Als Fixpunkte gehörten dazu bis in die späten 1980er Jahre (auch in der DDR) jedoch neben den Geländespielen mit Navigations- und Schießübungen vor allem auch das morgendliche Aufziehen der roten Staatsfahne. Dies fand täglich, zumindest aber einmal zu Wochenbeginn mit der linejka (exerzierte Aufstellung in militärischem Stil) auf dem Appellplatz unter Fanfarenklängen statt, vor den versammelten Pionieren mit offiziellem Pioniergruß und unter den Klängen des Marsches Toržestvennyj vynos znameni (das feierliche Hissen der Fahne).
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Abb. 2: Standbilder aus Artek, 1936, Regie: F. Provorov, V. Nesterov, G. Reisgof
Exemplarisch zeigt dies der Film Artek von Fëdor Provorov, Vladimir Nesterov und Georgij Reisgof, ein Kurzdokumentarfilm von 1936, produziert von Mežrabpomfil’m (Abb. 2). Die Fahne wurde von den einigen ehrenhalber ernannten flag-kapitani (Fähnrichen) gehisst und »auf Posten« stehend bewacht, zusätzlich unter der roten Flagge der Pioniere mit einem Leninbild im Halbprofil im fünfzackigen Stern, darüber gelbe Flammen, und mit dem Text »Sei bereit! – Allzeit bereit!«. Dieselbe Szene findet sich auch im Fotoalbum »Artek« von 1940; hier tragen die Pioniere Matrosenuniform (Abb. 3). Die Bildunterschrift im Album besagt, dass Franz Žvanskij und Vitja Jakovlev hier die Fahne hissen, als Auszeichnung »[...] für heldenhaftes Verhalten – der eine half, einen Diversanten zu fassen, der andere hatte einen Banditen dem Gericht übergeben.«
Abb. 3: Foto Fahnenappell Artek, 1940
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Die rituelle Wiederholung des Fahnenappells macht die Szene zur Bildformel und die Gesten des Aufmarsches und Hissens zur Konvention, die immer kürzer gefasst wiedergegeben werden kann – so etwa im frühen sowjetischen Farbfilm U tëplogo morja / Am warmen Meer (N. Solov’ëv, 1940, Zentral’naja studija kinochroniki). Die am Appellplatz angetretenen Kinder und die Fahne selbst werden in wenigen halbnahen und nahen Einstellungen trommelnd, mit Pionierfahnen und zur gehissten Fahne aufschauend dargestellt (Abb. 4). Die Formel ist leicht lesbar, das rhetorische Argument auf die immer wieder erneuerte ›Einschwörung‹ neuer Jahrgänge konzentriert. Der Ablauf des Ferienlageraufenthalts in der sowjetischen Vorzeigeinstitution ist als ikonografischer Code der Sowjetunion mit Massenaufmärschen und -veranstaltungen der Pioniere, des Komsomol, der Betriebe und der Partei eingeführt. Visuell kann sich der Film auf dominante Linien wie die Vertikale des Fahnenmastes und die klaren Reihen der angetretenen Pioniere stützen. Die Fahne selbst enthält als zentrales Symbol den affektiven Mehrwert und verweist auf den Staat, die Macht und die Partei, die sie metonymisch repräsentiert. Die Lenin’sche Jugendorganisation unterliegt der in der Pionierfahne symbolisierten und argumentativ (textlich) abgebildeten Verpflichtung zur ständigen Bereitschaft, Disziplin und des Zusammenhalts, der »Reinheit in Gedanken, Worten und Taten«, der Vaterlandsliebe und Loyalität zur Partei (»Gesetz der jungen Pioniere«), sowie der »Heranführung der jungen Kämpfer an die Sache der Kommunistischen Partei« (offizielles Motto).
Abb. 4: Standbild aus U tëplogo morja, 1940, Regie: N. Solov’ëv
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Ab 1991 hatte die Ukraine das seit den 1960er Jahren stark erweiterte Lager Artek für Jugendliche und junge Erwachsene weiter betrieben und modernisiert, bei immer noch großer Nachfrage von Zehntausenden von Gästen pro Jahr. Seit Juni 2014 steht Artek wieder unter russischer Verwaltung. Im Mai 2015 hat der Lokalsender Artek TV eine Veranstaltung mit uniformierten Kindern und Fahnenappell zur Feier des 70. Jahrestages des Kriegsendes produziert und auf die offizielle Website gestellt.
E ROBERUNG
DER
ARKTIS
Ein besonders aufschlussreicher Fall des von Fotografen und Kameraleuten bezeugten Hissens einer Flagge ereignete sich am 21. Mai 1937 am Nordpol. Unter der Leitung Otto Šmidts, dem Chef von Glavsevmorput (Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg) und erstmaligem Befahrer der Nordostpassage mit der Sibirjakov 1932, landet eine Expedition mit mehreren Flugzeugen wenige Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt. Sollten weder Peary noch Cook, die beiden Amerikaner, 1909 den Pol ganz erreicht haben (was inzwischen massiv bezweifelt wird, vgl. Schillinger/Thiel 2009), so stehen nun zum ersten Mal Menschen am nördlichsten Punkt der Erde. Mit dabei sind der Pravda-Korrespondent Lazar Brontman als Journalist und Fotograf sowie der Filmkameramann Mark Trojanovskij, der für das Studio Sojuzkinochronika mehrere Filme über diese spektakuläre Expedition machte, welche die Welt aufhorchen ließ. So konnten Fotos und Filmbilder den Erfolg ›bezeugen‹: Šmidt, der Expeditionsleiter Ivan Papanin, der Funker Ernst Krenkel’ und Pilot Michail Vodop’janov und andere stehen rauchend und jubelnd vor dem Flugzeug mitten in der Eiswüste. Ein Lager wird errichtet, denn vier Teilnehmer werden mit der Station Severnyj poljus 1 bis zum Frühjahr auf einer Eisscholle driften (und knapp gerettet werden). Der Territorialanspruch, die Auftrag gebende Macht, die lokale, temporale und politische Deixis konzentrieren sich in einer einzigen Bildformel: die rote Fahne, eine Stalinflagge und eine Flagge mit Hammer und Sichel neben dem Signet von Glavsevmorput werden gehisst bzw. aufgestellt (Abb. 5 und 6).
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Abb. 5: Foto Station ›Severnyj poljus 1‹, Ende Mai 1937
Abb. 6: Foto der ›Papaninzy‹ am Nordpol, Ende Mai 1937
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In der Proxemik, also der Semiotik des Raumes, manifestiert sich menschliches Territorialverhalten »[...] in Form von persönlichen Räumen, [...] sowie in Orten und Territorien, die eine Person entweder zeitweise oder auf Dauer als sein eigen betrachtet und zu deren Verteidigung sie in bestimmter Weise bereit ist. [...] Inhaber von Territorien verwenden semiotische Strategien zur indexikalischen Markierung ihres Gebietes. [...] Das Territorium selbst ist für seinen Inhaber ein semantisch komplexes Zeichen. Es denotiert Besitz und Verfügungsgewalt. Darüber konnotiert es eine Vielzahl individueller Sememe wie Prestige und Macht [...].« (Nöth 1985: 372f.)
Zur Markierung wird am Nordpol das geläufige, unmissverständliche ideologische Zeichen ›Nationalflagge‹ gesetzt, zusätzlich verstärkt durch die Abbildung des obersten Vertreters des beanspruchenden Staates. Beide zusammen bilden das Herrschaftszeichen. Doch tendenziell geht die Geste ins Leere, in die endlose Weite der Schneewüste. Denn ohne Zeugen oder jemanden, der diesen Territorialanspruch verletzt, entsteht kein Bewusstsein für diesen Anspruch (vgl. ebd.: 373). Daher muss zur Bekräftigung dem eigenen Volk und der Welt gegenüber die Abbildung einen hohen Grad von Authentizität erreichen, – auch wenn die unabhängige Überprüfung aufgrund fehlender bildlicher Referenzpunkte oder externer Beobachter nicht möglich ist. Zudem befindet sich die Scholle samt Flaggen bereits im Moment der Veröffentlichung der Bilder nicht mehr am Nordpol und könnte höchstwahrscheinlich nie wiedergefunden werden. Die ›symbolische Zeichensetzung‹ muss also so glaubhaft wie möglich dokumentiert sein, umso mehr, als die schiere Anwesenheit von Menschen an diesem Punkt eine hochrangige Grenzüberschreitung im strukturalistischen Sinne darstellt (vgl. Lotman 1970). Die Hauptfigur muss eine wichtige Grenze überschreiten und so zum beweglichen, dynamischen Helden werden. Dieses Ereignis determiniert die vom Text oder Film vertretene und affirmierte politische, religiöse, moralische und geografische Grundordnung. Die betreffende Grenze dazwischen wird im Normsystem des Textes als unüberwindbar gesetzt. Im Falle der Arktis und des Nordpols galt sie bis dahin als körperlich, physikalisch und geografisch unüberwindbar; unbezwingbar, außer mit einer sowjetischen Spitzenleistung. Lotmans Raumordnungstheorie ist später durch die »Extrempunktregel« weiterentwickelt worden (Renner 1987): Ist der Held in den fremden (gesuchten, gefährlichen) Raum eingedrungen, herrscht eine Tendenz bzw. ein Zwang, das Innerste zu erreichen, oder eben den Pol – den Extrempunkt der Arktis. Es ist der unsichtbare, nur auf Karten oder mit Geräten zu visualisierende geografische
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Scheitel der Meridiane mitten in einer Eiswüste, der durch Hissen einer Flagge erst manifest wird. Doch die Heldenrolle bedarf auch eines Figurenzeichens. Papanin ist mit seiner Körpersprache der ›singuläre‹ Entdecker und Eroberer, der kraftvoll und entschlossen die Fahne setzt und dann affirmativ zu seiner obersten Instanz aufschaut, um den Territorialanspruch und die Pionierleistung zu untermauern (Abb.7).
Abb. 7: Foto von Papanin beim Hissen der Flagge, Ende Mai 1937
Die Karriere der Bildformel der Flagge am Nordpol, die damals in der Weltöffentlichkeit einen Status erreichte wie später nur noch die rote Fahne auf dem Reichstag und die Stars and Stripes bei der Mondlandung, hat sich in vielfältiger Verwendung beinahe in jeder Fernsehdokumentation zur Arktis fortgesetzt. Dem tut auch die Tatsache keinen Abbruch, dass sich später die Position als 89 Grad 20 Minuten Nord herausstellte, also etwa 70 Kilometer vom Pol entfernt – und der Zeitpunkt des demonstrativen Flaggenhissens durch Papanin als derjenige, an dem die vier Helden von sowjetischen Eisbrechern im Frühjahr vor Grönland von der schmelzenden Scholle geholt wurden (vgl. die von den Geretteten selbst gedrehten Aufnahmen unter dem Titel Papaninzy, Nr. 2683, Russisches Staatsarchiv für Foto- und Filmdokumente Krasnogorsk, Februar 1938). Schon 1929 hatte die Sowjetunion durch das Hissen ihrer Nationalflagge und den Bau einer Polarstation auf der Insel Hooker das Franz-Josef-Land in der Arktis ›in aller Form‹ in Besitz genommen, ohne dass andere Staaten protestiert hätten. So kann Präsident Putin heute auch darauf verweisen, dass Russland (bzw. die Sowjetunion) bereits seit rund 80 Jahren den Nordpol und den Sektor des nördlichen Eismeeres zwischen Murmansk und Beringstraße territorial beansprucht. Dies hat natürlich große wirtschaftliche und geopolitische Implikationen, mit denen sich die Commission on the Limits of the Continental Shelf und die anderen Anrainer wie Norwegen, USA und Kanada herumschlagen, und die wegen der großen Ölvorkommen künftig eine wichtige Rolle spielen werden. Denn mangels Landmasse am Pol und in der Arktis geht es um den Zugang zu
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Zonen am Meeresboden, der durch die Atom-U-Boote seit den 1950er Jahren und auch wissenschaftlich »lesbar« gemacht und entsprechend anteilig beansprucht wird (vgl. Dodds 2010). Gerade hier sind symbolische Akte, die durch Fernsehen und Internet schnell weltweit verbreitet werden, besonders wirkmächtig. Ein von privaten Geldgebern finanzierter (!), erstmaliger wissenschaftlicher Tauchgang eines Mini-U-Bootes der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Meeresgrund unter dem Nordpol in 4261 Metern Tiefe gipfelt am 28. Juni 2007 vor laufender Kamera in einem solchen hochsymbolischen Akt. Ein Roboterarm setzt am Meeresgrund eine kleine russische Flagge aus Titan ab (Abb. 8). Am folgenden Tag erklärt der russische Staatspräsident die Expedition des Teams um den Ozeanografen Anatolij Sagalevič zum Teil eines Projekts von nationalem russischem Interesse.
Abb. 8: Standbild aus dem Video der Sagalevič-Expedition 2007
R OTE F AHNE
AUF DEM
R EICHSTAG
Zu den ikonischen Bildern des Fahnenhissens gehört zweifellos auch das vom Ende des Zweiten Weltkrieges, der sich in der sowjetischen Eroberung und Befreiung Berlins, genauer seines ›Extrempunktes‹ Reichstag, auf eine Bildformel bringen ließ. Stalin hatte bereits am 6. Oktober 1944 bei der Feier zum Jahrestag der Oktoberrevolution die Devise ausgegeben, »die deutsche faschistische Armee sei zu zerschlagen, die faschistischen Bestien in ihren Nestern auszuräuchern und das Rote Banner über Berlin zu hissen«. Anfang April 1945 ist dann konkret die »Erste Weißrussische Front« beauftragt worden, ihre Armeen mit je
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einer nummerierten Fahne auszustatten, damit in jedem Fall eine davon auf dem Reichstag gehisst werden konnte. Dutzende Kriegsberichterstatter mit Foto- und Filmkameras begleiteten die zwölftägige ›Schlacht um Berlin‹. Die Fotojournalisten der Pravda und anderer Zeitungen ›kämpften‹ um das beste Bild, das das siegreiche Kriegsende, den Triumph der Sowjetmacht und den mutigen, heldenhaften Einsatz der eigenen Soldaten ebenso zeigen sollte wie den Niedergang des Dritten Reiches und die Eroberung der symbolhaftesten Gebäude (Führerbunker unter der Reichskanzlei, Brandenburger Tor, Reichstag). Doch durch den erbitterten Widerstand der um das Regierungsviertel zusammengezogenen deutschen Truppen konnten zwar die ersten Rotarmisten den Reichstag am 30. April 1945 erreichen und der Vollzug der Stalinorder um 14:25 Uhr wurde nach Moskau gemeldet. Zwei Soldaten befestigten zu diesem Zeitpunkt unter Beschuss an der Fassade eine erste rote Flagge. Davon existieren jedoch keine Bilder. Um neun Uhr abends drangen dann sowjetische Truppen in den Reichstag selbst vor und hissten auf dem Dach eine weitere rote Flagge. Eineinhalb Stunden später konnte eine dritte Einheit erneut eine Flagge an der Fassade anbringen. Beide Male reichte das Licht nicht für Fotos oder Film, obwohl die Kameraleute sich rundum längst postiert hatten. Durch deutsches Artilleriefeuer sind alle drei Fahnen in der Nacht zum 1. Mai 1945 zerstört worden. Auch die Anbringung der offiziellen Roten Fahne der Armee (Znamja Pobedy – die Siegesfahne, mit der Nummer 5, heute im Moskauer Zentralen Museum der Streitkräfte) um 3 Uhr morgens durch die Rotarmisten Egorov, Kantarija und Berest am 1. Mai auf dem Dach über dem Portal auf der Ostseite des Reichstags konnte nicht direkt dokumentiert werden. Weitere Flaggen kamen im Lauf dieses Tages hinzu; zum Teil wurden sie vom Flugzeug abgeworfen und verbrannten in dem nach wie vor umkämpften Gebäude. Im Wettlauf um das »Schlagbild« vom Reichstag organisierte der PravdaKorrespondent Viktor Tëmin einen Überflug am Morgen des 1. Mai. Doch beim Entwickeln seiner Fotos in Moskau am selben Tag stellte sich heraus, dass auf den Schwarzweiß-Aufnahmen und im Rauch die Flaggen nicht zu erkennen waren. Die Pravda druckte in der Abendausgabe eine Luftaufnahme Tëmins mit einer (zu groß) hineinretuschierten Fahne. Im Bemühen, das entscheidende Bild doch noch zustande zu bringen, stellte der TASS-Agenturfotograf Jewgeni Chaldej am 2. Mai morgens das Hissen mit drei anderen Soldaten nach – und zwar indem er mit ihnen auf das Dach kletterte und eine Perspektive oberhalb der Fahne, vor rauchenden Häusern wählte. Dass dabei die zweite Armbanduhr am Arm des den Soldaten stützenden Offiziers weg- und dunkler Qualm hinzuretuschiert wurde, ist seit den 1990er Jahren weithin bekannt. Andere eindrucksvolle, aber ebenfalls gestellte Fotos mit zum Teil improvisierten Flaggen wie die
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des Korrespondenten der Armeezeitung Krasnaja Zvezda Oleg Knorring (Abb. 9) standen seither im Schatten der Chaldej- und Tëmin-Fotos. Erst später am selben Tag ließ dann der zuständige Kommandeur die Siegesfahne vom Rand des Daches auf den höchsten Punkt, also die zerstörte Kuppel, umsetzen.
Abb. 9: Foto Reichstag 2.5.1945, O. Knorring
Der Regisseur und Kriegsberichterstatter Julij Rajzman hatte den Sonderauftrag, einen Dokumentarfilm über die Schlacht um Berlin zu erstellen. Ihm wurden etwa ein Dutzend Frontkameraleute, spezielle Verbindungseinheiten des Armeestabes und sogar ein eigenes Flugzeug zur Verfügung gestellt. Es entstanden in allen Phasen des Kampfes in Berlin, in mehreren Stadtvierteln und gezielt auf Themen und Motive angesetzten Drehteams etwa 30.000 Meter Film, aus denen Rajzman in Tag- und Nachtarbeit binnen 16 Tagen in Moskau einen 1.500 Meter langen Film mit dem schlichten Titel Berlin schuf (vgl. Michailov/Fomin 2010: 901ff.). Neben den leeren Straßenzügen, in denen die übermächtige sowjetische Artillerie den deutschen Widerstand brach, Panzerkolonnen, Ruinen von Gebäuden, ungewöhnlicherweise auch Verwundeten und Toten der Roten Armee sowie Bildern der späteren Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Karlshorst war das zentrale Motiv die Erstürmung des Reichstags und das Hissen mehrerer Fahnen auf dem Dach (Abb. 10). Die Aufnahmen einiger mit der Fahne zum Portal laufender Soldaten und vom Akt des Hissens stammten von Ivan Panov und Michail Šnejderov; ähnliche Szenen drehte Roman Karmen (vgl. ebd.: 970). Sie hatten diese Szene ebenfalls am Morgen des 2. Mai nachgestellt – mit drei Soldaten, die allerdings tatsächlich am 30. April beim Setzen der ersten und dritten Fahne beteiligt waren und dem Kommandeur derjenigen, die die vierte und offizielle Fahne gut 30 Stunden zuvor am Denkmal Wilhelms II. auf dem Reichstagsdach befestigt hatten.
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Abb. 10: Standbilder aus Berlin, 1945, Regie: J. Rajzman
Das aggressiv-propagandistische Argument lieferte dann 1949 insbesondere die hochideologische Spielfilmvariante von Michail Čiaureli (Padenie Berlina / Der Fall Berlins). Darin wird der historische Ablauf durch die feierliche Beauftragung Egorovs, Kantarijas und eines fiktiven dritten Soldaten, durch Küssen der Fahne im Bunker, die Erstürmung (tagsüber) und das Hissen auf der Kuppel verkürzt. Der Farbfilm macht die roten Flaggen und speziell diese Siegesfahne zum zentralen Zeichen (Abb. 11).
Abb. 11: Standbilder aus Padenie Berlina, 1949, Regie: M. Čiaureli
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Entscheidend ist für den Ikonen-Status dieser Fotos und Filmausschnitte neben der propagandistischen Zuspitzung das im Akt des Hissens symbolisierte Heldenbild. Es agiert der mutige, aber subalterne Anführer einer kleinen kampferprobten Einheit, der in höchster Gefahr nicht nur den Befehl des großen Führers der Sowjetunion umsetzt. Vielmehr bringt er in diesem Akt des Erreichens des deutschen geografischen und Macht-Extrempunkts und des Umdeutens durch das zentrale Symbol der erobernden Macht das nationalsozialistische Terrorregime zu Fall. Zwar funktionieren statische Fotos mit der paradigmatischen Zeichen-Setzung anders als eine Filmsequenz, die im Syntagma Herrschaftszeichen, Räume, Grenzüberschreitungen, Instanzen und Folgen systematisch aufbauen und konnotieren kann. Und die semantischen Mittel der Bildsprache (Helligkeit, Schärfe, Kadrierung, Perspektive, Dekontextierung etc.) bekommen durch die Verwendung im Film den Status einer Filmsprache (vgl. Schwarz 1993) – und natürlich eine Tonspur mit Kommentar, O-Ton und Musik. Doch beide Medien bedienen sich beim Bild des Flaggenhissens der Mittel der räumlichen Organisation, der vertikalen Dynamik, der Fokussierung, der Licht- und Farbreize usw. – also der Fotogenität des Materials (vgl. ebd.: 46ff.). Der Authentizitätscharakter der Aufnahmen einer per se hochrangigen Handlung lädt die Abbildung semantisch und ideologisch weiter auf. Denn zugleich ist in der Bildformel des Flaggenhissens bereits ein hochrangiges Symbol, nämlich die Flagge selbst enthalten. Mit ihr ist die Agitation des Herrschaftsanspruchs, der Behauptung von Territorium, der ideologische Code von Patriotismus und Heldentaten unmittelbar repräsentiert und signalhaft gesetzt.
ANNEXION
DER
K RIM
Die Kontrolle über die Bilder, die von wichtigen Ereignissen um die Welt gehen, gehört entscheidend zur Kanonisierung einer bestimmten Lesart dieser Ereignisse. Aus den Tagen der russischen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 gibt es im modernen Medienzeitalter zwar inflationär viele symbolträchtige Bilder. Einige davon werden in der Verbreitung jedoch gezielt kanonisiert. Denn besonders häufig wurden diejenigen vom Hissen der russischen Flagge auf dem Dach des Regionalparlaments in Simferopol vom 27. Februar 2014 verbreitet sowie die der Flaggen vom 19. März 2014 auf einem weiteren Extrempunkt: einem KaKamin der russischen Militärbasis in Sevastopol, als weithin sichtbarstem Punkt der Basis (Abb. 12, Foto: Anton Pedko).
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Abb. 12: Foto Militärbasis Sewastopol 19. März 2014, A. Pedko, EPA
Politisch ist diese territoriale Geste hoch komplex und umstritten, dazu ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Semiotisch ist sie eindeutig: Hier wird ein Gebiet beansprucht; die Bewachung und Verteidigung gelten der russischen Staatsmacht und großen Teilen der Bevölkerung in Russland sowie in Teilen der Ukraine und vor Ort als Akt des Patriotismus. Die Art der Kadrierung ohne Vordergrund oder Referenzpunkt macht das Bild zu einer Pathosformel (Warburg), die Farben und die Bildgestaltung betonen die deutliche Sichtbarkeit und Unerreichbarkeit für diejenigen, die den Territorialanspruch anfechten. Derartige Bilder nutzen Flaggen und das Hissen als aggressives Argument. Sie werden zur Agitformel, die die zugrundeliegende Grenzüberschreitung als nicht diskutierbar und irreversibel darstellt. Hier wird militärischer Krieg erneut zu einem Krieg der Bilder, denn ein ukrainischer Aktivist hat sich durch das illegale Erklettern eines der Moskauer Stalinhochhäuser (dem Wohnhaus an der Kotel’ničeskaja naberežnaja) am 20. August 2014 revanchiert (Abb. 13). Er hisste dort mitten in der russischen Hauptstadt auf dem Sowjetstern die ukrainische Fahne und strich den Stern teilweise in den ukrainischen Landesfarben, bevor er sich vor der Fahne selbst fotografierte. Er entkam unerkannt.
Abb. 13: Foto des ukrainischen Aktivisten, Moskau 21. August 2014, Itar-Tass
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Die Macht der Bilder wächst mit der extremen Verdichtung im Fall der FlaggenBildformel. Die Ikonizität der Abbildung, die Symbolizität als konventionalisiertes Herrschaftszeichen mit hoher ideologischer Aufladung im Akt des Hissens, das als Heldenbild kanonisiert und weit verbreitet wird, machen ein solches Bild zu einer modernen Ikone. Zugleich mit der Präsentation in der vermeintlichen Authentizität der Abbildung als Foto oder Filmeinstellung, die sich in vielen Fällen als nachgestellt, nachempfunden oder gar gefälscht erweist, verhüllt sich die Realität wieder (vgl. Brink 2000). Es bleibt die ›Ikone‹ in allen Köpfen, die ihrer Enthüllung, Entlarvung und historischen Grundierung harrt, jedoch bereits kaum mehr verrückbar an die Stelle der Realität getreten ist.
L ITERATUR Brink, Cornelia (2000): »Secular icons. Looking at Photographs from Nazi Concentration Camps«, in: History & Memory, 12, 1, S. 135-150. Diers, Michael (1997): Schlagbilder: zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt am Main. Dodds, Klaus (2010): »Flag Planting and Finger Pointing. The Law of the Sea, the Arctic and the Political Geographies of the Outer Continental Shelf«, in: Political Geography, 30, S. 1-11. Eberwein, Robert (2013): »Following the Flag in American Film«, in: Schubart/ Gelsvik, Eastwood’s Iwo Jima. Critical Engagements with Flags of Our Fathers and Letters from Iwo Jima, S. 81-99. Eisenstein, Sergej (1926): »Constanza. Wohin die Fahrt des ›Panzerkreuzer Potemkin‹ geht«, in: Hans-Joachim Schlegel (Hg.), Sergej M. Eisenstein Schriften 2: Panzerkreuzer Potemkin (1973), München, S. 128-141. — (1934): »Über die Reinheit der Filmsprache«, (Auszug) in: Hans-Joachim Schlegel, Sergej M. Eisenstein - Schriften 2: Panzerkreuzer Potemkin (1973), München: S. 141-150. Fahlenbrach, Kathrin/Viehoff, Reinhold (2005): »Medienikonen des Krieges. Die symbolische Entthronung Saddams als Versuch strategischer Ikonisierung«, in: Thomas Knieper/Marion G. Müller (Hg.), War Visions. Bildkommunikation und Krieg, Köln, S. 356-387. Hariman, Robert/Lucaites, John Louis (Hg.) (2007): No Caption Needed. Iconic Photographs, Public Culture and Liberal Democracy, Chicago. Kanzog, Klaus (2007): Grundkurs Filmsemiotik, München. Kniga-Fotoal’bom »ARTEK« / Fotobuch »Artek« (1940), o.O., http:// artekovetc.ru/1940book/1940_00.html, gesehen am 12.5.2015.
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F ILME Artek (1936) (UdSSR, R: Fëdor Provorov, Vladimir Nesterov, Georgij Reisgof) Berlin (1945) (UdSSR, R: Julij Raizman) Bronenosec Potëmkin (1925) (UdSSR, R: Sergej Ėjzenštejn) Desertir (1933) (UdSSR, R: Vsevolod Pudovkin) Padenie Berlina (1949) (UdSSR, R: Michail Čiaureli) Papaninzy (1938) (UdSSR) Raising Old Glory over Morro Castle (1899) (USA, R: J. Stuart Blackton, Albert E. Smith) U tëplogo morja (1940) (UdSSR, R: N. Solov’ëv)
Die Kunst des Hasses Der »edle Zorn« und Gewalt in der sowjetischen Kultur der Kriegszeit E VGENY D OBRENKO
Eines der auffälligsten Merkmale der sowjetischen Kultur während des Großen Vaterländischen Krieges (und insbesondere seiner Anfangsphase) war ihre deutliche Abkehr von der ideologischen und visuellen Sterilität der Vorkriegskunst. Vor dem Krieg war jegliche Darstellung von Gewalt, Leid und Tod praktisch unmöglich gewesen. Der für die Sowjetunion desaströs verlaufende Kriegsbeginn und die Gräueltaten der Deutschen zogen jedoch große Veränderungen in der sowjetischen Ideologie nach sich. Im Fokus dieses Aufsatzes steht die Rejustierung der sowjetischen Kunst entsprechend der neuen ideologischen Doktrin. Der »Übersetzung« der Ideologie in die Literatur (v.a. Lyrik und Journalismus) und die Musik folgten Bereiche der bildenden Kunst wie Plakat, Malerei und Film, die ihr Narrativ, ihren Stil und Klang komplett änderten. Der Krieg wandelte das Antlitz der sowjetischen Kunst binnen kürzester Zeit. Vor dem Krieg hatte sie für viele Menschen eine gänzlich ritualisierte Erscheinung dargestellt. Nun aber betrafen die Probleme des Regimes plötzlich einen jeden persönlich, sie wurden zu einer Frage des eigenen Bluts, des Lebens und Überlebens. Das Spektrum künstlerischer Strategien wurde eingeengt, alle Kräfte dafür bündelnd, die politische Botschaft der Massenwahrnehmung zugänglich zu machen, was zu einer drastischen Steigerung des Mobilisierungspotentials der Kunst führte. Eine interne Umstrukturierung der sowjetischen Ideologie wurde bereits im Herbst 1941 mit Nachdruck vorangetrieben. Im September 1941 waren noch Bekundungen wie diese zu hören: »Bei der Mobilisierung der Volksmassen für den Kampf gegen Hitlers Horden kommt die entscheidende Rolle der Partei der Bol-
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schewiki zu.« Oder: »Der große Stalin und die Parteiorganisationen sind die Inspiration für militärische Heldentaten an der Front und den Enthusiasmus der arbeitenden Massen an der Heimatfront sowie die Organisatoren von beidem.« (»Usilit’ partijno-političeskuju rabotu« 1941: 1)1 Doch eine andere ideologische Linie war bereits deutlich vernehmbar. Formuliert wurde sie vom Sekretär des Zentralkomitees Aleksandr Ščerbakov: »Unsere Propaganda und Agitation muss den landesweiten, patriotischen Charakter des Kampfes gegen die deutschen Invasoren den breitesten Massen auf jedem erdenklichen Wege deutlich machen.« (Ščerbakov 1942: 11) Als Schlüsselbegriffe fungieren hier nicht mehr »die Partei«, sondern »Propaganda«, »patriotisch« und »deutsch«. Diese neue Linie unterschied sich jedoch nicht nur im Inhalt, sondern auch im Charakter. Tatsächlich offenbarte sich dieser neue Charakter der »vermenschlichten« Ideologie der Kriegszeit in den allerersten Worten, die Stalin nach Kriegsausbruch an die Massen richtete und zwar in seiner Wahl der Anredeform: »Brüder und Schwestern!« Das war die neue Stimme des Regimes, die sich direkt an die Massen richtete und institutionelle Schranken und ritualisierte Konventionen beiseite fegte. Vor unseren Augen vollzieht sich eine schlagartige Vermenschlichung der sowjetischen Kunst und eine grundlegende Vermenschlichung der Ideologie. Für kurze Zeit entledigt sich die Ideologie ihrer doktrinären Züge und verändert ihre ästhetische Formel bis zur Unkenntlichkeit. Die einzige fest etablierte Praxis, auf die die Ideologie weiterhin zurückgriff, war die Historisierung. Die ersten und vielleicht bekanntesten Plakate der Kriegszeit waren »Die Mutter-Heimat ruft!« und »Unsere Streitkräfte sind zahllos!« Ersteres nimmt Bezug auf den Mutterarchetyp, das zweite auf die »glorreiche russische Geschichte«. In seiner Rede vom 6. November 1941 zum 24. Jahrestag der Oktoberrevolution griff Stalin das Thema des »Nationalstolzes« bei Persönlichkeiten der »großen russischen Nation« auf. Seinen Worten nach war dies »die Nation Plechanovs und Lenins, Belinskijs und Černyševskijs, Puškins und Tolstojs, Glinkas und Čajkovskijs, Gor’kijs und Čechovs, Sečenovs und Pavlovs, Repins und Surikovs sowie Suvorovs und Kutuzovs«. Am darauffolgenden Tag hielt er bei der Verabschiedung der Truppen, die zur Verteidigung Moskaus entsandt wurden, eine Rede am Roten Platz. Er schloss sie mit den Worten: »Das heldenhafte Bild unserer großen Ahnen soll Eure Inspiration in diesem Krieg sein: Aleksandr Nevskij, Dmitrij Donskoj, Kuz’ma Minin, Dmitrij Požarskij, Aleksandr Suvorov und Michail Kutuzov.« Zunächst war die Historisierung an eine mythische Vergangenheit ge-
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Soweit nicht anders angegeben handelt es sich bei allen Zitaten aus dem Russischen um eigene Übersetzungen.
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knüpft und die sowjetischen Soldaten waren mit den »bogatyri« (Recken), den legendären Figuren aus den russischen Volkssagen, verglichen worden. Doch schon nach sehr kurzer Zeit galten die Bezüge den sehr greifbaren »siegreichen« Idealen russischer Kommandeure und der »glorreichen russischen imperialen Vergangenheit«: Suvorov, Kutuzov und Aleksandr Nevskij. Offensichtlich kann von all diesen Namen kein einziger auch nur annähernd mit der sowjetischen Ära in Verbindung gebracht werden. Es ist ein durch und durch vorrevolutionärer Heldenkanon. Es ist ironisch, dass während sich das 25-jährige Jubiläum der »proletarischen Revolution« näherte (und tatsächlich war Stalins Rede diesem gewidmet), die Revolution offenbar »übersprungen« wurde, sie war historisch irrelevant. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass diese Bilder am Vorabend des Krieges Einzug in die sowjetische Kunst hielten. In Ėjzenštejns Historienfilm Aleksandr Nevskij zum Beispiel liegen die Anspielungen auf das »faschistische Deutschland« klar auf der Hand. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass sowjetische Historienfilme und -romane, eine Gattung, die ihren Höhepunkt kurz vor Ausbruch des Krieges hatte, nun unverhohlen die dunklere Seite der Wirklichkeit zeigten. Der sozialistische Realismus der Vorkriegszeit wusste schlichtweg nicht, wie man Leid, Verzicht und Tod darstellt. Die sowjetische Kunst der 1930er Jahre hatte eine Atmosphäre von Freude, Glückseligkeit und Überfluss kreiert, in der sich die Ereignisse oft vor einer Urlaubs- oder Erholungskulisse entfalteten. In dieser Kunst sangen, tanzten und vergnügten sich die Menschen. Nur Bilder und Filme, die sich der Vergangenheit widmeten, beinhalteten Darstellungen einer brutalen Wirklichkeit. Aleksandr Nevskij zum Beispiel ist durchtränkt von Gewalt: In diesem Film werden Menschen vergewaltigt, Köpfe abgeschlagen und Kinder verbrannt. Auch wenn sich die »vermenschlichte« Stilistik der sowjetischen Kultur der Kriegszeit und die Vorkriegsideologie in ihrer Mobilisierungsfunktion ähneln, sind die Unterschiede doch gravierend. Die Vorkriegsideologie zielte auf Rationalität ab (so utopisch das auch gewesen sein mag). Die Kultur der Kriegszeit hingegen sollte fast schon atavistische Urinstinkte wie Hass und Vergeltung wecken. Um diese wachzurufen musste die Kultur auf eine besondere Bildsprache zurückgreifen. Die Generierung grausamer Bilder von Tod und Zerstörung wurde zu einer charakteristischen »künstlerischen Strategie« der Kriegszeit. Die Wirkmacht dieser Bildsprache wurde durch die Institutionen des sowjetischen Regimes – durch das Treiben des ›Volkskommissariats für innere Angelegenheiten‹ (NKVD), des Nachrichtendienstes ›Tod den Spionen‹ (SMERŠ), der Strafbataillone, Tribunale und Lager – natürlich befördert. (Bezeichnenderweise sind Beschreibungen von Gefangenenlagern oder überhaupt das Thema als solches in
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der Kriegsliteratur nicht zu finden. Die nationalsozialistischen Konzentrationslager wurden wohl mit Absicht ausgespart, da sie den Leser womöglich an den GULAG erinnert hätten.) In praktisch allen die Presse betreffenden Parteidokumenten stand die Forderung, so viel wie möglich »über die Gräueltaten der deutsch-faschistischen Monster in den von ihnen vorübergehend besetzten Gebieten, über die Plünderung und Verwüstung unserer Städte und Dörfer, über die an Frauen und Kindern verübte Gewalt« zu veröffentlichen. Ein anderes Thema waren »die Folterungen der in Gefangenschaft geratenen verwundeten Rotarmisten durch Hitlers Schergen.« Es wurde »Material zu den abscheulichen räuberischen Umtrieben der deutschen Soldaten und Offiziere« gefordert. Die »schlicht geschriebenen Augenzeugenberichte über die Gräueltaten der faschistischen Invasoren« mussten gedruckt werden. Die Parteiorganisationen waren angehalten, »die Fakten der blutigen Verbrechen der deutsch-faschistischen Aggressoren für die Agitations- und Propagandaarbeit ausgiebig zu nutzen, diese Verbrechen der Besatzer der gesamten Bevölkerung zu eröffnen und das Feuer des Hasses auf den Feind bei den Massen zu entfachen.« Kriegsberichterstatter mussten Aufschluss über »die von den deutsch-faschistischen Aggressoren begangenen Gräueltaten, die Ausplünderung und Vergewaltigung der friedlichen Bevölkerung in den von ihnen besetzten Gebieten sowie die Liquidierung sowjetischer Kriegsgefangener« geben (»O partijnoj i sovetskoj pečati« 1954: 492, 494, 499, 530). Natürlich konnten nur sehr wenige Menschen – nur die an der vordersten Front – wirklich sehen, was geschah. Das Ziel war es aber, die grausamen Szenen des Krieges durch Bildsprache zu übermitteln, durch ihre direkte Darstellung. Wenden wir uns einem charakteristischen, anschaulichen Dokument zu. Es handelt sich um die Titelgeschichte der wichtigsten Parteizeitschrift Bolševik, die in der kritischsten Phase des Krieges, Anfang August 1942, kurz vor der Schlacht um Stalingrad, veröffentlicht wurde. Ihre Überschrift lautet »Wir werden den Hass auf den Feind in konkrete Kriegshandlungen umsetzen!« (»Nenavist’ k vragu voplotim v konkretnye boevye dela!« 1942) und sie beginnt mit folgenden Bildern: »Zu Ruinen verwandelte Städte […] bis auf den Grund niedergebrannte Dörfer […] Galgen mit den im Wind schaukelnden Leichen friedlicher sowjetischer Bürger […] klaffende Gräben randvoll mit Leichen gefolterter und hingerichteter Menschen […] Frauen und Kinder, die wie Schatten in den Ruinen umherstreifen.« Soweit der visuelle Teil. Was folgt, ist ein Spannungsaufbau auf zunächst rein verbaler Ebene: »Das menschliche Vorstellungsvermögen ist schlichtweg außerstande, sich die ungeheuerlichen Qualen auszumalen, denen die Deutschen das sowjetische Volk aussetzen.« Dies wird weiter gesteigert, indem der ursprünglichen Skizze stufenweise Farbe beigegeben wird. Zu-
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erst werden Fotografien gezeigt, die man bei deutschen Soldaten gefunden hat. Auf einer von ihnen ist »ein Mob von diabolisch grinsenden Fritzens, die vor einem russischen Dorf stehen, das niedergebrannt wird«, zu sehen. Eine andere zeigt »deutsches Militär mit einer Gruppe hingerichteter friedlicher sowjetischer Einheimischer« und noch eine andere, wie fünf sowjetische Bürger gehängt werden. Mit der vierten Fotografie wird die Spannung durch betonte Erotik gesteigert: »Ein deutscher Mann mit freiem Oberkörper […] peitscht ein nacktes Mädchen.« Es folgen Zitate aus Briefen deutscher Soldaten und Offiziere über die Vorrangstellung, Überlegenheit und die Rechte der »höherwertigen deutschen Rasse«. Dann beginnt das »Erzählen« von Gewaltszenen durch Augenzeugen. Die anschließenden Slogans (»Wir aber werden unseren Zorn auf die Köpfe der Aggressoren niedergehen lassen« und Ähnliches) sind von bewusster Redundanz, denn ganz offensichtlich verblassen sie neben diesen Bildern. Wir können förmlich beobachten, wie das Regime aufhört, in Slogans zu sprechen und beginnt, Geschichten durch Bilder zu erzählen. Daraus erwächst eine Tautologie. Der Slogan büßt seine Bedeutung ein, er verschmilzt mit dem Bild und das eine wird zum jeweils anderen: Das Bild mobilisiert oder fordert heraus (wie ein Slogan) und der Slogan fügt Farbe bei (wie ein Bild). In der Kultur der Kriegszeit ist eine konsequente Ablehnung des dekorativen Stils zu beobachten. Bekanntlich ist der dekorative Stil das Gegenteil des Narrativen. Das Narrative wiederum ist das Gegenteil des Expressionistischen. Die sowjetische Kunst der Kriegszeit fand sich unversehens in einer gänzlich neuen ästhetischen Dimension wieder. Wenn der sozialistische Realismus vor dem Krieg ein dekorativ gestaltetes Narrativ war, so kam im Krieg eine Kunst auf, die als sowjetischer Expressionismus im Inhalt und Naturalismus in der Form bezeichnet werden könnte.2 Der sowjetische Künstler, der vor dem Krieg das blühende sowjetische Leben darstellte, ohne dabei an den Betrachter zu denken, glaubte, dass das Bild von der reichen Ernte sich in wirklichen Überfluss verwandeln würde. Nun aber sprach die sowjetische Kunst durch die Darstellung der deutschen Gräueltaten den Betrachter direkt an, darauf aus, das Bild in Handlung übergehen zu lassen. Diese Bilder verfolgten also einen Zweck – und sie zeigten Wirkung. Für uns gehören reale wie fiktive Bilder des Grauens und der Gewalt, Bilder von Terror und Tod, die sich in verschiedenen Teilen der Welt abspielen, dank
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Die Charakterisierung des sozialistischen Realismus der Vorkriegszeit als dekorativ erfolgt hier im bewussten Widerspruch zum offiziellen Standpunkt der sowjetischen Kunstideologie, die ja gerade die realistische und unästhetisierte Darstellung der Wirklichkeit zum Ideal erhoben hatte.
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Fernsehen und Internet längst zum Alltag. Massenmorde und Kriege werden als etwas Gewöhnliches wahrgenommen. Bilder von Schmerz und Leid sind zu einem wichtigen Aspekt der heutigen Massenmedien, von politischer Propaganda bis hin zu kommerzieller Werbung, geworden und komplett austauschbar. Doch auf die Menschen der 1940er Jahre hatten sie eine ganz andere Wirkung. Grafische Gewalt war ein mächtiges Betäubungsmittel, das Furcht, persönliche Zweifel und Bedenken zu unterdrücken half; Tod, Elend und das Grauen des Krieges ließen die persönliche Betroffenheit in den Stereotyp des Massenverhaltens übergehen, indem sie individuelle Erfahrungen auf die Oberfläche kollektiver Handlung projizierten. Die sowjetische Kultur der Kriegszeit hörte natürlich nicht auf, sowjetisch zu sein. Sie erzählte weiterhin Geschichten von Wundern und »unvergleichlichen Heldentaten«, doch nicht das zeichnete sie aus. Was neu war, waren die Mittel selbst, mit denen dieser Heroismus übermittelt wurde, was ein Beispiel besonders gut veranschaulicht. Zoja Kosmodem’janskaja war eine Partisanenheldin, die von den Deutschen gefangen genommen und gehängt wurde. Der Mythos, der dieses Bild umgibt, ist gewaltig. Gemälde, epische Gedichte, ein Roman, Biografien und ein Spielfilm. Alles begann 1942 mit der Veröffentlichung der erschütternden Aufnahme des Journalisten Sergej Strunnikov von der hingerichteten Kosmodem’janskaja in der Zeitung Pravda (Abb. 1). Der Schnappschuss zeigt ihren in den Schnee gedrückten Körper. Neu und schockierend war die Nähe des Objektivs zum Opfer. Dadurch wurde der Betrachter direkt in das Ereignis hineingezogen und konnte sich somit nicht durch einen, wenn man so will, Feldherrnblick, vom Grauen des Todes distanzieren. Diese ungewohnte Nähe zur Wirklichkeit rief Entsetzen hervor und erzeugte gleichzeitig eine Art Trance. Trotz der schockierenden Wirkung, die das Bild auf den Betrachter hatte, konnte er sich nicht davon losreißen. Zweifellos rückte die Fotografie von der Darstellungstradition des sozialis-tischen Realismus ab, in dem Helden-Frauen entweder als Kämpferinnen oder als Mütter präsentiert wurden. In ihr kommen sowohl für den sozialistischen Realismus untypische erotische, als auch typische christliche/religiöse Motive zum Ausdruck. Eine weitere Besonderheit der Zoja-Aufnahme liegt in ihrer ungewöhnlichen Sinnlichkeit: der zurückgeworfene Kopf, der nach hinten gestreckte Hals und die entblößten Brüste, die Assoziationen an Delacroix’ La Liberté wecken. In der stalinistischen Kultur konnte nur die Abbildung einer toten Frau eine derart starke erotische Komponente enthalten. Eine kulturgeschichtliche Parallele dazu findet sich in der englischen Malerei der Viktorianischen Ära, in der die öffentliche Darstellung von Erotik auf den toten weiblichen Körper begrenzt war. Natürlich spielten partiell nackte Körper auch in der sowjetischen Vorkriegsfoto-
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grafie eine Rolle. Allerdings waren sie auf zwei Bereiche des öffentlichen Lebens beschränkt: Arbeit und Sport. Zudem entzogen die Besonderheiten der sowjetischen ›Optik‹ solchen Bildern die Erotik, da den Darstellungen der schönen Sportlerinnen und Sportler, Arbeiterinnen und Arbeiter jegliche Individualisierung abging. In der Aufnahme von Zoja aber ist die Individualisierung ihres Todes und ihres Leidens die Hauptsache. Der Betrachter war es nicht gewohnt, Details zu sehen, die vom qualvollen Tod eines jungen Mädchens, das ein Opfer von Gewalt geworden war, zeugten: die entblößten Brüste mit erkennbaren Spuren von Folter und der um ihren Hals festgezurrte Strick. Der weibliche Oberkörper erscheint hier als ein Körperteil, der gegen den Willen des Opfers den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt wurde, weshalb er ein Gefühl der Hilflosigkeit vermittelt, das den Betrachter besonders stark berührt. Der Filmemacher Lev Arnštam griff in seinem Film Zoja (1944) diese Mischung aus Erotik und religiös-erhabener Bildsprache wieder auf. Zoja, gespielt von Galina Verbitskaja, erscheint darin als ein jungfräuliches Geschöpf, eine unnahbare geschlechtslose Schönheit, mit der sich sowohl Frauen als auch Männer jeweils entsprechend stark identifizieren können. Dem ist die gesamte, impressionistisch zurückhaltende Ästhetik des Films untergeordnet. In der Szene, die Zojas letzten Gang zeigt, wie sie nachts durch den Schnee ihrem Tod entgegenschreitet, sieht der Zuschauer zuerst ihre nackten Füße, ihre dünnen Beine und dann die vagen Umrisse ihres Körpers, die im dichten Schneefall hervortreten; erst dann erscheint ihr beseeltes, strahlendes Gesicht auf der Leinwand. Einige Wochen nach der Veröffentlichung der Aufnahme in der Pravda begaben sich die Karikaturisten der Gruppe Kukryniksy in das Dorf der Hinrichtung Petriščev, woraufhin ihr Gemälde Die Heldentat der Zoja Kosmodem’janskaja (1942) entstand (Abb. 2). Ein Vergleich zwischen der Fotografie und dem Gemälde der Kukryniksy genügt, um zu verstehen, von welch signifikanter Bedeutung die Naheinstellung der Kamera ist: Sobald sich die Perspektive verändert, verkommt das Grauen zu Heroismus und das Bild ist nicht mehr in der Lage, den Betrachter zu berühren. Il’ja Ėrenburg schrieb: »Krieg ist Raserei, das Feuer des Hasses und der Selbstaufgabe. Krieg ohne Hass ist unmoralisch, wie es die Lebensgemeinschaft ohne Liebe ist. Wenn ich ›Raserei‹ sage, denke ich natürlich nicht an Hysterie, Affektiertheit. Ich will nur daran erinnern, noch einmal, dass die Auslöschung eines Feindes etwas Außergewöhnliches ist. Wenn sich unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Wille auf eine einzige Sache konzentrieren – auf Zerstörung – dann verändert sich auch das Wesen unseres Herzens. Wenn Krieg zum Alltag
116 | E VGENY DOBRENKO wird, zerfällt es, es stirbt. Das ist das Urteil über die Alltagschronisten, wenn sie den Krieg genauso beschreiben wollen, wie die Erfolge eines Stoßarbeiters oder eine KolchoseHochzeit. Krieg verlangt weniger danach, beschrieben als vielmehr danach, unterstützt zu werden: nicht nach Tinte, sondern nach etwas Entflammbarem […] Die Aufgabe des Schriftstellers besteht darin, die Flammen der Empörung, der Furcht und der Selbstaufopferung anzufachen.« (Ėrenburg 1943a: 235)
Die Ästhetik und Poetik der Literatur der Kriegszeit könnte kaum treffender erfasst und formuliert werden. Es gab wohl keine direktere Form der Massenagitation als die Lyrik der Kriegszeit. Und unter den zahlreichen Texten der sowjetischen Literatur dieser Jahre war wohl kein Text von größerer Wirkkraft als Konstantin Simonovs Gedicht »Töte ihn« (»Ubej ego«). Das Gedicht erschien in der Zeitung Krasnaja Zvezda (Roter Stern) im Juli 1942, in der verzweifeltsten Stunde des Krieges, am Vorabend der Schlacht um Stalingrad. In ihm lässt sich die gesamte Poetik der sowjetischen Kultur der Kriegszeit ablesen: Wenn dir dein Haus etwas bedeutet, In dem man dich zum Russen heranzog, Unter der Holzbalkendecke, Unter der du, im Kinderbett schaukelnd, schwammst; Wenn dir in diesem Haus Die Wände, der Ofen und die Ecken etwas bedeuten, Die vom Großvater, Urgroßvater und Vater Abgewetzten Fußböden; Wenn dir der karge Garten lieb ist, Mit der Maiblüte und dem Gesumme der Bienen Und der Tisch, den dein Großvater vor hundert Jahren Unter der Linde in die Erde grub; Wenn du nicht willst, dass den Fußboden In deinem Haus ein Deutscher beschmutzt, Dass er sich an des Großvaters Tisch setzt Und die Bäume im Garten zerstört … Wenn dir deine Mutter etwas bedeutet – Die Brust, die Dich nährte, Die schon lange keine Milch mehr hat, An die man nur die Wange schmiegen kann; Wenn du den Gedanken nicht ertragen kannst,
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Dass ein Deutscher, der sich bei ihr einquartiert hat, Sie auf ihre runzligen Wangen schlägt, Ihre Zöpfe um seinen Arm geschlungen; Dass dieselben Hände, Die dich zur Wiege trugen, Seine dreckige Wäsche waschen Und ihm das Bett machen … Wenn du deinen Vater nicht vergessen hast, Der dich in seinen Armen wiegte, Der ein guter Soldat war Und der im Schnee der Karpaten verschollen ist, Der für die Wolga starb, für den Don, Für das Schicksal deines Vaterlandes; Wenn du nicht willst, dass er Sich im Grab umdreht, Dass sein von Kreuzen gesäumtes Soldatenportrait, Ein Faschist zu Boden reißt Und vor den Augen deiner Mutter Auf sein Gesicht tritt … Wenn dich der Gedanke schmerzt, dass der Greis, Dein alter Schullehrer, Seinen stolzen greisen Kopf Vor der Schule in einer Schlinge senkt, Dass für alles, wozu er Deine Freunde und Dich erzog, Ihm der Deutsche die Arme bricht Und ihn am Pfosten hängt. Wenn du sie nicht hergeben willst, Die, mit der du zusammen gingst, Die, die zu küssen du lange Nicht wagtest, – so sehr hast du sie geliebt, Nicht willst, dass die Faschisten sie bei lebendigem Leib Mit Gewalt nehmen, in die Ecke gedrückt, Und sie, die Entblößte, Zu dritt auf dem Boden kreuzigen; Dass sich diese drei Hunde
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118 | E VGENY DOBRENKO Mit Gestöhne, Hass und Blut Das nehmen, was du selbst heilig bewahrtest Mit all der Kraft der männlichen Liebe … Wenn du nicht hergeben willst Dem Deutschen mit seinem schwarzen Gewehr Das Haus, in dem du lebtest, deine Frau, deine Mutter, Alles, was wir Heimat nennen, Wisse: Niemand wird sie retten, Wenn du sie nicht rettest; Wisse: Niemand wird ihn töten, Wenn du ihn nicht tötest. Und solange du ihn nicht getötet hast, Sprich nicht von deiner Liebe, Das Land, in dem du aufwuchst und das Haus, in dem du lebtest Nenne nicht deine Heimat. Wenn dein Bruder einen Deutschen getötet hat, Wenn der Nachbar einen Deutschen getötet hat, – So ist es deines Bruders und Nachbars Rache, Aber keine Rechtfertigung für dich. Man versteckt sich nicht hinter dem Rücken des anderen, Man rächt sich nicht mit dem Gewehr des anderen. Wenn dein Bruder einen Deutschen getötet hat, Ist er, nicht du, ein Soldat. So töte den Deutschen, damit er Auf der Erde liegt und nicht du, Damit die Totenklage nicht in deinem Haus, Sondern in seinem erklingt. Er wollte es so, es ist seine Schuld, – Soll sein Haus brennen, nicht deins, Und nicht deine, sondern seine Frau Soll Witwe sein. Nicht deine, sondern seine Mutter Soll sich die Augen ausweinen, Nicht deine, sondern seine Familie Soll vergeblich warten. So töte wenigstens einen! So töte ihn möglichst bald!
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Sooft du ihn siehst, Sooft töte ihn auch!3
Если дорог тебе твой дом, Где ты русским выкормлен был, Под бревенчатым потолком, Где ты, в люльке качаясь, плыл; Если дороги в доме том Тебе стены, печь и углы, Дедом, прадедом и отцом В нем исхоженные полы; Если мил тебе бедный сад С майским цветом, с жужжаньем пчел И под липой сто лет назад В землю вкопанный дедом стол; Если ты не хочешь, чтоб пол В твоем доме немец топтал, Чтоб он сел за дедовский стол И деревья в саду сломал… Если мать тебе дорога – Тебя выкормившая грудь, Где давно уже нет молока, Только можно щекой прильнуть; Если вынести нету сил, Чтоб немец, к ней постоем став, По щекам морщинистым бил, Косы на руку намотав; Чтобы те же руки ее, Что несли тебя в колыбель, Мыли гаду его белье И стелили ему постель… Если ты отца не забыл, Что качал тебя на руках, Что хорошим солдатом был
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Bei der Übersetzung des Gedichts wurde eine sinngetreue Übertragung angestrebt.
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И пропал в карпатских снегах, Что погиб за Волгу, за Дон, За отчизны твоей судьбу; Если ты не хочешь, чтоб он Перевертывался в гробу, Чтоб солдатский портрет в крестах Снял фашист и на пол сорвал И у матери на глазах На лицо ему наступал… Если жаль тебе, чтоб старик, Старый школьный учитель твой, Перед школой в петле поник Гордой старческой головой, Чтоб за всё, что он воспитал И в друзьях твоих и в тебе, Немец руки ему сломал И повесил бы на столбе.] Если ты не хочешь отдать Ту, с которой вдвоем ходил, Ту, что долго поцеловать Ты не смел,– так ее любил, Чтоб фашисты ее живьем Взяли силой, зажав в углу, И распяли ее втроем, Обнаженную, на полу; Чтоб досталось трем этим псам В стонах, в ненависти, в крови Все, что свято берег ты сам Всею силой мужской любви… Если ты не хочешь отдать Немцу с черным его ружьем Дом, где жил ты, жену и мать, Все, что родиной мы зовем,– Знай: никто ее не спасет, Если ты ее не спасешь; Знай: никто его не убьет,
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Если ты его не убьешь. И пока его не убил, Ты молчи о своей любви, Край, где рос ты, и дом, где жил, Своей родиной не зови. Если немца убил твой брат, Пусть немца убил сосед,– Это брат и сосед твой мстят, А тебе оправданья нет. За чужой спиной не сидят, Из чужой винтовки не мстят. Если немца убил твой брат,– Это он, а не ты солдат. Так убей же немца, чтоб он, А не ты на земле лежал, Не в твоем дому чтобы стон, А в его по мертвым стоял. Так хотел он, его вина,– Пусть горит его дом, а не твой, И пускай не твоя жена, А его пусть будет вдовой. Пусть исплачется не твоя, А его родившая мать, Не твоя, а его семья Понапрасну пусть будет ждать. Так убей же хоть одного! Так убей же его скорей! Сколько раз увидишь его, Столько раз его и убей!
Das Gedicht hat sieben Strophen und ist ziemlich lang (96 Verse). Es baut auf der bloßen Modellierung des Möglichen und der Inszenierung des Denkbaren auf. Diese Verschiebung der Modalität (das Potenzielle wird sozusagen zum Tatsächlichen) spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Die Projektion des Potenziellen versetzt den Leser in einen Zustand der emotionalen Anspannung; mit dem Wechsel der modalen Perspektive verschiebt sich die Wahrnehmung; der Text rückt näher an den Leser heran und wird »vermenschlicht«. Die Bilder von dem, was geschehen könnte, als das, was bereits geschehen ist, haben einen wesent-
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lich größeren Einfluss auf den Leser als lediglich Bilder von dem, was tatsächlich geschehen ist. Interessant ist auch das Hinauszögern des eigentlichen Aufrufs »töte ihn!«. Er erfolgt im 24. Vierzeiler, derweil ihm die vorangehenden 23, die mit »wenn« beginnen, vollständig untergeordnet sind. Der Aufbau des Gedichts nach dem »wenn … dann«- Prinzip, bei dem eine Teilkomponente in einem Verhältnis von 24 zu 1 zur anderen steht, erlaubt es dem Dichter, nicht nur den dargestellten Bildern Spannung zu geben, sondern diesen Prozess des Spannungsaufbaus auch grammatikalisch zu stützen. Die dies zusätzlich verstärkende Hierarchie der »Objekte«, die dem Leser am Herzen liegen sollen, folgt ebenfalls einer »Grammatik«: das Haus des Urgroßvaters (erste Strophe), die Eltern (zweite Strophe), der Schullehrer (dritte Strophe) und schließlich die Geliebte (vierte Strophe). Das Vaterland (fünfte Strophe) stellt die Synthese all dieser Werte dar. Die Hierarchie ist eine rein historische: Urgroßvater und Großvater, Mutter und Vater, Kindheit (Schullehrer), Erwachsenenalter (die Geliebte). Jede Strophe ist nach dem gleichen Prinzip gestaltet: Die Zuneigung zum dargestellten »Objekt« wächst unversehens mit der Betonung seiner Unvollkommenheit. Es ist ein altes Haus, mit einer Holzbalkendecke, die Fußböden sind abgewetzt und der ganze Bau ist über hundert Jahre alt. Doch der Deutsche wird über die Fußböden stampfen, am Tisch des Großvaters sitzen und die Bäume im Garten fällen. Die Mutter ist alt, hat Falten und ihre Brüste haben »schon lange keine Milch mehr«. Doch wenn der Deutsche sie findet, wird er »Sie auf ihre runzligen Wangen [schlagen] / Ihre Zöpfe um seinen Arm geschlungen« und die Hände, die dich zur Wiege trugen, werden seine Wäsche waschen und sein Bett machen müssen. Der Vater ist an der Front gefallen, doch er wird »Sich im Grab« umdrehen, wenn der Faschist sein Soldatenportrait herunterreißt und »vor den Augen deiner Mutter / Auf sein Gesicht tritt«. Dein Schullehrer, der dich erzog, ist alt. Doch der Deutsche wird ihn an einen Pfosten hängen. Der Höhepunkt der aus dem Potenziellen erwachsenden Spannung wird in der Strophe über die Liebste erreicht. Hier kommt alles zusammen: die Erinnerung an die Unschuld und Reinheit des Gefühls, die Vergewaltigung und schließlich der Appell an die »Kraft« der »männlichen Liebe«. Unverblümte Sinnlichkeit und Erotik durchziehen diese Strophe. Alles wird in die Waagschale geworfen, um der Grundidee, nach der der Leser direkt angesprochen werden soll, Gewicht zu verleihen (das Pronomen »du« [»ty«] wird im Text 16 Mal wiederholt). Alles wird unweigerlich so kommen (tatsächlich scheint es, als könnte es bereits stattfinden), wenn »du« den Deutschen nicht tötest. Simonov widmet eine ganze Strophe dem einen Gedanken, der im Kern besagt, dass »du« und nur »du« – nicht dein Nachbar und auch nicht
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dein Bruder – das Töten übernehmen musst. Du kannst diesem Töten nicht entfliehen, du darfst dich nicht vor ihm verstecken, nicht einmal hinter deinem Bruder. Simonov gestaltete die existenzielle Zwangssituation des Individuums der Kriegszeit mittels ihrer maximalen »Vermenschlichung«, indem er sie dem Leser näher rückte. Insofern ist die letzte Strophe gerade deshalb so eindrücklich, weil sie einem jeden zugänglich ist: Er soll sterben, nicht du; sein Haus soll brennen, nicht deins; »Und nicht deine, sondern seine Frau / Soll Witwe sein«. Und erst nach dieser dichten Orchestrierung des Leitmotivs ist das bekannte Finale des Gedichts zu hören: »töte ihn […] / Sooft du ihn siehst!« Die aggressive Kraft dieses Gedichts ist enorm: Die Aggression des Autors gegen den Leser soll sich mit der des Lesers gegen den Feind verbinden. Der Leser ist in ebensolchem Maße Gegenstand der Aggression wie es der Feind ist. Entsprechend auch die Haltung ihm gegenüber: eine Unbarmherzigkeit wie beim Militärgericht und eine Missachtung seiner Individualität in der Generalisierung (in einer Strophe ist von einer Geliebten die Rede, in der nächsten von einer Ehefrau!). Der Rezipient, an den sich Simonovs Text richtet, ist vor allem ein Objekt der Aggression. Besonders offensichtlich ist das in den Plakaten der frühen Kriegsphase. Darauf sind überall abgeschlachtete oder verwundete Kinder zu sehen (Abb. 3), die Dinge rufen wie »Papa, töte den Deutschen!«, »Räche die Tränen und das Blut unserer Kinder!«, »Vernichte die Mörder unserer Kinder ohne Erbarmen!«; notleidende Mütter und entehrte Geliebte (Abb. 4), die die Truppen antreiben: »Rotarmist! Du überlässt deine Liebste nicht der Scham und Schande durch Hitlers Soldaten!«; eingekerkerte Schwestern, die darum flehen, befreit zu werden. Dieselben Motive wiederholen sich in der sowjetischen Malerei. Die Bilder sind derart repetitiv, dass die Plakate letztendlich selbst zu Meta-Bildern werden, wie im Falle der beiden Plakate »Rotarmist, rette uns!« (Abb. 5) und »Schlag ihn tot« (Abb. 6). Ersteres ist im letzteren als eigentümlicher Hintergrund präsent: Die dargestellte Handlung verweist auf ihren Ursprung, der im besagten Hintergrundbild liegt. Diese visuelle Zirkularität führt zu einer semantischen Tautologie, die insbesondere in der Malerei greifbar wird, welche zumeist innerhalb der motivischen Bandbreite der Plakate verblieb. In dem Gemälde Der Deutsche ist vorübergeflogen (1943) von Arkadij Plastov, zum Beispiel, sehen wir wieder ein totes Kind: Ein deutsches Flugzeug ist soeben vorübergeflogen und hat einen Schäferjungen erschossen. Die Körperhaltung des Jungen und die Herbstlandschaft entfalten eine zutiefst melancholische Wirkung. In Sergej Gerasimovs Gemälde Die Mutter des Partisanen (1943) werden wir hingegen Zeugen einer schrecklichen Hinrichtungsszene, die gleichzeitig Widerstand und Sinnlosigkeit zum Ausdruck bringt. Es ist eines der berühmtesten Gemälde der Kriegszeit. Das
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Interessanteste an diesen Gemälden ist, dass sie – ungeachtet all ihrer Unterschiede – die Eigenschaft des Plakats bewahren: Als Gemälde individueller Maler erregen sie beklemmendes Mitleid und »edlen Zorn« zugleich. Natürlich sind diese Bilder von größerer Komplexität, doch auch ihr Ziel ist die Mobilisierung. Und ihre Strategie ist – wie auch in der Literatur – das Bezeugen. Dahingehend bezeichnend ist das Nachkriegsgemälde der Kukryniksy Zeugnis vor Gericht (1945), in dem diese Bilder in einen Diskurs der gerichtlichen Strafverfolgung gesetzt sind (Abb. 7). Die Kultur der Kriegszeit wurzelt in einem Paradoxon. Auf der einen Seite verlangt sie nach einem besonderen Psychologismus, der, wie wir gesehen haben, zentral für die suggestive Wirkung dieser Texte ist. Auf der anderen Seite ist sie anti-psychologisch. Wie Il’ja Ėrenburg bemerkte: »Der Krieg erlaubt keine Zwischentöne, er ist aufgebaut auf schwarz und weiß, auf selbstloser Hingabe und Verbrechen, auf Tapferkeit und Feigheit, auf Selbsthingabe und Verderbtheit. Derjenige, der auf die Idee kommen sollte, die Psychologie des Feindes zu verkomplizieren, würde seinem eigenen Beschützer das Gewehr aus der Hand schlagen.« (Ėrenburg 1943b: 114) »Die Tinte fließt wie Blut und selbst wenn ich die finstere Fantasie des Teufels persönlich hätte«, schrieb Aleksej Tolstoj in seinem Artikel »Das Gesicht von Hitlers Armee« (»Lico gitlerovskoj armii«), »könnte ich mir derartige Orgien von Folter, Todesschreien, Qualen, blutrünstigen Misshandlungen und Morden nicht ausdenken, die in den Gebieten der Ukraine, Weißrusslands und Großrusslands, in die die faschistisch-deutschen Horden eingedrungen sind, inzwischen zum Alltag gehören.« (Tolstoj 1950: 129) Diese »finstere Fantasie des Teufels persönlich« lässt uns in eine Welt sadomasochistischer Mysterien eintauchen, die von der Darstellung von Gewaltszenen beherrscht wird. Aleksandr Kornejčuk berichtet in seinem Artikel »Schreckliche Vergeltung ist unumgänglich« (»Groznaja rasplata neminuema« 1941) von Szenen wie diesen: »In Timofej Globas Haus wohnten drei Offiziere. Seine Tochter Galja versteckte sich in den Obstanlagen und Gärten, entkam aber nicht. Sie fiel einem Faschisten in die Hände. Als er die Schreie seiner Tochter hörte, lief der gebrechliche Globa hinaus und schlug ihren Angreifer mit seinen Krücken nieder. Zwei weitere Verbrecheroffiziere kamen aus der Hütte gerannt und versammelten die Soldaten, die Galja und ihren Vater ergriffen. Sie zogen das Mädchen aus und demütigten sie auf bestialische Weise, derweil sie den Vater so festhielten, dass er alles mit ansah. Sie rissen ihr die Augen aus, schnitten ihr die rechte Brust ab und stachen ein Bajonett in die linke. Dann zogen sie auch Timofej Globa aus, setzten ihn auf die Leiche seiner Tochter, schlugen ihn mit Ladestöcken und erschossen
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ihn. […] [I]n einem anderen Dorf hängten die Deutschen vier Kolchose-Frauen und hängten den Sohn der einen von ihnen an ihren Füßen.« (Kornejčuk 1941:14)
Szenen wie diese bilden die Grundlage der Poetik der Literatur und Kunst der Kriegszeit. Kurzgeschichten und epische Gedichte, Gemälde und Plakate (besonders in der frühen Kriegsphase) sind voll von Bildern unfassbarer Gewalt. Darin werden Augen ausgerissen und Schädel zerquetscht; sie zeigen Kinderleichen, Vergewaltigungen junger Mädchen, Misshandlungen alter Frauen und Männer. Leichen werden geschändet und an Pfählen aufgespießt, Frauen werden bajonettiert, ihr Bauch wird aufgeschlitzt, ihre Brüste und ihr Kopf abgeschnitten. Sie werden in Blutlachen neben den Leichen ihrer ermordeten Kinder liegengelassen. Mütter werden vor den Augen ihrer Kinder und Eltern vergewaltigt. Kinder werden vor den Augen ihrer Mütter ins Feuer geworfen oder bei lebendigem Leib begraben. Gefangengenommenen Rotarmisten werden die Arme abgehackt, die Augen ausgestochen und die Zungen abgeschnittenen und die Stümpfe dann in Form von fünfeckigen Sternen wieder angesteckt. Wir finden uns in einem Raum der reinen, pervertierten Gewalt wieder. Die zahllosen detaillierten Darstellungen von Leid und Hinrichtungen dienen dazu, die Perspektive des Bildes, einem Prinzip des konzentrierten Dauerschnellfeuers folgend, dialektisch umzukehren: Der Betrachter oder Leser wird in das Objekt extremer Gewalt transformiert. Bei diesem terroristischen Diskurs steckt hinter der Stimme des Opfers der Henker. Und tatsächlich ist das, was wir vernehmen, die Sprache des Opfers, eine Sprache, der sich die sowjetische Literatur niemals zuvor bedient hat; die Opferwerdung ist zuallererst eine Forderung an den Soldaten. Und die Darstellung der Gewalt geht immer mit dem Aufruf zur Vergeltung und Bestrafung des Verbrechers einher. Das Opfer gesteht niemals ein, Opfer zu sein. Indem es stumm bleibt, signalisiert es nicht nur moralische Stärke, sondern auch die Kraft, seinen Peiniger zu überwältigen und zu bestrafen. In der Literatur der Kriegszeit hört man fast nie die Stimmen der Opfer selbst. Sie sind stumm und vertrauen ihre mitleiderregenden, furchtbaren Geschichten den »Zeugen«, d.h. den Schriftstellern an. Kleine Kinder sind stumm, weshalb Geschichten, in denen Kinder getötet werden, so weit verbreitet sind. Darüber hinaus ist das Einflusspotential der Geschichten, in denen Kinder gefoltert werden, auf den Leser besonders groß. Das liegt daran, dass das Kind nicht begreift, was mit ihm geschehen wird, es ist unbewaffnet und wehrlos und kann deshalb unmöglich selbst zum Scharfrichter werden. Wie wir gesehen haben, wiederholte sich dieses Szenario oft auf Plakaten. Doch auch in der Literatur der Kriegszeit war es sehr beliebt. Da das unbewaffnete, wehrlose Opfer für den Peiniger besonders reizvoll ist, fühlt sich der
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Leser/Betrachter, in Übertragung dieses Reizes, umso mehr angestachelt. Bilder von gepeinigten Kindern durchziehen die gesamte sowjetische Lyrik und Prosa der Kriegszeit. Vanda Vasilevskajas Erzählung Regenbogen (Raduga), die vom Partisanenkampf in der Westukraine handelt, hatte infolge ihrer Veröffentlichung in der Izvestija viele Millionen Leser. Um einen Eindruck vom Grad des Naturalismus dieser Geschichte zu vermitteln, wenden wir uns einer einzelnen Szene zu. Die Partisanin Olëna, die mit ihrem Neugeborenen in Gefangenschaft geraten ist, wird gedrängt, das Versteck der anderen Partisanen zu verraten, doch sie schweigt. Das Verhör erweist sich als ihr letztes: »Ihr Gesicht war gelb – von einer unmenschlichen, abstoßend gelben Färbung. Aus ihren aufgeplatzten Lippen war ein Blutrinnsal geflossen und auf ihrem Kinn getrocknet. Unter dem Auge breitete sich ein riesiger Bluterguss von schwarzer, roter und violetter Farbe aus. Es sah so aus, als hätte sich ein Auge nach oben geschoben.« (Vasilevskaja 1954: 341)4 So das Aussehen der Heldin, als der deutsche Offizier sie dazu bringen will, die Wahrheit zu sagen. Schließlich droht er damit, das Kind zu töten. Die ganze Szene basiert auf Kontrast: Der furchterregende Deutsche und das »friedlich schlafende winzige Wesen,« das »kleine Söhnchen, nackt […] mit an den Bauch gezogenen Beinchen.« Der Offizier packt es »wie einen Welpen am Nacken und hob es mit zwei Fingern in die Höhe. In der Luft fingen die kleinen Beinchen an zu zappeln, winzige Zehen mit durchsichtigen, rosa Nägeln, wie die Blütenblätter einer Blume.« Und dann »krachte ein Schuss, direkt ins kleine Gesichtchen. Schießpulver und Rauch stiegen in die Nase. Die kleinen Füßchen hingen leblos herab, ebenso wie die fest zusammengedrückten Fäustchen. Das Gesicht war nicht mehr da, an seiner Stelle klaffte eine blutige Wunde […] Der Hauptmann merkte, dass aus dem Körper des Kindes Blut auf den Boden tropfte. Er schüttelte sich vor Ekel. ›Bring das raus!‹ […] Sie hörte ihn nicht, antwortete nicht. Denn alles war vorbei, alles. Der kleine Junge, auf den sie 20 Jahre lang gewartet hatte, war nicht mehr.« (ebd.: 347ff.) Anschließend bringt man sie barfuß zum gefrorenen Fluss, um sie zu erschießen. »Sie drückte den winzigen toten Körper an ihre Brust. Er war noch warm, die kleinen Arme und Beine waren noch nicht steif. Wäre nicht dieses schreckliche Etwas gewesen, das anstelle des Gesichts übrig gebliegen war … […] In den vier Tagen hatten sich ihre nack-
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Vgl. auch die deutsche Ausgabe Regenbogen über dem Dnjepr (Wassilewska 1945: 120ff.). Da es sich hierbei um eine sehr freie und teilweise lückenhafte Übertragung handelt, wird an dieser Stelle eine eigene Übersetzung angeführt.
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ten Füße komplett mit Wunden und Geschwüren überzogen, sich in blutiges Fleisch mit herabhängenden Hautfetzen verwandelt […] Ihre mit Wunden übersäten Füße rutschten über das Eis, kleine Eisstückchen fraßen sich in den geschwollenen Körper […] Ein unerträglicher Schmerz zerriss ihren Unterleib. Sie spürte, wie Blut in dünnen Rinnsalen ihre Beine hinablief […] ›Gib den Balg her!‹ brüllte einer und streckte die Hand nach dem Kind aus. Erschrocken presste sie den winzigen toten Körper noch fester an ihre Brust. […] ›Gib her!‹ wiederholte die Wache und riss an ihrer Hand. Der winzige Körper flog in den Schnee. Olëna fiel neben ihm auf die Knie. Auf dem Weg waren die Fingerchen bereits blau geworden, blau geworden waren die kleinen Beine, verschwunden war das Rosa der Haut. Das Blut hatte sich dort, wo noch vor einer Stunde das Gesichtchen gewesen war, schwarz gefärbt und war zu dunklen Klumpen erstarrt. Bevor sie die kleine Leiche aufheben konnte, spießte sie der Soldat mit dem Bajonett auf und warf sie hoch. Das Kind landete neben dem Eisloch. Ein anderer lief hin, spießte den Kleinen erneut auf und warf ihn wieder hoch. Dieses Mal ins Ziel […] Werner trat einen Schritt zurück und stieß der knienden Frau das Bajonett mit voller Kraft in den Rücken. Sie fiel mit dem Gesicht auf den Rand des Eislochs […] Der Hauptmann zog das Bajonett mühsam heraus und stieß erneut zu. Die Frau zuckte auf und erstarrte der Länge nach hingestreckt auf dem schneebedeckten Eis. Die Strähnen ihrer zerzausten Haare fielen herab und berührten das Wasser […] Die Soldaten sprangen herbei und begannen, die Leiche mit ihren Gewehrkolben hinunterzustoßen. Das Eisloch war klein, der Kopf hing im Wasser, die Arme aber ragten zur Seite heraus […] Sie brachen ihr die Arme und drückten sie mit Gewalt unter das Eis, ins Wasser. Sie sank bis zur Brust ein, dann bis zum Bauch. Dann stießen sie sie mit den Stiefeln […] Nur ihre blauen, geschwollenen Beine, die schon nichts Menschliches mehr an sich hatten, ragten jetzt noch aus dem Eisloch. Sie schlugen mit ihren Gewehrkolben auf diese fürchterlichen, verkrüppelten Stümpfe ein.« (ebd.: 350ff.)
Dieser schockierende Abschnitt ist nur einer von vielen. Szenen der Gewalt, eine schrecklicher als die andere, ziehen sich von Buch zu Buch, von Gedicht zu Gedicht, von Film zu Film. Mark Donskojs Film Regenbogen von 1944 basiert auf Vasilevskajas Buch. Der Film, der die Geschichte vom unvorstellbaren Leid und Tod der schwangeren Partisanin Olëna Kostjuk, gespielt von der großen ukrainischen Schauspielerin Natalija Užvij, in brutalen und naturalistischen Bildern erzählt, wurde zu einem Klassiker nicht nur des sowjetischen, sondern auch des Weltkinos. Er hatte großen Einfluss auf den italienischen Neo-Realismus und gewann neben einem Stalinpreis auch den Preis der amerikanischen Filmkritikervereinigung. Die sowjetische Kultur der Kriegszeit ist, mehr als alles andere, eine wahre Symphonie des Hasses. Ihr Hauptthema war reich orchestriert; sie war voller raf-
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finierter Tonartwechsel und die Instrumentierung war brillant. Sie ist so gut ausgelegt und vorgetragen, dass man diese Kunst als mehr als nur eine Apologie des Hasses bezeichnen kann. Die Literatur folgt dabei natürlich nur den ideologischen Richtungsvorgaben des Regimes. Als Beispiel soll hier ein Artikel aus der Zeitschrift Propagandist, der auf dem Höhepunkt der Schlacht um Stalingrad erschien, dienen: »Eine von den Deutschen in Brand gesetzte Hütte stand lichterloh in Flammen. Ein einjähriges Mädchen war noch drinnen. Ihr zwölfjähriger Bruder stürzte sich in die brennende Hütte und brachte das Kind, das er retten konnte, hinaus. Ein deutscher Offizier wandte sich an den kleinen Jungen: ›Guter Junge! Zeig her!‹ Doch als ihm der naive Junge das Bündel entgegenstreckte, hob der Offizier das Mädchen hoch, trat vor zur Hütte und warf es geradewegs in die Flammen […] Diesen schrecklichen Akt der Grausamkeit konnte er nur verüben, weil er ein Deutscher ist […] Diese zügellose Grausamkeit ist keine persönliche Eigenschaft des Offiziers, der das Kind in die Flammen warf. Es ist eine Familieneigenschaft. Und nicht nur eine Familieneigenschaft. Keiner der anwesenden deutschen Soldaten rührte sich auch nur, da sie sich alle keinen Deut von dem verfluchten Kindermörder unterschieden. Doch wie steht es mit ihren Ehefrauen, Schwestern und Müttern? Eine deutsche Frau, die an ihren Mann schreibt: ›Die Kinderstiefel sind angekommen. Auch wenn sie blutverschmiert sind, wir können das Blut einfach abwaschen‹, ist eine ebensolche Inkarnation des Teufels wie all diese Erichs und Adolfs. Die Versklavung der Völker ist zur Universalideologie der Deutschen geworden, Plünderung und Ausbeutung zu ihrer Leidenschaft, Mord zu ihrem Beruf, Schändung und Grausamkeit zur Quelle ihres Vergnügens. Die unstillbare Gier nach Überlegenheit, Blut und Gewalt hat den deutschen Bankier und den deutschen Schullehrer befallen, genauso wie den Ladenaufseher und den Gestapo-Mann, Familienmütter und Frau Klink […] Und deutsche Soldaten können nicht länger in Arbeiter, Bauern und Intelligenzija unterteilt werden: Sie alle sind Räuber und Bestien, die Tod, Armut und Sklaverei über die Völker der Welt bringen. Wir können und dürfen nicht annehmen, dass die Deutschen unter neuen und veränderten Umständen anders sein könnten. Im Moment wollen wir statt lebender Deutscher ihre Leichen sehen. Je mehr deutsche Leichen es gibt, desto weniger menschliche Leichen wird es geben. Und je mehr deutsch-faschistisches Blut vergossen wird, desto weniger menschliches Blut wird vergossen werden […] Nichts ist menschlicher und moralischer als einen Hass und eine Verachtung gegen die deutsch-faschistischen Schurken in sich und anderen zu schüren. Mit diesem heiligen Gefühl wird der moralische Mut unserer Armee und unseres Volkes wachsen.« (Grigor’ev 1942: 35)
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Dieses schlicht anti-deutsche Material bedarf keines zusätzlichen Kommentars. Bezeichnenderweise wird auf die Rhetorik des Klassenkampfs und des Internationalismus nicht einfach nur verzichtet, sie wird explizit verworfen. Im März 1943 verfasste Il’ja Ėrenburg einen Artikel mit der symptomatischen Überschrift »Mit seinem Blut« (»Ego krov’ju«). Darin gibt er einige Auszüge aus einem Brief des gefallenen deutschen Unteroffiziers Karl Peters wieder, in denen der Krieg geschildert und darüber berichtet wird, wie Peters Dörfer niederbrannte und Russen mordete. Ėrenburg schreibt: »Ich wiederhole die Worte, die in den schrecklichsten Tagen des letzten Sommers gesprochen wurden: Töte! Töte Karl Peters. Töte den Deutschen. Er darf nicht am Leben bleiben. Die Erde will keine Verbrecher beherbergen. Töte den Deutschen, damit er keine weiteren hundert Dörfer niederbrennt. Töte den Deutschen, um Tausende Unschuldige zu retten […] Töte den Deutschen für alles, was er getan hat und für alles, was er tun will. Töte den Deutschen, wenn dein Sohn getötet wurde. Töte den Deutschen, wenn dein Sohn am Leben ist: Der Deutsche wird versuchen, ihn zu töten. Wenn Karl Peters deinen Sohn nicht getötet hat, denk daran: Karl Peters wird einen Sohn haben und dieser Sohn wird ein Grenadier, ein Brandstifter und ein Mörder werden. Lass uns sicher gehen, dass Karl Peters keinen Sohn bekommt […] Jeder, der die Menschheit wirklich liebt, alle wahren Humanisten, alle von Grund auf friedliebenden Menschen werden dir sagen: ›Geh dorthin, in das Nest des Räubers, in das Land der Kannibalen, zu Karl Peters’ Haus!‹ Dort wirst du Vergeltung finden. Dort wird die Gerechtigkeit ihr Urteil einschreiben: mit Eisen, Feuer und Blut. Töte Karl Peters noch heute […] Töte ihn: Dein Gewissen verlangt es. Er darf nicht entkommen. Es gibt mehr als einen Weg, Rosen zu züchten und Kinder groß zu ziehen, doch mit was wirst du dein Gewissen besänftigen? Nur mit einem: seinem Blut.« (Ėrenburg 1944: 149-150)
In der sowjetischen Kultur der Kriegszeit begegneten sich die politische Führung, die Massen und die Kunst von Angesicht zu Angesicht in dieser vermenschlichten »Blöße«, frei von jeglicher ideologischen Schminke. Und genau das ist der Moment, in dem die Kluft, die die Kunst vor Kriegsausbruch vom Regime und von den Massen trennte, überwunden wurde. Die Umstände des Krieges zwangen Kunst und Literatur, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, kurzzeitig von den geheiligten Konventionen des sozialistischen Realismus abzurücken. Unter den Eindrücken der Kriegszeit begannen das Regime und die Massen mit einer neuen, menschlichen Stimme zu sprechen (und laut zu rufen). Plötzlich war Kunst, wenn auch nicht für lange, mehr als nur ein Ritual. Die grausame und bedrohliche Realität des Krieges war mit Wucht über sie herein-
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gebrochen. Es war ein Triumph der Entfremdung: Es gelang dieser Realität, den Kanon des sozialistischen Realismus zu etwas »Merkwürdigem« und »Fremdem« zu machen. Es war nicht die Kunst, die das Leben »fremd« machte, im Gegenteil, das Leben machte die Kunst »fremd«. Diese Entfremdung glich einer Eruption, sie kam schlagartig und unerwartet. Für kurze Zeit drang das Leben in seiner brutalsten Erscheinungsform durch den Nebel des Stalinismus. Mit Kriegsende (bzw. bereits kurz davor) kehrte der Stalinismus zwar zu den ästhetischen Vorgaben der 1930er Jahre zurück, die unter Ždanov sogar noch verschärft wurden. Die Erfahrung des Krieges aber blieb für immer ein Teil der sowjetischen Kultur, woran auch die im Spätstalinismus eingeschlagene Linie der Ersetzung des Krieges durch den Sieg nichts änderte. Sie wurde zu einer ständigen Erinnerung daran, dass sich hinter der ästhetisierten Fassade des Stalinismus eine Wirklichkeit befand, die diese Fassade zumindest einmal kraft ihres Grauens durchbrochen hatte. Zehn Jahre später, in der Post-Stalin-Ära, sollte eine »neue Wahrheit über den Krieg« in Literatur, Film und Malerei darangehen, diese Bresche zu nutzen. Sie sollte konsequent von den Bildern der Gewalt, der Viktimisierung und des Leids Gebrauch machen, die wir aus der Kultur der Kriegszeit kennen. Eben diese existenzielle Erfahrung sollte zum Kern nicht nur des spätsowjetischen Gedächtnisses, sondern auch des postsowjetischen Geschichtsbewusstseins werden. Für letzteres ist die Bezugnahme auf den Krieg und den Sieg substanziell. Man brauchte diese Erfahrung wieder, als die heroische Sowjet-Ära ihr Ende in der bitteren Erkenntnis einer historischen Niederlage fand, als die vom Zusammenbruch des Imperiums traumatisierte nationale Psyche einer neuen Identität bedurfte. Diese neue Identität fußt auf einer hybriden Verschmelzung von Größe und Selbstaufopferung, Heldentum und Leid; ein Alltag, der von Gewalt durchdrungen ist, benötigt moralische Rechtfertigung und Historisierung. Das trifft umso mehr zu, als der Sieg das einzige eindeutig positive Ereignis in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts blieb. Die Größe dieses Sieges ist der Fels, auf dem die Staatsideologie des heutigen Russland baut. Die sowjetische Kunst der Kriegszeit, die eine Kunst des Grauens war, liegt dem postsowjetischen Grauen der Kunst zugrunde. Betrachtet man also den politischen Diskurs der letzten zehn Jahre in Russland, untersucht man die postsowjetische Kunst und Literatur und wirft man einen Blick auf das zeitgenössische russische Kino, erkennt man, dass die »Kunst des Hasses« so ziemlich der einzige Aspekt der politischen und ästhetischen Praxis des Stalinismus ist, der auch heute noch relevant ist. Übersetzung aus dem Englischen: Paul Löwenstein
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L ITERATUR Ėrenburg, Il’ja (1943a): »V boevom porjadke«, in: Znamja 5-6, S. 235. — (1943b): »Dolg Pisatelja«, in: Novyj mir 9, S. 114. — (1944): »Ego krov’ju«, in: ders. Vojna (aprel’ 1943 – mart 1944), Moskau. Grigor’ev, O. (1942): »O roli moral’nogo faktora v bor’be za razgrom vraga«, in: Propagandist 13-14, S. 35. Kornejčuk, Aleksandr (1941): »Groznaja rasplata neminuema« in: My ne prostim! Slovo nenavisti k gitlerovskim ubijcam. Moskau, S. 14. »Nenavist’ k vragu voplotim v konkretnye boevye dela!« (Leitartikel) (1942), in: Bol’ševik 15, S. 1-5. O partijnoj i sovetskoj pečati: Sbornik dokumentov (1954), Moskau. Ščerbakov, Aleksandr (1942): »O nekotorych zadačach propagandistskoj raboty«, in: Propagandist 1, S. 17. Tolstoj, Aleksej (1950): »Litso gitlerovskoj armii« in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Band 14, Moskau. »Usilit’ partijno-političeskuju rabotu« (Leitartikel) (1941), in: Propagandist 17, S. 1. Vasilevskaja, Vanda (1954): Sobranie sočinenij v šesti tomach, Moskau. Wassilewska, Wanda (1945): Regenbogen über dem Dnjepr, Zürich.
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ABBILDUNGEN
Abb. 1: Zoja Kosmodem’janskaja, Pressefoto PRAVDA
Abb. 2: Kukryniksy „Die Heldentat der Zoja Kosmodem’janskaja“ (1942)
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Abb. 3, 4: Plakate, die zur Rache getöteter Kinder und erniedrigter Frauen aufrufen
Abb.5: Plakat „Rotarmist, rette uns“
Abb. 6: Plakat „Schlag ihn tot“
Abb. 7: Kukryniksy „Zeugnis vor Gericht“
II. (Osteuropäische) Bildformeln des Holocaust in der Spannung zwischen Dokument und Monument
Ihr Schrei wurde zum Schrei der Welt Dmitrij Bal’termanc’ Leid und die Universalisierung des Holocaust durch ästhetische Mittel1 D AVID S HNEER Krieg ist vor allem Leid. DMITRIJ BAL’TERMANC2
Anfang 2013 erhielt ich eine E-Mail von einer Fotoarchivarin des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), kurz nachdem sie in der National Gallery of Art eine Ausstellung mit dem Titel »Faking It: Manipulated Photography before Photoshop« gesehen hatte. In der eindrucksvollen Schau waren eine Reihe sowjetischer Kriegsfotografien vertreten, von denen manche Parallelen zu Bildern aus den USHMM-Fotoarchiven aufwiesen, was sie, völlig zu Recht, zur Sorge um die eigenen sowjetischen Fotografien des USHMM veranlasste. Das USHMM nimmt seine Rolle als Forschungszentrum sehr ernst und behauptet seine Stellung als eines der besten Holocaust-Fotoarchive der Welt, weil die Archivare alles dafür tun, um dem Wer, Was, Wo und Wann ihrer Foto-
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Ich danke Nadya Bair, David Ciarlo, Judith Cohen, Susanne Frank und Carol Zemel für die Durchsicht der Entwürfe zu diesem Aufsatz und ihre Anmerkungen sowie Prof. Dr. Frank für die Einladung zur Teilnahme an der Vortragsreihe »Wie Bilder Geschichte machen – Schauplatz Osteuropa« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Für die Unterstützung meiner Arbeit danke ich zudem der University of Colorado, dem Louis P. Singer Lehrstuhl für jüdische Geschichte, dem Center for Advanced Holocaust Study des US Holocaust Museum, dem Social Science Research Council und dem National Council for East European and Eurasian Research.
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Dmitrijj Bal’termanc zitiert nach Cape 1978.
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grafien auf den Grund zu gehen. Deshalb vertrauen Wissenschaftler dem dokumentarischen Wert der Fotografien aus dieser Sammlung. Mit anderen Worten setzen die Archivare und die das Archiv nutzenden Wissenschaftler die Indexikalität dieser Fotografien voraus. Manipulation würde die gesamte Grundlage dessen, wofür das USHMM steht, untergraben. Eines der Bilder aus dieser Sammlung, eine der ersten weit verbreiteten Holocaust-Befreiungsfotografien, wurde im Januar 1942 von dem sowjetischen Fotografen Dmitrij Bal’termanc aufgenommen. Sie zählt auch zu den am häufigsten ausgestellten Fotografien, die im Zweiten Weltkrieg gemacht wurden und die Schrecken des Krieges visualisieren. Neben vergleichbaren, die Gräueltaten der Nazis dokumentierenden Bildern Bal’termanc’, war sie während des Krieges häufig in den sowjetischen Medien erschienen, um danach fast 20 Jahre lang nicht veröffentlicht zu werden, bis Bal’termanc sie in den 1960er Jahren wieder herausbrachte. Nach ihrem Wiedererscheinen tauchte die Fotografie in Hochglanzbänden und auf Plakaten auf und hing an Museumswänden von Moskau bis London und zuletzt im Museum of Modern Art in New York und im ultramodernen Anneberg Space for Photography in Los Angeles. Diese Fotografie ist viel gereist. Auch ist es eine Fotografie, die in den Sammlungen einer Vielzahl von Institutionen mit ganz unterschiedlichen und in vielerlei Hinsicht diametral entgegengesetzten Zugängen zur Fotografie vertreten ist. Obwohl sie einen bedeutenden Platz in den USHMM-Archiven einnimmt, findet man Bal’termanc’ Fotografie auch im Museum of Modern Art (MoMA) in New York und im Museum of Fine Arts in Houston. (Das ist das Schöne an einem Medium ohne Original!) Außerhalb des USHMM wird Bal’termanc’ Fotografie so gut wie nie als eine Holocaust-Fotografie gekennzeichnet. Als das Bild an einem vereisten Graben in der Nähe der südrussischen Stadt Kerč’ entstand, kündete es lautstark vom Massenmord der Nazis an 7000, größtenteils jüdischen, Zivilisten. Die sowjetischen Medien veröffentlichten zahlreiche Kerč’-Fotografien Bal’termanc’ als Beleg für die Gräueltaten der Nazis an sowjetischen Bürgern, wobei die Überschriften einen über die vorwiegend jüdische Identität der Opfer weitgehend im Dunklen ließen. Doch es war nicht nur die sowjetische Politik der Kriegszeit oder selbst der Nachkriegszeit, die, weil sie sich der Debatte über den Rassenkrieg gegen die Juden verschloss, dafür verantwortlich ist, dass die Fotografie auch lange nach dem Ende der Sowjetunion keinen Eingang in das ikonografische Pantheon des Holocaust fand. Sobald die Fotografie die streng kontrollierte Medienlandschaft der Sowjetunion verlassen hatte, konnten diejenigen, die sie veröffentlichen oder ausstellen wollten, sie entsprechend ihrer eigenen politischen, und, wie ich hinzufügen möchte, ästheti-
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schen Ideologie kontextualisieren. Von ihrem ersten Erscheinen außerhalb der sowjetischen Grenzen im Jahre 1942 an verzichteten Redakteure und Kuratoren auf die Kontextualisierung der Fotografie als eine Darstellung des Massenmordes der Nazis an den sowjetischen Juden – damals wie heute. Die häufigste Erklärung dafür, warum sich in der Sowjetunion jegliche Holocaust-Debatte in Verallgemeinerungen auflöste, ist die, dass die sowjetische Politik unter Stalin – gefärbt vom Antisemitismus der Kriegszeit, der nach dem Krieg gewalttätige Formen annahm – eine gezielte Auseinandersetzung mit der jüdischen Tragödie nicht zuließ.3 Das ist soweit richtig, doch erklärt es nicht die Universalisierung, die Bal’termanc’ Fotografie während des Krieges außerhalb der Sowjetunion erfuhr. Auch lässt sich mit der sowjetischen Politik nicht erklären, warum im 21. Jahrhundert, nach intensiven Forschungen zum Holocaust in der Sowjetunion, darunter auch zum Kontext der besagten Fotografie, Bal’termanc’ 1942 in Kerč’ gemachte Fotografien weiterhin als allgemeine Reflexionen über das Trauma des Krieges ausgestellt werden. Warum? Zu der Art und Weise, wie Zeitungsredakteure und Museumskuratoren das Bild einordneten, kommt hinzu, dass sich die Ästhetik der Fotografie einer partikularen Leseweise widersetzt.4 Bal’termanc war ein brillanter Fotograf, der, obwohl er im Gegensatz zu anderen sowjetischen Fotografen wie Aleksandr Rodčenko keine künstlerische Ausbildung besaß, sich darüber im Klaren war, dass in seiner erhabenen Betrachtung etwas präsent war, was der Kunsthistoriker und Kulturkritiker Aby Warburg „Pathosformel“ nannte. Für Warburg bot die Pathosformel die Möglichkeit die Tragödie, die den menschlichen Instinkt zum dionysischen Exzess erhebt, abzubilden, wodurch der Betrachter mit den Menschen im Bild mitfühlen konnte. Die Kerč’-Fotografien der Nazi-Gräueltaten gegen die Juden, und eine Fotografie im Besonderen, wurden zu zeitlosen Bildern der Folgen des Krieges, zumindest ihre Darstellungen durch Bal’termanc. Dieses Verständnis der Bilder wurde durch ihre Unterschriften begünstigt und, als das berühmteste von ihnen in den 1960er Jahren zu einer Kunstfotografie wurde, durch ihre vielen Titel.
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Die Zahl der Veröffentlichungen, die der Frage nachgehen, warum sich die Sowjetunion weigerte, die Juden als Hauptopfergruppe des Massenvernichtungsfeldzugs der Nazis zu benennen, wächst beständig. Vgl. z.B. Berkhoff 2009 und 2012.
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Ariella Azoulay weist darauf hin, dass es bei Fotografien immer um die Interaktion zwischen Menschen – dem Fotografen, dem fotografierten Subjekt, dem Bildredakteur und dem Betrachter der Fotografie – innerhalb dessen geht, was sie den bürgerlichen Vertrag der Fotografie nennt (vgl. Azoulay 2008).
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Im Januar 1942, sieben Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, landeten für die sowjetische Presse tätige Fotografen im Gebiet Kerč, auf der Krim am Asowschen Meer, um die Befreiung einer weiteren sowjetischen Stadt im Zuge der 1941 eingeleiteten Gegenoffensive der Roten Armee zu dokumentieren. Es war die erste sowjetische Befreiungswelle – eine kurzlebige, da die Achsenmächte das Gebiet im Mai 1942 zurückeroberten. Die erste Gegenoffensive offenbarte den sowjetischen Soldaten, Fotografen und damit auch der breiten sowjetischen Öffentlichkeit zahlreiche Kriegsverbrechen. Fotografien und sogar Filmaufnahmen von den Folgen der deutschen Besatzung zeigten öffentliche Hängungen, niedergebrannte Dörfer und, in Rostov am Don, Dutzende tote Zivilisten, deren Leichen nach der einwöchigen Okkupation die Straßen der einst pulsierenden Stadt übersäten.5 Die erschütterndste Enthüllung dieser ersten Gegenoffensive wurde in Kerč’ gemacht. Die deutsche Armee hatte Kerč’ Mitte November 1941 besetzt, es jedoch nur sechs Wochen gehalten. In den ersten Besatzungswochen registrierte die Gestapo 7500 Juden, die nach dem Einzug der deutschen Streitkräfte noch in der Stadt verblieben waren und befahl diesen, sich auf dem Heuplatz (Sennaja ploščad’) einzufinden, um zwecks Zwangsarbeit umgesiedelt zu werden. Stattdessen aber wurden sie zu einem nicht weit von der Stadt bei Bagerovo gelegenen Panzergraben gebracht und dort von der Einsatzgruppe D erschossen.6 Am 31. Dezember wurde die Stadt als einer der ersten Orte mit bedeutender jüdischer Vorkriegsbevölkerung von der Nazi-Okkupation befreit und war somit auch einer der ersten Orte, an dem sowjetische Soldaten, Journalisten und Fotografen die Folgen der Nazi-Besatzung und des Feldzugs gegen das europäische Judentum in ihrem ganzen Ausmaß mit eigenen Augen zu sehen bekamen.7
5
Zur sowjetischen Berichterstattung über den Holocaust im Dokumentarfilm vgl. Hicks
6
Vgl. Shrayer 2013; zur vollständigsten Darlegung der Ereignisse in Kerč’ S. 31-58.
7
Die Städte, die vor Kerč’ befreit worden waren, lagen vorwiegend im Gebiet Moskau
2012.
(Klin und Volokolamsk) und hatten keine großen jüdischen Bevölkerungen, während Rostov für Massenexekutionen nicht lange genug besetzt war. Ein datiertes Verzeichnis der von der Roten Armee befreiten Städte findet sich auf militera.lib.ru. Zur Demografie der sowjetischen Juden vor dem Krieg vgl. Altshuler 1998.
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Abb. 1: Mark Redkin, »Schreckliche Verbrechen der Faschisten-Henker« (»Strašnye prestuplenija gitlerovskich palačej«), Ogonëk, 4. Februar 1942
Wie Maxim Shrayer dargelegt hat, veröffentlichte die Lokalzeitung Kerčenskij rabočij (Der Arbeiter von Kerč’), die ihr Erscheinen unmittelbar nach der Befreiung von Kerč’ wieder aufgenommen hatte, am 7. Januar eine Erklärung einer Gruppe jüdischer Ärzte der Stadt, die nicht zu »den 7000 brutal hingerichteten Menschen« gehörten, weil ihre Dienste benötigt worden waren und die Gestapo sie vorübergehend freigelassen hatte. Beiträge zum Massenmord an den Einwohnern von Kerč’ erschienen den Januar hindurch regelmäßig in der Zeitung (vgl. Shrayer 2013: 65f.). Am 24. Januar veröffentlichten Mark Turovskij und Izrail’ Ancelovič in der Regionalzeitung Krasnyj Krym (Die rote Krim) einen einseitigen Bild- und Textbeitrag. Zwei ihrer fünf Fotografien waren Nahaufnahmen von toten Frauen und Kindern, ohne dass der Text ausdrücklich darauf hingewiesen hätte, dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um Juden handelte. Einige Tage später, am 29. Januar, veröffentlichte Lev Iš in derselben Zeitung den Artikel »Die blutigen Gräueltaten der Faschisten in Kerč’« (»Krovavye zverstva fašistov v Kerči«), der viel detaillierter über die jüngste Geschichte der Nazi-Besatzung, die zum Massenmord an den Juden in Kerč’ geführt hatte,
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berichtete.8 Da diese Beiträge jedoch in der regionalen Presse erschienen, hielt sich ihr Einfluss auf die breite Öffentlichkeit in Grenzen. Mark Redkin arbeitete für die Telegrafenagentur der Sowjetunion (TASS), die sowjetische Nachrichtenagentur. Seine Fotos erschienen zum ersten Mal am 20. Januar in der Komsomol’skaja Pravda (Die Wahrheit der Komsomolzen) und dann noch einmal am 4. Februar 1942 im Ogonëk (Kleines Feuer), der auflagenstärksten illustrierten Zeitschrift der Sowjetunion.9 Die Unterschrift zu den Bildern verrät, wie Redkin und die Redakteure vom Ogonëk die Fotografien in ein sich herausbildendes Narrativ des Krieges fügten: »Hitler hat seinen Banditen befohlen, die friedliche sowjetische Bevölkerung auszulöschen. Wo auch immer die Deutschen auftauchten, ermordeten sie Tausende Frauen und Kinder. Die Leichen der Ermordeten wurden in eine Grube geworfen (siehe Fotografie oben). Unter den Ermordeten waren viele Frauen und Kinder (siehe Fotografie unten). Die Hitlerschurken hatten mit niemandem Mitleid.« Die Autoren verwischten das Profil der Täter. In einem Satz sind es Anhänger Hitlers, in einem anderen Deutsche. Und mit keinem Wort ist erwähnt, dass die meisten ihrer Opfer aufgrund ihrer Ethnie ermordet wurden.10 Der Fotograf Evgenij Chaldej, der nach seinem Einsatz bei der Nordflotte in den Süden abkommandiert worden war, gehörte ebenfalls zu den ersten, die den Massenmord der Nazis in Kerč’ bezeugten. »Der Graben hatte eine Länge von zwei Kilometern« heißt es zu Beginn eines Abschnitts in seinem Tagebuch über die Entdeckung des Grabens. Von den Opfern spricht Chaldej, das Wort »Jude« vermeidend, als den »7000 Frauen, Kindern und Alten«. Chaldej befragte Stadtbewohner und suchte den Graben auf, um Zeugen zu treffen, die von der sechswöchigen Besatzung der Stadt durch die Deutschen und dem Massenmord an den sowjetischen Zivilisten berichten konnten.11 Wie sich Chaldejs Tagebucheinträgen entnehmen lässt, wusste er, dass es sich um jüdische Leichen handelte
8
Turovskij/Ancelovič 1942; Iš 1942 zitiert nach Shrayer 2013: 59ff. Ich bin Maxim Shrayer dankbar, der die Berichterstattung über Kerč’ ausführlich erforscht und diese Artikel in Krasnyj Krym sowie andere Artikel in Komsomol’skaja Pravda gefunden hat.
9
Redkin 1942a zitiert nach Shrayer 2013: 69; Redkin 1942b. Die Originalfotografie befindet sich im Yad Vashem Archiv, Fotografie 4331_16.
10 Redkin 1942b; biografische Angaben zu Mark Redkin finden sich auf www.sem40.ru, einer Internetseite, die Artikel über berühmte russisch-jüdische Persönlichkeiten des kulturellen Lebens in Auftrag gibt. 11 Chaldej 1942, vgl. ebenso die Auszüge aus Chaldejs Tagebuch in deutscher Übersetzung (Chaldej 2011: 77).
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und dass sich die Gräueltaten der Nazis vor allem gegen Juden richteten. Doch weder in seinem Tagebuch noch in der Einordung der Bilder durch die Presse wird dies beim Namen genannt. Dmitrij Bal’termanc, ein junger, ebenso für die TASS tätiger Fotograf, hatte bereits Gräueltaten in befreiten Dörfern nahe Moskau, die im Dezember 1941 verübt worden waren, fotografiert, bevor er in den Süden beordert wurde, um die Ereignisse am Schwarzen Meer festzuhalten. Seine Maschine landete auf einem Flugplatz am Rande der Stadt nicht weit vom Bagerovo-Graben. Der Fotograf sah alte Frauen und Familien, die auf der Suche nach etwas weinend umherliefen. Dann sah er zwischen den Wehklagenden Dutzende Leichen, die die dunkle, vereiste Winterlandschaft bedeckten. »Waren es [die Leichen von] Rotarmisten oder von Kriegsgefangenen?« fragte er sich. »Der Kleidung der Leichen nach zu urteilen, handelte es sich um Zivilisten, die auf dieses Feld gebracht und in Massen erschossen worden waren.« Viele Jahre später erinnerte sich sein Kollege Lev Borodulin: »Heute wissen wir genau, wessen Leichen das waren, aber in jenem fernen Januar 1942 konnte man nur raten: Waren es Rotarmisten oder Gefangene, wie kamen all die Verwandten hierher, falls es Kommunisten waren, wie kommt es, dass es so viele waren und falls es Komsomolzen waren, wie kommt es, dass da so viele kleine Kinder waren?« (Borodulin).
Abb. 2: Dmitrij Bal’termanc und Israil’ Ozerskij, »Die Gräueltaten der Faschisten in Kerč’« (»Zlodejanija gitlerovcev v Kerči«), Ogonëk, 2. März 1942
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Einen Monat nach Erscheinen von Redkins Fotos setzte der Ogonëk seine Berichterstattung über Kerč’ mit einem zweiseitigen Beitrag mit Fotografien von Bal’termanc und Israil’ Ozerskij sowie einem Artikel von Ancelovič fort. Der einleitende Abschnitt zu den Bildern lautete: »Diese Fotografien wurden aufgenommen, nachdem die deutschen Besatzer [diese Menschen] an diesen Ort hinausgefahren hatten. 7500 Einwohner einer einzigen Stadt, vom Hochbetagten bis zum Säugling, wurden erschossen. Sie wurden kaltblütig und vorsätzlich ermordet. Sie wurden wahllos ermordet – Russen und Tataren, Ukrainer und Juden. Die Hitlerbande hat in vielen anderen Städten, Dörfern und auf dem Land wahllos sowjetische Bürger getötet …« Die Unterschriften zu den Kerč’Fotografien hoben alle hervor, dass die deutschen Besatzer im Zuge eines ungeheuren Kriegsverbrechens Zivilisten getötet hatten, verschleierten aber gemeinhin die Tatsache, dass sich die Nazi-Verfolgung der Juden von der anderer Ethnien kategorisch unterschied. Aus Chaldejs Tagebuch wissen wir, dass er sich darüber im Klaren war, das zu bezeugen, was wir heute den Holocaust nennen. Und auch Bal’termanc behauptete rückblickend, begriffen zu haben, dass die deutschen Besatzer die Einwohner von Kerč’ nicht, wie die Unterschrift zu seinen Fotografien verlautbarte, »wahllos« getötet hatten. In einem Interview von 1980, in dem er ausführte, wie seine Kerč’-Fotografien entstanden waren, sagte Bal’termanc: »Im Herbst 1941 fuhren die Deutschen 7000 Einwohner – Partisanen, Kommunisten und Juden – zum Graben. Sie fuhren ganze Familien hin – Frauen, Alte, Kinder. Sie fuhren sie alle zu einem Panzergraben und erschossen sie.« Der für die Bildunterschrift verantwortliche Ogonëk-Redakteur in Moskau deutete die Rolle der Juden nur an. Auch Ancelovičs Artikel an der Seite von Bal’termanc’ Fotografien spielt lediglich darauf an, dass die Nazis nicht wahllos getötet hatten, wenn er sagt, dass den Befehlen aus Berlin zufolge »sowjetische Bürger einer bestimmten Nationalität« zuerst erschossen werden sollten. Manche Leser, darunter Juden, mögen verstanden haben, von welcher Nationalität der Autor sprach, anderen ist die Anspielung wohl entgangen.12 Zum Zeitpunkt des Geschehens wurden in den sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften nur wenige Kerč’-Fotografien Bal’termanc’ veröffentlicht. Und diejenigen, die im Umlauf waren, ließen einen nicht unbedingt an einen Massenmord an jüdischen Männern, Frauen und Kindern jeglichen Alters denken.
12 Gitelman 2005; Zur Entstehungsgeschichte der Kerč’-Fotografien Dmitrij Bal’termanc’ vgl. »Interview with Dmitriji Baltermants« 1991: 153, 175f.; ebenso Borodulin. Ergänzend zum Bal’termanc-Archiv führte ich zwei Interviews mit seiner Tochter Tat’jana.
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Zwar gab Bal’termanc in Interviews an, dass in Kerč’ auch Frauen und Kinder ermordet wurden, auf seinen Fotografien jedoch sind hauptsächlich Frauen zu sehen, die tote Männer beweinen. Knapp außerhalb seiner Einstellung lagen im selben Graben Tausende tote Frauen und Kinder. Im Fokus der visuell prägnantesten Fotografie seines zweiseitigen FotoEssays im Ogonëk, die sich mit der Fotografie einer Leiche überschneidet, steht eine trauernde Frau. Die Unterschrift für beide Bilder lautet: »Die Einwohner von Kerč’ suchen nach ihren Angehörigen. Im Bild: V.S. Tereščenko gräbt unter den Leichen nach ihrem Ehemann. Rechts: die Leiche des 67 Jahre alten I.Ch. Kogan.« So, wie sie im Ogonëk erschien, ist die Fotografie abstrakt genug, um die Schrecken dessen, womit wir konfrontiert sind, zu vernebeln. Zudem erinnerte die Anwesenheit der sowjetischen Soldaten am rechten Bildrand den Leser daran, dass der sowjetische Staat vor Ort war, beobachtete, vielleicht half und möglicherweise sogar eine Ordnung des dramatischen Chaos schuf. Indem der Bildredakteur die beiden Fotografien nebeneinander setzte, ermunterte er den Ogonëk-Leser zur Annahme, Tereščenko habe ihren toten Mann I.Ch. Kogan in dem Haufen männlicher Leichen gefunden. Doch sie ist nicht allein; hinter ihr ist eine Gruppe von Frauen in Kopftüchern auf der Suche nach ihren toten Ehemännern. Das Bild suggeriert, dass Tereščenkos Leid von den vielen anderen Frauen an der Stätte des Massenmordes geteilt wird. (Die Tatsache, dass die von Tereščenko scheinbar gefundene Leiche einen jüdisch klingenden Nachnamen hat, deutet, wenn auch sehr subtil, auf eine größere Geschichte von toten Juden und lebenden Ukrainern und Russen hin.) Selbst ein flüchtiger Blick auf Bal’termanc’ 1942 veröffentlichte Kerč’Bilder, von denen in seinem Archiv ganz abgesehen, genügt, um zu erkennen, dass die Gräuelfotografien ikonographisch Bezug auf eine lange Reihe von Kriegsbildern nehmen, die die Folgen der Schlacht dokumentieren. Bal’termanc arbeitet mit einer Bildsprache im Sinne von Warburgs Theorie der Pathosformel. Warburg entwarf das Konzept der Pathosformel in den 1900er Jahren, doch es war sein Biograf Ernst Gombrich, der als erster eine systematische Erklärung dessen vorlegte, was Warburg mit dem meinte, was er als »die Urworte der leidenschaftlichen Gebärdensprache«, die in den Bildern der Mänaden, den rasenden Begleiterinnen der griechischen Figur des Dionysos, wurzeln, zusammenfasste. 13 Mit ihren zurückgeworfenen Köpfen und erhobenen Armen sind die
13 Zu Gombrichs Beitrag zur Begriffsbildung der Pathosformel vgl. Spivey 2001: 118; Sütterlin 2009.
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Mänaden Sinnbilder der rasenden, orgiastischen Hingabe.14 In der Renaissance und nachfolgenden Epochen, von Peter Paul Rubens’ Die Konsequenzen des Krieges bis Francisco Goyas Die Schrecken des Krieges, verwendeten Maler und später auch Fotografen das Bild einer vor Leid wahnsinnig gewordenen Frau mit ausgebreiteten Armen als ein Mittel, um Emotion so darzustellen, dass der Betrachter sie wahrnehmen, erkennen und aufnehmen konnte. Die Literaturkritikerin Elisabeth Bronfen prägte den Begriff von den »Pathosformeln der Schlacht«, die »das visuelle Erleben der Schlacht so ordnen, dass mehrere Blickwinkel einbezogen werden … [und] die Illusion aufrecht erhalten wird, dass der Betrachter die Kontrolle über das Spektakel hat, anstatt durch das Ausmaß des gezeigten Gemetzels überwältigt zu werden.« (Bronfen 2012: 113ff.) Geht man davon aus, dass alle Fotografen ein Inventar an ikonographischen Mustern, an Bildformeln nutzen, um den Krieg darzustellen, setzten viele der Kerč’-Fotografen wie Turovskij, Ancelovič und Redkin auf christologische Motive einer leidenden, oder in manchen Fällen toten, Mutter mit Kind.15 Nicht so Bal’termanc. Betrachtet man Bal’termanc’ Foto-Essay im Ogonëk vor dem Hintergrund der Pathosformel, erkennt man, dass sich der Bildredakteur für drei visuell herausstechende Bilder entschieden hat, die sich jeweils auf eine einzelne trauernde Frau konzentrieren. Jede von ihnen hat ihre Arme ausgebreitet oder
14 Boxer 2001; Nigel Spivey stellt die Ursprünge der Pathosformel wie folgt dar: »Auf Vasen des frühen 5. Jahrhunderts v. Chr. entwarfen Maler eine bestimmte Form der weiblichen Gestalt, die auf eine in Ausübung des Dionysoskults der Raserei verfallene Frau verwies: der Kopf zurückgeworfen, die Haare offen, die Lippen auseinander, die Arme in die Hüften gestemmt, mit wallenden, von den Schultern gleitenden Gewändern« (2001: 118f.). Später im Text analysiert er mit der Laokoon-Gruppe ein anderes Werk der klassischen griechischen Bildhauerei – von der Warburg behauptet, sie hätte eine ganze Reihe von Renaissance-Künstlern beeinflusst –, um die visuellen Merkmale der Pathosformel zu benennen: »der Kopf; zur Seite geneigt oder zurückgeworfen oder beides. Dann die Arme: Da die Statue nach ihrer Entdeckung erst wieder zusammengesetzt werden musste, reichte der rechte Arm zunächst höher, als man heute annimmt, dass er es ursprünglich getan hatte; in jedem Fall aber ist ein Arm erhoben, wodurch der Thorax eine dynamische Achse erhält, die im anderen, nach unten zeigenden Arm fortgesetzt wird. Dann der Torso selbst, der verdreht und verkrampft ist, mit Seiten- und Bauchmuskeln überzogen. Schließlich die Beine; das eine gestreckt, das andere mit angezogenem Knie« (2001: 121f.). 15 Zu der Inanspruchnahme christologischer Formeln durch Holocaust-Fotografen vgl. Zemel 2003: 204-216. Zur Pathosformel der „Toten Mutter mit Kind“ vgl. den Beitrag von Susi K. Frank im vorliegenden Band.
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erhoben. Bal’termanc und sein Redakteur verstanden die Kraft der Pathosformel und wählten Bilder gerade der weiblichen Selbstvergessenheit im Augenblick der Trauer. Tereščenko dominiert die linke Seite, auf der rechten ist O.I. Afanas’eva zu sehen. Während Tereščenkos Leid von den vielen anderen Frauen im Hintergrund geteilt wird, ist Afanas’eva bei der Suche nach ihrer Leiche im Leichenfeld, das linke Bein vorgeschoben, die Arme ausgebreitet, alleine im Bild. Das dritte Bild vereint die kollektive Tragödie des ersten mit dem individuellen Leid des zweiten. Es zeigt P. Ivanova mit zurückgeworfenem Kopf und verdrehtem Körper. Ihre Hände sind nicht ausgebreitet, sondern zum Abwischen der Tränen nah am Gesicht, eine Geste der intimen Trauer. Ivanova, in ihrer Interaktion mit der vor ihr liegenden Leiche im Vordergrund positioniert, ist mit ihrer Trauer allein. Auch wenn im Hintergrund andere Frauen zu sehen sind, sorgt Bal’termanc’ Komposition dafür, dass es in dieser Fotografie um eine Frau im Moment der Auffindung ihres toten Ehemanns geht und um ihren schweren persönlichen Verlust. Wir stellen eine Beziehung zu ihr her, fühlen mit ihr. Wir werden nicht, wie bei der Tereščenko-Fotografie, von einer Kakofonie des Todes erdrückt oder, wie bei Afanas’eva, durch eine beinahe wüstenähnliche, leere Umgebung zurückgestoßen.16 Wie man mit der Fotografie-Theoretikerin Ariella Azoulay argumentieren könnte, greift bei der Ivanova-Fotografie, mehr als bei den anderen, das, was sie den »bürgerlichen Vertrag der Fotografie« nennt, der den Betrachter zum Mitgefühl mit der Leidenden anhält.17
Abb. 3: Evgenij Chaldej, »Einwohner von Kerč’ betrachten TASS-Fenster«, 1942 (mit freundlicher Genehmigung von Evgenij Chaldej und der Agentur Fotosojuz)
16 Nach Susan Sontag (vgl. 2004) wird der Betrachter, der zu viel Gewalt ausgesetzt ist, von dieser überwältigt und stumpft, härtet gegen den »Schmerz der anderen« ab. 17 Vgl. Azoulay 2008, v.a. die Einleitung.
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Während des Krieges wurden Bal’termanc’ Kerč’-Fotografien auch auf anderen Wegen verbreitet. Kurz nach der Befreiung der Stadt im Januar 1942 ließen Kerčer Verwaltungsbeamte von der TASS herausgegebene und als ›TASS-Fenster‹ bekannte Plakate als anschauliche Beweise für die Taten der Nazis in der Stadt anbringen. Die Plakate sollten die Stadtbewohner informieren und schockieren und den Betrachter dazu anspornen, härter zu kämpfen, um die Wiedereinnahme der Stadt durch die deutsche Armee zu verhindern, was dieser einige Monate später dennoch gelang. Eines der Plakate zeigte eine Montage aus 20 Bal’termanc-Bildern, die an der Hinrichtungsstätte am Stadtrand entstanden waren. »7000 Ermordete und sie verschonten weder Alte, noch Frauen und Kinder« ließ die Schlagzeile eine traumatisierte Stadt wissen. 18 Im optischen Zentrum dieses plakatierten Foto-Essays stand Bal’termanc’ Fotografie von Afanas’eva, die Arme ausgebreitet in einer Geste des unbändigen Leids.
Abb. 4: »Eine Mutter sucht ihren Sohn«, Picture Post, 20. Juni 1942
Bal’termanc’ Kerč’-Fotografien wurden über Nachrichtenkanäle um die Welt geschickt – an solche Einrichtungen wie das ›Büro für Kriegsinformation‹, die Kriegspropaganda-Abteilung der US-Regierung, und an Nachrichtenagenturen. Über externe Kanäle gelangte die britische Illustrierte Picture Post an einige sowjetische Fotografien, die von den Deutschen befreite Gebiete dokumentierten
18 Rossijskij gosudarstvennyj archiv kino-fotodokumentov (RGAKFD), oborona Kerča 0-276238. TASS-Fenster war eine äußerst erfolgreiche Propaganda-Kampagne mit Postern, auf denen der Feind dämonisiert wurde. TASS-Fenster gab einige der bekanntesten Figuren im Bereich der Illustration, Karikatur und Zeichnung in Auftrag.
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und veröffentlichte diese am 20. Juni 1942 in einem großen Foto-Essay.19 Die Überschrift der Titelseite lautet: »Deutsche Verbrechen in Russland«, derweil der Untertitel auf etwas Furchtbares hindeutet: »Was die vorrückenden Russen fanden.« Zu sehen sind fünf Bilder von drei befreiten Orten. Die erste Fotografie zeigt ein Massaker bei einer Kirche in Vereja (in der Picture Post fälschlicherweise als Verejma bezeichnet), während auf den letzten beiden acht Komsomolzen, die auf dem Stadtplatz von Volokolamsk gehenkt wurden, zu sehen sind. Beide Orte liegen im Gebiet Moskau. Das visuelle Drama der Massengewalt erreicht in der Mitte des Essays seinen Höhepunkt. Beim Umblättern der ersten Seite wurde der Picture Post-Leser mit niemand anderem als Afanas’eva konfrontiert, die den Foto-Essay im Ogonëk dominiert hatte. Darunter war Bal’termanc’ Fotografie der trauernden Familie Kjamilov, die ebenfalls im Ogonëk, gleich unter Afanas’eva, erschienen war. Da der begleitende Artikel nicht auf die Geschichte hinter diesen beiden Fotografien einging, verfassten die Redakteure der Picture Post für Afanas’evas Bild eine gesonderte Unterschrift: »Die Deutschen kamen in das Dorf, plünderten es und brachten einige der Männer fort. Beim Angriff der Roten Armee traten die Deutschen den Rückzug an, doch die Leichen der Dorfmänner ließen sie zurück. Nun kommen die Dorffrauen, um nach ihren Ehemännern und Söhnen zu suchen. Eine von ihnen, S. Afanas’eva, weint um einen jungen Mann, der erst 18 Jahre alt war. Sie sucht die Reihen der Toten ab – wenn sie seine Leiche doch nur finden könnte.« (»What the Advancing Russians Found« 1942) Die Tatsache, dass es sich bei diesen Opfern, 7000 an der Zahl, um größtenteils jüdische Einwohner nicht des Dorfes, sondern der Stadt Kerč’ handelte, ganz zu schweigen davon, dass der Vorname der Frau nicht mit »S« begann, zumindest nicht gemäß seiner Ersterwähnung im Ogonëk (in dem von O.I. Afanas’eva die Rede ist), zeigt, dass Redakteure diese Bilder der Nazi-Gräueltaten an die jeweiligen Zielsetzungen der Presseveröffentlichung anpassten und, im weiter gefassten Kontext, zur Stützung des nationalen Kriegsnarrativs des jeweiligen Landes benutzten. Das in den Fotografien eingefangene geschichtliche Ereignis entschwand in die Bedeutungslosigkeit. Die Angabe des Ursprungsorts der Fotografien mit »Russland« und nicht Sowjetunion zeigt zudem, wie die Zeitschrift davon ablenkte, dass Englands Verbündeter kommunistisch war, eine für die britische Öffentlichkeit unbequeme Wahrheit.20
19 »What the Advancing Russians Found« 1942. Für die Kopien der Picture Post danke ich Michael Berkowitz. 20 Zur öffentlichen Meinung v.a. über die Sowjetunion in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs, vgl. Bell 1990.
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Vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet wählte die Picture Post für ihren Foto-Essay die wirkmächtigste Pathosformel. Während der Ogonëk die geografische Lage der Stadt und den historischen Hintergrund zum Geschehenen lieferte, war die Picture Post an einem ikonischen Bild interessiert, das die gesetzlose, skrupellose Kriegsführung von Englands Kriegsgegner dokumentierte. Mit der Veröffentlichung in der Picture Post wurde Afanas’eva – deren Vorname nun mit »S« begann, was zur bevorzugten Weise wurde, sich auf sie zu beziehen – offiziell aus der historischen Verankerung gerissen, die sie, V.S. Tereščenko und P. Ivanova mit der Geschichte des beim Bagerovo-Graben verübten Massenmords der Nazis an den Juden verbunden hatte. Fotografien von Nazi-Gräueltaten erschienen den gesamten Krieg hindurch, jedoch nahm ihre Häufigkeit nach dem sowjetischen Sieg bei Stalingrad im Februar 1943 ab und diejenigen, die weiterhin veröffentlicht wurden, fielen tendenziell in zwei Kategorien – Bilder, die in den sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen, die 1943 begonnen hatten, verwendet wurden und Fotografien, die bei der Befreiung der Todeslager, insbesondere der von Majdanek im Sommer 1944, entstanden waren.21 Bis zum 9. Mai 1945, dem Tag, an dem der Krieg für die Sowjetunion offiziell endete, wurden die Nazi-Gräueltaten kaum diskutiert, da die einstigen »Faschisten-Henker« und »bestialischen Deutschen« zum »besetzten deutschen Volk« wurden, das mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik schließlich rehabilitiert wurde. Nach dem Krieg und den Nürnberger Prozessen stellte die sowjetische Presse die Berichterstattung über den Krieg im Allgemeinen und die Gräueltaten der Nazis im Besonderen bald ein. Während des Hochstalinismus in den späten 1940er und den frühen 1950er Jahren zog die Erinnerung an den Krieg aus der öffentlichen Sphäre ins Private. Die Fakten eines Krieges, der zwischen 25 und 30 Millionen sowjetische Bürger das Leben gekostet hatte, warfen ein schlechtes Licht auf die sowjetische Führung der Kriegsjahre und die hohen Verluste belasteten als eine bleibende Narbe den Wiederaufbau. 1947 stufte Stalin den 9. Mai, den Tag des Sieges, von einem staatlichen Feiertag zu einem regulären Arbeitstag herab. Bis Anfang der 1960er Jahre wurden nur sehr wenige Kriegsfotografien wiederveröffentlicht und der Tag des Sieges wurde erst 1965, als Leonid Brežnev die Erinnerung an den Krieg offiziell ins Zentrum der sowjetischen Identität rückte, wieder als Feiertag eingeführt (vgl. Tumarkin 1995: 98ff.). Den sowjetischen Kriegsfotografen waren nach dem Krieg die unterschiedlichsten Schicksale beschieden. Zumal viele Fotografen Juden waren, verloren
21 The People’s Verdict 1943; Eine Besprechung der Majdanek-Fotografien findet sich bei Shneer 2010: Kap. 5; 2013.
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etliche von ihnen während der Anti-Kosmopoliten-Kampagne 1948-1949, die den Versuch darstellte, die sowjetische Intelligenzija von ihren vielen Juden zu säubern, ihre Arbeit (vgl. Kostyrčenko 2003; 2005). Von denen, die ihre Arbeit behielten, verloren viele den Zugang zu wichtigen Persönlichkeiten oder aktuellen Themen. Zugangsverlust bedeutete Prestigeverlust. Für Bal’termanc ging es nach dem Krieg jedoch in eine ganz andere Richtung, vor allem nachdem ihn der Chefredakteuer des Ogonëk Aleksej Surkov als festen Fotografen eingestellt hatte. Nach Stalins Tod 1953 avancierte Bal’termanc unter dem neuen sowjetischen Staatschef Nikita Chruščëv zwischen Mitte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre zum wohl wichtigsten Fotografen der Sowjetunion. Er bereiste, oft mit Chruščëv persönlich, die kommunistische Welt und brachte den fotografischen Sozrealismus an Orte wie Vietnam, Indien und Birma, um anschließend durch seine fesselnden Foto-Essays über ebendiese Orte im Ogonëk die sozialistische imperiale Vorstellung von der kommunistischen Welt in der Sowjetunion zu formen.22 Bal’termanc’ Aufstieg als Fotograf ging mit der sowjetischen Monumentalisierung der Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg genannt wird, einher. In den 1960er Jahren wurden praktisch überall im Land Kriegsdenkmäler errichtet, was mit der Fertigstellung der gigantischen Statue »Mutter-Heimat ruft« in Volgograd (dem ehemaligen Stalingrad) im Jahre 1967, der zum damaligen Zeitpunkt größten freistehenden Statue der Welt, seinen Höhepunkt erreichte (vgl. Antill 2007). Als Teil dieser Anstrengungen erlebten die 1960er Jahre die Wiederauferstehung vieler Kriegsfotografien, die 20 Jahre lang weder breit veröffentlicht, geschweige denn ausgestellt worden waren. Die Wiederbelebung der Glorie des Krieges, vor allem der Schlacht um Stalingrad, sollte den Großen Vaterländischen Krieg vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zum nationalen Mythos erheben und zur Quelle des überbordenden Stolzes machen (vgl. Weiner 2002). Natürlich verlangte die Erinnerung an den Krieg die Schaffung eines heroischen Narrativs des sowjetischen Sieges. Sie benötigte aber auch die andere Sei-
22 Bal’termanc war einer der meistpublizierten Fotografen des Ogonëk. Im Sonderauftrag der Zeitschrift begleitete er Chruščëv als Fotograf rund um die kommunistische Welt und seine Fotografien von Vietnam, Indien und Birma erschienen im Ogonëk die gesamten 1950er Jahre hindurch. Siehe z.B. »Missija družby« (1955) anlässlich Chruščëvs Staatsbesuch in Birma und Indien oder »Vietnam 1955« (1955). Beide Beiträge enthalten Schwarzweiß-Fotografien von Bal’termanc. Gegen Ende der 1950er erschienen ähnliche Reisefotografien von ihm in Farbe. Siehe z.B. »Prebyvanie N.A. Bulganina i N.S. Chruščëva v Indii« (1958: 8).
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te des Krieges – die Gräueltaten der Nazis, die ihre Kriegsführung qualitativ von allem bis dahin Gewesenen absetzten. In den 1960er Jahren und darüber hinaus waren Bilder von »faschistischen Gräueltaten« sowohl im In- als auch im Ausland weit verbreitet, da die Sowjetunion bestrebt war, sich zum globalen Wortführer in Sachen Weltfrieden aufzuschwingen, eine Rolle, die sie seit Kriegsende einzunehmen bemüht war (vgl. Kelly 2008). Vor diesem Hintergrund brachte Bal’termanc Fotos von Nazi-Gräueltaten heraus, die während des Krieges den Zorn der sowjetischen Bevölkerung angestachelt hatten. Im Rahmen der kulturdiplomatischen Mission der Sowjetunion traten seine Fotografien nun als Verfechter des Friedens und als ein Beitrag zur Schaffung einer nationalen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg wieder in Erscheinung. Wenig überraschend kehrte Bal’termanc zu den Kerč’-Fotografien zurück, namentlich zu den Bildern von Afanas’eva, Tereščenko und Ivanova, den Sinnbildern der Tragödie des Krieges, konzentrierte sich aber letztendlich nicht auf Afanas’eva, sondern auf Ivanova. Ausgehend vom Foto-Essay, den die Bildredakteure im Krieg veröffentlicht hatten, mag diese Entscheidung überraschen. Damals, im Ogonëk, hatten die Redakteure das Bild beschnitten und Ivanova, deren Arme nicht in einem dramatischen Schrei gen Himmel ausgebreitet sind, nicht im optischen Zentrum des Essays, sondern am rechten Seitenrand platziert. Ihr Leid war ein persönliches. Jedoch verschoss Bal’termanc in Kerč’ zwei Filmrollen und das Foto von Ivanova, das 1942 im Ogonëk erschienen war, war nicht die einzige Version von ihr.
Abb. 5: Dmitrij Bal’termanc, »P.I. Ivanova hat ihren Ehemann gefunden, der von den Faschisten-Henkern gefoltert wurde«, Januar 1942, vier aus den Vorlagen für Bal’termanc’ unveröffentlichte Serie »So war es« (»Tak ėto bylo«) gescannte Versionen (mit freundlicher Genehmigung von Michael Mattis)
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Als Bal’termanc zu seinem Archiv zurückkehrte, um das Bild zu finden, das als eine Signatur der sowjetischen Kriegs- und Friedensdiplomatie am besten geeignet wäre, fand er vier Aufnahmen von Ivanova. Im Gegensatz zur Kriegszeit hatte Bal’termanc nun mehr Entscheidungsgewalt über die Erscheinungsform seiner Arbeit, auch wenn er sich jetzt, da seine Nachrichtenbilder zu Kunstfotografien wurden, anstatt mit Redakteuren mit Kuratoren und Essayisten auseinandersetzen musste, um über die endgültige Präsentation seiner Fotografien auf Galeriewänden oder in Ausstellungskatalogen zu verhandeln. Von den vier Aufnahmen ist diejenige, die 1942 veröffentlicht wurde, zwar eindrucksvoll und emotional, reicht aber nicht an die Dramatik der dritten heran – Ivanovas Arme ausgebreitet, ihr Kopf gebeugt in tiefer Trauer. Das einzige Problem an Version drei, und womöglich auch der Grund dafür, warum sie 1942 nicht veröffentlicht wurde, war laut Bal’termanc der, dass sie beschädigt war. Als er seinen Film im Krieg an seine Redakteure in Moskau sandte, hatten diese das letzte Wort darüber, was und in welcher Form es erscheinen würde, ob zugeschnitten, zentral oder von Text gerahmt. Die Redakteure des Ogonëk wählten die beste der verbliebenen Aufnahmen. Bal’termanc, der den besonderen Wert des Bildes erkannt hatte und nun die Zeit hatte, aus seinem fotojournalistischen Bild eine eindrucksvolle Kunstfotografie zu machen, reparierte das Negativ. Als erstes dunkelte er den Himmel nach. In Interviews erklärte Bal’termanc: »Ich füllte den Himmel aus. Aber ich tat es nicht des ästhetischen Effekts wegen, sondern schlicht wegen der Klebeflecken« Offenbar blieb Bal’termanc der Film, als er ihn auf einem Feld nahe Kerč’ entwickelte, an einem Stück Kontaktpapier kleben. Beim Abtrennen musste er feststellen, dass auf einem Bild Flecken zurückgeblieben waren, natürlich dem, das ihm am besten gefiel und das zu seiner berühmtesten Fotografie werden sollte. Die originalen Kerč’-Fotografien hatten einen flächig grauen Himmel, nicht den schwermütigen, getrübten Himmel der 1960er-Version (»Interview with Dmitrii Baltermants« 1991: 153). Auch wenn Bal’termanc behauptet, die Fotografie nur überarbeitet zu haben, weil sie beschädigt war, manipulierten er und alle anderen sowjetischen Fotografen häufig ihre Aufnahmen, wenn sie aus einem Nachrichtenbild eine Kunstfotografie machten, oft indem sie dramatischen Rauch hinzufügten. Als Bal’termanc das beschädigte Kerč’-Negativ zwecks Ausstellung und Veröffentlichung herrichtete, ging er sicher, die ihm bestmögliche Version von Leid hervorzubringen, eine, die der neuen Funktion der Aufnahme als einer Kunstfotografie, die zur universellen Kontemplation über Verlust anhielt, besser gerecht wurde. Bal’termanc’ im Krieg veröffentlichtes Bild von Ivanona wurde auf wundersame Weise
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in die Fotografie verwandelt, die Bal’termanc’ Karriere noch lange nach seinem Tod 1990 definieren sollte. Die endgültige Version spiegelt eine lange Reihe klassischer Schlachtfeldfotografien wider, die bis zu Matthew Brandys überwältigenden und schrecklichen Bürgerkriegsbildern aus den 1860er Jahren zurückreicht (Wilkes Tucker/Michels 2012). Das einzige Problem dabei, Ivanova vor der Folie der Schlachtfeldfotografie Brandys zu lesen, liegt darin, dass sie sich nicht auf einem Schlachtfeld befindet. Es hatte keine Schlacht gegeben. Doch wie schon die Redakteure der Picture Post 1942 betteten auch in den 1960er und späteren Jahren die Betrachter das Bild in die lang etablierte Pathosformel der Schlacht, insbesondere in die der um tote Männer trauernden Frauen. Ihre Zirkulation verdeutlicht, wie die Ästhetik der Fotografie und die Politik hinter ihrer Zirkulation Ivanova von der Geschichte des Rassenkriegs der Nazis gegen Juden und andere Volksgruppen, die sie ursprünglich verkörpert hatte, löste. Anlässlich von Bal’termanc’ 50stem Geburtstag 1962 sollte für ihn eine Einzelschau in Moskau organisiert werden, eine in der Sowjetunion übliche Praxis. Auch wenn ich keine Beweise für eine erfolgreiche Durchführung dieser Pläne finden konnte, fertigte Bal’termanc einen Entwurf zum Ausstellungskatalog an, in dem die neue Version von Ivanova vertreten ist. In seinen Anmerkungen zum Katalog gibt Bal’termanc der Fotografie einen Namen – Leid (Gore). 23 1963 veröffentlichte die tschechische Illustrierte Praha-Moskva Bal’termanc’ überarbeitete Version von Ivanova in einem Essay zu einer Ausstellung sowjetischer Kriegsfotografie in Prag. Darin erschien die Kerč’-Fotografie ohne Bildunterschrift, dafür aber mit einem Titel – dem einfachen, eindringlichen Wort »Hoře« oder »Leid« (Baltermanc 1963). Bal’termanc’ Ogonëk-Kollegen Lev Borodulin zufolge erhielt die Fotografie ihren evokativen Namen Anfang der 1960er vom italienischen Fotografen Caio Garrubba, der die Geschichte in Interviews bestätigt. Garrubba sah die Fotografie zum ersten Mal, als er in Moskau auf der Suche nach Material für eine Ausstellung mit dem Titel »What is a Human Being?« – in Anlehnung an Edward Steichens Ausstellung »The Family of Man« von 1955 im Museum of Modern Art – war. Er stieß auf Bal’termanc’ Kerč’-Bilder, sah dieses eine und wusste, dass es wichtig war.24 Auch wenn manche behaupten,
23 Den Katalogentwurf fand ich im Teresa and Paul Harbaugh Archive, Denver Colorado. Ein Verweis auf die Ausstellung, zu der ich keine Informationen finden kann, findet sich bei Seko 1986. 24 Vom mysteriösen Treffen zwischen Garrubba und Bal’termanc berichten viele Quellen (vgl. u.a. Burt 2012). Die unmittelbarste der von mir gefundenen Quellen, die Gar-
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Garrubba sei derjenige gewesen, der die Kraft des Bildes erkannte, erkannte er in Wirklichkeit nur, was Bal’termanc 1942 gesehen hatte – dass die Dramatik des Bildes ihm das Potential gab, zu einer Ikone des Krieges zu werden. Genauso bemerkenswert wie die kryptische Garrubba-Geschichte ist die Tatsache, dass auf dem Höhepunkt der Tauwetterperiode Anfang der 1960er Jahre viele Narrative über die Nazi-Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg und insbesondere die Geschehnisse in Kerč’ wieder in den Blickpunkt rückten, darunter auch Sel’vinskijs ikonisches und breit veröffentlichtes Gedicht über Kerč’ »Ich habe es gesehen«.25 Wie Maxim Shrayer hervorhebt, war das Wort »Leid« (»gore«) eine zentrale Trope für Sel’vinskij, der mit Worten eine literarische Pathosformel schuf, in der Bal’termanc’ trauernde Frauen widerhallten. Ebenso wahrscheinlich ist, dass Bal’termanc, der Sel’vinskij kannte, seine Fotografie im literarischen Kontext von Sel’vinskijs ikonischen Kerč’-Gedichten, die sich mit dem einzigen Wort »Leid« umschreiben ließen, situierte.26 Bal’termanc’ Leid wurde zu einem der Signaturbilder der sowjetischen Fotografie der 1960er Jahre und darüber hinaus. Nach der Prager Veröffentlichung widmete sich der ›Verband der sowjetischen Gesellschaften für Freundschaft‹ (SSOD), der 1958 als Nachfolger der ›Allunions-Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland‹ (VOKS) gegründet worden war, der Organisation einer Einzelschau für Bal’termanc, der zu diesem Zeitpunkt der stellvertretende Leiter der Fotografieabteilung des SSOD war, in Großbritannien. Die Schau, die den Titel »People and Events in the USSR« trug und rückblickend immer als Bal’termanc’ erste Einzelausstellung gelistet wird, sollte das britische Publikum über das Alltagsleben in der Sowjetunion informieren, denn dies war eines der Hauptziele der Kulturdiplomatie des SSOD (vgl. Gilburd 2013). Allerdings befand sich unter den Aufnahmen von spielenden Kindern, Männern beim Angeln
rubba mit der Namensgebung in Verbindung bringt, ist ein Interview mit eben diesem (»Sin’or Mario snimaet Nevskij«). 25 Zur Tauwetter-Periode vgl. Kozlov/Gilburd 2013. 26 In der ersten Strophe seines kanonischen Gedichts »Ich habe es gesehen« verwendet Sel’vinskij das Wort »Leid« gleich zweimal. Um seine bezeugenden Kerč’-Gedichte der Kriegsjahre, ebenso wie um Bal’termanc’ Fotografien, wurde es 20 Jahre lang sehr still, ehe sie Anfang der 1960er mit Wucht wieder in Erscheinung traten. Anfang der 1960er schrieb Sel’vinskij auch neue Gedichte, die »Leid« aufgriffen, woraus man schließen könnte, dass es bei der Formung der Erinnerung an die Nazi-Gräueltaten bei Kerč’ möglicherweise einen Dialog zwischen Text und Bild, zwischen Sel’vinskij und Bal’termanc gab. Zu Sel’vinskijs Verwendung von »Leid« vgl. Shrayer (2013: 93, 223).
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und Frauen beim Einkaufen auch Bal’termanc’ Kerč’-Fotografie. Der Journalist und Schriftsteller Konstantin Simonov steuerte zum Ausstellungskatalog einen Aufsatz zu der Fotografie bei, die ihm am besten gefiel. Er wählte das Bild von Ivanova, das er, gemäß der englischen Übersetzung seines Artikels, zunächst »Kerčenskij-Graben« (»Kerchenskii Trench«) nannte. Im Herstellungsverlauf des Katalogs änderte sich der Name leicht, aber doch entscheidend. Die Endfassung von Simonovs Aufsatz enthält eine Reproduktion der Ivanova-Fotografie mit dem Titel »Der Graben von Kerč’ (Leid)«, womit Simonov die historische Spezifität des Schauplatzes mit dem eindringlichen Namen, der Emotionen wecken soll, zusammenführte. Doch während die Erwähnung von »Kerč’« beim sowjetischen Publikum auf großen Widerhall stieß, da es in Sel’vinskijs Lyrik und in das breitere sowjetische Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges eingebunden war, das »Kerč’« als eine Metonymie für die faschistischen Gräueltaten einschloss, hatte das britische, und im Grunde genommen jedes westliche Publikum, wohl keine Ahnung, was »Kerč’« ist: ein Ort? Der Name einer Person? Ein Euphemismus für die Toten im Graben? Immerhin lässt Simonov den Katalogleser wissen, dass Kerč’ ein Ort ist, an dem Gräueltaten verübt worden waren. Doch der Betrachter des an der Wand hängenden Bildes konnte kaum erahnen, was »Der Graben von Kerč’« bedeutet. Schließlich weicht der Titel, unter dem sich das Katalogverzeichnis der Ausstellungsfotografien auf das Bild bezieht, von dem in Simonovs Aufsatz und dem im handschriftlichen Bildverzeichnis ab, da die englischen Redakteure die Fotografie in Verkehrung der Reihenfolge »Trauer (der Graben von Kerč’)« nannten, womit sie auch die ursprüngliche englische Übersetzung des Wortes »gore« mit »Leid« fallen ließen. Die Ausstellung lief für einen kurzen Zeitraum von zehn Tagen vom 22. Juni bis 4. Juli 1964 im Ceylon Tea Centre im Herzen Londons. Am 23. Juni fand ein offizieller Eröffnungsempfang statt, bei dem unter anderem auch Bal’termanc eine Rede hielt, der zur Feier des gegenseitigen sowjetisch-britischen Verständnisses für eine dreiwöchentliche Tour nach England gekommen war. Ein Besucher des modernistischen Galerieraums, in dem die Schau veranstaltet wurde, mag sich darüber gewundert haben, dass eine Ausstellung mit dem Titel »People and Events in the USSR«, die Bal’termanc’ aktueller Fotografie des sowjetischen Alltags gewidmet war, nicht mit Alltagsfotografien und noch nicht einmal mit Fotografien aus den 1960ern eröffnete, sondern mit Bal’termanc’ Signaturbildern aus dem Zweiten Weltkrieg.27 Die dritte Fotografie in der Schau war die
27 Umfangreiche Aufzeichnungen zu Bal’termanc’ Ausstellung »People and Events in the USSR« finden sich in der Sammlung der UdSSR-Großbritannien-Gesellschaft in den Archiven der Leeds Universität (MS 1499/23/6 und 7).
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von P. Ivanova, deren Name, was kaum überrascht, nirgends zu finden war. Tatsächlich löste sich mit ihrer Präsentation in London das fotografische Ereignis – Bal’termanc’ Festhalten der verzweifelten Suche P. Ivanovas nach ihrem Ehemann in einem Leichenfeld nach einer Massenerschießung der Nazis von Juden und anderen – auf.
Abb. 6: Dmitrij Bal’termanc, »Wir werden nie vergessen« (»My nikogda ne zabudem«), Januar 1965, Nr. 1
Im Januar 1965 veröffentlichte Bal’termanc’ eigene Zeitschrift einen doppelseitigen Druck der überarbeiteten Ivanova mit dem Titel »Wir werden nie vergessen« (»Nikogda ne zabudem« 1965). Nach über 20 Jahren diente die Veröffentlichung von Ivanovas Leid im Ogonëk nun einem anderen Zweck. Als Nachrichtenbeitrag hatte die Fotografie die Nazi-Gräueltaten gegen sowjetische Bürger zum Gegenstand, von denen die meisten, auch wenn das nicht herausgestellt wurde, Juden waren. Sie sollte ganz konkrete Kriegsverbrechen des Feindes bezeugen und dokumentieren. Zwanzig Jahre später stellte diese Kunstfotografie, eine andere Version von P. Ivanova, Leid ganz anders dar. Es ging nicht mehr um konkrete deutsche Kriegsverbrechen, sondern darum, das Unheil des Krieges generell in einer dramatischen Pathosformel zu versinnbildlichen. Innerhalb der Sowjetunion stützte die Fotografie eine neue nationale Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, weltweit wurde sie zu einer fotografischen, ihres historischen Kontextes entledigten Ikone des Krieges. Wohl von Bal’termanc selbst dazu ermuntert fügte der Bildredakteur der Fotografie einen Kommentar des künftigen Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll bei. Böll hatte das Bild 1964
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in der Hamburger Foto-Ausstellung »Weltausstellung der Photographie zu dem Thema: Was ist der Mensch?« (möglicherweise die Schau, an der Garrubba arbeitete, als er nach Moskau kam) gesehen, auf der Bal’termanc’ bald berühmte Kerč’-Fotografie vertreten und deren Katalog mit einem Vorwort von Böll versehen war.28 Der Ogonëk zitierte Bölls Beschreibung der Fotografie: »[…] Frauen, die auf dem Schlachtfeld nach ihren Toten suchen; wo Weinen mehr als privat, das Weinen der Menschheit ist.« (Böll/Pawek 1964) Besser hätte er die Pathosformel der Schachtfotografie nicht in Worte fassen können. Infolge von Bal’termanc’ Erfolgen in London und Hamburg und angesichts seiner Position als stellvertretender Leiter der Fotografieabteilung des SSOD ernannte ihn 1965 der damalige Chefredakteur des Ogonëk Anatolij Sofronov zum Fotografiedirektor der Zeitschrift, ein Posten, den er bis zu seinem Tod im Jahre 1990 innehatte.29 Noch im selben Jahr ließ Bal’termanc, der sein internationales Ansehen, vor allem im Westen, pflegte, seine Arbeit in eine Gruppenausstellung der Gallery of Modern Art in New York mit dem Titel »12 Photographers: An International Exhibition of Contemporary Photography« integrieren. Bal’termanc stellte drei seiner wichtigsten Fotografien, darunter Leid, aus. Die Kritiker zeigten sich von der Schau als solcher generell enttäuscht, die Resonanz auf Bal’termanc’ Arbeit bildete jedoch eine Ausnahme. »Dimitri Baltermans [sic] aus Russland« versetzte dem Kritiker Alfred Gescheidt den »Schock, eine großartige Fotografie zu sehen. Sie trug den Titel ›Die Toten heraussuchen. Kerč’Front. 1943.‹« (Freilich erfasste Gescheidt weder das Datum, noch den historischen Kontext, noch Bal’termanc’ Namen richtig.) (Gescheidt 1965: 2,28) Der Fotokritiker der New York Times Jacob Deschin schrieb mit gar noch mehr Begeisterung über Bal’termanc’ Kerč’-Fotografie: »Besonders ein Bild – eine Szene nach der Schlacht, in der Trauernde das Feld nach ihren Toten absuchen – könnte möglicherweise eine der großen Kriegslandschaften der Geschichte werden.« (Deschin 1965). Als Leid als eine Ausstellungsfotografie in Erscheinung trat, 20 Jahre nachdem andere Fassungen von Ivanova in der sowjetischen Presse veröffentlicht worden waren, wurde Bal’termanc’ Aufnahme der Nazi-Gräueltaten unterschiedlich mit »Leid« (dem von ihm gewählten Titel) oder »Trauer«, »Kerč’Graben«, »Graben von Kerč’«, »Die Toten heraussuchen« oder, wie in einem
28 Vgl. Böll/Pawek 1964. Zu einer Kritik der Schau vgl. Meyer-Veden 1964. Vgl. ebenso Seko 1986. 29 Zu Bal’termanc’ Ernennung zum Fotografiedirektor des Ogonëk vgl. http://club. foto.ru/classics/life/36/, zuletzt aufgerufen am 18.06.2013.
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Nachruf auf ihn in der Times of London 1990, »Auf der Suche nach den Toten« betitelt. Nirgends und zu keinem Zeitpunkt wurde erwähnt, wer die Toten auf dem Bild sind oder warum sie tot sind. Und, wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, bezeichneten alle, von der Picture Post während des Krieges bis zur New York Times, diese frühe Holocaust-Fotografie als eine Szene der Tragödie nach der Schlacht. Nach seinen Ausstellungen 1964 in London und 1965 in New York nahm Bal’termanc’ internationale Präsenz weiter zu und mit ihr die Bedeutung von Leid als einem ikonischen Kommentar zum Krieg. Die Fotografie erlangte einen so hohen Bekanntheitsgrad, dass sie in einer Ende der 1970er Jahre in Die Zeit erschienenen Rezension zu einem Band sowjetischer Kriegsfotografien als »weltbekannt[…]« bezeichnet wurde (»Abgrund des Krieges« 1979).
Abb. 7: »Leid«, Edward Steichen Gallery, The Museum of Modern Art, 2011
(aufgenommen von David Shneer)
2011 stellte das MoMA Leid in den Edward Steichen Photography Galleries, der Galerie für wechselnde Ausstellungen von Fotografien aus der ständigen Sammlung, aus. Die Kuratoren ließen Leid in einen Dialog mit anderen ikonischen Fotografien des Zweiten Weltkriegs treten: Das Bild des jüdischen Fotografen und amerikanischen Einwanderers Weegee »Thomas E. Dewey und Fotografen« von 1942 hing rechts davon (Wallis 2013). Links waren vier Fotografien des U.S. Signal Corps: »Die Kapitulationszeremonie an Deck der USS Missouri, Bucht von Tokio, Japan« vom 2. September 1945; »ohne Titel« vom 9. September 1944; »ohne Titel« vom 14. April 1945 und »ohne Titel« vom 16. April 1945. Die beiden Fotografien, die in beklemmender Nachbarschaft zu Leid hingen, stehen im direkten Zusammenhang mit dem Holocaust. Der Kunsthistorikerin Nadya Bair zufolge hat Weegees Foto den Nazismus und Antisemitismus in den Vereinigten Staaten während des Krieges zum Gegenstand. Auf dem Bild links, das am 16. April 1945 in Buchenwald aufgenommen wurde und zu den berühmtesten Holocaust-Fotografien überhaupt zählt, ist niemand anderes als Elie
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Wiesel zu sehen, den Claude Lanzmann als moralische Instanz des HolocaustGedenkens bezeichnet hat. Das MoMA tat richtig daran, es mit »Ohne Titel« zu betiteln, sofern seine Kuratoren den Museumsbesucher darauf hinweisen wollten, dass es sich bei diesen unbetitelten Fotografien um anonyme Aufnahmen durch Fotografen der Fernmeldeeinheit handelt. Gleichzeitig deuteten die Kuratoren, indem sie die Bilder nebeneinander platzierten, nur an, dass ihnen die Geschichte des Holocaust gemein ist. Gesagt wurde das nirgends, da dies erläuternde Texte oder Vitrinen mit
Abb. 8: ›Leid‹, CU Art Museum, 2011 (mit freundlicher Genehmigung des CU Art Museum)
Kontextinformationen erfordert hätte, was der erhabenen Kunst-Aura des MoMA geschadet hätte.30
30 Im selben Jahr kuratierten Lisa Tamiris Becker, die Direktorin des University of New Mexico Art Museum, und ich eine Ausstellung im University of Colorado Art Museum (CUAM) mit dem Titel »Through Soviet Jewish Eyes«, in der auch das omnipräsente Leid zu sehen war. In unserer Schau versuchten wir etwas zu tun, was das MoMA nicht getan hatte – den Status der Fotografie als eine Kunstfotografie zu bewahren und sie gleichzeitig in ihren historischen fotojournalistischen Kontext zu setzen. Wir hängten die Fotografie gemeinsam mit einigen anderen Bildern aus Bal’termanc’ Kerc’-Serie an eine Wand, sicherten Leid dabei aber eine herausragende Stellung, indem wir es größer drucken ließen als die anderen. Zusätzlich stellten wir in der Nähe des ikonischen Bildes eine Vitrine mit einigen Kontrolldrucken der Kerc’Serie und einigen Veröffentlichungen, die den Werdegang des Bildes verdeutlichten, auf. Der Text teilte mit, dass Bal’termanc eigentlich ein Fotojournalist war, der seine Bilder für Druckmedien, nicht für Museumswände anfertigte, und dass die Frau, die
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Offensichtlich schrecken Kuratoren immer noch davor zurück, die universelle Wirkung von Leid auf den Betrachter durch das Wort »Holocaust« zu beeinträchtigen. In der großen Ausstellung »War/Photography«, die 2012 im Museum of Fine Arts in Houston kuratiert wurde, tauchte die Fotografie erneut auf (Wilkes Tucker/Michels 2012: 416). Katalog und Ausstellung verorteten die Fotografie in einer Sektion zu zivilen Massakern und kontextualisierten sie mit Hilfe eines Zitats zur Geschichte des Bildes aus meinem Buch Through Soviet Jewish Eyes (Shneer 2010: Kap. 4, 7). Die Kuratorin und Verfasserin des Textes Anne Wilkes Tucker spricht von einem »zivilen Massaker«, distanziert sich aber vom historischen Kontext des Bildes, indem sie den Rassenkrieg der Nazis in meinen, nicht ihren Worten zur Sprache bringt. Es ist eine der wenigen Stellen in der Ausstellung und im Katalog, an der die Kuratoren eine Fotografie mittels eines Zitats aus einer sekundären Quelle erläutern. Scheinbar sperren sich Bal’termanc’ Aufnahmen, egal wie deutlich Forschungen zeigen, dass es sich bei den Kerč’-Fotografien in Wirklichkeit um frühe Holocaust-Bilder handelt, gegen diesen narrativen Rahmen. Bal’termanc fotografierte wehklagende Frauen bei ihrer Suche in einem Feld von männlichen Leichen, obwohl knapp außerhalb seiner Einstellung auch tote Frauen und Kinder lagen. Genauso wichtig wie seine Motivwahl ist aber die Tatsache, dass ihm die Macht der Pathosformel, die es dem Betrachter ermöglicht, mit den leidenden Frauen mitzufühlen und ihn gleichzeitig vom Schrecken der Geschichte hinter dem Bild abschirmt, bewusst war. Was also soll das Archiv des United States Holocaust Memorial Museum mit einer solchen Fotografie machen? Auf der einen Seite wäre es gerade aufgrund von Bal’termanc’ Verhältnis zu Leid und dessen Motiv ein Leichtes, es als ein Holocaust-Dokument zurückzuweisen. Doch »auch wenn Warburg die Schutzfunktion der ›Pathosformel‹ betont«, so die Kunsthistorikerin Adi Efal, »kann sie dennoch, zumindest nach der Definition eher konservativer Interpreten, als Beweis, als Zeugnis des primären traumatischen Aufeinandertreffens dienen.« (Efal 2000: 224f.) Mit anderen Worten beeinträchtigt diesen Kommentatoren zufolge die bloße Tatsache, dass Fotografien nach visuellen Formeln aufgebaut sein könnten, nicht ipso facto ihr Vermögen, als Beweis für ein Ereignisses zu dienen. Doch ungeachtet der Überzeugung der konservativen Interpreten der Pathosformel, dass diese die ontologischen Skeptiker der Fotografie zufriedenstellen kann, besteht zwischen Beweis und Zeugnis ein großer Unterschied. Wäh-
den Schrei der Menschheit repräsentierte, in Wirklichkeit P. Ivanova war, die ihren, wahrscheinlich jüdischen, Ehemann gefunden hat, der bei Bagerovo von den Einsatzgruppen erschossen worden war.
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rend beide vor Gericht zur strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen herangezogen werden können, dient der Beweis dazu, ein Verbrechen zu beweisen, das Zeugnis dazu, eine Geschichte zu erzählen. Tatsächlich wurden Bal’termanc’ Kerč’-Bilder und die anderer Fotografen in Kriegsverbrecherprozessen, vor allem in den Nürnberger Prozessen 1945-46, verwendet und dienten generell als Beweise für die deutschen Verbrechen. Dann, in den 1960er Jahren, schuf Bal’termanc Leid, das zu einer der am häufigsten ausgestellten Fotografien wurde, die das bezeugen, was wir heute den Holocaust nennen. Da das Interesse des MoMA der Kunst gilt, kann es die ikonische Fotografie mit all ihrem Pathos mit Stolz in seiner Sammlung führen und ausstellen. Das USHMM aber benötigt (und besitzt tatsächlich) über Leid hinaus weitere Kerč’-Fotografien von Bal’termanc’, um zu belegen, dass die Frau im Bild in Wirklichkeit um Tausende Juden trauert, die im Holocaust ermordet wurden.31 Die Zurückführung ikonischer Fotografien in ihren ursprünglichen Nachrichtenkontext zeigt, wie Narrative sich entfalten und, was noch wichtiger ist, wie Politik und Ideologie, von den sowjetischen staatlichen Einrichtungen bis hin zum Museum of Modern Art, unser Verständnis von einer Fotografie bestimmen. Als die Fotografen in Kerč’ eintrafen, waren sie vom Staat dazu bevollmächtigt, ein nationales Narrativ zu schaffen. Sie schossen ihre Bilder als Nachrichtenfotografien, deren Interpretation direkt vom Kontext, in dem sie erschienen, vorgegeben wurde. Die sowjetische Presse war als ihr Arbeitgeber die erste Institution, die ein öffentliches Narrativ und einen Interpretationsrahmen zur Einordnung der Nazi-Gräueltaten schuf. Zusammen mit der internationalen Presse setzte sie noch während des Krieges den Prozess der Universalisierung des Holocaust in Gang. Doch genauso mächtig wie jeder politische oder ideologische Kontext, in dem die Fotografie erschien, genauso wichtig wie die Bildunterschrift oder die Überschrift, die als ihr Metatext diente, sind die Bilder selbst. Vom Moment ihrer Entstehung im Jahre 1942 an hatten Bal’termanc’ Kerč’-Fotografien die universelle Form der Schlachtfeldfotografien und in den 1960ern wurde eine von ihnen zu einer der berühmtesten Ikonen des Krieges. In dem Augenblick, in dem Bal’termanc im Januar 1942 den Auslöser drückte, hörte P. Ivanovas Schrei auf, ihr eigener zu sein und wurde zum Schrei der Menschheit. Übersetzung aus dem Englischen: Paul Löwenstein 31 Ich danke der leitenden Bildarchivarin des USHMM Judith Cohen für die Bereitstellung zahlreicher Kerč’-Bilder aus ihren Archiven und dafür, sich mit mir über Fragen der Indexikalität, des Wahrheitgehalts und des Zwecks von Fotografie ausgetauscht zu haben.
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Il’ja Sel’vinskij: Poetik und Politik der Shoah-Zeugenschaft Eine Rekonstruktion* M AXIM D. S HRAYER
1. Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges meldete sich Il’ja Sel’vinskij (1899-1968), der berühmte jüdisch-sowjetische Dichter, der in den 1920er Jahren den Konstruktivismus begründet hatte, freiwillig an die Front und wurde als »Schriftsteller« für die Zeitung Syn otečestva (Sohn des Vaterlandes) der Selbstständigen 51. Armee verpflichtet, die für die Verteidigung seiner Heimat – der Krim – zuständig war. (Im Februar 1942 versetzte man Sel’vinskij in die Redaktion der Zeitung Boevoj natisk (Kampfsturm) des kurz zuvor formierten Armeeverbands Krimfront. Für diese war er von 1942 bis 1943 tätig, später für die Zeitungen der Politabteilung der Nordkaukasischen Front und der Selbstständigen
*
In meinem kürzlich erschienenen Buch I SAW IT: Ilya Selvinsky and the Legacy of Bearing Witness to the Shoah (Shrayer 2013) werden die historischen Umstände, unter denen Sel’vinskij zum ersten landesweit bekannten literarischen Zeugen der Shoah auf den besetzten Gebieten der Sowjetunion wurde, ausführlich behandelt. Ich danke Tatjana Sel’vinskaja für die freundliche Genehmigung, Il’ja Sel’vinskijs Texte zitieren zu dürfen. Ebenso danke ich L.I. Dajneko, I.A. Dobrovol’skaja, V.M. Salamatina und allen Mitarbeitern des Sel’vinskij-Museums (Simferopol’), V.F. Sanžarovec (Kerčer Geschichts- und Kulturreservat), B.G. Berlin (Vereinigung jüdischer Gemeinden, Simferopol’) für die Unterstützung bei den Recherchen und David Shrayer-Petrov für die wertvollen Anmerkungen zum Manuskript.
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Küstenarmee). Die Wände der Redaktion, auch wenn sie zum Armeegebäude gehörten, waren Sel’vinskij zu eng. Der Dichter lechzte nach kriegerischem, nicht nur nach literarischem Ruhm. Er kämpfte auf der Krim, im Nordkaukasus und an der russischen Schwarzmeerküste. Er beteiligte sich an Offensiven, erhielt zwei Orden, wurde von der Militärverwaltung in die Politableitung versetzt und in den militärischen Rang eines Oberstleutnants befördert.
Abb. 1: Il’ja Sel'vinskij (vierter von rechts; Angabe durch Sel’vinskij) mit den Truppen von Generalmajor Vasilij Kniga (erster von rechts), Kommandeur der 72. Kubankosaken-Kavellarie-Division. Krim, ca. März 1942. (Sammlung von Maxim D. Shrayer)
Zwischen 1941 und 1943 verfasste Sel’vinskij eine Reihe von Gedichten und Liedtexten, die sich in den Kriegsjahren landesweiter Beliebtheit erfreuten (Das »Kosakische Scherzlied« – mit Sel’vinskijs Text und der Musik von Matvej Blanter – ist bis heute sehr beliebt). Ende November 1943, keine zwei Wochen nach der Befreiung Kiews, wurde Sel’vinskij, der sich zum damaligen Zeitpunkt auf der Krim, am Steinbruch von Adži-Muškaj aufhielt, nach Moskau beordert. Sel’vinskijs Kommandeure, darunter der Befehlshaber der Selbstständigen Küstenarmee General Ivan Petrov, nahmen an, dass Sel’vinskij einer weiteren Auszeichnung und damit einem noch größeren Ruhm als Dichter, Soldat und Volkstribun entgegenging. Sel’vinskij erinnerte sich später: »In der Nacht flog ich in einer U-2 aufs Festland rüber, meldete mich bei der Leitung: Da rief mich [Aleksandr] Ščerbakov [Leiter der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (PUR)]. Bis zum Morgen plauderte ich mit [dem Schriftsteller Mark] Kolosov.
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Mark ist überzeugt, dass ich als Teil einer Delegation Reisen in die USA unternehmen werde oder etwas in der Art: ›Du kämpfst vortrefflich, du schreibst hervorragend, ist doch klar, dass die Regierung das würdigen will. Was Ėrenburg in seinen Artikeln macht, machst du in deinen Gedichten.‹«. 1 Stattdessen aber musste sich Sel’vinskij vor dem Sekretariat des Zentralkomitees der kommunistischen Allunions-Partei (Bol’ševiki) (ZK VKP(b)) verantworten. Ihm wurde vorgeworfen, »schädliche« und »anti-künstlerische« Werke verfasst zu haben. Aus Sel’vinskijs Tagebucheinträgen geht hervor, dass Stalin persönlich an der Versammlung des Sekretariats teilnahm. Der Leiter der Propaganda- und Agitationsabteilung (UPA) des Zentralkomitees Georgij Aleksandrov hatte im November 1943 einen Entwurf zum Sekretariatsbeschluss »Über die Fehler in Sel’vinskijs Werk« angefertigt. Darin ist vermerkt, dass »die Gedichte ›An Russland‹, ›Wen Russland in den Schlaf sang‹ und ›Episode‹ schwere politische Fehler enthalten […] Sel’vinskij verleumdet das russische Volk […] zeichnet ein verleumderisch-verzerrtes Bild vom Krieg […] das ZK VKP(b) warnt den Genossen Sel’vinskij, dass die Wiederholung derartiger Fehler ihn außerhalb der sowjetischen Literatur stellen wird.« (Babičenko 1994: 81; vgl. Bljum 2003) Am 2. und 3. Dezember 1943 erließ das Sekretariat des Zentralkomitees zunächst gleich zwei Beschlüsse, in denen neben Sel’vinskij auch der Schriftsteller Michail Zoščenko angegriffen wurde.2 Im Beschluss vom 3. Dezember »Über mehr Verantwortung der Sekretäre literarisch-künstlerischer Zeitschriften« wird Sel’vinskijs Gedicht »Wen Russland in den Schlaf sang« als »politisch schädlich« bezeichnet. Weitaus verheerender war der mit Verzögerung erlassene Einzelbeschluss vom 10. Februar 1944 »Über I. Sel’vinskijs Gedicht ›Wen Russland in den Schlaf sang‹«, dessen Wortlaut sich stark an Aleksandrovs vorangegangenem Entwurf orientierte: »[...] schwere politische Fehler. Sel’vinskij verleumdet in diesem Gedicht das russische Volk.« (Artizov/Naumov 1999: 510) Dies war allem Anschein nach die einzige Parteiresolution der Kriegsjahre, die sich gegen das Werk eines einzelnen Dichters richtete. Es kam zu etwas bis dahin Präzedenzlosem: Oberstleutnant Sel’vinskij wurde zur Strafe aus dem Kriegsdienst
1
Sel’vinskij, Il’ja: Dnevnik ›voennych let‹ (Tagebuch der ›Kriegsjahre‹). Kopie des Originals, Sel’vinskij-Museum (Simferopol’). Im Weiteren: Sel’vinskij, Dnevnik. Das Original befindet sich im RGALI (Moskau).
2
Vgl. die Sekretariatsbeschlüsse des ZK VKP(b) vom 2.12.1943 »O kontrole nad literaturno-chudožestvennymi žurnalami« und vom 3.12.1943 »O povyšenii otvetstvennosti sekretarej literaturno-chudožestvennych žurnalov« (Artizov/Naumov 1999: 507, 508).
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entlassen. Er fand sich – was für Kriegszeiten fast schon paradox ist – im Moskauer Exil wieder. In postsowjetischer Zeit wurden in den Arbeiten von Viktorija Babenko, Vladislav Gavriljuk, Ėduard Filat’ev und anderen Wissenschaftlern einige Umstände der Hetzjagd auf Sel’vinskij herausgearbeitet (vgl. Babenko 1994: 58-60; Filat’ev 1994). Die Fachleute äußerten Vermutungen, der Dichter sei bestraft worden, weil er Stalin in seinen Kriegsgedichten und Essays nicht ausreichend rühmte oder aber weil in ›Wen Russland in den Schlaf sang‹ eine Karikatur desselben ausgemacht worden war (schließlich hatte man bereits schlechte – nicht gänzlich der Paranoia geschuldete – Erfahrungen mit Mandel’štams Gedichten über Stalin gemacht). Derartige Vermutungen und Argumentationen entbehren in meinen Augen einer soliden Grundlage. Die »Missgeburt« in Sel’vinskijs grob gearbeitetem Gedicht steht indes ganz offensichtlich nicht für den Georgier Stalin, sondern für das jüdische Volk. Sel’vinskijs Ironie zielt hier auf diejenigen ab, die die Juden zwar vor der Vernichtung bewahren, sie aber weiterhin als einen Fremdkörper innerhalb der russischen Geschichte und Kultur erachten: »Sie gleicht der russischen Natur / Die Seele meines Volkes: / Sie wärmt auch eine Missgeburt, / Sie pflegt sie wie einen Vogel, / Sie räuchert sie nicht aus, / Klammert sich an ihre eigenen Macken, – / Sie ist voll Luft und Licht, / Voll Wahrheit und voll Liebe« (»Сама, как русская природа / Душа народа моего: / Она пригреет и урода, / Как птицу выходит его, / Она не выкурит со света, / Держась за придури свои, – / В ней много воздуха и света / И много правды и любви«) (Sel’vinskij 1943c: 111).3 (Im Kontext der Shoah ist vor allem die Formulierung »Sie räuchert sie nicht aus« beachtenswert). Nach sorgfältiger Prüfung aller Anschuldigungen gegen Sel’vinskij kommt Michail Solomatin zu dem Schluss, dass »es dem ZK aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich war, sich mit dem Dichter in allen Punkten eingehend zu befassen, also suchten sie den heraus, der sie am meisten enervierte und warfen ihm diesen an den Kopf, um zu schauen, wie der Mensch reagiert.« (Solomatin 2009) Die in den Parteiresolutionen aufgelisteten Gedichte Sel’vinskijs erwiesen sich als ein willkommener Vorwand für den Zorn des Stalin’schen Apparats, waren aber keineswegs seine Ursache. Diese konnte in den offiziellen Dokumenten unmöglich genannt werden. Sel’vinskijs Schwierigkeiten hatten bereits im
3
Soweit nicht anders angegeben handelt es sich um eigene Übersetzungen. Bei den Gedichten wurde eine sinngetreue Übertragung angestrebt.
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Sommer 1943 begonnen,4 als sich im Verlauf der sechs Monate, die zwischen den Siegen bei Stalingrad und Kursk lagen, ein scharfer Kurswechsel in der offiziellen Berichterstattung über die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auf den besetzten sowjetischen Territorien (also das, was wir heute als Shoah bezeichnen) und die Heldentaten jüdisch-sowjetischer Soldaten und Offiziere abzeichnete. Sel’vinskijs Gedichte über die Massenerschießungen der Juden beim sogenannten ›Bagerovo-Panzergraben‹ waren mit der im Sommer 1943 endgültig formulierten Doktrin des Stalin’schen Regimes, die die Unterteilung der auf sowjetischem Boden getöteten »friedlichen sowjetischen Menschen« in national-ethnische Kategorien und die Hervorhebung der jüdischen Shoah-Opfer untersagte, nicht mehr zu vereinbaren. Dieser Umstand lässt sich deutlich sowohl aus dem Entwurf als auch aus dem endgültigen Beschluss des Sekretariats des ZK über Sel’vinskijs Gedichte herauslesen, insbesondere aus der Beschuldigung der »verleumderisch-verzerrten Darstellung des Krieges«. Aus meiner Sicht ist der Grund für Sel’vinskijs Schwierigkeiten nicht in den Gedichten zu suchen, die in den Parteidokumenten genannt sind, sondern in den Kriegsgedichten, in denen er Zeugnis von der Tragödie ablegt, die er mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erfahren hat, in den Gedichten, in denen er gleichzeitig als Dichter, sowjetischer Offizier und Krim-Jude auftritt. Mit dem Scherbengericht über Sel’vinskij wollte Stalins Ideologieapparat auch die anderen Schriftsteller an der Front den sich verändernden historischen und ideologischen Bedingungen gefügig machen. Sel’vinskijs Fall, der in den sowjetischen Literaturkreisen der Kriegsjahre als nichts anderes denn eine Bestrafung aufgefasst wurde, machte unmissverständlich deutlich, dass die einzig zulässige Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Juden, die sich zu dieser Zeit an der Front offenbarten, Schweigen war.5
4
Vgl. den anonymen Artikel »Nerazborčivaja redakcija« (Izvestija vom 13.07.1943: 4), der nach der Veröffentlichung von Sel’vinskijs »An Russland« in der Komsomol’skaja pravda (vom 11.07.1943) erschien.
5
Zu Sel’vinskijs Gedichten der Kriegsjahre, die direkte Verweise auf die Shoah enthalten, zählen zumindest »Dem jüdischen Volk« (1941), »Ich habe es gesehen!« (1942), »Kerč’« (1942), »Antwort an Goebbels« (1942), »Das Gericht in Krasnodar« (1943), »Krim« (»Wie der Kampf der Trommel, wie die Stimme der Kartätsche …«, 1944), »Krim« (»Es gibt Orte, denen Jahrhunderte nichts anhaben können …«, 1945), »Kandava« (1945).
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2. Wenden wir uns den faktischen und textologischen Aspekten der Gedichte Sel’vinskijs über den Genozid an den Juden der Krim und insbesondere der 6 Halbinsel Kerč’ zu. Bis November 1941 besetzten die deutschen Streitkräfte und ihre Verbündeten mit Ausnahme von Sevastopol’ die gesamte Krim. Sel’vinskij, der bereits im Herbst 1941 auf der Halbinsel Kerč’ gekämpft hatte, kehrte Anfang Januar 1942, während der Kerč’-Feodosija-Landungsoperation dorthin zurück. Im Zuge dieser ambitionierten, jedoch nicht ausreichend durchdachten Unternehmung, wurde Kerč’ bis 1. Januar 1942 befreit. Im Mai 1942 mussten sich die sowjetischen Truppen unter katastrophalen Verlusten ein zweites Mal aus Kerč’ zurückziehen. »Kerč’ ist gefallen. Die Krim liegt erneut im Ausland. Alles beginnt von vorne. Das Blut der Landungstruppen hat kein Gewicht«, notierte Sel’vinskij am 16. Mai 1942 in seinem Kriegstagebuch. (Sel’vinski, Dnevnik: 16.05.1942; vgl. Babenko 1994: 47) Der Dichter kehrte im November 1943 mit den Landungstruppen der Kerč’-Ėl’tingen-Operation in das Kerčer Gebiet zurück; endgültig befreit wurde die Stadt erst im Herbst 1944.7 Das Ziel der Einsatzgruppe D, die mit Beteiligung und Unterstützung regulärer Wehrmachtsverbände und ansässiger Kollaborateure fast alle Judenerschießungen auf der Krim durchführte, war es, diese bis Herbst 1942 »judenrein« zu machen. Auf der Krim waren neben den aschkenasischen Juden auch die turksprachigen Krimtschaken beheimatet, die der talmudischen Richtung des Judentums angehören. Die Nationalsozialisten betrachteten die Krimtschaken als Juden. Ebenso wie die aschkenasischen Juden sollten sie vollständig vernichtet werden. (Nach dem Krieg gab Sel’vinskij, zu dessen Vorfahren sowohl aschkenasische Juden als auch Krimtschaken gehörten, in der Nationalitätenspalte sei8 ner Ausweisdokumente regelmäßig an, »Krimtschake« zu sein ). Vor dem Krieg lebten mehr als 65.000 Juden auf der Krim. Während des Krieges und der Okkupation wurden insgesamt zwischen 30.000 und 40.000 von ihnen ermordet, darunter mehr als 5500 von ursprünglich 6500 Krimtschaken. Unter den Opfern befanden sich auch Juden, die vom ukrainischen Festland und aus Polen auf die Krim geflohen waren. Die umfassendste Vernichtungsaktion fand in Simfero-
6
Zum historischen Kontext der Kampfhandlungen auf der Halbinsel Kerč’ vgl. Dajneko 2000: 63-71; Babenko 1994; Filat’ev 1994.
7
Vgl. u.a. die knappe und informative Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges
8
Vgl. u.a. Sel’vinskijs Truppenausweis, ausgestellt am 15.11.1948, Sel’vinskij-
auf der Krim bei Androsov 2004. Museum.
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pol’, der Hauptstadt der Autonomen Republik Krim, statt, wo im Dezember 9 1941 zwischen 12.000 und 14.000 Juden ums Leben kamen. Die Ermordung der Juden in Kerč’ wurde im November/Dezember 1941 im Zusammenhang von Massenerschießungen in den Umgebungen und den Vororten anderer Krimstädte, darunter Simferopol’, Feodosja, Evpatorija und Jalta, sowie in ländlichen Gegenden und jüdisch besiedelten landwirtschaftlichen Gebieten der Krim durchgeführt. Der grundlegende Unterschied zu diesen liegt darin, dass Kerč’ zwischenzeitlich von den sowjetischen Truppen befreit wurde und die dort verübten Gräuletaten im Januar/Februar 1942 ausgiebig dokumentiert wurden. Auf der Halbinsel Kerč’ standen die sowjetischen Soldaten und Offiziere, Kriegsberichterstatter und Schriftsteller, Fotografen und Dokumentarfilmer, Historiker und Untersuchungsbeauftragte vor erschütternden, unumstößlichen Beweisen für die kürzlich verübten Verbrechen des Besatzungsregimes. Die Fotografien, Filmaufnahmen und Zeichnungen vom Bagerovo-Panzergraben gaben in Wort und Bild das wieder, was die Nationalsozialisten den Juden überall antaten. Es kann nicht eindeutig beantwortet werden, inwieweit die sowjetische Bevölkerung sich darüber im Klaren war, dass die Aktionen auf den besetzten Gebieten Teil eines Völkermords waren. Sel’vinskij – ein früher literarischer Zeuge der Shoah – sah seine Aufgabe jedenfalls darin, dem Leser vor Augen zu führen, was er gesehen hatte: den Graben, überhäuft mit jüdischen Leichen. Meine Aufgabe bestand darin, die Informationsschichten, die Sel’vinskij und den anderen frühen Augenzeugen zugänglich waren, möglichst genau zu rekonstruieren. Ich wollte alles in Erfahrung bringen, was Sel’vinskij bekannt war, alles, was er von den wenigen Überlebenden und Zeugen des Genozids gehört und im Januar 1942 mit eigenen Augen gesehen oder persönlich erlebt hatte. Als ich im Dezember 2011, 70 Jahre nach den Kerčer Massenerschießungen, von Boston Richtung Krim aufbrach, war mir bewusst, dass diese Rekonstruktion nicht nur deshalb schwierig werden würde, weil es so gut wie keine wissenschaftlichen Arbeiten – weder aus sowjetischer noch aus postsowjetischer Zeit – zu diesem Thema gibt, sondern auch, weil niemand mehr am Leben ist, der davon berichten könnte, wie Sel’vinskij zum Shoah-Zeugen wurde. Neben der Hoffnung, in den noch kaum erforschten Quellen der Archive und Bibliotheken vor Ort auf neue Erkenntnisse zu stoßen, verspürte ich das Verlangen, mit meinen eigenen Augen jene Stätten des Völkermords zu sehen, die auch Sel’vinskij im Januar 1942 erblickte. Ich wollte mit den Orten in Berührung kommen, die der Dichter-Zeuge
9
Vgl. u.a. Dekel-Chen 2008: 363-364; Zand 2008: 948-951; Gubenko 1991; Tjaglyj 2005: 11-12; Rubenstein/Altman 2008: 337-338; Arad 2009: 202-211; Al’tman 2002a: 287; 2002b.
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Sel’vinskij so kraftvoll beschrieben hat, um den Rekonstruktionsversuch buchstäblich von seinem Standpunkt aus zu unternehmen. Als ich fotografierte, blieb ich entweder ganz hinter dem Objektiv oder ragte mit dem Schatten meines »Ich« – eines amerikanischen Juden sowjetisch-russischer Herkunft – ins Bild und versuchte so, die Perspektive Sel’vinskijs und der anderen frühen Zeugen der Shoah auf der Krim zu rekonstruieren.
Abb. 2: Das Sel’vinskij-Museum. Simferopol’. Krim, 15.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
In der zweiten Januarwoche 1942 notierte Sel’vinskij unter frischen Eindrücken in seinem Tagebuch: »Von mir und wie ich lebte, was ich sah – später. Wichtig ist der erschütternde Eindruck, den Kerč’ nach den Deutschen macht. Ich kam dort mit den Landungstruppen der zweiten Staffel an. Die Stadt ist halb zerstört. Sei’s drum, wir bauen sie wieder auf. In der Nähe von Bagerovo aber, im Panzergraben, liegen 7000 erschossene Frauen, Kinder, Greise und andere. Ich habe sie gesehen. Jetzt habe ich nicht die Kraft, in Prosa darüber zu schreiben. Meine Nerven reagieren nicht mehr. Was mir möglich war, habe ich in Versen ausgedrückt.«10
10 Sel’vinskij, Dnevnik: Januar 1942 (der erste Eintrag ist ohne Datum, der darauffolgende ist auf den 16.01.1942 datiert); vgl. Babenko 1994: 25.
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Abb. 3: Die erste Seite aus Il’ja Sel’vinskijs Kriegstagebuch von 1942 mit seinen Eindrücken von der Besichtigung des Bagerovo-Panzergrabens. (Mit freundlicher Genehmigung des Sel’vinskij-Museums, Simferopol’)
Mir waren diese Zeilen aus den – ohne den notwendigen Kommentar veröffentlichten – Auszügen aus Sel’vinskijs Kriegstagebuch bekannt. Mitte Dezember 2011 habe ich sie, tief erschüttert, im handschriftlichen Original im Archiv des Sel’vinskij-Museums in Simferopol’ gelesen. Sel’vinskij bezieht sich hier auf die Opfer sowohl der Massenerschießung, die Anfang Dezember 1941 innerhalb weniger Tage in der Nähe von Kerč’ durchgeführt worden waren, als auch auf die Erschießungen, die die gesamte erste Okkupation hindurch am BagerovoGraben andauerten. (Die meisten in Kerč’ lebenden Krimtschaken wurden im Sommer 1942 während der zweiten Besatzungsphase ermordet). Allem Anschein nach wurden die geschätzten Opferzahlen von Kerč’ erstmals am 5. Januar 1942 in der westlichen Presse, die sich auf TASS-Korrespondenzen bezog, und in der Pravda veröffentlicht: »Vorläufigen Angaben zufolge wurden in Kerč’ bis zu 7000 Menschen von den faschistischen Verbrechern umgebracht. Viele Kinder wurden von den deutschen Fanatikern vergiftet.« 11 Diese Information gab die Pravda einen Tag vor dem Erlass und zwei Tage vor der Veröffentlichung der sogenannten Molotov-Note vom 6. Januar 1942 heraus, in der der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten auf die Verbrechen der Nationalsozialisten in Kerč’ einging und die Opferzahl von 7000 anführte. Dies war die einzige
11 »Krovavye zverstva nemcev v Kerči« (Pravda vom 5.01.1942: 3).
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Note der Sowjetregierung für die gesamte Dauer des Krieges, in der die Rede nicht nur von der Ermordung friedlicher sowjetischer Bürger war, sondern konkret von jüdischen Opfern.12 Shoah-Historiker leiten die Opferzahl von 7000 entweder aus der Anzahl der Juden ab, die sich am 29. November 1941 auf Befehl der Besatzungsmächte auf dem Heuplatz (Sennaja ploščad’) in Kerč’ versammelt hatten oder aber aus der 13 Gesamtopferzahl der im Dezember 1941 am Bagerovo-Graben Erschossenen. Andrej Angrick führte 2003 niedrigere Zahlen an und berief sich dabei auf einen deutschen Bericht vom 7. Dezember 1941, in dem von der »Umsiedlung« – ein Kodewort für Ermordung – von 2500 Kerčer Juden die Rede ist (Angrick 2003: 356-357). Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben auch von der Krim stammende Historiker die offiziellen Angaben der Kriegsjahre Korrekturen unterzogen. Einer fragwürdigen Arithmetik folgend und sich teilweise blind auf Angricks Untersuchungen verlassend, der ausschließlich deutsches Archivmaterial bemühte, korrigierten sie die Zahl der Erschießungsopfer deutlich nach unten, nämlich auf 2500 (vgl. Gurkovič 2004; Korotkova 2004). Allerdings waren bereits 1942 Angaben bekannt, die die 7000 weit übersteigen und auch sie
12 »Nota narodnogo komissara inostrannych del tov. V.M. Molotova o povsemestnych grabёžach, razorenii naselenija i čudoviščnych zverstvach germanskich vlastej na zachvačennych imi sovetskich territorijach« (Pravda vom 7.01.1942: 1-2; Izvestija vom 7.01.1942: 1-2; Krasnaja zvezda vom 7.01.1942: 1-2; Komsomol’skaja pravda vom 7.01.1942: 1-2). 13 Vgl. Arad 2009: 206-207; Al’tman 2002a: 287; In den Arbeiten von Gitel’ Gubenko (1991: 21-31), deren Eltern und Verwandte am Bagerovo-Graben starben, wurde die Shoah auf der Krim zum Gegenstand der Forschung und des Andenkens. Sich auf Materialien des Staatsarchivs der autonomen Republik Krim (GAARK) stützend veröffentlichte Gubenko Teillisten der Erschießungsopfer von Bagerovo (vgl. S. 82-88); Der Historiker Bencion Vol’fson (vgl. 1942: 33-34) gab bereits 1942 zwei unterschiedliche Zahlen an: 7000 (Gesamtopferzahl der Erschießungen am BagerovoGraben) und 5000 (Zahl der Menschen, die sich am 29. November 1941 am Heuplatz einfanden und ins städtische Gefängnis von Kerč’ gebracht wurden); siehe auch Zverstva nemeckich fašistov v Kerči: Sbornik rasskazov postradavšich i očevidcev (1943: 7) (in diesem Sammelband ist Vol’fsons Artikel in Form eines Vorworts ohne Nennung des Autors abgedruckt).
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dürfen bei der Rechnung nicht unberücksichtigt bleiben. Während meines Aufenthalts auf der Krim im Dezember 2011 spürte ich gleich, dass die Kontroverse um die Opferzahl und um die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Gräueltaten bis heute eine offene historische Wunde darstellt. Noch immer streiten sich darüber einheimische Revisionshistoriker und Aktivisten ansässiger jüdischer Gemeinden. Bis zum heutigen Tag kann man auf der Krim von den Nachfahren der Juden, die damals entkamen und überlebten, Geschichten darüber hören, wie nichtjüdische Familienangehörige Kinder aus Mischehen – ihre Nichten und Neffen, Enkelinnen und Enkel – an die Gestapo auslieferten.15 Sel’vinskij war bekannt, dass die »deutsche Sicherheitspolizei« am 28. November 1941 in Kerč’ den Befehl Nr. 4 herausgab und verkünden ließ: »Alle Juden (gleichgültig welchen Alters) haben sich mit ihren Kindern am Samstag, den 29. November zwischen 8 Uhr und 12 Uhr mit Proviant für drei Tage auf dem Heuplatz (Markt) einzufinden.«16
Abb. 4: Der Heuplatz, Kerč’, 1947. (Mit freundlicher Genehmigung von Vladimir Sanžarovec)
14 Vgl. Berlin 2011; Rešetnikov 1982 (darin die Fußnote zu den Abbildungen 90-91); Ševčuk 1980. 15 In meinem kürzlich in den USA erschienenen Buch über den Shoah-Zeugen Sel’vinskij werden die überlieferten Berichte über die Erschießungen am BagerovoGraben ausführlich behandelt (Shrayer 2013). 16 Zum Holocaust in Kerč’ und auf der Kerčer Halbinsel vgl. Zverstva nemeckich fašistov v Kerči (1943); Tjaglyj 2005: 41-42; 2007; 2011: 402-403; Gubenko 1991: 21-31; Arad 2009: 202-211; Al’tman 2002: 287.
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Abb. 5: Die Proletarskaja-Straße, Heuplatz, Kerč’, 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
Vom Heuplatz wurde die aus mehreren tausend Juden bestehende Kolonne, darunter vorwiegend Frauen, Kinder und Greise, über den Uferdamm ins städtische Gefängnis getrieben. Vom Gefängnis aus wurden die Juden gruppenweise in Lastwägen zum Panzergraben gefahren, der einige Kilometer westlich von Kerč’ liegt. Der sogenannte Bagerovo-Panzergraben verdankt seinen Namen der ›Siedlung städtischen Typs‹ Bagerovo, die nach dem Krieg für ihren als geheim klassifizierten Luftstützpunkt bekannt war.17 Der Graben, der vier Meter breit, zwei Meter tief und 1,5 Kilometer lang ist, wurde in Nord-Süd-Richtung ausgehoben und erstreckt sich senkrecht zu der Bahnlinie ›Džankoj – Kerč’‹ und der parallel verlaufenden Bahnhofchaussee. An das südliche Ende des Bagerovo-Grabens, an die gegenüberliegende Seite der Chaussee, grenzt heute das Dorf Oktjabr’skoe und es ist schwer zu glauben, dass das Leben dort Tür an Tür mit der Erinnerung an den Tod seinen gewöhnlichen Gang geht. Der einen Kilometer lange Abschnitt des Grabens, der im Dezember 1941 zum Schauplatz der Judenermordung wurde, erstreckt sich von der Chaussee und der Bahnlinie in Richtung der nördlich gelegenen Hügelkette von Katerlez.
17 Zur Herkunft der Namen »Bagerovo« und »Bagerovo-Graben« vgl. Sanžarovec 2011: 389-411.
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Abb. 6: Der Bagerovo-Panzergraben mit dem Katerlez-Gebirge im Hintergrund. Aus der Fotoserie vom Bagerovo-Panzergraben vom Januar 1942. (Foto von Evgenij Chaldej. Konstantin Chodakovskijs Album »Kerč’ während des Großen Vaterländischen Krieges« mit den auf Chaldejs Notizbuch basierenden Anmerkungen von Vladimir Sanžarovec, http://fotki.yandex.ru/users/khodak)
Abb. 7: Der Bagerovo-Panzergraben mit dem Katerlez-Gebirge im Hintergrund und dem Berg Turkmenskaja am linken Bildrand. 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
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In den ersten Dezembertagen 1941 erschossen Angehörige des Sonderkommandos 10 B der Einsatztruppe D zusammen mit Hilfswilligen (»Hiwis«) und Schützen der 46. Infanteriedivision der Wehrmacht am Bagerovo-Graben mehrere tausend Juden. Wenige Tage später erließ das Naziregime den Befehl Nr. 5, demzufolge »alle Juden, die sich noch in der Stadt Kerč’ und Umgebung aufhalten, umgehend in der Karl-Liebknecht-Straße 2 zu erscheinen [haben]«, dem einstigen Sitz des städtischen Parteikomitees von Kerč’. Unter Androhung der Todesstrafe wurde die einheimische Bevölkerung zudem aufgefordert, den »Aufenthaltsort von Juden« der »deutschen Sicherheitspolizei« zu melden. (Tjaglyj 2005: 42-43) Ende Dezember führten die Nationalsozialisten eine Bestrafungsaktion in der Siedlung Samostroj durch, nicht weit von Kamyš-Burun (ebendieses »Samostroj« erwähnt Sel’vinskij in »Ich habe es gesehen!«); dabei wurden mehrere hundert Einheimische unterschiedlicher Nationalität (Russen, Ukrainer, Tataren) am Bagerovo-Graben erschossen.18 Die sowjetischen Truppen, die mit der ersten Staffel im Kerčer Gebiet gelandet waren, erblickten den Bagerovo-Graben am 30. Dezember 1941; Anfang Januar gelangten Untersuchungsbeauftragte und Bildberichterstatter an den Ort der Massenerschießungen. Unter den Fotografen und Bildjournalisten befanden sich auch Dmitrij Bal’termanc, der Autor einer berühmten Fotostrecke vom Bagerovo-Graben, sowie der heute ebenso berühmte sowjetische Fotoreporter Evgenij Chaldej. Letzterer wurde auf einen der wenigen Überlebenden, den Direktor der Larindorfer Mittelschule Grigorij Berman aufmerksam, als dieser die Leichen seiner Familienangehörigen beweinte. Er fiel auch dem Kameramann und Dokumentarfilmer Michail Ošurkov auf, der im Januar 1945 die Befreiung von Auschwitz filmen sollte. Der Leiter von Ošurkovs Filmcrew, Vladimir Mitrofanov, schilderte im März 1942 ein Gespräch mit Raisa Belocerkovskaja, der Frau eines Rotarmisten, die auf dem Weg von Kerč’ zum Bagerovo-Graben ihren kleinen Bruder vom Laster stieß und dadurch rettete, während sie ihren eigenen
18 Mit »Samostroj« wurden vor dem Krieg in der Sowjetunion viele Arbeitersiedlungen bezeichnet und auch in Kerč’ und Umgebung gab es einige »Samostrojs«. Dieser Umstand hatte eine gewisse Konfusion in den Quellen zu den Gräueltaten der Nationalsozialisten in Kerč’ im November/Dezember 1941 zur Folge. In einem kürzlich erschienen Artikel bezieht die Journalistin Oksana Šeremet (2011) den bei Sel’vinskij erwähnten »Samostroj« auf eine Siedlung in Kamyš-Burun. Zur Bestrafungsaktion gegen die Bewohner des »Samostroj« in Kamyš-Burun vgl. u.a. Iš 1942: 2; Goffenšefer 1942; Mitrofanov 1942: 3; Zverstva nemeckich fašistov v Kerči (1943: 17-18, 51-54, 57-58, 69-70, 79-80, 85); Vol’fson 1942: 34; Jakovlev 1961: 36; Korotkova 2004: 311.
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Kindern nicht helfen konnte. Mit letzter Kraft schaffte es Belocerkovskaja, aus dem Graben zu klettern und zu entkommen. »›Das ist die Stelle. Filmen Sie!‹, weist Raja uns an. Sie steht zusammen mit ihrem Bruder am langen Panzergraben, der bis zum Rand mit Leichen gefüllt ist. Der Kameramann L. Arzumanov filmt die von den faschistischen Fanatikern verstümmelten Körper der Frauen, Kinder und Alten.« (Mitrofanov 1942) Belocerkovskajas Brief, der am 17. Januar 1942 in der Zeitung Krasnaja zvezda (Roter Stern) erschien, wurde zum ersten Zeugnis der Erschießungen am Bagerovo-Graben, das in der landesweiten sowjetischen Presse veröffentlicht wurde.19
Abb. 8: Raisa Belocerkovskaja, eine der wenigen jüdischen Überlebenden, vor dem Bagerovo-Panzergraben, 1947. (Mit freundlicher Genehmigung von Vladimir Sanžarovec)
Sel’vinskij setzte in den ersten Januartagen von der Taman-Halbinsel in das Kerčer Gebiet über, wo er in Kamyš-Burun an Land ging (Sel’vinskij, Dnevnik: 22.02.1942).20 Auf einer Postkarte an seine Frau Berta Sel’vinskaja vom 12. Januar 1942 schreibt er: »Gestern suchte ich den Graben in der Nähe von Kerč’
19 »Budem mstit’ fašistam. Pis’mo ženy krasnoarmejca R. Belocerkovskoj« (Krasnaja zvezda vom 17.01.1942); vgl. auch Dokumenty obvinjajut (1943: 192-194). 20 Zur Truppenlandung vgl. Mel’kov 1981: 57-70; Die Angaben, die Sel’vinskijs Kollegen von der Zeitung Syn otečestva zum genauen Landedatum der Redaktionsmitglieder machten, sind widersprüchlich (entweder vor oder unmittelbar nach dem 1. Januar 1942); vgl. Archarova 1982: 107-108; Sviridenko 1982: 119-121.
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auf, wo 7000 von den Deutschen Erschossene liegen. Der Eindruck ist mörderisch. Das Bild belastet mich heute den ganzen Tag.«21 Um die Zeugenerfahrung Sel’vinskijs richtig einordnen zu können, muss erwähnt werden, dass er zum Zeitpunkt seiner persönlichen Besichtigung des Bagerovo-Grabens mit ersten Schilderungen der Naziverbrechen in Kerč’ und den Aussagen, die in der Zeitung Kerčenskij rabočij (Der Arbeiter von Kerč’) erschienen waren, allem Anschein nach schon vertraut war. Bereits am 7. Januar 1942 veröffentlichte die Zeitung auf der ersten Seite eine von sechs Ärzten unterzeichnete »Akte der faschistischen Gräueltaten«, in der die Aktion vom 29. November und die darauf folgenden Massenerschießungen ausführlich beschrieben wurden (u.a. Muchat 1942: 1). Wahrscheinlich kannte Sel’vinskij auch die Molotov-Note vom 6. Januar 1942 schon, sodass er sich an öffentlichen Zahlen orientierte, als er den Bagerovo-Graben zum ersten Mal erblickte. Den Angaben zufolge, die ich zusammentragen konnte, liefen Sel’vinskij und seine Kollegen von den Armee- und Marinezeitungen zu Fuß zum Bagerovo-Graben, zunächst die Mitridat-Treppe hinab und entlang des städtischen Uferdamms und dann der Eisenbahnlinie nach.
Abb. 9: Blick vom Berg Mitridat auf die Kerčer Bucht. 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
21 Postkarte Sel’vinskijs an B.Ja. Jakovlevna vom 12.01.1942, in den Beständen des »Zentralmuseums von Tavrida«, einer Einrichtung der Republik Krim. Mit freundlicher Genehmigung von Ljudmila Dajneko.
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Abb. 10: Blick vom Berg Mitridat auf das heutige Kerč’ und die Große Mitridat-Treppe. (Mit freundlicher Genehmigung von Sergej Sorokin)
Abb. 11: Die Bahnlinie ›Džankoj – Kerč’‹ in der Nähe des Bagerovo-Panzergrabens. 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
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Am Bagerovo-Graben bot sich den Betrachtern ein entsetzliches, unfassbares Bild. Der Winter 1941/1942 war auf der Halbinsel Kerč’ ungewöhnlich kalt und schneereich ausgefallen. Veniamin Goffenšefer, der Sel’vinskij begleitete, meinte: »Wir sahen nur die Leichen derer, die die Faschisten wenige Tage vor ihrem Rückzug getötet hatten. Tausende weitere Leichen liegen unter dem Schnee.« (Goffenšefer 1942) Sie sahen Massengräber, in denen unidentifizierte Leichen gestapelt wurden. Im Falle der meisten Getöteten gab es niemanden, der sie hätte identifizieren können. Mehr als zwei, drei um ihre Verwandten trauernden Juden hat Sel’vinskij wohl kaum angetroffen. Diejenigen, die die Leichen ihrer Angehörigen beweinten, waren Russen, Ukrainer oder Krim-Tataren. Von den tausenden Juden, die die Nationalsozialisten zum Graben gebracht hatten, überlebten nicht mehr als zehn. Die Berichte dieser unmittelbaren Augenzeugen, zu denen Raisa Belocerkovskaja, Sofija Lifšic (Livšic) und Iosif Vajngardten (Vaingardtner) gehören, sind in den meisten Quellensammlungen vertreten, am umfassendsten in dem in Suchumi herausgegebenen Sammelband Zverstva nemeckich fašistov v Kerči (Die Gräueltaten der deutschen Faschisten in Kerč’ 1943). Von der Trauerfeier und den Beisetzungen der Erschießungsopfer berichtete die Kerčer Presse bereits am 8. Januar 1942, doch Näheres ist kaum bekannt.22 Auch heute noch kennen wir nicht die Namen all jener, deren Überreste unter der dünnen Schicht aus Erde und Steppengras liegen, die den BagerovoGraben bedeckt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die nationale Presse im Vergleich zur lokalen Zivil- und Militärpresse der Krim die Ereignisse weniger detailliert und mit weniger Rücksicht auf den historischen Kontext darstellte und die Wahrheit über die jüdischen Verlust noch stärker vertuschte. In der Pravda vom 5. und vom 20. Januar 1942 wurde die Ermordung der Juden in Kerč’ vorsichtig angedeutet; am 7. und am 31. Januar wurden die Ereignisse in der Izvestija (Nachrichten) ohne konkrete Nennung der jüdischen Opfer geschildert; am 20. Januar erschienen in der Tageszeitung Komsomol'skaja pravda (Pravda der Komsomolzen) drei Aufnahmen vom Bagerovo-Graben; am 4. Februar druckte die Wochenzeitung Ogonëk zwei der Aufnahmen nach und am 8. März 1942 23 veröffentlichte dieselbe Zeitschrift einen Artikel zu Kerč’ samt Fotostrecke.
22 Vgl. die Bekanntmachungen »Komissija po pochoronam« (Kerčenskij rabočij vom 8.01.1942); »Gnev naroda« (Kerčenskij rabočij vom 10.01.1942); »Pochorony žertv nemeckoj okkupacii v Kerči« (P. Slesarev, 1942: 3). 23 »Krovavye zverstva nemcev v Kerči« (Pravda vom 5.01.1942: 2); »V osvoboždënnoj Kerči« (Pravda vom 20.01.1942: 3); »V Krymu« (Izvestija vom 7.01.1942: 2); Lidin
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Bezeichnend ist die voller Verzerrungen veröffentlichte Version eines Artikels des Fotojournalisten Izrail’ Ancelovič, die im Ogonëk unter dem Titel »Niederträchtige Mörder« (»Gnusnye ubijcy«) erschien: »Der Chef der Gestapo in Kerč’, der Henker Fel’dman, hat nach Anweisungen aus Berlin einen genauen Plan zur Ausrottung der Kerčer Bevölkerung ausgearbeitet. Diesem Plan zufolge sollten Sowjetbürger zuerst einer Nationalität erschossen werden, dann einer anderen, einer dritten usw. Dabei ging man immer familienweise vor. Später wurden die Henker es leid, Russen, Ukrainer, Armenier, Juden, Griechen und Tataren auseinanderzuhalten. Man führte straßenweise zur Exekution, ohne Rücksicht aufs Alter.« (Ancelovič 1942: 7) Aus den Berichten der sowjetischen Zentralpresse über die Kerčer Massenerschießungen und den publizierten Fotos samt Bildunterschriften konnten die sowjetischen Leser kaum darauf schließen, dass beim Bagerovo-Graben der Plan zur vollständigen Vernichtung der im Herbst 1941 noch im Kerčer Gebiet verweilenden aschkenasischen Juden realisiert wurde.
3. Den Augenzeugenberichten der Frontkämpfer zufolge, denen inzwischen legendenhafte Züge anhaften, beugte sich Sel’vinskij über den mit Leichen gefüllten 24 Panzergraben, als er »Ich habe es gesehen!« zu dichten begann. Das Gedicht wurde erstmals am 23. Januar 1942 im Bol’ševik, einer Zeitung des regionalen Parteikomitees von Krasnodar, veröffentlicht und am 27. Februar 1942 in der zentralen Armeezeitung Krasnaja zvezda sowie in der ersten (doppelbändigen) 25 Jahresausgabe der Moskauer Zeitschrift Oktjabr’ nachgedruckt. In Krasnaja zvezda teilte sich Sel’vinskijs Gedicht eine Seite mit dem Beitrag eines anderen Il’ja – Il’ja Ėrenburgs »Unterscheidungsmerkmale«. In kurzer Zeit wurde »Ich habe es gesehen!« sowohl an der Front als auch dahinter einem breiten Lesepublikum zugänglich. Es wurde auf Flugblättern vervielfältigt und von Schauspielern und Sprechern auf Konzertbühnen und im Radio interpretiert und erlangte somit im Wendejahr 1942 einen enorm hohen Bekanntheitsgrad. Der legendäre
1942: 2; Redkin (Fot.) 1942a; ders. (Fot.) 1942b: 4; Ancelovič 1942: 7; Ancelovič/Ozerskij/Bal’termanc (Fot.) 1942: 6-7. 24 Vgl. Archarova 1982: 107-108; Mačavriani 1942; Interview mit V. Mačavriani »Avtory ›Boevoj Krymskoj‹« (Literaturnaja gazeta vom 6.05.1970: 5); Šitova 2006. 25 Für eine detaillierte Publikationsgeschichte der Gedichte Sel’vinskijs vgl. Zacharenko 2000: 5-50.
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Schauspieler Vasilij Kačalov trug das Gedicht im Radio vor und der Dichter und Kritiker Lev Ozerov zeigte sich in einem Artikel der Zeitung Moskovskij bol’ševik vom 11. Dezember 1942 von Sel’vinskijs Kriegsgedicht begeistert. Ebendieser Ozerov, der künftige Autor des Poems »Babij Jar« (1944-1945), benannte als erster die Doppelrolle Sel’vinskijs: Dichter-Soldat und Zeuge der Judenvernichtung auf den besetzten Territorien: »Der Dichter, der auf der Krim groß geworden war, fand sich in den Tagen ihrer Heldengeschichte 1941-1942 dort wieder. Er war Augenzeuge von und Teilnehmer an großen Ereignissen. ›Ich habe es selbst gesehen‹, nannte der Dichter eines seiner Gedichte [Ozerov erlaubte sich eine kleine Ungenauigkeit im Titel]. In diesem Gedicht gelingt ihm ein direktes, überzeugendes, einfaches Wort – wie die Schilderung eines Augenzeugen der faschistischen Gräueltaten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. […] Was sah der Dichter? Den Boden der Krim. Den Graben, gefüllt mit Leichen friedlicher sowjetischer Bürger. Soweit die Totale. Und die Einzelheiten dieses schrecklichen Bildes. Die Leiche einer Jüdin, die kurz vor ihrem Tod den Hals ihres neben ihr liegenden Sohnes mit einem warmen Schal umwickelt hat.« (Ozerov 1942a: 3)26
Tatsächlich beginnt Sel’vinskij das Gedicht als ein Augenzeuge. Dabei stellt er von Anfang an nicht nur die weithin bekannten, unter der Bevölkerung kursierenden Versionen der historischen Ereignisse in Frage, sondern auch die Darstellung dieser Ereignisse in der Presse. Sel’vinskij tritt gleichzeitig als Dichter und als Zeuge vor den Leser, der an den Ort des Verbrechens gekommen ist, um es mit eigenen Augen zu sehen und zu dokumentieren. Vor dem Hintergrund der bruchlosen Tradition der jüdischen Dichtung seit den biblischen Tagen und durch die Jahrhunderte der jüdischen Geschichte und Kultur hindurch wird in »Ich habe es gesehen!« ein Echo auf »Die Sage vom Pogrom« (»Skazanie o pogrome«) vernehmbar, wie der russische Titel des Poems »Beir Gagarego« (wörtlich: »In der Stadt des Gemetzels«, 1904) des großen neuhebräischen Dichters Chaim Nachman Bjalik über das Pogrom von Kišinev lautet. Die klassische Übersetzung von Vladimir (Zeev) Žabotinskij erschien 1911, erreichte bis 1922 sechs Auflagen und war für den jungen Sel’vinskij wohl leichter zugänglich als das hebräische Original. Der Anfang von Bjaliks Poem pulsiert durch die ersten vier Verse Sel’vinskijs. In der Übersetzung von Žabotinskij heißt es bei Bjalik:
26 Ozerov hatte zuvor bereits zu Sel’vinskijs Kriegsgedichten geschrieben, darunter auch zu »Ich habe es gesehen!« (vgl. Ozerov 1942b: 3).
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… Steh auf und geh durch die Stadt des Gemetzels, Und berühre mit deiner Hand, und halte in deinen Augen fest Das an Baumstämmen und Steinen und Zäunen getrocknete Erkaltete Hirn und das verklumpte Blut; das sind – sie. …Встань, и пройди по городу резни, И тронь своей рукой, и закрепи во взорах Присохший на стволах и камнях и заборах Остылый мозг и кровь комками; то – они. (Bjalik 1914: 167)
Bei Sel’vinskij: Man muss den Volkssagen kein Gehör, Den Zeitungsspalten keinen Glauben schenken. Aber ich habe es gesehen! Mit eigenen Augen! Versteht Ihr? Gesehen! Ich selbst! Hier – eine Straße. Und dort drüben – ein Hügel. Dazwischen verläuft, etwa so, ein Graben. Aus diesem Graben erhebt sich Leid, Uferloses Leid. Nein! Darüber kann man nicht mit Worten … Hier muss man brüllen! Schluchzen! Sieben tausend Erschossene in der Wolfsgrube, Mit Rost überzogen, wie Erz.27 Можно не слушать народных сказаний, Не верить газетным столбцам. Но я это видел! Своими глазами! Понимаете? Видел! Сам! Вот тут – дорога. А там вон – взгорье. Меж ними вот этак – ров. Из этого рва подымается горе, Горе – без берегов. Нет! Об этом нельзя словами...
27 Aus mehreren Gründen, die zum Teil mit meiner Vorstellung vom sowjetischen literarischen Mainstream zusammenhängen, zitiere ich die Version von »Ich habe es gesehen!«, die in der Zeitschrift Okjabr’ (Sel’vinskij 1942b: 65-66) veröffentlicht wurde.
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Тут надо рычать! Рыдать! Семь тысяч расстрелянных в волчьей яме, Заржавленной, как руда.
Sel’vinskijs Gedicht ist durchdrungen vom jüdischen biblischen Kulturgedächtnis: von den Worten der Propheten und den Tropen der Psalmen. Seine Intonation der Verzweiflung nähert sich stark dem Klang des von Žabotinskij übertragenen Schlussteils von Bjaliks Poem an, in dem der Zeuge aufgefordert wird, in die Steppe zu laufen und sich in trauernder Klage zu zerreißen: Was hast du mit denen zu schaffen? Lass sie, Menschensohn, Steh auf und lauf in die Weite der Steppe, weit weg: Dort, endlich, lass deinem Schluchzen freien Lauf, Und schlage deinen Kopf gegen die Felsen, Und raufe, brennend in kraftlosem Zorn, Deine Haare, und weine, und heule wie ein Tier – Und der Schneesturm wird deinen irren Klageschrei Mit seinem höhnischen Gesang überdecken Что в них тебе? Оставь их, человече, Встань и беги в степную ширь, далече: Там, наконец, рыданьям путь открой, И бейся там о камни головой, И рви себя, горя бессильным гневом, За волосы, и плачь, и зверем вой –
И вьюга скроет вопль безумный твой Своим насмешливым напевом... (Bjalik 1914: 177)
4. »Ich habe es gesehen!« war das erste veröffentlichte russische Gedicht über die nationalsozialistische Judenvernichtung. Sel’vinskij, der die sich zum damaligen Zeitpunkt herausbildende offizielle Doktrin zum Umgang mit den Opfern jüdischer Herkunft vorausahnte, ging darin Kompromisse ein. Gleichzeitig gelang es ihm, in diesem Gedicht seine Missbilligung des offiziellen Standpunkts deutlich zum Ausdruck zu bringen. Sel’vinskij formt das, was er im Januar 1942 in der Nähe von Kerč’ gesehen hat, in seinen Versen um und verleiht den Opfern kol-
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lektiv-gemeinschaftliche Züge. Die einen stellt er als Slaven, die anderen als Juden dar. Aus einem der getöteten Kinder macht er den »stupsnasigen« elfjährigen Kol’ja (in anderen Redaktionen Kol’ja »mit den Segelohren«). Nicht weit von Kol’ja entfernt liegt »ein altes Mütterchen im lumpigen Nonnengewand«. Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck sind in »Abkehr vom Göttlichen« erstarrt und aus dem Kontext (aber auch aus dem Verweis auf »die Heilige Jungfrau« in einer anderen Redaktion) kann man erschließen, dass es sich bei ihr um eine Christin handelt. An späterer Stelle wird eine »zerfleischte Jüdin« beschrieben, die mit ihrem getöteten Säugling im Graben liegt. In einem Brief an seine Frau vom 6. April 1942 schreibt Sel’vinskij: »… Über das Gedicht ›Ich habe es gesehen!‹ […] Offenbar habe ich etwas berührt, das sehr tief sitzt. Doch ich selbst höre dieses Gedicht nicht. Ich sehe dahinter nur die, die ich im Graben sah, und ich weiß, dass ich nicht ein Hundertstel von dem ausgedrückt habe, was ich hätte ausdrücken müssen.«28 Wie schwierig es war, das am Bagerovo-Graben Gesehene wahrheitsgetreu zu bezeugen und gleichzeitig den Forderungen der Kriegszensur nachzukommen, lassen folgende Zeilen erahnen: Der Graben … von ihm in Versen sprechen? 7000 Leichen … Juden … Slaven … Ja! Darüber kann man nicht mit Worten: Mit Feuer! Mit Feuer allein! Ров… Поэмой ли скажешь о нем? 7000 трупов… Евреи… Славяне… Да! Об этом нельзя словами: Огнем! Только огнем!
Hier, im Schlussteil des Gedichts, taucht das Wort »Jude« – nach der Beschreibung der zusammen mit ihrem Säugling getöteten jungen Mutter – bereits zum zweiten Mal auf. Indem er das Wort »Jude«, das im Begriff war, tabuisiert zu werden, innerhalb eines Gedichts gleich zweimal nennt, verkündet Sel’vinskij sehr viel lauter und deutlicher als dies in allen anderen zwischen 1941 und 1942 veröffentlichten sowjetischen Quellen der Fall war – mit Ausnahme vielleicht von Ėrenburgs Artikeln –, dass die jüdischen Verluste die Verluste anderer sowjetischer Völker proportional um ein Vielfaches überstiegen. Die Vertauschung des Wortes »Slaven« mit dem Wort »Juden« hätte natürlich nicht gegen den
28 Brief Sel’vinskijs an B.Ja. Sel’vinskaja vom 6.4.1942, Sel’vinskij-Museum; vgl. auch Sel’vinskij 1984a: 170.
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Versrhythmus verstoßen, wohl aber gegen Sel’vinskijs Grundsatz einer adäquaten und wahrheitsgetreuen Übermittlung der jüdischen Verluste. Die Stelle »Man muss […] den Zeitungsspalten keinen Glauben schenken« ist ein sehr mutiger Verweis auf die Berichterstattung über die Shoah auf der Krim in der sowjetischen Presse und in den offiziellen Dokumenten der sowjetischen Regierung, darunter die Molotov-Note vom 6. Januar 1942. Kaum denkbar, dass Sel’vinskij sich hätte erlauben können, eine andere Opferzahl als die von Molotov und anderen offiziellen Quellen angeführten 7000 zu nennen. In Anbetracht der Umstände jedoch berichtete Sel’vinskij so genau von der systematischen Vernichtung der Juden auf den besetzten sowjetischen Territorien wie zum damaligen Zeitpunkt nur möglich. Ich habe 23 verschiedene Publikationen des vollständigen Textes von »Ich habe es gesehen!« gesichtet und verglichen. Dafür zog ich Zeitungen, Zeitschriften und Plakate heran, Sammelbände und Einzelausgaben aus der Kriegszeit, Neuauflagen aus der Nachkriegszeit und der Post-Stalin-Ära sowie Varianten, die zu Lebzeiten Sel’vinskijs in den 1960er Jahren und nach seinem Tod sowohl in sowjetischer als auch postsowjetischer Zeit erschienen sind.29 In einigen nach Stalins Tod publizierten Ausgaben, so auch in dem Band Izbrannye proizvedenija (Ausgewählte Werke) aus der Serie Biblioteka poėta (Die Bibliothek des Dichters), haben Sel’vinskij und seine Redakteure das Wort »Juden« durch das Wort »Semiten« ersetzt. Die abgeänderte (oder restituierte?) Zeile lautet dementsprechend: »7000 Leichen … Semiten … Slaven …«. Auf den ersten Blick könnte die Ersetzung von »Juden« durch »Semiten« mit der so hergestellten Vergleichbarkeit oder Balance zwischen den beiden ethnischen Größen erklärt werden. Auch ist denkbar, dass diese Dehnung der Identitätskategorie es Sel’vinskij erlaubte, die Krimtschaken vorbehaltlos zu den jüdischen Opfern zu zählen. Doch mir scheint, dass diesen Redaktionen etwas Schmerzhaftes anhaftet, als ob Sel’vinskij mit dem Wort »Semiten« deutlich machen wollte, dass die Ereignisse der Shoah auf den besetzten sowjetischen Territorien in einem breiteren Kontext der nationalsozialistischen Rassenanthropologie und der gesamten Geschichte des Antisemitismus betrachtet werden müssen. (In einigen Fassungen steht an-
29 Vgl. Sel’vinskij 1942a: 3; 1942b: 65-66; 1942c; 1942d: 87-92; Faltblatt zu den Gräueltaten der Faschisten in Kerč’ »Ne zabudem, ne prostim!« 1942; Zverstva nemeckich fašistov v Kerči 1943: 33-38; Sel’vinskij 1943a: 18-22; Kazin/Percov 1943: 373-375; Sel’vinskij 1943b: 42-45; 1947a: 7-12; 1947b: 51-55; 1956: 162-165; Belov 1957: 448-451; Ognev 1965: 133-138; Sel’vinskij 1964: 249-253; 1971: 352-355; 1972: 206-209; Ozerov 1981: 41-44; Sel’vinskij 1984b: 111-114; 1985: 96-100; 1989a: 176-179; Kolganova 1993: 130-134; Sel’vinskij 2004: 139-144.
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stelle des Verses »den Nachhall der Invasionen, das Echo des Schlachtens« [»отгул нашествий, эхо резни«] ein expliziter Pogrom-Verweis: »das Echo der Invasionen, der Pogrome, des Schlachtens« [»эхо нашествий, погромов, резни«]) (u.a. Belov 1957: 451).30 Über die Wirkung, die »Ich habe es gesehen!« auf den Leser der Kriegszeit hatte, wurde bereits viel geschrieben. Hier sei ein Ausschnitt aus den Aufzeichnungen von Evdokija Ol’šanskaja angeführt, in dem sie auf den Frühlingsanfang 1945 zurückblickt: »Meine Schwester, die fünf Jahre älter war als ich und mein Interesse für Poesie förderte, war bereits aus der Evakuierung nach Kiew zurückgekehrt und hatte sich an der Universität eingeschrieben. […] Einmal schickte sie mir ein Gedicht von Il’ja Sel’vinskij. […] Darin ging es um die Judenerschießung auf der Krim. Die Kiewer hatten es jedoch als eine Beschreibung der Tragödie von Babij Jar aufgefasst (damals waren darüber bereits Gedichte von Ol’ga Anstej und Ljudmila Titova geschrieben worden, zwei jungen Russinnen, die im besetzten Kiew geblieben waren und ebenfalls alles mit ›eigenen Augen‹ gesehen hatten, jedoch sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis diese Zeilen den Leser erreichten). Darum ging das Gedicht ›Ich habe es gesehen!‹ in Kiew von Hand zu Hand, wurde abgeschrieben, auswendig gelernt, so gelangte es zu mir.« (Ol’šanskaja 1998) 31
Später im Jahr 1942 kehrte Sel’vinskij in dem langen Gedicht »Kerč’«, beinahe ein Poem, zur Erschießung von Bagerovo zurück. »Kerč’« blieb bis Dezember 1943 unveröffentlicht und konnte erst im Februar 1945 mit seinem Erscheinen in der Zeitschrift Znamja ein breites Publikum erreichen; die offizielle Auflage dieser Zeitschrift betrug zu dieser Zeit 60 000.32 »Kerč’« ist deskriptiver und meditativer als »Ich habe es gesehen!« und, wie mir scheint, vollendeter, falls ein sol-
30 In der Diskussion nach meinem Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 17. April 2012 äußerte Kirill Ospovat die Vermutung, dass Sel’vinskij die Zeile unter anderem mit Blick auf die Alliteration überarbeitet haben könnte: Sem’ tysjač trupov … Semity … Slavjane … (Herv. M.S.). 31 In Ėrenburgs sechsteiligem Gedichtszyklus »Stichi«, der im Januar 1945 in Novyj mir veröffentlicht wurde, erschien die frühe Version des Gedichts »Babij Jar«, wie alle sechs Gedichte des Zyklus, ohne Titel. Vgl. ausführlicher dazu meinen Artikel über jüdisch-russische Dichter als Zeugen der Shoah (Shrayer 2011: 73-85). 32 Nach Informationen, die persönlich zu überprüfen mir noch nicht gelungen ist, wurde »Kerč’« erstmals am 2.12.1943 in der Zeitung Vperëd za Rodinu der Selbstständigen Küstenarmee veröffentlicht. Vgl. I. Michajlovas Kommentare zum Gedicht (Sel’vinskij 1989b: 585).
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cher Vergleich zwischen zwei Gedichten über die Shoah überhaupt zulässig ist. Der Sel’vinskij-Kenner bemerkt und erkennt in »Kerč’« sogleich die griechischrömischen Motive, die nicht nur zum Dichter selbst und seinen Jugendjahren auf der Krim zurückführen, sondern auch zu anderen seiner Werke, insbesondere dem Sonettenkranz »Bar-Kochba« (1920), in dessen Zentrum das Aufeinandertreffen zwischen der griechisch-römischen und der jüdischen Zivilisation steht, und zu seinem unübertroffenen Versroman »Puštorg« (1928). Anders als in »Ich habe es gesehen!« bleibt in »Kerč’« die Identitätszugehörigkeit der Opfer unbestimmt. Sel’vinskij bezeichnet die vielen tausend Erschossenen als »Tote« und beschreibt sie in ihrer Individualität ohne Rückgriff auf ethnische und religiöse Charakteristika. Auffällig ist zudem der Verzicht auf die offizielle Sowjetrhetorik. Mit dem Ergebnis war Sel’vinskij offensichtlich zufrieden, wovon nicht nur der in »Kerč’« platzierte kritische Verweis auf »Ich habe es gesehen!« zeugt, sondern auch die Tatsache, dass an diesem zweiten Gedicht keine wesentlichen Nachbesserungen mehr vorgenommen wurden.33 »Kerč’« beginnt mit einer Erinnerung. Der Dichter blickt auf die (vorübergehend – aber das kann er nicht wissen) befreite Stadt, und vergegenwärtigt sich ihren altgriechischen Namen, Παντικάπαιον (Pantikapaion).
Abb. 12: Blick auf die Ruinen der antiken Stadt Pantikapaion im heutigen Kerč’, 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
Darauf folgt eine grandiose Beschreibung des legendären Bergs Mitridat und des Lebens in der antiken griechischen Kolonialstadt, so wie Sel’vinskij es sich vorstellte:
33 Vgl. Sel’vinskij 1945: 78-79; 1984b: 108-111; 2004: 150-154.
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Im violetten und orangefarbenen Nebel Ist über dem Meer das Amphitheater Einer wunderbaren Stadt aufgestiegen. Ein Berg Mit irgendeinem weißen, hohen Tempel Stand in Wolkenqualm. Eine ferne Landspitze Schimmerte schwarz über einer Bucht von Chrysolith. Die Umrisse der Gebäude gegen das Morgenrot Verrieten Säulengänge, Kolonnen Und Statuen auf dem Forum. Hellas Atmete Schlaf. Nur der Nebel, Tagträumen gleich, Umschrieb kolossale Segel, Eine Horde Ziegenböcke oder eine Schar Satyrn, – Und ich war um fünftausend Jahre älter.34 В лиловом и оранжевом тумане Над морем воспарил амфитеатр Пленительного города. Гора С каким-то белым и высоким храмом Курилась облаками. Дальний мыс Чернел над хризолитовым заливом. А очертанья зданий на заре Подсказывали портики, колонны И статуи на форуме. Эллада Дышала сном. Один туман, как грезы, Описывал громады парусов, Орду козлов или толпу сатиров, – И я был старше на пять тысяч лет.
Sel’vinskijs Vergegenwärtigung der fernen griechisch-römischen Vergangenheit der Krim lädt zu der Annahme ein, er stelle einen unterschwelligen Vergleich zwischen der Verwüstung des Bosporus durch die Goten und Hunnen, die für die Vertreter der griechisch-römischen Zivilisation Barbarenhorden darstellten, und der Verheerung der Krim durch die Nationalsozialisten an, die von der sowjetischen Kriegspresse üblicherweise als Barbaren und Banditen bezeichnet wurden. Meiner Meinung nach aber ging es Sel’vinskij nicht um einen Vergleich zwischen den Nationalsozialisten und den für die alten Griechen außerhalb der Zivi-
34 Hier und im Folgenden wird nach der oben genannten »Kerc’«-Publikation in der Zeitschrift Znamja zitiert.
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lisation stehenden Völkern. Er wollte ganz im Gegenteil herausstellen, dass sich der Nationalsozialismus in den großen Kulturnationen Deutschland und Österreich geformt und entfaltet hat, im Schoß der europäischen Zivilisation also, die ihrerseits ein direkter Nachfolger der griechisch-römischen Kultur ist. Auf diese Weise legt Sel’vinskij, noch bevor die Mordstätte beschrieben, das Zeugnis abgelegt ist, dem Leser nahe, darüber nachzudenken, dass das Erbe der hohen Kultur die ungeheuerlichen Verbrechen der Deutschen nicht verhindern konnte. Im Zentrum von »Kerč’« steht die Frage, wie die Erinnerung, die Wahrheit über die Katastrophe, in Worten festgehalten und übermittelt werden kann. Im Gedicht macht einer der wenigen Überlebenden, ein Mann,35 der seine Mutter, seine Frau und seine beiden Kinder verloren hat, Sel’vinskij auf den Ort der Erschießungen aufmerksam: Zehn Werst von hier Liegt Bagerovo. Ein Dorf. Davor noch kommt rechts ein Graben. Ein Panzergraben. Sie haben dorthin Sieben tausend Bürger … В десяти верстах Тут Багерово есть. Одно село. Не доходя, направо будет ров. Противотанковый. Они туда Семь тысяч граждан…
In Sel’vinskijs Beschreibung verschmilzt das individuelle, persönliche »ich«, gleichzeitig Stimme und Blick der Identität, zu einem kollektiven »wir« der Zeugen: »Wir brachen sofort auf. Der Schriftsteller Romm, / Ein Fotograf, ich und der Kritiker Goffenšefer« (»Мы тут же и пошли. Писатель Ромм, / Фотограф, я и критик Гоффеншефер«). 36 Alle drei Literaten, Sel’vinskij,
35 Diese Figur ist offensichtlich gleichzeitig auf den Direktor der Larindorfer Mittelschule Grigorij Berman und den Kerčer Fischer Iosif Vajngardten (Vajngardtner) bezogen, die zu den wenigen Überlebenden der Erschießungen am Bagerovo-Graben gehören. Der Bericht von Vajngardten (Vajngardtner) erschien zunächst in dem Sammelband Zverstva nemeckich fašistov v Kerči (1943: 43-50) und fand später, in einer anderen Fassung und von Leib Kvitko literarisch überarbeitet, Eingang in Das Schwarzbuch. 36 Aleksandr Romm (1898-1943) war Literaturwissenschaftler, Übersetzter, Dichter und der ältere Bruder des Regisseurs Michail Romm. Veniamin Goffenšefer (1905-1966)
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Aleksandr Romm und Veniamin Goffenšefer, waren Juden. (Es besteht guter Grund zur Annahme, dass auch der Fotograf, von dem Sel’vinskij spricht, Jude war. Entweder Leonid Jablonskij, der Fotograf der Zeitung Syn otečestva, deren Literaturabteilung Sel’vinskij leitete, oder Mark Turovskij, ein KrimKorrespondent der TASS, der ebenfalls Bilder vom Bagerovo-Graben machte).37
Abb. 13: Am Bagerovo-Panzergraben, 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
Die Kriegsberichterstatter nähern sich dem Schauplatz des Genozids: Gegen Morgen erblickten wir das Tal Voll mit irgendwelchen Leinen. Das waren Die über Nacht angeschwollenen Leichen. Ich habe das sehr blass beschrieben
war ein zwischen den 1930er und 1960er Jahren relativ bekannter Kritiker sowie der Verfasser des Buches Michail Šolochov (1940) und anderer Werke. 37 Leonid Jablonskijs Anfang Januar 1942 am Bagerovo-Graben gemachte Aufnahmen wurden umgehend veröffentlicht (vgl. u.a. Kerčenskij rabočij vom 14.01.1942); Zur Rolle der jüdischen Bildberichterstatter (Evgenij Chaldej, Dmitrij Bal’termanc, Mark Redkin, Izrail’ Ozerskij, Izrail’ Ancelovič) bei der Dokumentierung der Shoah auf der Kerčer Halbinsel in der sowjetischen Zentralpresse vgl. Shneer 2010: 100-108, 251252.
196 | M AXIM D. S HRAYER In dem Gedicht »ICH HABE ES GESEHEN!« Und hinzuzufügen schaffe ich kein Wort. Kerč’ … Под утро мы увидели долину Всю в пестряди какой-то. Это были Расползшиеся за ночь мертвецы. Я очень бледно это описал В стихотворении »Я ЭТО ВИДЕЛ!« И больше не могу ни слова. Керчь…
Als einem Forscher der Shoah-Erinnerungskultur und einem Leser Sel’vinskijs liegt mir persönlich viel an diesem Eingeständnis des Autors hinsichtlich der Grenzen des ersten Bagerovo-Gedichts. Diese Zeilen gehen mir bei jedem Lesen sehr nahe. Ein sowjetischer Fotograf drückt auf den Auslöser und macht so Bilder vom Ort der Massenerschießung und von den Leichen, fixiert so die Wahrheit (und unter dem Druck der Zensoren manipuliert er sie auch). Sel’vinskij und seine Schriftstellerkollegen (im Gedicht sind alle drei Juden) finden sich in einer sprachlichen und psychologischen Sackgasse wieder: »Welch Bestialität!« sagt der Schriftsteller, Und als Echo erwidert der Kritiker: »Bestialität«. Ihr Handwerk ist die Sprache. Ihr Element – das Wort. Sie haben das ganze Wörterbuch durchforstet Und ein und dasselbe gewählt: »Bestialität«. »Какое зверство!« – говорит писатель, И эхом отозвался критик: »Зверство«. Их ремесло – язык. Стихия – речь. Они разворошили весь словарь И выбрали одно и то же: »Зверство«.
Das Wort »Bestialität« (»зверство«) (und implizit auch seine Pluralform »зверствa«, das im Russischen für gewöhnlich »Gräueltaten« meint) stellt Sel’vinskij nicht zufrieden. Doch wenn nicht »Bestialität«, was dann? »Kerč’! / Du bist der Spiegel, in dem sich der Abgrund zeigte« (»Керчь! / Ты – зеркало, где отразилась бездна«), schreibt Sel’vinskij zum Abschluss des Gedichts. Auf welche bekannten oder unbekannten Worte soll ein jüdisch-sowjetischer Dich-
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ter-Soldat zurückgreifen, um gleichzeitig Zeugnis abzulegen und den »Abgrund« zu beschreiben? Mit dieser Frage vor Augen möchte ich kurz darauf eingehen, was mit Sel’vinskij und der jüdisch-russischen Lyrik in den Jahren 1944-1946 geschah.38
5. Das gesamte Jahr 1944 und die ersten Monate des Jahres 1945 verbrachte Sel’vinskij weitab vom Frontgeschehen, bemüht, sich vom Moskauer Joch zu befreien. Die Erinnerungen an das, was er 1942 in der Nähe von Kerč’ gesehen hatte, ließen ihn nicht los. Sel’vinskij drängte zurück an die Front, und schließlich, im April 1945, wurde ihm sein Wunsch gewährt. Er erhielt seinen Dienstgrad zurück und wurde als Kriegsberichterstatter an die 2. Baltische Front geschickt (vgl. Babenko 1994: 64-65). Sel’vinskijs eigenen Aufzeichnungen zufolge war er mit dem neuen Bestimmungsort unzufrieden und entgegnete Ščerbakovs Stellvertreter bei der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (PUR), dass »ich an dieser Front nicht das zu sehen bekomme, was ich als Schriftsteller unbedingt brauche.« (Sel’vinskij, Dnevnik: 7.04.1945; vgl. Babenko 1994: 65)
Abb. 14: Il’ja Sel’vinskij (erster von links) mit Jakov Chelemskij (in der Mitte), Offizierskollegen und einem Fahrer. 2. Baltische Front, Mai 1945. (Mit freundlicher Genehmigung von Tatjana Sel’vinskaja)
38 Vgl. ausführlicher dazu Shrayer 2011.
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Während seiner Dienstzeit im Baltikum im Frühling/Sommer 1945 arbeitete Sel’vinskij für die Zeitungen Na razgrom vraga (Vernichtet den Feind) der 1. Stoßarmee und Suvorovec der 2. Baltischen Front (vgl. dazu Chelemskij 1982: 127-128). Bereits nach der Kapitulation Deutschlands wurde Sel’vinskij als Leiter einer Gruppe von Offiziersjournalisten nach Königsberg geschickt. Auf ostpreußischem Boden dachte er viel über die Ursprünge des Nationalsozialismus nach: »Goethe, Schiller, Novalis … Kant, Fichte, Hegel … Bach, Mozart, Beethoven …! Welch Höhe, welch ein Gipfel! Man mag einfach nicht glauben, dass ausgerechnet dieses Volk solche Genies hervorbringen konnte. Ein schreckliches, stumpfes, einspurig denkendes (falls überhaupt denkendes) Volk« (Sel’vinskij, Dnevnik: 2.06.1945). Der Dichter Jakov Chelemskij, der sich zusammen mit Sel’vinskij im Zug durch Ostpreußen befand, erinnerte sich später, wie dieser auf dem Weg nach Königsberg der Familie eines verletzten deutschen Mädchens half. In Königsberg angekommen wandte sich einer der Reiseteilnehmer in schroffem Ton an Sel’vinskij: »Übertreiben Sie nicht, Genosse Oberstleutnant? Schön, Sie haben mit Lebensmitteln aus Ihrem eigenem Vorrat ausgeholfen, meinetwegen. Aber wozu denn die Blumen? Was die unseren Kindern antaten! Sollten wir die ihrigen jetzt auch so beschenken?« Sel’vinskij lief vor Wut rot an: »[...] ich träume heute noch vom Kerčer Graben. Soll meine Antwort darauf etwa der Königsberger Graben sein?« (Chelemskij 1982: 146) Nachdem Sel’vinskij den Kollegen erklärt hatte, dass »hier und heute […] weder der Ort noch die Zeit für Vergeltung« sei, schlug er vor, sich auf die Suche nach Immanuel Kants Grab zu machen. Damals reflektierte Sel’vinskij viel über das, was sich in seinem Bewusstsein zu einem Gerinnsel aus geschichtlichen, ideologischen und literarischen Assoziationen verdichtet hatte: der Krieg und seine Schrecken, deren persönlicher Zeuge er wurde, die politischen Verfolgungen; der Preis des Überlebens und des Sieges; Stalin. Spielten in seinen Überlegungen auch das Kurland und das angrenzende Litauen als Orte, an denen die Nationalsozialisten und einheimische Mörder das jüdische Leben vernichtet hatten, eine Rolle? Sah er Parallelen zwischen der Shoah in seiner Heimat, der Krim, und den Ereignissen im Baltikum? Über die Zerstörung der alten jüdischen Gemeinden in Litauen und Lettland schrieb er jedenfalls keine einzige Zeile. Gleichzeitig wissen wir, dass sich Sel’vinskij im Baltikum weiterhin mit den von ihm entdeckten Spuren des Genozids auf der Krim und im Kuban-Gebiet befasste. Das jüdische Thema kam weiterhin in seiner Lyrik zur Sprache, wovon das Poem »Kandava« (1945) zeugt, das dritte zentrale Shoah-Gedicht Sel’vinskijs. »Kandava« wurde im Juni 1945 in Dzintari in der Nähe von Riga verfasst und verbindet das, was Sel’vinskij 1942/1943 auf der Krim, im Nordkaukasus
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und im Kuban-Gebiet gesehen hatte, mit dem, was ihm im Frühjahr 1945 über die »Endlösung« und die Judenermordung in den Todeslagern in Polen bekannt war (in »Kandava« werden drei Lager erwähnt: Majdanek, Auschwitz-Birkenau und Treblinka). »Kandava« erschien 1946 in der Januar/Februar-Ausgabe der Zeitschrift Oktjabr’ als einer von vier ausgewählten Texten, die im Frühling 1945 an baltischen Fronten entstanden waren. Später nahm Sel’vinskij diese Gedichte in sein Buch Krim, Kavkaz, Kuban’ (Krim, Kaukasus, Kuban) (1947) auf, das erste, das nach den Parteibeschlüssen Ende 1943/Anfang 1944 veröffentlicht wurde.39 Im narrativen Zentrum des Poems steht Sel’vinskijs Augenzeugenbericht von der Kapitulation einer deutschen Division am 8. Mai 1945 in Kandava. Ein Alptraum – den Sel’vinskij am 5. Mai 1945 tatsächlich hatte und den er ausführlich in seinem Tagebuch beschreibt – dient in der Kompositionsstruktur des Poems als Auslöser für die Erinnerung an die Kapitulation. Diese in ihrem Ausgangston dokumentarische Erinnerung veranlasst das lyrische Ich wiederum, sich den Alptraum eines der sich ergebenden Offiziere vorzustellen, in dem der Nationalsozialist nicht nur von den sowjetischen Armeeangehörigen zur Rechenschaft gezogen wird, sondern auch von den zum Leben erweckten Stimmen der Genozidopfer. Bereits im Tagebucheintrag vom 12. Mai 1945 hatte Sel’vinskij die historischen Ereignisse mit seinem Traum in Bezug gesetzt: »Ich verspürte den unwiderstehlichen Drang, diese Formation abzuschreiten. Also ging ich los. Das war ebenjener Traum vom 5. Mai, der mich vor gerade mal fünf Tagen erschüttert hat … Ich ging auf einem ausgetretenen Pfad die Reihen entlang und 10.000 Augen, die den schlimmsten Feinden meines Volkes (des russischen und des jüdischen) gehörten, starrten mich aus der Formation an.« (Sel’vinskij, Dnevnik: 12.05.1945) In der Realität – nicht im imaginierten und in die Wirklichkeit eingedrungenen Alptraum – steht der kapitulierende SS-Hauptmann schweigend da, »paralysiert vom Gesetz des Untergangs, / zerquetscht vom eingestürzten Vaterland« (»парализованный законом Краха, / раздавленный обвалом фатерленда«). Sel’vinskij schreibt, wie er im »rasenden Schweigen« (»яростном молчанье«) des Nationalsozialisten »das Rauschen der Rotarmisten Fahnen hört, / der Trompeten Schneid und der Trommeln Donner / und den Jubel tausender Stimmen / aus Asche, aus Gedichten, aus Traumbildern!« (»слышал шум красноармейских стягов, / браваду труб и грохот барабанов / и ликованье тысяч голосов / из пепла, из поэм, из сновидений!«). Das Motiv der Erinne-
39 Sel’vinskij 1946: 3-6; 1947a: 209-217. Die Zeitschriftenversion von »Kandava« ist bedeutend kürzer als die, die in Krym, Kavkaz, Kuban’ und in darauffolgenden Ausgaben veröffentlicht wurde.
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rung an die Shoah verbindet dieses Finale mit den Schlusspunkten der Gedichte Il’ja Ėrenburgs, Pavel’ Antokol’skijs und Lev Ozerovs, die zwischen 1944 und 1945 geschrieben und kurz darauf veröffentlicht wurden. Das wiederum gibt Grund zu der Annahme, dass für diese in vielerlei Hinsicht vergleichbaren literarischen Reaktionen bei Schriftstellern von solch unterschiedlicher dichterischer Begabung und Ausrichtung der historische Kontext der Jahre 1944/1945 verantwortlich war. Wie groß der Schock bei der Besichtigung der ehemaligen Vernichtungslager selbst für gut informierte sowjetische Schriftsteller und Journalisten war, selbst für die, die zuvor bereits Stätten der Massenerschießungen gesehen hatten, kann man bei der Lektüre von Ėrenburgs Menschen, Jahre, Leben erahnen. Darin handelt eine Episode von der Besichtigung von Malyj Trostenec’ im Juli 1944: »Den folgenden Tag ging’s zurück nach Minsk. Die Chaussee führte an Trostjanez vorbei. Hier hatten die Hitlerfaschisten Juden aus Minsk, aber auch aus Prag und Wien verscharrt. Sie transportierten sie in Vergasungswagen (»G-Wagen« genannt; die Autos wurden perfektioniert – der Wagenkasten ließ sich umkippen und warf die toten Körper herab; diese neuen Wagen hießen »G-Kipper«). Kurz vor dem Zusammenbruch ordnete der deutsche Stab an, die Leichen auszugraben, mit Benzin zu übergießen und zu verbrennen. Überall lagen verkohlte Gebeine herum. An dem letzten Schub der Ermordeten hatten die Faschisten ihr Werk nicht mehr vollenden können; die Leichen lagen aufgestapelt wie Holz. Bereits angekohlte Frauenkörper, darunter ein kleines Mädchen, Hunderte von Leichen. Ein paar Schritt entfernt häuften sich Damentaschen, Kinderschuhwerk, Ausweise. Noch wußte ich nichts von Maidanek, Treblinka, Auschwitz. Ich stand wie festgewachsen und hörte nicht den wiederholten Ruf des Chauffeurs. Es ist schwer, darüber zu schreiben. Die Worte fehlen.« (Ehrenburg 1978: 147)
Das Fehlen der Worte, die Unmöglichkeit das passende Wort zu finden, wird zum Leitmotiv der Dichter-Zeugen, das den Leser auf Sel’vinskijs Gedichte vom Bagerovo-Graben verweist.40
40 Zum Sommer 1944 waren die Arbeiten am Schwarzbuch in vollem Gange und Ėrenburg war es gelungen, eine ganze Reihe jüdisch-russischer Dichter für das Projekt zu gewinnen. Margarita Aliger, Pavel Antokol’skij, Vera Inber und Lev Ozerov bereiteten die Augenzeugenberichte und die Essays über die Judenvernichtung auf den besetzten Gebieten der UdSSR vor. Sel’vinskij selbst nahm aus vielerlei Gründen, die wohl vor allem damit zusammenhängen, dass er als Dichter in Ungnade gefallen war, nicht an den Vorbereitungen zum Schwarzbuch teil. Vgl. ausführlicher dazu Shrayer 2013.
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Warum ist der Zeitraum von Sommer 1944 bis Herbst 1945 für das Verstehen dieser Zäsur in der jüdisch-russischen Lyrik, die in der UdSSR verfasst und veröffentlicht wurde, so wichtig? Jüdisch-russische Schriftsteller – allen voran Sel’vinskij in Versform und Ėrenburg und Vasilij Grossman in Prosa – hatten bereits Anfang 1942 sowie zwischen Ende 1943 und Anfang 1944 über die Gräueltaten gegen die Juden geschrieben. Im Sommer 1944 jedoch begannen die Befreiungen der NS-Todeslager durch die sowjetischen Truppen. Zusammen mit den Rotarmisten überschritten Kriegsberichterstatter und Schriftsteller die sowjetischen Grenzen, zuerst die von vor 1939 und dann die von vor 1941. Im Juli 1944 nahmen sowjetische Einheiten Majdanek ein. Die zurückweichenden Deutschen schafften es nicht rechtzeitig, das ganze Lager zu demontieren und den Blicken der Befreier boten sich die unversehrten Gasöfen dar. Im weiteren Verlauf des Sommers 1944 besetzten sowjetische Truppen die Lager der sogenannten ›Aktion Reinhardt‹ (Belzec, Sobibor und Treblinka), die bereits 1943 von den Deutschen fast vollständig zerlegt und dem Erdboden gleich gemacht worden waren. Mit der Veröffentlichung von Grossmans dokumentarischer Erzählung »Die Hölle von Treblinka« in der Zeitschrift Znamja im November 1944 wurde die Wahrheit über die ungeheuerliche Maschinerie des industrialisierten Genozids einer breiten Leserschaft zugänglich (Grossman 1944: 121-144). In dem Artikel »Erinnern!« (»Pomnit’!«), der im Dezember 1944 in der Pravda gedruckt wurde, benannte Ėrenburg mit einer für den damaligen Zeitpunkt verblüffenden Genauigkeit die Gesamtopferzahl des Holocaust und beschrieb die Judenermordungen auf den besetzten sowjetischen Territorien und in den polnischen Vernichtungslagern als Teilkomponenten eines ganzheitlichen Plans zum Genozid (Ėrenburg 1944). Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen Auschwitz-Birkenau. Meines Erachtens liegt der Zusammenhang zwischen der Befreiung der Vernichtungslager 1944/1945 und der Entstehung und Publikation jüdisch-russischer Gedichte zwischen 1944 und 1946, in denen die Vernichtung des jüdischen Volkes, sowohl auf den besetzten sowjetischen Territorien als auch in den Todeslagern des okkupierten Polens, offen und unverblümt zur Sprache gebracht wird, auf der Hand. Freilich setzten die meisten sowjetischen Schriftsteller und Journalisten, auch nachdem sie die Vorkriegsgrenzen der Sowjetunion überschritten und westlich der besetzten sowjetischen Gebiete die Todeslager mit eigenen Augen gesehen hatten, ihr Schweigen bezüglich der jüdischen Opfer fort oder versteckten sich hinter den universell-verfälschenden sowjetischen Formulierungen vom Tod der »friedlichen Bürger«. Gerade deshalb nehmen die HolocaustGedichte, die von Sel’vinskij, Ėrenburg, Antokol’skij und Ozerov zwischen
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1944 und 1945 geschrieben wurden, eine besondere Stellung sowohl in der sowjetischen als auch in der jüdischen Literaturgeschichte ein. Die Entstehung und Veröffentlichung von Sel’vinskijs »Kandava« ist diesem literarischen und historischen Kontext verpflichtet. Das Gedicht gehört zu einem erlesenen Kreis zentraler jüdisch-russischer Zeugen-Gedichte, zu dem auch ein sechsteiliger Gedichtzyklus von Ėrenburg (Novyj mir, Januar 1945), Antokol’skijs »Vernichtungslager« (Znamja, Oktober 1945) und Ozerovs »Babij Jar« (Oktjabr’, März/April 1946) zählen.41 Mit ihrer Veröffentlichung in führenden Moskauer Zeitschriften kündeten diese Gedichte einem breiten sowjetischen Lesepublikum von der Shoah. Die einstweilige Aufgeschlossenheit sowjetischer Zeitschriften gegenüber Gedichten, die das jüdische Leid thematisierten, währte jedoch nicht lang und hielt nur bis Frühjahr 1946. Dem Zwischenspiel der jüdi42 schen Selbstartikulation – und der Publikation russischsprachiger Shoah-Texte im sowjetischen Mainstream – wurde 1947 ein jähes Ende gesetzt, als die Veröffentlichung von Ėrenburgs und Grossmans Schwarzbuch in der UdSSR von offizieller Seite zuerst hinausgezögert und schließlich verboten wurde.43 Gleichzeitig darf bei der kontextuellen Untersuchung der offiziellen Rehabilitierung Sel’vinskijs und seiner anschließenden Gedichte des Frühjahrs 1945 folgender Umstand nicht vergessen werden: Sel’vinskijs Erfahrung als poetischer Zeuge der Shoah unterschied sich von der Ėrenburgs, Antokol’skijs und Ozerovs, der zentralen jüdisch-russischen Dichter-Zeugen. 1942 wurde Sel’vinskij zum ersten und allem Anschein nach einzigen landesweit bekannten poetischen Zeugen der Shoah auf der Krim. Allerdings konnte er 1943/1944 nicht an der weiträumigen Befreiung der besetzten sowjetischen Territorien, allen voran der ukrainischen und weißrussischen Gebiete, teilnehmen. Da er sich zunächst im Brennpunkt der Kampfhandlungen zur Befreiung des Kuban-Gebiets und der Krim befand und später, bis April 1945, im Moskauer Exil, bekam er die Schauplätze der jüdischen Massenvernichtung der Jahre 1941/1942, wie Drobickij Jar, Babij Jar und Malyj Trostenec, nie zu Gesicht. Andere sowjetische Schriftsteller und Journalisten haben diese Orte im Zuge der Befreiung der Ukraine und Weißrusslands 1943/1944 mit eigenen Augen gesehen und, die jüdischen Verluste unterschiedlich genau artikulierend, literarisch festgehalten. Auch bei der Befreiung der Vernichtungslager im Sommer/Herbst 1944 und im Winter 1945 war Sel’vinskij nicht als Zeuge dabei.
41 Ėrenburg 1945: 16; Antokol’skij 1945: 34; Ozerov 1946: 160-163. 42 In diesem Aufsatz beschränke ich mich auf die russischsprachige Lyrik und gehe nicht auf Gedichte ein, die auf Jiddisch geschrieben und veröffentlicht wurden. 43 Zu Einzelheiten vgl. Redlich/Kostyrčenko 1996; Kostyrčenko 2005.
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Sel’vinskijs Enttäuschung über die verfehlten Ambitionen schlägt sich im Ton seines Tagebucheintrags vom 12. Mai 1945 nieder, wobei die Unmöglichkeit Siegesoden über Berlin zu dichten, nicht der alleinige Grund für seine Verbitterung ist: »Was aber werde ich über den Krieg schreiben? Ich habe schließlich nur das Schlechte gesehen: Rückzug, Niederlage, die Leichen friedlicher Bürger. Den Sieg zu sehen, gelang mir nicht. Ich sitze in einem ›Blinddarm‹ – das Leben hat man mir bewahrt, danke dafür. Aber habe ich etwa deshalb beim ZK meine Wiederaufnahme in die Armee beantragt? Ich bin den Spuren des Sieges durch Ostpreußen gefolgt. Das gibt wenig her.« (Sel’vinskij, Dnevnik: 5.06.1945; vgl. Babenko 1994: 66) Der Avantgardist, Jude und Shoah-Zeuge Sel’vinskij sah für sich im kulturellen Nachkriegsklima des russisch-sowjetischen Imperialchauvinismus der späten Stalinära keinen Platz. Der Nachhall des offiziellen Scherbengerichts und Indizien des tiefen Misstrauens seitens des Regimes verfolgten Sel’vinskij in den Nachkriegsjahren bis zu Stalins Tod. Man verzieh ihm weder die Kerč’-Gedichte des Jahres 1942, noch den bittersüßen Ruhm des Dichter-Zeugen der Judenvernichtung auf der Krim und im Kuban-Gebiet. Seine Lobeshymnen auf Stalin und seine Versuche, der offiziellen Rhetorik entgegenzukommen, boten Sel’vinskij, in dessen zwischen 1942 und 1953 veröffentlichten Büchern opportunistische Zeilen Seite an Seite mit Shoah-Versen stehen, keinen Schutz. Im Sommer 1946, als die Mühlen der Ždanovščina in Gang gesetzt wurden, bereits vom Kampf gegen die ›Kosmopoliten‹ kündend, drohte Georgij Malenkov den Leningrader Zeitschriften: »Sel’vinskij hat’s gemütlich bei Euch!« (Ozerov 1989: 1-9) In dem schriftlichen Bericht der Agitations- und Propagandaabteilung des ZK VKP(b) vom 7. August 1946 an Andrej Ždanov über den unbefriedigenden Zustand der Zeitschriften Zvezda und Leningrad heißt es: »In seinem Gedicht ›Sevastopol’‹ (Leningrad 1-2, 1946) beschreibt I. Sel’vinskij seine Eindrücke vom Besuch der Heldenstadt nach ihrer Befreiung durch die Rote Armee. Doch der Dichter sagt nichts über die tapferen Verteidiger der Stadt; er erinnert sich nur daran, wie er irgendwann in vorrevolutionären Jahren (sic) ein Mädchen auf der Straße getroffen hat. Im abgeschmackten Ton wird das Äußere dieses Mädchens beschrieben ...« (Artizov/Naumov 1999: 563-564) Auf einer anderen Sitzung im Vorfeld des Beschlusses über die Zeitschriften Zvezda und Leningrad fällte Stalin mit düsterem Sarkasmus ein lakonisches Urteil über Sel’vinskijs »Sevastopol’«: »Ždanov (fährt fort): ›Die Zeitschrift ›Leningrad‹ druckt schwaches Material. Der Dichter Sel’vinskij etwa sieht im niedergebrannten Sevastopol’ nichts … außer einer Frau […].‹ Stalin: ›Es fehlt wohl an Material‹« (zit. nach Eželev 1988: 3; vgl. Ozerov 1989: 9). »Zu Sel’vinskijs Glück«, wie Michail Solomatin
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richtig bemerkt, »taucht sein Name im Gesamtbeschluss des Orgbüro des ZK VKP(b) vom 14. August 1946 nicht auf.« (Solomatin 2009)
6. Als Dichter-Zeuge der Shoah auf den besetzten sowjetischen Gebieten leistete Sel’vinskij Zivilcourage und jüdische Selbstaufopferung zugleich. Sel’vinskijs Beitrag zur Shoah-Literatur ist deshalb so wichtig, weil seine Gedichte während des Großen Vaterländischen Krieges und unmittelbar danach in den sowjetischen Mainstream eingingen und auch Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre, dem dunkelsten Kapitel in der Geschichte der sowjetischen jüdischen Kultur, für den Leser zugänglich blieben. Angesichts des extremen Mangels an offiziellen sowjetischen Informationen über die Shoah waren Sel’vinskijs Gedichte mehr als literarische Texte – oder wurden umgehend zu mehr. In den Händen des Dichters verwandelte sich die offizielle sowjetische Rhetorik der Kriegsjahre in zeitlose Lyrik; heute fällt es schwer, die historischen Tatsachen aus den Halbwahrheiten oder dem poetischen Schweigen herauszulesen. Gleichzeitig sollten wir Abstand davon nehmen, diese Texte auf Kosten ihres ästhetischen Werts ausschließlich als historische oder politische Dokumente lesen zu wollen. Der Erforscher der in der UdSSR in den 1940er Jahren verfassten und veröffentlichten Shoah-Gedichte steht indes vor weiteren Schwierigkeiten. Zum Abschluss soll auf drei Probleme, die sich aus dem Studium von Sel’vinskijs Kriegsgedichten ergeben, eingegangen werden. Zunächst die Frage, welches Schicksal Sel’vinskijs Shoah-Gedichten nach seinem Tod in sowjetischen und postsowjetischen Jahren beschieden war. Nach 1942 wurde das Gedicht »Ich habe es gesehen!«, das einer seiner bekanntesten Texte blieb, in abgeänderter und überarbeiteter Form in verschiedenen Sel’vinskij-Ausgaben und in Anthologien veröffentlicht, wobei dieses Gedicht, ebenso wie »Kerč’«, »Das Gericht in Krasnodar« oder »Kandava«, im Rahmen der offiziellen sowjetischen Literaturwissenschaft nicht als Shoah-Text ausgelegt werden konnte. Auf der anderen Seite wurde »Kerč’«, nachdem es 1945 im literarischen Mainstream erschienen war, in der UdSSR allem Anschein nach bis 1984 nicht wieder aufgelegt. Ein solcher Gang der Gedichte durch den offiziellen Kulturraum und ihre Ausgrenzung aus diesem ist keineswegs leicht nachzuvollziehen und entzieht sich einfachen, kausalen Erklärungen, die sich in der Analyse historischer und ideologischer Kontextveränderungen erschöpfen. Sodann die Frage, die vor dem Hintergrund der sowjetischen Kulturgeschichte unter dem Stichwort ›Claesens Asche‹ zusammengefasst werden kann.
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In dem Roman von Charles De Coster Die Geschichte von Ulenspiegel und Lamme Goedzak von 1867 (De Coster 1973), der sich in Russland und in der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreute (die Verfilmung des Romans durch Aleksandr Alov und Vladimir Naumov 1976 steigerte die Popularität der Figuren Costers noch weiter), nimmt Till Ulenspiegel den Kampf gegen die spanischen Besatzer auf. Er schließt sich den Geusen an, nachdem die Inquisition seinen Vater Claes als Häretiker verbrennt. Vom Ort der Hinrichtung nehmen Till und seine Mutter ein Häufchen Asche mit, das die Mutter in ein Säckchen näht und Till um den Hals hängt. Im Kampf für die Unabhängigkeit Flanderns wiederholt Till immer wieder die Worte: »Claesens Asche pocht auf meiner Brust« (vgl. Serov 2011). Tills Worte paraphrasierend ließe sich sagen: Die Asche der auf der Krim ermordeten Juden pochte auf Sel’vinskijs Brust und trieb ihn dazu, lyrisches Zeugnis abzulegen. Selbst in der Tauwetterperiode, in der das ideologische Klima viel wohlwollender und das Risiko einer offiziellen Verurteilung viel geringer war, schrieb Sel’vinskij keine neuen Gedichte mehr, die auf seiner persönlichen Erfahrung als Zeuge der Shoah gründeten.44 Schließlich die Frage, welchen Preis Sel’vinskij als Dichter und als Mensch zahlen musste, um Gedichte schreiben und veröffentlichen zu dürfen, in denen er als Shoah-Zeuge auftritt. Sel’vinskijs Band Ballady i pesni (Balladen und Lieder) (1943), in das »Ich habe es gesehen!« Eingang fand, beginnt mit dem dithyrambischen Gedicht »Stalin am Mikrofon«. In Sel’vinskijs Büchern der Kriegsund Nachkriegsjahre (Ballady, plakaty i pesni, 1942; Voennaja lirika [Kriegslyrik], 1943; Krim, Kavkaz, Kuban’ [Krim, Kaukasus, Kuban], 1947) finden sich weitere charakteristische Beispiele für Sel’vinskijs Engführung von ShoahGedichten und Versen zu Ehren Stalins. Was verraten uns diese Lobeshymnen auf Stalin über den literarischen Preis, den Sel’vinskij für das Recht, die jüdische Katastrophe zu bezeugen, zahlen musste? Mussten Sel’vinskij und andere jüdisch-russische Dichter das »quälende Recht«45, die Opfer der Shoah in sowjetischen, russischen und jüdischen Gedichten zu betrauern, mit der Verherrlichung des Diktators erkaufen?
44 Eine Ausnahme bildet »Strašnyj sud« (1960), ein qualvolles, polemisches Gedicht über eine Gedenkfeier in einer in der Nähe eines ehemaligen Todeslagers gelegenen Synagoge. Vgl. dazu Grinberg 2011 und 2008. 45 »Das quälende Recht« stammt aus dem Gedicht des Halbpolen-Halbjuden Vladislav Chodasevič »Не матерью, но тульскoю крестьянкой…« (1917; 1922): (»И вот, Россия, ›громкая держава‹,/ Ее сосцы губами теребя,/ Я высосал мучительное право/ Тебя любить и проклинать тебя«.)
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Abb. 15: Der Bagerovo-Panzergraben. Das sowjetische Denkmal zur Erinnerung an die Ermordung von »über siebentausend friedlicher sowjetischer Bürger« (etwa 1975/1976) und das postsowjetische Denkmal zur Erinnerung an die Ermordung »tausender Juden« (2010). 14.12.2011. (Foto von Maxim D. Shrayer)
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Bewegte und unbewegte Blicke der Toten Aus dem Warschauer Ghetto und Charkiv J EREMY H ICKS
Bilder spielen bei der Modellierung des kulturellen Gedächtnisses und den Wahrnehmungen der Geschichte eine zentrale Rolle.1 Dies gilt insbesondere für den Holocaust, bei dem es, so Marianne Hirsch, »eine auffällige Wiederholung stets derselben sehr wenigen Bilder« gegeben hat, »die immer und immer wieder ikonisch und emblematisch zur Bezeichnung dieses Ereignisses verwendet wurden« (Hirsch 2012: 106). Seine extreme Grausamkeit, die manchmal als unvorstellbar beschrieben wird, die Tatsache, dass die Gaskammern keine Zeugen hinterlassen haben und andere Faktoren, wie das der jüdischen Religion eigene Misstrauen gegenüber Abbildung, haben zu der Vorstellung beigetragen, dass es sich dabei um ein Ereignis handelt, das durch keine fotografischen Bilder adäquat wiedergegeben werden kann. Allerdings versucht die neuere Forschung, sich dieser Vorstellung vom Holocaust als einem unaussprechlichen und unrepräsentierbaren Ereignis entgegenzustellen, indem sie darauf hinweist, dass Spuren des Holocaust in zahlreichen zeitgenössischen Foto- und Filmdokumenten festgehalten und seitdem immer wieder überarbeitet, veröffentlicht und ausgestrahlt worden sind (vgl. Didi-Hubermann 2008; Saxton 2008). Zwar existieren, wie Hirsch feststellt, viele solche Bilder, doch wenn es ein Bild gibt, das sinnbildlich für den Holocaust stehen könnte, ist es wohl die Fotografie eines kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto mit erhobenen Händen (vgl. Hirsch 2002: 101). Aufgenommen von einem Mitglied der SS für den so-
1
In diesem Aufsatz verwende ich den Begriff »kulturelles Gedächtnis« nach der Definition von Astrid Erll (2005) im Sinne einer Unterkategorie des »kollektiven Gedächtnisses«.
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genannten Stroop-Bericht, der die Liquidierung des Warschauer Ghettos feiert, steht es international wie wohl kein zweites Bild für den Holocaust. Auf seiner Wanderung durch verschiedene Medien erlangte es ikonischen Status. Die Gründe für diese Bildmigration wurden von Richard Raskin in einer eigens diesem Bild gewidmeten Monographie untersucht (vgl. 2004: 33-34). Raskin geht den Eigenschaften des Bildes nach, die seine fesselnde Kraft erklären könnten: die Ungeheuerlichkeit der Szene, in der ein kleiner Junge wie ein Kämpfer behandelt wird, die Bildkomposition, die unter anderem den Jungen im goldenen Schnitt platziert und Kontraste miteinander verbindet sowie das Vermögen des Bildes, unsere Gefühle anzusprechen und als ein Symbol jenseits seines unmittelbaren Bezugsrahmens zu fungieren, wodurch es »einen mühelosen Zugang zum historischen Moment« ermöglicht (Raskin 2004: 33, zit. nach Goldberg 1991). Neben diesen Ausführungen erwähnt Raskin, ohne jedoch genauer darauf einzugehen, Marianne Hirschs Kritik an der breiten Aneignung des Bildes, das seine Anziehungskraft den falschen Gründen verdanke, wie etwa der Tatsache, dass es uns nicht zurückschrecken lässt (vgl. Hirsch 2002; Raskin 2004: 19). Es quält uns nicht derart, dass wir wegsehen müssten – wir können es dauerhaft und wiederholt betrachten. Das Problem liegt darin, dass die Herkunft des Bildes durch seine Reproduktionen verwischt ist, was dem Betrachter erlaubt, seinen dunklen Ursprung als Teil des Vernichtungsprozesses zu vergessen: Diese Bilder wurden durch das geformt, was Hirsch den »genozidalen Blick« nennt (Hirsch 2002: 103). Dem ikonischen Bild des Jungen aus dem Warschauer Ghetto möchte ich ein zweites, weitaus weniger bekanntes und verbreitetes Holocaust-Bild gegenüberstellen: Es ist das Bild eines Frauenschädels, der 1943 in Drobic’kij Jar, einem Massengrab in der Nähe der ostukrainischen Stadt Charkiv, exhumiert wurde. Es stammt aus einer von sowjetischen Kameraleuten der Wochenschau gedrehten Filmsequenz, die ausführlich über die Gräueltaten der Nazis in dieser Stadt berichtet und die während des Krieges und unmittelbar danach in Dokumentarfilmen verwendet wurde. Im Gegensatz zum Bild des Jungen mit erhobenen Händen wirkt es, wiewohl es nicht Teil des Vernichtungsprozesses, sondern vielmehr seiner Aufdeckung und öffentlichen Verurteilung war, beklemmend und ist zu erschütternd, als dass man es lange anschauen könnte. Dies, so meine These, ist ein entscheidender Grund dafür, warum es keine weite Verbreitung fand und nicht häufiger als ein Holocaust-Bild, oder zumindest eines der NaziGräueltaten, verwendet wurde, warum es sich zur Vergegenwärtigung des eigentlichen Ereignisses aber besser eignet. Über den Vergleich der beiden Bilder hoffe ich zudem, wichtige Unterschiede in der Einstellung zum und dem
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Verständnis vom Holocaust zwischen dem Westen und den ehemaligen sowjetischen Republiken, allen voran Russland, herausstellen zu können.
D ER J UNGE MIT ERHOBENEN H ÄNDEN – E INE G ESCHICHTE SEINER ANEIGNUNG Die Fotografie des Jungen mit erhobenen Händen wurde erstmals im November 1945 als Teil des Stroop-Berichts über die Zerstörung des Warschauer Ghettos am Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg der Öffentlichkeit präsentiert. (Abb. 1) Sie wurde auch in der Rede des Hauptanklägers Robert Jackson flüchtig erwähnt und ein Jahr später mit den Prozessakten veröffentlicht. Bekanntheit erlangte sie aber erst durch Alain Resnais’ halbdokumentarischen Film Nacht und Nebel (Nuit et brouillard, 1956). 1960 erschien sie im Life Magazine, dann in Ingmar Bergmans Persona (1966) und später in zahlreichen anderen, weniger bedeutenden Filmen und Fernsehproduktionen (vgl. Raskin 2004: 105). Nur in wenigen dieser Fälle wird erwähnt, dass der ursprüngliche Bildtitel Mit Gewalt aus den Bunkern hervorgeholt lautet, doch gerade dieser führt uns den eigentlichen Kontext des Bildes vor Augen, wie Raskin, der dem Zweck, den die Nazis mit diesen Fotografien verfolgten, nachgeht, zeigt: Sie waren Teil einer narrativen Aneignung und gaben den Ereignissen des Ghetto-Aufstands einen Sinn, taten dies allerdings im Rahmen des Nazi-Narrativs, indem sie sie zur Wahrung des Gesichts als einen Sieg auslegten. Zudem erfüllten sie eine belehrende Funktion; sie warnten vor künftigen Aufständen und standen für eine zügige Zerstörung aller solcher Ghettos. Schließlich waren es Erinnerungsstücke, mittels derer man sich an der Erniedrigung der besiegten Widerstandskämpfer ergötzte, die Vernichtung der Juden feierte und für die bewusst das Bild eines Kindes gewählt wurde, wie um zu zeigen, wie weit man den Reflex des menschlichen Mitleids zugunsten der Hingabe an die nationale und rassenideologische Auslegung der Geschichte überwunden hatte (vgl. Raskin 2004: 54-56). Mit anderen Worten handelt es sich um ein Bild, dessen Zweck in der Rechtfertigung, nicht der Verurteilung des Holocaust liegt. Ein solches Bild zu betrachten bedeutet, die Position des fotografierenden Nazis einzunehmen, am nationalsozialistischen oder genozidalen Blick zu partizipieren (vgl. Hirsch 2002: 105-106) und, indem man die Welt buchstäblich mit seinen Augen sieht, zu riskieren, dies auch im übertragenen Sinne zu tun, das heißt, indirekt die Lust des Fotografen am Schrecken des Kindes im Angesicht der bevorstehenden Vernichtung zu teilen (vgl. Rapaport 1997). Folglich geht es Hirsch um das, was sie die »unangemessene Identifikation« nennt, bei der sich der Betrachter mit dem Op-
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fer identifiziert und es zu einer Verwischung von Alterität, Kontext, Spezifität, Geschichte und Verantwortung kommt. Während Raskin diese Kritik zur Kenntnis nimmt, betont er gleichzeitig, sich mit dieser Dimension des Bildes nicht auseinandersetzen zu wollen. Doch gerade diese Löschung der Alterität, des kulturell und geschichtlich Anderen, ist für die Anziehungskraft und die häufige Wiederverwertung des Bildes verantwortlich. Das Vergessen seiner Ursprünge ermöglicht es dem Bild, breite symbolische Bedeutung zu erlangen, zunächst jenseits des unmittelbaren Kontextes des Warschauer Ghettos, dann jenseits des Schicksals der Juden und schließlich jenseits des Zweiten Weltkrieges und der Verbrechen des Nazis überhaupt, wie Raskin durch seine Darstellung der kontroversen, wiederholten Verwendung des Bildes zur Propagierung des durch die Israelis verursachten Leids der Palästinenser verdeutlicht, angefangen bei einem portugiesischen Cartoon von 1982, über ein israelisches Theaterstück und schließlich im Zusammenhang mit den Fotografien des 12-jährigen Mohammed al-Dura während der Zweiten Intifada im Jahre 2000 (vgl. Raskin 2004: 162171). Für Hirsch liegt die Gefahr, dass die Identifikation des Betrachters mit dem Opfer »überaneignend« geraten könnte, er es also nicht schafft, sich der Distanz und der Differenz zu diesem Bild aus der Vergangenheit bewusst zu werden, zu einem großen Teil darin begründet, dass es sich um das Bild eines Kindes handelt. Gerade Bilder von Kindern lösen »vielfältige Projektionen und Identifikationen« aus, durch die der historische Kontext trivialisiert und simplifiziert wird, ein Problem, das durch häufige, entkontextualisierte Wiederholung gesteigert wird. Solche Projektionen können die erschütternde und disruptive emotionale Wirkung, die zur Herstellung eines kritischen Abstands notwendig ist, blockieren (vgl. Hirsch 1991). Man könnte gegen Hirsch argumentieren, dass eine Reproduktion dieses Bildes auch ohne die Wiederholung des genozidalen Blicks möglich wäre. Tatsächlich gesteht Hirsch diese Möglichkeit mit Verweis auf ein anderes Täter-Bild selbst ein: das Bild von der Erhängung der Minsker Partisanin Maša Bruskina, dessen Aneignung durch Nancy Spero in ihrer nach dem Opfer benannten Ausstellung von 1995 Hirsch als einen gelungenen Versuch erachtet, sich und den Betrachter vom Nazi-Blick zu befreien. Dies geschieht mittels reflexiver und kontextualisierender Strategien wie riesiger Bildüberschriften und der Erörterung der Natur des Nazi-Blicks durch die Nebeneinanderstellung des Bildes von Maša Bruskina mit einem pornografischen Bild, das bei einem Gestapo-Mann in der Tasche gefunden wurde (vgl. Hirsch 2002: 117-120). Während man den Standpunkt vertreten könnte, dass mit jedem Täter-Bild derart verfahren werden kann, erweist sich der Vergleich des Täter-Bildes vom Jungen aus dem Warschauer
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Ghetto mit einem fotografischem Bild einer anderen Art als aufschlussreich – einem, das von den sowjetischen Medien produziert wurde, um die von den Nazis in Charkiv verübten Verbrechen zu dokumentieren, wo im Dezember 1941 die einheimischen Juden ermordet und in Drobic’kij Jar, einem Massengrab am Rande der Stadt, vergraben wurden.
H OLOCAUST -B ILDER IN DER U D SSR Der im Oktober 1943 veröffentlichte Dokumentarfilm des ukrainischen Filmemachers Aleksandr Dovženko Der Kampf um unsere sowjetische Ukraine (Bitva za našu Sovetskuju Ukrainu) beinhaltet einen Abschnitt über die Befreiung Charkivs und die Enthüllung der von den Nazis in dieser Stadt verübten Kriegsverbrechen. Eine der eindrucksvollsten Sequenzen zeigt Dobrickij Jar, die Schlucht außerhalb von Charkiv, in welcher die Juden der Stadt kaltblütig ermordet und verscharrt wurden. Der Off-Kommentar dazu lautet: »die Faschisten erschossen 14.000 Bürger der Stadt«. Während man das ausgehobene Massengrab mit Reihen teilweise verwester Leichen von oben sieht, richtet sich eine Stimme an den Zuschauer (Abb. 2): »Schaut uns an, ihr, die ihr lebt, wendet euch nicht ab von unseren furchterregenden Gruben. Man kann uns nicht vergessen oder zum Schweigen bringen. Wir sind viele. Wir sind eine gewaltige Menge in der Ukraine! Vergesst uns nicht! Lasst Deutschland für unser Leid büßen!«
Die letzten Zeilen dieser Ansprache begleiten die Nahaufnahme eines in Drobickij Jar ausgegrabenen Frauenschädels, der so platziert ist, dass er den Zuschauer aus seinen leeren Augenhöhlen direkt anschaut (Abb.3). Dass es sich dabei um den Schädel einer Frau handelt, ist nur an den langen Haarsträhnen zu erkennen. Viele sowjetische Wochenschauen und Dokumentarfilme der Kriegszeit schreiben den Hinterbliebenen Worte zu, in seltenen Fällen werden sie darin interviewt, Dovženko aber lässt die Opfer, die nicht zum Schweigen gebracht oder vergessen werden können, selbst sprechen. Während der Aufruf zur Rache am Feind, der hier in »Deutschland« als Ganzes ausgemacht wird, zum Grundprinzip der sowjetischen Darstellungen der nationalsozialistischen Kriegsverbrechen gehört, ist das Ungewöhnliche an diesem Film, dass er solche Worte und Gedanken den Toten selbst in den Mund legt. Diese auffällige Geste lässt sich allein aus der Logik der Propaganda und der
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Notwendigkeit, den Zuschauer zum Handeln und zum erneuten Beitrag zum Kampf anzutreiben, nicht hinreichend erklären. Der Frauenschädel fungiert in erster Linie als das Sprachrohr der Gruben, der Massengräber, die überall in der Ukraine gefunden wurden. Seiner Bitte nachzukommen und ihn anzuschauen ist jedoch schier unmöglich, so grauenvoll ist seine verfaulte, aasige Erscheinung. Im Gegensatz zum Jungen aus dem Warschauer Ghetto, bei dem die Gewalt implizit und der Tod, wiewohl unvermeidlich, noch nicht eingetreten ist, ist bereits das Wichtigste, was wir über die Frau sagen können, gerade dass sie tot ist. Beim Bild aus dem Warschauer Ghetto hingegen ist das Gesicht des Jungen entscheidend. Herman Rapaport hat dieses Bild durch das Prisma der Philosophie Emmanuel Lévinas’ analysiert und dabei die Rolle des Gesichts für unser Ethikverständnis unterstrichen: Es spricht zu uns »von jenseits der Endlichkeit seiner Erscheinung und vom Jenseits seines Seins«. Es bezieht sich auf den Tod, ist jedoch vor dem Tod (vgl. Rapaport 1997: 216). Anders als beim Jungen aus dem Warschauer Ghetto fällt es uns sehr schwer, das Bild des verwesenden, gewaltversehrten Schädels anzusehen: Es ist nicht so sehr die Fotografie eines Gesichts als vielmehr die eines Schädels und wir erschrecken nicht vor dem, was kommt, sondern dem, was bereits geschehen ist. Die Tatsache, dass es sich hierbei um Kino, um eine Abfolge von bewegten Bildern und nicht um ein unbewegtes Bild handelt, ist wesentlich und legt umstandslos ein aktives Handeln als Reaktion nahe. Beim Schauen des Films muss unser Blick nicht lange auf dem Bild verweilen. Stattdessen bewegen wir uns vom Massengrab zu Leichengruppen und zu besagtem Schädel, bevor auch schon die nächste Sequenz kommt – der Zeugenbericht einer Widerstandskämpferin, die während der Besatzung im Gestapo-Gefängnis gefoltert wurde, und sodann die Darstellung der Siegesfeier und der Marsch weiteren Siegen entgegen. Karen Beckman und Jean Ma betonen die Hybridität und die gegenseitige Verflechtung der beiden Medien, insofern Kino abhängig vom unbewegten Bild ist und häufig auf dieses zurückgreift, während unbewegte Fotografie den Betrachter förmlich dazu einlädt, sich das Bild in Bewegung vorzustellen, zu versuchen, seine Statik zu überwinden (vgl. Beckman/Ma 2008). Die Einstellung mit dem Frauenschädel verweist in ihrer Statik auf eine solche Überschneidung der beiden Bildmedien, weil sie das Porträt eines toten, regungslosen Schädels ist, unbewegt wie eine Fotografie. Dovženkos Verwendung dieses porträthaften Bildes im Film ist der bewusste Versuch, die der fotografischen Optik innewohnende Tendenz, die Grenze zwischen Leben und Tod zu verhandeln, zu mobilisieren (vgl. Hirsch 2002: 106; Sontag 1979: 15).
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Wir sind angehalten, die Toten anzuschauen, doch gleichzeitig schauen sie auch uns an, wenden sich an uns, flehen uns an, nicht in Andacht zu verharren, sondern zu handeln. Der erwiderte Blick – ein Bild, das der Unterminierung der distanzierten, objektiven Zuschauerposition dient – hat hier eine starke, aufwühlende Wirkung. Der unmögliche tote Zeuge, der für die Frage der Bezeugung des Holocaust – das Ereignis, von dem es heißt, es sei ohne Zeugen – zentral ist, wird zum Sprechen gebracht. Jedoch ist dieser Akt der Zuschaueradressierung gerade hinsichtlich einer möglichen Berücksichtigung des Bildes als einer Darstellung des Holocaust hochproblematisch. Das Problem bei Dovženkos Film und den sowjetischen Dokumentationen der Kriegszeit überhaupt ist, dass uns wenig bis nichts über die Toten bekannt ist, in diesem Fall über die Frau, deren Schädel zu uns spricht. Ihre Worte sind von Dovženko verfasst und von einem professionellen Sprecher gesprochen. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie womöglich eine ganz andere Geschichte erzählt und ihr Tonfall wäre sicherlich ein anderer gewesen. Und obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach Jüdin war, wie die allermeisten Opfer von Dobrickij Jar, muss sie ein Narrativ des ukrainischen Leids artikulieren. Dovženko unterstreicht also, in einer weiteren für den sowjetischen Dokumentarfilm untypischen Geste, die ukrainische Identität der Toten, indem er sie – unter Verwendung der 1. Person Plural »wir« – sagen lässt, wie viele von ihnen in solchen »Gruben« (jamy) in der Ukraine liegen. Zwar gab es in der Ukraine viele Tote, jedoch wird mit dem Wort »wir« die Tatsache unterschlagen und verdreht, dass die meisten Opfer von Dobrickij Jar, über 10.000 von 14.000, ermordet wurden, weil sie Juden, nicht weil sie Ukrainer waren, und dass diese Gruben, die überall in der Ukraine zu finden sind, größtenteils Juden füllten, die 1941 erschossen worden waren. Durch die Kombination aus einem gut komponierten Hintergrundkommentar und den schockierenden Bildern der ermordeten Charkiver Juden vermittelt Dovženko dem Zuschauer einen wirkmächtigen Eindruck von den enormen Ausmaßen der nationalsozialistischen Massenmorde in der Sowjetunion. Doch die Benennung der Opfer ist irreführend, denn sie impliziert, dass es sich um ethnische Ukrainer handelt, derweil die meisten von ihnen in Wirklichkeit Juden sind. Diese Betonung des Ukrainischen widerspricht, ohne dadurch weniger verzerrend zu sein, der Norm der sowjetischen Holocaustdarstellungen in der UdSSR, in der die Medien die Gräueltaten der Nazis als gegen die sowjetische Bevölkerung als Ganzes gerichtet universalisierten. Obwohl die Juden am stärksten verfolgt wurden, erkannten die Sowjets sie nicht als eigenständige und besondere Opfergruppe an, weshalb Bilder, auf denen Gräueltaten gegen die jüdische Bevölkerung zu sehen sind, auch nicht als solche ausgewiesen wurden. Ein weiteres Beispiel dafür ist Dmitrij Bal’termanc’ berühmte Fotografie von 1942,
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auf der eine trauernde Frau in Kerč zu sehen ist, wo die Nazis über 7000 sowjetische Juden ermordeten. Wie David Shneer gezeigt hat, wurde diese Fotografie 1963 in der tschechischen Zeitschrift Praha-Moskva und 1965 im Ogonëk unter dem neuen Titel Leid wiederveröffentlicht, der es ermöglichte, in das Bild der trauernden Frau mit Kopftuch, die sich über die Leiche eines geliebten Menschen beugt, eine universelle Botschaft von Verlust und vom Schrecken des Krieges hineinzulesen. Weder im Krieg noch in den 1960er Jahren ließ die Betitelung des Bildes Rückschlüsse darauf zu, dass es im Zusammenhang mit dem Holocaust steht und dass die Opfer Juden waren. In jüngerer Zeit jedoch wurde dies und die Tatsache, dass Bal’termanc selbst Jude war, in Shneers Buch (vgl. Shneer 2011: 224-224) herausgehoben. Auch dem kürzlich eröffneten Jüdischen Museum und Zentrum für Toleranz in Moskau dient dieses Bild zur Darstellung des Massenmords der Nazis an den sowjetischen Juden. Indem man solche Bilder auf diese Weise neu betitelt, kann man sie die Geschichte nicht nur des sowjetischen Martyriums, sondern des jüdischen Leids, des Holocaust erzählen lassen. Auch aufgrund solcher Ambiguitäten wie hinsichtlich der Identität der Opfer begegnet man sowjetischen Bildern mit weitaus mehr Vorsicht und Misstrauen als denen der Nazis: Letztere verhehlten ihre Absicht nicht, die Juden töten zu wollen, und entsprechend offen wird dieses Thema auch in ihren Bildern behandelt. Ganz abgesehen von ihrer Ambiguität waren die sowjetischen Bilder Propagandawerke eines Staates, der für seine Brutalität, seine Lügen und Verschleierungen bekannt war. Ihren Behauptungen über die Gräueltaten der Nazis konnte man daher nicht trauen: Schließlich drehten die Sowjets sogar einen Film über das vom NKVD in Katyn verübte Massaker, in dem sie die Schuld dafür den Nazis zuschoben. Diese Filme stehen unter dem Verdacht, nie das zu zeigen, was der Hintergrundkommentar behauptet und alles inszeniert und fingiert zu haben: Dass die sowjetische Wochenschau und Kriegsfotografie eine einzige Fälschung sei, ist oft die Grundannahme, die diesem Material entgegengebracht wird. Doch das ist ein grober Ansatz: Auch wenn sie uns oft täuschen – weil zum Beispiel Leichen für eine effektvollere Aufnahme verrückt oder positioniert wurden, weil befreite Auschwitz-Gefangene zurückbestellt wurden, um das Leben in den Barracken nachzustellen, weil Szenen arrangiert wurden, in denen Verwandte mit den Leichen ihrer Angehörigen konfrontiert werden, um mitleiderregende Gefühlsausbrüche einzufangen –, unterscheidet sich das Problem dieser Filme grundsätzlich nicht von den Fragen der Voreingenommenheit, Autorschaft und Authentizität, mit denen Historiker regelmäßig in Textdokumenten konfrontiert sind. Man kann diesen Verzerrungen beikommen, indem man ande-
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re Quellen zu denselben Ereignissen sowie zu Herstellung und Vertrieb der Filme heranzieht: sekundäre Quellen, wie historische Darstellungen dieser Ereignisse oder Primärquellen, wie Memoiren, Briefe, veröffentlichte Zeitungsartikel oder Archivdokumente. Auch der Vergleich mit unveröffentlichtem Bildmaterial, das es nicht in die endgültigen, offiziellen Filmversionen geschafft hat, kann fruchtbar sein. All diese Text- und visuellen Quellen ermöglichen es uns, solche sowjetischen Filme als Teil der authentischen, verlässlichen visuellen Aufzeichnung der nationalsozialistischen Gräueltaten auszuwerten. Trotz ihres Bestrebens, ein Narrativ der ethnisch unterschiedslosen Verfolgung der sowjetischen Bürger zu präsentieren, liefern sie – unbeabsichtigt – Beweise für den Holocaust, sie sind, wie es der Historiker Marc Bloch formuliert, »Zeugen ungeachtet ihrer selbst«. Allerdings sprechen sie nur, wenn sie »richtig befragt werden« (Bloch 1954: 61-61). Vergleichbar dazu hat sich George Didi-Huberman mit der Bedeutung von Freuds Denken für die Bildanalyse auseinandergesetzt: Die psychoanalytische Betrachtungsweise von Bildern als traumähnliche Verzerrungen, die nicht minder durch Auslassungen und »Schweigen« charakterisiert sind als durch das, was explizit gezeigt wird, sollten seiner Meinung nach für unser Verständnis von den Möglichkeiten von Bildern und von Darstellung generell zentral bleiben (Didi-Huberman 2005: 144). Auch wenn Hirsch diese Quellen nicht zur Stützung ihrer Argumentation anführt, räumt sie de facto ein, dass die Aussagen solcher Bilder sich nicht in den Absichten ihrer Urheber erschöpfen, so wie bei den Täterbildern von Maša Bruskina. Und doch gehören sowjetische Bilder zweifelsohne in eine andere Kategorie als die der Nazis: Sie wurden aufgenommen, um die nationalsozialistischen Gräueltaten mit einem quasi-legalen Zweck aufzuzeichnen und um die sowjetische Bevölkerung zur Rache anzustacheln. Letzterer Aspekt ist angesichts der oft brutalen und willkürlichen Vergeltung der sowjetischen Soldaten an der deutschen Bevölkerung ethisch natürlich fragwürdig: Die Bildüberschriften und ihre Botschaften von Hass und Vergeltung, die vor dem Hintergrund des Völkermords der Nazis entworfen wurden, bedürfen heute einer äußerst sorgfältigen historischen Analyse. Darin wird der extrem emotionale Charakter der sowjetischen Bilder deutlich – mögen sie teilweise auch als Beweismaterial fungieren, was sie am meisten auszeichnet, ist ihr Pathos. Während das ethische Dilemma der Täterbilder darin besteht, dass der Fotograf oder Kameramann und somit auch der Betrachter eingeladen sind, an der Erniedrigung des Opfers zu partizipieren, es also eine emotionale Kluft zwischen den Fotografierten und den Fotografierenden gibt, versetzen uns die sowjetischen Bilder in die Position von jemandem, der den Hinterbliebenen oder Verstorbenen nahe steht, eines Landsmanns, der aufgerufen ist, den Verlust zu vergelten.
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Einen Einfluss auf den Betrachter hat auch die ausgestellte Nähe der Mordstätten zu Dörfern und Städten. In Mstislavl’ und Rostov zum Beispiel liegen sie inmitten einer nationalen Landschaft, in einem Raum, der, so Homi K. Bhabha (vgl. 1994: 201, 205), oft als Metapher für die nationale Identität verwendet wird. Die Konzentrations- und Todeslager hingegen wurden als isotopische, einheitliche Räume dargestellt, als Orte ohne Geologie oder Topografie, mit identischen gleichmäßigen Baracken (vgl. Charleswoth 2004: 218). Sie scheinen zu keinem bestimmten Ort oder Land zu gehören, sondern, wie Hannah Arendt bemerkt, irgendwie außerhalb des bekannten Raumes zu stehen (vgl. Arendt 1976: 438). Anstelle des universellen Raumes und Bildes eines Lagers – ein internationales Symbol für die Verbrechen der Nazis – zeigen uns die sowjetischen Bilder Massengräber, die in eine nationale physische und mentale Landschaft eingebettet sind, aus der sie nicht ohne Weiteres herausgelöst werden können. Adressieren uns solche Bilder darüber hinaus als sowjetische Zuschauer, versinnbildlichen sie geradezu die Idee, dass unterschiedliche Texte von unterschiedlichen »textuellen Gemeinschaften«, wie James Wertsch (2002: 27) sie nennt, ausgesucht werden, um sich an dieselben Ereignisse auf unterschiedliche Weise zu erinnern, was zur Konstruktion unterschiedlicher kultureller Gedächtnisse führt. Westeuropäer, Israelis und Amerikaner tendieren geschlossen dazu, sich auf Bilder der Lagerbefreiungen durch die Amerikaner oder Briten zu konzentrieren, worin die Opferrolle der Juden betont wird, aber auch der Beitrag der Demokratien zum Sturz des Nationalsozialismus, darin bestehend, den Verbrechen des Regimes ein Ende gesetzt und in Europa ein Zeitalter der Menschenrechte und der Demokratie eingeläutet zu haben. Im Gegensatz dazu stellten die Sowjets und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Russen Bilder von Massengräbern pauschal neben Bilder des explizit sowjetischen oder slawischen Leids, um implizit Opfertum als Märtyrertum zu russifizieren. Ein Beispiel hierfür ist der Film Filmdokumente der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Invasoren (Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov), den die Sowjets neben anderen Filmen am Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zeigten. Darin nimmt die Litanei der nationalsozialistischen Verbrechen in russischen Dörfern und Städten ihren Anfang, bevor sie auf andere Republiken der Sowjetunion und schließlich auf Polen und Deutschland übergreift. Während dies der Reihenfolge entspricht, in welcher die Rote Armee Gräueltaten aufdeckte, impliziert es auch eine Leidenshierarchie, an deren Spitze Russland steht. Entsprechend werden auch Bilder des jüdischen Leids in den Dienst der hegemonialen Darstellung des Krieges gestellt. In den sowjetischen und später russi-
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schen Breitenmedien wurde ein solch implizit russisches Martyrium üblicherweise mit einem sichtbar russischen Widerstand und Sieg verknüpft. Unterschiedliche Bilder tragen hier maßgeblich zur Artikulierung unterschiedlicher Interpretationen bei, die ihrerseits mit der Identität der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft verbunden sind. Judith Butler zufolge wird die Rahmung dessen, was wert oder nicht wert ist, betrauert zu werden, politisch mitbestimmt, da die Reaktion des Betrachters auf Kriegs- und Gräuelbilder durch »eine ganz bestimmte Art der selektiven Rahmung [framing] von Gewalt« beeinflusst wird (Butler 2010: 9). Darüber hinaus ist Trauer an sich kulturspezifisch: Während also, so Hirsch (2002), im westlichen Kontext die Identifikation mit den Opfern des Holocaust mit kulturellem Prestige einhergeht, trifft das für den sowjetischen Kontext nicht zu, in dem, ganz ungeachtet der Frage des Antisemitismus, die angesehenere Kategorie die des Kriegers ist, der die Verbrechen, die gegen diese Opfer verübt wurden, rächt. Man fühlt sich ihnen verbunden, identifiziert sich allerdings nicht mit ihnen. Hinzu kommt der geschlechtliche Aspekt: Das Opfer kann weiblich sein, der Rächer aber ist männlich. Im sowjetischen und russischen Kontext spielen also Bilder, die den Sieg feiern, wie das Hissen der Siegesflagge über dem Reichstag, die Inszenierung der Vergeltung, eine wichtigere Rolle als Bilder, die die Erinnerung an den Krieg formen und am Leben halten. Aus diesem Grund genießt die Frau aus Charkiv, im Gegensatz zum Jungen aus dem Warschauer Ghetto, keine universelle Geltung als ein Symbol des Holocaust. Zudem lässt die Tatsache, dass diese Filme das starke emotionale Moment ausnutzen, um Hass und Vergeltungslust gegen die Nazis oder gar die Deutschen insgesamt zu schüren, so wie es Dovženkos Dokumentation tut, sie auf den heutigen Zuschauer äußerst befremdlich wirken: Die emotionale Dimension des Mediums Film, die ihn als eine historische Quelle, die mehr Reize anzusprechen vermag als ein Schriftstück, attraktiv macht, bindet ihn gleichzeitig an seine Epoche und ihre emotionalen Extremen, hinter die zu schauen und die zu überwinden schwieriger fällt als bei Textquellen. Doch haben wir uns einmal aus dem emotionalen Sog der Bilder befreit und die Barriere ihrer offiziellen Überschriften überwunden, sie aus ihren spezifisch sowjetischen Bedingungen der Herstellung und Rezeption gelöst, können wir darangehen, sie nach ihren ungewollten Mitteilungen, nach ihren Auslassungen und nach ihrem Schweigen zu befragen. Im Zuge dieses Kreuzverhörs kann der in der Holocaust-Forschung zu verzeichnende Wandel, der auch damit zusammenhängt, dass Historiker mit der äußert erkenntnisreichen Auswertung der Archive in Russland und der ehemaligen Sowjetunion begonnen haben, nun auch im Bereich des Films und der visuellen Medien Einzug halten: Bilder wie das
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der Frau aus Charkiv erweisen sich als bedeutende Beiträge zur Geschichte des Holocaust und der Erinnerung an diesen, da sie die visuelle Bandbreite der Materialien, mittels derer wir dieses Ereignis darstellen können, bereichernd erweitern. Sie nehmen ihren Platz nicht nur an der Seite von Täterbildern und -filmen ein, sondern auch neben zwei weiteren Bildkategorien: Das sind zum einen die Aufnahmen der anderen Alliierten, die Bilder der Konzentrationslager (Brink 2000; Zelizer 1998). Zum anderen die Bilder, die von den Opfern selbst stammen, wie zum Beispiel die vier Auschwitz-Fotografien, die das Sonderkommando des Krematoriums V im August 1944 machte und die in Frankreich zum Gegenstand einer heftigen Polemik wurden (Didi-Huberman 2008: 62-65). In der Nachkriegszeit galt die Meinung, dass Gräuelbilder weder lehrreich seien, noch uns etwas mitteilen würden, was noch nicht bekannt sei (vgl. Sontag 2003: 82). Die sowjetischen Bilder strafen frühere Annahmen Lügen. Sie wurden von den ideologischen Feinden des Westens mit ihren eigenen Zielsetzungen gerahmt, weshalb sie während des Kalten Krieges ausgeklammert und ignoriert wurden. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Status quo der Nachkriegszeit sind die festen Raster, durch die man den Krieg und den Holocaust betrachtete, ins Wanken geraten, weil Bilder wie diese aus den Archiven und dem Abseits wieder ans Licht getreten sind und auf eine Neubewertung drängen und weil die sowjetische Sicht des Krieges durch das westliche Holocaustbild unterminiert wird und die russischen Historiker Schwierigkeiten haben, die Unteilbarkeit der 27 Millionen Toten gegen diese Kritik zu verteidigen, zumindest auf internationalem Parkett. Doch, so Andreas Huyssen (1995: 86), »keine Utopie stirbt jemals allein. Sie nimmt ihre Gegenutopie mit sich«. So wird auch die westliche Version des Krieges als ein Triumph der Demokratie, und der Aufdeckung des Holocaust und der strafrechtlichen Verfolgung der Täter als ein zentraler Bestandteil davon, durch den in den Blickpunkt rückenden Holocaust in der Sowjetunion unterminiert. Denn die Stalinistische Diktatur, wiewohl in vielerlei Hinsicht genauso furchtbar wie die nationalsozialistische, spielte bei der Enthüllung und der Verurteilung des Holocaust eine tragende Rolle. Diese Verkomplizierung des Selbstbildes des Westens ist unbequem, aber notwendig. Als Historiker, als Wissenschaftler ist es nicht unsere Aufgabe, in Komfort zu wiegen. Die sowjetischen Filmaufnahmen des Holocaust sind sicherlich unbequem, sowohl in intellektueller als auch ästhetischer Hinsicht. Sie fallen womöglich auf uns zurück und sind gerade deshalb umso wertvoller. Übersetzung aus dem Englischen: Paul Löwenstein
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ABBILDUNGEN
Abb. 1: Fotografie von Jürgen Stroop. Aus dem Stroop-Bericht von 1943
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Abb. 2 (aus: Der Kampf um unsere sowjetische Ukraine, 1943, Regie: A. Dovženko1)
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Abb. 3 (aus: Der Kampf um unsere sowjetische Ukraine, 1943, Regie: A. Dovženko)
Bilder, die bleiben, Helden die gehen Wanda Jakubowskas Die letzte Etappe1 M AGDALENA S ARYUSZ -W OLSKA
Der polnische Film Die letzte Etappe (pl. Ostatni etap) von Wanda Jakubowska wurde im Frühjahr und im Sommer 1947 gedreht und am 28. März 1948 in Warschau uraufgeführt. Er gilt weltweit als die erste filmische Darstellung des Alltags im Konzentrationslager, denn: »Generell wussten die Deutschen sehr gut, dass von ihren Verbrechen keine Bilder erhalten bleiben sollten. Deswegen existiert a b s o l u t k e i n Filmmaterial von den unendlich langen Apells, den Transporten in die Gaskammern, dem Herauszerren der Millionen Zivilisten aus den Zügen und ihrer Selektion, bei der entschieden wurde, wer sofort sterben soll, und wer erst, nachdem er ins Lagersystem der Sklavenarbeit eingegliedert worden war.« (Liebman 2010: 96)2
1
Der Aufsatz ist eine ergänzte und überarbeitete Fassung meines Artikels, der unter dem Titel »Der erste Holocaust-Spielfilm. Wanda Jakubowskas Die letzte Etappe« (Saryusz-Wolska 2012) sowie – in der polnischen Fassung – in dem Band »Pamięć Shoah. Kulturowe reprezentacje i praktyki upamiętnienia« (Majewski/ZeidlerJaniszewska 2011) erschienen ist.
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Bei dem Text von Liebman handelt es sich um die Druckfassung seines Vortrags beim Symposium »Zobaczyć Gorgonę. Holocaust, nazizm a problem obrazowania« (»Gorgona erblicken. Holocaust, Nationalsozialismus und das Problem der bildlichen Repräsentation«), das am 11. und 12. September 2009 anlässlich des Vier-KulturenFestivals in Łódź stattfand.
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Jakubowska, selbst Auschwitz- und Ravensbrück-Überlebende, stützte sich bei den Dreharbeiten auf eigene Erfahrungen sowie auf Zeitzeugenberichte und nannte das Lager in ihrem Film beim Namen: Auschwitz. Der Film widersetzt sich einer einfachen Zusammenfassung, denn er handelt von einem kollektiven Helden – den weiblichen Häftlingen in Auschwitz, allen voran denjenigen, die konspirativ tätig waren, aber auch Aufseher und Aufseherinnen sowie Kapos werden dargestellt. Der Film ist deutlich in zwei Teile geteilt. Der erste Teil konzentriert sich auf Bilder aus dem KZ-Alltag und aus dem Krankenbau (dem Revier). Dort arbeitet die russische Ärztin Eugenia, die von den restlichen Figuren als Vorbild wahrgenommen wird. Im Zentrum des zweiten Teils steht die konspirative Tätigkeit einer Gruppe von Protagonistinnen unterschiedlicher Herkunft. Unter ihnen befindet sich die polnische Jüdin Marta Weiss, die man eventuell als Hauptfigur des Films bezeichnen könnte. Da sie fließend Deutsch spricht, beschäftigt sie der Lagerkommandant als Dolmetscherin. Marta flieht (mit den Liquidierungsplänen des Kommandanten) aus dem KZ, wird gefangen und zum Tode durch Erhängen verurteilt. Auf der Flucht begleitet sie Tadeusz, dessen Rolle nicht eindeutig zu bestimmen ist. Jakubowska selbst beschreibt diesen Erzählstrang als »Liebesgeschichte« (»Dwa debiuty …« 1998: 25) und viele Rezensenten sahen in Tadeusz Martas Verlobten. Der Film suggeriert jedoch, dass die Romanze der beiden lediglich als Motiv für ihre Flucht dienen soll, um die Deutschen von ihrer wahren Mission abzulenken. Auch meint Jakubowska, dass Marta im Film gerettet wird (ebd.), doch die Schlussszene, in der Marta in den Armen einer Genossin liegend sagt: »Lasst nicht zu, dass Auschwitz sich wiederholt«, kann als Darstellung ihres Todes verstanden werden. Zwar existierte in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre bereits eine Fülle von Fotografien und dokumentarischen Filmaufnahmen von Konzentrationslagern, aufgenommen in der Regel von Soldaten der alliierten Armeen während der Befreiungen der KZs,3 bekannt als atrocity photos und atrocity films,4 doch nie zuvor sind sie filmisch fiktionalisiert worden. Jakubowskas Werk zeigt also keine unbekannten Fakten – ganz im Gegenteil, im lebendigen Gedächtnis der Polen, knapp drei Jahre nach dem Krieg, wurde das Wort Oświęcim (Auschwitz) eindeutig mit nationalsozialistischen Verbrechen assoziiert, ein Thema, das gerade der polnische Film eröffnet hatte: 1944 drehten die Filmtruppen der polnischen
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Mehr dazu u.a. bei Barnouw 1996; Zelizer 1998; Knoch 2001; Heimann 2005; We-
4
Mehr zu diesem Begriff bei Weckel 2012: 11ff.
ckel 2012.
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Armee, die zusammen mit der Roten Armee Polen befreiten, den Dokumentarfilm Majdanek: Friedhof Europas (pl. Majdanek: cmentarzysko Europy). Die letzte Etappe wurde bereits ausführlich untersucht und besprochen, und zwar sowohl von polnischen5 als auch ausländischen6 Autoren. In der deutschsprachigen Fachliteratur wurde der Film bisher allerdings nur selten erwähnt.7 Ich möchte in diesem Aufsatz Jakubowskas Inszenierungsstrategien und dem von ihr geschaffenen Bild der Holocaustopfer nachgehen, wobei bei der Analyse des Films auch die gesellschaftspolitische Situation in Polen der späten 1940er Jahre, die die Wahrnehmung des Krieges und der nationalsozialistischen Verbrechen beeinflusste, berücksichtigt werden muss. Wichtig zu bedenken ist zudem der Umstand, dass die Wissenschaftssprache zwar im Laufe der letzten Jahrzehnte einen Diskurs hervorgebracht hat, der es uns ermöglicht, das Unbeschreibbare zu beschreiben, dieser Diskurs unmittelbar nach dem Krieg jedoch fehlte, weshalb die Rolle der Rezensionen und Besprechungen von Die letzte Etappe bei der Mitgestaltung der Sprache zur Beschreibung der Judenvernichtung in den Vordergrund rückt. Das Geflecht aus ideologischen, ästhetischen und ethischen Problemen, die von Die letzte Etappe aufgeworfen wurden, führte dazu, dass sich sowohl die wichtigsten polnischen Intellektuellen dieser Zeit als auch ausländische Autoren (z.B. Béla Balázs, André Bazin, Wsewolod Pudowkin oder Georges Sadoul) zum Film äußerten.8 In Polen wurde er gefeiert und auch im Ausland war er erfolgreich. Auch die Vorstellungen im sowjetischen Sektor Berlins sollen ein Erfolg gewesen sein, wobei anzunehmen ist, dass es sich dabei um organisierte Vorführungen handelte.9 In Westdeutschland stieß der Film auf das Interesse der Presse10 und insbesondere der ›Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes‹.11
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Vgl. Madej 1998; 2000; 2002; Haltof 2012.
6
Vgl. Liebman 1996; Liebman/Quart 1997; Liebman 2008; 2010; Loewy 2004.
7
Vgl. u.a. Müller 2006; Heimann 2005: 23-24, 30-31; Saryusz-Wolska 2012.
8
Angaben nach dem bibliografischen Verzeichnis bei Jakubowska 1955b: 146-149.
9
Landesarchiv Berlin C Rep. 120/2420, Bl. 146.
10 Vgl. u.a. die Beiträge zu den Dreharbeiten auf der Titelseite der Frauenzeitschrift Sie vom 23. November 1947 und im Filmpost-Magazin 1948 (1), S. 36-37. 11 Vgl. u.a. die Materialien zur VVN-Ausstellung Kampf und Opfer, die 1949 in der Britischen Besatzungszone gezeigt wurde sowie einen Kalender der VVN aus dem Jahr 1949 (Abbildung zum November), Bundesarchiv SAPMO BY 55/V 279/13.
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Z UR E NTSTEHUNG
DES
F ILMS
Erste filmische Erfahrungen sammelte Jakubowska bereits vor dem Krieg. Sie war Mitglied des linken Verbandes Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego START (Gesellschaft der Liebhaber des künstlerischen Films), dessen Vertreter – u.a. Aleksander Ford und Jerzy Bossak – nach 1945 den Auftrag erhielten, die polnische Kinematografie wiederaufzubauen. Die Idee, einen Film über die Grausamkeiten des KZs zu drehen, reifte in ihr während ihrer Zeit im Warschauer Gefängnis Pawiak und in Auschwitz, wo sie der inhaftierten deutschen Kommunistin Gerda Schneider begegnet war. Nachdem sie noch im Lager die Grundidee diskutiert hatten, schrieben sie nach Kriegsende gemeinsam das Drehbuch. Um die Zulassung des Drehbuchs und die Dreharbeiten zu Die letzte Etappe ranken sich zahlreiche Legenden, von denen die meisten sich heute nicht mehr verifizieren lassen. Jakubowska selbst stellte in zahlreichen Interviews die Vorarbeiten zum Dreh in sehr zwiespältigem Licht dar. Mehrmals beschuldigte sie ihren ehemaligen Kollegen vom START-Verband, Aleksander Ford, den damaligen Leiter des staatlichen Filmproduktionsunternehmens Film Polski und Koautor des Films Majdanek: Friedhof Europas, die Abschlussarbeiten am Drehbuch absichtlich erschwert zu haben. So berichtete sie über Ford: »Er war gierig nach Themen. Wenn jemand mit einer guten Idee zu Ford kam, nahm dieser ihm das Thema weg. Erst an mir hat er sich die Finger verbrannt …« (»Dwa debiuty …« 1998: 19). Auch berichtete sie wiederholt davon, dass ihr anderer Freund aus der Vorkriegszeit, Jerzy Bossak, jetzt ebenfalls hochpositionierter Mitarbeiter von Film Polski und Mitwirkender bei Majdanek, nach Durchsicht des Drehbuchs angemerkt haben soll, es sei gut, aber für »Fritz Lang, Wilhelm Pabst, John Ford, und nicht für eine Jakubowska!« (Madej 1998: 14) Das Drehbuch wurde mehrfach überarbeitet,12 wobei es mindestens vier verschiedene Filmversionen gibt.13 Bekannt ist auch, dass letztendlich Parteigenos-
12 Änderungen in weiteren Arbeitsphasen bespricht Hanno Loewy 2004. 13 Ich verwende eine DVD-Version (die einzige zugängliche Version erschien 2009 in den Vereinigten Staaten mit dem Titel The Last Stage, obwohl der Film 1949 dort als The Last Stop gezeigt wurde) mit einer Länge von 105 Min. Im Fernsehen (auf den Kanälen Kino Polska und TVP) wurde eine 104-minütige Version ausgestrahlt, die höchstwahrscheinlich mit der DVD-Ausgabe identisch ist. Nach Stuart Liebman (1996: 62) kursierten in den Vereinigten Staaten zwei Versionen mit einer Dauer von 110 Min. bzw. 121 Min. Die meisten Analysen englischsprachiger Autoren (Stuart Liebman, Hanno Loewy und Annette Insdorf) stützen sich auf eine Kopie des Mu-
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sen aus der Sowjetunion Jakubowska dabei geholfen haben, das Drehbuch zur Produktion zu bringen.14 Aus den Erzählungen Jakubowskas wird deutlich, dass die Gründe, warum ihre polnischen Kollegen ihren Enthusiasmus bezüglich des geplanten Films nicht teilten, eher ästhetischer und ethischer Natur waren (kann ein Zuschauer den Anblick von Auschwitz auf der Leinwand ertragen?), während ihre sowjetischen Kollegen sie aus ideologischen Gründen unterstützten (der Film stellt Kommunistinnen positiv dar, preist die Rote Armee und zeigt eine geradezu fromme Verehrung Stalins durch einige der weiblichen Figuren). Erwähnenswert ist, dass Ford auf Jakubowska Druck ausübte, den Film in Koproduktion mit der Deutschen Film AG (DEFA) zu drehen. Er schickte das Exposé an den damaligen Chefdramaturgen der DEFA, Georg C. Klaren, den Jakubowska allerdings – zu Unrecht – als »faschistischen Drehbuchautor«15 bezeichnete und mit dem sie, wie sie es selbst schilderte, jegliche Zusammenarbeit verweigerte. Aus den erhaltenen Dokumenten geht jedoch hervor, dass es Klaren war, der das Angebot ablehnte. Er meinte, der Zeitpunkt sei noch zu früh, um einen solchen Film zu drehen. Darüber hinaus schrieb er, dass man »Millionenopfer der KZs nicht gerade durch eine Darstellung von geschminkten Komparsen ehrt. Wenn jedoch eine ausländische Produktion dieses geschmackliche Risiko eingehen will, so können wir nichts dagegen einwenden.«16 Die Filmhandlung stützt sich teilweise auf authentische, wenn auch den Bedürfnissen des Drehbuchs stark angepasste Geschehnisse in Auschwitz, die Figuren sind von realen Mitgliedern des kommunistischen Widerstands, Kapos und Aufseherinnen inspiriert. Nach Jakubowska sind die Protagonistinnen zwar »fiktiv, dennoch aber streng nach authentischen Vorbildern konstruiert.« (Jakubowska 1955a: 16) Für viele Zuschauer war die fiktive Ebene jedoch problematisch. Sie erkannten konkrete Personen und Ereignisse wieder – so zum Beispiel die Geschichte, die als Vorlage für Martas Handlungsstrang diente. Der Filmkritiker und Auschwitz-Überlebende Henryk Korotyński erläuterte dazu:
seum of Modern Art in New York, bei der es sich vermutlich um eine der beiden Versionen handelt, von denen Liebman spricht. Hanno Loewy (2004: 193) verweist zudem auf eine Kopie im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, deren Ende ganz anders geschnitten ist – dort wird das Lager von sowjetischen Panzern befreit. 14 Vgl. Jakubowska 1951; Madej 1998; »Dwa debiuty …« 1998. 15 Madej 1998: 16. Tatsächlich hatte er nur am Drehbuch des recht harmlosen UFAFilms Dr. Crippen an Bord (1942, Regie: Erich Engels) mitgearbeitet, wobei sein Name nicht einmal im Vorspann erwähnt wird. 16 Gutachten. Drehbuch des polnischen KZ-Films, 26.09.1946. Bundesarchiv, Bestand DR 117. Ich danke Herrn Ralf Schenk für den Einblick in dieses Dokument.
234 | M AGDALENA S ARYUSZ -W OLSKA »1944 war das ganze Lager durch die Nachricht elektrisiert, dass ein Liebespaar – eine Jüdin und ein Pole – aus dem KZ geflohen seien. Sie war, soweit ich mich richtig erinnere, nicht dolmeczerka (Dolmetscherin), sondern lauferka (Läuferin). Sie floh in der Uniform einer SS-Angehörigen. Beide wurden – wie ich hörte – nach einigen Wochen in Bielsko gestellt. Marta schnitt sich die Pulsadern auf, als sie zum Galgen ging. Sie hat sich allgemein heldenhaft verhalten.« (Korotyński 1948)
Marta hieß in Wirklichkeit Mala Zimetbaum, ihr möglicher Verlobter Edward Galiński (Madej 2000: 27). Die Einzelheiten ihrer Flucht sind nicht ganz klar, da die Geschichte im Lager mündlich weitergegeben und so verzerrt wurde. Die Figuren der Ärztin Eugenia, der Kapo Elza, der Oberaufseherin Mandel und der Pseudoärztin Lalunia entstammen ebenfalls der KZ-Wirklichkeit (Jakubowska 1955b: 16-17), während in anderen Figuren »die Züge von zwei oder drei Personen zusammenflossen« (ebd.: 17) – wie es Jakubowska selbst zum Ausdruck brachte. Alina Madej ging diesen Verbindungen nach und konnte den Filmfiguren konkrete Namen zuordnen (Madej 2000: 26-27). Aus heutiger Perspektive ist ein solches Vorgehen, das den Quellenwert des Films herausarbeitet, plausibel. Doch im Kontext des damaligen »Filmbewusstseins« 17 musste die Verwendung realer Personen als Matrize für fiktive Gestalten Kontroversen hervorrufen, und letztendlich war sie auch einer der Gründe für die mehrfachen Änderungen im Drehbuch (vgl. Loewy 2004). Die Handlung des Films ist eng mit der persönlichen Lagererfahrung der Regisseurin verbunden. Als Kommunistin kam sie 1943 vom Warschauer Gefängnis Pawiak nach Auschwitz.18 Sie meldete sich als Fotografin zur Arbeit und wurde in das Auschwitzer Außenlager Rajsko verlegt, wo sie im Rahmen nationalsozialistischer Forschungsarbeiten Pflanzen fotografierte.
17 Ich verwende hier den Begriff des polnischen Filmhistorikers Tadeusz Lubelski (1992: 79). 18 Das Kriegsschicksal Jakubowskas wird in der Literatur (u.a. Mazierska 2001: 224) und in ihren eigenen Interviews unterschiedlich dargestellt. Liebman klärt die Widersprüche auf: Jakubowska wurde im Oktober 1942 verhaftet und im Pawiak inhaftiert. Einige Monate später, 1943, wurde sie nach Auschwitz gebracht, danach nach Ravensbrück, wo sie das Kriegsende erlebte. Vgl. dazu Liebman 2008: 196. Die Letzte Etappe enthält übrigens eine Szene, in der der Abtransport der Kommunistinnen aus dem Pawiak gezeigt wird. Sie versichern den verbleibenden Gefangenen, dass »Warschau sich hält« (»Warszawa się trzyma«), was auf den Warschauer Aufstand im Sommer 1944 zu beziehen ist.
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Rajsko war kein gewöhnliches Konzentrationslager, es war ein Frauenlager »wissenschaftlicher« Ausrichtung, in dem gut ausgebildete Frauen aus ganz Europa arbeiteten. »Sie schliefen einzeln, in Baracken, die im Winter geheizt wurden, in dreistöckigen Betten mit Strohsäcken, Bettwäsche und Decken. Dreimal täglich erhielten sie Essen, das mit Gemüse aus dem lagereigenen Anbau angereichert wurde. Es wurde ihnen erlaubt, Wäsche und Kleidung zu wechseln, sie trugen Lederschuhe.« (Madej 2000: 25)
Man könnte also meinen, Jakubowska habe großes Glück gehabt, in Rajsko inhaftiert gewesen zu sein – sofern man das Wort »Glück« im Zusammenhang mit Lagererfahrung überhaupt verwenden kann. Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Publikumsreaktion auf Die letzte Etappe wider, denn einige Zuschauer waren der Ansicht, dass »alle Häftlinge um einiges zu gut aussehen.« (Zit. nach Wróbel 2003: 8) Der Vorwurf wog umso schwerer, als ein großer Teil der Handlung im Krankenrevier spielt. Kritiker warfen dem Film zudem vor, eine »privilegierte Gruppe« (Bukowiecki 1948) zu zeigen (vor allem Ärztinnen und Krankenschwestern), doch dies ergab sich aus den persönlichen Erfahrungen der Regisseurin und der Drehbuchautorin. Im Vergleich zu authentischen Bildern von Auschwitz, die heute vor allem von Fotografien und aus literarischen Beschreibungen bekannt sind, wirkt die Darstellung von Auschwitz in Die letzte Etappe in der Tat recht schonend. Zwar erinnert Jakubowska daran, dass »die Lagerrealität aus menschlichen Skeletten, Leichenbergen, Läusen, Ratten und verschiedensten widerwärtigen äußerlichen Erkrankungen bestand« (Jakubowska 1951, zit. nach Wróbel 2003: 17), doch mit Rücksicht auf den Rezipienten wurde diese Wirklichkeit im Film »geschönt, also entrealisiert« (ebd.). Die Regisseurin erklärte: »Kein Kinobesucher der Welt hätte den Anblick des echten Auschwitz ertragen.« (»Dwa debiuty …« 1998: 25) Es ist allerdings verwunderlich, dass sie dabei keinen Bezug auf die atrocity films nahm, die ihr – zumindest teilweise – bekannt sein mussten, wenn nicht aus eigener Erfahrung, so doch aus den Berichten ihrer deutschen Drehbuchautorin.
D IE V ITALITÄT
DER
B ILDER
Während heute visuelle Metaphern und Metonymien zu den Basis-Kunstgriffen des Erzählens über den Holocaust gehören, hatte Jakubowskas Wahl der Stilmittel Pioniercharakter. Die Regisseurin sah sich der schwierigen Aufgabe gegenüber, die »Perzeptionsmöglichkeiten« der Zuschauer zu berücksichtigen und
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gleichzeitig den Erinnerungen der KZ-Überlebenden gerecht zu werden – und sie wusste, dass diese den Film sehen würden. Alle diese Aspekte der Arbeiten an Die letzte Etappe hängen mit den spezifischen Bedingungen der direkten Nachkriegszeit zusammen, die für spätere Filmemacher bei Filmen über den Holocaust nur bedingt galten. Jakubowskas Zusammenarbeit mit den Russen führte zum Engagement des Kameramanns Boris Monastyrskij, einem Schüler Sergej Ėjzenštejns. Diese Entscheidung hatte weitreichende ästhetische Konsequenzen, denn Monastyrskij, ein Nachfolger der sowjetischen Montageschule, verlieh den Filmbildern äußerst charakteristische Züge. Obwohl Die letzte Etappe in einer Zeit entstand, als die Welt der Kinematografie von verschiedenen Strömungen des Realismus dominiert wurde und entsprechende Erwartungen auch an den polnischen Film gestellt wurden, zeigt sich der Realismus Jakubowkas eher in der Thematik als in der visuellen Form ihres Werks. Monastyrskijs Art der Kameraführung erinnert an die Leistungen der (nicht nur sowjetischen) Avantgarde der Zwischenkriegszeit: Aufnahmen aus spitzem Winkel, aus der Frosch- und Vogelperspektive, nur wenige Aufnahmen aus der Figurenperspektive, wenige Dialoge in der klassischen Zusammensetzung von Aufnahme und Gegenaufnahme, zahlreiche Wechsel zwischen Nahaufnahmen und Totalen (anfangs montierte Monastyrskij den Film, später machte das Jakubowska selbst) (ebd.: 21). Zu den charakteristischen Kunstgriffen in Die letzte Etappe gehören die zahlreichen Kontrapunkte, sowohl auf der visuellen als auch auf der tonalen Ebene. Die Musik Roman Palesters und die innerdiegetischen Stücke (Melodien des Lager-Orchesters und Grammofonaufnahmen, zu denen die Protagonistinnen gefoltert werden) werden häufig kontrastiv zu den Bildern eingesetzt. Den Abmarsch der weiblichen Gefangenen zur Arbeit begleitet ein fröhlicher Walzer, Eugenia wird zum Rhythmus eines leichten Swings brutal verhört. Ergänzt man die Liste der stilistischen Verfahren um die Tatsache, dass der Film keine eindeutigen Hauptfiguren hat, sondern sich einem kollektiven Helden widmet (wodurch Identifikationsmechanismen nur erschwert greifen), liegt der Schluss nahe, dass er formal dem sowjetischen Vorkriegskino näher ist als dem klassischen realistischen Film. Ich betone dies deshalb, weil das klassische amerikanische Kino bzw. das Hollywood-Kino, das einige Jahrzehnte später die fiktionalen Darstellungen von Konzentrationslagern dominieren sollte, sich ausgerechnet auf Jakubowskas Erbe berief.19
19 Besonders die ›Karriere‹ von Schindlers Liste (1993) führte in den Vereinigten Staaten dazu, dass Die letzte Etappe wiederentdeckt und die Regisseurin 1994 zum Film-
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Trotz der vielen Distanzierungsverfahren in Die letzte Etappe wirkten einige Szenen so authentisch, dass spätere Regisseure sie in ihren Filmen als dokumentarische Aufnahmen des Lagerlebens nutzten.20 Viele dieser Bilder haben metaphorischen und metonymischen Charakter, was bereits damaligen Zuschauern auffiel: »Was mich am meisten berührt hat?«, so fragte Korotyński in der Zeitschrift Film, »Die Wahl fällt mir schwer. Es ist wohl der Zug, ein neuer Transport, der auf ein Seitengleis fährt, und das Gesicht der Dirigentin des LagerOrchesters – ein Gesicht, das auf ergreifende Weise menschlichen Schmerz und Mitgefühl ausdrückt.« (Korotyński 1948) »Genau darin liegt das größte Verdienst des Regisseurs« – kommentierte der Filmkritiker Leon Bukowiecki – »dass einzelne Szenen des Films dazu da sind, um unsere vielleicht zu statische Vorstellungskraft zu ergänzen und zu erschüttern. Das Knallen von Peitschen, das plötzliche Verstummen eines erschlagenen Kindes, der Abmarsch von unmenschlich übermüdeten, geisterhaft wirkenden Gefangenen zur morgendlichen Arbeit, das versteinerte Gesicht der Orchesterdirigentin – ja, das ist Auschwitz in seinem barbarischen Grauen.« (Bukowiecki 1948)
Auch der Filmhistoriker Jerzy Toeplitz bemerkte: »Man muss nicht buchstäblich die Ermordung von Millionen Menschen zeigen, es reicht das erschütternde Bild des persönlichen Besitzes der Ermordeten oder der Anblick von Autos, die in Richtung der rauchenden Krematorien fahren, zum Bersten überladen mit Opfern.« (Toeplitz 1948) All diese Aussagen gehen auf die Tatsache zurück, dass Jakubowska in ihrem Film symbolische Bilder verwendet: die Tore von Auschwitz, brüllende SS-Männer, Stacheldraht vor Himmelhintergrund, ein Muselmann im Stacheldraht, ein Berg von Haaren, das Sortieren von Wertgegenständen, Gefangene, die in gleichmäßigen Reihen auf dem Appellplatz stehen, Kinder, die ins Gas gehen oder die Jagd auf zufällig ausgewählte Häftlinge. Heute finden sich solche Szenen hauptsächlich in Hollywood-Filmen, in denen mit Hilfe dieser Ikonografie der Eindruck von Realismus erweckt werden soll – wie etwa in Marvin J. Chomskys Holocaust (1978), Alan Pakulas Sophies Entscheidung (1982) oder Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993).21
festival in Telluride eingeladen wurde. Vgl. u.a. den Festivalbericht von Kornatowska (1994). 20 Vgl. Liebman 1996: 57; Liebman/Quart 1997: 43; Loewy 2004: 197. 21 Dazu auch: Liebman/Quart 1997: 44; Liebman 2010: passim; Loewy 2004: passim; Haltof 2012: 44-45.
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Während den oben genannten Regisseuren die Bilder aus Die letzte Etappe lediglich als Inspiration dienten, fügten George Stevens (The Diary of Anne Frank, 1959) und Alain Resnais (Nacht und Nebel, 1955) Original-Aufnahmen aus Jakubowskas Werk in ihre Filme ein. Besonders interessant ist dabei der Fall von Nacht und Nebel, denn Resnais nutzt in diesem Dokumentarfilm die Bilder aus Die letzte Etappe als unmittelbare Urikonografie von Auschwitz-Metaphern und verwischt somit die Grenze zwischen Inszeniertem und Authentischem. Symptomatisch für dieses Verfahren ist die Montage von Jakubowskas Aufnahme eines in das Lager einfahrenden Zuges 22 mit einer Transport-Sequenz aus einem Film, der auf Befehl des Lagerkommandanten des holländischen Durchgangslagers Westerbork gedreht wurde (eines der wenigen filmischen Dokumente des Holocaust, die überhaupt existieren). Der Zug aus Die letzte Etappe, den wir nun bei Resnais sehen, fährt nachts im Nebel durch das charakteristische Tor von Auschwitz. Just in dem Moment, in dem wir dieses Bild in Nacht und Nebel sehen, sagt die Stimme des Erzählers im Off die Worte »nuit et bruillard«23 – nach Resnais handelt es sich bei der Titelwahl um eine Anknüpfung an den »Nacht-und-Nebel-Erlass« von Adolf Hitler vom 7. Dezember 1941, auf den hin ausländische Widerstandsmitglieder verhaftet und deportiert werden sollten. Auf visueller Ebene ist der Titel Nacht und Nebel jedoch ein unmittelbares Zitat aus Die letzte Etappe. Dieses Bild wurde später bei Spielberg in der Darstellung eines Zuges, der ebenfalls nachts bei schlechtem Wetter in Auschwitz einfährt, neuinszeniert (es handelt sich übrigens um eine der wenigen Stellen in Schindlers Liste, in denen Auschwitz thematisiert wird, denn die Handlung des Films spielt eigentlich in Płaszów – einem Lager in der Nähe von Krakau). Die darauf folgenden Bilder wiederholen die Ereignisse aus Die letzte Etappe, die gleichsam in der Lagerrealität verankert sind: die Selektion der Häftlinge in arbeits- und nicht arbeitsfähige, die Enteignung, das Aussortieren von Wertgegenständen24, das Rasieren der Haare25 usw. Während Die letzte Etappe für Spielberg lediglich ein Ausgangspunkt für seine Erzählung sein mag, handelt es sich bei Resnais um eine Inkorporation dieser fiktiven Bilder in einen Dokumentarfilm, allerdings ohne dass dabei auf die Quelle verwiesen wird. In der syntagmatischen Struktur des Films wird den Aufnahmen aus Jakubowskas Werk derselbe Status wie bekannten authentischen Dokumenten zugeschrieben – neben dem Film aus Westerbork sei
22 Die letzte Etappe TC: 00:12:28-00:12:57; 00:13:01-00:13:03. 23 Nuit et bruillard TC: 00:05:27-00:05:34. 24 TC: 00:17:11-00:18:05; TC: 00:19:28-00:19:38. 25 TC: 00:18:26-00:19:28
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z.B. die von Resnais verwendete Fotografie eines Jungen aus dem Warschauer Ghetto aus dem ›Stroop-Bericht‹ erwähnt26. Da die Inszenierungsverfahren in Die letzte Etappe leicht erkennbar waren, handelt es sich in Nacht und Nebel kaum um eine Verwechslung von fiktivem und authentischem Material, sondern um die Verwendung von lesbaren Symbolen, die einerseits in der realen Lagererfahrung verankert waren, andererseits Lücken der Holocaustrepräsentation füllen konnten, die dem Fehlen »originaler« Filmbilder aus den Konzentrationslagern geschuldet waren. Die Authentizität von Jakubowskas Aufnahmen geht also nicht aus den Bildern selbst hervor, sondern aus ihrer Nebeneinanderstellung mit anderen, zweifelsfrei authentischen Quellen. Es war sicherlich nicht Resnais’ Absicht, den Zuschauer hinsichtlich der Authentizität seines Stoffes zu täuschen – die Themenfülle, die sein filmischer Essay behandeln sollte, war mit anderem Bildmaterial schlicht nicht zu illustrieren. Zur Frage der Authentizität des Films äußerte sich damals der Filmtheoretiker Béla Balázs: »Die letzte Etappe strebt Nähe zum Dokumentarfilm an. Jakubowska selbst durchlitt den Horror von Auschwitz und wollte, dass ihr Film daran erinnert. Natürlich konnte sie nur einen realistischen Film über menschliche Erfahrungen machen, indem sie diese Wirklichkeit rekonstruierte, sie nachspielte und Regie führte.«27
Jakubowskas Bemühen um dokumentarische Wirkung hängt wohl auch mit ihrer Tätigkeit als Fotografin im Lager zusammen. Für Loewy rührt ihr starkes Bedürfnis, nach dem Krieg einen Film über Auschwitz zu drehen, möglicherweise von Gewissensbissen her, da Jakubowska, obwohl sie im KZ über einen genehmigten Fotoapparat verfügte, nichts unternahm, um die dortige Hölle zu dokumentieren (Loewy 2004: 198-199), während Angehörige des Sonderkommandos unter Einsatz ihres Lebens das Krematorium fotografierten.28 Doch das erfuhr Jakubowska erst später. In einem ihrer weiteren Filme, Das Ende unserer Welt (1964, pl. Koniec naszego świata), nutzte sie diese Bilder, indem sie sie in den Erzählstrang einbaute (Loewy 2004: 199).
26 Vgl. dazu den Beitrag mit Abbildung von Jeremy Hicks im vorliegenden Band. 27 »Béla Balázs on Wanda Jakubowska’s …« 1996: 67. Das hier zitierte Fragment stammt aus einer Notiz von Balázs, die von Stuart Liebman und Zsuzsa Berger veröffentlicht wurde. 28 Diese Bilder sind Ausgangspunkt für Georges Didi-Hubermans Buch Bilder trotz allem (2007).
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Während der Arbeit an Die letzte Etappe suchte Jakubowska den Effekt des Authentischen durch realitätsgetreue Rekonstruktion zu erreichen, ohne dabei die subjektiv verstandenen »Perzeptionsmöglichkeiten« des Zuschauers außer Acht zu lassen. Deshalb entschied sie sich unter Überwindung nicht geringer Widerstände, Die letzte Etappe auf dem Gelände des KZs Auschwitz zu drehen, auch wenn das bedeutete, das Lager drei Jahre nach dem Krieg im Prinzip wieder aufzubauen, damit es als Filmkulisse dienen konnte (Madej 1998: 16). Die Schauspieler hatten sich eigener Aussage zufolge nach der StanisławskiMethode in die Rollen einzufühlen.29 Heute würden ähnliche Verfahren der Rekonstruktion und Fiktionalisierung des Holocaust sicherlich als Versuch gewertet werden, den Rezipienten zu manipulieren und Erinnerung zu instrumentalisieren (wie beispielsweise die heftigen Diskussionen um Schindlers Liste oder Roberto Benignis Das Leben ist schön [1997] belegen). Damals jedoch teilten die Zuschauer eher die Meinung des Journalisten Jerzy Zawieyski: »Wir sind dankbar für das Maßhalten bei der Darstellung von Grausamkeiten.«30 Das Dokumentarische in Die letzte Etappe ist also eine Frage der Absprache. Balázs wies den Begriff der Dokumentarizität daher auch zurück und betonte, Jakubowska habe eine neue Gattung schaffen müssen (»Béla Balázs on Wanda Jakubowska’s …« 1996: 66), als sie Auschwitz in einer Komposition der für sie typischen Ereignisse nachzeichnete (angemerkt sei, dass viele Zeitzeugen dem Film vorwarfen, für die Lagerrealität Untypisches zu zeigen) (vgl. Madej 2000). Die Darstellung der Shoah geschieht hier in den Kategorien der Konvention und unter Bezug auf lesbare Symbole. Während heutige Rezipienten diese eher leicht lesen können, weil sie auch andere filmische Darstellungen von Auschwitz kennen, stützten sich die Symbole 1948 vor allem auf die Erinnerungen von Zeugen und ihre Erzählungen. Deshalb sieht Loewy in den Reflexionen Balázs’ über die Abbildung des KZs einen wichtigen Impuls für spätere Debatten über die (Unmöglichkeit der) Darstellung des Holocaust. »1948 ist Balázs noch weit von der Konzeptualisierung der Shoah als Paradigma entfernt«, so Loewy, »doch etwas irritiert ihn bei dem Gedanken, diese Ereignisse als klassische Tragödie, Komödie oder als Roman zu repräsentieren.« (Loewy 2004: 179) Paradoxerweise for-
29 Vgl. die Aussage der Schauspielerin Maria Kaniewska in dem Artikel »Zeznania obozowej ›Raportführerin‹« (1948). 30 Zit. nach Madej 1998: 15. Madej untersuchte systematisch Rezensionen zu und Pressebesprechungen von Die letzte Etappe. Das erlaubte ihr, allgemeine Schlüsse über die Zuschauererwartungen an den Film zu ziehen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Marta Wróbel (2003), die sich bei ihren Forschungen ebenfalls auf Pressequellen stützt.
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derte Balázs, der den Film während seines Aufenthaltes in Warschau gesehen hatte, in einem Brief an Jakubowska eine Änderung des Filmendes zugunsten einer optimistischeren und dem ausländischen Zuschauer zugänglicheren Version. Er schlug ihr sogar konkrete Einstellungen vor, wie etwa die befreite Menge vor offenem Himmel im Wechsel mit Nahaufnahmen der enthusiastischen Gesichter der Gefangenen.31 Balázs lehnte den erzählenden Charakter des filmischen Mediums, der den klassischen Grundsätzen des realistischen Romans folgt, ab. Seiner Meinung nach zerstört der Griff nach den erzählerischen Mustern der Literatur das Potential der Kamera. »Kameraeinstellung und Montagetechnik haben bereits eine solche Gestaltungskraft, daß sie an den Rohstoff des Lebens unmittelbar herangehen können und ihn nicht erst vorgebildet, in einer Dichtung vorgeformt zu suchen brauchen.« (Balázs 2001: 70) Aus dieser Überzeugung erklärt sich auch sein Streit mit Ėjzenštejn um die Rolle der Montage. Denn obwohl Balázs der Montage viel Aufmerksamkeit widmete, lehnte er die assoziativen Konzeptionen der Formalisten ab, da er im Gegensatz zu ihnen den Film nicht als Sprache betrachtete (Loewy 2001: 201). Aufgrund seiner Einstellung zum filmischen Syntagma konzentrierte er sich auf Bilder bzw. auf Einzelaufnahmen, was ihn in den 1920er Jahren in die Avantgarde unter den visuellen Theoretikern einreihte. Die Krise der Narration führte zur Verschiebung des Schwerpunkts auf die Kraft des Bildes, das zum Wesen der Wirklichkeit vordringt (hier war Balázs den Ideen Kracauers nahe).32 Eine besondere Rolle in Balázs’ Filmtheorie spielen die Nahaufnahmen33 – in Die letzte Etappe werden sie oft durch eine kontrastive Zusammenführung mit Totalen hervorgehoben. Dieses Verfahren strukturiert auch die von Balázs diskutierte umstrittene Schlussszene, in der wir abwechselnd
31 »Béla Balázs on Wanda Jakubowska’s …« 1996: 64-65. Balázs’ dramaturgisches Interesse resultierte womöglich daraus, dass er zu dieser Zeit selbst an einem Drehbuch arbeitete, das er nach seiner Rückkehr aus Warschau bei der DEFA vorzeigen sollte. Die Vorbereitungen zum Film Der Favorit wurden mit dem Tod Balázs’ im Mai 1949 abgebrochen. Vgl. Arbeitstitelliste Mai 1949, Bundesarchiv: DR117/S403. 32 Kracauer schätze die Arbeit Balázs’ und warf ihm lediglich vor, sich zu sehr auf sowjetische Filme zu konzentrieren (vgl. Kracauer 2001: 231-233). Kracauers Worte erwiesen sich als prophetisch, denn ein Jahr nach der Publikation von Der Geist des Films fuhr Balázs in die Sowjetunion. Von dort aus konnte er als Jude und Kommunist bis 1945 nicht nach Deutschland zurückkehren. Die Polemik mit Ėjzenštejn, der über Balázs’ Ansichten zur Montage zynisch sagte, »Béla vergisst die Schere« (Loewy 2001: 197), prägte zu dieser Zeit das Leben des Theoretikers. 33 Mehr dazu bei Schmölders 2006.
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Nahaufnahmen von Martas Gesicht und Totalen mit Flugzeugen am Himmel sehen. In Bezug auf die Überlegungen zur Darstellung des Holocaust sind Balázs’ Ideen wesentlich, denn sie lenken die Aufmerksamkeit auf die Energie der Bilder, die sich wie ein Engramm im Sinne Aby Warburgs im Denken über Auschwitz verfestigten. Bei späteren Verwendungen der von Jakubowska inszenierten Motive handelt es sich daher nicht um einfache Zitate, sondern um den Rückgriff auf ein kulturelles Bildgedächtnis. Auf die von Jakubowska initiierte visuelle Poetik griff auch Andrzej Munk in seinem Film Die Passagierin (1961/1963, pl. Pasażerka) zurück. Die Fabeln von Jakubowskas und Munks Werken unterscheiden sich allerdings diametral: Während ihre KZ-Erfahrungen die Protagonistinnen in Die letzte Etappe adeln und aus ihnen engagierte Kommunistinnen machen, lässt die Realität von Auschwitz Munks Figuren zusammenbrechen.34 Die Parallelen zwischen den beiden Filmen sind dennoch nicht zu übersehen. Beide handeln von einem Frauenkonzentrationslager. Die zentralen Protagonistinnen, beide heißen Marta, sprechen fließend Deutsch und haben beide einen Verlobten im Männerlager, der Tadeusz heißt. In beiden Filmen spielt Aleksandra Śląska die Rolle der Aufseherin, wobei sie in Die Passagierin ihre Rolle aus Die letzte Etappe im Grunde genommen wiederholt (vgl. Nurczyńska-Fidelska 1982: 162). Munk greift auf das visuelle Repertoire zurück, das Jakubowska eingeführt hat: Frauen, die in gleichmäßigen Reihen auf dem Appellplatz stehen, der allgegenwärtige Schlamm, der Blick auf den Rauch, der aus dem Schornstein des Krematoriums aufsteigt, Stacheldrahtaufnahmen usw. Alle diese Ikonen wurzeln natürlich in der Realität von Auschwitz, doch gerade durch ihre Einbindung in Spielfilme gestalten sie das im Kulturgedächtnis verankerte Bild vom Holocaust entscheidend mit.
D IE H ELDINNEN Trotz der Unterschiede in den Fabeln verbinden Die Passagierin und Die letzte Etappe nicht nur ausgewählte visuelle Elemente, sondern auch wesentliche Merkmale der Protagonistinnen. Die Frauen in Die letzte Etappe sind vor allem engagierte Kommunistinnen, die Vertretern des nationalsozialistischen Terrors gegenüberstehen. Die Figuren in Die Passagierin sind durch ihre psychologischen Merkmale und existenziellen Züge definiert, nicht durch ihre nationale oder religiöse Zugehörigkeit. Mit anderen Worten: Auschwitz ist in beiden Fil-
34 Vgl. Tadeusz Lubelskis Aussage in einem Interview mit Jakubowska in: »Dwa debiuty …« 1998: 26.
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men ein Ort der allgemeinmenschlichen Tragödie und nicht, wie in vielen späteren Werken, ein Symbol für die Vernichtung der Juden. Jedoch ist die Frage nach der Identität der Protagonistinnen in Die letzte Etappe untrennbar mit der politischen Situation und der gesellschaftlichen Atmosphäre nach dem Krieg verbunden, denn die Machthaber in der Volksrepublik Polen machten Auschwitz, auf Polnisch Oświęcim, zum Symbol des polnischen Martyriums. In Oświęcim sah man »ein Lager, in dem mehrere Millionen Polen umkamen, ein Lager, dessen Name innerhalb weniger Jahre zum Symbol für die Vernichtung wurde, zu der der Faschismus Polen verurteilt hatte, ein Symbol des Grauens und der Qual, ein Symbol des Opfers und der Aufopferung derjenigen, die um Polen kämpften.«35
Die Zahl der KZ-Opfer wurde in Polen bis in die 1980er Jahre hinein zu hoch angesetzt, und die von Jakubowska in den Vorbemerkungen zu Die letzte Etappe angegebene Information, das Lager habe ungefähr 4,5 Millionen menschliche Existenzen vernichtet, stimmt mit dem damaligen historischen Bewusstsein der polnischen Bevölkerung überein. Die Folgen, die sich daraus ergaben, dass Oświęcim zum Gegenstand der polnischen Martyrologie gemacht wurde, erwiesen sich als sehr langlebig. Noch 2005, nach dem 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, glaubten 37% der Polen, dass Oświęcim vor allem ein Ort polnischen Leids war.36 Das Bild von den weiblichen Häftlingen in Auschwitz als einem internationalen Kollektiv, in dem es neben Russinnen, Jugoslawinnen, Sinti und Roma sowie einer deutschen Kommunistin auch eine Polin »jüdischer Herkunft« gibt, brach also Ende der 1940er Jahre mit der damals allgemein herrschenden Vorstellung von Oświęcim als einem Ort der polnischen Tragödie.
35 Auszug aus einer Gedenkrede des Auschwitz-Überlebenden und Mitglieds des ›Polnischen Verbands ehemaliger politischer Gefangener nationalsozialistischer Gefängnisse und Konzentrationslager‹ (pl. ›Polski Związek byłych Więźniów Politycznych Hitlerowskich Więzień i Obozów Koncentracyjnych‹) für Präsident Bolesław Bierut aus dem Jahre 1947. Zitiert nach Wóycicka 2009: 154. Zu den Unterschieden zwischen der polnischen und der deutschen Deutung von Auschwitz/Oświęcim vgl. auch Wóycicka 2014. 36 Vgl. den Bericht zur Umfrage: »Po obchodach 60. rocznicy wyzwolenia AuschwitzBirkenau. Obóz w Oświęcimiu w świadomości Polaków« (»Das KZ Auschwitz Birkenau im Bewusstsein der Polen nach dem 60. Jubiläum seiner Befreiung«), CBOS BS/45/2005.
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In dieser Hinsicht wird die Sprache zu einem wichtigen Merkmal in Die letzte Etappe: Schon in der ersten Szene sind Polnisch, Deutsch, Französisch und Russisch zu hören. Jede Figur spricht in ihrer Sprache – diese Vielsprachigkeit von Auschwitz beschrieb auch Primo Levi in Ist das ein Mensch? (Levi 1991), allerdings konnte Jakubowska seine Schilderung noch nicht kennen. Levis Buch erschien zwar 1947, wurde jedoch erst 1978 ins Polnische übersetzt. Im Film fehlen Untertitel (zumindest in der DVD-Ausgabe), die das Verständnis von französischen, serbokroatischen, deutschen oder russischen Phrasen erleichtern würden. Deutsch und Russisch werden im Film sehr häufig gesprochen. Die wichtigste russische Figur, die Ärztin Eugenia, wurde von der sowjetischen Schauspielerin Tatjana Górecka gespielt. Die Rollen der Deutschen – der Aufseherin, des Arztes und des Lagerkommandanten – spielten dagegen polnische Schauspieler, wobei ihre Deutschkenntnisse ein Auswahlkriterium waren. Eine Sprache fehlt jedoch in diesem Sprachgemisch: »Nur Jiddisch ist im Film nicht zu hören«, so Loewy (2004: 181). Für die Analyse des in Die letzte Etappe dargestellten internationalen Opferkollektivs ist besonders Martas Figur interessant, denn ihre Identität ist ambig. Nach dem Drehbuch gehört sie zur Gruppe der »Polinnen« (vgl. ebd.: 182) und Liebman betont, dass Marta nicht als Jüdin stirbt, »sondern als Märtyrerin der nationalen Widerstandsbewegung« (Liebman 2008: 208). Obwohl in Die letzte Etappe kein Jiddisch zu hören ist und keine der Protagonistinnen von sich sagt, sie sei Jüdin, sind Aussagen, der Film vermeide eine ausführliche Betrachtung des jüdischen Aspekts, nicht ganz begründet. Erstens wird der Transport, mit dem Marta im KZ ankommt, deutlich als »Judentransport« bezeichnet; zweitens wird über manche der Protagonistinnen durchaus gesagt, sie seien »jüdischer Herkunft« (auch über Marta); drittens ist in den Szenen, in denen die weiblichen Gefangenen selektiert werden, zweimal die Rede davon, dass Jüdinnen vergast werden sollen; viertens begründet die unsympathische Figur der Lalunia ihren Status dadurch, dass sie erklärt: »Ich bin überhaupt keine Jüdin«, denn jedem im Lager war klar, dass es den Juden dort am schlechtesten erging. Diese Szenen führen auch Liebman zu einer wichtigen Erkenntnis: Nachdem er in seinen früheren Texten über Die letzte Etappe eine ähnliche Meinung vertreten hatte wie Loewy, sagte er während seines Vortrags in Łódź im September 2009: »Eins muss man Jakubowska zugestehen, sie zeigte nämlich, dass den Juden in Auschwitz-Birkenau ein besonderes Schicksal bestimmt war.« (Liebman 2010: 96) Angesichts des martyrologischen Mythos vom polnischen Leiden in Oświęcim, der sich übrigens auf die Biografien polnischer politischer Häftlinge wie Jakubowska oder Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz stützt, ließe sich ein
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Standpunkt vertreten, der sich zwischen den Meinungen von Loewy und Liebman positioniert: Das jüdische Leiden wird in Die letzte Etappe in einem ausgewogenen Verhältnis dargestellt, besonders wenn man die damaligen politischen Instrumentalisierungen von Auschwitz in Polen berücksichtigt. Die Wahrnehmung des jüdischen Handlungsstrangs als marginal ergibt sich eher aus heutiger Perspektive, aus der Auschwitz hauptsächlich mit der Judenvernichtung assoziiert wird. Davon getrennt ist das Bild der Polinnen in Die letzte Etappe zu betrachten. »Nach ihrer Rückkehr aus dem Kino notierte Maria Dąbrowska in ihrem Tagebuch: ›Alles, was im Lager sympathisch ist, sind Russinnen und Jüdinnen – natürlich Kommunistinnen. Alles Verkommene, Schurkische sind Polinnen.‹« (Dąbrowska 1996: 209, zit. nach Madej 2000: 16) Dąbrowskas Äußerung bezieht sich vermutlich auf die Kapo Elza, eine Polin, die die Häftlinge mit der gleichen Grausamkeit wie die SS-Aufseherinnen behandelt und den Ungehorsamen unter ihnen sogar droht, »sie durch den Kamin zu jagen«. Diese Figur rief in der Tat viele Kontroversen hervor, doch wie Madej belegt, beruht auch sie auf einer real existierenden Person (vgl. Madej 2000: 26). Der Eindruck der Schriftstellerin ist jedoch etwas einseitig, da im Film durchaus auch »gute Polinnen« vorkommen. Zu ihnen zählt Helena, eine Figur, der im Drehbuch eine größere Bedeutung zukommt als im Film, weil die Rolle falsch besetzt wurde und die Regisseurin den Schwerpunkt auf die Figur der Marta verschieben musste (vgl. Madej 1998: 17). Diese Änderung gefiel den ehemaligen Gefangenen nicht, die in Die letzte Etappe Statistenrollen übernahmen. Ihre »negativen Reaktionen […] ergaben sich vor allem aus der Tatsache, dass die Hauptprotagonistin Jüdin ist, keine Polin« (ebd.), wie dies ursprünglich geplant war. Sicherlich ist auch aus diesem Grund Martas Identität im Film so unpräzise gezeichnet. In der Darstellung der Polinnen zeigt sich ein wesentliches Merkmal von Die letzte Etappe: Der Film arbeitet mit nationalen Stereotypen, sofern es um Figuren geht, die negativ bewertet werden. Die SS-Aufseherinnen, der Arzt und der Lagerkommandant sind selbstverständlich »böse Deutsche«: grausam, unmenschlich, gefühllos (so pfeift beispielsweise der Arzt fröhlich, während er ein Kind ermordet), im Privatleben hingegen sind sie ruhig und sensibel (dieses Motiv zieht sich durch die KZ-Narrationen bis hin zu Schindlers Liste). Dagegen sind die Russin Eugenia und die deutsche Kommunistin eindeutig positive Figuren, deren Darstellung ohne Stereotype auskommt. Polen und Deutsche wiederum werden ambivalenter gezeichnet. »Als Polin«, schrieb darauf eine der Zuschauerinnen, »fühle ich mich dazu verpflichtet, die Polinnen zu verteidigen, deren Charakter sich auch in Momenten größten Unglücks nicht zum Schlechten
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wandelte, ganz im Gegenteil … Da der Film vom polnischen Staat produziert wurde, haben wir das Recht zu fordern, dass der Schwerpunkt auf das polnische Leiden und Heldentum gelegt wird.«37 Im Gegensatz zu dieser Äußerung verlangte der Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Tadeusz Borowski einen Bruch mit der Idealisierung der Häftlinge: »[…] erzählt endlich, wie ihr Plätze im Krankenhaus und in guten Arbeitskommandos gekauft habt, wie ihr Muslime in die Öfen gestoßen habt, wie ihr Frauen und Männer gekauft habt, was ihr in den Unterkunften [orig. deutsch] getan habt, in den [Effektenlagern] ›Kanada‹, in den Krankenbauten und im Zigeunerlager, erzählt das und noch viele kleine Dinge, erzählt vom Alltag im Lager, von seiner Organisation, von der Hierarchie der Angst und der Einsamkeit eines jeden Menschen. Aber schreibt, dass ihr das getan habt. Dass ein Fitzelchen des düsteren Ruhms von Auschwitz auch euch zusteht! Vielleicht lieber nicht, was?« (Borowski 1947, zit. nach Wóycicka 2009: 173)
Die letzte Etappe folgt vornehmlich der heroischen Spur, gegen die Borowski aufbegehrte, und die Erzählstränge der polnischen Kapos oder der auf sich selbst fixierten Pseudoärztin Lalunia sind Kontrapunkte, die das Heldentum der anderen Gefangenen verdeutlichen. Die Einteilung in »gute« und »böse« Figuren ist leicht erkennbar und ergibt sich vor allem aus den ideologischen Gegensätzen. Kommunisten sind »gut«, Nazis und ihre Helfer »böse«. Die nationale Identität der Heldinnen hat dagegen nur marginale Bedeutung. Die Fabel des Films hat die Probe der Zeit nicht überstanden, auch wenn manche Forscher in Die letzte Etappe bereits Erzählstrukturen erkennen, die spätere Holocaust-Filme prägten. David Bathrik sieht z.B. in der Schlussszene, in der Marta ihren Henker ohrfeigt, während sowjetische Bomber38 über das Lager fliegen, ein Muster für alle Schlussszenen, in denen es zu einer überhöhten Erlösung der Opfer kommt – sowohl in der sozialistisch-realistischen als auch in der
37 Kommentar einer Leserin, abgedruckt in der Tageszeitung Trybuna Robotnicza vom 11. Mai 1948, zit. nach: Wróbel 2003: 8-9. 38 In einer interessanten Diskussion, die ich im Wintersemester 2011/2012 mit den Teilnehmern des Seminars zum polnischen Nachkriegsfilm am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin führte, meinten die Studierenden, die Szene sei nicht nur deswegen historisch inakkurat, weil die Rote Armee Auschwitz viel später erreichte, als es der Film suggeriert (zudem nicht aus der Luft), sondern auch, weil es solche Flugzeuge beim sowjetischen Militär nicht gegeben habe. Dies müsste genauer untersucht werden.
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Hollywood-Variante (Bathrik 2007: 119). Dieses Narrativ ließe sich allerdings genauso in vielen literarischen Vorlagen nachweisen. Einzigartig sind dagegen die von Jakubowska und Monastyrskij geschaffenen Bilder, die so authentisch schienen, »[…] als wären sie real« (Liebman 2010: 96). Übersetzung aus dem Polnischen: Yvonne Belczyk-Kohl
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F ILME Dr. Crippen an Bord (1942) (Deutschland, R: Erich Engels) Holocaust (1978) (USA, R: Marvin J. Chomsky) Koniec naszego świata (1964) (Polen, R: Wanda Jakubowska) La vita è bella (1997) (Italien, R: Roberto Benigni) Majdanek: cmentarzysko Europy (1945) (Polen, R: Aleksander Ford) Nuit et brouillard (1955) (Frankreich, R: Alain Resnais) Ostatni etap (1948) (Polen, R: Wanda Jakubowska) Pasażerka (1961/1963) (Polen, R: Andrzej Munk) Schindler’s List (1993) (USA, R: Steven Spielberg) Sophie’s Choice (1982) (USA, R: Alan Pakula) The Diary of Anne Frank (1959) (USA, R: George Stevens)
Aus dem Bildarchiv der Augenzeugen Am Bahndamm (Text – Bild – Reenactment) M AGDALENA M ARSZAŁEK
1. W IE
FOTOGRAFIERT MAN
E RINNERUNGEN ?
»Es ist das Jahr 1942. Ein heißer August. Zum wiederholten Male verbringe ich die Ferien auf dem Gut des Onkels Salinger in Zacisze, das auf der Bahnstrecke Warschau-Wilna liegt. Jeden Tag beobachte ich dort die durchfahrenden Züge. Unter ihnen gibt es auch jene, die vom Warschauer Ghetto nach Treblinka fahren. Heute Morgen traf ich drei hiesige Bauern am Bahndamm. Sie standen tief über die Gleise gebeugt. Ich trat näher heran und sah eine tote, noch nicht alte Frau. Sie lag barfüßig da. Das Gesicht war mit den Haaren bedeckt. Sie ist bei dem Sprung aus dem fahrenden Zug umgekommen. Die Männer griffen sie an den Armen und Beinen und trugen sie zum Zaun, der den Bahndamm von einem privaten Grundstück trennte. Sie schaufelten ein Loch und begruben sie. Ich weiß schon jetzt, dass ich die Stelle nicht vergessen werde. Ich bin 13 Jahre alt und heiße Tadeusz Rolke.«1
1
»Jest rok 1942. Upalny sierpień. Po raz kolejny spędzam wakacje w posiadłości wujostwa Salingerów, w Zaciszu leżącym przy trasie kolejowej Warszawa-Wilno. Codziennie obserwuję jadące tamtędy pociągi. Wśród nich są i te, które jadą z warszawskiego getta do Treblinki. Dziś rano zastałem przy torze trzech miejscowych chłopów. Pochylali się intensywnie nad torowiskiem. Podszedłem bliżej i zobaczyłem martwą, niestarą jeszcze kobietę. Leżała boso. Twarz zakrytą miała włosami. Zginęła, wyskakując z jadącego pociągu. Mężczyźni chwycili ją za ręce i nogi i przenieśli pod parkan dzielący teren kolejowy od prywatnego. Wykopali dół i pochowali. Już wiem, że nie zapomnę tego miejsca. Mam lat 13 i nazywam się Tadeusz Rolke.« Aus der Einführung zur Installation Zacisze von Tadeusz Rolke; zit. nach: »Kobieta
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Die Kindheitserinnerung erläutert die fotografische Installation Zacisze von Tadeusz Rolke2, die im Herbst 2010 im Rahmen des Festivals der jüdischen Kultur in Warschau ausgestellt wurde. Die Installation bestand aus einer großen (2,5 x 2,0 m) Schwarz-Weiß-Fotografie, die in einem kleinen Raum in der PróżnaStraße platziert wurde. Auf der Fotografie war eine auf den Gleisen liegende, knapp bekleidete, bewusstlose bzw. tote Frau zu sehen. Ein Poster am Eingang enthielt einen einführenden Text mit der Kindheitserinnerung und ein kleines Foto von Tadeusz Rolke aus dem Jahre 1942. In einem Interview in Gazeta Wyborcza erklärt Rolke, wie die Fotografie entstanden ist: Das nachgestellte Erinnerungsbild wurde auf einem toten Gleis in Warschau aufgenommen, da Züge heute auch noch häufig in Zacisze durchfahren – zu häufig, um eine Fotosession mit einer alten Kamera im 6 x 9 cmFormat durchzuführen. »Mein Zeugnis« sowie »ein Versuch der Rekonstruktion meiner Erfahrung« nennt Rolke sein Projekt und bedient sich einer fotografischen Metapher, wenn er über die aus der Kindheit erinnerte Szene spricht: »Diese Fotografie ist nicht blass geworden.« »Entwickelt« wurde sie fast 70 Jahre später – in einem fotografischen Reenactment.3
na torach« (Interview mit Tadeusz Rolke von Jacek Pomorski) (Gazeta Wyborcza vom 24.09.2010). 2
Tadeusz Rolke (geb. 1929), polnischer Fotograf, Autor von Reportage-, Kunst- und Mode-Fotografien. Während seiner zehnjährigen Emigration in der BRD in den 1970er Jahren arbeitete Rolke u.a. für Die Zeit, Der Spiegel und Art. Zu den von ihm fotografierten Künstlern gehören u.a. Joseph Beuys, Tadeusz Kantor, Zbigniew Libera. Er ist Mitbegründer des deutsch-polnischen Verlags fotoTapeta. S. auch Rolkes Online-Archiv im Museum für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/ pl/archiwum/archiwum-tadeusza-rolke/o-archiwum (gesehen am 05.02.2016).
3
Tadeusz Rolke im Interview »Kobieta na torach«, s. Fußnote 1.
A M B AHNDAMM (T EXT – B ILD – R EENACTMENT )
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Abb. 1: Tadeusz Rolke: Installation »Zacisze« im Rahmen des Festivals Singers Warschau, 2010 (Zusammenarbeit: A. Hirszfeld); Foto: Marek Grygiel
Ein Erinnerungsbild wird nachgestellt und in der Inszenierung fotografisch festgehalten. Der Austausch zwischen einem imaginativen Nachbild, seiner Verkörperung und apparativen Fixierung verkompliziert den fotografischen Akt (im Sinne Philippe Dubois [1998]), da er den ikonischen Akt der Fotografie um einen performativen Akt erweitert und somit auch die fotografische Referenz verunsichert, denn das in der Erinnerung festgehaltene Ereignis, das bezeugt werden will, wird durch eine nachträgliche Inszenierung ersetzt. Rolkes Installation ist eines von vielen künstlerischen Reenactment-Projekten, die Bilder performativ nachstellen, um sie in der lebendigen Verkörperung gleich (wieder) zum technischen Bild werden zu lassen: abfotografiert, gefilmt, digitalisiert. Die Arbeit am kulturellen Bilder-Archiv ist ein wichtiges Movens der gegenwärtigen Reenactment-Kunst.4 Im Falle der Installation Rolkes handelt es sich aber nicht 4
Vgl. zum künstlerischen Reenactment u.a. Lütticken 2005; Blackson 2007: 28-40; Arns/Horn 2007; Otto 2012: 229-254.
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um eine Re-Inszenierung einer medialen Darstellung, sondern um ein inneres Bild, das im performativen und fotografischen Akt ›veräußerlicht‹, sichtbar gemacht und ausgestellt wird. Auch wenn es sich dabei um eine subjektive Erinnerung handelt, die auf ein singuläres Ereignis und seine Augenzeugenschaft rekurriert, greift das fotografische Bild Rolkes ikonografisch ein Motiv auf, das im polnischen kulturellen Gedächtnis – vor allem in literarischer Überlieferung – präsent ist. Der Sprung aus einem ins Vernichtungslager fahrenden Zug, der das Leben rettet oder aber nur über die Todesart entscheidet, gehört zur Motivik sowohl der autobiografischen Erinnerungsliteratur der Holocaust-Überlebenden als auch der testimonialen Literatur des ›Zeugens für den Zeugen‹.5 Für letztere ist Zofia Nałkowskas kurz nach Kriegsende entstandene Erzählung »Przy torze kolejowym« (dt. Am Bahndamm) prägend, nicht zuletzt auch deshalb, da ihr unmittelbar nach dem Krieg erschienener Erzählband Medaliony (1946, dt. Medaillons, 1956), der diese Erzählung enthält, seit Jahrzehnten zur Pflichtlektüre in der Schule gehört.
2. D AS
INTELLEKTUELLE
Z EUGNIS Z OFIA N AŁKOWSKAS
Zofia Nałkowska verbrachte die deutsche Okkupation in Warschau und wurde gleich nach Kriegsende Mitglied der Kommission zur Untersuchung der NaziVerbrechen in Polen (Główna Komisja Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce). Sie bereiste im Rahmen dieser Aufgabe die auf den polnischen Gebieten errichteten Konzentrationslager und Vernichtungsstätten, interviewte Überlebende und Zeugen. Das literarische Ergebnis dieser Tätigkeit ist der Erzählband Medaillons, der acht Kurzerzählungen versammelt. Die Autorin entwickelte darin einen einzigartigen dokumentarisch-protokollarischen Stil, der sich durch eine minimale Präsenz der zuhörenden Erzählerin im Text und die direkte bzw. leicht transponierte Wiedergabe der Rede der Zeugen, die zu den eigentlichen Erzählern werden, auszeichnet. Die zurückhaltende, ans Schweigen grenzende Haltung der Ich-Erzählerin, die Opfer und Augenzeugen sprechen lässt, ohne in das Drastische oder Unverständliche ihrer Rede zu intervenieren, ohne das Gehörte zu deuten und zu kommentieren, schafft eine Poetik der Distanz. Mit dieser Poetik hat Nałkowska ihre – heute schon klassische – Formel für ein literarisches Zeugnis gefunden, das auf einem Gespräch mit dem primären Zeugen beruht. Ihr Erzählband bereitet den Weg für die spätere testimoniale Prosa Ida Finks oder
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Das Motiv kommt u.a. in der Prosa Adolf Rudnickis, Stanisław Wygodzkis, Józef Hens, Zenon Skierowskis und Hanna Kralls vor.
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Hanna Kralls, auch wenn alle drei Autorinnen den dokumentarischen Gestus des ›Zeugens für den Zeugen‹ literarisch durchaus unterschiedlich gestalten. Nałkowska verzichtet in ihren Erzählungen vollständig auf einen auktorialen Kommentar – diese Funktion übernimmt für den gesamten Band der letzte Text der Sammlung »Dorośli i dzieci w Oświęcimiu« (»Erwachsene und Kinder in Auschwitz«). Interessant wird der abschließende Essay heute vor allem dann, wenn wir nach dem Wissenshorizont der ersten Versuche einer intellektuellen Reflexion über den Völkermord fragen. Die Autorin nimmt in ihrem Text über das »ungewöhnliche Phänomen Auschwitz« (Nałkowska 1956b: 102)6 eine für sie typische Haltung der distanzierten Verwunderung an: »Versucht man, das enorme Ausmaß des beschleunigten Todes, der – unabhängig von Kriegshandlungen – auf dem Terrain Polens stattgefunden hat, mit dem Gedanken zu erfassen, dann überkommt einen neben dem Grauen ein maßloses Staunen.« (Nałkowska 1956b: 99) 7 In der zurückhaltenden, lakonischen – und von den Zeitgenossen nicht selten kritisch als emotionale Kälte interpretierte8 – Rhetorik Nałkowskas kommt vor allem eine, wie Marek Zaleski ihren Erzählband einmal kommentierte, »ratlose Ehrlichkeit« (Zaleski 2004: 144) der Autorin zur Sprache, die mit Unbegreiflichem konfrontiert wird. In seinem Essay über den Holocaust in der polnischen Literatur aus dem Jahre 2002 warf Henryk Grynberg der Autorin einen Denkfehler vor. Nałkowska stellte ihrem literarischen Zeugnis eine Formulierung als Motto voran, die noch einmal im Essay »Erwachsene und Kinder in Auschwitz« auftaucht: »Dieses Schicksal haben Menschen den Menschen bereitet«. (Nałkowska 1956b: 103)9 Grynberg, der ihr Zeugnis würdigt, berichtigt zugleich das Motto: »Dieses Schicksal haben Menschen den Juden bereitet« (Grynberg 2002: 160). Mit
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»Przy zapoznaniu się z niezwykłym zjawiskiem Oświęcimia […]« (Nałkowska 1954a:
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»Jeżeli objąć myślą ogrom przyspieszonej śmierci, jakiej miejscem – niezależnie od
714). działań wojennych – stały się tereny Polski, to obok zgrozy najsilniejszym uczuciem, jakiego doświadczamy, jest zdziwienie« (Nałkowska 1954a: 713). 8
Sowohl die Poetik der Medaillons Nałkowskas als auch der Auschwitz-Erzählungen Tadeusz Borowskis wurden in den ersten Nachkriegsjahren kontrovers aufgenommen. Maria Dąbrowska notiert in ihrem Tagebuch nach einer Lesung Nałkowskas in Warschau im Dezember 1946: »Sehr schwach – Makabres aus der Zeit der Okkupation. […] Dargeboten mit einer eisigen Eleganz der inneren Leere – es langweilt und stößt ab.« (»Bardzo słabe – i makabra z czasów okupacji. […] Podana z lodowatą elegancją pustki wewnętrznej – nudzi i razi«) (Dąbrowska 2009: 196) (Übers. d. Verf.).
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»Ludzie ludziom zgotowali ten los« (Nałkowska 1954a: 715).
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Grynberg polemisierte Zaleski, indem er den Universalismus Nałkowskas und ihren »Humanismus nach Auschwitz« verteidigte, unter anderem mit dem Argument, dass die Betonung der Differenz im Dienste des Gedächtnisses paradoxerweise die (stigmatisierende) Differenz affirmiere (Zaleski 2004: 144). An der Rezeption des Erzählbandes Nałkowskas lässt sich allerdings erkennen, wie die Universalisierung und Internationalisierung der ›Opfer des Faschismus‹ mit den jeweiligen nationalen Opferdiskursen korrespondierte und – insbesondere unter dem Einfluss der staatsideologischen Instrumentalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im ehemaligen Ostblock – den Genozid an den Juden nicht nur marginalisierte, sondern auch seinem Verschweigen zuarbeitete. Es wäre aber ein falscher Umkehrschluss, Nałkowska selbst manipulative Absichten zu unterstellen, nur weil ihr literarisches Zeugnis als Pflichtschullektüre zu Zeiten der Volksrepublik Polen gänzlich im vorgeschriebenen antifaschistischen Modus sowie konform zur kommunistisch-nationalistischen Gedächtnispolitik interpretiert wurde – und diese Interpretation die Opfer des Holocaust noch mehr polonisierte als internationalisierte. Die Polemik Grynbergs antwortet auf diese Rezeptionsprozesse und verdeutlicht darüber hinaus den Perspektivenwechsel auf den Genozid, der sich erst nach einigen Jahrzehnten (nicht nur in Polen) vollzog. Als Autorin der Medaillons erfüllt Nałkowska nahezu mustergültig die Aufgabe eines intellektuellen Zeugen – so wie Geoffrey Hartman den Begriff (viel später) geprägt hat (Hartman 2000). Dies gilt vor allem für die Erzählungen, die auf Interviews mit Überlebenden der Vernichtungslager basieren (»Dno«, dt. In der Tiefe; »Dwojra zielona«, dt. Grüne Dwojra; »Wiza«, dt. Die Wiese; »Człowiek jest mocny«, dt. Der Mensch ist stark). Ein intellektueller Zeuge (intellectual witness) nach Hartman zeichnet sich dadurch aus, dass er die Mühe des aktiven Zuhörens auf sich nimmt. Seine Position ist nicht einfach: Der intellektuelle Zeuge muss empathisch sein, gleichzeitig aber vorsichtig, um sich mit dem Opfer nicht zu identifizieren. Ihm drohe einerseits die Gefahr der Traumatisierung, andererseits die sich einschleichende Gleichgültigkeit. Hartman meint in erster Linie die späten sekundären Zeugen, die den (ebenfalls späten) Erzählungen der Opfer-Zeugen zuhören, allerdings geht er über die zwischengenerationelle familiäre Kommunikation hinaus und adressiert die Außenstehenden (Therapeuten, Schriftsteller, Künstler), die sich für die Zeugnisse der Opfer interessieren. Ein solcher sekundärer Zeuge erinnert – so Hartman – an einen Zuschauer, der die Distanz wahrt, ohne indifferent zu werden; Hartmann spricht bezeichnenderweise von spectator und bystander. Dies führt ihn zu den historischen Augenzeugen des Holocaust. Zurecht bemerkt er, dass den Augenzeugen – anders als den Opfern und Tätern – lange kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, im Laufe der Zeit aber sei ihre »Unschuld« immer weniger eindeutig gewor-
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den (Hartman 2000: 46). Die polnischen Diskussionen über die eigene Rolle als Zuschauer der Verfolgung und Ermordung der Juden während der deutschen Okkupation haben in den 1980er Jahren begonnen und dauern bis heute an. Die graue Zone des Zuschauens – mit dem gesamten Spektrum an möglichen Verhaltensweisen: vom mehrheitlichen gleichgültigen Gaffen hin zur Mittäterschaft oder aber auch Hilfeleistung – bildet den Kern der polnischen Kriegserfahrung. Interessanterweise enthält der Erzählband Nałkowskas zwei Erzählungen, die nicht nur die Opfer, sondern auch – und zwar vordergründig – polnische Augenzeugen fokussieren (»Kobieta cmentarna«, dt. Die Friedhofsfrau; »Przy torze kolejowym«, dt. Am Bahndamm). Nałkowskas frühe intellektuelle Zeugenschaft, die den späteren Postulaten Hartmans – einschließlich seiner Beschreibung von sekundären Zeugen als spectators und bystanders – sehr nahe kommt, verdankt sich auch den eigenen Okkupationserlebnissen der Autorin, d.h. der Rolle des Zuschauers, der sie in Warschau nicht entkommen konnte. So tritt sie in Medaillons einerseits als eine sich der eigenen Mission des Bezeugens als Mitglied der Untersuchungskommission bewusste Schriftstellerin auf, anderseits als jemand, der sich mit der polnischen – und somit auch der eigenen – bystander-Position auseinandersetzt. Von dieser Erfahrung weiß man auch aus ihren, meist sehr lakonischen, Kriegstagebüchern – vor allem aus den Notizen vom Frühjahr 1943, aus der Zeit des Aufstands im Ghetto: »Ich lebe neben dieser Sache, ich kann leben! Aber nun steht es nicht mehr gut um mich, ich verwandle mich in jemand anderen. Wie kann ich dazu gezwungen sein, darin zu sein, bei alledem nur noch zu leben [leicht unverständlich auch im Original, MM]. Es ist eine Schande, nicht nur eine Qual. Es ist eine schreckliche Scham, nicht nur Mitleid. Alle Anstrengungen, durchzuhalten, nicht verrückt zu werden, irgendwie sein Selbst in diesem Grauen zu bewahren, empfindet man als Schuld. (29.04.1943)«10
10 »Żyję obok tego, mogę żyć! Ale wreszcie jest ze mną źle, wreszcie zmieniam się w kogoś innego. Jak mogę być do tego zmuszona, żeby w tym być, żeby już tylko żyjąc – przystawać! Jest to jeszcze hańbą, nie tylko męczarnią. Jest to straszny wstyd, nie tylko współczucie. Wszelkie wysiłki, aby wytrzymać, by nie dostać obłędu, by jakoś zachować siebie w tej grozie, uczuwa się jak winę.« (Nałkowska 1996: 446) (Über. v. Verf.). Die diaristischen Notizen Nałkowskas aus dieser Zeit sind vorsichtig und dadurch nicht immer verständlich. Die Autorin hat nach dem Krieg an einigen Stellen ihres Kriegstagebuchs kurze Erklärungen eingefügt. Viele chiffrierte Notizen hat die Herausgeberin der Tagebücher, Hanna Kirchner, entziffert. Ein Heft vom Beginn des
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In Medaillons gibt es keine Spur des emotionalen Stils der Tagebuch-Notizen mehr, auch wenn die Erzählung »Die Friedhofsfrau« direkt auf eine diaristische Notiz zurückgeht (ebd.: 445-446; 28.04.1943). Nałkowska schildert darin eine kurze Begegnung mit einer Augenzeugin der Ghetto-Vernichtung während des Aufstands, die an der ›arischen Seite‹ in unmittelbarer Nähe der Ghetto-Mauer wohnt und das Geschehen täglich beobachtet. Gleichzeitig voller Mitleid und paranoider antisemitischer Phobien stellt die Friedhofsfrau eine – für die Erzählerin – unverständliche Chiffre dar, in der auch die Ambivalenz der polnischen Augenzeugenschaft des Holocaust eine prägnante Figur findet. »Am Bahndamm« ist die zweite Erzählung des Bandes, die den polnischen Augenzeugen gewidmet ist. Gerade in dieser Erzählung findet sich ein merkwürdiger – und symptomatischer – Riss in der Erzählweise der Autorin.
3. AM B AHNDAMM Der Plot lässt sich knapp wie folgt zusammenfassen: Eine jüdische Frau, die aus dem Zug ins Vernichtungslager gesprungen ist und dabei angeschossen wurde, liegt einen Tag lang verletzt am Bahndamm, umkreist von einer Gruppe zuschauender Dorf-Bewohner, die sich nicht im Stande sehen, ihr zu helfen. Am Abend wird die Frau von einem jungen Mann, der den ganzen Tag dabei war, mit der Verletzten gesprochen und ihr auf ihren Wunsch hin Wodka und Zigaretten besorgt hat, erschossen. Eine Tat zwischen Mitleid und Sadismus. Die Narration wirkt bei genauerem Hinschauen etwas rätselhaft. Im Text der Erzählung wird zweimal darauf hingewiesen, dass die Geschichte von einem Augenzeugen erzählt wird, der also selbst den Zuschauern am Bahndamm angehört haben muss. Nur der erste Abschnitt des Textes, in dem die Erzählerin die Fluchtmethoden aus den nach Treblinka fahrenden, verriegelten Waggons schildert, ist eindeutig auktorial. Über die dramatischen Geschehnisse am Bahndamm berichtet der Erzählerin ein »Mann, der das Erlebnis nicht begreifen und nicht vergessen kann« (Nałkowska 1956a: 23)11. Wer ist dieser Mann? Er ist der erste, der morgens die verletzte Frau entdeckt: »Als er sie fand, war sie allein. Aber
Jahres 1943 hat Nałkowska aus Angst vor einer Gestapo-Revision verbrannt. In den späteren Notizen bedauert sie immer wieder den Verlust. 11 »Człowiek, który nie może zrozumieć i nie może zapomnieć […]« (Nałkowska 1954b: 697).
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allmählich erschienen immer mehr Leute in dieser Einöde.« (ebd.: 24)12 Er ist auch der letzte, der den Ort des Geschehens verlässt, denn er weiß auch, was passierte, nachdem die Frau von dem »jungen Mann«, von dem »man hätte annehmen können, daß sie ihm leid tat…« (ebd.: 29)13, erschossen wurde: Nachts kamen zwei Männer aus dem Wald [vermutlich ebenfalls jüdische Flüchtlinge aus dem Zug, MM], die Frau war aber bereits tot, und morgens kam der DorfSchulze, der dafür sorgte, dass die Leiche begraben wurde. Der Berichterstatter gehörte also nicht nur der Zuschauergruppe an, sondern war auch – der Logik der Erzählung folgend – der beharrlichste Gaffer. Unklar wird nun, wo er sich am Kulminationspunkt des Geschehens befand: Abends in der Dämmerung »war niemand mehr da, bis auf die beiden [polnischen, MM] Polizisten, die wiedergekommen waren, und den jungen Mann, der nicht mehr von der Stelle wich.« (ebd.: 28)14 Die verletzte Frau bat die Polizisten, sie zu erschießen, und während diese zauderten, griff der junge Mann zur Waffe. Der berichtende Augenzeuge wird in dieser Erzählung zu einem allwissenden und -sehenden Geist; er verfügt teilweise über ein Wissen, über das er ›realistisch‹ nicht verfügen kann. Diese Art Narration wirkt irritierend, denn sie weicht von der Erzählweise in den anderen Erzählungen, die auf der Basis der Zeugenberichte entstanden sind, ab. Die Erzählerin geht mit den Berichten der Opfer behutsam um und gibt sie in der direkten bzw. transponierten Rede wieder, wobei die Autorschaft des Gesagten sich eindeutig zuordnen lässt. In der Kurzgeschichte »Am Bahndamm« dagegen wird der Bericht des Augenzeugen vollständig – bis auf den letzten Satz des Textes – in der auktorialen Paraphrase wiedergegeben. Die Erzählung des Augenzeugen und die Narration verschmelzen miteinander. »Es war gerade die Zeit des verstärkten Terrors. Einem Flüchtigen helfen oder Schutz gewähren, darauf stand der Tod.« (ebd.: 24)15 Es ist unklar, wessen Worte es sind: der Erzählerin oder des Augenzeugen? Es ist auffallend, dass Nałkowska ausschließlich in diesem Text auf eine klare Markierung der Stimmen verzichtet und somit der Erzählerin keine Distanz zur Rede des Zeugen gewährt. In der verfänglichen Überlagerung der Stimmen der Erzählerin und des Berichterstatters ist es weder möglich, zu unterscheiden, wer spricht,
12 »Gdy znalazł ją, była sama. Ale powoli zjawiali się ludzie w tym pustkowiu« (Nałkowska 1954b: 697). 13 »można było myśleć, że mu jej żal…« (Nałkowska 1954b: 699). 14 »nie było przy niej nikogo prócz dwóch policjantów, którzy wrócili, i tego jednego, który już teraz nie odchodził wcale« (Nałkowska 1954b: 699). 15 »Czas był wzmożonego terroru. Za danie pomocy lub schronienia groziła pewna śmierć.« (Nałkowska 1954b: 697).
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noch wer mit wem das Wissen teilt. Somit schließt sich die externe Erzählerin selber dem Kreis der Zuschauer an. Nałkowskas Erzählung verhandelt die perzeptiv und moralisch fragliche Position der Augenzeugen zwischen Gleichgültigkeit, Angst (vor nachbarschaftlicher Denunziation, wohlgemerkt), Mitleid und Komplizenschaft, die in der Figur des »jungen Mannes« geradezu explodiert. In beiden den polnischen Augenzeugen gewidmeten Erzählungen umkreist die Autorin die Ambivalenz jener Position, die sie in den prägnanten, paradoxen Figuren (der Friedhofsfrau und des jungen Mannes) pointiert. Die Aufhebung der narratologischen Distanz in der Erzählung »Am Bahndamm« wirft Fragen auf: Weist dieses Erzählverfahren darauf hin, dass über die polnischen Augenzeugen des Holocaust selbst vom Standpunkt eines Augenzeugen geschrieben wird? Kann ein Augenzeuge (bystander) zum intellektuellen Zeugen für einen anderen Augenzeugen nur dann werden, wenn er auf die (beide Parteien) schonende Distanz verzichtet? Will man dieser Interpretation folgen, dann hat Nałkowska durch die Störung des Verfahrens die prekäre Position der polnischen Augenzeugen-Literatur herausgestellt. Es kann als Ironie der Geschichte gesehen werden, dass das frühe, radikale (und als solches in der polnischen Literatur seltene) literarische Zeugnis Nałkowskas zur Pflichtlektüre in der Schule wurde, um in der schulischen (bis heute um den guten Ruf der polnischen Augenzeugen besorgten) Interpretation geglättet und verharmlost zu werden.16 Dieser Interpretation hat sowohl der universalistische Sprachduktus Nałkowskas als auch ihr elliptisch-lakonischer, auf dem understatement basierender Stil zugearbeitet, der ihre Erzählungen nicht nur vor der gedächtnispolitisch konformen Lesart nicht schützen konnte, sondern sie auch – mit der wachsenden zeitlichen Distanz – immer kryptischer werden ließ. Das Wirkungspotenzial der Kurzerzählung »Am Bahndamm« zeigte sich aber mit großer Deutlichkeit in der Verfilmung von Andrzej Brzozowski im Jahre 1963. Der gleichnamige Kurzfilm (13,31 Min.) war die Abschlussarbeit Brzozowskis – heute eines Klassikers des polnischen Dokumentarfilms – an der Filmhochschule in Łodź. Brzozowskis Film gehörte zu den am längsten durch die Zensur verbotenen Filmproduktionen in der Volksrepublik Polen: 28 Jahre
16 Die nach wie vor gültige schulische Interpretation der Erzählungen »Die Friedhofsfrau« und »Am Bahndamm« abstrahiert u.a. weitgehend von der historischen Erfahrung der bystanders in floskelhaften Formeln wie »die Ratlosigkeit der Zeugen des Völkermordes« (vgl. u.a. die für die Schüler kommentierte Ausgabe, Kraków 2011). Nicht weniger problematisch ist die Selbstverständlichkeit der Benennung der Augenzeugen (bystanders) als Zeugen.
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lang durfte er nicht ausgestrahlt werden und wurde erst 1992 im polnischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt (vgl. Pilzner 2012). Der Regisseur gestaltete den Plot noch asketischer als die Autorin, indem er auf einen Berichterstatter (Off-Erzähler) verzichtet und die Kamera auf die beiden Hauptfiguren – die verletze Frau am Bahndamm (Halina Mikołajska) und den jungen Mann (Marcin Kociniak) – gerichtet hat. Einige Menschen stehen im Hintergrund, man hört nur Fetzen ihrer Gespräche. Brzozowski lokalisiert die Handlung im Februar 1943 und lässt die Ereignisse in einer winterlichen Landschaft stattfinden. Einige Gesten der Hauptfiguren weichen von der Erzählung ab: In der Begegnung mit dem jungen Mann versucht die erschrockene Frau im ersten Impuls ihm ihren goldenen Ehering anzubieten – eine reflexartige Reaktion der Verfolgten. Als ein Zug sich der Stelle am Bahndamm nähert, versucht sie, auf die Gleise zu kriechen, was ihr aber nicht gelingt. Wie in der Erzählung bietet der Mann ihr eine Zigarette an – und wie in der Erzählung erschießt er sie nach einem kurzen Gespräch mit den Polizisten. Mit dem Schuss (die Kamera zeigt den schießenden Mann) endet der Film, in dem das Schockierende dieser Tat – ohne den begleitenden Kommentar der Erzählung – geradezu herausgestellt wird. In einem Interview in den 1990er Jahren sprach Brzozowski über seine Erfahrungen mit der Zensur: »Das war ein Tabu-Thema. Die einen sagten, dass man es nicht zeigen dürfe, wie ein Pole auf eine Jüdin schießt, da es zu unnötigen Verallgemeinerungen kommen könne. […] Ich erinnere mich, dass Wincenty Kraśko, als ich mich mit dem Hinweis verteidigte, dass ich doch eine Schullektüre verfilmt hatte, sagte: »Wenn man es liest, merkt man nicht, wie schrecklich das ist. Erst wenn man es auf dem Bildschirm sieht, wird es erschütternd.«17
4. E VIDENZ , AFFEKT
UND
W IEDERHOLUNG
In der theoretischen Reflexion des Bildes als Movens werden Affekte als Effekte ikonischer Wirksamkeit hervorgehoben, dabei erscheinen die ikonische Evidenz der Bilder und ihre affizierende Kraft als miteinander verschränkte ›Beweger‹ der erinnernden Imagination (vgl. Boehm 2008). Es stellt sich die Frage, welche Evidenzen und Affekte entstehen, wenn – umgekehrt – die (erinnernde) Imagi-
17 »To był temat tabu. Jedni mówili, że nie wolno pokazywać, jak Polak strzela do Żydówki, bo może dojść do niepotrzebnych uogólnień. […] Pamiętam, że kiedy broniłem się mówiąc, że sfilmowałem przecież szkolną lekturę, Wincenty Kraśko powiedział: ›Jak się czyta, to nie widać, jakie to straszne. Dopiero jak się widzi na ekranie, robi się wstrząsające‹« zit. nach Pilzner 2012: 177.
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nation zum ›Beweger‹ des Bildes wird. Brzozowskis Transposition der Erzählung Nałkowskas in filmische Bilder hat den literarischen Text soweit an Ausdruckskraft überboten, dass dies – unter spezifischen gedächtnispolitischen Bedingungen im sozialistischen Polen – zum Filmverbot (Bildverbot) führte. In dem eingangs thematisierten fotografischen Reenactment Tadeusz Rolkes wird wiederum ein Erinnerungsbild ikonisch – in der fotografischen Aufnahme seiner performativen Nachstellung. Ausgestellt als Kunstwerk in einem öffentlichen Raum soll die Fotografie eine individuelle Erinnerung an ein dramatisches Ereignis bezeugen, zugleich evoziert sie aber unweigerlich ein wohlbekanntes Motiv des polnischen historischen Gedächtnisses. Es ist ein Motiv, das mit der obskuren Erfahrung der polnischen Augenzeugenschaft des Holocaust aufs Engste verbunden ist. In der Installation Rolkes wird dieses Motiv einerseits im Sinne des Ausstellens (des Vor-Augen-Stellens) evident, andererseits erfährt seine Evidenz im Akt der Sichtbarmachung mithilfe einer inszenierten Fotografie eine signifikante Transformation. In seiner Monografie zum polnischen Nachkriegstheater angesichts des Holocaust behauptet Grzegorz Niziołek (2013), dass die allgegenwärtige, einer gewissen Theatralität nicht entbehrende polnische Zuschauer-Erfahrung nach dem Krieg schnell verdrängt wurde und dann im polnischen Nachkriegstheater, darunter auch im avantgardistischen Theater Jerzy Grotowskis und Tadeusz Kantors, als Wiederholung zurückkehrte. Das Nachkriegstheater zeigt sich von jener »Erfahrung der übermäßigen Sichtbarkeit und zugleich der Tilgung jeglicher Spuren der Ereignisse, deren Zeuge man war« (ebd.: 37), tief beeinflusst, was nicht bedeutet, dass es sich dabei um ein Theater im Dienste der Erinnerung handelt. Niziołek spricht von der kompulsiven Wiederholung im psychoanalytischen Sinne und analysiert Aufführungen, in denen Szenen der Gewalt, Erniedrigung und Zerstörung Bilder des Holocaust evozieren, ohne auf die historischen Ereignisse zu referieren. Die nicht selten evidente Sichtbarkeit der HolocaustBilder im Avantgarde-Theater wurde gleichzeitig durch den universalistischen Anspruch der nicht-mimetischen Kunst konterkariert, die es bevorzugte, die historische Referenz einer Metaphorisierung oder grotesken Sinnentleerung unterzuordnen. Besonders symptomatisch erscheinen dem Autor dabei spannungsvolle, darunter sadomasochistische Konstellationen zwischen Schauspielern und Zuschauern sowie die Situierung des Publikums in der Position von voyeuristischen oder spöttischen Gaffern, was sowohl bei Grotowski als auch bei Kantor häufig vorkam. »Wir wissen nicht, was wir sehen« (ebd.: 61) – mit diesen Worten bringt Niziołek das Paradox der Wiederholung von Verdrängung der Kollektiverfahrung der bystanders im polnischen Nachkriegstheater auf den Punkt.
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Wenn man Niziołek weiter denkt, dann ließe sich die gegenwärtige enorme Konjunktur populärer Reenactments in Polen, zu deren Spezifik eine starke, geradezu obsessive Fokussierung auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs gehört,18 als Gegenteil zur kompulsiven Wiederholung in der avantgardistischen Performance verstehen. Diese Konjunktur findet Widerhall in der Kunst – und in diesem Kontext ist auch das fotografische Reenactment Rolkes zu sehen. In der extrem (und nicht selten naiv) mimetischen Verkörperung und Zurschaustellung entlädt sich eine theatralische Energie der Evozierung von Vergangenheit, die mit dem Begehren einhergeht, in der Vergegenwärtigung die zeitliche Distanz aufzuheben. Das Reenactment ist Mittel einer Erinnerungskultur, die vor allem auf das affektive Nacherleben setzt und (immer) weniger auf das intellektuelle Zeugnis. Die Wiederholung im Reenactment lässt sich dabei – um die Freud’sche Unterscheidung zu bemühen (Freud 1991) – weder mit der zwanghaften, traumatischen Wiederholung des Verdrängten noch mit dem heilenden, zur Erinnerung führenden Durcharbeiten, das auch das Vergessen möglich macht, adäquat beschreiben. Die Wiederholung im Reenactment folgt einer Lust am Präsenthalten der Vergangenheit, der eine hypnotische Kraft bescheinigt wird – in den Nachstellungen und in der Produktion von Bildern: Jedes Reenactment, nicht nur ein fotografisches, hinterlässt neue Bilder, die im Netz oder in den Galerien als Dokumente einer performativ-visuellen Faszination von der dramatischen Geschichte zirkulieren. Die Frage bleibt offen, inwieweit sich das Phänomen des Reenactments als Volksspiel im heutigen Polen noch mit der polnischen bystanders-Erfahrung in Verbindung bringen lässt. Offenkundig ist diese Verbindung im fotografischen Reenactment Rolkes. Ein (kindlicher) Augenzeuge wird – nach 70 Jahren – zum Zeugen, indem er das Gesehene aus der Latenz seiner Erinnerung in die Evidenz des ausgestellten fotografischen Bildes überführt. »Wir wissen nicht, was wir lesen« – so ließe sich, Niziołek paraphrasierend, die kanonisierte Lesart der Schullektüre »Am Bahndamm« pointieren, auch wenn sich dieser Effekt keineswegs einer avantgardistischen Schreibtechnik verdankt. Erreichte die Verfilmung Brzozowskis eine wirkungsvolle visuelle Explizierung dessen, wovon der Text Nałkowskas handelt, so kehrt das Motiv der Leiche am Bahndamm im fotografischen Reenactment Rolkes als ein postmemoriales Trugbild wieder: Schaudererregend und zugleich fast erotisch-anziehend
18 Vgl. zum populären Reenactment in Polen, das sich u.a. auffallend stark auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs bezieht, Szlendak u.a. 2012.
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wirkt die weibliche »schöne Leiche«19 auf dem Bild, das ein ambivalentes visuelles Vergnügen bereitet. Das Trügerische des Bildes rührt daher, dass die fotografische Referenz, das So-ist-es-gewesen (im Sinne Barthes’ [1985]) durch die Nachstellung getäuscht wird. Nicht die Existenz bestätigt Rolkes Fotografie, sondern ein imaginatives Nachbild, das – zum tableau vivant arrangiert – ins fotografische Bild verwandelt wurde. Nachstellungen von Bildern sind spezifische Bildakte,20 die auf dem Austausch von Körper und Bild beruhen: Im Falle des Reenactments Rolkes führt der Weg vom Realen zur Fotografie durch ein lebendes Bild, in dem ein Erinnerungsbild ins Szene gesetzt wird. Die Fotografie Rolkes ist also keine Spur des Realen mehr, auf welches sie referiert; denn womit sie indexikalisch verbunden ist, ist lediglich die Realität der Inszenierung. Vielmehr wird die nachgestellte Fotografie – gerade durch den in ihrem mimetischen Illusionismus gekappten Konnex zum Realen – zu einem Sinnbild, d.h. zu einer ästhetischen Bildformel, in der sich das Unheimliche der historischen Erfahrung skopophil sublimiert.
L ITERATUR »Archiwum Tadeusza Rolke«, http://artmuseum.pl/pl/archiwum/archiwumtadeusza-rolke/o-archiwum (gesehen am 05.02.2016). »Kobieta na torach« (Interview mit Tadeusz Rolke von Jacek Pomorski), in: Gazeta Wyborcza, Magazin Wysokie Obcasy vom 24.09.2010, http://www. wysokieobcasy.pl/wysokie-obcasy/1,53668,8386327,Kobieta_na_torach. html (gesehen am 05.02.2016). Arns, Inke/Horn, Gabrielle (Hg.) (2007): History will repeat itself: Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M. Barthes, Roland (1985): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. Blackson, Robert (2007): »Once More...With Feeling: Reenactment in Contemporary Art and Culture«, in: Art Journal 66.1 (Spring 2007), S. 28-40. Boehm, Gottfried (2008): »Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz«, in: ders., Birgit Mersmann/Christian Spies (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, Paderborn, S. 15-43.
19 Vgl. Untersuchungen zur weiblichen Leiche als einer zugleich morbiden sowie ästhetisch ansprechenden Repräsentation von Elisabeth Bronfen 1994. 20 Bredekamp 2010; zu tableaux vivant und anderen »lebenden Bildern« vgl. S. 109-121.
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Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Bronfen, Elisabeth (1994): Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München. Dąbrowska, Maria (2009): Dzienniki, Band 5: 1942-1947, Warszawa. Dubois, Philippe (1998): Der fotografische Akt, Amsterdam/Dresden. Freud, Sigmund (1991): »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders., Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt a.M., S. 126-136. Grynberg, Henryk (2002): »Holocaust w literaturze polskiej«, in: ders., Prawda nieartystyczna, Wołowiec, S. 141-181. Hartman, Geoffrey (2000): »Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah«, in: Ulrich Baer (Hg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a.M., S. 35-52. Lütticken, Sven (Hg.) (2005): Life, Once More: Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam. Nałkowska, Zofia (1954a): »Dorośli i dzieci w Oświęcimiu« (Medaliony), in: dies., Pisma wybrane, Warszawa, S. 713-717. — (1954b): »Przy torze kolejowym« (Medaliony), in: dies., Pisma wybrane, Warszawa, S. 696-699. — (1956a): »Am Bahndamm«, in: dies., Medaillons. Übers. v. Henryk Bereska, Berlin, S. 21-29. — (1956b): »Erwachsene und Kinder in Auschwitz«, in: dies., Medaillons. Übers. v. Henryk Bereska, Berlin, S. 99-108. — (1996): Dzienniki, Band 5: 1939-1944, Warszawa. — (2011): Medaliony, Kraków. Niziołek, Grzegorz (2013): Polski teatr Zagłady, Warszawa. Otto, Ulf (2012): »Re: Enactment«, in: ders./Jens Roselt (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments, Bielefeld, S. 229254. Pilzner, Joanna (2012): »Świadkowie? Przy torze kolejowym Andrzeja Brzozowskiego«, in: dies., Kamienie na macewie. Holocaust w polskim kinie, Kraków/Budapest, S. 163-180. Szlendak, Tomasz u.a. (2012): Dziedzictwo w akcji. Rekonstrukcja historyczna jako sposób uczestnictwa w kulturze, Warszawa. Zaleski, Marek (2004): »Różnica«, in: ders., Formy pamięci, Gdańsk, S. 140164.
III. Bildformeln zwischen Bild und Text – Instrumente der Konstruktion und Revision des kulturellen Gedächtnisses
Pathosformel »tote Mutter« zwischen Bild und Text1 S USI K. F RANK
1. »P ATHOSFORMEL « Unter dem Begriff »Pathosformel« verstand Aby Warburg eine »pathetische Gebärdensprache« (Warburg 1906), die die Kunst der Renaissance aus der Antike übernahm, und damit die »echt antiken Formeln gesteigerten körperlichen und seelischen Ausdrucks« in eine universale Sprache bewegter Lebensschilderung überführte. Während es Warburg – typisch für seine Zeit – um die Aufdeckung bzw. das Postulat einer ikonografischen Kontinuität der Antike ging, werden in der aktuellen bildwissenschaftlichen Rezeption des warburgschen Begriffs v.a. zwei Aspekte hervorgehoben: Für Horst Bredekamp, dessen Verständnis der Macht der Bilder und des »Bildakts« an Warburgs bildwissenschaftlichem Ansatz anknüpft, steht der funktionale Aspekt des Formelhaften bzw. Topischen der »Pathosformel« im Vordergrund. Warburg, so Bredekamp, beschreibt mit dem Begriff »Pathosformel« eine Technik der »bildenergetischen Bewältigung« von größter Angst, Todesangst, von Ereignissen von höchster, die Grenzen des Erträglichen überschreitender emotionaler Wirkung/Intensität. »Die Pathos-Formel« – so Bredekamp – »begründet im Verständnis von Warburg die Möglichkeit, nicht zu bewältigende, zerstörerische Energien des Psychischen und Sozialen durch visuelle Formen zu
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Teile dieses Beitrags wurden bereits publiziert im Band Ethos und Pathos: Mediale Wirkungsästhetik im 20. Jahrhundert in Ost und West, hg. von R. Nicolosi / T. Zimmermann, Köln u.a. 2017, S. 183-202.
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entäußern und damit beherrschbar zu machen […].« (Bredekamp 2005) Dabei geht es jedoch nicht darum zu entschärfen, sondern vielmehr »um eine bildenergetische Bewältigung von tödlicher Naturangst. Indem die Angst distanziert wird, entsteht Kultur«.2 Dieses Unfassbare, über alle Maßen Erschreckende wird – so die Warburg explizierende These – mithilfe ikonografischer Formeln, die über Jahrhunderte tradiert werden, in den Rahmen des Erfahrbaren und damit repräsentativ und narrativ Bearbeitbaren integriert. Die Herausgeber der einbändigen Warburgausgabe, Sigrid Weigel und Martin Treml, erläutern die intermediale Dimension des Begriffs »Pathosformel«, die bei Warburg selbst weitgehend unreflektiert geblieben war3, als eine Art medial invertierte Ekphrasis, »eine Ekphrasis, deren performatives Element – die in
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Bredekamp (2005) verweist auf Warburgs Bericht über den Tanz der Hopi-Indianer beim Schlangenritual, wo durch Bilder der Schlangen und Bildgesten eine Distanz geschaffen wird, die es schließlich ermöglicht, die Giftschlange furchtlos in den Mund zu nehmen.
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Das beste Beispiel hierfür liefert Warburgs bekannter Düreraufsatz, in welchem der Begriff »Pathosformel« erstmals ausführlich zur Anwendung kam. Seine Argumentation macht deutlich, dass er Bilder häufig als Illustrationen bzw. bildlich performative Inszenierungen von Textvorlagen auffasste und gerade dieses intermediale Verhältnis mit dem Begriff »Pathosformel« bezeichnete. In der Beschreibung der Wanderung und Wandlung der Darstellung des Todes von Orpheus in der europäischen Tradition – die Pathosformel besteht in ihrem ikonografischen Kern hier in der erschrockenen Armgeste, mit der Orpheus versucht, die Angreifer abzuwehren und den eigenen Körper zu schützen – schenkt Warburg dem Aspekt der intermedialen Bezüge große Aufmerksamkeit ohne ihn dabei zu explizieren oder gar zu problematisieren: »auch andere, ganz verschiedenartige Kunstwerke mit Bildern vom Tode des Orpheus, […] zeigen fast völlig übereinstimmend, wie lebenskräftig sich dieselbe […] Pathosformel, auf eine Orpheus- oder Pentheusdarstellung zurückgehend, in Künstlerkreisen eingebürgert hatte; vor allem beweist dies aber der Holzschnitt zur Venezianischen Ovidausgabe von 1497 […] da diese Illustration gleichfalls […] auf dasselbe antike Original zurückgeht, […] Hier ertönt zum Bild die echt antike, der Renaissance vertraute Stimme, denn daß der Tod des Orpheus […ein] leidenschaftlich und verständnisvoll nachgefühltes Erlebnis aus dem dunkeln Mysterienspiel der Dionysischen Sage war, beweist das früheste italienische Drama Polizians, sein in ovidianischen Weisen sprechender ›Orfeo‹, […]« Warburg, A.: Dürer und die italienische Antike. In: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905. Leipzig 1906, 55-60.
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der Zeit stattfindende dramatische Aufführung – im Modus des Vor-AugenFührens als Bewegung im Bild festgehalten ist.« (Weigel/Treml/Ladwig 2010: 37) Sowohl Bredekamp als auch Weigel und Treml verweisen in ihren Warburglektüren auf Dimensionen des Begriffs »Pathosformel«, die auch für den Pathosbegriff der Rhetorik relevant sind: Denn auch in der Rhetorik dienten Pathosverfahren der darstellerischen, kommunikativen und manipulativen Bewältigung von Undarstellbarem, unsagbar Großem, Schrecklichem, Mächtigem oder Schönem. Und auch in der Rhetorik fungieren intermediale Figuren – rhetorische ›Visualisierung‹ zum Zweck der Vergegenwärtigung – als wichtiges PathosInstrument. Ich möchte im Folgenden anhand des Motivs der »toten Mutter mit lebendigem Kind«, das William J.Th. Mitchell neulich als »Ikone für den totalen Krieg, für Genozid und ethnische Säuberungen« (Mitchell 2011) bezeichnet hat, den Dimensionen des Pathos im Kontext solcher topischer Konstellationen weiter nachgehen und zeigen, dass es sich dabei um eine Pathosformel handelt. Ohne auf den Begriff »Pathosformel« zurückzugreifen, hat Mitchell es zum Kernbestand der Ikonografie ziviler Kriegs- und Katastrophenopfer im europäischen Bildgedächtnis gezählt, das auch in unserer Gegenwart nicht an Aktualität verloren hat. Als aktuelle Beispiele nannte Mitchell Kriegsreportagen aus Gaza. Obwohl in Bezug auf dieses Motiv nicht durchgehend im Sinne Warburgs von einer »Gebärdensprache« gesprochen werden kann, möchte ich hier doch von einer Pathosformel sprechen, zum einen weil es sich – wie Mitchell festgestellt hat – um eine ikonografische Bildformel handelt, die immer wieder im Kontext von Krieg oder Katastrophen eingesetzt wird; und zum anderen weil hier im Sinne Bredekamps eine energetische und bildökonomische PathosStrategie erkennbar ist, die Unfassliches ikonografisch erfasst und damit verarbeitbar macht. Drittens manifestiert sich in den einzelnen Realisierungen dieser Formel ein intermediales Moment, das sowohl für die Tradition des rhetorischen Pathos als auch für Warburgs Begriff relevant ist. Um dieses Moment zu verdeutlichen, werde ich sowohl bildliche als auch textuelle Realisierungen der Formel berücksichtigen.
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2. »P ATHOSFORMEL « VOR DEM H INTERGRUND RHETORISCHEN P ATHOSBEGRIFFS
DES
Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Inbezugsetzung von Warburgs »Pathosformel« zum Pathosbegriff der Rhetorik: Als Begriff der Rhetorik bezeichnet pathos (lat. affectus) die Darstellung von intensiven, plötzlich aufgrund eines Ereignisses auftretenden (negativen oder positiven) Gefühlen zum Zweck der Übertragung derselben auf den Rezipienten. Seit der Antike wird zwischen echtem und falschem pathos unterschieden in Abhängigkeit von seiner Angemessenheit (Gebot des aptum) in Bezug auf den Gegenstand der Darstellung und in Bezug auf die Aufrichtigkeit bzw. Autorität des Sprechers.4 In Bezug auf das aptum galt insbesondere seit der lateinischen Antike (Cicero, Quintilian; aber auch Pseudo-Longin), dass das pathos in der hierarchischen Skala der Gattungen der höchsten Ebene zugeordnet wurde und nur höchsten Themenbereichen bzw. dem genus grande vorbehalten bleiben sollte. Zu diesen Themenbereichen gehörten das Heroische, Übermenschliche, Mächtige, Göttliche, das Tragische, Schreckliche, höchste Leidenschaft bzw. alles, was durch Überschreitung (des Menschlichen, des Fassbaren etc.) definiert ist. Das kann semantisch, in Hinblick auf die Positionierung des Menschen/Menschlichen und seine moralischen Werte weit auseinander liegen: Das Heroische oder die Ohnmacht des Menschen, unerträgliches Leid, Schrecken und Tragik oder aber ein unfassbares Verbrechen oder eine unfassbare, die gesamte Menschheit betreffende Katastrophe (wie z.B. Krieg oder Naturkatastrophen) können gleichermaßen erhabene/hohe Themen sein. Dieser Themenbereich, das genus grande, erfordert zu seiner Darstellung pathos-Verfahren, deren Wirkziel movere in der Übertragung des pathos auf den Rezipienten besteht. Die Palette von pathos-Verfahren ist extrem breit, keineswegs alle haben mit überbordendem Figurenreichtum resp. Schmuck zu tun, manche sind auch negativ maximalistisch: Sowohl Figurenvielfalt und -anhäufung (copia) als auch ›Minusfiguren‹ wie Verstummen und Schweigen gehören dazu. Entscheidend ist allein, dass ihre Form die Dimensionalität und das Moment der Überschreitung (des Sagbaren) – positiv oder negativ – zum Ausdruck bringt. Somit werden drei Dimensionen rhetorischer Kommunikation als pathos-konstitutiv betrachtet: Red-
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Longin nennt als Voraussetzung des Erhabenen auf Seiten des Redners/Autors »megalophrosyne«, Seelengröße. Vgl. Peri hypsous 2.1 ff., insbesondere ab Kap. 9,
wo es als »Schlüsselterminus für die ethische Fundierung der Longinschen Erhabensheitstheorie« erkennbar wird. Vgl. Martin Fritz, Vom Erhabenen, Beiträge zur historischen Theologie 160, Tübingen 2011, 46.
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ner/Autor, Gegenstand bzw. Thema und die Darstellung. Nur sofern alle drei in angemessener Relation zueinander stehen, kann die vierte, genus-konstitutive Dimension, die pathos-Wirkung erzielt werden. Da Pathosverfahren prinzipiell wirkungsästhetisch fokussiert sind, bildet neben der Darstellung eines Ereignisses oder einer Handlung die Darstellung von höchst affizierten, emotionalen Reaktionen auf das Geschehen ein wichtiges pathos-Verfahren. Genau dieses Moment nimmt Warburg in den Blick und legitimiert so den Mehrwert des Begriffs »Pathosformel« gegenüber »Motiv« oder »Topos«: Als Elemente einer »Gebärdensprache« stellen Pathosformeln zugleich mit einem Geschehen auch die affektive Reaktion darauf dar, laden das Geschehen affektiv auf und zielen darauf ab, ein unmittelbares Verständnis des Unfasslichen mithilfe von Affektübertragung zu erreichen. Obwohl etwa Longin die Kategorie des hypsous, des Erhabenen, in ganz engen Zusammenhang mit pathos bringt, lässt er doch die Möglichkeit einer (angemessenen) Darstellung des Erhabenen ohne pathos-Verfahren, d.h. ohne Affektdarstellung offen. Dies ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern wichtig, als einige Realisierungen der »toten Mutter« ebenfalls ohne pathos-Verfahren auskommen. Da es in diesen Fällen aber ganz genauso darum geht, die pathos-Wirkung des movere zu erreichen – oder ex negativo sogar noch zu steigern – möchte ich diese Fälle zunächst in meine Betrachtung einbeziehen, dann aber der Frage nachgehen, ob ihre Subsumierung unter den Begriff »Pathosformel« zulässig ist. Ein Argument könnte sein, dass der kleinste gemeinsame Nenner aller pathos-Verfahren die Strategie des Vor-Augen-Stellens (enargeia bzw. evidentia) ist. Und diese bedarf nicht notwendigerweise der Darstellung von Affektreaktionen.
3. ANWENDBARKEIT AUF T EXTE
DES
B EGRIFFS »P ATHOSFORMEL «
Zur Frage der Übertragbarkeit des Begriffs »Pathosformel« auf Texte gibt es ältere und aktuelle Überlegungen. Schon Warburgs Mitarbeiterin, Gertrud Bing, sah eine Parallele zum Begriff »Topos« und schrieb 1965: »In der Rhetorik wird eine zur Konvention gewordene Formel, die laufend verwendet wird, um eine Bedeutung oder eine Stimmung mitzuteilen, Topos genannt. Warburg stellt das Vorhandensein von etwas analogem in der bildenden Kunst fest.« (Bing 19925)
5 Bing, G.: Aby M. Warburg. In: Wuttke, V. (Hrsg.): A.M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen Baden-Baden 1992, 437-454. Vgl. neuere Überlegungen zur Differenzierung zwischen Pathos und Topos in der Bildkunst bei
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Jüngst hat nun Joachim Knape (2010) den Begriff »Pathosnarrative« als Bezeichnung einer textuellen Parallele zu Pathosformeln im Bild vorgeschlagen. Er versteht darunter »spezifisch konturierte verbalsprachliche Vollzüge einer Affekthandlung im Erzählkontext« (ebd.: 34). Ausgehend von Lessings Differenzierung zwischen Raum- und Zeitkünsten schreibt er: »Pathosnarrative müssen als Handlungen formuliert sein«, und benennt eine ganze Reihe solcher Pathosnarrative: »Körperharmonie, Affektspiegelung, Entscheidungsunruhe, Bewegungsirritation, Unsagbarkeitsnarrativ, Echonarrativ, Verdinglichungsnarrativ, Liebesflucht-Reise.« (ebd.: 43) In dieser Aufzählung wie auch an den Beispielen fällt auf, dass das eigentlich narrative Moment in ihnen – d.h. das Ereignis als unumkehrbare Veränderung von einem Zustand a in einen Zustand b – eher schwach ausgeprägt ist, da es sich eher um Situationen und Zustände vor oder nach einem Ereignis oder im Augenblick desselben handelt. Und es stellt sich die Frage, warum es nicht möglich sein sollte, diese Situationen bildnerisch, in der Abbildung eines dramatischen Augenblicks – wie es für eine Pathosformel typisch wäre – darzustellen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass Pathosverfahren die narrative Kontinuität des Textes unterbrechen und ihm dadurch eine Bildlichkeit verleihen, die als evidentia das Dargestellte vergegenwärtigt. In der antiken Rhetorik ist evidentia / enargeia die wichtigste pathos-Strategie. Als vergegenwärtigende Visualisierung erzielt sie eine Überschreitung des Textes zum Bild. Eine besondere, Text und Bild betreffende Relevanz des Visuellen ist im pathos-Begriff von Anfang an präsent. Im Folgenden untersuche ich einzelne wichtige Beispiele der »toten Mutter«: Zunächst vom antiken Ursprung zur Renaissance und dann weiter mit Fokus auf die russische Kunst und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei ist die regionale Fokussierung dem slavistischen Interessenschwerpunkt geschuldet. Generell gehe ich davon aus, dass diese Formel von (trans)europäischer Reichweite ist.
Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. München 2004.
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4. E XEMPLARISCHE ANALYSEN EINZELNER R EALISIERUNGEN DER P ATHOSFORMEL » TOTE M UTTER « 4.1
Westeuropäische Beispiele von der Antike bis zum 20. Jahrhundert
4.1.1 Plinius d.Ä. William J. Th. Mitchell verweist darauf, dass das Motiv der toten Mutter mit lebendigem Kind zunächst in Plinius’ d. Ä. »Naturgeschichte« (Naturalis historia) Erwähnung findet. Sie taucht gerade in jenem Kapitel auf, wo Plinius über die Wirkungsmacht der Malerei schreibt, darüber, dass mithilfe bildnerischer mimesis der berühmte Täuschungseffekt erzielt werden kann, und darüber, dass die Malerei endlich auch das Schwierigste gelernt hat: Gefühle auszudrücken. Als Begründer dieser Kunst, Gefühle bildnerisch auszudrücken, führt Plinius den Thebaner Maler Aristides an: »Er hat zuerst das Gemüth (ḗthē) geschildert und alle Gesinnungen ausgedrückt, welche die Griechen den Charakter nennen: ebenso auch die Leidenschaften« (perturbationes).6 Und als Beispiel führt Plinius eben dieses Motiv der toten Mutter an: »Von diesem ist das Gemälde, da eine Stadt eingenommen ist, und ein Kind an die Brust seiner Mutter, welche an einer Wunde stirbt, herankriecht«.7 Zunächst fällt hier auf, dass Plinius ungewöhnlicherweise den von ihm extra griechisch zitierten Begriff »ḗthē« für »Gemüth« im Plural und als übergeordneten Begriff verwendet, unter welchen er auch die heftigen Gefühle, die »perturbationes«, was im Griechischen ungefähr »páthe« entspräche, subsumiert.8 Zur
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»Aequalis eius fuit Aristides Thebanus. is omnium primus animum pinxit et sensus hominis expressit, quae vocant Graeci ηθη [sic!], item perturbationes, durior paulo in coloribus.« (Naturalis historia, Buch 35, §98) zit. nach: http://penelope.uchicago.edu/ Thayer/L/Roman/Texts/Pliny_the_Elder/35*.html (gesehen am 23.08.2017). Übersetzung aus Plinius d. Ä. 1765, Buch 35, Kapitel 10, 744ff. (»Von Vögeln, welche durch Malerei betrogen sind, und was das Schwerste ist in der Malerei«.)
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»[…] oppido capto ad matris morientis ex volnere mammam adrepens infans, […]« (Ebd.) zit. nach: http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Pliny_the_ Elder/35*.html (gesehen am 23.08.2017).
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Plinius‘ Verwendung des »Ethos«-Begriffs unterscheidet sich damit grundlegend von jener in der Rhetorik des Aristoteles, denn dort verwies die Kategorie des »Ethos« auf
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Illustration für die bildnerische Darstellung von Gefühlen resp. »Gemüth« führt Plinius das Beispiel der sterbenden Mutter an und weist darauf hin, dass das Bild zeigt, dass die Sterbende das Kind »noch fühle« und dass sie »fürchte, es möchte das Kind, da die Milch erstirbt, ihr Blut in sich lecken«.9 Plinius entdeckt in diesem Bild also die Gemütsdarstellung in der Figur der sterbenden Mutter. Dabei fällt weiterhin auf, dass wenigstens eines der laut Plinius dargestellten Gefühle, nämlich »Furcht«, der Ordnung der antiken Rhetorik nach klar dem Bereich des pathos bzw. der »páthe«, der besonders starken und besonders negativen Gefühle zuzuordnen ist. Besonders interessant scheint an dieser Stelle, dass der in Plinius‘ Zeit noch nicht zum Topos oder zur Formel geronnene Motivkomplex der toten Mutter mit lebendigem Kind bereits hier, an seinem Ursprung, mit dem Thema Krieg verbunden wird und gewissermaßen als verdichtete Veranschaulichung, als Figur für die Schrecken des Krieges fungiert. Indem Plinius diese Verbindung in der einleitenden Formulierung »oppido capto« lakonisch anspricht, bringt er noch eine weitere, den Rezipienten und damit die wirkungsästhetische Dimension des Motivs betreffende Dimension ins Spiel, die allerdings nicht expliziert wird: Durch das Rahmenthema ›Krieg‹ erhält das im Bild dargestellte ›Gefühl‹ (pathos) eine wirkungsästhetische Dimension, die auf einer anderen Ebene liegt: Es ist dazu angetan, im Rezipienten die Furcht und den Schrecken vor den Gräueln des Kriegs zu evozieren. Diese Wirkungsdimension bleibt jedoch – laut Plinius’ Ekphrasis – implizit, ohne Darstellung im Bild. Im weiteren Verlauf wurde Plinius zum Ausgangspunkt der Etablierung der ›toten Mutter‹ zu einem ikonographischen Topos der europäischen Bildkunst seit der Renaissance. (Mitchell 2011: 20-30) Unter dem gemeinsamen Nenner des
den Charakter des Redners. Bekanntlich galt »Ethos« als Selbstrepräsentation des Rhetors, die Aristoteles neben »Logos« und »Pathos« als eines der Überzeugungsinstrumente des Redners ansah. Ebenso wenig entspricht die Verwendung von »ḗthē« bei Plinius der bereits in der Antike aufgekommenen (aber v. a. seit der Renaissance dominanten) innerrhetorischen, genauer: affektrhetorischen graduellen Differenzierung zwischen »Ethos« und »Pathos« als »abgemilderter, milder« (»Ethos« als »affectus mitis atque compositi«) vs. »akuter, hoher« Affektstufe, die jeweils einer Stilebene, nämlich der mittleren oder der hohen nach dem Gesetz des aptum zugeordnet wurden (Vgl. Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1994: 1517). Danach hätte Plinius hier nicht »ḗthē«, sondern »páthe« schreiben müssen. 9
»[…] intellegiturque sentire mater et timere, ne emortuo e lacte sanguinem lambat.« (Ebd.)
zit.
nach:
http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Pliny_the
_Elder/35*.html (gesehen am 23.08.2017). Hervorh. S.F.
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Katastrophischen wurden mithilfe dieser ›Formel‹ lange Zeit bevorzugt Naturkatastrophen in ihrer Bedeutung für die Menschheit auf den Punkt gebracht und z.T. als Gottesstrafen interpretiert.
4.1.2 Marcantonio Raimondi: »nach Raffael«
Abb. 1: Raimondi, Die Pest in Phrygien, ca. 1515
Explizit wird dieser Bezug zu Krieg bzw. Katastrophe erst, als der Motivkomplex tote Mutter mit lebendigem Kind in der Renaissance in der europäischen Malerei auftaucht, zunächst dem Kupferstich Il morbetto – Die Pest in Phrygien (ca. 1515) »nach Raffael« von Marcantonio Raimondi, der auch Eingang in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas gefunden hat.10
10 Tafel 45 rechts unten, http://warburg.library.cornell.edu/panel-image/panel-45-image19 (gesehen am 24.2.2015).
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In dem durch Licht und Schatten, durch architektonisch perspektivische Elemente, aber auch durch eine Stele mit Büste oben und einer Inschrift unten in der vorderen Mitte zweigeteilten Bild findet sich der Motivkomplex der toten Mutter mit lebendigem Kind im Vordergrund der rechten Bildhälfte. Er korrespondiert mit einer Gruppe toter Nutztiere in der linken Bildhälfte. Als Gruppe, die den bei Plinius angesprochenen Motivkomplex aufgreift, werden die Figuren dadurch erkennbar, dass der Säugling, wie auch bei Plinius beschrieben, sich an der Brust der Mutter zu schaffen macht. Diese liegt, tot oder jedenfalls bereits apathisch – also im Gegensatz zu Plinius’ Beschreibung – ganz ohne erkennbare pathê da. Dagegen werden hier die pathê der umstehenden Überlebenden mehr als deutlich gezeigt, die sich auf die Mutter-Kind-Gruppe beziehen. Von dieser Tod und Leben in einer hoffnungslosen Konstellation zusammenzwingenden Figurengruppe affiziert, sind ihre Mienen und Gesten in Entsetzen vor dem unerträglich Schrecklichen erstarrt. Insgesamt vier um Mutter und Kind herumgruppierte Figuren werden so gezeigt: Ein Mann in der Mitte, der die Hand zu einer abwehrenden Geste des Schreckens erhebt und sich in der Drehung zur Abwendung und zum entsetzten Davonlaufen befindet; eine Frau mit Kopftuch rechts, die sich mit abwehrender Hand vor dem Gesicht vor dem Anblick des Grauens schützt; ein alter Mann im mittleren Vordergrund, der sein Gesicht wie schluchzend in beiden Armen verbirgt; und schließlich ein junger Mann, der im rechten Vordergrund herbeieilt und dem Säugling, indem er ihn mit der Hand von der Toten wegdrückt, gleichsam seinen Arm für dieselbe Geste der erschrockenen Abwendung leiht. Aber dadurch unterstreicht die Geste des jungen Mannes nur die Schutzlosigkeit des Kindes in seinem Unverständnis, die die Hoffnungslosigkeit der Szene absolut macht. Was hat die Zweiteilung des Bildes und die Doppelung der Totengruppe – rechts die Mutter, links die toten Tiere – zu bedeuten, wozu dient sie? Zum einen scheint es in der Gegenüberstellung um eine Figur der Addition zu gehen, die auf das allumfassende Ausmaß der Katastrophe hindeutet: Menschen wie Tiere fallen dieser Katastrophe zum Opfer. Zum anderen konstituiert der Vergleich eine Steigerung, eine Figur der gradatio, die durch die Darstellung der pathê rund um die tote Mutter noch unterstrichen wird. Das Grauen ist angesichts des Todes der Menschen noch viel größer. Dieser Vergleich – und hier knüpfe ich an William J.T. Mitchells (vgl. o.) These an – erhält in Raimondis Bild aber noch eine metareflexive, Bildlichkeit reflektierende und kritisierende Dimension. Mithilfe einer Inszenierung der Lichtverhältnisse thematisiert das Bild Sehen bzw. Sichtbarkeit: Während in der dunklen Bildhälfte links die Gruppe der toten Tiere durch eine von einer Figur ins Dunkle gehaltene Fackel erleuchtet und damit die ganze Wahrheit des Unheils sichtbar gemacht wird, ist die vom Tageslicht
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durchflutete Bildhälfte rechts von Gesten des entsetzten Abwendens, des Wegschauens und Augen-Verschließens durchsetzt: Was hier gezeigt wird, sagt uns das Bild gleichsam, übersteigt das dem Auge erträgliche Maß der Wahrheit. Hier werden das Unerträgliche und das Undarstellbare evident. Noch interessanter wird das Bild, wenn man auch das in der vorderen unteren Mitte eingefügte Textelement berücksichtigt. Am Fuß der Stele, die das Bild architektonisch zweiteilt, befindet sich eine beschriftete Steintafel. Es handelt sich um ein Zitat aus Vergils Aeneis, das darauf hinweist, von wessen Büste die Stele gekrönt wird. Das Zitat lautet »linquebant dulces animas, aut aegra trahebant corpora« (Vergil 1900), d.h. »Die Menschen hauchten das süße Leben aus oder schleppten ihre kranken Körper dahin«.11 Es kann als Kommentar zu den auf dem Bild dargestellten Szenerien gelesen werden und diese wiederum als Illustration des Zitats. Die Frage ist nur, ob wir es durch die Einbeziehung einer Quasi-subscriptio ins Bild selbst mit der Inszenierung einer vollkommenen Entsprechung von Bild und Text zu tun haben, oder vielmehr durch die architektonisch-textuelle Zweiteilung unterstrichene Asymmetrie der linken und rechten Bildhälfte mit einer reflexiven Entgegensetzung von Bild und Text, bei der es darum geht, auf ein Undarstellbares, ein visuell nicht zu Fassendes hinzuweisen. Wenn wir mit Mitchell in der Inszenierung des Motivkomplexes eine Formel der Bild- bzw. Idolatriekritik und des Ikonoklasmus erkennen wollen, dann hätten wir es mit einer paradoxen Bildsprache zu tun, die bildlich darstellt, was nicht ins Bild gefasst werden kann.
4.1.3 Nicolas Poussin: Die Pest von Ashdod Raimondis Bild hat einen direkten Nachfolger in Nicolas Poussins Gemälde, das manchmal als Die Pest von Ashdod und manchmal als Die Pest der Philister betitelt wird (1630): zweifellos eine imitatio des Kupferstichs von Raimondi, allerdings mit signifikanten Veränderungen im Detail. Legt man der Interpretation den zweiten Titel zugrunde, so liegt die Annahme nahe, es handle sich bei Poussins Gemälde um eine Explikation der bei Raimondi nur angedeuteten Dimension der metareflexiven Bildkritik mithilfe derselben Pathosformel: Die Pest als Symbol für die Strafe Gottes gegen die der Idolatrie huldigenden Philister.
11 Üb. von Rainer Lohmann, http://www.romanum.de/latein/uebersetzungen/vergil/ aeneis_iii/einheit_1.xml (gesehen am 23.08.2017)
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Abb. 2: Nicolas Poussins, Die Pest von Ashdod / Die Pest der Philister, 1630.
Aber betrachten wir zunächst der Reihe nach im Vergleich die Unterschiede: Der räumliche Bildaufbau greift einerseits Raimondis Zweiteilung durch die die Zentralperspektive akzentuierende, auf den Fluchtpunkt des Obelisken hinführende Straße auf. Auch gibt es eine gewisse Entsprechung in der Licht-SchattenVerteilung: das aus der Dunkelheit schimmernde Innere des Tempels links versus die beleuchtete Straßenszenerie mit Mutter-Kind-Gruppe rechts. Allerdings ist letztere deutlich in die Bildmitte und außerdem im Vergleich zum nach hinten versetzten dunklen Tempel vorgerückt. Dadurch wird der Mitte rechts situierte Schauplatz im Vergleich zum linken schon durch die Positionierung stark hervorgehoben. Diese Gewichtung wird durch die Akzentuierung der Hinwendung der Figuren zu einem der beiden Schauplätze noch verstärkt: Während der linke Schauplatz, auf dem im Dunkeln geschlachtete Opfertiere zu erkennen sind, verlassen scheint, und nur einige der vor dem Tempel befindlichen Personen dem Tempel zugewandt und in Gespräche oder Gedanken über den Tempel vertieft zu sein scheinen, ist die in die Mitte gerückte Szene rechts höchst dramatisch gestaltet. Wieder sind es in Haltungen und Gesten des Entsetzens gesetzte Figuren, die die Mutter-Kind-Gruppe umgeben. Die Mutter-Kind-Gruppe selbst ist perspektivisch anders gestaltet und erhält durch die Farbgebung eine starke Akzentuierung. Die Mutter, deren Körper dank dieser Positionierung in extremer perspektivischer Verkürzung dargestellt ist, ragt mit dem Kopf geradezu aus dem Bildraum zum Betrachter hin heraus. Über ihren von der Schädeldecke her gezeigten Kopf und das Gesicht hinweg wird der Blick des Betrachters geradewegs
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auf ihre groß in den Raum hinein- und hinaufragenden Brüste gelenkt, die der kleine Säugling neben ihr zu erklimmen versucht und nur mit Mühe überragt, so dass sein Mund ganz nahe an die Brust gerät. Diese gleichsam natürliche Nähe wird durch den Farbkontrast zwischen dem grünlichen, offensichtlich toten Leib der Mutter und dem rosig lebendigen Säugling aufs Härteste konterkariert, der farblich noch dazu von einem zweiten, toten Säugling, welcher links neben der toten Mutter positioniert ist, verstärkt wird. Gerade mithilfe des Farbkontrasts zwischen den kalten Farben des Todes und den warmen des Lebens gestaltet Poussin die tragische Situation der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit des Lebens in einer Situation, da die Leben spendende Kraft, für die die Mutter steht, bereits tot ist. Und auch Poussin akzentuiert die Dramatik und die Tragik dieser Situation mithilfe der Darstellung der pathê der Passanten und Betrachter. Einige der Figuren wenden sich selbst, entsetzt von dem Grauen der Szene, ab. Darunter eine Figur Mitte links im Vordergrund, die sich fast schon auf einem Fluchtweg befindet, der sie aus dem Bild auf den Betrachter zu hinausführt. Sie wendet sich mit einer Drehung des Kopfes nach links und einer nach links wegführenden Geste ihres rechten Arms von dem Schreckensszenario ab. Setzt man Poussins Bild in Bezug zu Raimondis Morbetto, so kann man in dieser Figur eine Entsprechung bzw. einen Ersatz für Raimondis Vergil-Stele erkennen. Man könnte diese Transformation so interpretieren, dass Poussin an die Stelle der reflexiven Konfrontation von Text und Bild, von Erzählen und Zeigen, einen Konflikt, eine Spannung innerhalb der Malerei selbst setzt: Die Spannung zwischen einer Malerei, die sich als Belehrung der Betrachter versteht und sich in ihrer Darstellung eng an die Weisheiten der Bibel, das überlieferte Weltwissen, hält und dessen Deutungen nachvollzieht, und einer Malerei, die sich auf die Darstellung des unerhörten realen Geschehens, des unglaublich großen Leidens der Menschen einlässt und dabei an die Grenzen der Darstellbarkeit und Erträglichkeit gerät und diese überschreitet. Im Bildaufbau propagiert das Bild selbst deutlich diese zweite Richtung der Malerei. Die rechte, dramatische Gruppe ist durch das Licht, die Positionierung der Figuren und die Position im Raum so stark in den Vordergrund gerückt, dass sie die Grenzen des Bildraums in Richtung Betrachter zu überschreiten scheint und diesen unweigerlich mit voller Kraft affiziert, ganz im Sinne der wirkungsästhetischen Ausrichtung der Pathosverfahren. Das Unerträgliche dieser Szene wird von Poussin in der Reaktion der prominenten Figur in Blau links vom Bildmittelpunkt sichtbar gemacht, die sich vor Entsetzen windet und sich weigert hinzuschauen. In gewisser Weise können wir diese Figur als eine Verkörperung des Kunsthistorikers sehen, der sich weigert, diese zentrale Darstellung als eigentliches Thema aufzufassen und darauf besteht, sich der dunklen Form der Bundeslade im Hintergrund zuzuwenden – als sei der Anblick
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des Bildes, wie die Pest selbst, infektiös. Mitchell unterstreicht die Idolatriekritik dieses Bildes, indem er es in Bezug setzt zu einem anderen Bild Poussins: Die Anbetung des goldenen Kalbes (1633-37), die das Anbetungsritual vor Augen führt und zugleich darauf hinweist, was durch diesen falschen Glauben übersehen werde bzw. unbemerkt bliebe. (Mitchell 2011: 29)
4.1.4 20. Jahrhundert: Das Monument von Sant’ Anna di Stazzema
Abb. 3: Sant‘ Anna die Stazzema.
Ein aktuelles Beispiel aus dem Bereich der bildenden Kunst scheint die These, die Formel diene der symbolisch verdichteten Darstellung einer totalen Katastrophe voll und ganz zu bestätigen: das Monument von Sant’ Anna di Stazzema zeigt eine tot hingestreckte Mutter mit einem lebenden Säugling an der Brust, d.h. dieselbe Anordnung der Figurengruppe, die wir aus der Malerei kennen. Hier wird mithilfe der Pathosformel »tote Mutter« ein Monument zum Gedenken an ein Massaker gestaltet, das hier 1944 von SS-Offizieren an der Zivilbevölkerung verübt wurde. Innerhalb kürzester Zeit waren 560 Menschen, v.a. Frauen und Kinder, ermordet worden. Dieses Monument bestätigt den ikonografischen Status und die fortdauernde Produktivität der Formel. In der Reihe der besprochenen Beispiele weist es eine Verschiebung auf, und zeigt eine weitere Mög-
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lichkeit, der Affektdarstellung innerhalb dieser Figurenkonstellation: Hier ist es der Säugling, der, offensichtlich verzweifelt, schreit und weint, während er mit der Hand an der Brust der toten Mutter zieht.
4.2
Russische Beispiele des 19. Jahrhunderts
Ich möchte nun einige russische Anwendungen der Pathosformel »tote Mutter« diskutieren und dabei insbesondere auch den Transpositionen der Formel zwischen Bild und Text nachgehen.
4.2.1 Karl Brjullovs Der letzte Tag von Pompei (Poslednij den’ Pompei) (1830) Karl Brjullovs berühmtes Monumentalgemälde Der letzte Tag von Pompei (1830) zitiert in seiner Bildmitte das »tote Mutter«-Motiv Poussins:
Abb. 4: Karl Brjullov, Der letzte Tag von Pompei, 1830
Wieder haben wir es mit der Darstellung einer Katastrophe zu tun, die alle Menschen gleichermaßen fatal betrifft. Und wieder ist im Zentrum des Bildes eine tote Mutter mit lebendigem Kind an ihrer Brust platziert, die in der Perspektive ziemlich genau der Darstellung der Gruppe bei Poussin entspricht. Aber nicht nur das Thema, auch die Bildaufteilung weicht dabei stark von Poussin und umso mehr von Raimondi ab. Obwohl das architektonische Moment in der linken Bildhälfte bleibt, – die Art der architektonischen Elemente erinnert sogar an die Stele bei Raimondi – fehlt in Brjullovs Bild doch die deutliche Zweiteilung des
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Bildraums, die durch einen zentrierten, architektonisch gerahmten und durch den diagonalen Lichteinfall ›zusammengeschnürten‹ Raum ersetzt ist. Völlig anders auf den ersten Blick auch die Pathosdarstellung: Armgesten des Entsetzens und der Abwehr, die hier von einigen zentralen Figuren (dem von vorne gezeigten jungen Mann im linken Mittelgrund in der von einem Tuch zusammengehaltenen Familiengruppe, und von dem von zwei anderen getragenen Greis im mittelrechten Vordergrund) ausgeführt werden, gelten nicht der toten Mutter, sondern dem Ausbruch des Vesuvs und den, durch ihn bedingt, einstürzenden Gebäuden, vor denen sämtliche Figuren im Bild – sofern sie noch dazu in der Lage sind – die Flucht ergreifen. Das Geschehen im Bild ist hochdramatisch zu einer apokalyptischen Szenerie gestaltet, zu deren Charakter auch das hochspringende und seinen Reiter fast abwerfende weiße, »fahle« Pferd rechts beiträgt. Es fällt auf, dass die Aufmerksamkeit der meisten Figuren im Bild den vom Sims des rechts dargestellten Gebäudes stürzenden Skulpturen gewidmet ist: alle schauen entsetzt nach rechts oben. In der Bildmitte unten aber liegt – hell erleuchtet, aber von niemandem beachtet – die tote Mutter mit dem Säugling. Und dieser richtet – als einziger außer einem Mädchen mit einem fallenden Eimer auf dem Kopf links oben – seinen Blick, um Hilfe flehend, aus dem Bild heraus in Richtung Betrachter. Wie ist diese Verschiebung zu bewerten? Zunächst könnte man in den stürzenden Skulpturen eine Replik auf den in Poussins Tod der Philister thematisierten Götter-/Götzensturz erkennen, so wie das Puškin in seinem ekphrastischen Gedicht auf das Bild, »Der Vesuv öffnete seinen Rachen« (»Vezuvij zev otkryl«), gemacht hat.12 So gesehen handelt es sich auch bei Brjullov um eine Idolatrie- bzw. eine Bild(lichkeits)kritik im Bild, und zwar in einem Bild, in dem, mit der Absicht drastisch vor Augen zu führen, das Streben nach Evidenz und Affektion kaum stärker und offensichtlicher sein könnte. Für die Figuren im Bild ist die tote Mutter mit dem lebendigen Säugling der blinde Fleck genau in ihrer Mitte. Durch ihre Beleuchtung und Positionierung – als Kontrast am unteren Bildrand zur tiefschwarzen, Unheil verheißenden Wolke am oberen Bildrand – aber lenkt sie spätestens den zweiten Blick des Betrachters auf sich. Und ihm, der sie inmitten des ganzen Schreckensszenarios sieht, macht sie mit einem Mal das ganze Ausmaß und die Tragik der Situation klar. So wird sie zum eigentlichen Sinnzentrum des Bildes, dessen komplexe Perspektivierung mit der Differenz zwischen Figuren- und Betrachterperspektive geschickt spielt. Vor
12 »Везувий зев открыл — дым хлынул клубом — пламя / Широко развилось, как боевое знамя. / Земля волнуется — с шатнувшихся колонн / Кумиры падают! Народ, гонимый [страхом], / Под каменным дождем, [под воспаленным прахом], / Толпами, стар и млад, бежит из града вон.« (Puškin 1937-1959: 332)
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dem Hintergrund der Vorgängerbilder werden ihre symbolische und ihre topische Qualität als Pathosformel der »absoluten Katastrophe« erkennbar. Wie schon Raimondi und Poussin hat Brjullov das Motiv für die Darstellung einer Naturkatastrophe genutzt, der auch er wieder kulturkritische Bedeutung verliehen hat. Nun zu einigen literarischen Anwendungen der Pathosformel »tote Mutter«:
4.2.2 Nikolaj V. Gogol’: »Taras Bul’ba« Einen direkten Dialog zwischen Malerei und Literatur zeigt der Fall Gogol’: Gogol’ war ein Verehrer von Karl Brjullov und als einer der ersten in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts setzt Gogol’ die Pathosformel der toten Mutter narrativ um. Brjullovs Gemälde »Der letzte Tag von Pompei« hielt Gogol’ für genial und schrieb darüber einen Essay (datiert auf August 1834), den er in seine romantischen »Arabesken« (1835) aufnahm. Interessanterweise nimmt Gogol’ auf die Figurengruppe der toten Mutter mit dem Säugling in diesem Essay nur am Rande Bezug, wenn er in seiner ekphrastischen Beschreibung die Individualisierung der Figuren und die jedes Detail mit einbeziehende Strategie des VorAugen-Stellens (evidentia) Brjullovs hervorhebt. Dies alles zeichne Brjullovs Gemälde vor den durchweg ideenlastigen anderen berühmten Historiengemälden (Gogol’ nennt Themen wie »Die Zerstörung Ninives« und »Die Vision Balthasars«) aus: »Der Gesamteindruck dieser Bilder ist erschütternd und von seltener Einheitlichkeit; doch aber bilden sie nur den Ausdruck für eine Seite dieses Gedankens. Sie erinnern an eine ferne Landschaft und liefern nur einen einzigen allgemeinen Eindruck. Wir haben nur ein Gefühl für die furchtbare Lage der ganzen Volksmasse, erkennen aber keinen einzelnen Menschen, der den ganzen Schrecken der sich vor seinen Augen vollziehenden Zerstörun zum Ausdruck bringt. Diesen Gedanken, den wir nur in starker perspektivischer Verkürzung gesehen, stellt uns Brjullov plötzlich unmittelbar vor Augen, und dieser Gedanke wächst ins Riesenhafte und scheint auch uns in seinen Bannkreis zu ziehen. Die Darstellung, die Komposition seiner Idee ist mit außerordentlicher Kühnheit ausgeführt: Er hat den Blitzstrahl ergriffen und lässt ihn stürmend über sein Bild niederfallen. Der Blitz hat alles mit seinem Licht übergossen und überflutet, wie um alles sichtbar zu machen, so daß kein Gegenstand dem Beschauer verborgen bleibt. Daher liegt auch auf allem eine ungeheuere Lichtfülle. Die Figuren sind mit kraftvoller Hand hingeworfen, wie nur ein gewalter Genius es vermag. Diese ganze Gruppe, die im Augenblick, wo der Blitz niederfällt, wie erstarrt
286 | SUSI K. F RANK stehengeblieben ist, und in der sich tausend verschiedene Gefühle spiegeln, dieser stolze Athlet, der einen Schreckensschrei austößt, in dem Kraft, Hochmut und Ohnmacht liegen, und der sich mit seinem Mantel gegen den Wirbelwind von Steinen deckt, dieses Weib, das zu Boden gestürzt ist, und ihren herrlichen Arm von einer nie dagewesenen Schönheit ausstreckt, dieses Kind, das den Beschauer mit seinem Blick zu durchbohren scheint, dieser vom Blitzschlag betäubte Greis, der von seinen Kindern getragen wird, dessen schrecklicher Körper schon den Grabeshauch auszuströmen und dessen Hand mit den weit ausgespreizten Fingern in der Luft erstarrt zu sein scheint.» (Gogol 1912: 281-282) »Общее выражение этих картин поразительно и исполнено необыкновенного единства. Но в них вообще только одна идея этой мысли. Они похожи на отдаленные виды; в них только общее выражение. Мы чувствуем только страшное положение всей толпы, но не видим человека, в лице которого был бы весь ужас им самим зримого разрушения. Ту мысль, которая виделась нам в такой отдаленной перспективе, Брюлов вдруг поставил перед самыми нашими глазами. Эта мысль у него разрослась огромно и как будто нас самих захватила в свой мир. Создание и обстановку своей мысли произвел он необыкновенным и дерзким образом: он схватил молнию и бросил ее целым потопом на свою картину. Молния у него залила и потопила всё, как будто бы с тем, чтобы всё выказать, чтобы ни один предмет не укрылся от зрителя. Оттого на всем у него разлита необыкновенная яркость. Фигуры он кинул сильно такою рукою, какою мечет только могущественный гений: эта вся группа, остановившаяся в минуту удара и выразившая тысячи разных чувств, этот гордый атлет, издавший крик ужаса, силы, гордости и бессилия, закрывшийся плащом от летящего вихря каменьев, эта грянувшая на мостовую женщина, кинувшая свою чудесную, еще никогда не являвшуюся в такой красоте руку, этот ребенок, вонзивший в зрителя взор свой, этот несомый детьми старик, в страшном теле которого дышит уже могила, оглушенный ударом, которого рука окаменела в воздухе с распростертыми пальцами, [...].« (Gogol’ 1952: 110)
Die tote Mutter wird dann als nächste Einzelfigur kurz so charakterisiert: »[...] diese Mutter, die die Flucht aufgibt und trotz der Bitten ihres Sohnes, dessen angsterfülltes Flehen der Beschauer zu vernehmen meint, unbeugsam bei ihrem Entschluss verharrt, diese Menge, die entsetzt von den Mauern zurückweicht oder voller Schrecken und doch wieder seinen [sic!] Schreck plötzlich vergessend, wild auf die Erscheinung hinstarrt, die das Ende der Welt ankündigt, dieser Priester im weißen Gewande, der in hoffnungsloser Wut seinen Blick auf die ganze Welt richtet, - dies
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alles ist so gewaltig, so kühn, so harmonisch ineinandergefügt, wie es nur im Kopfe eines universalen Genius möglich war.« (Gogol 1912: 282-283) »[...] мать, уже не желающая бежать и непреклонная на моления сына, которого просьбы, кажется, слышит зритель, толпа, с ужасом отступающая от строений и со страхом, с диким забвением страха, взирающая на страшное явление, наконец знаменующее конец мира, жрец в белом саване, с безнадежною яростью мечущий взгляд свой на весь мир, — всё это у него так мощно, так смело, так гармонически сведено в одно, как только могло это возникнуть в голове гения всеобщего.« (ebd.)
Neben der Mutter erwähnt Gogol’ hier bezeichnenderweise die für die affizierende Kommunikationsstruktur des Bildes wichtige Adressierung des Betrachters durch den Säugling. Eine Schlüsselstelle der Narration in der im selben Jahr in der Erzählsammlung »Mirgorod« erschienenen ersten Version der historischen Erzählung »Taras Bul’ba« ist der Grenzübertritt und Eintritt des von seiner Liebe zu einer schönen Polin getriebenen Kosakensohns Andrij in die von den Kosaken belagerte Stadt Dubno. Dort sucht Andrij seine Geliebte, die Feindestochter, aber was er zuerst sieht, sind die grauenerregenden Folgen des durch die Belagerung bedingten Hungers: eine erschütternde Ansicht der Lage liefert eine tote auf der Straße liegende junge Frau, die Andrij entdeckt. Sie wird als das »Schrecklichste« und »Eindrücklichste« bezeichnet, als »schreckliches Opfer des Hungers«: »Der tote Anblick der Stadt wurde von schwachem Stöhnen unterbrochen, das ihn nicht kalt lassen konnte. Auf Wache standen zwei Posten, bleich wie der Tod; mehr Geister als Menschen. Mitten auf dem Weg stießen auf das Schrecklichste, Grauenvollste: eine Frau, ein schreckliches Opfer des Hungers, lag in ihrem letzten Atemzug und biss mit ihren Zähnen in ihre vertrocknete Hand. Er erzitterte und eilte der Tatarin hinterher; […]« (Übers. S.F.) »Мертвый вид города прерывался слабыми болезненными стонами, которые не могли не поразить его. На страже стояли часовые, бледные, как смерть; это были больше привидения, нежели люди. Среди самой дороги попался им самый ужасный, поразительный предмет: это была женщина, страшная жертва голода, лежавшая при последнем издыхании, стиснувшая зубами иссохшую свою руку. Содрогнувшись, спешил он вслед за татаркою; [...]« (Gogol’ 1937: 317)
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In der wesentlich erweiterten Version von »Taras Bul’ba« von 1842 wird gerade diese Stelle deskriptiv entfaltet. Was in der Mirgorod-Version von 1835 einfach als »das Schrecklichste« benannt wurde, wird hier ek-phrastisch als Pathosformel »tote Mutter« inszeniert: »Der Platz erschien wie ausgestorben, aber Andrij glaubte ein leises Stöhnen zu vernehmen. Er schaute sich um und erblickte drüben auf der ändern Seite eine Gruppe von zwei, drei Menschen, die regungslos am Boden lagen. Er kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, ob diese Leute schliefen oder tot wären, da stolperte sein Fuß über etwas Weiches. Es war der Leichnam einer Frau — soviel er sehen konnte, einer Jüdin. Sie schien noch jung zu sein, wenngleich man ihrem verzerrten ausgemergelten Gesicht nicht viel davon anmerken konnte Sie trug ein Kopftuch aus roter Seide, um das eine doppelte Perlenschnur geschlungen war; darunter hervor ringelten sich ein paar krausgelockte Haarsträhnen auf den abgemagerten Hals hinab, dessen Adern stark angeschwollen waren. Neben ihr lag ein Säugling, der mit zitternden Händchen ihre schlaffe Brust betastete und zornig daran zerrte, weil sie ihm keine Milch zu geben hatte. Er konnte nicht mehr weinen oder schreien, das leise Heben und Senken seiner Brust jedoch bezeugte, daß er noch lebte und erst im Begriff war, den letzten Seufzer auszuhauchen.« (Gogol 1952: 122-123) »Площадь казалась мертвою, но Андрию почудилось какое-то слабое стенание. Рассматривая, он заметил на другой стороне ее группу из двух-трех человек, лежавших почти без всякого движения на земле. Он вперил глаза внимательней, чтобы рассмотреть, заснувшие ли это были, или умершие, и в это время наткнулся на что-то, лежавшее у ног его. Это было мертвое тело женщины, повидимому, жидовки. Казалось, она была еще молода, хотя в искаженных, изможденных чертах ее нельзя было того видеть. На голове ее был красный шелковый платок; жемчуги или бусы в два ряда украшали ее наушники: две-три длинные, все в завитках кудри выпадали из-под них на ее высохшую шею с натянувшимися жилами. Возле нее лежал ребенок, судорожно схвативший рукою за тощую грудь ее и скрутивший ее своими пальцами от невольной злости, не нашед в ней молока. Он уже не плакал и не кричал, и только по тихо опускавшемуся и подымавшемуся животу его можно было думать, что он еще не умер, или, по крайней мере, еще только готовился испустить последнее дыханье.« (Gogol’ 1937: 97-98)
Auf Brjullovs Bild anspielend, dabei aber morbid-schauerromantisch modifizierend (durch die Inszenierung des Visuellen: Dunkelheit, nur von einzelnen Lichtschimmern durchdrungen, und des Taktilen: die Konfrontation des Protagonisten mit dem Tod wird durch die unwillkürliche und unmittelbare Berührung
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der Toten noch gesteigert), entfaltet Gogol’ das Bild als Pathosformel, mit der sich die umfassende Tragik der Situation konzentriert ausdrücken lässt. Dies, so scheint mir, hat nicht nur damit zu tun, dass Gogol’ die Wirkungsintensität seiner Erzählung steigern möchte, sondern auch damit, dass die (schauer)romantische Wirkungsästhetik, deren Bestandteil diese Szene ist, zur Charakterisierung Andrijs beiträgt. Gerade in der zweiten Version von 1842 erhält »Taras Bul’ba« eine metapoetische bzw. metaästhetische Dimension, wobei die Opposition Taras/Ostap vs. Andrij als Opposition zwischen klassischer Epik vs. romantisch(-moderner) Wirkungsästhetik, die mit evidentia als zentralem Pathosverfahren arbeitet, inszeniert wird.
4.2.3 Fedor M. Dostoevskij »Der Knabe bei Christus zur Weihnachtsfeier« (»Mal’čik u Christa na elke«) (1876) In Dostoevskijs später Weihnachtserzählung wird die Pathosformel im Unterschied zu allen bisher erwähnten Realisierungen in einen alltäglichen Kontext gesetzt, den Kontext der Großstadtarmut. Die semantische Funktion der Formel bleibt gleich: eine Situation der katastrophisch-tragischen Ausweglosigkeit und des sicheren Todes in formelhafter Verkürzung und Verdichtung zu veranschaulichen. Dostoevskij überbietet hier Dickens, an dessen Gattungsschöpfung er sich hier orientiert, indem er die für die Weihnachtserzählung konstitutive Komponente des Wunders relativiert und durch das von ihm virtuos beherrschte Spiel der Perspektiven in Ambivalenz hält: Was der Leser als psycho-physiologisch exakte Darstellung eines einfachen Hungertodes lesen muss, wird vom Protagonisten – dem kleinen Jungen, der (zu seinem Glück) nicht alt genug werden konnte, um die Welt zu verstehen, wie sie ist – als erlösendes Licht-Wunder, als herrliches Fest wahrgenommen. Die Figurenkonstellation tote Mutter – lebendiges Kind führt dem Leser gleich am Anfang der Erzählung die Situation in ihrer ganzen Drastik vor Augen. In einem finsteren Keller, in dessen Ecken siechende Obdachlose ihre letzten Tage und Wochen verbringen und dessen ›Vermieter‹ schon vor Tagen von der Polizei festgenommen wurde, ist ein kleiner Junge mit seiner aus einer anderen Stadt kommenden Mutter gestrandet. Er friert, er sieht nichts, er hat Hunger. Er versucht seine reglos daliegende Mutter wachzurütteln, um mit ihr nach Essen zu suchen. Sie bewegt sich nicht und er fühlt, dass sie ganz kalt ist… Der Junge versteht nicht, aber der Leser muss es verstehen, spätestens wenn die Erzählerstimme von der »pokojnica«, der Toten, spricht.13 Hier
13 »Trinkwasser hatte er irgendwo auf dem Flur gefunden; aber eine Brotrinde konnte er nirgends auftreiben und trat wohl schon zum zehnten Mal an seine Mutter heran, um
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wie in einigen anderen Realisierungen der Formel fehlt das Pathos im Sinne einer extremen Gefühlsaufwallung von Furcht und Entsetzen auf der Ebene der dargestellten Welt ganz, aber umso stärker ist die Affektion, die die Darstellung beim Rezipienten evoziert. Die Pathosformel »tote Mutter« wirkt hier gerade ohne dargestelltes Pathos und macht mit einem Schlag die Ausweglosigkeit klar. Konsequenterweise kann es nur einen ›Ausweg‹ aus dieser Situation geben: den Tod selbst, den der Junge verklärt durch die Hunger- und Kältephantasie wahrnimmt, dessen Tragik für den Leser aber dadurch noch unerträglicher wird. Wie in anderen Realisierungen wird die Wirkung der Formel durch das Nichtverstehen des Kindes noch gesteigert.
4.3
Die »tote Mutter« im sowjetischen 20. Jahrhundert
Das Augenmerk des letzten Abschnitts liegt auf Realisierungen der Pathosformel »tote Mutter« in sowjetischen Darstellungen des Zweiten Weltkriegs. Wie im bereits erwähnten italienischen Monument rückt die Formel auch hier wieder in den Kontext, in welchem sie bei Plinius aufgetaucht war: in den Kontext des Krieges. Zum Verständnis der sowjetischen Realisierungen der Formel ist es nötig, die Bedeutung von Pathos und Pathosverfahren im stalinistischen und poststalinistischen sowjetischen Kontext zu berücksichtigen. Denn im krassen Gegensatz zur Pathoskritik der westeuropäischen Moderne14 fungierte Pathos im
sie aufzuwecken. Schließlich wurde ihm bange in der Dunkelheit: Es war längst Abend geworden; aber Licht wurde nicht angesteckt. Als er das Gesicht seiner Mama betastete, wunderte er sich, daß sie sich gar nicht bewegte und so kalt war wie die Wand. Es ist hier doch sehr kalt, dachte er, blieb noch ein Weilchen stehen, ließ unbewußt seine Hand auf der Schulter der Toten liegen, hauchte dann auf seine Fingerchen, um sie zu erwärmen, und ging, als er plötzlich auf der Pritsche sein Mützchen fand, leise und tastend aus dem Keller hinaus.« (Dostoevskij 1971: 650-651) »Напиться-то он где-то достал в сенях, но корочки нигде не нашел и раз в десятый уже подходил разбудить свою маму. Жутко стало ему, наконец, в темноте: давно уже начался вечер, а огня не зажигали. Ощупав лицо мамы, он подивился, что она совсем не двигается и стала такая же холодная, как стена. ›Очень уж здесь холодно‹, – подумал он, постоял немного, бессознательно забыв свою руку на плече покойницы, потом дохнул на свои пальчики, чтоб отогреть их, и вдруг, нашарив на нарах свой картузишко, потихоньку, ощупью, пошел из подвала.« (Dostoevskij 1982: 457-462) 14 Zur »nachhaltigen Krise des Pathos« im 20. Jh. vgl. Zumbusch 2010: 7.
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Kontext der sowjetischen Ideologie und der mit ihr verbundenen Kultur- und Kunstpolitik, bei der die didaktisch-erbauliche und die politische Identität stiftende Funktion der Kunst im Vordergrund stand, als Leitbegriff, als darstellerische Maxime. Dies galt insbesondere für jene zentralen historischen Ereignisse, um die herum das heroische Narrativ des Aufbaus und der Verteidigung der sowjetischen Idealwelt entwickelt wurde. Nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg war dies insbesondere der als »Großer Vaterländischer Krieg« bezeichnete Zweite Weltkrieg, der zum wichtigsten Instrument der Modellierung kollektiver Identität über alle historischen Brüche der letzten 60 Jahre hinweg avancierte. (vgl. dazu aktuell z.B. Lev Gudkov 2005) Die gesamte Palette der traditionellen rhetorischen und bildnerischen Pathosverfahren stand zur Verfügung, um das russische Volk zu heroisieren, es zugleich als Opfer der Nazis und als Sieger über dieselben zu modellieren und den zentralen symbolischen Status dieses Themas zu unterstreichen. Im Zusammenhang des Krieges avancierte die Mutter seit den 1940er Jahren zu einer der am meisten symbolisch und ideologisch zu Zwecken von Propaganda und Heroisierung aufgeladenen Figuren. Die »Mutter Heimat« (»mat’-rodina«) und die heroische Mutter-Kriegerin gehören zum Kernbestand der stalinistischen und auch der post-stalinistischen sowjetischen Ikonographie. Dabei ist es bezeichnend, dass das Motiv der toten Mutter ab den 1930er Jahren nur sehr eingeschränkt eingesetzt wurde: Die »tote Mutter« taugte kaum für eine pathetisch zukunftsorientierte Heroisierung.
4.3.1 1930 vs. 1940er: Andrej Platonov Symptomatisch für die stalinistische Schwelle Mitte der 1930er Jahre erscheint Andrej Platonovs Umgang mit dem Muttermotiv. Seine frühe Erzählung »Baugrube« (»Kotlovan«, 1930) greift die Formel der »toten Mutter« auf und entwickelt sie narrativ weiter. Das fatale Ereignis des Todes der Mutter bildet hier den narrativen Kern der dystopischen Darstellung des sowjetischen Aufbaus. Die Darstellung des Todes der Mutter von Nastja – des kleinen Mädchens, dessen Schicksal den roten Faden der Handlung bildet – greift die für die Figurenkonstellation der Pathosformel »tote Mutter« konstitutiven Momente des Nichterkennens (Dunkelheit) und des Nichtverstehens (Kind) deutlich erkennbar auf, und führt im zweiten Teil der Erzählung konsequent und ausweglos auf den Tod des Kindes zu. Hier, 1930, dient die Formel der allegorischen Gestaltung einer pessimistischen Sicht der sowjetischen Aufbau-Utopie. In krassem Gegensatz zu »Kotlovan« stehen die in den Kriegsjahren entstanden Erzählungen Platonovs, in denen er der offiziellen Propaganda entsprechend
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programmatisch die Ablösung zwischen konkreter Mutter und symbolischer Mutter-Heimat inszeniert. Die Rede ist von zwei Kriegserzählungen aus dem Jahr 1943: »Mutter« (»Ahndung der Umgekommenen«), »Mat’« (»Vzyskanie pogibšich«) und »Leinenhemd« (»Polotnjanaja rubacha«). Sie machen deutlich, dass die Pathosformel »tote Mutter« im Kontext der pathetischen Kriegsdarstellung und Pflege des Andenkens an den heroischen Sieg nur entweder narrativ aufgelöst werden konnte, so dass die Ausweglosigkeit, die sie symbolisiert, aufgehoben und überwunden wird, oder auf wenige, ganz besondere Kontexte beschränkt werden. Ein solcher Kontext ist die Blockade Leningrads, welche die sowjetischen Darstellungen zwar ebenfalls heroisierten – z.B. indem sie sie als eine Art zweite, andere Front der Kampfzone parallel setzten –, aber das Geschehen doch als schreckliche Leidenssituation auffassten.15
4.3.2 Vasil’ Bykaŭ: »Wolfsrudel« (»Voŭčaja zgraja«) (1975)
Abb. 5: Michail Savicki, Partisanenmadonna, 1967
Die Partisanin-Mutter stellte im sowjetischen Kontext eine zentrale topische Variante der kriegerischen »Mutter-Heimat« dar, in der Malerei, im Film und in der Literatur. Auch für den Klassiker der weißrussischen Sowjetliteratur, Vasil’ Bykaŭ, dessen Werke sich zum großen Teil mit dem Krieg auseinandersetzen, trifft dies zu. Bykaŭ reflektierte dies auch, indem er das Gemälde Partisanenmadonna seines Landsmanns Michail Savicki in einer Laudatio als dessen wichtigstes Werk nobilitierte. Das Gemälde stellt eine stillende Partisanin-Mutter direkt an der Front dar und modelliert damit eine krasse Kontrafaktur der Pathosformel »tote Mutter«.
15 Vgl. dazu die weiter unten folgende Analyse von Blockade-Texten.
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Bykaŭ selbst nimmt in seiner Erzählung »Voŭčaja zgraja« Bezug auf die Partisanenmadonna, wobei er zugleich die Pathosformel der »toten Mutter« aufgreift und zum Zwecke einer optimistischen Heroisierung abwandelt. Bykaŭ erzählt die Geschichte einer Partisanentrojka, zweier Männer und einer jungen Frau mit Säugling, die diesen stets in den Kampf mitnimmt. In einem Gefecht mit den Deutschen werden die Frau und einer der beiden Männer tödlich getroffen. Der zweite Protagonist – zugleich der Erzähler – rettet das Baby. Die Pathosformel wird hier auch nicht ganz explizit gemacht: der Mann findet die tote Mutter nicht, die Darstellung verweigert das topische Bild der grausigen Einheit von toter Mutter und lebendigem Kind. Aber der Zusammenhang zu diesem Topos wird doch auf der Metaebene deutlich hergestellt, indem in der Narrativisierung des Motivs Sichtbarkeit und, allgemeiner, Wahrnehmbarkeit verhandelt wird. Während Sichtbarkeit und Sehen bei Bykaŭ dem mithilfe von Leuchtraketen das Gelände durchforstenden faschistischen Feind zugeordnet werden, agieren die Partisanen im Dunkeln: das Dunkel der Nacht birgt sowohl die tote Mutter wie das überlebende Kind und auch den das Kind rettenden Partisanen. Was Letzterem dazu verhilft, das Kind zu retten, ist nicht das Sehen, sondern das Hören: eines leisen Wimmerns. Die Partisanenmutter stirbt und lässt ihr Kind lebend zurück. Damit scheint gewissermaßen die Situation des Topos erfüllt. Aber Bykaŭ bestätigt ihn gerade nicht, sondern konterkariert ihn gleichsam, indem er Wahrnehmung verhandelt und reflektiert, wobei er an die Stelle der die Katastrophe, das Endgültige des tragischen Ereignisses besiegelnden und sich so tief einprägenden Visualität die auditive Wahrnehmbarkeit setzt, die die Rettung – und damit den Sieg der Partisanin bzw. aller Partisanen – bringt. Eine schlichte Wiederholung des Topos der toten Mutter mit dem lebendigen Kind hätte zur Heroisierung der Partisanin als aktive Kriegsheldin nicht getaugt. So aber wird ihr Tod im Verschwinden des Leichnams gleichsam sublimiert und im sicheren Überleben des Kindes schließlich aufgehoben: »Als auch diese Leuchtkugel ausgebrannt war, sprang er auf und rannte durch den Roggen zum Erlengehölz. Aber etwas beunruhigte ihn, er zögerte unschlüssig, hockte sich hin und hielt Umschau. Ihm war, als habe er eine Stimme gehört, ein klägliches Kindergreinen, er war ganz still, hielt den Atem an und lauschte. Gibt es denn hier im Roggen Gespenster? dachte er betroffen und hörte wieder, deutlicher als beim ersten Mal, schwaches Weinen ganz in der Nähe. Doch er durfte keine Minute verlieren, sie kreisten ihn offensichtlich im Roggen ein, bald konnten Hunde auftauchen; er kam zur Besinnung und rannte zum Erlengehölz. Er wäre auch in den Wald entkommen, hätte ihm nicht plötzlich eine Leuchtspurgarbe, die über den Roggen fegte, den Weg versperrt. Um sich zu decken, legte er sich flach auf die mürbe Erde des Roggenfeldes und hörte, wie die Sprenggeschosse im nahen
294 | SUSI K. F RANK Erlengehölz einschlugen, gleichsam ein Echo des fernen hitzigen Geratters. Jetzt wußte er genau, daß sie ihn entdeckt hatten und von der Straße aus schossen, also mußte er sich auf dem gleichen Weg retten wie gestern – im weiten Bogen durch den Roggen zum Erlengebüsch. Kaum daß der Feuerstoß abriß, sprang er auf. Aber ehe er losrannte, wandte er sich seitlich, lief einen Bogen, duckte sich, horchte und sah plötzlich gar nicht weit einen weißen Fleck auf der Erde. Mit einem Gefühl, das halb Staunen, halb Hoffnung war, stürzte er hin, er ahnte schon, was das war, ergriff das warme, lebendige Bündel, drückte es an seine Brust und lief einen weiten Bogen, des Glaubens, irgendwo werde vielleicht auch Klawa liegen. Doch sie war nicht zu finden, nur der Kleine war wer weiß wie hier liegengeblieben. Sprachlos vor Staunen rannte Ljautschuk übers Feld zum Erlengehölz. […] Kaum war er mit dem Kleinen auf dem Arm in das schützende Dunkel getaucht, da zischte hinter ihm die nächste Leuchtkugel in den Himmel, und ein Feuerstoß von Sprenggeschossen fuhr knatternd durch die Zweige. Grelles Licht, vermischt mit einem seltsamen Gewirr von Schatten, fiel von hinten über ihn, ein paar Leuchtspurketten huschten über seinen Kopf, hüllten ihn in das Geknatter der Sprenggeschosse und Geprassel der Zweige. Er fiel auf die Seite, entsetzt, daß er so nicht weit kommen, daß mit dem Jungen zu laufen hier unmöglich sein werde. Er brachte es jedoch einfach nicht fertig, ihn jetzt liegenzulassen, da die Hunde hinter ihm her waren. Er wußte nicht, ob er die nächsten Minuten überleben würde, und stürmte blindlings ins Gebüsch, mit der linken Schulter die Zweige teilend und im Jackett den Kleinen schützend, der nun im Warmen steckte, deshalb still und friedlich geworden war und nur die Beinchen in der nassen Windel bewegte.« (Bykau 1976: 552554)16
16 »Калi i гэтая ракета згарэла, ён шыбануў праз жыта да алешнiчку, ды раптам спынiўся, прысеў. Здалося, пачуўся голас, нават нiбыта далёкi дзiцячы плач, i ён ацiх, затрымаў дыханне, услухаўся. Цi не зданi завялiся ў гэтым жыце, дзiвячыся, падумаў ён, як зноў зусiм выразна данёсся аднекуль цiхi, поўны жальбы плач зусiм яшчэ малой iстоты, i ён, жахнуўшыся, кiнуўся далей у жыта. Ён, мусiць, i ўцёк бы ў лес, калi б у той час амаль перад ягоным тварам не разанула цемру трасiрная чарга. Блiзкiя разрывы куль у алешнiку, нiбы рэха, з абсалютнай дакладнасцю паўтарылi яе далёкi iмклiвы трэск, i ён зноў распластаўся на мулкiх грудах жытняе нiвы. Цяпер ён ужо ведаў пэўна, што яго заўважылi i што стралялi па iм з дарогi i ад вёскi; значыць, ратавацца трэба ўсё тым жа ўчарашнiм шляхам у лес. Калi чарга сцiхла, ён тут жа ўскочыў, але, перш чым пабегчы, завярнуў па жыце ўбок, трохi нават назад, прыпынiўся, услухаўся i ўбачыў непадалёк белую плямку ля самай зямлi. 3 нечаканай надзеяй ён кiнуўся да гэтае плямкi, ужо пэўна ведаючы, што гэта, падхапiў цёплы жывы камячок на рукi i, прытулiўшы да грудзей, аббег трохi шырэйшае кола па жыце. Гэта было i дзiўна, i зусiм недарэчна: ён думаў, што дзесь тут павiнна ляжаць i Клава,
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4.3.3 Die Pathosformel »tote Mutter« in zwei sowjetischen Darstellungen der Blockade Leningrads Auch in Darstellungen der Blockade Leningrads wurde die Pathosformel »tote Mutter« z.T. optimistisch abgewandelt. So etwa in Michail Eršovs offiziöser Verfilmung der Romanepopöe von Aleksandr Čakovskij, Blokada, die während der die Heroisierung des Kriegsgedächtnisses auf die Spitze treibenden BrežnevÄra (1973-77) gedreht wurde. In diesem Film bildet der Tod einer Mutter einen der dramatischen Höhepunkte des Films (Eršov 1977, Teil 2, Serie 1/2: TC 1:19:54 – 1:21:41). Wichtige Elemente, die für das Pathos der Formel »tote Mutter« konstitutiv sind, werden auch hier filmisch-narrativ inszeniert: Auf die einleitende Situation des Anstellens um die Brotration auf der Straße folgt eine Einstellung, in der das für die Formel konstitutive Moment des Nichtverstehens aufgegriffen und invertiert wird: Hier ist es der aus der Brotschlange nach Hause zurückkehrende Großvater, der von dem Kind aufgeklärt wird, dass dessen Mutter, seine Tochter, gestorben ist. Die ruhig-tragische Szene der Trauer des Vaters und des Kindes wird akustisch beendet und aufgelöst durch die Rezitation der berühmten Hymne auf die Bürger Leningrads des kasachischen Nationaldichters der Stalinära, Džambul Džabaev, »Leningrader, meine Kinder!« (»Leningradcy, deti moi«). Zuvor schon, als der Großvater nachhause ging, war das Bild des Dichters in Gestalt eines auf den Zaun geklebten Plakats im Hintergrund aufgetaucht. Nun, als die Rezitation einsetzt, werden die Einstellung auf das im Vorzimmer der Wohnung wartende, trauernde Kind und das Portrait des Dichters zusammenmontiert und so auf visueller Ebene der akustisch vernehmbare semantische Sprung von der konkreten Ebene des Leidens (des Kindes) auf die symbolische Ebene der Leningrader als »Kinder«, d.h. Schützlinge des Sängers,
забiтая цi жывая. Але Клавы не было. Адчуваючы тлумнае замяшанне ў галаве, Ляўчук пабег упопе рак нiвы да алешнiку. — Ух, гады! Ух, гады! — роспачна казаў ён сабе, слухаючы, як недзе паблiзу гаўкалi, скавыталi сабакi. Але ўжо побач быў лес, i ён разам з малым на руках неўзабаве ўбег у алешнiк. У той самы момант ззаду стрэлiлi новай ракетай, i па алешнiку прайшла доўгая чарга. Яркае святло, перамешанае з дзiвоснай блытанiнай ценяў, рынулася на яго ззаду, некалькi трас блiзка прашылi начны хмызняк, абдаўшы яго трэскам разрыўных куль i абабiтым галлём. Ён упаў на адно калена, жахнуўшыся, што так не ўцячэ, што бегчы па лесе з малым немагчыма. Але па полi ён не ўцячэ тым болей, там яго дастануць першай чаргой. I ён пабрыў у цемры навобмацак, левым плячом рассоўваючы голле, захiнуўшы крысом пiнжака малога, якi трохi неяк ацiх i толькi перабiраў ножкамi ў мокрай пялёнцы.« (Bykaŭ 1975)
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der mit seinem Poem die Kraft zum Überleben bringt, vollführt. Während der weiteren Rezitation des gesamten Gedichts überblendet das Portrait des kasachischen Nationaldichters immer wieder dokumentarische Szenen der Katastrophe der Blockade. So wird die Pathosformel »tote Mutter« anzitiert und im Sinne eines optimistischen Heroismus aufgelöst. Eine wichtige Pathosstrategie besteht auch hier im Verfahren einer intermedialen Grenzüberschreitung, im Gegeneinanderführen von Visualität, von Sichtbarkeit und Hörbarkeit (des Gedichttexts): die Tragik dessen, was das Bild zeigt, wird durch die Stimme aus dem Off aufgelöst, die wiederum im übergeblendeten Dichterportrait eine magische Visualisierung erhält. Eine genauere Entsprechung zur Pathosformel »tote Mutter« findet sich im Blockadebuch (Blokadnaja kniga, 1974ff.) von Daniil Granin und Ales Adamovič, dessen Publikation in sowjetischer Zeit lange verhindert wurde. Auch in dieser textuell-narrativen Umsetzung der Pathosformel erweist sich die intermediale Dimension konstitutiv für die Pathosstrategie. Das Motiv der toten Mutter mit dem lebendigen Säugling ist hier im 15. Kapitel, das den Titel »Leningrader Kinder« (»Leningradskie deti«) trägt und bereits einen Teil des Finales des ersten Teils bildet, platziert und erhält dadurch eine symbolische Schlüsselfunktion. Wie in anderen Kapiteln des ersten Teils werden auch hier Zeugenberichte zitiert. Der Bericht der Marija Ivanovna Dmitrieva kulminiert in der Geschichte der Entdeckung einer toten Mutter mit lebendigem Säugling, der an ihren Brüsten saugt. Aus der Perspektive der Rhetorik wird die Dramatik der Szene mithilfe des Verfahrens der gradatio entfaltet, die hier im Wechsel von erzählerischer und visueller Akzentuierung besteht: auf die Erzählung einer schrittweisen, durch Hindernisse wie verschlossene Türen blockierten Entdeckung einzelner tragischer Schicksale mitten im schrecklichen Leid der gesamten Blockade folgt die Beschreibung einer sich schließlich eröffnenden Szenerie als »Bild« (kartina), in dem das gesamte Grauen verdichtet zutage tritt. Dieses »Bild« ist eine tote Mutter mit verständnislosem Säugling an der Brust: »Und hier noch ein Fall, die Schwezowstraße sechsundfünfzig, meiner Meinung nach wurde dieses Haus später völlig zerstört. Da kam auch niemand mehr aus der Wohnung. Im Erdgeschoß. In den Häusern waren nur noch wenige Leute geblieben. Ich gehe rein. Ich bin ja nicht allein, hab zwei Leute mitgenommen: Wer weiß, was dort los ist, fast niemand lebt mehr da, das Haus ist praktisch zerstört. Da, ein verschlossenes Zimmer. Wir hämmerten die Tür. Die Hausmeisterfrau brachte viele Schlüssel, und wir probierten sie durch. Dann war die Tür offen. Und was sahen wir, was für ein Bild? Da stand ein Bett. Auf dem Bett eine tote Mutter. Eine junge Frau, Belowa hieß sie. Ihr Mann war an der Front. Und das Kind lebt – weiß nicht, es muss wohl so anderthalb sein. Und da, es kriecht
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auf ihr herum, es zieht ihre Brüste in den Mund und saugt daran. Was für ein Albtraum! Na, wie finden Sie das?! So ein Bild stand uns da vor Augen. …«17 »А вот еще случай, улица Швецова, пятьдесят шесть, по-моему, дом этот потом весь разбило. Тоже не выходят и не выходят из квартиры. А нижняя квартира. Людей-то ведь мало осталось в домах. Иду. Да не одна я, взяла двух человек с собой: ведь кто его знает, там почти никто не живет, дом-то разбитый весь. Вот закрытая комната. Уж мы бились-бились. Дворничиха принесла много ключей, и вот мы стали открывать. Открыли. И что увидели, какую картину? Открыли дверь стоит кровать. Мать лежит мертвая. Молодая женщина, Белова ей фамилия. А муж на фронте. А ребенок — не знаю, ему года полтора — живой. И вот по ней лазает, причем тащит ейные груди в рот и сосет их. Кошмар какой-то! Ну, как вы думаете?! Вот такая картина перед глазами. …« (Adamovič/Granin 2013: 223f)
Das stilistische Pathos der Stelle ist bemerkenswert. In ihm werden die vorhergehenden Schilderungen überboten: Die Emphase des Ausdrucks, die durch rhetorische Fragen und affektgeladene Ausrufe erzielt wird, aber auch durch die Betonung des Sehens, der sehenden Entdeckung, der Offenbarung, der Evidenz des Unheils in diesem einen »Bild«. Die Darstellung bedient sich hier der enargeia bzw. evidentia als eines klassischen Pathosverfahrens der antiken Rhetorik, das speziell auch der Darstellung des Unerhörten, des Unglaublichen und des die Vorstellungskraft Übersteigenden, Undarstellbaren im narrativen Text diente. Nach all dem, was bereits zuvor erzählt wurde, dringt die Erzählung hier – räumlich veranschaulichend in der Beschreibung des vielfach verschlossenen, schwer zu öffnenden Raumes – vor zur momentanen Einsicht in die ganze Tragweite des Leids. Im Verfahren der enargeia/evidentia konkurriert das rhetorische Pathos der Textkunst – so haben es die alten und neuen Theoretiker der Ekphrasis gesehen – mit der Bildkunst. Während Warburg die Text-Bild-Relation nicht weiter reflektiert, sondern einfach davon ausgeht, dass Pathosformeln oft aus Texten kommen und quasi bildlich inszenierte Ekphrasen sind, geht Mitchell, auf die gerade hier interessierende spezifische Kombination aus Pathos und Visualitäts- bzw. Visualisierungskritik ein, die dieser Formel eine symbolische Doppelfunktion verleiht. In der textuellen Narrativisierung der Formel verschwindet diese (in den bildlichen Inszenierungen in gewissem Sinn selbstzerstörerische) Spannung und die Quasi-
17 Mit leichten Korrekturen der Verfasserin, die den Text dem Original annähern, zitiert nach Adamowitsch/Granin 1984: 289-90.
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Bildlichkeit des Textes wird als gradatio-Verfahren genutzt, um Evidenz zu erzeugen.
5. R ESUMÉE Abschließend möchte ich trotz der zahlreichen aufgezeigten Varianten dafür plädieren, die tote Mutter mit dem lebendigen Kind als eine Pathosformel aufzufassen, die gleichrangig neben den anderen kodierten Mutter-Kind-Topoi einzuordnen ist: der stillenden Mutter, die für Hoffnung steht, und der Pietà, der um ihr Kind trauernden Mutter, deren Trauer jedoch – zum einen weil sie die Hoffnung auf andere Nachkommen belässt, und zum anderen weil sie im christlichen Kontext in Verbindung mit der Idee der Auferstehung Christi kodiert ist – überwindbar ist. In der Auflistung der zahlreichen Realisierungen hat sich die tote Mutter als ebenso gefestigte Formel erwiesen. Komplementär zu den anderen MutterKind-Varianten symbolisiert sie stets die totale Katastrophe, die total hoffnungslose Situation eines übermächtigen Unheils. Diese Figurengruppe lässt – im Gegensatz zu den beiden anderen – Heroisierung nur sehr bedingt zu und lässt sich nur bei deutlicher Modifikation als Instrument einer zum Handeln ermunternden Agitation verwenden. Die über die Jahrhunderte und Kulturen verteilten Beispiele aber haben die kontinuierliche Produktivität dieser Pathosformel gezeigt. Allgemein sollte am Beispiel der Analyse dieser einen Formel deutlich geworden sein, dass Pathosformeln zwischen bildender Kunst und Literatur wandern, und dass sie dabei eine intermediale Reflexivität gewinnen, die je spezifisch ausagiert wird. Den symbolischen Kern der Figurengruppe der toten Mutter mit dem lebendigen Kind, der sie von den anderen „Mutter“-Formeln unterscheidet, bildet in allen angeführten Beispielen die Katastrophe, die hoffnungslose Situation eines übermächtigen Unheils. Auch in Hinblick auf andere Pathosformeln erwägenswert scheinen erstens die durch die Transposition vom narrativen Text ins Bild und umgekehrt bedingten Modifikationen und zweitens die jeweiligen Bezugnahmen auf Visualität, die in allen Fällen als Pathosverfahren und als Strategien der evidentia zu werten sind, sowie, drittens, die Veränderungen in Hinblick auf die Pathosträger im Bild bzw. auf der Ebene der Fiktion und in der Relation zwischen Bild bzw. Text und Rezipient. Zum ersten Punkt: Im Unterschied zur These von Knape, der in seinem Aufsatz eine Reihe von für das narrative Textmedium spezifischen Pathosnarrativen benannt hat (vgl. o.), kann ich keine Beschränkung der Pathosformel »tote Mut-
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ter« auf das Bild- oder das Textmedium feststellen. Differenzen zwischen den bildlichen oder aber textuellen Realisierungen der Pathosformel ergeben sich gleichwohl durch die Möglichkeiten der narrativen Auflösung des Motivs in einem zeitlichen Kontinuum im Text. Eingeschränkt werden diese Differenzen jedoch durch die dem Pathos selbst eignende zeitliche Dimension. Denn Pathos ist generell eine Kategorie, der Dauer, zeitliche Erstreckung und Verlauf fremd sind, da es um momentane, augenblickliche Situationen höchster Anspannung und Erregung bzw. um plötzlich stattfindende oder besser: hereinbrechende Ereignisse geht. Deshalb entsprechen den von Warburg mit dem Begriff Pathosformel bezeichneten Bildszenen auch nur momentane Situationen, deren Darstellung im Text durch Beschreibung und nicht durch Narration erreicht wird. In der Diskussion der Textbeispiele wurde deutlich, dass es nur hinführende Narrative gibt – die sich freilich der Pathosverfahren wie z.B. der gradatio bedienen. Und auch Knapes eigene Beispiele für »Pathosnarrative« zeigen, dass nicht Verläufe, sondern nur momentane dramatische Situationen eine Entsprechung zu den Pathosformeln darstellen. In den von mir angeführten Beispielen geht es in Texten und Bildern um die Darstellung einer momentanen, einer plötzlich eingetretenen, überwältigenden Situation, deren semantischen Kern die Figurengruppe bildet. Was jeweils mithilfe der Figurengruppe bzw. der Pathosformel vermittelt werden soll, ist die Erkenntnis der Unausweichlichkeit und Fatalität der Situation. Diese Situation wird dadurch evident, dass gerade die Mutter-Kind-Figurengruppe, die kulturell kodiert ist als symbiotische Einheit und als Symbol der Garantie des Lebens und Weiterlebens, in dieser Formel durch die Grenze zwischen Leben und Tod auseinandergerissen ist. Dadurch dass bereits der eine, der stärkere Teil der Gruppe, die Mutter, dem Tod anheimgefallen ist, wird die Unausweichlichkeit des Todes auch des zweiten, schwächeren Teils, des verzweifelten, aber nicht verstehenden Kindes (welches symbolisch auf die Zukunft verweist), offensichtlich. Die skizzierte historische Kontinuität hat gezeigt, dass es sich bei dieser Figurengruppe sowohl in den textuellen als auch in den bildlichen Inszenierungen um eine fortdauernd produktive Pathosformel handelt. In der Reihe der verschiedenen Realisierungen dieser Pathosformel fällt auf, dass es in den meisten Fällen eine Metaebene der Darstellung gibt, auf der das in der rhetorischen Tradition für Evidenz (evidentia) stehende Moment der Visualität verhandelt wird. In Raimondis Bild wird diese durch die Thematisierung von Licht und Dunkelheit in Kombination mit den Pathosgesten der Abwendung und des Wegschauens eingebracht. Letztere stehen für die Unerträglichkeit des Anblicks, d.h. für den alles übersteigenden Schrecken des Geschehenen. Bei Poussin spielt bereits der Titel selbst – »Tod der Philister« – kritisch auf das Thema der Visualisierung an. Und die Kritik an den Götzenanbetern wird hier kombi-
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niert mit der Konstellation um die tote Mutter und ähnlichen Gesten der entsetzten Abwendung. Das evidentia-Verfahren Brjullovs ist komplex, denn die Pathosträger im Bild sind hier allein dem Vulkanausbruch und den stürzenden Skulpturen zugewandt, in diesem Punkt wird der Schrecken einfach vor Augen geführt. Hinzu kommt aber noch die Pathosformel »tote Mutter«, die dem Geschehen gewissermaßen vorausgreift und das kommende Unheil vorwegnimmt. Gerade dadurch, dass sie von den Figuren in der fiktiven Welt des Bildes nicht bemerkt wird, steigert sie das Grauen des Betrachters, der hier der alleinige Adressat dieses raffinierten evidentia-Verfahrens ist, das zugleich eine Aussage über die Unhintergehbarkeit blinder Flecken macht. Auch in den textuell-narrativen Arbeiten mit der Pathosformel »tote Mutter« wird die Thematisierung und Problematisierung von Sichtbarkeit als evidentiaVerfahren eingesetzt, bei dem es darum geht, die Möglichkeiten des Mediums zu reflektieren und seine Grenzen zu umspielen. Bei Adamovič/Granin kulminiert die als gradatio aufgebaute Inspektion des Leids der Blockade in einer Ekphrasis der Pathosformel. Im Erzähltext geht es nicht um das Nicht-sichtbar-zuMachende, sondern um die Überschreitung der Möglichkeiten des Erzählens hin zum imaginär-visualisierenden Zeigen im klassischen Sinn der rhetorischen evidentia-Strategie, durch welches der Text die Möglichkeit des Bildes beansprucht. Diese Strategie wird – wie bereits angemerkt – durch die wiederholte Betonung des Bild-Charakters des Beschriebenen unterstrichen. Bei Dostoevskij wird die Pathos-Wirkung der Erzählung gerade dadurch verstärkt, dass die Figurengruppe der Pathosformel ins Dunkel gesetzt ist. In der Erzählung symbolisiert Dunkelheit Armut, die Welt des Reichtums und des glücklichen Lebens wird als Realisierung der idiomatischen Licht-Metapher – »svet« – für die gesellschaftliche Elite gezeigt. Aber in der Szene, die die beiden Protagonisten der Erzählung als tote Mutter und kleinen lebenden Jungen präsentiert, kommt noch ein weiteres Moment hinzu: Der hungrige Junge sieht seine Mutter in der Dunkelheit nicht, er fühlt nur ihre Kälte, aber, weil er nichts sieht, versteht er die Situation – ein signifikantes Moment der Pathosformel – nicht. Unsichtbarkeit als Moment der fiktiven Welt fungiert hier paradoxerweise als Verstärker des auf Affektion abzielenden evidentia-Verfahrens. Auch das dritte erwähnte Textbeispiel spielt auffällig mit Licht und Dunkel, mit Sichtbarem und Unsichtbarem. Bei Bykaŭ dient es jedoch dazu, die Pathosformel aufzulösen und das Motiv so der Heroisierung zugänglich zu machen. Und bei Adamovič/Granin wird die Überschreitung der narrativen Textqualität hin zu einer imaginären Visualität durch die Bildlichkeitmetaphorik und das Anhalten der Erzählung in einer Bildbeschreibung markiert.
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Somit wird deutlich, dass sich die medienreflexive Thematisierung der Sichtbarkeit praktisch durch alle Inszenierungen der Pathosformel »tote Mutter« zieht. In den bildlichen Darstellungen dient sie der Problematisierung der Grenzen des visuell Darstellbaren, in den textuell-narrativen Entfaltungen der Überschreitung des Narrativen im Sinne der rhetorischen evidentia. Im Kontext der Kategorie Pathos erstaunt dies nicht, sondern bestätigt das Moment der Überschreitung als Konstitutivum des Pathos. Neben Hyperbeln und Figurenhäufung aller Art sind ›negative‹ Figuren, die auf das Unsagbare und – weil alle Vorstellung übersteigende – Undarstellbare verweisen, immer schon zentrale Pathosverfahren. Es ist daher nur konsequent, dass die Pathosformel »tote Mutter«, die als extrem negative Variante der Mutter-Kind-Figurenkonstellation angesehen werden kann, sich besonders stark dieser Verfahren bedient. Vielleicht ist der letzte jetzt noch zu behandelnde Punkt der problematischste: der Wechsel der Pathosträger in der Reihe der angeführten Beispiele. Wie wir gesehen haben, werden in verschiedenen Realisationen der Formel entweder die Mutter oder das Kind oder umstehende Beobachterfiguren zu Pathosträgern oder – in Ausnahmefällen (Dostoevskij, z.T. Brjullov) – auch keine von ihnen. Die meisten Beispiele zeigen, wie wichtig der Einbezug der Rezeptionsebene für das Verständnis von Pathosverfahren als kommunikativen Strategien ist. Ziel aller Pathosverfahren ist eine möglichst intensive und unmittelbare Affektion des Rezipienten. Nach den diskutierten Beispielen gibt es drei Wege, dies zu erreichen: Indem die vom Unheil betroffenen Figuren als Pathosträger dargestellt werden, indem Beobachter im Bild, die das Unheil erkennen, als Pathosträger erscheinen, oder indem durch die Konstellation des Bildes, den Inhalt des Erzählten oder die Adressierung an den Rezipienten (nur) der Rezipient selbst zum Pathosträger in der Kommunikationsstruktur des Bildes wird.
L ITERATUR Adamovič, Ales’/Granin, Daniil (2013): Blokadnaja kniga, Sankt-Peterburg. Adamowitsch, Ales/Granin, Daniil (1984): Das Blockadebuch, Berlin. Bing, Gertrud (1992): »Aby M. Warburg«, in: Dieter Wuttke (Hg.), Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden, S. 437454. Bredekamp, Horst (2005): Interview mit dem Verfasser vom 6.4., in: Die Zeit online, http://www.zeit.de/2005/15/Interv_Bredekamp (gesehen am 23.08. 2017). Bykaŭ, Vasil’ (1975): Voŭčaja zgraja, Minsk.
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F ILME Blokada (1973-77) (UdSSR, R: Michail Eršov)
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Raimondi, Die Pest in Phrygien, ca. 1515, Staatsgalerie Stuttgart (Höper, Corinna (2001) Raffael und die Folgen, S. 54). Abb. 2: Nicolas Poussins, Die Pest von Ashdod / Die Pest der Philister, 1630, Musée du Louvre, Paris (Mérot, Alain (1990): Nicolas Poussin, New York, S. 59). Abb. 3: Sant’ Anna di Stazzema, Monumento Ossario, http://www.gedenkorteeuropa.eu/content/list/247/ (gesehen: 24.2.2015). Abb. 4: Karl Brjullov, Der letzte Tag von Pompei, 1830, Gosudarstvennyj Russkij Musej, Sankt-Peterburg (Mössinger, Ingrid / Ritter, Beate (Hg.) (2012): Die Peredwischniki - Maler des russischen Realismus, Chemnitz/Stockholm, S. 21) Abb. 5: Michail Savicki, Partisanenmadonna, 1967, Gosudarstvennаja Tretjakovskaja Galereja, Moskau_http://www.gazetaby.com/cont/art.php?sn_nid= 32249 (gesehen am 10.10.2013).
Bilder von Orten, Bilder der Geschichte Eine Lektüre von Július Kollers Archiv T OMÁŠ P OSPISZYL
Welche Bedeutungen können Bilder tragen? Das ist eine Frage, die sich nicht nur Kunsthistoriker – visuelle Anthropologen – immer öfter stellen, sondern auch die Künstler, die mit Bildern arbeiten. Einer dieser Künstler war der Slowake Július Koller (1939-2007). Er wird zu den bedeutendsten osteuropäischen Konzeptkünstlern gezählt und in den letzten 15 Jahren hat sein Schaffen immer größere Aufmerksamkeit erregt. Bereits Ende der 60er Jahre begann er, die traditionelle Auffassung von Kunst und neue künstlerische Medien anzuzweifeln und sie mit ironischem Humor zu hinterfragen. Er schuf Antibilder, Anti-Happenings und komplexe intermediale Werke, die oft sein Interesse am Geheimnisvollen im Alltag, an Atlantis und dem UFO-Phänomen widerspiegelten.1 Július Koller war kein reiner Konzeptkünstler, nicht im Sinne der entsprechenden Bewegung, die sich in den 60er Jahren in Westeuropa und den USA zu formieren begonnen hatte. Kollers breites künstlerisches Spektrum ist zum einen auf die spezifischen Bedingungen in der sozialistischen Tschechoslowakei, in der er lebte und arbeitete, zum anderen auf seine Persönlichkeit, in der sich die Fähigkeit zu bohrenden Analysen mit dem Interesse am Irrationalen paarte, zurückzuführen. Koller hatte zwei Gesichter: Er war Avantgarde-Künstler – interessierte sich aber auch für althergebrachte Formen des künstlerischen Schaffens. Zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und zum eigenen Vergnügen schuf er realistische Gemälde, die er über den Betrieb »Dílo« verkaufte und die eine
1
Eine möglichst umfangreiche Vorstellung von Július Kollers Schaffen wurde 2010 in der Ausstellung der Slowakischen Nationalgalerie mit dem Titel »Vedeckofantastická retrospektíva« angestrebt, zu der auch ein umfangreicher Katalog erschien. (vgl. Hanáková/Hrabušický 2010)
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eigenständige Parallele zu seinem renommierten konzeptuellen Schaffen bilden.2 Mit großer Hingabe leitete Koller Malzirkel für Amateurkünstler, die er im Malen im Pleinair unterwies. Auch trug er im Verlauf seines Lebens – ohne dass Außenstehende etwas davon ahnten – ein umfangreiches Bildarchiv zusammen, das sich irgendwo an der Schnittstelle zwischen künstlerischem Werk, einer Quellensammlung für Konzeptarbeiten und der Manifestation der Absonderlichkeit des Künstlers bewegt. Was Julius Koller als ›Archivkünstler‹ macht, wirkt wie eine eigentümlich verschobene Illustration der Methoden Aby Warburgs zur Erforschung des kulturellen Gedächtnisses, insbesondere des Mnemosyne-Atlas. Koller sammelte alle erhältlichen Zeitungen und Zeitschriften,3 um daraus systematisch die Bilder und Texte auszuschneiden, die seine Aufmerksamkeit erregten. Er interessierte sich für Autos (obwohl er selbst keinen Führerschein besaß), Film- und Fernsehstars, Topografie, Artikel über UFOs, das Bermuda-Dreieck und archäologische Rätselhaftigkeiten, Architektur-Fotos, Reproduktionen von Kunstwerken, ungelöste Kreuzworträtsel und Denkaufgaben, Karten, Werbung, Mode, Verpackungen von Industrieprodukten, Buchumschläge, Aktfotos, Kinderillustrationen, Comics, Wissenschaft und Technik oder Bilder von Gegenständen und Situationen, die ihn aus verschiedenen Gründen an zeitgenössische Kunstwerke erinnerten. Am intensivsten widmete Koller sich dieser Art von Archivierungsarbeit in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Kartons und Pakete mit thematisch sortierten Ausschnitten füllten nach und nach fast die gesamte Wohnung Kollers in Bratislava.4
2
Der Betrieb »Dílo« (»Werk«) verfügte in der sozialistischen Tschechoslowakei über ein Netz von Verkaufsgalerien, über welches die staatliche Kontrolle über den Kunstmarkt umgesetzt wurde. Nur über dieses Galeriennetz war es autorisierten Künstlern möglich, ihre Werke offiziell zu verkaufen.
3
Das Wort »alle« ist hier keine Übertreibung. In Kollers Hinterlassenschaft befinden sich lange Verzeichnisse von Periodika, die er abonniert hatte. Weiteres Material erhielt er von seinen Freunden. Zeitschriften, die er sich nur geborgt hatte und für besonders bedeutend hielt, kopierte er. Das in Kollers Archiv vertretene Spektrum internationaler Presseerzeugnisse (Zeitungen und Zeitschriften aus Österreich, Deutschland, der Sowjetunion und Frankreich) relativiert auch unsere Vorstellung von der Informationsblockade durch den Eisernen Vorhang.
4
Ein Teil von Kollers Hinterlassenschaften befindet sich im Besitz der Slowakischen Nationalgalerie, ein bedeutender Teil verteilt sich auf die Július-Koller-Gesellschaft und private Sammler.
B ILDER
VON
O RTEN , B ILDER
DER
G ESCHICHTE
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Welchen Sinn hatte Kollers Archiv und wie können wir es heute interpretieren? Offenbar haben wir es hier mit etwas sehr Uneindeutigem zu tun. Die Antwort auf die Frage nach seinem Sinn wird immer relativ und unvollständig sein, worin ein wesentlicher Reiz aller Aktivitäten Kollers liegt. Auch die slowakische Kunsthistorikerin Petra Hanáková klassifiziert das Wesen von Kollers Archiv als uneindeutig; fügt aber gleichzeitig hinzu, dass es aus praktischen Gründen offenbar am günstigsten sei, es als Kunstwerk zu betrachten – ungeachtet dessen, dass der Künstler selbst das anders sah und nie versucht hat, es öffentlich auszustellen. (Hanáková 2010: 9)5 Dabei gab es in der internationalen Kunstszene des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Künstlern, die sich ähnlichen Projekten widmeten. Auch sie begannen aus unersichtlichen Gründen mit der Akkumulation bestimmter Materialien, die sich erst im Nachhinein zu künstlerischen Artefakten fügten. Seit 1962 entsteht der Atlas von Gerhard Richter, eine massive Kompilation aus Bildmaterialien. Ein ähnliches Werk ist die Kulturgeschichte 1880-1983 von Hanne Darboven von 1980-1983. Auch Andy Warhol schuf zwischen 1974 und 1987 mehr als 600 Zeitkapseln – Pappkartons, in denen er Artefakte aus seinem persönlichen und künstlerischen Leben sammelte. Mit dem Sammeln und Archivieren beschäftig(t)en sich in ihren Projekten auch Il’ja Kabakov und andere Künstler aus allen möglichen Ländern. Der Kunsthistoriker Benjamin H.D. Buchloh (2006) stellt künstlerische Archive und Bildsammlungen mit ähnlichen Arbeitstechniken der Avantgarde-Kunst – zum Beispiel Collagen und Fotomontagen – in Zusammenhang, macht gleichzeitig aber auch auf die Unterschiede aufmerksam: ihre fehlende künstlerische Komposition und ihre archivarische Ordnung. Auch im Schaffen zeitgenössischer Künstler ist das Anlegen neuer oder die Interpretation alter Archive eine unübersehbare Tendenz, fast schon eine Mode. Der Sammlung von Bildquellen liegt meist der Versuch zugrunde, die Quellen zu bewahren, zu sortieren und ihren Sinn zu erschließen. Warburgs Bilderatlas Mnemosyne von 1924–1929 hatte zum Ziel, anhand einzelner Beispiele eine Kunstgeschichte ohne Text zu schaffen. Die Beispiele basierten auf visuellen Analogien und Zusammenhängen, die die Beständigkeit verschiedener Motive und ihre Weiterreichung von der Antike bis in die Gegenwart verdeutlichten. Das Archiv von Július Koller ist kein klar formuliertes künstlerisches Projekt und verfolgt auch keine wissenschaftlichen Ambitionen. Wir können es als eine Art Don-Quijote’schen Versuch begreifen, eine Geschichte der Bilder der Welt
5
Kollers Archiv – oder genauer gesagt Teile davon – wurden erst nach seinem Tod ausgestellt, so z.B. in der 2012 in Prag von »tranzitdisplay« organisierten Ausstellung »Archiv Júliuse Kollera: Badatelna«.
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zu erschaffen, eine Art utopisches Papierinternet, das Hunderttausende von Bildmaterialien miteinander verbindet.6 Aufgrund seiner materiellen und räumlichen Ausmaße erwies sich das Archiv jedoch nicht nur für seinen Schöpfer, sondern auch für spätere Forscher als eine unkoordinierbare Papiermasse. Der Künstler hinterließ uns keine Anleitung dafür und es ist nicht auszuschließen, dass es auch für ihn nicht so sehr etwas bewusst Erschaffenes, als vielmehr ein Ventil für seine pathologische Sammelwut war. Kollers Archiv zeichnet sich, ähnlich wie der Mnemosyne-Atlas, durch seine vielen Interpretationsmöglichkeiten und einen veränderlichen Grad der Fixierung aus: Die meisten von Kollers Ausschnitten sind auf weiße Papierbögen geklebt, entweder einzeln oder in Gruppenkompositionen. Der Akt des Ausschneidens und der einheitliche, neutrale Untergrund lösen die einzelnen Ausschnitte aus ihrem ursprünglichen Bedeutungskontext. Ähnlich verfuhr auch Warburg, der in seinem Mnemosyne-Atlas u.a. das Foto einer mexikanischen Indianerin, die einen Wasserkrug auf dem Kopf trägt, vergleichbaren Motiven in der italienischen Kunst der Renaissance gegenüberstellte. Er arbeitete nicht nur mit klassischem kunsthistorischem Material, sondern mitunter auch mit Werbung oder Spielkarten und eröffnete der Kunstgeschichte so neue Forschungswege, die Epochen- und Genregrenzen überschreiten. Zur Bedeutung des Bilds führt nicht nur eine strikt geführte formale Komparatistik, sondern auch eine heuristische bis intuitive Methode der Untersuchung der menschlichen Kultur als Ganzes, unabhängig davon, ob es sich um sogenannte hohe oder niedere Kunst handelt. Auch Július Koller fertigte mit Vorliebe vergleichbare Bildmontagen aus unzusammenhängenden Szenen an und sammelte Bilder mit doppelter Bedeutung. In seinem Archiv begegnen wir einem kaum wahrnehmbaren Übergang zwischen Ernsthaftigkeit und Humor, der glücklicherweise manchmal durch Beschriftungen und Vermerke des Künstlers erhellt wird. So sah er zum Beispiel im Foto eines Plattenbaus das Werk eines minimalistischen Künstlers oder in Maschinenanlagen modernistische Skulpturen. In Collagen verband er Bilder aus der Weltraumforschung mit solchen von Verbrauchsgegenständen und Zeitungsfotos von Politikern mit humorvollen Überschriften, die sich auf ganz andere Artikel bezogen. Wichtig sind die konkreten physischen Konfigurationen, die Warburg und Koller in ihren Bild-Panneaus schufen. Denn auch die Position der einzelnen
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Es ist sicherlich kein Zufall, dass Kollers Sammelaktivitäten mit dem Aufkommen des Internets nachlassen. Allerdings schenkte er dieser neuen Erfindung, die einen unmittelbaren Zugang zu Billionen von Bild- und Textinformationen ermöglicht, wenig Beachtung.
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Szenen zueinander, ihr Rhythmus und die Abstände zwischen ihnen spielen eine wichtige Rolle. »Mit Mnemosyne begründete Warburg eine Ikonologie des Zwischenraums, die keine Objekte, sondern Beziehungen, Analogien, Kontraste oder Widersprüche enthält.« (Michaud 2007: 244) Einem ähnlichen Kompositionsprinzip scheinen auch Kollers Ausschnittgruppierungen zu folgen. Die einzelnen Bögen sind in der Regel nicht nummeriert. Sie können beliebig angeordnet werden und in unterschiedliche Beziehungen zueinander treten – genauso wie die an Tafeln gehefteten Reproduktionen von Mnemosyne. In Kollers Werk, ebenso wie in Warburgs Mnemosyne-Atlas, haben wir Produkte einer diagrammatischen Denkweise vor uns, in deren Fokus Bedeutungstrajektorien stehen, die sich in einzelnen Kompositionen verdichten, sich aber auch durch das ganze Archiv ziehen können. Archive – im Sinne konkreter historischer Einrichtungen – entstanden meist als Machtinstrumente – oder entwickelten sich im Laufe der Zeit zu solchen. Durch die Anhäufung von Informationen eignen wir uns diejenigen, auf die sich die Daten beziehen, an und erlangen Kontrolle über sie. Die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft einzelne Archivinformationen gewinnen, und die Methoden, mit denen wir sie systematisieren und weiterverarbeiten, zeugen von nichts anderem als der Ausübung von Herrschaft. Archive müssen aber nicht zwangsläufig die objektiven und bürokratischen, Unfreiheit produzierenden Apparate sein, mit denen wir in Osteuropa unsere bleibenden Erfahrungen haben. Koller hat mit seinem privaten Archiv externe Macht weder erlangt noch angestrebt. Bis auf einige Ausnahmen besteht seine Sammlung aus solchen Materialien, die, zumindest auf den ersten Blick, die totalitäre politische Situation in der sozialistischen Tschechoslowakei nicht reflektieren. Sich in den Jahren der sogenannten ›Normalisierung‹ mit UFOs zu beschäftigen, kann sogar als radikaler Eskapismus und absichtliches Ignorieren der repressiven gesellschaftlichen Realität der 70er und 80er Jahre in einem sozialistischen Land gedeutet werden. Viele der von Koller zusammengetragenen Informationen sind ungewöhnlich, geheimnisvoll und mehrdeutig. Koller ging mit den einzelnen Elementen des Archivs frei um, als wären es Elemente einer künstlerischen Komposition. Mit ihrer Hilfe versuchte er in einer gegen Weber gerichteten Geste, die Welt »erneut zu verzaubern«, sei es mit Däniken’schem Mystizismus oder dem Glauben an UFOs. Sein Schaffen ist auf den ersten Blick systematisch, in seinem Wesen jedoch intuitiv bis irrational. Als Beweis dafür können die scheinbar unzweideutigen Fotografien slowakischer, tschechischer und anderer Städte aus der ganzen Welt herangezogen werden. In dem Teil von Kollers Archiv, der sich im Besitz der Július-KollerGesellschaft befindet, sind mehrere Hundert A2-Bögen erhalten geblieben, auf
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denen Postkarten oder Zeitschriftenausschnitte von verschiedenen Touristenattraktionen aufgeklebt sind. Es sieht aus wie die private Kollektion eines Reiseliebhabers, der sich eine Art Erinnerungsbuch mit Bildern der von ihm besuchten Orte erstellt hat. Bei Kollers Fotografien handelt es sich jedoch weder um Souvenirs noch um Gedächtnisstützen. Viele der so dokumentierten Orte hat Koller nie besucht; zudem finden sich unter den Bögen gleich mehrere, die stereotype Ansichten von Bratislava zeigen, der Stadt also, in der Koller lebte und deren Antlitz ihm mehr als vertraut war. Außerdem interessierten ihn meistens die Neubaugebiete und alltäglichen technischen Bauwerke. Die gesammelten Ansichten der Hauptstadt der sozialistischen Slowakei wirken eher wie Soz-ArtIronie oder – was wahrscheinlicher ist – wie eine Anknüpfung an die Strategie des grundlegendsten Werks der slowakischen Konzeptkunst: Im Jahre 1965 realisierten Stano Filko, Zita Kostrová und Alex Mlynárčik »Happsoc I.«, für das sie während der Demonstrationen zum 1. Mai die ganze Stadt Bratislava zu ihrem Kunstwerk erklärten. Sie dokumentierten ihr Kunstwerk mit einem Katalogbuch, das ein Textmanifest, Angaben zu Bratislava aus dem statistischen Jahrbuch sowie offizielle Fotos der Stadt und der 1.-Mai-Demonstration enthielt. 7 Auf ähnliche Art und Weise kann sich Kollers Städtealbum die ganze Welt – oder zumindest Bilder von ihr – aneignen und sie zu seinem künstlerischen Experimentfeld machen. Koller sammelte die Städtefotografien offensichtlich nicht wegen der Schönheit der einzelnen Orte oder der künstlerischen Qualität der Fotos selbst. Er analysierte weder die Stereotypen der sich ähnelnden Abbildungen, noch interessierte er sich für eine kritische Lesung ihres ursprünglichen Kontexts. Das System der vielen Orte mutet letztendlich wie eine Dokumentation von Tatorten uns unbekannter Taten oder gar wie Beweismaterial für etwas Ungewöhnliches an. Als wäre es den Fotografen der banalen Bilder gelungen, ansonsten unsichtbare Symptome einzufangen, an denen sich Koller zufolge das Leben, das an den fotografierten Orten gelebt wird, ablesen lässt. Wichtig ist, dass Koller die Städte nicht selbst fotografierte, sondern lediglich bereits existierende Fotos sammelte und anordnete – er war nur der Redakteur bestehenden Materials. Die Druckmedien, denen das meiste entstammt, können als die wichtigste Quelle der modernen Kultur angesehen werden. Es ist nicht mehr – wie in der klassischen Kunst – die Antike, die die Motivfundgrube für unsere Kultur darstellt; vielmehr sind es die auflagenstarken Zeitungen und Zeitschriften mit ihrer Flut an Bildern und Werbung. Kollers Archiv ist demnach ein Versuch, das ganze Universum von Bildern und Texten, die nicht nur das, was wir darauf sehen, beschreiben und
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Mehr dazu bei Hoptman/Pospiszyl 2002: 85-87.
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dokumentieren, sondern die vor allem durch ihre Existenz und wirksame Distribution unsere Vorstellung von der Welt konstituieren, physisch zusammenzutragen. Damit hängt ein weiterer wichtiger Aspekt von Kollers Archiv zusammen: sein starker Bezug zur Kulturgeschichte, insbesondere der Osteuropas und der Slowakei. Das Archiv enthält zahlreiche Verweise auf Themen, die der slawischen Wiedergeburtsbewegung bis hin zum Nationalismus zugeordnet werden können. Auch in Kollers freiem Schaffen finden sich Gemälde und Objekte, die Nationalflaggen oder ironisierte Folklore-Motive zum Gegenstand haben. Im Kontext seines Archivs handelt es sich vor allem um umfangreiche Komplexe von Ausschnitten und Zeichnungen zur Geschichte der Slawen und Slowaken.8 Július Koller trug in seinem Archiv eine Reihe von Artikeln zu archäologischen Funden aus der Zeit der Völkerwanderung zusammen, für die er sich vor allem mit Blick auf das Verhältnis zwischen Slawen und Kelten interessierte. Er zeichnete Karten zur prähistorischen Besiedlung Europas und zu den vermuteten Wanderbewegungen der Völker. Offensichtlich faszinierte ihn die Vorstellung, dass beide prähistorischen Volksgruppen – Slawen und Kelten – einen gemeinsamen Ursprung in den Bewohnern von Atlantis gehabt haben könnten. Belege für derartige Überlegungen fand er in Artikeln, die sich mit ungeklärten Phänomenen beschäftigten und von verschwindend geringem wissenschaftlichen Wert waren oder aber er interpretierte Nachrichten und Informationen, die eigentlich keinen dahingehenden Bezug hatten, entsprechend um. Im Jahr 1976 notierte er zum Beispiel einen möglichen Zusammenhang zwischen dem portugiesischen Namen Costa und dem russischen Namen Kostja, er verglich Zeitschriftenartikel zu archäologischen Funden, insbesondere zu solchen in slawisch besiedelten Gebieten, und stellte Vermutungen bezüglich der engen Beziehung zwischen den beiden antiken Kulturen an. Als ein Beweis für den inneren Zusammenhang diente Koller u.a. der Baum des Lebens – eine einfache symbolische Zeichnung, ähnlich einem Zeichen oder einer Hieroglyphe –, den er in archaischen Reliefs in Kleinasien, in der slawischen Folklore und in modernistischen Plastiken von Joan Miró fand.
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Koller war nicht nur von der Vergangenheit fasziniert, sondern auch von der Zukunft: Er war erfüllt von utopischen Vorstellungen über die Kommunikation mit außerirdischen Zivilisationen und Weltraumreisen. Während die Projekte der meisten westlichen Konzeptualisten dem Hier und Heute gewidmet sind, bewegte sich Koller frei durch die Zeit, zwischen Urzeit auf der einen und Überlegungen zum Leben auf fremden Planeten auf der anderen Seite.
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Ein Blick auf das Archiv als Ganzes zeigt, dass es seinem Schöpfer nicht um die Verbindungen zwischen prähistorischen Kulturen allein ging. Für Koller war die Kulturgeschichte ein Raum der durchgehenden, wenn auch vielleicht unbewussten Kontinuität von Themen und Motiven. Zwar sortierte er Fotos von urzeitlichen Ausgrabungen, sozialistischer Architektur, Weltraumtechnologie oder zeitgenössischer Kunst in separate Kisten. Diese stellten jedoch keine unzusammenhängenden Kapitel, sondern Teile eines ganzheitlichen Texts dar. Die ausgeschnittenen Bilder bildeten ein Vokabular, auf das er als Schöpfer und Archivar zurückgreifen konnte. Meiner Meinung nach schuf und nutzte Koller sein Archiv als einen Apparat, der eine historische Kontinuität generierte, als einen Rahmen, der es ihm ermöglichte, verschiedenste Bildmaterialien aus dem Universum der gedruckten Medien einander gegenüberzustellen und miteinander zu verknüpfen. Weiterhin denke ich, dass Július Koller Kultur nicht als eine von vorneherein gegebene Tatsache ansah, sondern als ein Phänomen, das materiell und ideell ständig geformt wird. Auch von einem Individuum kann sie konstruiert und wie ein Material oder ein Medium behandelt werden. Diese Haltung ist auch für den historischen Zeitraum der Geburt der slowakischen Nationalkultur charakteristisch. Letztere entstand – ähnlich wie andere Kulturen in Osteuropa auch – aus der nationalen Wiedergeburtsbewegung heraus, einem Prozess der bewussten Selbstdefinition. Aus heutiger Perspektive handelte es sich um die Schaffung einer bis dahin nicht existenten Kultur, die in binärer Opposition zur bestehenden dominanten Kultur aufgebaut wurde und in dem Bild eines idealen, mustergültigen Slowakentums, seiner kulturellen Traditionen und seiner bis dahin nicht konstituierten Nationalmythologie Bestand haben sollte.9 Ein Teil von Kollers Archiv erinnert seinem Wesen nach an die Strategien der historischen nationalen Wiedergeburtsbewegungen, die im 19. Jahrhundert in den Ländern Osteuropas sprachlich definierte Nationalkulturen aufbauten. Persönlichkeiten der slowakischen Wiedergeburtsbewegung wie Ján Kollár (1793-1852) oder Ľudovít Štúr (1815-1856) widmeten sich ebenfalls der Sammlung verschiedenster kultureller Artefakte, der Erstellung von Kartotheken und der langwierigen Dokumentation von Dialekten und einzelnen linguistischen Elementen. Ihr primäres Ziel war die Erstellung einer kodifizierten Nationalsprache und -geschichte, die den Sprachen und Geschichten der bereits konstituierten Völker in Nichts nachstehen sollten. Hierbei versuchten sie im Prinzip, Analogien zwischen den bestehenden Kulturen und denen, die die Bewegung formen wollte, zu finden und bisweilen auch
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Ausführlicher zu den Prozessen der nationalen Wiedergeburt vgl. u.a. Gellner 1999.
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künstlich herzustellen.10 Sie gingen dabei nicht wie objektive Linguisten oder Historiker vor: Ihre Tätigkeit hatte einen nicht zu vernachlässigenden romantisch-künstlerischen Aspekt. Die ersten unter ihnen hatten nichts, woran sie anknüpfen konnten, sie mussten selbst zu den Autoren der genealogischen Stammbäume werden, die für die Formung der in der Entstehung begriffenen Nationalkulturen so wichtig waren. In dieser Hinsicht befanden sie sich in einer ähnlichen Situation wie die ersten Konzeptkünstler in Osteuropa. Diese sagten sich von der modernen Kunst los und begannen wieder bei Null. Meist konnten sie an niemanden aus der inländischen Tradition anknüpfen und den Kontakt zu internationalen Künstlern verhinderte der Eiserne Vorhang. Daher überrascht es vielleicht nicht, dass die Motive der nationalen Wiedergeburt in der slowakischen Kultur ein beachtenswertes Nachleben bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein führten und bis heute noch führen. Auch in der Avantgarde-Kunst finden wir die Energie, die Sujets und sogar die Methodiken der Wiedergeburt wieder.11 Die einzelnen Werke von Július Koller – egal, ob Installationen, kurze Notizen oder Teile des Archivs – scheinen zusammen ein homogenes ideelles Ganzes zu ergeben. Er übernahm quasi die Prinzipien der nationalen Wiedergeburt bzw. die kreativen Regeln, die der Schaffung eines Paralleluniversums zugrunde liegen. Die Idee der Schöpfung einer autonomen Kultur auf Grundlage einer neuen Sprache reicherte Koller mit esoterischen und paranormalen Elementen an. Er begnügte sich nicht damit, das slowakische Volk, seine Sprache und Kultur ausschließlich mit den Kulturen des Altertums zu verknüpfen, wie es die Wiedergeburtsbewegung im vorletzten Jahrhundert getan hatte, sondern verwebte sie zusätzlich mit dem Mythos von Atlantis oder Überlegungen zu außerirdischen Zivilisationen. Mit panslawischem Fokus stellte Koller eine Dokumentation offizieller Skulpturen der UdSSR und Osteuropas zusammen, als handele es sich um neuzeitliche Folklore, die nur auf ihre richtige Interpretation und Einordnung wartet. Zu seinen künstlerischen Projekten gehörte auch eine spezielle Galerie
10 Die bekanntesten dahingehenden Beispiele sind die Königinhofer und die Grünberger Handschrift, bei denen es sich um dem Zweck der Bewegung dienende Fälschungen mittelalterlicher literarischer Werke handelt. Analoge Beispiele finden sich auch anderenorts, so z. B. die angeblich altgälischen »Gesänge des Ossian«, die die tiefen historischen Wurzeln der irischen Kultur belegen sollten. 11 In dieser Hinsicht ähnelt Koller Stano Filko, einer weiteren bedeutenden Persönlichkeit der slowakischen Konzeptkunst. Auch er zog linguistische Amateurstudien, die das Slowakische mit anderen Sprachen der Welt verglichen, heran, um die tiefen historischen Wurzeln des ersteren zu belegen.
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für außerirdische Zivilisationen an einem Berghang in der Hohen Tatra. Wenn er in den slowakischen Galerien für zeitgenössische Kunst nicht fündig wurde, deutete er alltägliche Gegenstände und Situationen, die er in Zeitschriften fand, im Geiste der zeitgenössischen Kunst um. Vielleicht können wir hier sogar von einer Art nationalem Konzeptualismus sprechen: Der Künstler definierte sein Schaffen auf einer nationalen Basis, mit Verweisen auf spezifisch nationale Traditionen, die außerhalb des Kontexts der zeitgenössischen Kunst standen. Im Moment der Trennung von der modernistischen Kunstgeschichte erfolgte die Anknüpfung an die Mythologie der Wiedergeburt. In den Augen seiner Zeitgenossen verabschiedete sich Kollers Schaffen radikal von dem, was als Kunst wahrgenommen wurde, gleichzeitig knüpfte es jedoch an das 100 Jahre alte ideelle Umfeld an, in dem die Konstruktion der slowakischen Kultur vorangetrieben worden war. Für Koller war es wichtig, Teil der nationalen Tradition zu bleiben, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil seine Möglichkeiten zur Kommunikation mit der internationalen Szene beschränkt waren. Auf inhaltlicher Ebene stand er der vorkonzeptuellen Kunst des mit der nationalen Wiedergeburt einhergehenden romantischen und subjektiven Akademismus näher als den zeitgenössischen künstlerischen Strömungen der westlichen Avantgarde. In der Tat generierte Koller so ein oft absurdes Kontinuum zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Wie also lässt sich Július Kollers Umgang mit den Bildern in seinem Archiv zusammenfassen? Mir scheint, als wäre es ihm nicht so sehr um die Bedeutungen der einzelnen Bilder in ihrem ursprünglichen Kontext gegangen. Auch wenn er massiv aus den damaligen Zeitungen und Zeitschriften schöpfte, analysierte er nicht die Methoden der Werbung oder politischen Propaganda. Das Archiv von Július Koller ist kein klassisches Archiv, dass zur Dokumentation und rückblickenden Interpretation dessen dient, was bereits geschehen ist, vielmehr bot es seinem Schöpfer ein kreatives Umfeld, in dem er Bedeutungen manipulieren und in oft absurde Positionen verschieben konnte. Die Fotos historischer Artefakte oder banaler Szenen der Gegenwart dienten ihm als Beweise für den Zusammenhang zwischen den fotografierten Objekten und Atlantis oder außerirdischen Zivilisationen. Auf seine Art und Weise privatisierte und beherrschte Koller so die Welt der öffentlichen Bilder. Die Macht, die ihm das Archiv verlieh, war keine äußere Macht, sondern eine innere Freiheit beim Umgang mit Bedeutungen. Diese Macht und diese Freiheit können von den Verfahren der Konzeptkunst abgeleitet werden, die das Verständnis dessen, was Kunst sein kann, dramatisch erweitert hat; sie schließen aber auch an einige Strategien zur Formierung einer nationalen Kultur, wie wir sie aus der Slowakei des 19. Jahrhunderts kennen, an. Das Archiv von Július Koller richtet sich somit in seiner Essenz
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gegen eine zentral gesteuerte Welt – sei es gegen den sozialistischen Staat oder gegen das System der internationalen Kunst – und ermöglichte es seinem Schöpfer, seine eigene Welt zu errichten.
L ITERATUR Hanáková, Petra/Hrabušický, Aurel (Hg.) (2010): Július Koller, Vedeckofantastická retrospektíva. Slovenská národná galéria, Bratislava. Hanáková, Petra (2010): »Kultúrna stopa JK«, in: Hanáková/Hrabušický (Hg.), Július Koller, Vedecko-fantastická retrospektíva. Slovenská národná galéria, Bratislava. Buchloh, Benjamin H.D. (2006): Gerhard Richter’s Atlas, The Anomic Archive, in: The Archive, Documents of Contemporary Art, London/Cambridge, S. 85–102 (zitiert nach der bearbeiteten Version). Michaud, Phillippe-Alain (2007): Aby Warburg and the Image in Motion, New York. Hoptman, Laura/ Pospiszyl, Tomáš (Hg.) (2002): Primary Documents, A Sourcebook for Eastern and Central European Art since the 1950s, New York/Cambridge. Gellner, Ernest (1999): Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin.
Das Tor des Gedächtnisses P IOTR P IOTROWSKI
E INFÜHRUNG In einem Ausstellungskatalog, auf den ich später näher eingehen werde, trifft Magdalena Saryusz-Wolska, im Rückgriff auf die Arbeit Aleida Assmanns, folgende Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Geschichte: »Die Geschichte macht immer eine klare Trennung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, während es für das Gedächtnis eine derart deutliche Trennung nicht gibt. In der Geschichte steht der Forschungsgegenstand im Vordergrund. Das Gedächtnis besitzt hingegen ein klar definiertes Subjekt, und ihm kommt die Hauptrolle zu. […] die Geschichte [sucht] nach der Wahrheit. Das Gedächtnis dagegen vermittelt vor allem Werte und Normen und selektiert die Fakten.« (Saryusz-Wolska 2005: 31f.; vgl. Assmann 1999) Vor vielen Jahren stellte Maurice Halbwachs fest, dass das Gedächtnis nicht ausschließlich individueller Natur, sondern kollektiv und gesellschaftlich ist. Zumindest aus kulturgeschichtlicher Perspektive war es dieser kollektive, weniger der individuelle Aspekt des Gedächtnisses, der auf größtes wissenschaftliches Interesse gestoßen ist. Halbwachs zufolge geht es beim Gedächtnis nicht so sehr darum, sich an die Vergangenheit zu »erinnern«, als vielmehr darum, sie »in Erinnerung zu bringen« oder zu »repräsentieren«. Von diesen klassischen Ideen ausgehend könnte man sagen, dass am Gedächtnis interessierte Kunst uns nicht dazu einlädt, einmal mehr das zu erfahren, woran wir uns erinnern oder woran sich unsere Kultur erinnert, sondern dass sie unter Bezugnahme auf den gesellschaftlichen Kontext die Vergangenheit heraufbeschwört und manchmal sogar Anstoß zu ihrer Neubewertung gibt. Iara Boubnova, die Ko-Kuratorin der zweiten Moskauer Biennale, hat angemerkt, dass Gedächtnis immer »Geschichte im Präsens« ist (Boubnova 2007). Zeitgenössische Kunst ist die Kunst der Gegenwart; der Künstler ist unser Zeitgenosse. Er be-
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schwört die Geschichte herauf, an die wir uns als Kollektiv erinnern. Zeitgenössische Kunst macht es nicht nur unmöglich, zu vergessen, auch und vor allem gibt sie der Vergangenheit eine zeitgenössische Form. Mit anderen Worten kreiert Kunst Situationen, in denen die Vergangenheit zu einem Teil unserer Gegenwart wird. In ihren Abhandlungen zum Gedächtnis stellt Ewa Domańska in Anlehnung an Michel Foucault fest, dass das Gedächtnis anti-geschichtlich ist (vgl. Domańska 2006: 221ff.). Es ist rebellischer Natur, weil zu einer seiner Hauptaufgaben die Kritik an der Macht gehört. Während die Geschichte im Sinne eines ›offiziellen‹ und institutionellen Vergangenheitsdiskurses die Macht stützen soll, dient das Gedächtnis der Kritik derselben. Natürlich ist Domańska sich darüber im Klaren, dass diese Grenze in der sozialen Praxis nicht so leicht zu ziehen ist: Der Gedächtnisdiskurs ist oft nicht minder ideologisch als der Geschichtsdiskurs. Bekanntlich kann das Gedächtnis einer tiefgreifenden und tückischen Manipulation durch ein Regime unterworfen sein, die oft genauso schwer wiegt wie sein Eingriff in den offiziellen akademischen Diskurs. Auf der anderen Seite kann der offizielle Geschichtsdiskurs rebellische Formen annehmen und nähert sich in solchen Fällen dem Gedächtnisdiskurs an. Die von Domańska vorgebrachte Unterscheidung zielt viel mehr auf die Ürsprünge der sich mit der Vergangenheit auseinandersetzenden Praktiken ab als auf konkrete Projekte. Kunst ist natürlich auf beiden Seiten der Barrikade vorzufinden. Man kennt und erinnert sich an Kunst, die im Dienste der Macht stand, die im Einklang mit den offiziellen, die Vergangenheitskonstruktion steuernden Staatsdoktrinen agierte und die sowohl Wissen als auch Gedächtnis instrumentalisierte. Diese Art von Kunst hat eine bedeutend längere Geschichte innerhalb der europäischen Kulturtradition vorzuweisen, als die rebellische Kunst, die auf der Seite der Anti-Geschichte steht und die die offizielle Version der Vergangenheit ablehnt. Auch weiß man und erinnert sich daran, dass aus der Rebellion geborene Kunst, ebenso wie Anti-Geschichte, häufig durch die Machtstrukturen vereinnahmt und Propagandazwecken zugeführt wurde. In diesem Aufsatz setze ich mich nicht mit dieser Art von Kunst auseinander. Stattdessen gilt mein Augenmerk der Kunst, die als kritische Praxis tätig und insofern antigeschichtlich ist, zumindest bis zu einem gewissen Grad, als dass sie die Sprache der offiziellen Geschichtsdoktrin problematisiert. Neben Maurice Halbwachs’ klassischen Texten und denen zeitgenössischer Autoren, die sich mit dem Thema Gedächtnis beschäftigen, wie Aleida Assmann, Jan Assmann und Ewa Domańska, darf auch Pierre Nora, insbesondere sein mehrbändiges Werk Les Lieux de Memoire, das die geisteswissenschaftliche Gedächtnisforschung nachhaltig beeinflusst hat, nicht vergessen werden.
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Zusammengefasst versteht Nora das Gedächtnis als einen lebendigen Prozess, einen permanenten Spannungszustand zwischen Erinnern und Vergessen. Das Gedächtnis verknüpft die Vergangenheit mit der Gegenwart durch Bindungen, die den Eindruck von Ewigkeit erzeugen, einen Zustand von Statik und Sein. Das Gedächtnis ist symbolisch, affektiv, magisch, kumulativ, partikular und konkret; es haftet an einem Ort, einer Geste, einem Objekt, einem Bild usw. Nora schreibt, dass die Geschichte dem Gedächtnis mit Misstrauen gegenübersteht. Sie ist um eine Rekonstruktion der Vergangenheit bemüht; sie stellt Fragen, ist analytisch, kritisch, universal, intellektuell usw.; ihre eigentliche Aufgabe besteht in der Zerstörung des Gedächtnisses. Gedächtnis und Geschichte sind deshalb fundamentale Gegensätze (vgl. Nora 1990: 12f.). Von Bedeutung ist die Tatsache, dass unsere Gegenwart von der Tilgung des Gedächtnisses durch die Geschichte geprägt ist, von der Vorherrschaft des kritischen Diskurses über das symbolische und imaginative Erinnern. Selbst wenn unsere Zeitgenossen von Gedächtnis sprechen, meinen sie eigentlich Geschichte. Das Gedächtnis ist in Besitz genommen, gebändigt, diskursiviert und in ein kritisches System verwandelt worden. Gleichzeitig ist das der Moment, in dem wir das Bedürfnis nach einer Rückkehr zum Gedächtnis zu verspüren begonnen haben. Darum gibt es ›Erinnerungsorte‹. Es müssen ›Orte‹ sein, die drei Dimensionen einnehmen: eine materielle, eine symbolische und eine funktionale. Vor allem aber müssen sie mit dem Willen zum Erinnern einhergehen, da sie anderenfalls in ›Geschichtsorte‹ verwandelt werden. Solche ›Erinnerungsorte‹ müssen die Zeit an- und gleichzeitig das Vergessen und die Historisierung der Vergangenheit aufhalten (vgl. ebd.: 26f.). Welche Rolle könnte bei diesem Prozess die Kunst spielen? Eine ganz wesentliche, wie ich meine, sofern sie sich auf Orte bezieht, die direkt mit Gedächtnis verbunden sind. Kunst verfährt naturgemäß über Symbole und Bilder, die sich einer eindeutigen Übersetzung in Sprache oft entziehen. Sie verfügt über weite Spielräume des Ambivalenten und wirkt sich viel stärker auf Gefühle als auf die rationale Wahrnehmung aus. Folglich steht die Kunst dem Affekt näher als dem rationalen Denken und der Logik. Das bedeutet aber nicht, dass sie darauf verzichten kann, analytisch und kritisch zu sein, wenn sie von Gedächtnis spricht und wenn sie ›Erinnerungsorte‹ erschafft, indem sie sie der Geschichte und dem Vergessen entreißt. Das bedeutet nicht, wie Domańska anmerkt, dass Kunst aufhören soll, als Anti-Geschichte zu agieren, rebellisch und aufrührerisch zu sein. Allein die Tatsache, dass sie es kann, reicht nicht aus. Das ist die Quelle, aus der die Kunst im Angesicht offizieller akademischer und politischer Systeme ihre Stärke und ihre polemische Kraft schöpft. Es scheint, dass der wahre Wert der Kunstinitiativen in den postkommunistischen Ländern, die Bezug auf das
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Gedächtnis nehmen, in der Erfüllung dieser kritischen Funktion gegenüber dem offiziellen geschichtlichen Diskurs liegt, der in diesem Fall vom neuen politischen System gestaltet ist.
D IE D OCKWÄCHTER Beginnen möchte ich mit der Analyse der Ausstellung »Strażnicy Doków/ Dockwächter«, die 2005 auf der Danziger Werft zu sehen war. Sie fiel zeitlich mit dem 25-jährigen Gründungsjubiläum der Solidarność, der unabhängigen polnischen Gewerkschaft, zusammen, von der die erste anti-kommunistische Massenbewegung im Ostblock ausgegangen war. Organisiert wurde die Ausstellung an der Geburtsstätte der Solidarność, in einem Industriekomplex, der 1980 bereits eine Tradition des Aufstands gegen den Kommunismus vorzuweisen hatte. Der sogenannte Polnische August (die Geburtsstunde der Solidarność) fand ziemlich genau zehn Jahre nach den Straßenprotesten der Werftarbeiter im Polnischen Dezember 1970 statt. Anders als diese vom Regime brutal niedergeschlagenen Demonstrationen erwies sich der Aufstand von 1980 als erfolgreich. Ohne den Dezember 1970 wäre der August 1980 jedoch sicher nicht möglich gewesen oder zumindest anders verlaufen. Ohne den August 1980 wiederum hätten sich die Ereignisse von 1989 ganz anders gestaltet, wenn sie denn überhaupt eingetreten wären. Deshalb ist die Danziger Werft ein symbolischer Ort des Widerstands gegen den Kommunismus. Ihre Bedeutung reicht über die Grenzen Polens hinaus. Es ist ein Ort, an dem Osteuropa einen großen Schritt zur Überwindung des Kommunismus machte. Spricht man über das Jahr 1989, neigt man generell dazu, die Symbolik der Berliner Mauer zu verwenden. Im Vergleich zur Danziger Werft ist der Berliner Mauer sicherlich die größere symbolische Kraft eigen, was daran liegen mag, dass sie als Grenze, die Europa in zwei Hälften teilte, greifbar war. Sie verkörperte den Kalten Krieg und deshalb kündete ihr Fall vom Ende des Konflikts. Die Mauer hat viele Opfer gefordert. Ihr Bau im Jahre 1961 diente zweifellos einem mörderischen Zweck. Er sollte verhindern, dass Menschen die Grenze, die von diesem Zeitpunkt an vollständig geschlossen sein sollte, überquerten und tatsächlich war sie, zumindest für die Ostdeutschen, bis 1989 fast unpassierbar. Dann verschwand die Mauer. In der urbanen Struktur Berlins, der einst geteilten Stadt, wird die alte Grenze nach und nach ausradiert. Stadt- und Bundesregierungen haben große Anstrengungen unternommen, sie unsichtbar zu machen, ganz so wie die DDR alles in ihrer Macht stehende tat, sie sichtbar zu machen. Nur noch vereinzelt trifft man auf Zeichen oder Spuren, die an die
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Mauer erinnern. Die Mauer ist kein ›Erinnerungsort‹ und kann aus einem ganz einfachem Grund keiner sein1: Sie soll vergessen werden. »Lieux de memoire« entstehen aber nur, wenn der Wille zum Erinnern vorhanden ist. Somit besitzt die Mauer, deren Fall als das Ende des Kommunismus in das globale Bewusstsein eingegangen ist, weder eine physische noch eine funktionale Dimension; sie wirkt ausschließlich als Symbol, das der Geschichte tiefer eingeschrieben ist als dem Gedächtnis. Im Gegensatz zur Berliner Mauer existiert die Danziger Werft sehr wohl. Während ich das schreibe, produziert sie immer noch Schiffe, gleichwohl ihr wirtschaftliches Überleben akut gefährdet ist. Als ein Ort, als ein realer Schauplatz ist sie gerade dabei, in einen ›Erinnerungsort‹ verwandelt zu werden, weil alle Interessenten auf dieses Ziel hinarbeiten. Danach sieht es im Moment jedenfalls aus, doch noch ist die Zukunft dieses Ortes ungewiss. Die vollständige Schließung der Werft, der Stopp der Schiffsproduktion, die Entlassung der Arbeiter sowie der Verkauf dieses gewerblich sehr attraktiven Grundstücks zwecks Neubebauung würden die Bemühungen, es als einen ›Erinnerungsort‹ zu erhalten, gefährden. Das nahegelegene Denkmal in Erinnerung an den Beginn des Dezemberauftands 1970 wird die Werft nicht retten. Ebensowenig wird der Plan, in ihrer Umgebung ein Solidarność-Zentrum zu errichten, das als ein ›Geschichtsort‹ fungieren wird, sie als einen ›Erinnerungsort‹ bewahren. Als eine offizielle geschichtliche Einrichtung, samt Forschungszentrum und Museum, wird es in den geschichtlichen, nicht in den anti-geschichtlichen Diskurs eingehen.
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Die Ausstellung »Strażnicy Doków/Dockwächter« war nicht der erste Versuch der Kuratorin Aneta Szyłak und des Küstlers Grzegorz Klaman der Werft zum Rang eines ›Erinnerungsortes‹ zu verhelfen. Fünf Jahre zuvor waren sie von der Stadtregierung und der Solidarność (die sowohl im physischen als auch im symbolischen Sinne zum Hauptnachfolger jener großen sozialen Massenbewegung geworden ist) mit der Organisation der Ausstellung »Wege zur Freiheit« (2000) beauftragt worden. Die Schau, die eine beachtliche Kontroverse
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Über diese These hätten die Herausgeberinnen mit dem Autor noch gerne diskutiert, da sie sich auf einen früheren Kontext zu beziehen und der heutigen Realität der intensiven Bemühungen der Stadt Berlin um die Mauergedenkstätten zu widersprechen scheint.
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auslöste, förderte so manche Spannungen zutage. Sie hinterließ auch sichtbare Spuren in Form des Skulpturprojekts »Tore« von Grzegorz Klaman. Die »Tore« (von denen es zwei Versionen gibt, »Tor I« und »Tor II«) wurden (wie die gesamte Ausstellung) als Reaktion auf die triumphalistische offizielle Geschichte der Solidarność aufgefasst. Sie waren keine (und sind keine) Gegendenkmäler in dem Sinne, der durch die Geschichte der Kunst im öffentlichen Raum über die letzten paar Jahrzehnte bestimmen Objekten zugewiesen worden ist. Es sind ›Denkmäler‹ par excellence, die über konkrete Form, Materialität und Symbolik verfügen. »Tor II« spielt zudem klar auf Vladimir Tatlins unvollendetes »Denkmal der Dritten Internationale« an, das (auch wenn es nie über die Projektphase hinauskam) schwerlich als ein Gegendenkmal gesehen oder mit dem paradigmatischen Werk von Jochen Gerz, einem der bekanntesten Schöpfer von Gegendenkmälern, verglichen werden kann. Es ist offensichtlich, dass Klamans »Tore« aus der Kritik am offiziellen staatlichen Diskurs, der die Kontrolle über die Geschichte der anti-kommunistischen Bewegung an sich gerissen hat, geboren sind. Die offizielle Geschichte der Solidarność ist aber nicht nur triumphalistisch, sondern auch und vor allem christlich. Sie ist voll von religiöser Symbolik: Kreuze, Bilder der Jungfrau Maria, päpstliche Ikonografie usw. Wohlgemerkt weicht sie darin nicht von der offiziellen Ikonografie der damaligen, historischen Gewerkschaft Solidarność ab, deren Ikonosphäre tief von religiöser Ikonografie durchdrungen war. Man denke nur an die ›echten‹ Haupttore der Werft von 1980, die mit Blumen und einem Bild von Papst Johannes Paul II. geschmückt waren, an das Bild der Jungfrau Maria am Mantelaufschlag Lech Wałęsas, an die Kreuze in den Händen der streikenden Arbeiter, an die auf der Werft abgehaltenen Messen usw. Referenzen darauf fehlen in Klamans Werk. Gleichzeitig zeugt die Anspielung auf Tatlin (ein Punkt, der den Auftraggebern von »Wege zur Freiheit« offensichtlich entgangen ist) eindrücklich vom subversiven Anliegen des Künstlers. Die im Staatsdienst stehenden Ideologen der politischen Rechten assoziieren die Dritte Internationale natürlich nicht mit der Geschichte ›ihrer‹ Solidarność. Auch »Tor I« weist keinerlei Bezug zur offiziellen Symbolik der Solidarność auf. Es ist in Form eines sinkenden Schiffsrumpfs gestaltet, in dessen Inneren auf Tafeln projizierte ideologische Slogans zu sehen sind. In beiden Fällen, sowohl bei »Tor I« als auch bei »Tor II«, handelt es sich nicht um apologetische, sondern um kritische Projekte, die zur Reflexion und zum Nachdenken anstoßen. Sie sind analytisch und nicht zelebrierend oder gedenkend und partizipieren somit eindeutig nicht am rechtsorientieren Diskurs der Erben des Polnischen August 1980. Das Paradoxon der Ausstellung »Wege zur Freiheit« von 2000 und, in gewisser Hinsicht, auch ihr Scheitern wurzeln in dem Umstand, dass ihre
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Kuratorin Aneta Szyłak gezwungen war, als Direktorin des Zentrums für zeitgenössische Kunst »Łaźnia«, das formell für die Organisation der Ausstellung zuständig war, zurückzutreten. Daraufhin nahm sie sich einer neuen institutionellen Initiative an und gründete auf der Werft das Institut für Kunst »Wyspa«. Diese neue Einrichtung sollte für die Ausstellung »Strażnicy Doków/ Dockwächter« von 2005 verantwortlich zeichnen, die die Atmosphäre von »Wege zur Freiheit« spürbar wieder aufleben ließ, am deutlichsten durch Klamans »Tore«. Das andere Paradoxon rührt daher, dass das Kunstinstitut »Wyspa« als eine nicht-offizielle und private Institution die Aufgabe übernahm, die Danziger Werft in einen »Erinnerungsort«, nach dem Verständnis von Pierre Nora, zu verwandeln. Als ein symbolischer Ort fungiert die Werft seit 1980 (nicht 1970, dem Jahr des ersten Arbeiteraufstands gegen den Kommunismus). In ihrer Einführung zum Katalog Strażnicy Doków/Dockwächter merkt Szyłak an, dass Andrzej Wajdas Film Der Mann aus Eisen (1981) wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat (Szyłak 2005: 82f.). Die Entscheidung des Regisseurs, am Originalschauplatz gedrehtes Filmmaterial mit dokumentarischen Aufnahmen von den Danziger Demonstrationen zu kombinieren, begründete einen der ersten Schritte zur Mythologisierung dieses Ortes. Sie verankerte das Bild der Werft im kollektiven Bewusstsein der Polen. Allerdings nur der Polen. Diese Bilder gingen nicht in das kollektive Bewusstsein Europas und der Welt ein, obwohl Wajdas Film bei den Filmfestspielen von Cannes 1981 den großen Preis der Jury gewann. Auch Szyłaks Ausstellung beförderte den Stellenwert der Werft als einen europäischen ›Erinnerungsort‹, trotz ihrer internationalen Ausrichtung, nicht in nennenswerter Weise. Gegen die Bilder vom Fall der Berliner Mauer und ihre symbolische Bedeutung für die Sichtbarmachung des Zusammenbruchs des Kommunismus in Osteuropa kommt die Werft schlichtweg nicht an. Vielleicht ist das nicht entscheidend. Wichtig ist, dass das Kunstinstitut »Wyspa« im Verbund mit der Werft ein besonderes Fingerspitzengefühl für die Erinnerungsproblematik dieses Ortes und der dort geborenen anti-kommunistischen Bewegung bewiesen hat. Als solcher war er Teil des Gedächtnisses, nicht der Geschichte, der aufständischen, nicht der absegnenden Praktiken, des kritischen, nicht des apologetischen und des alternativen, nicht des offiziellen Diskurses. Szyłak schreibt: »Dockwächter« ist eine Ausstellung über die Narbe, die einem ästhetischen Eingriff unterzogen wurde. Die Frage, die diese Ausstellung angesichts der offiziellen Repräsentation der Geschichte in dem Vierteljahrhundert, das seit der Entstehung der Solidarność
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Dieses Zitat gibt einen guten Einblick in das Programm der Ausstellung und in ihr Vorhaben, auf der Werft im durchaus wörtlichen Sinne einen ›Erinnerungsort‹, wie er von Pierre Nora verstanden wird, zu erschaffen. Die Organisatoren waren an einem Gedächtnis interessiert, das die offizielle Geschichte herausfordert oder genauer gesagt an einem symbolischen, durch Bilder übermittelten Gedächtnis. Sie wollten, dass an diesem magischen Ort der Vergangenheit Erinnerungen freigesetzt und Erfahrungen ausgelöst werden. Kurzum sollte das Gedächtnis diesen Ort, der für die kollektive Identität der Polen solch große Bedeutung erlangt hat, vor der Übernahme durch die Geschichte und somit vor dem Vergessen schützen. Die Ausstellung war international ausgerichtet. An ihr beteiligten sich polnische Künstler, für die der Erinnerungsaspekt dieses Ortes von besonderer Bedeutung ist, so wie Jerzy Janiszewski, der das berühmte Solidarność-Logo und die charakteristische, als ›solidaris‹ bekannte Schriftart entworfen hat, die häufig unter dem Kriegsrecht in den 1980er Jahren benutzt wurde und die seither in den kritischen Projekten zeitgenössischer Künstler Verwendung findet (so zum Beispiel bei Marek Sobczyk). Auch waren einige ausländische Künstler beteiligt,
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die als Außenseiter eine ganz andere Rolle spielten. Eine von ihnen, Cecile Paris, bemerkte vor den historischen Werfttoren einen Stand mit Memorabilien. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, denn schließlich ist die Kommerzialisierung von Geschichte ein weit verbreitetes Phänomen. Jeder historisch relevante Schauplatz, jedes Ereignis, alles, was einen Bezug zur Vergangenheit hat, wird letzten Endes kommerzialisiert und in Artikel, Memorabilien, Ware usw. verwandelt. Es war ein Rechtschreibfehler auf dem Schild über dem Stand, der die Aufmerksamkeit der Künstlerin erregte: ›Souvenire‹. Der Fehler sorgte für eine gewisse Dissonanz und lexikalische Spannung zwischen dem Wort und dem Inhalt des Standes. Sie bediente sich dieses Fehlers, um eine Arbeit zu kreieren, die aus dem einzelnen, aus Lampen zusammengesetzten Wort ›souvenire‹ bestand und an ein Casino- oder Theaterleuchtschild erinnerte. Der Rechtschreibfehler vergrößerte die Distanz zwischen dem ursprünglichen Begriff und der Version der Künslerin. Nach seiner Überführung in das Hoheitsgebiet der Kunst wurde das Wort mit der Werft identifiziert, widersetzte sich aber gleichzeitig der Identifizierung. Es ließ den am Stand betriebenen Handel mit der Solidarność noch exotischer erscheinen, ungewöhnlich und gleichzeitig unnahbar, abgetrennt durch eine Sprache, die der Alltagssprache nur scheinbar glich.
D ER ANFÜHRER Ich möchte auf eine weitere Ausstellungsarbeit näher eingehen, auf Klamans »Lech Wałęsas Gedenkraum«. Sie zeigt Lech Wałęsa kniend vor einer dreiteiligen Miniatur seines einstigen Arbeitsplatzes, der Werkstatt, in der er viele Jahre mit der Reparatur batteriebetriebener Transportfahrzeuge zugebracht hat. Die kniende Figur lässt an religiöse Bilder denken, vor allem an solche, die im 15. und 16. Jahrhundert in Nordeuropa hergestellt wurden und auf denen Mäzen in Verehrung ähnlicher Miniaturmodelle diverser heiliger Stätten, Kirchen, Altare usw. abgebildet sind. Der Eindruck von religiöser Huldigung wird in Klamans Arbeit durch die dreiteilige Struktur des Modells, die der eines Triptychon, eines dreiteiligen Flügelaltars gleicht, verstärkt. Diese Interpretation ergibt sich aus dem Bild Wałęsas als einem Rückkehrer zu seinen Anfängen auf der Werft und zu seiner alten Werkstatt, die er zurückließ, als er die Identität eines einfachen Arbeiters abstreifte, um die des Anführers einer sozialen Massenbewegung und des späteren Staatsmannes anzunehmen. Gleichzeitig scheint die religiöse Geste des Niederkniens und Verehrens als solche von großer Bedeutung zu sein. Wałęsa ist für seine Strenggläubigkeit bekannt. Als Solidarność-Anführer betonte er sein Vertrauen in die katholische Kirche und ließ so keinen Zweifel an der
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klerikalen Dimension der Bewegung. Damals, in den 1980er Jahren, war das nichts Ungewöhnliches. Wie bereits erwähnt, machte die gesamte Bewegung von der christlichen Ikonografie Gebrauch, besonders unter dem Kriegsrecht. Obwohl diese Haltung nicht von allen Oppositionsanhängern geteilt wurde, resultierten daraus keine ernstzunehmenden Konflikte. Die Probleme tauchten erst später auf, als die katholische Kirche nach 1989 auf eine Sonderstellung im öffentlichen Leben zu drängen begann, auf wirtschaftliche Privilegien (Rückgabe und Privatisierung von Eigentum aller Art, von Grundbesitz und Gebäuden bis hin zu Kunstobjekten), ideologische (Durchdringung des Rechts mit Bezügen auf ein religiöses Wertesystem) und symbolische (Durchdringung der offiziellen Ikonosphäre mit christlichen Symbolen). Boten Wałęsas religiöse Überzeugungen keinen Grund zum Streit, solange er eine Privatperson war, wurden sie sehr wohl zu einem Problem, als er die Führung der Solidarność übernahm und vor allem als er Präsident des Landes wurde. Sie stellten eine offenkundige Verletzung des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat dar. Wałęsa sorgte sich scheinbar wenig darum, dass er der Präsident aller Polen zu sein hatte, auch jener, die anderen Glaubensrichtungen angehörten oder nicht religiös waren. Er brach schlichtweg mit dem Neutralitätsgrundsatz des Staatsamtes. Klamans Arbeit setzt sich zu einem wesentlichen Teil mit diesem Aspekt auseinander. Sie zeigt Wałęsa als jemanden, der zu seinen Anfängen zurückkehrt und dem Ort seiner Herkunft seinen Respekt erweist, aber auch den gottesfürchtigen Wałęsa, der seine Religiosität nach außen kehrte. Klamans kniender Wałęsa erinnert an eine andere Figur eines anderen Künstlers: Maurizio Cattalans kniende Figur des Adolf Hitler mit dem Titel »Er« (2001). In Cattalans Arbeit ist Hitler als kleiner Junge dargestellt, der auf Knien seine Erstkommunion empfängt. Das Bild provoziert in einer bestimmten Weise; es setzt auf einen (eher milden) Schockeffekt sowie auf Ironie oder gar Spott. Der italienische Künstler scheint sagen zu wollen: Seht her, hier kniet einer der größten Verbrecher, die die Welt je gesehen hat, demütig als unschuldiger Junge. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir über Hitler wissen und dem, was wir sehen, soll uns zur Reflexion über falsche Eindrücke und Trugbilder anregen. Mit der Erwähnung von Cattalans Werk im Rahmen der Besprechung von Klamans Arbeit möchte ich keinen Vergleich zwischen den beiden knienden Figuren nahelegen. Worum es mir geht, ist die Wahl eines vergleichbaren Verfahrens, das darauf abzielt, bestimmte Illusionen zu entlarven und historische Figuren durch den Entzug ihres dämonischen Charakters zu entwaffnen. Hitler war zweifellos ein Verbrecher, auch wenn er in Cattalans Arbeit unschuldig erscheint; Wałęsa ist ein Held, auch wenn er bei Klaman als ein demütig betender Elektriker dargestellt ist.
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Klaman ging allerdings viel weiter als Cattalan. In den ersten paar Tagen nach Ausstellungseröffnung platzierte er einen Wałęsa-Doppelgänger in dem Raum, in dem sich früher Wałęsas Werkstatt befand und der jetzt unbenutzt und verwaist ist. Anders als das Mannequin im »Gedenkraum« kniete der Schauspieler (das Double) nicht, sondern saß auf einem Stuhl und begrüßte eintreffende Gäste, wobei er Leuten die Hand schüttelte, die dem echten Wałęsa heute nicht die Hand reichen würden (Andrzej Gwiazda und seine Frau zum Beispiel, ehedem enge Mitarbeiter des legendären Anführers). Diese scheinbar leibhaftige Präsenz Wałęsas an dem Ort, an dem er seine öffentliche Karriere begann, seine symbolische Versöhnung mit einstigen Freunden und jetzigen Feinden nahm wahrhaft surreale Züge an. Sie deutete jedoch nicht auf einen naiven Glauben an Vergebung, Versöhnung und die Rückkehr zur Solidarität unter Menschen und Arbeitern. Vielmehr verwies sie auf eine bittere Ironie der Geschichte, deren Kreis sich nicht schließt. Die Botschaft ist, dass eine Rückkehr zu seinen Wurzeln unmöglich ist, dass man sich an die mythischen Zeiten der brüderlichen Solidarität und des magischen Zusammenfindens der Gesellschaft im Kampf gegen das Böse nur erinnern kann. Klaman schien nahelegen zu wollen, dass diese Aufgabe dem Gedächtnis zukommt, das die Wirklichkeit und insbesondere die Vergangenheit mythologisiert. Man könnte mit der Deutung von »Lech Wałęsas Gedenkraum« aber noch weiter gehen. Wałęsa ist nicht nur ein Held, zumindest ist er das nicht für alle. An seiner Person entzünden sich schwere politische Kontroversen. Tatsächlich entscheidet im Polen des frühen 21. Jahrhunderts die Haltung zu Wałęsa darüber, auf welcher politischen Seite man steht. Der Mythos des Anführers, der die antikommunistische Bewegung einte, verflüchtigte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als die Solidarność von gänzlich prosaischen Machtkämpfen zerrissen wurde. Der von Wałęsa Mitte der 1990er Jahre ausgerufene ›Krieg an der Spitze‹, der zur Absetzung der Regierung unter Tadeusz Mazowiecki (Wałęsas einstigem Gefährten) führte und Wałęsa zum Präsidenten des Landes machte, brachte ihm, vor allem im liberalen Flügel des früheren anti-kommunistischen Blocks, viele Feinde ein. Als Wałęsa Präsident wurde, nannten ihn manche einen Diktator, andere zweifelten an seiner Eignung für das Amt. Er wurde dahingehend kritisiert, kleingeistig und wenig staatsmännisch zu sein. Der andere, rechtsradikale Flügel warf ihm vor, sich mit ›zwielichtigen Gestalten‹, die Verbindungen zur ehemaligen kommunistischen Geheimpolizei unterhielten, zu umgeben. Schließlich wurde er gar persönlich der Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Geheimdienst bezichtigt. Mit der Niederlage Wałęsas bei der folgenden Präsidentschaftswahl übernahmen die ehemaligen Kommunisten, nun im Gewand der Sozialdemokraten und angeführt vom Präsidenten Aleksander
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Kwaśniewski, die Macht. Sie wurden nach einigen Jahren durch die extreme Rechte, mit den Kaczyński-Brüdern an der Spitze und unterstützt durch solch exotische Persönlichkeiten wie den Vorsitzenden der radikal-klerikalen und nationalistischen Liga der Polnischen Familien Roman Giertych und den radikalen Populisten Andrzej Lepper, an der Regierung abgelöst. Die Machtverhältnisse hatten sich verkehrt. Erneut und mit frischem Elan beschuldigte man Wałęsa, ein Agent des Geheimdienstes zu sein, obwohl ihn das Lustrationsgericht von derartigen Vorwürfen freigesprochen hatte. Aber das spielte scheinbar keine Rolle. Für die von den Kaczyński-Brüdern angeführte Rechtskoalition verkörperte Wałęsa das, was sie unter der Dritten Republik verstand, einen auf den Trümmern des Kommunismus errichteten Staat, der ihrer Meinung nach nicht antikommunistisch genug war. Darüber hinaus waren Wałęsa und die Leute aus dem Umfeld der einstigen Opposition, die nach 1989 den polnischen Staat gestaltet hatten, für die Kaczyński-Brüder eine ständige Erinnerung daran, dass sie in den 1980er Jahren eine eher zweitrangige Rolle gespielt hatten und in den 1990ern von niemandem als Helden behandelt worden waren. Angesichts dieser Umstände begann der linke Flügel der Solidarność mit der Zeitung Gazeta Wyborcza als ihrem Sprachrohr sich für Wałęsa und seinen guten Namen einzusetzen. Der Diktator und zwielichtige Staatsmann der 1990er Jahre verwandelte sich in einen Helden, der vom euroskeptischen, xenophoben, in seiner antikommunistischen Haltung stark verspäteten, extremistischen und nationalistischen rechten Flügel verleumdet wurde. Unbeschadet dieser Diskussionen und Wirren, Anschuldigungen und Anfeindungen bleibt Lech Wałęsas historische Stellung unantastbar. Die Abneigung, die ihm seine früheren Kameraden – insbesondere die Kaczyński-Brüder – entgegenbringen, wird daran nichts ändern. Aus diesem unmittelbaren politischen Kontext der Auseinandersetzung um Wałęsa hält sich Klaman jedoch heraus. Er sucht nach einer anderen Dimension des ehemaligen Solidarność-Anführers, einer menschlicheren, die sich mit seiner in ihrer Zurschaustellung komisch wirkenden Religiösität und mit den Ängsten eines Elektrikers auseinandersetzt. Er sucht nicht nach Wałęsas historischer Rolle, sondern nach der Erinnerung an einen Arbeiter, der zu einem Anführer von Weltformat wurde. Das ist ein anderer Wałęsa; genauso unwirklich wie der historische, doch irgendwie näher, greifbarer. Es ist jemand, den wir anfassen und dessen Frisur wir für das Erinnerungsfoto richten können. Das ist der Unterschied zwischen Gedächtnis und Geschichte, zwischen einem ›Erinnerungsort‹ und einem geschichtlichen Ort, zwischen einer mythologischen Dimension des Anführers einer großen Bewegung und einer politischen.
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Die Danziger Werft ist ein besonderer Ort. Sie ist sogar einzigartig im gesamten postkommunistischen Europa. Sie war aber auch eine Arbeitsstätte, an der Menschen arbeiteten, reiften und älter wurden, ihr täglich Brot verdienten und Freundschaften schlossen. Es gab Tausende solcher Arbeitsstätten im kommunistischen Europa. Nach 1989 gingen viele von ihnen Pleite. Sie wurden geschlossen, weil sie unrentabel waren, doch im individuellen und kollektiven Gedächtnis ihrer ehemaligen Arbeiter haben sie überlebt. Sie sind zu einem Teil ihrer oft nostalgischen Erinnerungen an die kommunistische Zeit geworden, die für gewöhnlich nicht politischer Natur sind. Vielmehr sind es Erinnerungen an die eigene Jugend und Gesundheit. Oft idealisieren sie die Vergangenheit, was manchmal leider auf aktuelle wirtschaftliche Probleme zurückzuführen ist: auf fehlende Arbeitsplätze, Ausgrenzung und Marginalisierung als Folge neoliberaler Wirtschaftspolitik (vgl. Modrzejewski/Sznajderman 2002).
P OSTSKRIPTUM Anfang 2012 stellte die staatliche Denkmalschutzbehörde das Tor der Danziger Werft unter Denkmalschutz, was dem Bürgermeister der Stadt Danzig erlaubte, seinen historischen Zustand wieder herzustellen, d.h. den ursprünglichen Namenszusatz der Werft – Lenin – wieder anbringen zu lassen. Mitte Mai 2012 erschien am historischen Tor II schließlich (wieder) der ursprüngliche Schriftzug: »Danziger Leninwerft«. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Werft als solche umbenannt wurde und wieder ihren alten Namen trägt. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil sie inzwischen ein Privatunternehmen ist, viel kleiner als früher, das wahrscheinlich geschlossen wird, um das Grundstück zwecks Neubebauung mit Luxusunterkünften, Geschäften sowie gewerblichen und kulturellen Zentren zu verkaufen, denn es scheint sich um das wertvollste Grundstück Danzigs zu handeln, dessen Veräußerung wirtschaftlich ergiebiger zu sein verspricht, als der Schiffsbau. Zudem ist das historische Tor II nicht einmal der Haupteingang zu der noch in Betrieb befindlichen Werft. Dennoch führte die Entscheidung des Bürgermeisters, die – das kann nicht unerwähnt bleiben – von Lech Wałęsa unterstützt wird, zu heftiger Kritik seitens der Politiker des rechten Flügels, die sich einst als die »wahren« Erben der Solidarność-Bewegung verstanden, allen voran der Aktivisten der Partei ›Recht und Gerechtigkeit‹ (PiS), bekannt als die Zwillingsbrüder-Partei, auch wenn einer der berühmten Zwillinge 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Bei den vor dem Tor abgehaltenen Protesten gegen den Beschluss überdeckten einige Demonstranten das Wort »Lenin« mit einem anderen: »Solidarność«. Das ist ein
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interessanter Nachtrag zu dem, was eingangs gesagt wurde. Es ist eine sogenannte historische Tatsache, dass die Werft nach dem Führer der Bolschewiki benannt wurde. Das WISSEN wir nicht nur, daran ERINNERN wir uns auch. Lech Wałęsa, der die Wiederherstellung des historischen Zustands des Tores befürwortet, sagte: »Ich erinnere mich«. Für ihn hat es sogar Symbolcharakter, dass das Ende des Kommunismus seinen Anfang in einem Werk namens »Lenin« nahm. Aber der Gewerkschaft selbst, ebenso wie den sie unterstützenden Politikern der extremen Rechten, einschließlich Jarosław Kaczyński und seinen Gefolgsleuten, die sich ja auch daran erinnern, wer der Werft ihren Namen gab, mutet es wie Blasphemie an. Sie wollen diese Erinnerung unterdrücken und eine neue schaffen, die ein Mythos ist und nicht die sogenannte historische Wahrheit. Doch darum geht es nicht – es geht um Politik. Einhergehend mit der radikalen anti-kommunistischen Rhetorik entwerfen sie ein politisches Programm. In ihren irrsinnigen nationalistischen Visionen beschuldigten sie Wałęsa sogar der Unterstützung des Kommunismus. Aus diesem Grund protestierten sie auch gegen Klamans »Tor«, das an die Tradition der russischen Kunst erinnert, mehr sogar noch: an die sowjetische Avantgarde. Übersetzung aus dem Englischen: Paul Löwenstein
L ITERATUR Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München. Boubnova, Iara (2007): »History in Present Tense«, in: 2nd Moscow Biennale of Contemporary Art, S. 64-65. Domańska, Ewa (2006): Historie niekonwencjonalne, Poznań. Modrzejewski, Filip/Sznajderman, Monika (Hg.) (2002): Nostalgia. Eseje o tęsknocie za komunizmem, Wołowiec. Nora, Pierre (1990): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin. Saryusz-Wolska, Magdalena (2005): »Die Geschichte erinnern«, in: Aneta Szyłak (Hg.), Strażnicy Doków/ Dock Watchers, Gdańsk, S. 26-41. Szyłak, Aneta (2005): »Vernarbende Erinnerung. [Ge]denken an die Geschichte«, in: dies. (Hg.), Strażnicy Doków/ Dock Watchers, S. 76-121.
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ABBILDUNGEN
Abb. 1: Klaman, Tor II, 2000
Abb. 2: Tatlin, III. Internationale,
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Abb. 3: Klaman, Tor I und Tor II, 2000
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Abb. 4: Sobczyk, Wiederholung, 2001
Abb. 5: Klaman, Lech Wałęsas Gedenkraum, 2005
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Abb. 6A: Das Tor, Streik 1980
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Abb. 6B: Das Tor Anfang Mai 2012
Abb. 6C: Das Tor Mitte Mai 2012
Abb. 6D: Das Tor Ende Mai 2012
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Fliegen und andere Insekten Epiphanien des Scheiterns in der postkommunistischen Kultur Ost- und Südosteuropas T ANJA Z IMMERMANN
V OM P ARERGON ZUM E RGON Während Tatlins Entwurf für das Denkmal der Dritten Internationale in der Postmoderne zu einem Memorial oder gar Epitaph für die gescheiterte Utopie geschrumpft ist,1 ist die winzige, punktartige Fliege zum turmartigen Schwarm angewachsen und hat den Platz des kommunistischen Neuen Menschen eingenommen. Befanden sich Insekten, insbesondere Fliegen, früher stets als Beiwerk am Rande bzw. an der Oberfläche (trompe l’oeil) des Kunstwerks, von dem aus sie jedoch subversiv Ordnungen und Hierarchien unterlaufen konnten, so eroberten sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das Zentrum und kontaminierten das ganze System. Das chthonische Wesen am untersten Ende der scala naturae, oft mit Beelzebub, dem Herrn der Fliegen, gleichgesetzt,2 durchbrach durch seine desakralisierende Platzierung am Sublimsten und Heiligsten die bipolare, hierarchische Axiologie von heilig und verdammt, von Gut und Böse.3 Beide Pole,
1
Beispiele sind Dan Flavins Leuchtröhre für das Monument for Vladimir Tatlin (1964), die Kulisse der NSK-Theaterperformance Die Taufe unter dem Triglav (1986) sowie Ilya und Emilia Kabakovs »Totalinstallation« Palast der Projekte (2001).
2
Kühnel 1989: 285-305; Lixfeld 1971; Mikuž 2006: 234. Die gemalte Fliege als Symbol des Teufels konnte jedoch auch eine apotropäische Funktion wie ein Talisman annehmen (vgl. Pigler 1964: 47-64).
3
Mehreren Künstlerlegenden zufolge malt der lästige Lehrling, der den Platz des
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oben und unten, Groß und Klein, Aszendenz und Deszendenz bzw. Dekadenz, das Ätherische und das Chthonische, gerieten in ein dynamisches Verhältnis. In der osteuropäischen, insbesondere russischen Kultur, der Jurij Lotman und Boris Uspenskij einen permanenten Dualismus im Umkippen der Werte zuschreiben (Lotman/Uspenskij 1977: 1-40), avancierte die Fliege zum dominanten Motiv der Literatur und Kunst. (Hansen-Löve 1999: 95-132) Postkommunistische Beispiele, in denen die Fliege zum Doppelwesen oder gar zum Menschen mutiert, sind Ilya Kabakovs Installation, Performance und das illustrierte Buch Das Leben der Fliegen (Žizn‘ much, 1992) sowie sein Video A Meeting (Vstreča, 1999) mit Jan Fabre, beide als Insekten verkleidet, Viktor Pelevins Erzählzyklus Das Leben der Insekten (Žizn‘ nasekomych, 1993) und Vladimir Kotts Film Fliege (2008). In Südosteuropa taucht sie in menschlicher Gestalt in Georgi Gospodinovs Natürlicher Roman (Estestven roman, 1996) und Dobrilo Nenadićs serbischer Fortsetzung von Anna Karenina, dem Roman Der Säbel des Grafen Vronski (Sablja grofa Vronskog, 2001), auf. Mutieren Fliegen nicht zu Menschen, dann breiten sie sich aus und sammeln sich an Orten des menschlichen Versagens, wie in der Fabel »Die Fliege« in der Graphic Novel Bosnische Fabeln (Fables de Bosnie, 1999) des slowenischen Zeichners Tomaž Lavrič oder in der mehrbändigen Tetralogie des Monsters (Tétralogie du Monstre, 1998-2007) Enki Bilals, dessen im belagerten Sarajevo geborene Helden eine zerstörerische Terrororganisation und deren Insekten bekämpfen. In ihrer anarchischen Funktion, symbolische Ordnungen zu durchbrechen, fügen sich die postkommunistischen, postmodernen Insekten in die alte Literatur- und Bildtradition ein, setzen das Erhabene herab, verbreiten Chaos und ge-
Meisters usurpiert, auf dessen erhabenes Gemälde eine Fliege als trompe l’œil-Effekt (vgl. Mikuž 2006: 227, 229). Künstler setzten sie auch selbst an die sublimsten Orte ihrer eigenen Gemälde, wie Marien-Darstellungen (vgl. Chastel 1984). Die Fliege partizipiert somit als Teil eines zweiten, künstlerischen, doch ephemeren Schöpfungsaktes an der göttlichen Ordnung. Auch Dürer hat möglicherweise eine Fliege an einen erhabenen Ort platziert – auf das Knie der Rosenkranzmadonna (1506, Nationalgalerie in Prag), gemalt für die deutsche Rosenkranzbruderschaft in Venedig. Obwohl sich auf dem stark beschädigten und restaurierten Gemälde heute keine Fliege befindet, bezeugen ihre Existenz zahlreiche graphische Reproduktionen und Kopien des Gemäldes, wie eine Zeichnung des tschechischen Malers Václav Mánes aus dem Jahre 1823. Sie lag im Blickfeld der knienden Adoranten, des Papstes Julius II. und des Kaisers Maximilian I. Daraufhin versah der Restaurator Johann Gruss 1840 auch das Original mit einer Fliege, die aber später wieder ›verscheucht‹ wurde. (vgl. Kotkova 2002: 7-8; Konečný 2006: 41-53).
F LIEGEN
UND ANDERE I NSEKTEN
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ben sich zerstörerisch dem Libidinösen hin. Sie führen die literarische Tradition des griechischen Satirikers Lukian von Samosata fort, der im Lob der Fliegen (Myjas Enkomion) eine Ode an das winzige Insekt singt. (Billerbeck 2000) Sie greifen das Genre der Fabel auf, in dem Fliegen parasitäre menschliche Eigenschaften verkörpern.4 In intertextuellen Geflechten rufen sie die lange russische literarische Tradition von der Romantik bis zum Konzeptualismus auf, in der die Fliege für dionysische und gnostische religionsphilosophische Konzepte der Auflösung und der Leere steht, welche von narrativen Dissoziations- und Fragmentierungsprozessen begleitet werden. (Hansen-Löve 1999: 95-132; HansenLöve 2007: 58.) Sie spielen auf barocke Stillleben5 und memento mori-Darstellungen an, indem sie den vergänglichen menschlichen Körper mit Kadavern oder gar Ephemera gleichsetzen.6 Sie vergrößern die Fliegen, um sie in ihren anatomischen Details zu zeigen, so z.B. in den naturwissenschaftlichen mikroskopischen Studien des 17. Jahrhunderts. (Meli 2009: 405-429; Leonhard 2013) Die Vergrößerung und das Insekt-Werden des Menschen geht jedoch wie in Musils Erzählung »Das Fliegenpapier« und Kafkas »Die Verwandlung« mit Empathie für das Verstoßene und Abscheuliche einher. Sie greifen den psychoanalytischen Diskurs auf, in dem sie, im Gegensatz zur Biene und Ameise als Figuren der unterdrückten, sublimierten Sexualität,7 für das unkontrollierte Begehren stehen. Sie dringen in biopolitische Konzepte des Lebens ein, wo sie in philosophischen Schriften über Staatsführung das parasitäre Gegenteil eines geordneten Bienenund Ameisenstaates repräsentieren. (Drouin 1992: 333-345; Drouin 2005: 3-14) Schließlich avancieren die Fliegen zur Figur der politischen Anomie, wie in Sartres Drama Die Fliegen (Les mouches, 1943)8 und William Goldings Roman Der
4
In der Fabel »Die Fliege und die Kutsche« Jean de la Fontaines und »Die Fliege und die Reisenden« Ivan Krylovs steht die Fliege für diejenigen, die immer geschäftig tun, in Wahrheit jedoch die Anderen die Arbeit verrichten lassen.
5
Zur Fliege und anderen Insekten auf Stillleben sowie zu deren alchemistischen Deu-
6
In Guercinos Gemälde, Vorbild für Poussins berühmte Et-in-Arcadia-ego-Darstel-
tung: Leonhard 2013. lungen, nimmt sie auf dem Schädel Platz, den die arkadischen Hirten erblicken, und erinnert an die Kürze des Lebens sowie an die Schwierigkeit des persönlichen Aufstiegs zur Erlösungswürdigkeit. 7
Zur libidinöser Deutung der Insekten in der Psychoanalyse vgl. Amouroux 2007: 219-
8
In Jean-Paul Sartres Drama Die Fliegen, verfasst und aufgeführt im besetzten Paris,
230. plagen die Insekten nach der Ermordung Agamemnons die Stadtbewohner, die tatenlos zusahen, wie Ägist und Klytämnestra den König umbrachten. Jupiter als Gott der
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Herr der Fliegen (The Lord of the Flies, 1954), wo eine Ansammlung von Fliegen vom Symptom des Verfalls in das Symbol der willkürlichen Herrschaft transformiert werden.
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Mit der Installation, dem illustrierten Buch und der Performance Das Leben der Fliegen (1992) erschuf der russische Konzeptkünstler Kabakov eine parodistische visuelle Entsprechung der Lobesreden an die Fliege aus der Antike (Lukian von Samosata) (Billerbeck 2000; Chastel 1984: 39-40) und der Renaissance (Leone Battista Alberti)9 – und machte aus der Fliege einen Elefanten. In seiner Ode an die Perfektion und Allmacht der Fliege erhebt er die Bewegung der kleinen Insekten, die er in geometrischen Formationen wie einen Bienenstaat anordnet, zum globalen movens aller Politik, Wirtschaft und Kunst (Abb. 1). Im pseudowissenschaftlichen, sowjetischen Jargon führt er mittels anschaulicher Schautafeln und Statistiken die Zusammenhänge der Fliegenbewegung mit den globalen Veränderungen vor. Zunächst präsentiert er die Auswirkungen auf die Finanzen, dann die Folgen für die globalen geopolitischen Machtverhältnisse, die den Körperbau der Fliege widerspiegeln. Wollten die sowjetischen Biokosmisten in der Stalin-Zeit einen Neuen Menschen erschaffen und die minderwertigen, parasitären Kreaturen, darunter auch die Insekten, aus der Welt tilgen (Groys/Hagemeister 2005: 52, 60, 352), steigen gerade die Fliegen in der postkommunistischen Zeit zu Trägern perfekten Erbgutes auf. Sie versammeln sich nun um die
Zeit, der Fliegen und des Todes, der auf Statuen mit blutverschmiertem Gesicht dargestellt wird, steht aus Liebe zur Ordnung jedoch dem Mörder Ägist zur Seite. Im Namen der Ordnung fordert er von Ägist, Orest zu ergreifen, denn »ein freier Mensch in einer Stadt ist wie ein räudiges Schaf in einer Herde« (Sartre 2008: 163). Dem freien Mann Orest wirft Jupiter vor, Chaos zu verbreiten, das gegen die Harmonie des Kosmos und der Fortpflanzung verstößt (Ebd, 197f.) Nach der Ermordung Ägists lehnt dieser Jupiters Angebot ab, den Platz des Ermordeten als Oberpriester eines neuen Reuekultes einzunehmen, denn er will weder Herr noch Sklave sein und sich nicht in die hierarchische Ordnung einfügen. Frei von Reue und schlechtem Gewissen fürchtet er sich nicht vor Jupiters Fliegen, welche die Rolle der mythischen Erinnyen, der Rachegöttinnen, innehaben. Die Fliegen markieren das Ende einer politischen Ordnung, die durch Gesetzlosigkeit ersetzt wird. 9
Lettera di L. B. Alberti a Cristoforo Landino. La mosca. In: Chastel 1984: 45-58.
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postsowjetischen Erinnerungsstätten – kommunalen Küchen und Klos. Diente die Verwandlung des sowjetischen Menschen in eine Fliege in den früheren Werken Kabakovs, wie in den Zeichnungen Zehn Personen (Desjat‘ personažej, 1970-75) als Allegorie des miserablen Lebens in der Sowjetunion, des Dissidententums und der Emigration,10 so wandelte sich die Fliege nach der Wende zur ironischen Figur des sich selbst entfremdeten postkommunistischen Kollektivmenschen. Folgt man Boris Groys, repräsentiert die Fliege durch ihre zufällige, nie zur Ruhe kommende Bewegung chaotische Ziellosigkeit innerhalb der Euphorie der Freiheit. (Groys 2008) Diese äußert sich im unbändigen Nomadismus, den bereits Lukian von Samosata und Alberti an der Fliege lobten. Das Nomadische der Fliege verschmilzt bei Kabakov (und Groys) mit den nomadischen Konzepten Russlands und kippt wie in den satirischen Fliegenoden von der Leere in die Fülle.11 Trotz der Beschwörung der russischen Spezifik setzten sich Kabakov und Groys intensiv mit Baudrillards Theorie des Simulakrums sowie Deleuzes und Guattaris Begriffen der Oberfläche und der Deterritorialisierung auseinander. Wie Baudrillard in seinem Reisebericht über Amerika (2004) im vermeintlich selbstreferenziellen Lächeln der Amerikaner und in den amerikanischen Highways den deterritorialisierten Oberflächencharakter des ›neuen‹ Kontinents erblickt, so ist Russland für die Konzeptualisten ein Land der nomadischen Leere, in der das Geistige, Ideen und Konzepte die Oberhand über die materielle Welt gewinnen. Wegen ihrer Unfähigkeit, einen festen Platz in einem System einzunehmen, macht Kabakov die Fliege zur Figur der postmodernen beweglichen Signifikanten, eine reine Metonymie und rhetorische Figur im Diskurs über Banales und Nichtiges. (Hansen-Löve 1992: 123-125; Hansen-Löve 1997) Auch wegen ihrer Nähe zum Schmutz, Abfall und Verfall verortet der Künstler das Zentrum des Fliegenreiches in Russland. Im Zwischenraum zwischen Europa und Asien türmen sich die Fliegen zu einer kuppelartigen Formation, die
10 Bereits Viktor Šklovskij verglich im 17. Brief seines Romans Zoo oder Briefe nicht über die Liebe (Zoo ili pis’ma ne o ljubvi, 1923) die Ansammlung der russischen Emigranten in Berlin mit einem Fliegenschwarm. 11 Die Vorstellung vom nomadisch-asiatischen Charakter der Russen entspringt der Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts. Der französische Diplomat Marquis Astolphe de Custine gibt in seinem Reisebricht La Russie en 1839 (Paris 1843) dieser vermeintlichen russischen Eigenschaft die Schuld, dass die Russen nichts Eigenständiges gebracht hätten. Der Nomadismus avancierte bei den Slavophilen, bei den Eurasiern und schließlich bei den russischen Konzeptualisten zur positiven nationalen Identität (vgl. Hansen-Löve 1992: 123; Hansen-Löve 1997: 428, 437-441).
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an den Zwiebelturm einer orthodoxen Kirche erinnert (Abb. 2). Der turmartigen Installation mit den in der Luft schwebenden Fliegen aus Plastik gab er den Namen Mein Vaterland (Moja rodina, 1991). Das Vermehren der Fliegen im postkommunistischen Russland steht nicht mehr indexikalisch-symptomatisch im Verhältnis Ursache – Wirkung, sondern vielmehr am Ursprung aller Veränderungen im System. Als wäre sie in den Jahrzehnten des Kommunismus selbst zum dressierten Massenmensch geworden, formt sie – wie der Bienenstaat – einen Turmbau und scheint inneren Gesetzmäßigkeiten und ornamentalen Verknüpfungsmechanismen zu folgen. Dem dualistischen Prinzip der russischen Kultur folgend, wie ihn Lotman und Uspenskij beschrieben haben, dreht Kabakov schließlich die entgegengesetzten Pole um und singt ein Hohelied an die nichtige, erdentbundene Fliege. In ihrem Körper entdeckt er zwei sich überschneidende Dreiecke, in denen sich – in Konkurrenz zu Leonardos homo ad quadratum/ad circulum – die perfekte, reinste Form offenbart (Abb. 3). Das dissonante Fliegensummen erhebt der Künstler zur Grundlage von Poesie und Musik (Abb. 4) – ähnlich wie schon Alberti in der Tonleiter das geheime, anagrammatische Summen der Fliegen anklingen ließ: RE SO(L) LA MI FA.12 Schließlich wird die Fliege sogar zur Grundlage des philosophischen Traktats und der dematerialisierten konzeptuellen Kunst erhoben.
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Fast gleichzeitig mit Kabakovs Installation wird man im Erzählzyklus Das Leben der Insekten (1993) des russischen Schriftstellers Viktor Pelevin Zeuge des Fliege-Werdens, Zeuge der Transformation in ein neues, postkommunistisches Wesen, in dem sich östliche und westliche Eigenschaften vermischen. Seine Kerbtiere verortet Pelevin im sottobosco auf der Krim, wo sich die Reste der sowjetischen Kultur mit den Phänomenen des westlichen Kapitalismus – des Parasitentums und des Aussaugens – vermischen.13 Ein dunkles, altes Kurhaus mit einem Säuleneingang, in dem sich verschiedene Gerüche aus der Küche, dem Friseursalon und der Wäscherei miteinander vermengen, ist der Initialort der Metamorphose des Menschen in ein Insekt. Im Erzählzyklus tauchen nacheinander verschiedene Sorten von Insekten-Menschen auf: GeschäftsmännerMücken, die nach ihrer Beute suchen, philosophische Mistkäfer, wahre Skarabä-
12 Lettera di L. B. Alberti a Cristoforo Landino. La mosca. In: Chastel 1984: 52. 13 In Pelevins Roman Empire V (Empir V, 2006), den man als Anagramm »Vampire« lesen kann, wird das Insektenmotiv mit dem Vampirismus in Verbindung gebracht.
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en, die in ihren mystischen Mistkugeln versinken, erleuchtete Motten, die dem Licht entgegenstreben und dabei zu Glühwürmchen werden, verführerische Lolita-Fliegen, fleißige Ameisen, die sich unter der Erde um ihre Brut kümmern usw. Dabei oszillieren ihre Größenverhältnisse und ihre Physiognomien beständig zwischen Mensch und Tier. Keine rationale Gesetzmäßigkeit, sondern eher das irrationale, unkontrollierbare Gegenteil – das Begehren nach fremden Körpern oder einem anderen Ego14 – steuert das plötzliche Umkippen der menschlichen in tierische Eigenschaften oder vice versa. So verwandeln sich z.B. zwei russische Geschäftsmänner-Mücken mit den angelsächsischen Vornamen Arnold und Arthur sowie deren amerikanischer Geschäftspartner Sam Sucker, der wiederum Russisch beherrscht, nach einem Sprung vom Balkon in Mücken. Der Sprung ist zugleich der Übergang in die facettenreiche, kaleidoskopische Insektenoptik voller winziger Details. Die ersten beiden werden dabei zu normalen grauen Mücken, der Amerikaner hingegen zur superioren, geräuschlos fliegenden Anopheles-Mücke, die Malaria überträgt. Einem entgegengesetzten Muster folgt die Verwandlung der russischen Fliege Natascha. Sie lässt sich zunächst auf Sams Teller nieder, nimmt jedoch gleich nach Schließung der Bekanntschaft die Form einer attraktiven Nabokovschen Lolita an. 15 Natascha, kein butterfly, sondern eine green bottle fly, hat eine verführerisch schmale Taille, grüne Augen, weiße Zähnchen und trägt einen Pony. Ihren Saugrüssel behält sie aber noch. Auch das Territorium, das die Insekten durchqueren, ist eine unstabile Doppelwelt voller gefährlicher Veränderungen. Jakob Johann von Uexküll schrieb in seiner berühmten Studie Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909) allen Tieren (auch Fliegen, Spinnen und Zecken) eine Umwelt zu, einen subjektiven ZeitRaum, den sie durch ihre Wahrnehmung und Aktivitäten gestalten. (Agamben 2003: 49-53) Wie die Fliege das Spinnennetz nicht wahrnimmt und sich in ihm verfängt, so werden auch Insekten bei Pelevin plötzlich zu Opfern von Fliegenklatschen oder Fliegenstreifen. Bei ihrem Übergang von einem in den anderen Körper kommt es gelegentlich zu Unfällen, die den Tod der Insekten nach sich ziehen: Beispielsweise tötet die Lolita-Fliege Natascha Archibald, einen Mischling zwischen Mücke und Marienkäfer, als er sie in ihr menschliches Bein sticht. Die Ameise Marina, die in ihren hohen roten Stöckelschuhen an der Seeprome-
14 Vgl. dazu auch: Livers 2002: 1-28; Ohme 2013: 50-60. 15 Pelewin 1997: 65. »Sam zückte die Gabel, hob sie über den Teller und sah im selben Moment auf der Scheide zwischen Püree und Soße eine junge Fliege sitzen, die er zuerst für ein Dillzweiglein gehalten hatte. Sams Hand senkte sich langsam zu ihr hin (die Fliege erbebte, flog jedoch nicht weg), nahm sie vorsichtig zwischen zwei Finger und setzte sie auf dem Stuhl neben sich ab. Die Fliege war wirklich blutjung.«
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nade entlang spaziert und sich nach attraktiven Männern umschaut, tritt versehentlich auf den scarabeus sacrus, der gerade seinem Sohn den Sinn der Mistkugel näherbringt. Sam wiederum vergiftet sich mit dem Blut eines betrunkenen russischen Nationalisten, das ihn für kurze Zeit in einen gewalttätigen Russen verwandelt. Nicht nur ihre Körper sind amorph, ihre Identitäten sind insgesamt destabilisiert. Auch das Zeichensystem verhält sich ambivalent, indem Bilder zu tableaux vivants werden16 und Parömien − die in der jeweiligen Sprache gespeicherten, inventarisierten und standardisierten Redewendungen und Sprichwörter − von ihrer harmlosen phraseologischen Ebene auf die gefährliche Ebene des Buchstäblich-Realen überführt werden. Als Sam Sucker einen Taxifahrer während der Fahrt unbemerkt sticht, korreliert das Blutsaugen zunächst mit dem Gespräch über Russland als »drittes Rom« (tret’ji Rim). Doch die messianische Staatstheorie, laut der das Land eine globale Vorreiterrolle einnehmen soll, kippt im anagrammatischen Wortspiel Suckers in die ausgebeutete »dritte Welt« (tret’ji mir) um.17 Auch als Natascha im Liebesakt Sam auf Englisch auffordert, sie zu kosten (»Eat me«), führt dieser seinen saugenden Rüssel in ihren Fliegenkörper ein. Die doppelbödige Welt sowie die durchlöcherten, organlosen Körper, schließlich die Sprache mit ihren unklaren Übergängen aus dem Symbolischen ins Ikonische weisen zahlreiche Reminiszenzen an die absurd-groteske Literatur auf, wie etwa an Lewis Carrols Alice in Wonderland (1865), an die Schriften der Obėriuten aus den 1920er und 30er Jahren sowie an Vladimir Nabokov. Nicht nur die Textur einzelner Geschichten, sondern ebenso geheime Gesten und Zeichen ermöglichen wie religio duplex (Assmann 2010) eine doppelte Lesart. Und auch der gesamte Erzählzyklus ist auf verschiedene Arten in sich ver-
16 So wird das Bild eines orientalischen schwarzen Reiters auf einer Zigarettenschachtel der Marke Kazbek plötzlich zu einem bedrohlichen schwarzen Reiter, zum Verfolger der Drogenhändler, die sich in Betonröhren auf einer Müllkippe verstecken. Diese Röhren erweisen sich wiederum im nächsten Augenblick als Marihuanajoints und die darin versteckten Menschen als Marihuanaflöhe, die beim Rauchen im Mund von Sam und Natascha mit einem leisen Knall ihr Leben lassen. 17 Pelewin 1997: 73. »Was heißt hier dritte Welt«, ließ sich der Fahrer mit Bitterkeit in der Stimme vernehmen, und sein Schnurrbart wippte übertrieben, »die haben uns doch verraten und verkauft. Alles verschleudert, samt Raketen und Flotte. Das Blut haben sie uns ausgesaugt, aber wie.« […] »Hinter unserem Rücken passiert das, verstehst du«, murmelte er und sagt dann lange Zeit nichts mehr. Allmählich entfärbte sich sein Gesicht, die Augen, zuvor unstet und finster, wurden gläsern und teilnahmslos. In Sams Gesicht hingegen stieg eine Röte, als käme er soeben aus der Sauna.«
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flochten. Die Protagonisten tauchen in einigen Erzählungen als Hauptakteure auf, in anderen erscheinen sie wiederum als kaum wahrgenommene Nebenfiguren, die jedoch entscheidend Einfluss auf das Leben der Insekten-Menschen nehmen können. Auch die Zeit bewegt sich wie in einer Bergsonschen Koexistenz von unterschiedlichen »Dauern« vorwärts und rückwärts, rollt sich ein und rollt sich aus, so dass die Protagonisten in verschiedenen Stadien erscheinen können. Natascha ist z.B. am Anfang des Erzählzyklus eine junge Lolita-Fliege, später das Ei einer Ameise bzw. eine Larve, die sich entscheidet, Fliege zu werden und schließlich eine tote Fliege. Anfang und Ende sind damit annulliert und in eine Kreisstruktur überführt. Pelevin zieht keine klare Grenze zwischen Tier und Mensch. Wie Giorgio Agamben in seinem Werk Das Offene. Der Mensch und das Tier stützt er sich auf die gnostische Tradition,18 in der Tier und Mensch am Anfang und am Ende der Zeiten – bevor die »anthropologische Maschine« der Aufteilung und Differenzierung sich in Gang gesetzt hatte bzw. nach dem Ende des menschlichen Seins – im mysterium coniunctionis untrennbar miteinander verbunden sind. (Agamben 2003: 11-13) Wie Derrida die Geburtsstunde der Trennung von der Genesis ableitet, in der nicht nur die Unterordnung des Tieres unter den Menschen, sondern auch das Geschlechterverhältnis von Mann und Frau bestimmt wird, so inszeniert Pelevin eine zweite Genesis. (Derrida 2008) Wie bei Deleuze und Guattari ist auch bei Pelevin das Begehren, wenn es als ein Werden ohne Anfang und Ende verstanden wird, die treibende Kraft. Es ist diejenige Intensität, die aus einem Menschen ein Tier in ständiger Metamorphose macht. (Deleuze/Guattari 1992: 318-422) Diese Art des Tier-Werdens bringen Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus mit dem deterritorialisierten, rhizomartigen Nomadentum des Sinns in Verbindung, das in seiner Expansion ständig neue Territorien erschließt.
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Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov überführt in Natürlicher Roman (Estestven roman, 1996) die globale, makrokosmische Erscheinung der Fliege in den Mikrokosmos der Ehe.19 Eine gescheiterte Ehe und Trennung von
18 Zu den mystischen Wurzeln der Tier-Mensch-Transformation bei Pelevin: Genis, 1999: 212-224. 19 Zur Auswirkung der postkommunistischen Übergangszeit der 90er Jahre in Osteuropa auf das Privatleben: Georgi Gospodinov im Interview Irina Lazarova und Miranda
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der Frau, die von einem anderen geschwängert wurde, bildet den Ausgangspunkt für die facettenartige Fliegenwahrnehmung. Der autobiographisch erzählte Roman, dessen Narrativ sich der fragmentierten Technik der Aufzeichnungen, der Aufzählung und der Inventarisierung bedient, zeugt von der Unmöglichkeit eines kohärenten Erzählens. Wie im Fliegenflug geht der Erzählfaden immer wieder verloren und das Sujet löst sich schließlich ohne einen Schluss auf. Im vorletzten Kapitel kündigt der Erzähler an, einen neuen Roman schreiben zu wollen, dessen Held und alter ego ein Clochard sein wird, der auf der Straße im Müll und vom Müll lebt. Wie bei Kabakov steigt die Toilette, der »natürliche«, chthonische und feuchte Ort, zum Schauplatz der literarischen Genesis, insbesondere in den Klosett-Kapiteln mit der Überschrift 00, auf. Im 29. Kapitel über »Bausteine zu einer Naturgeschichte der Fliegen« wirft der Erzähler die Frage auf, »was für ein Roman wohl entstehen würde, wenn wir eine Fliege dazu bringen könnten zu erzählen.« (Gospodinov 2007: 99) Die Erforschung der Fliege avanciert zum narrativen Experiment, zu einer idealen Form – zum »Roman voller Details, voller winziger und mit freiem Auge nicht erkennbarer Dinge.« (Ebd. 101) Wie bei Kabakov verknüpft auch Gospodinovs dichterische Fliege – »Mediator der Welt, Engel und Teufel in einem« – den chthonischen Reich des Klosetts mit den ätherischen Sphären. (Ebd. 101) Wie Vladimir Sorokins Roman (1995) befreit sich das letzte Kapitel, das anstelle der Nummer das astrologische Symbol des Widders trägt, von allen grammatikalischen Regeln und wird zum Fliegensummen ohne Anfang und Ende. Das Scheitern der Ehe und des Romans wird gemäß dem dualistischen Prinzip des Austausches des Negativen durch das Positive zu einem kreativen Akt experimentellen Schreibens. Doch aus den Trümmern und der Asche des Ehelebens steigt kein Phönix empor. Der schriftstellerische Ascensus erfolgt in der Asche der im Narrativ amorph gewordenen Sätze und Wörter ohne Syntax, Interpunktion und grammatikalische Regeln. Wie Gospodinov in seinem Roman greift auch Vladimir Kott in seinem Film Fliege (Mucha, 2007) im intertextuellen Fortschreiben das Lob der Fliegen des Lukian von Samosata auf. Darin werden der Fliege nicht nur ein Leben nach der Art der nomadischen Skythen sowie große kämpferische Fähigkeiten, sondern
Jakiša, in: Novinki 2008, http://www.novinki.de/jakisa-miranda-von-facettenaugentheater-scratch-und-der-inventarisierung-des-sozialismus/ (gesehen am 03.09.2014). »Es schien, als habe der historische Zerfallsprozess eine Kettenreaktion von kleinen, privaten, familiären und freundschaftlichen Zerfallsprozessen verursacht: Scheidungen und Trennungen auf allen Ebenen. […] Mich interessiert, wie und wo unsere persönliche und die so genannte große Geschichte miteinander verflochten sind, aufeinander stoßen oder wo sie sich verfehlen.«
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auch Unsterblichkeit, ähnlich der des Phönix, nachgesagt. Doch die ›fliegende‹ Rhetorik Lukians wird in den Filmbildern mit einer melancholisch-ironischen Geste dekonstruiert. Kotts Fliege ist die minderjährige Vera Muchina, genannt Mucha (Fliege). Ihr Name verweist auf den der sowjetischen Bildhauerin, die mit ihren heroischen, überdimensionalen Denkmälern Die Flamme der Revolution (1919) und Arbeiter und Kolchosbäuerin (1937) zur Vorzeigekünstlerin des Sozialistischen Realismus wurde. Kotts Mucha schrumpft allerdings von der majestätischen Größe des Sozialistischen Realismus auf das Niveau eines Schulmädchens, das immer wieder zu spät zum Unterricht kommt. Ihren Heroismus entfaltet sie nicht nach einem sowjetischen, sondern nach einem amerikanischen Muster – wie die Protagonistin in Clint Eastwoods Film Million Dollar Baby (2004) – als Boxerin (Abb. 5). Ihr Vater Fëdor Muchin, früher Soldat, verdient nun seinen Lebensunterhalt als Lastwagenfahrer. Ständig ›auf Achse‹ beschränken sich seine sozialen Kontakte auf zufällige Frauenbekanntschaften und Mädchen vom Straßenrand. Veras Mutter hat er so früh verlassen, dass er nie von der Geburt seiner Tochter erfuhr. Dennoch erinnert sich diese in ihrer Sterbestunde an ihn und vermacht ihm ihr bescheidenes Hab und Gut – sowie die minderjährige Tochter. Den Vater hatte diese für tot gehalten, weil die Mutter aus seinem Verschwinden einen heldenhaften Tod machte – er sei während des Tschtschenien-Krieges in einem Panzer verbrannt. Vera, die dem Element Feuer zugeneigt ist, entwickelt daraufhin eine pyromanische Ader. So steckt sie das Haus des Ortsmoguls, eines Fleischfabrikanten, an, weil der ihrer Mutter nachstellte. Um als Vormund die Schulden abzubezahlen, sucht sich der Vater eine Anstellung bei einer Kanalisationsfirma, für die er Sickergruben und Kanäle reinigt (Abb. 6). Durch eine Frauenbekanntschaft gelingt es ihm jedoch bald, eine ordentliche Arbeit als Sportlehrer in der örtlichen Schule zu bekommen, die auch seine Tochter besucht. Alles könnte ein glückliches Ende nehmen, wenn Fedor und seine Tochter nicht Fliege hießen. Das Vater-Tochter-Verhältnis besteht von Anfang an aus immer wieder gescheiterten Kommunikationssituationen. Solange er sich um die Tochter kümmern und eine Beziehung zu ihr aufbauen will, hat die Tochter kein Interesse an ihm. Sie meidet ihn, bricht seine Zahnbürsten entzwei und schlägt die Windschutzscheibe seines Wagens ein. In dem Augenblick jedoch, als die Tochter beginnt, den Vater zu lieben, ist dieser schon wieder bei einer anderen Frau und kündigt nach einer Affäre mit einer minderjährigen Schülerin an, am nächsten Tag die Stadt zu verlassen. Dennoch verbindet beide das Motiv der Fliege an einer Fensterscheibe, die vergeblich versucht, ins Freie zu entkommen und mit einer Fliegenklatsche gejagt wird. Fedor will keine längerfristige Beziehung eingehen, und seine Tochter
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ist den verliebten Kameraden gegenüber kühl, grob und verwechselt Liebe mit Sex. Enttäuscht von ihrem Vater, der sie wieder verlassen will, zündet sie nun ihre eigene Holzhütte in der Nacht an, um den schlafenden Vater samt dem Heim zu verbrennen. Wie im Fliegenmythos gelingt es diesem jedoch, unverletzt aus dem flammenden Inferno zu entkommen – doch nicht um ein neues Leben mit der Tochter zu beginnen, sondern um vor ihr zu fliehen. Im letzten Gespräch mit Vera vor der Kulisse aus Schutt und Asche offenbart er ihr, dass er nicht fähig sei, wie ein normaler Mensch zu leben, sondern Familiennähe und Liebesgefühle nur vorspielen könne. Das Fliege-Werden jagt ihn fort, deterritorialisiert ihn, um ihn in der russischen Steppe zu reterritorialisieren. Nicht das enge Heim, sondern die unendlichen Weiten des Ostens sind sein Revier. Bei seinem Abschied übergibt er der Tochter, die ihn umbringen wollte, sein ganzes Geld und steigt ohne Umarmung und Tränen in den Augen in seinen Lastwagen. Was dem Zuschauer präsentiert wird, ist nicht die Tiefe der russischen Seele, wie sie Dostoevskij beschwor, sondern die nomadische Oberfläche der postsowjetischen Postmoderne. Damit bricht der Film mit den klassischen Russland-Stereotypen von der Tiefe der slawischen Seele, um an ihre Stelle die des russischen Nomadentums zu setzen. Dennoch scheint die extreme Polarisierung der beiden Positionen – emotionale Tiefe versus emotionale Oberfläche – durch die chiastische Verschränkung und den Rollentausch – zuerst liebender Vater/kühle Tochter und dann liebende Tochter/kühler Vater – überwunden zu werden. Was dieser Kombinatorik entspringt, die an die Konstellation von Evgenij Onegin und Tatjana erinnert, ist nicht das Dritte der Synthese, sondern das Dritte der doppelten Negation. In den letzten Filmbildern zeigt die Tochter dem Zuschauer den Rücken und bietet sich damit als leere Projektionsfläche für seine Emotionen an. Auch ihr Vater setzt seine Reise nicht mit dem Lastwagen fort, sondern steigt in einer unbesiedelten Industrielandschaft aus, um mit bloßen Füßen seine Flucht im punktierten Schritt fortzusetzen. Der Nomadismus, übertragen auf das Familienmodell, führt zur Unmöglichkeit, emotionale Bindungen zwischen Mann und Frau sowie Vater und Kind herzustellen und zu erhalten.
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In Das Leben der Fliege greift Kabakov nicht nur die Frage der Wirtschaft und Kunst, sondern auch der Ordnung und Freiheit auf. In punktierter Fliegenschrift schreibt er auf Englisch, Italienisch und Russisch einander widersprechende Aussagen – nämlich, dass die Ordnung das wichtigste ist (»The order ist the main thing.«) bzw. dass wir frei sind (»Noi siamo liberi.« / »My svobodny.«).
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Seine paradoxen Fliegen-Aussagen annullieren sich selbst: Wenn die Fliegen frei bleiben und wegfliegen können, würde sich die Schrift gleich wieder verflüchtigen. Nur mit toten Fliegen kann die Aussage gewährleistet werden, wobei der Preis für die Ordnung die Freiheit wieder in Frage stellt.20 Dieselbe Diskrepanz von Freiheit und Ordnung vermittelt auch sein Gemälde Die Königin der Fliegen (Koroleva much, 1965) auf dem sich eine als trompe l’oeil gemalte Fliege auf ein streng ornamentales Bild gesetzt hat, das eine Fliegen-Zarin repräsentiert. Anders als bei Kabakov, der den Widerspruch von Freiheit und Ordnung aufwirft, avanciert die Fliege auf dem Balkan zur Figur der Anomie und des Ausnahmezustandes. Bereits im Vorfeld der Balkankriege Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in den deutschen humoristisch-satirischen Zeitschriften, wie Simplicissimus, Kladeradatsch und Ulk der Balkan als eine mit Insekten geplagte Region dargestellt, von der aus sich die Gefahr einer Ansteckung ausbreitet. (Ristović 2008: 73-110; Ristović 2011) Die jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahren haben erneut Fliegen herangelockt. Der slowenische Comiczeichner Tomaž Lavrič erzählt in Bosnische Fabeln (Fables de Bosnie, 1999) über die misslungenen Verhandlungen des Westens mit Radovan Karadžić während des Bosnienkrieges, die schließlich das Massaker von Srebrenica zur Folge hatten. (Lavrič 2010: 14, 16) Fliegen besiedeln die schmutzige Küche des Holiday Inn Hotels in Sarajevo, wo Diplomaten und Journalisten während der Belagerung der Stadt untergebracht wurden. Somit steht das schmutzige Küchenstilleben symbolisch auch für die europäische »politische Küche«, in der sozusagen wieder etwas Neues gebraut wird. Von dort kommt auch das Essen für den Diplomaten, der den Journalisten gerade wieder einen neuen Friedensvorschlag vorstellt. Später wird sich zeigen, dass ihm das Essen nicht gut bekommen ist. Nachdem der Friedensvertrag unterschrieben ist, verlässt dieser mit einem UN-Konvoi die belagerte Stadt. Doch mitten im Wald muss er ein dringendes Geschäft verrichten, wozu er Papier braucht. Da niemand ein Taschentuch oder eine Serviette parat hat, muss er in der Not den gerade unterschrieben Friedensvertrag nehmen (Abb. 7). Die UN-Soldaten nützen den kurzen Aufenthalt wiederum dazu, auf der Jagd einen Rehbock zu schießen. Die Fliegen versammeln sich einerseits auf dem toten, glänzenden Auge des Rehs, anderseits auf dem mit Exkrementen beschmierten Friedensvertrag. Die Niederlassung der Fliegen auf dem Sublimen und dem Ekelhaften beschreibt zugleich die beiden Pole der Anomie, der Gesetzlosigkeit – nämlich den der Rechtlosigkeit und den der Missachtung des Rechts.
20 Kabakov verwendet Fliegen aus Plastik und keine echten Fliegen wie Damian Hirst in seinen stinkenden Fliegen-Reliefs.
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Enki Bilal (Enes Bilalović), ein in Belgrad geborener und in Paris lebender Zeichner, versetzt in der vierteiligen Comicserie La tétralogie du monstre (19982007) seine 1993 im belagerten Sarajevo zur Welt gekommenen Helden ins Jahr 2026. Nach einer großen nuklearen Katastrophe kämpfen zwei Männer und eine Frau gegen einen terroristischen Geheimorden, der mit Hilfe von Fliegen – Biorobotern – noch den Rest Menschheit auslöschen und eine neue totalitärtheokratische Ordnung durchsetzen will. Die Fliegen legen in ihre Opfer Larven, die den Körper mit blutigen Wundmalen versehen und unter großen Schmerzen zersetzen (Abb. 8). In der Luft hinterlassen sie wie Flugzeuge rote Streifen, die sich wie Fesseln um die Menschen winden. Sie erscheinen nicht mehr als Folge des Verfalls, sondern leiten diesen vielmehr ein. Obwohl der Kampf in einer phantastischen Welt der Zukunft geführt wird, dient der Krieg in Bosnien als Einstieg in die Entfaltung pessimistischer Zukunftsvisionen. Im Jahre 2002, drei Jahre nach dem NATO-Bombardement Serbiens, hat der serbische Schriftsteller Dobrilo Nenadić einen parodistischen historischen Roman mit dem Titel Der Säbel des Grafen Vronskij (Sablja grafa Vronskog) (Nenadić 2002) verfasst, dessen Geschichte dort beginnt, wo Tolstojs Roman Anna Karenina endet – beim ungeklärten Schicksal des Grafen Vronskij als Freiwilliger im Russisch-Osmanischen Krieg 1876 auf dem Balkan.21 Es handelt sich um eine Persiflage auf die russische »Bruderliebe«, wobei Tolstojs Perspektive auf den Krieg durch die des serbischen Kriegskorrespondenten Jevrem Vesić alias Ješa Mušica (kleine Fliege) ersetzt wird. Wo immer es zu ›stinken‹ beginnt, kommt Mušica angerannt, weil ja die Zeitungen nicht ohne ›Gestank‹ auskommen könnten. So befindet er sich immer entweder mitten im Krieg oder dort, wo zweifelhafte ›Gerüch(t)e‹ in Umlauf gebracht werden. Mit seiner defätistischen Weltanschauung, in der es keinen Platz für das Sublime wie Liebe oder echte Freundschaft gibt, nimmt er den Grafen Vronskij aufs Korn, der im Laufe des Romans zunehmend mit dem realen Leutnant Fürst Nikolaj Raevskij (+1876) verschmilzt, der als Freiwilliger in Serbien gefallen ist und dessen Schicksal Tolstoj als Vorlage für seinen literarischen Helden diente. (Šemjakin 2007) Durch die Kommentare des serbischen Korrespondenten in derber, zynischer Soldatensprache wird der angeschlagene Held noch mehr in den Dreck gezogen. Mušica zweifelt von Anfang an daran, ob ihn edle brüderliche Gefühle nach Serbien geführt hätten. Vielmehr insinuiert er, dem in Russland gesellschaftlich ruinierten Mann ginge es einzig darum, in Serbien auf scheinbar heldenhafte, ritterliche Art ums Leben zu kommen. Bereits in der Mitte der Romans findet Fürst
21 Zu den serbischen und kroatischen Persiflagen des Grafen Vronskij: Zimmermann 2016: 229-250.
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Raevskij/Graf Vronskij einen nicht besonders heldenhaften Tod – eine verirrte Kugel oder ein abgebrochenes Schrapnell trifft ihn tödlich am Kopf. Man weiß nicht, warum er den Graben verlassen hat – ob ihm die serbischen Mitkämpfer zu stark gestunken haben oder ihn der eifersüchtige General Černjaev in den Tod geschickt hat. Im zweiten Teil des Romans nimmt Mušica selbst den Platz des plötzlich verstorbenen Helden ein. Nach allen möglichen Peripetien bleibt er am Ende ohne Frau und Heim – ein erniedrigter nomadischer Ritter in einer unritterlichen Zeit. So beschließt er wie Tolstoj einen Fortsetzungsroman zu schreiben, in dem er alles besser als dieser machen möchte. Schon Tolstoj hatte den Leser durch das abfällige Gerede über die Freiwilligen an panslawistischen Idealen zweifeln lassen. Bei Nenadić verkörpert Vronskij/Raevskij die Zweifel des »jüngeren Bruders« bezüglich der selbstlosen Unterstützung durch den »älteren Bruder«, Russland. Wenn der Russe nicht gefallen wäre, hätte er sich aus einem verwöhnten Höfling bestimmt zu einem Kolonialisten ohne Respekt für die Einheimischen und ihre Traditionen entwickelt. Der Roman zeugt nicht nur von der serbischen Enttäuschung über Russland, sondern auch von der unveränderlichen Lage des Balkan zwischen Ost und West, wo sich nichts zum Besseren wendet.
D IE F LIEGE – E PIPHANIE B ILDFORMEL
EINER EMBLEMATISCHEN
Nimmt man die Fliege in Bild und Text nach 1989 aufs Korn, stellt man fest, dass sie eine emblematische Struktur aufweist, die nur in kaleidoskopischer, anagrammatischer Optik und in intermedialem Zick-Zack entschlüsselt werden kann. Sie rekurriert auf zahlreichen Prätexte und frühere Bildformeln, und rückt dabei das Insekt vom Parergon ins Ergon. Die Fliege erweist sich nicht nur als ein Topos, sondern auch als ein subversives Strukturprinzip, das Grammatik, Syntax und Komposition der Bild- und Textnarrative erfasst. Sie setzt die anthropozentrische Perspektive außer Kraft, um an ihrer Stelle eine alteritäre des Insekts zu setzen. Während die Fliege in sich auflösenden literarischen Narrativen zunehmend verschwindet, erfährt sie im Bild regelrecht eine Epiphanie.22 Ihr Aufscheinen ist exzessiv, entweder in Größe, Menge oder Extension. Bei der Verkündung des privaten oder gesellschaftlichen Scheiterns umgibt sie sich mit Rausch und einer fast exzessiven Feierlichkeit. Der dualistischen Tradition folgend schlägt sie vom Mangel in die Hypertrophie, vom Verlust in die Fülle, vom Minderwertigkeitskomplex in den Narzissmus um. Folgt man den postkommu-
22 Zum religiösen und literarischen Begriff der Epiphanie vgl. Zaiser 1995: 15-63.
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nistischen Spuren der Fliege in Ost- und Südosteuropa, fungiert sie nicht nur als Index der gescheiterten politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und familiären Projekte, sondern erscheint im Nucleus aller negativen Zersetzungsprozesse. Damit fügt sie sich als Selbstbeschreibung bzw. Selbstprojektion der Identitäts- und Ortlosigkeit in die Tradition der negativen theologischen sowie der heteronomen Osteuropa- und Balkandiskurse ein. Sie offenbart die Unvereinbarkeit der ideellen und materiellen Werte, der ideologischen Projekte und ihrer pragmatischen Realisierungen. Als Bildformel drückt sie eine dunkle claritas aus, die dort in einer Epiphanie aufblitzt, wo die Sprache versagt.
L ITERATUR »Von Facettenaugen, Theater-Scratch und der Inventarisierung des Sozialismus« (Georgi Gospodinov im Interview Irina Lazarova und Miranda Jakiša), in: Novinki 2008, http://www.novinki.de/jakisa-miranda-von-facettenaugentheater-scratch-und-der-inventarisierung-des-sozialismus/, (gesehen am 23.08.2017). Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M., S. 49-53 [2001]. Amouroux, Rémy (2007): »De l’entomologie à la psychanalyse«, in: Gesnerus 64, S. 219-230. Assmann, Jan (2010): Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin. Billerbeck, Margarethe (2000): Das Lob der Fliege von Lukian bis L. B. Alberti: Gattungsgeschichte, Texte, Übersetzungen und Kommentar, Bern u. a. Chastel, André (1984): Musca depicta, Milano. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus, Berlin, S. 318-422. Derrida, Jacques (2008): The Animal That Therefore I Am (=Perspectives in Continental Philosophy), New York [2001]. Drouin, Jean-Marc (1992): »L’image des sociétés d’insectes en France á l’époque de la révolution«, in: Revue de synthèse 4/3-4, S. 333-345. — (2005): »Ants and Bees. Between the French and the Darwinian Revolution«, in: Ludus Vitalis 13/24, S. 3-14. Genis, Alexander (1999): »Borders and Metamorphoses. Viktor Pelevin in the Context of Post-Soviet-Literature«, in: Mikhail Epstein/Alexander Genis/ Slobodanka Vladiv-Glover (Hg.): Russian Postmodernism. New Perspectives (=Studies in Slavic Literature, Culture, and Society 3), New York-Oxford, S. 212-224.
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ABBILDUNGEN
Abb.1: Schautafeln mit dem Aufbau und der Bewegung der Fliegen, in: Ila/Emilia Kabakov The Life of Flies, Bielefeld-Leipzig: Kerber Verlag 2008, s.p.
Abb. 2: Anwachsen des Fliegen-Turms in Zentralrussland, in: Ilya/Emilia Kabakov The Life of Flies, Bielefeld-Leipzig: Kerber Verlag 2008, S. 78
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Abb. 3: Die trianguläre Form der Fliege als Grundlage aller Kunst, in: Ilya/Emilia Kabakov The Life of Flies, Bielefeld-Leipzig: Kerber Verlag 2008, S. 75.
Abb. 4: Konzert für Fliegen, in: Ilya/Emilia Kabakov The Life of Flies, Bielefeld-Leipzig: Kerber Verlag 2008, S. 23.
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Abb. 5: Vera Muchina als Boxerin, aus: Vladimir Kott, Film Fliege (Mucha), Russland 2008.
Abb. 6: Fëdor Muchin als Kanalarbeiter, aus: Vladimir Kott, Film Fliege (Mucha), Russland 2008.
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Abb. 7: Tomaž Lavrič, Fables de Bosnie, Grenoble: Glénat 1999, S. 25.
Abb. 8: Fliegen zersetzen menschliche Körper, Enki Bilal: Monstre. L’intégral. Paris: Casterman 2007, S. 60.
Autorinnen und Autoren
Evgeny Dobrenko: Professor of Russian studies an der University of Sheffield (UK); Co-Director des Prokhorov-Centre of the Study of Central and Eastern European Intellectual and Cultural History Susi K. Frank: Professorin für Ostslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt Universität zu Berlin Jeremy Hicks: Chair of Department of Russian at the Language School der Queen Mary, University of London Magdalena Marszałek: Professorin für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Polonistik an der Universität Potsdam Piotr Piotrowski: war Ordinarius am Institut für Kunstgeschichte der Adam Mickiewicz Universität Poznan; 2012 Gastprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin Tomász Pospiszyl: Inhaber des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte der Kunst an der Akademie für Angewandte Kunst in Prag Irina Sandomirskaia: Professor am Center for Baltic and East European Graduate Studies at Södertörn University, Sweden Magdalena Saryusz-Wolska: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Warschau Sylvia Sasse: Professorin für Slavische Literaturwissenschaft am Slavischen Seminar der Universität Zürich Alexander Schwarz: Filmexperte, Slawist, Kurator von Filmreihen, Crossmedia Konzeptentwickler, Dokumentarregisseur, Mitbegründer der Filmagentur „Tolle Idee!“
358 | BILDFORMELN David Shneer: Louis P. Singer Professor of History and Director of the Program in Jewish Studies an der Universität Colorado / Boulder Maxim Shrayer: Professor of Russian & English am Department of Slavic and Eastern Languages and Literatures am Boston College in Chestnut Hill Tanja Zimmermann: Professorin für Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Osteuropa an der Universität Leipzig
Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.)
Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-2274-4
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören — Strukturen wissen — Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Jelena Jazo
Postnazismus und Populärkultur Das Nachleben faschistoider Ästhetik in Bildern der Gegenwart Januar 2017, 284 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3752-6 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3752-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Michael Bockemühl
Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3656-7 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1
Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.)
Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken 2016, 218 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3452-5 E-Book PDF: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9
Werner Fitzner (Hg.)
Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3598-0 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de