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German Pages 264 Year 2015
Gesche Joost Bild-Sprache
2008-04-15 10-31-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0324176207308028|(S.
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Gesche Joost (Dr. phil.) leitet das Design Research Lab an den Deutsche Telekom Laboratories, Berlin. Ihre Schwerpunkte sind Interaction Design, Gender und Design sowie AV Medien.
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Gesche Joost Bild-Sprache. Die audio-visuelle Rhetorik des Films
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Gesche Joost Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Satz: Martin Schüngel, Köln Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-923-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
1. Einführung 9 1.1. Perspektiven einer aktuellen Rhetorik 15 1.2. Potentiale der audio-visuellen Rhetorik 26 1.3. Forschungsbericht 34 1.3.1. Figurenlehren des Films 34 1.3.2. Filmrhetoriken 40
2. Film als Zeichensystem 51 2.1. Die Achsen des Filmverstehens 51 2.2. Visuelle Notation als Methode 56 2.3. Visuell orientierte Modelle der Filmanalyse 61 2.4. Das Notationssystem audio-visueller Rhetorik 67 3. Die rhetorische Maschine 77 3.1. Das Funktionsmodell 78
3.1.1. Film als Medium 79 3.1.2. Der »Autor« des Films, der Rhetor im Film 82 3.1.3. Rhetor – Medium – Adressat 86 3.1.4. Die Ränder der Rhetorik 93 3.2. Die rhetorischen Techniken 96 3.2.1. Visuelle Argumentationen 99 3.2.2. Die affektive Adressierung des Publikums 107 3.2.2.1. Affektübertragung durch Identifikation: Das Ethos 111 3.2.2.2. Die Rolle des Pathos im Film 121 3.3. Die Topik als Instrumentarium von Argumentation und Affekterregung 131 3.3.1. Visuelle Topoi des Films: Das Gesicht 138 3.4. Rhetorische Figuren im Film 147 4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins 155 4.1. Exkurs: Die rhetorische Filmtheorie Eisensteins 155 4.1.1. Kunst als massenwirksames Instrument 158 4.1.2. Die Adressierung des Publikums 160 4.1.3. Stilistische Konzepte Eisensteins: Die »Montage der Attraktionen« 164 4.1.4. Pathos als Propaganda 169
4.2. Filmanalysen: Die stummen Bilderwerke Eisensteins 173 4.2.1. Affe, Eule, Bulldogge: Animalische Typisierungen 173 4.2.2. Die Ekstase der Maschine in Die Generallinie 179 4.2.3. Die Frauen von Odessa 185 4.2.3.1. Die Wiederkehr der Frauen von Odessa 196 4.2.4. Die Metamorphose des Diebs in Streik 203 4.2.5. Kerenski versus Kornilow: Die visuelle Argumentation einer Niederlage in Oktober 211 5. Resümee 217 Literaturverzeichnis 223 Zitierte Internetquellen 244 Filmverzeichnis 244 Anhang 247
1. Einführung Der sich erhebende Marmorlöwe, im steinernen Sprunge umgeben vom Donner des feuernden »Potemkin«, als Protest gegen das Blutbad auf der Odessaer Treppe. Aus drei unbeweglichen Marmorlöwen […] zusammengeschnitten. Eines schlafenden. Eines erwachenden. Eines sich erhebenden.1
Standbilder aus Panzerkreuzer Potemkin.
So beschreibt Sergej Eisenstein eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte: die Marmorlöwen in Panzerkreuzer Potemkin. Drei statische Aufnahmen steinerner Löwen sind in solcher Weise nacheinander montiert, dass sich der Eindruck von Bewegung ergibt – die Löwen scheinen zum Leben zu erwachen, sie schauen auf und erheben sich aus dem Schlaf. Sie stehen für den Beginn einer Revolution, nicht nur einer politischen, sondern auch einer Revolution der gestalterischen Mittel des Films. Denn die dynamische Montage fügt die Aufnahmen zu einer rhetorischen Figur zusammen: zu einer Metapher des Aufbruchs. Wie werden rhetorische Gestaltungsmittel im Film eingesetzt? Welchen Regeln folgt ihr Einsatz? Und wie kann ihre Komposition im Film sichtbar gemacht werden? Die Beantwortung dieser Fragen ist das Ziel 1. Sergej Eisenstein: Dramaturgie der Film-Form, Erstdruck 1929. Dt. Fassung in: ders.: Schriften, Bd. 3/Oktober, hrsg. v. Hans-Joachim Schlegel, München 1975, S. 200–224, S. 216.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
der vorliegenden Arbeit. Sie skizziert die Grundzüge einer audio-visuellen Rhetorik und befragt so die Allgemeine Rhetorik nach ihrer Beschreibungskompetenz für den Film. Wenn die filmische Gestaltung spezifischen Kommunikationsregeln folgt – und von dieser These gehe ich aus –, so können eben diese Regeln und die Anweisung zu ihrer Handhabung als eine eigene Rhetorik ausgewiesen werden, und zwar nicht als eine Rhetorik des Wortes, sondern als eine Rhetorik des Bildes und des Tons. Dabei ist zu klären, inwieweit sie auf ein sprachliches oder vielmehr sprachanaloges Raster zurückgreift. Der hier gewählte Zugang ist visuell orientiert, er lässt sich als eine Spurensuche nach der Bildsprache des Films fassen. Diese Spurensuche führt zurück zur antiken Bildrhetorik, denn ich sehe mich der Frage gegenüber, ob eine medienübergreifende Rhetorik wirklich eine Neuerfindung des 21. Jahrhunderts ist, oder ob die antike Rhetorik-Konzeption und ihre Tradition nicht Aufschluss darüber geben, wie Rhetorik und Bild zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund stelle ich die These auf, dass Rhetorik von ihrem Ursprung her als medienübergreifende Kommunikationslehre aufzufassen ist. Im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte ging diese Bedeutung weitgehend verloren. Erst im 20. Jahrhundert finden sich erneut Spuren, die eine umfassende Konzeption erahnen lassen und die wegweisend für die vorliegende Arbeit sind. Mit der Filmrhetorik bewege ich mich also auf den Spuren dieser neuen und gleichzeitig so alten Rhetorik. Was ist Rhetorik? Auf diese Frage werde ich immer wieder zurückkommen. Sie ist eine rhetorische Maschine, so umschreibe ich sie metaphorisch, die aus dem inventiven Rohmaterial erfolgreiche Produkte für die Kommunikation herstellt. Um ihr Wirken zu begreifen, sind ihre einzelnen Funktionselemente, ihr Zusammenspiel und die Logiken zu untersuchen, auf denen ihr Betrieb basiert. Rhetorik ist eine auf Wirkung bedachte Art der Kommunikation, die sich als kommunikativer Regelkreislauf definieren lässt. Gleichzeitig ist sie ein umfassendes Lehrgebäude, das systematisiert, wie jene kommunikative Wirkung hergestellt werden kann – gleichsam die Anleitung zum Betrieb der rhetorischen Maschine. Sie ausschließlich als Stiltheorie zu begreifen, durch die ästhetisch motivierte Kunstgriffe der Filmgestaltung differenziert werden, würde nur einen Teilaspekt dessen berücksichtigen, was mit der rhetorischen Maschine gemeint ist. Vielmehr gilt es, ihre umfangreichen Wissensbestände und deren systematisches Ineinandergreifen zu zeigen. 10
1. Einführung
Mein Ziel ist es, die vielfachen Facetten der rhetorischen Kommunikationslehre zu beleuchten und darzustellen, welche Rolle sie für den Film spielen. Sobald die Frage nach der »Rhetorik der Medien« nicht mehr als bloße Metapher verstanden wird, die sich mit Fragen der Stilistik oder aber der medialen Manipulation beschäftigt,2 öffnet sich ein neues Forschungsfeld. Hier sind Untersuchungen zur medialen Kommunikation verortet, die die theoretische Fundierung mitdenken, oder, stärker formuliert: Untersuchungen, die das Gefüge von Theorie und Praxis als Einheit begreifen. Sie basieren auf den medientheoretischen Aspekten der Rhetorik. Das Ziel ist, ein theoretisches Modell für die Beschreibung des Films zu entwickeln, das auf mehreren Ebenen an die Praxis gekoppelt ist. Auf der einen Seite vollziehe ich die Anwendung rhetorischer Gestaltungstechniken im Film nach und analysiere so Produkte der Filmpraxis. Daraus leite ich ein System der Techniken und Figuren ab, das wiederum – auf der anderen Seite – zum konzeptionellen Inventar für die praktische Gestaltung wird. Rhetorik ist in dieser Hinsicht sowohl Generierungssystem als auch Analyseinstrument: Sie formuliert sich so als analytische Durchdringung des praktischen Tuns 2. Gert Ueding kritisiert eine Reduzierung der Rhetorik auf rein stilistische Phänomene (vgl. Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik, Geschichte – Technik – Methode, 4. aktualisierte Ausgabe, Stuttgart, Weimar 2005, S. 136) und betont ihre interdisziplinäre Stellung: »Die Begründung der Rhetorik als einen eigenen vermittelnden Bereich des Wissens zwischen den Dimensionen der anderen Wissenschaften wird noch auf lange Sicht hinaus das dringlichste Projekt der Rhetorik-Forschung bleiben.« (Ebd., S. 203) Roland Barthes spricht von »dem Widersinn, der die Rhetorik auf die »Figuren« beschränkt«. Roland Barthes: Die alte Rhetorik, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101, S. 95, Originalfassung in Communications Nr. 16, 1970. Joachim Knape macht die Abgrenzung von Rhetorik und Manipulation deutlich: »Der auf ethische Kriterien rekurrierende Begriff der »Manipulation« ist im Interesse klarer Kategorisierungen streng von dem der Rhetorik zu trennen. Manipulation liegt vor, wenn die (ethische) Aufrichtigkeitsmaxime verletzt wird und beim Kommunikator hinsichtlich Zielsetzung, kommunikativer Verfahren und Mittel von Unlauterkeit gesprochen werden muss.« Joachim Knape: Rhetorik, in: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.): Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a. M. 2005, S. 134–148, S. 135. Vgl. auch ders.: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 83f. Vgl. zu Rhetorik und Persuasion Kapitel 1.2. der vorliegenden Arbeit.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
und gleichzeitig als praktische Erprobung und Realisierung theoretischer Annahmen.3 Eine solche rhetorisch fundierte Filmtheorie füllt eine Leerstelle in der bisherigen Forschung. Wie ich im Forschungsüberblick zeigen werde, konzentrieren sich bisherige Ansätze zu einer Rhetorik des Films mehr auf eine Figurenlehre oder auf persuasive Dimensionen der Massenmedien. So steht bis heute weiterhin eine systematische Kommunikationstheorie des Films aus, die die Zusammenhänge zwischen der Produktionsinstanz, dem Medium und dem adressierten Publikum untersucht und dabei nach den Regeln dieser Kommunikation fragt. Mein Ziel ist es, mit einem Modell der rhetorischen Kommunikation eine Grundlage zu schaffen, die diese Zusammenhänge beschreibt. Dieses Modell ist ein Baustein für medienspezifische Rhetoriken insgesamt. Für die Filmanalyse stelle ich – und das ist der zentrale Punkt meiner Arbeit – eine neuartige Methode vor: die Visualisierung rhetorischer Strukturen des Films. Zu diesem Zweck habe ich ein Notationssystem des Films entwickelt, das auf einem detaillierten Satz von Notationszeichen in einem Rasterfeld beruht. Mit diesem System werden Detailanalysen von Filmszenen erstellt, um ihre dynamischen Entwicklungen, ihre Muster, ihr Konstruktionsprinzip offenzulegen. Diese Analysen werden in Form von animierten Grafiken gezeigt, die unter www.geschejoost.org/AVRhetorik zu finden sind. Der Film wird durch diese Herangehensweise nicht länger in versprachlichter Form oder mittels Standbildern in die Analyse einbezogen, sondern in seiner dynamischen, audio-visuellen Gestalt. Das ist eine Neuerung für die Filmanalyse. Vorteil dieser Methode ist es, auf der Grundlage der Notationsprotokolle die rhetorische Struktur des Films in visueller Form erkennbar zu machen und so »auf einen Blick« den Aufbau darzustellen. Ich vertrete die These, dass durch die Visualisierung andere Erkenntnisse aus der Analyse gewonnen werden, als es durch beschreibende Verfahren möglich ist – und damit unterstreiche ich den kognitiven Wert des Bildes. Der Ansatz ist als eine »visual explanation« im Sinne Edward Tuftes 4 zu verstehen, als eine Form der bildlich basierten Informationsdarstellung, die Rohdaten zu Informationen transformiert. Diese InforDieser Gedanke wird in Kap. 1.2. ausgeführt. Vgl. Edward Tufte: Visual Explanations, Cheshire, CT, 1997, S. 9f. In der Terminologie von Klaus Sachs-Hombach ist dieser Ansatz der »Visuellen For3. 4.
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1. Einführung
mationen werden gestaltet, vernetzt und systematisiert, so dass diese Art der kognitiven Aufbereitung zu einer Wissensdarstellung führt.5 Mit Erprobung dieser Methode befrage ich die Allgemeine Rhetorik nach ihren Grenzen und nach den Möglichkeiten, interdisziplinär mit Heuristiken der Designforschung zu kooperieren, denn der Entwurf des Notationssystems für die Filmanalyse ist eine designspezifische Forschungsmethode.6 Gegenstand der Fallstudie, anhand derer die theoretischen Annahmen überprüft und das Notationssystem angewendet werden, ist das Werk Sergej Eisensteins. Hier schlage ich eine zweifache Perspektive vor: Zum einen geht es um seine theoretischen Arbeiten, die ich auf ihre rhetorischen Grundzüge hin exemplarisch untersuche, zum anderen um seine Stummfilme, deren Kompositionsprinzipien zu analysieren sind. Eisensteins Filmgestaltung ist, wie bereits gesehen, beispielhaft für die Anwendung rhetorischer Strategien. Aufgrund des experimentellen Charakters der Filme wie auch der Filmtechniken des Regisseurs Eisenstein kann eine Vielfalt an Figuren und Mustern differenziert werden, die die Analyse besonders fruchtbar macht.7 Mir geht es bei der Fallstudie also nicht um Eisenstein als Propagandisten, sondern als Avantgardisten der Filmgestaltung. schung« zuzuordnen. Vgl. Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium: Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003, S. 68ff. 5. Vgl. Gui Bonsiepe: Design as Tool for Cognitive Metabolism: From Knowledge Production to Knowledge Presentation. Vortrag auf dem Symposium »Ricerca+Design«. Politecnico di Milano. 18-20.05.2000, [http://www.guibonsiepe.com] (letzter Zugriff am 17.03.2008). Deutsche Fassung: Audiovisualistik und die Darstellung von Wissen oder Die Rolle des Design für den kognitiven Metabolismus. Vortrag auf dem Symposium »Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter«. Staatliche Akademie der Bildenden Künste. Stuttgart. 25.–26.10.2001 [unveröffentlicht]. 6. Vgl. Sharon Helmer Poggenpohl: Double Damned: Rhetorical and Visual, in: Visible Language, Chicago 1998 (32), Nr. 3, S. 200–234, bes. S. 220f.; vgl. auch Barbara Stafford: Good Looking: Essays on the Virtue of Images, Cambridge 1996, S. 45f. 7. Die Filme Eisensteins sind nur ein Beispiel für rhetorische Filmgestaltung. Die zugrunde liegende Theorie lässt sich anhand sehr unterschiedlicher Beispiele belegen, wie es etwa Klaus Kanzog in seinen Analysen zur Filmrhetorik zeigt. Kanzog formuliert mit seinem »Grundkurs Filmrhetorik« einen wichtigen
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Zum Aufbau der Arbeit: Der erste Teil führt in die zentralen Thesen zur Theorie der audio-visuellen Rhetorik im Film ein. Daran schließt sich der Forschungsüberblick an, der wichtige Vorläufer dieser Arbeit einander gegenüberstellt. Den Schwerpunkt lege ich dabei einerseits auf stilistische Theorien von Bild und Film, andererseits auf ausgewiesene Film»Rhetoriken«, bei denen zu untersuchen ist, welchem Rhetorik-Begriff sie folgen. Auch wenn diese Theorien in den meisten Fällen wichtige Fragen offen lassen, so ergeben sich aus der Diskussion doch wichtige Impulse für meine Arbeit. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Zeichensystem des Films in einer semiotischen Perspektive, um aus diesem die visuelle Heuristik zur Beschreibung und Analyse des Films abzuleiten. An dieser Stelle steht das Notationssystem in seiner Konzeption und Funktion. Der dritte Teil geht auf die theoretischen Grundzüge einer Rhetorik des Films ein und hat vier Schwerpunkte: erstens ein Modell der rhetorischen Kommunikation, zweitens die rhetorischen Überzeugungsmittel logos, ethos und pathos, drittens die Topik als Instrument von Argumentation und Affekterregung und viertens die rhetorischen Figuren des Films. Mit der Übertragung der rhetorischen Theorie auf den Film in diesen zentralen Bereichen stelle ich vier Eckpfeiler der audio-visuellen Rhetorik vor und formuliere einen breiten Ansatz, der an vielen Stellen Anknüpfungspunkte für vertiefende Forschungen bietet.8 Der vierte Teil schließlich stellt die Fallstudie zum Werk Eisensteins vor, anhand derer die theoretischen Annahmen erprobt werden. In diesem Ansatz, mit dem ich mich an mehreren Stellen auseinandersetze (vgl. vor allem Kapitel 1.3.2.). Klaus Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik, München 2001, u. a. S. 77–86 und S. 91–101. Roy Clifton illustriert seine rhetorische Stiltheorie mit vielfachen Beispielen aus unterschiedlichen Genres, vgl. N. Roy Clifton: The Figure in Film, London, Toronto 1983. David Blakesley untersucht im 2004 erschienenen Sammelband zur visuellen Rhetorik die Filmrhetorik Alfred Hitchcocks, vgl. David Blakesley: Defining Film Rhetoric: The Case of Hitchcock’s Vertigo, in: Charles A. Hill, Marguerite Helmers (Hrsg.): Defining Visual Rhetorics, Mahwah, London 2004, S. 111–134. Auch in der vorliegenden Arbeit verweise ich an mehreren Stellen auf Filmbeispiele aus anderen Genres, um die Beschreibungskompetenz des Ansatzes zu verdeutlichen. 8. Bei der Übertragung der Wissensbestände der Rhetorik auf den Film liegt der Schwerpunkt insgesamt auf visuellen und audio-visuellen Parametern. Die verbale Rhetorik, die im Dialog der Schauspieler, in Texten des Erzählers oder in Zwischentiteln zu beobachten ist, wird an dieser Stelle nicht untersucht.
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1. Einführung
Rahmen diskutiere ich die These, ob Eisenstein bereits eine Rhetorik des Films avant la lettre formuliert. Den Abschluss bilden eine Zusammenfassung und ein Ausblick zur Rhetorik der audio-visuellen Medien.
1.1. Perspektiven einer aktuellen Rhetor ik Die jüngere Geschichte der Rhetorik ist von so tiefen Brüchen durchzogen, dass ein Niedergang ihrer langen Tradition zu befürchten war,9 ein Untergang ihrer umfangreichen Lehre und deren Ersetzung durch das, was sich hinter der Worthülse einer »reinen Rhetorik« verbirgt: eine Akrobatik mit Worten, deren Bedeutung selbst sich verflüchtigt. Gérard Genette verglich ihre Geschichte mit der des Chagrinleders,10 einer Ledersorte, deren Oberfläche durch Abnutzungs- und Schrumpfungsprozesse über die Zeit genarbt wird und uneben aussieht, ein mit Furchen durchzogenes Material, das seine ursprüngliche Ausdehnung verliert. So verbildlichte er eine Verengung der Theoriegeschichte, die sich über Jahrhunderte erstreckte und die er programmatisch als »rhétorique restreinte« 11 bezeichnete. Im Zuge des 18. und 19. Jahrhunderts verlor die Disziplin insgesamt in weiten Teilen ihre Bedeutung als eine kommunikative Handlungslehre,12 deren Kompetenz es war, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit als einen wichtigen Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenlebens zu etablieren. Dieses umfassende Verständnis findet sich in modernen Rezeptionen kaum noch wieder, so dass häufig nur noch Schwundstufen entworfen wurden.13 Nachfolgend ver9. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 2. Aufl., Bern, München 1953, S. 71–81. 10. Vgl. Chaïm Perelman: Das Reich der Rhetorik: Rhetorik und Argumentation, München 1980, S. 7; Gérard Genette: La Rhétorique restreinte, in: ders.: Figures III, Paris 1972, S. 21–40. 11. Vgl. ebd., S. 21f. 12. Vgl. Josef Kopperschmidt: Allgemeine Rhetorik: Eine Einführung in die Theorie der persuasiven Kommunikation, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973, S. 13ff. 13. Vgl. zur Darstellung der Thesen zu Niedergang und Renaissance der Rhetorik: Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik: Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 101– 110.
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schob sich der Schwerpunkt auf Teilaspekte des in der Antike entworfenen Lehrgebäudes, so dass hinter dem Lemma Rhetorik heute entweder eine reine Stiltheorie der rhetorischen Figuren vermutet wird, oder aber in der anwendungsorientierten Form ein Handbuch, das Präsentationstechniken zur Verfügung stellt. Doch gerade diese Reduzierungen laufen Gefahr, so die Kritik, die Rhetorik zu einem System kommunikativer Musterlösungen zu reduzieren und dabei ihren Bezug zur Kommunikationspraxis in ihrer Veränderlichkeit und dynamischen Entwicklung einzubüßen. Seit den 1970er Jahren wird nun im theoretischen Diskurs eine »Renaissance der Rhetorik«14 postuliert, die sich durch Reformulierungen der rhetorischen Lehren in den USA und Europa begründet. Es entwickelte sich eine Bandbreite von Neu-Konzeptionen des Rhetorik-Begriffs, die erneut die Frage nach ihrem Status im Kanon der Wissenschaften stellt. In dieser Linie sind auch die Beiträge der »New Rhetoric« zu sehen, die die umfassenden rhetorischen Wissensbestände der Antike aufgreifen und die Frage reflektieren, welche Bedeutung der Rhetorik als Theorie und Praxis des kommunikativen Handelns heute zukommen kann. Es gilt, so kann eine zentrale Forderung der »New Rhetoric« formuliert werden, den überlieferten Theoriebestand für zeitgenössische Kommunikationen zu adaptieren, Kommunikationen, die vom massiven Einsatz der Medien geprägt sind. Diese Renaissance bedeutet also gleichzeitig, dass die antiken Grundlagen erweitert werden, dass die Landkarte der Rhetorik, auf der ihre angestammten Gebiete verzeichnet sind, zum Teil neu gezeichnet wird, um den Veränderungen der Kommunikationen in der Moderne und Postmoderne Rechnung zu tragen. Wie ist der Ansatz zur audio-visuellen Rhetorik des Films vor diesem weit gespannten – und bisher gleichsam mit Bleistift skizzierten – Bogen einzuordnen? Er lässt sich von zwei unterschiedlichen Entwicklungslinien her nachzeichnen: zum einen von Reformulierungen der antiken Rhetorik durch die »New Rhetoric« wie auch die »Tübinger Rhetorik«, zum anderen von Forschungsergebnissen zur »Visuellen 14. Vgl. Helmut Schanze: Einleitung des Herausgebers, in: ders. (Hrsg.): Rhetorik: Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1974; Joachim Dyck: Einleitung: Rhetorik im 18. Jahrhundert, in: ders., Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Bd. 1, Stuttgart 1996, S. IX–XXVIII.
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1. Einführung
Rhetorik« und »Audio-visuellen Rhetorik«, die sich in den Kunst- und Medienwissenschaften und der Designforschung entwickelten. Diese Rhetoriken begrenzen sich nicht auf die Untersuchung verbalsprachlicher Äußerungen, sondern sie leisten eine Übertragung auf die vielfachen Facetten der medialen Kommunikation, sei es in Überlegungen zur rhetorisch-interaktiven Struktur des Internets 15 oder in Form einer rhetorisch-ikonografischen Analyse von Werbeanzeigen.16 Die erste Entwicklungslinie beginnt mit der Gruppe der »New Rhetoric«,17 die programmatisch eine Neuformulierung der Rhetorik betrieb. Die Bezeichnung einer neuen Rhetorik betont die gemeinsame Aufbruchsstimmung, die mit diesem Terminus verbunden wurde. Ein zentraler Gedanke, der für die Gruppe insgesamt steht, ist die Situierung der Rhetorik als »Grundwissenschaft«,18 die die Veränderungen des Kommunikationsverhaltens durch die Medien und deren Beeinflussungspotential problematisiert. Mit diesem Impetus knüpft die »New Rhetoric« an die Situierung des Lehrgebäudes im antiken Bildungskanon an, der die Rhetorik als ein grundlegendes und interdisziplinär angelegtes Studium vorsah. Kenneth Burke sticht hierbei besonders durch ein Konzept heraus, das eine Verbindung der antiken 15. Olaf Kramer: Das Internet in medialrhetorischer Perspektive, in: Joachim Knape (Hrsg.): Medienrhetorik. Tübingen 2005, S. 195–210. 16. Besonders Gui Bonsiepe leistete zur visuellen und audio-visuellen Rhetorik wichtige Beiträge aus der Sicht der Designforschung. Eine gute Übersicht über seine ersten Ansätze ist zu finden in: Gui Bonsiepe: Interface – Design neu begreifen. Mannheim 1996, S. 85–103. 17. Unter dem Begriff der »New Rhetoric« versammeln sich unterschiedliche Vertreter, die heterogene Konzepte einer heutigen Rhetorik repräsentieren. Fogarty benennt als ihre Hauptfiguren Kenneth Burke, Ivor A. Richards, Richard M. Weaver und die Allgemeine Semantik. Gemeinsame Idee dieser Gruppe ist es, durch eine Neuformulierung und eigentliche Wiederentdeckung der Rhetorik eine zeitgemäße Kommunikationstheorie zu schaffen. Vgl. Daniel Fogarty: Roots for a New Rhetoric, New York 1959, S. 122ff. Vgl. zur Darstellung der »New Rhetoric« auch: Hermann Holocher: Anfänge der »New Rhetoric«, Tübingen 1996, S. 2ff.; sowie: Olaf Kramer: Artikel »New Rhetoric«, in: Gert Ueding u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, [künftig zitiert als HWR], Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 259–288. In der vorliegenden Arbeit beziehe ich mich hauptsächlich auf die Ansätze von Burke. 18. Holocher: Anfänge der »New Rhetoric«, S. 8.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Rhetoriktheorien mit neueren Ansätzen der Kommunikationswissenschaften unternimmt. Er formuliert die Funktion der Rhetorik im gesellschaftlichen Kontext grundlegend als »the use of words by human agents to form attitudes or to induce actions in other human agents«.19 Mit dieser Definition öffnet er den Rhetorik-Begriff weit: Rhetorik ist die kommunikative Bezug- und Einflussnahme zwischen Menschen und übernimmt eine wichtige Funktion im gesellschaftlichen Zusammenleben. Kollektive Bedeutungssysteme können als rhetorisch verfasst angenommen werden, und sie sind konstitutiver Bestandteil eines jeden sozialen Gefüges. Hier knüpft auch die »Tübinger Rhetorik« an, wenn sie eine interdisziplinäre Konzeption der Rhetorik entwirft, die mit Nachdruck die Verbindungslinien zu antiken Rhetoriktheorien zieht. Gert Ueding formuliert ihr Programm wie folgt: […] [D]ie Vielfalt der Methoden und Richtungen sagt schon etwas über das Selbstverständnis der Tübinger Rhetorik aus, welche die reduktionistische Tradierung des Faches, die die meisten Rhetorik-Rezeptionen im 20. Jahrhundert kennzeichnet, überwinden möchte, um, anknüpfend an die traditionell fächerübergreifende Konzeption der Rhetorik, ihr in der europäischen Geschichte entfaltetes Verständnis als Theorie und zugleich integraler Bestandteil der lebensweltlichen Praxis sowie als humanwissenschaftliches Bildungssystem neu zu entwickeln und durchzusetzen.20
Die Rhetorik bezieht sich, so beschreibt es Ueding, nicht nur auf die strategisch konzipierte Rede, sondern reflektiert die Grundkonstituenten des kommunikativen Handelns im gesellschaftlichen Kontext, seine Orientierung und Praxis. In diesem Ansatz wird deutlich, dass eine Reduzierung der rhetorischen Theorie auf verbalsprachliche Kommunikation – auf die persuasive Rede – zu jenen reduktionistischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts gehört, von denen sich die »Tübinger Rhetorik« abgrenzt. Die audio-visuelle Rhetorik ist in dieser Perspektive im Rahmen der »Tübinger Rhetorik« anzusiedeln, da so die Forderung nach einer Einordnung der Rhetorik als übergreifende Theorie der kommunikativen Praxis eingelöst wird. Der vorliegende Ansatz gründet auf dieser Öffnung der Rhetorik durch die »New Rhetoric« und die »Tübinger Rhetorik« und geht von 19. Kenneth Burke: A Rhetoric of Motives, Berkeley 1984, S. 41. 20. Ueding, Steinbrink: Grundriss der Rhetorik, S. 198.
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1. Einführung
deren übergreifendem Konzept aus. Übergreifend insofern, als dass es als transdisziplinär aufzufassen ist: Die Rhetorik oszilliert zwischen den Disziplinen als eigenständiger Theoriebereich, der quer zum System der bestehenden Disziplinengrenzen steht. So greifen die Disziplinen immer wieder auf das rhetorische Grundwissen bei der Vermittlung zurück, wie auch die Rhetorik, konzipiert als Verbund von Theorien, die Grenzen überschreitet und thematische Verbindungen zu anderen Wissensgebieten wie der Medientheorie, der Pädagogik oder Sprach- und Literaturwissenschaft knüpft, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Frage, durch welche kommunikativen Mittel eine bestimmte Wirkung beim Adressaten hervorgerufen werden kann,21 bleibt dabei die Basis der Rhetorik, so dass die Beziehung zwischen der Produktion und der Adressierung eines Publikums immer mitgedacht wird. Einbezogen wird die ganze Vielfalt der Präsentationsmöglichkeiten – verbalsprachlicher, visueller, audio-visueller Art – sowie die Mittel der körperlichen Beredsamkeit. Durch eine so breit gefasste und historisch fundierte Konzeption kann der Rhetorik eine zentrale Rolle im Zusammenspiel der Wissenschaften eingeräumt werden, ohne in ein Konkurrenzverhältnis zu treten, da sie disparate und in der Moderne zersprengte Wissensbestände zusammenzuführen vermag. Die solcherart reformulierte Rhetorik stellt ein wirkungsmächtiges Instrumentarium für Analyse und Produktion von Kommunikationskontexten bereit, welches die Bedingungen seiner Möglichkeit mit reflektiert. So wird eine übergreifende Theorie formuliert, welche die Rhetorik aus der Reduzierung auf die – oft pejorativ deklarierte – »reine Rhetorik« der Rede herauslöst und das rhetorische Meinungswissen und seine Vermittlung in der Kommunikationspraxis etabliert. Die zweite Entwicklungslinie führt uns zur Rhetorik als Bildwissenschaft und wirft die Frage auf, ob Rhetorik und Bild je eine theoretische Verbindung eingegangen sind. Ist die »Visuelle Rhetorik« eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, oder gibt es nicht schon theoretische Vorläufer, deren Spuren lediglich verschüttet sind? Es geht also um die Möglichkeiten einer Übertragung der rhetorischen Theoriebestände auf visuell wirksame Artefakte – auf Bilder im weitesten Sinne. Ein solcher Theorie-Transfer vom Gegenstand der Sprache auf das Bild, so liefere ich bereits die Antwort auf die gestellte Frage, vollzog sich bereits 21. Dieses zentrale Prinzip expliziere ich unter dem Begriff der »Wirkungs-
intentionalität« im Laufe der Arbeit. Vgl. besonders Kapitel 1.2.
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in der Antike und Frühen Neuzeit an mehreren Punkten, und diesen Transfer gilt es, für die audio-visuelle Rhetorik wiederzuentdecken. Der damit einhergehende Perspektivenwechsel, der noch weiter zum bewegten Bild des Films zu entwickeln ist, schreibt eine Traditionslinie der Disziplin fort, die an unterschiedlichen Stellen der Theorie-Geschichte bereits begonnen wurde. Die Frage, ob die Rhetorik auch als eine Bildwissenschaft ausgewiesen werden kann, wurde somit bereits an früherer Stelle beantwortet. In welcher Form realisierte sich der theoretische Transfer und inwiefern kann man von einer rhetorischen Bildwissenschaft sprechen?22 Diese Frage ist eng mit der Einflussgeschichte der Rhetorik auf die Kunst- und Musiktheorie verwoben, die in der Forschung bereits umfassend nachgezeichnet wurde.23 Lars Olof Larsson fasst einige der Er22. Vgl. dazu Knape: Rhetorik, S. 134–148. Vgl. auch Kevin LaGrandeur: Digital Images and Classical Persuasion, in: Mary E. Hocks, Michelle R. Kendrick (Hrsg.): Eloquent Images: Word and Image in the Age of New Media, Cambridge, London 2003, S. 117–136, bes. S. 117–124. 23. Zur Rhetorik als Lehrgebäude der Malerei und Musik vgl. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 87f. Zur Einflussgeschichte der Rhetorik speziell auf die Musiktheorie vgl. Hans-Heinrich Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.–18. Jahrhundert, Würzburg 1941, Nachdruck: Hildesheim 2004; vgl. auch Andreas Liebert: Die Bedeutung des Wertesystems der Rhetorik für das deutsche Musikdenken im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993; vgl. auch Robert Guttmann: Versuch einer Metaphysik der Rhetorik in der Musik des 16.–18. Jahrhunderts, Münster 2003. Am Beispiel des Leon Battista Alberti verdeutlicht sich der Transfer des rhetorischen Vokabulars auf die Theorie der Bildenden Kunst der Renaissance: vgl. dazu Heiner Mühlmann: Ästhetische Theorie der Renaissance. L. B. Alberti, Bonn 1981; vgl. auch Norbert Michels: Bewegung zwischen Ethos und Pathos: Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988, bes. S. 9ff.; vgl. auch John R. Spencer: Ut Rhetorica Pictura: A Study in Quattrocento Theory of Painting, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 20, 1957, S. 26ff.; dt. Fassung: ders.: Ut Rhetorica Pictura: Eine Studie über die Theorie der Malerei des Quattrocento, in: Joseph Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik, Darmstadt 1990, S. 313–335; vgl. auch Michael Baxandall: Bartholomaeus Facius on Painting: A Fifteenth Century Manuscript of »De viris ilustribus«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 27, 1964, S. 90–107; und: ders.: Giotto and the Orators: Humanist Observers of Painting in Italy and the
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gebnisse zusammen und legt dar, wie in der Frühen Neuzeit die Terminologie und Theoriebildung der Rhetorik für die Kunsttheorie wie auch für den Diskurs über Bilder ganz allgemein bedeutsam wurden.24 Gleichzeitig beeinflusste die Rhetorik auch die Kunstpraxis, so dass, wie Larsson an einigen Beispielen nachvollzieht, Gemälde nach rhetorischen Kriterien der angemessenen Gestaltung entstanden. Durch diese Übertragung von Gestaltungsregeln wird deutlich, dass die Künste in der Frühen Neuzeit insgesamt als rhetorisch verfasst galten.25 Bezugspunkte ergeben sich insbesondere zu den Grundsätzen des decorum, zur Topik 26 wie auch zu den Produktionsstadien der Rede (inventio, dispositio und elocutio).27 Eine beispielhafte Figur, anhand welcher dieser Einfluss deutlich wird, ist Leon Battista Alberti und seine Schrift »Della pittura«.28 Wenn Discovery of Pictoral Composition 1350–1450, Oxford 1971; und: Joachim Knape: Rhetorizität und Semiotik, in: Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber (Hrsg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 507–532; vgl. auch Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance: Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1997, S. 105ff. Vgl. auch Wolfgang Brassat (Hrsg.): BildRhetorik, (Rhetorik: Ein internationales Jahrbuch, Bd. 24, hrsg. v. Manfred Beetz, Joachim Dyck, Wolfgang Neuber, Gert Ueding), Tübingen 2005. 24. Lars Olof Larsson: Der Maler als Erzähler: Gebärdensprache und Mimik in der französischen Malerei und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts am Beispiel Charles Le Bruns, in: Volker Kapp (Hrsg.): Die Sprache der Zeichen und Bilder, Marburg 1990, S. 173–189, besonders S. 174. 25. Vgl. Erwin Panofsky: Die Renaissance der europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 1979, S. 30f. Panofsky beschreibt, dass die Verflechtung von Kunst und Rhetorik in der Renaissance vor dem Hintergrund des humanistischen Einflusses von der Literatur hin zur Malerei und zu den übrigen Künsten zu verstehen ist. 26. Vgl. zum Einfluss der Topik auf Malerei, Architektur und Musik u. a. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topische Modelle in Theorie und Praxis der Renaissance, in: Ulrich Pfisterer, Max Seidel (Hrsg.): Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München, Berlin 2003, S. 11–20. 27. Vgl. Larsson: Der Maler als Erzähler, S. 173ff. 28. Leon Battista Alberti: De pictura/Della pittura, hrsg. von Cecil Grayson, London 1975. Dt. Fassung in: Leon Battista Albeti: Kleinere kunsttheoretische Schriften, hrsg. von Hubert Janitschek, Wien 1877, Nachdruck Osnabrück 1970.
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Alberti das decorum als »sittliches und gesellschaftliches Maß«29 auf die Geschichtsdarstellung der Malerei überträgt, bedeutet dies eine Ausrichtung am rhetorischen Eichungssystem. Seine Forderungen nach Kohärenz und Schicklichkeit der Darstellung, sowie nach Würde, Vielfalt, Zurückhaltung und Glaubwürdigkeit sind Kriterien, die zur Beurteilung der Angemessenheit herangezogen werden. Darüber hinaus belegen Albertis Überlegungen zur Stilhöhe der Darstellung sowie zur inventio der Malerei den Kategorientransfer aus der Rhetorik. Insgesamt legt Alberti, so stellt es Wolfgang Brassat30 dar, die erste systematische Theorie der Malerei auf rhetorischer Grundlage vor. Heiner Mühlmann fasst den Einfluss der Rhetorik noch weiter, wenn er formuliert, dass die Kunstregeln der Rhetorik in alle anderen Kunsttheorien dieser Epoche eingezogen seien31 – und er bezieht sich dabei sowohl auf Theorien der Bildenden Künste als auch auf die Architekturund Musiktheorie. Die Kunsttheoretiker der Renaissance haben das Band zwischen Rhetorik und Kunsttheorie jedoch nicht neu geknüpft, sondern sie legten Traditionslinien frei, schufen vielmehr eine Wiederentdeckung der rhetorischen Tradition für die Kunst, wie sie in der Antike prägend war. Die Verbindung war zunächst an eine Vorstellung einer Art natürlicher Verwandtschaft zwischen Poesie und Malerei gebunden, die sich in der Antike ausbildete und bis in das Mittelalter hinein ihre Wirkung zeigte. Für das 5. Jahrhundert v. Chr. wird Simonides von Keos der Ausspruch »das Gedicht sei ein redendes Gemälde und das Gemälde ein stummes Gedicht« zugeschrieben, der die Parallelisierung der beiden Schwesterkünste manifestierte. Horaz formulierte die Formel »ut pictura poesis«,32 wie die Malerei ist die Dichtung, und pointierte so die Übereinstimmung beider Künste. Hier wird die Auffassung deutlich, dass die Bildende Kunst und die Dichtkunst trotz ihrer unterschiedlichen Ausdrucksmittel – Gemälde versus Gedicht, Bild versus Wort – in analoger Weise wirksam seien. Aus dem Blickwinkel des künstlerischen Ausdrucks betrachtet werden sie folglich nur in der Wahl ihrer 29. Michels: Bewegung zwischen Ethos und Pathos, S. 10. 30. Wolfgang Brassat: Artikel »Malerei«, in: HWR, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 740–842. 31. Mühlmann: Ästhetische Theorie der Renaissance, S. 50. 32. Quintus Horatius Flaccus Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst, übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 1972.
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Mittel differenziert, lediglich der Grad ihrer Beredtheit variiert und kann sich auch stumm äußern. Diese theoretische Entwicklung nahm erst im 17. Jahrhundert mit einer systematischen Differenzierung von Wort und Bild in Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon« eine spürbare Wendung. Er teilte die Künste nach Raum- und Zeitaspekten auf: »[D]ie Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.« Auf diese Weise durchbrach er die Parallelisierung der Künste und differenzierte ihre Darstellungsweise: Die Malerei gestalte den Raum und sei gleichzeitig zu erfassen, wohingegen die Poesie sich in der Zeit artikuliere und folglich sukzessive zu rezipieren sei.33 Seit dieser theoretischen Zäsur ist die Trennung der Geschwister nicht mehr zu revidieren. Die heutige Gültigkeit der »Ut-pictura-poesis«-Formel diskutiert Gottfried Boehm im Rahmen der Kunsttheorie erneut. Im Anschluss an Lessing problematisiert er die angenommene Analogie zwischen visuellem und verbalem Zeichen in seiner Analyse visueller Topoi der Renaissance-Malerei.34 Er bezieht sich in der Diskussion insbesondere auf den narrativen Charakter der Malerei, den er im Tafelbild verwirklicht sieht. In diesem Genre finde sich eine vielschichtige Synthese von nonverbalen Zeichen, die »den rein visuellen Regeln einer a-verbalen geometrischen Logik«35 folgen, und einer »Historia«, die eine Verbindung zum Korpus religiöser Texte produziere, so Boehm. Aus dieser Verschränkung werden »sprachartige Inhalte«36 formuliert. Aus einem Zusammenspiel beider Aspekte, der non-verbalen Bildlogik und der »Historia«, ergebe sich die Rhetorik des Bildes. Es handelt sich also nicht um eine Versprachlichung des visuellen Gehalts der Malerei, um eine Transformation der visuellen Mittel in einen sprachlich verfassten Text, die die Rhetorik der Malerei kennzeichnet. Vielmehr geht es um die Verschränkung von visuellem und verbalem Inhalt im Bild selbst, die durch die Anknüpfung an Bildtraditionen wie an einen umfangreichen Textkorpus, ganz im Sinne einer ikonologischen Verbindung, entstehe. 33. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon – oder über die Grenzen der Male-
rei und Poesie, hrsg. v. Kurt Wölfel, Frankfurt a. M. 1988, S. 119. 34. Gottfried Boehm: Der Topos des Anfangs: Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance, in: Pfisterer, Seidel (Hrsg.): Visuelle Topoi, S. 48–60. 35. Ebd., S. 49. 36. Ebd.
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Aus Boehms Beitrag lässt sich folgern, dass die Topik des Bildes auf ein sprachlich vermitteltes Bedeutungssystem zurückgreift und nicht ohne dieses zu denken ist. Indirekt hat das Tafelbild folglich einen verbalen Gehalt, der wesentlich für die Interpretation der Bedeutung ist. Mit dieser Beschreibung wird die Trennung der Künste aufrechterhalten, der Schwerpunkt liegt jedoch auf der innermedialen Verschränkung von Bild und Sprache im Gemälde selbst. Nicht nur durch diesen Beitrag wird deutlich, dass eine einfache Parallelisierung von verbaler und visueller Kommunikation im Sinne der »Ut-pictura-poesis«-Formel heute keine Gültigkeit für die Theoriebildung mehr haben kann, denn ihren Endpunkt stellt bereits die Laokoon-Debatte dar. Trotzdem fanden sich noch in den 1970er Jahren Versuche, diese Parallelisierung wiederzubeleben, und zwar für den Film. Dahinter verbarg sich die Forschungsfrage, ob Film insgesamt als eine Sprache aufgefasst werden könne, deren distinkte Einheiten und Grammatik analog zur verbalen Sprache zu bestimmen seien. Eine solche Filmsprache sollte die theoretische Grundlage der Filmsemiotik bilden, so dass auf dieser Basis die Methoden der Sprachwissenschaften auch für den Film Anwendung finden könnten. Mit der Suche nach sprachanalogen Strukturen im Film, also nach Wort- und Satzstrukturen sowie nach den kleinsten zeichentheoretisch zu bestimmenden Einheiten,37 sollte ein systematisches Sprachmodell des Films entstehen, das über eine eigene Semantik, Syntax und Pragmatik verfügt. Dieser Ansatz suchte nach einem Paradigma im Sinne einer »wie die Sprache, so der Film«-Formel, und überging mit diesem Bemühen die Lessingsche Distinktion der Künste. Christian Metz und Umberto Eco legten schließlich die mangelnde Tragfähigkeit des Ansatzes offen.38 Ein eng gefasstes semiotisches Modell kann, so lässt sich bis hierhin folgern, nicht die Grundlage der Filmrhetorik bilden. Der Kategorientransfer von einer Theorie der Rede zu einer medienübergreifenden Rhetorik fußt nicht auf dieser zu kurz greifenden Gleichsetzung, sondern begreift die rhetorischen Kommunikationstechniken und ihr 37. Vgl. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 256– 260; vgl. auch Pier Paolo Pasolini: Die Sprache des Films, in: Friedrich Knilli (Hrsg.): Semiotik des Films, Frankfurt a. M. 1971, S. 38–55. 38. Vgl. Christian Metz: Probleme der Denotation im Spielfilm, in: ders.: Semiologie des Films, München 1972, S. 151–198, bes. S. 154–164; vgl. auch Eco: Einführung in die Semiotik, S. 250–262.
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zugrunde liegendes System als medienübergreifend gültig. Dass sich in der Anwendung in den jeweiligen Mediensystemen Unterschiede ergeben, ist logisch nachvollziehbar, da es sich um unterschiedlich kodierte Systeme handelt. Eine Argumentation wird im Film ganz anders aufgebaut werden als in einer Rede, sie wird sich der suggestiven Kraft des Bildes bedienen, wird mit der visuellen Evidenz arbeiten, wohingegen die verbale Argumentation mehr auf rationalen Schlussfolgerungen beruht. So ist es unumgänglich, das rhetorische System des Films en detail zu untersuchen und seine Spezifik aufzudecken, es mit der Rhetorik der Rede zu konfrontieren und auf diese Weise zu seiner medienübergreifenden Konstituenten vorzudringen. So geht es um den Transfer des medienübergreifenden Regelwerks der Rhetorik, der nach Kriterien der Wirkungsintentionalität und der angemessenen Gestaltung vollzogen werden kann. Mit Bezug auf diese Konzepte wird die Rhetorik als Beschreibungsmodell für visuelle und audio-visuelle Medien ausgewiesen, und dabei liegt der Fokus auf dem Wirkungszusammenhang und der kommunikationstechnischen Basis. In dieser Perspektive wird die Rhetorik nicht lediglich zu einer allgemeinen Bildwissenschaft, sondern sie lässt sich als medienübergreifende Kommunikationstheorie mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse – dem nach der rhetorischen Regelbasis der Kommunikation – beschreiben. Dies ist ein Kernpunkt der audio-visuellen Rhetorik, weil durch dieses Erkenntnisinteresse ihre Differenz zu allgemeinen Medientheorien deutlich wird. Sie gewinnt so den Status einer Meta-Theorie, die weit über ihren primären Gegenstand hinaus zu einer Theorie der wirkungsbezogenen, transmedialen Kommunikation wird. In der heute virulenten Frage nach einer Wissenschaft, die sich der spezifischen Ausdruckskraft visueller und audio-visueller Zeichen widmet,39 kann die Rhetorik in der hier beschriebenen Form eine wichtige Rolle spielen. Wenn sich der analytische Umgang mit Bildern aus dem deskriptiven Paradigma löst und sich hin zu einer vielschichtigen Betrachtung der Kommunikationsformen und Wirkungszusammenhänge visueller und audio-visueller Zeichensysteme entwickelt, stellt sich 39. Vgl. Klaus Sachs-Hombach: Konzeptionelle Rahmenüberlegungen zur interdisziplinären Bildwissenschaft, in: ders.: Bildwissenschaft, S. 11–20; vgl. auch ders.: Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005; vgl. auch Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt, Gundolf Winter (Hrsg.): Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin 2005, S. 9–14.
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die Frage nach tragfähigen theoretischen Modellen – und so bietet sich die Rhetorik an. Es handelt sich in der hier formulierten Konzeption um eine semiotisch informierte Rhetorik, die Erkenntnisse der Zeichentheorie einbezieht. Als Theoriegebäude geht sie jedoch über die Modelle der Bild- und Filmsemiotik hinaus und setzt den analytischen Fokus weiter. Wenn also Gottfried Boehm für die Bildwissenschaften die neue ikonische Wende (iconic turn) nach der linguistischen Wende (linguistic turn) beschwört,40 so sehen wir uns einer neuen Fragestellung gegenüber: Nicht mehr der Frage, inwieweit das linguistische Strukturmodell auf andere Kommunikationssysteme übertragen werden kann, sondern der Frage, welcher spezifischen Methoden und theoretischen Konzepte sich eine Bildforschung bedienen kann. Meiner Ansicht nach geht es dabei um die Suche nach Ansätzen, die in transdisziplinärer Weise kooperieren und die durch das gemeinsame Erkenntnisinteresse vereint werden, nämlich an dem epistemischen Status des Bildes. In der Verschränkung der rhetorischen Wissensbestände mit neueren Ansätzen der Designforschung, der ich das hier vorgestellte Notationssystem zuordne, entsteht insgesamt ein tragfähiges Konzept für die Analyse visueller Zeichensysteme – und damit auch ein Beitrag zur Diskussion um die Bildwissenschaft.
1.2. Potentiale der audio-visuellen Rhetor ik Die audio-visuelle Rhetorik beschreibt die Kommunikation mit elektronischen Medien, die in zwei Gruppen gefasst werden können: die interaktiven Medien wie CD-ROM und DVD, Video- und Online-Games, Internetseiten und Software-Applikationen, und die nicht interaktiven Medien, unter die die meisten Arten von Filmen fallen, etwa Spielfilm, Werbespot, Animation und Trailer. Nur für diese zweite Gruppe werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit die theoretischen Grundzüge entwickelt, wodurch die Filmrhetorik als ein Teilbereich der audio-visuellen Rhetorik ausgewiesen wird. Die Separation in die beiden Gruppen von Medien durch das Differenzkriterium Interaktion hat den Grund, 40. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38. Vgl. auch Hubert Burda, Christa Maar (Hrsg.): Iconic Turn: Die neue Macht der Bilder, Köln 2004.
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dass sich durch die Möglichkeit des Eingriffs durch einen Nutzer ein signifikant anders strukturiertes Zeichensystem ergibt. Durch dieses Eingreifen ist das Zeichensystem nicht in seiner syntaktischen und semantischen Struktur festgelegt. Die Verknüpfungen einzelner Elemente, sei es durch die Navigation von einer Website zu einer anderen mittels Hyperlink oder die Beeinflussung des Spielverlaufs durch die Interaktion des Nutzers in einem Game, werden situativ entschieden und sind veränderbar. Das Genre des Games ist zudem ein gutes Beispiel dafür, dass der Verlauf der gesamten Erzählung von Verhalten des Nutzers abhängt, wenn auch die möglichen Variationen wiederum endlich sind. Dieser strukturelle Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist dafür ausschlaggebend, dass sie, obwohl beide auf einer audiovisuellen Kodierung beruhen, von ihrer theoretischen Explikation her unterschieden werden müssen. Meine Annahme ist, dass sich hinsichtlich der Kriterien für Aufbau und syntaktische Struktur größere Unterschiede in der theoretischen Konzeption ergeben, dass jedoch in Bezug auf andere Teilbereiche der Rhetorik, wie die Techniken der Affekterregung, die Topik oder die Stillehre, weitgehende Übereinstimmungen auszumachen sind. Die Verifikation dieser Annahme steht jedoch aus, da in diesem Bereich bisher kaum Forschungsergebnisse vorgelegt werden konnten. Die Filmrhetorik, als Teil der audio-visuellen Rhetorik, beschreibt den Film als regelbasiertes Kommunikationssystem. Sie ist als ein alternatives Beschreibungsmodell aufzufassen, das sich mit seinem spezifischen Fokus von bestehenden filmwissenschaftlichen Ansätzen abgrenzt, etwa von filmhistorischen Modellen, von der »klassischen« Filmtheorie oder auch von neueren Ansätzen der »Cultural Studies«. Wenn Film als rhetorische Kommunikation beschrieben wird, zeigt sich darin ein neuer theoretischer Ansatz, den ich als Forschungsdesiderat bezeichnet habe. Das Potential, die rhetorische Verfasstheit filmischer Kommunikation aufzudecken und zu beschreiben, verspricht, neue Perspektiven für die Medienanalyse und gleichzeitig auch für die Medienpraxis zu entwerfen. Zielsetzung dieser Arbeit ist es darum, dieses Potential zu beschreiben und exemplarisch anhand einer Fallstudie zu belegen. Wenn das Potential einer solchen Theorie so groß ist, was sind dann die Gründe dafür, dass sich bis heute keine medienorientierte Rhetorikforschung auf breiter Basis etablieren konnte? Bisher scheint sich die Rhetorik weiterhin auf die Untersuchung von Redesituationen 27
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zu beschränken. Erst in den letzten Jahren sind einzelne Ansätze zu verzeichnen, die die Kommunikation mit Massenmedien untersuchen, darunter insbesondere einzelne Aspekte des Hörfunks, des Theaters oder des Films. Martin Medhurst und Thomas Benson beantworten die Frage aus Sicht des »Rhetorical Criticism«. Für sie ist die tradierte Distinktion zwischen Poetik und Rhetorik, die bereits Aristoteles festschreibt, ein Grund dafür, dass sich die Rhetorik als eine reine Theorie der Rede festzuschreiben droht. Sie vertraten bereits in den 1980er Jahren den Standpunkt, dass die Debatte um diese Distinktion neu entschieden werden müsse, um eine umfassende rhetorische Kommunikationstheorie der Medien zu etablieren.41 Beide Autoren sind der Auffassung, dass die Vorherrschaft der Poetik als Theorie der Künste einen rhetorisch geprägten Ansatz der medialen Kommunikation gehemmt hat, dass sich also durch diese Vorherrschaft die Rhetorik in ihrem Einflussgebiet beschränken musste. Erst eine grundsätzliche neue Definition des Verhältnisses könne den Boden für neue Ansätze bereiten. Mit dieser Forderung stimme ich überein: Um das Feld für neue Forschungsansätze zu öffnen, ist es notwendig, die strikte Trennung zu überdenken. Auch heute noch ist zu beobachten, dass es die weitgehende Fokussierung der Rhetorik auf die Rede mit sich bringt, dass die Massenmedien wie auch die »Neuen Medien« kaum nach rhetorischen Aspekten untersucht werden, obwohl in diesem Gebiet interessante Ergebnisse zu erwarten sind. Gerade diese Art der medialen Kommunikation, ihr Produktionszusammenhang und ihre gestaltungspraktische Grundlage sind bisher in zu geringem Maße theoretisch unterfüttert oder praktisch erforscht worden. In dieser Richtung stehen weitere Untersuchungsergebnisse aus. Die Grundlage dafür ist, dass ein Werk, unabhängig von dem Medium, in dem es realisiert wird, weniger als eine ästhetische Kontemplation angesehen wird, sondern vielmehr als ein Instrument der Kommunikation. Dann ist die Rhetorik, so die hier vertretene These, das geeignete System zur Untersuchung.42 Wayne Booth und Kenneth Burke haben einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion geleistet: Beide forcierten die generelle Öffnung der 41. Martin Medhurst, Thomas Benson: Rhetorical Dimensions in Media: A Critical Casebook, Dubuque 1984. 42. Vgl. Edward Corbett (Hrsg.): Rhetorical Analysis of Literary Works, New York 1969, S. XXII.
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Rhetorik für unterschiedliche Untersuchungsgegenstände, auch für jene, die ihr nicht traditionell zugeordnet werden. Die Konsequenz daraus war eine weitgehende Nivellierung der Unterscheidung zwischen Rhetorik und Poetik. So ist für Booth Dichtung in der Gesamtheit rhetorisch strukturiert,43 und auch für Burke ist die Rhetorik ein inhärenter Teil der Poetik wie auch kommunikativer Prozesse insgesamt. Die Produktionsinstanz, die rhetorisch tätig wird, selektiere und bewerte, so Burke, bestimmte Teile der poetischen Struktur, um den Adressaten zu einer bestimmten Interpretation einzuladen.44 Mit dieser Position stellen Booth wie auch Burke wichtige Gewährsmänner für die Theorie der audio-visuellen Rhetorik dar und begründen die theoretische Basis für eine Öffnung der Rhetorik.45 Ein zweiter Aspekt ist für die Erläuterung der Frage wichtig, warum es bisher nicht zu einer breit angelegten Forschung zur Rhetorik der Medien gekommen ist. Dieser Aspekt ist mit der Diskussion um die Trennung von Poetik und Rhetorik eng verschaltet: Es geht um die Frage nach einem persuasiven Kern der Rhetorik. Wenn wir von einer Rhetorik-Definition ausgehen, die die Überzeugung des Adressaten in den Vordergrund stellt, so resultieren daraus einige theoretische Fallstricke. An welchem Punkt kann man von einem persuasiven Ziel sprechen? Ist dieses Ziel für den Film beispielsweise an bestimmte Genres gebunden, die als persuasiv wirksam gelten, wie Werbung oder Propaganda? 43. Wayne Booth: The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961. 44. So definiert Burke die Form als »the arousing fulfillment of desires«, Kenneth Burke: Counter-Statements, 1931, Neuauflage Berkeley 1968, S. 124. 45. Die Aufweichung der Trennung zwischen Poetik und Rhetorik ist insgesamt als eine Position der »New Rhetoric« zu sehen. So formulieren auch Medhurst und Benson die Zielsetzung der neuen Rhetorikforschung in dieser Perspektive: »Rhetorical critics are using aspects of the rhetorical tradition to extend our understanding of symbolic actions in all media.« Medhurst, Benson: Rhetorical Dimensions, S. XIX. Diese Position geht auf Burke zurück, der betont, dass das Erkenntnisinteresse von größerer Bedeutung sei als die Diskussion um eine distinkte Trennung rhetorischer versus poetischer Belange. Burke formuliert: »We are more interested in bringing the full resources of Poetics and Rhetorica docens to bear upon the study of a text than in trying to draw a strict line of demarcation between Rhetoric and Poetics«. Kenneth Burke: Language as Symbolic Action: Essays on Life, Literature and Method, Berkeley 1966, S. 307.
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Wenn wir die Öffnung der Rhetorik für andere Medien als die Rede annehmen, bleibt also zunächst die Frage offen, ob nur solche mediale Kommunikation als rhetorisch strukturiert angenommen werden kann, die persuasive Zwecke verfolgt. Offen bleibt auch die schwierige Frage, welche Kriterien angesetzt werden könnten, um die persuasive Absicht einer Kommunikation zu bestimmen. Wirkt ein Film wie Paradise Now persuasiv, wenn er zwei palästinensische Selbstmordattentäter bei einem Attentat auf israelische Bürger zeigt? Oder ist ein Krimi im Fernsehen als Werbung und damit als persuasiv zu bezeichnen, wenn er mit offensichtlichem »Product-Placement« arbeitet? Für die audio-visuelle Rhetorik würde es insgesamt eine Verengung der Perspektive bedeuten, wenn es um einen eng gefassten Begriff der Persuasion ginge. Medhurst und Benson führen für diese Problem den Begriff der »rhetorischen Dimension« der Medien ein. Sie definieren so, dass in den meisten Kommunikationsformen auch persuasive Anteile auszumachen sind. Ich argumentiere jedoch auf eine andere Art und gehe damit einen Schritt weiter als die beiden Autoren: Um den Untersuchungsgegenstand weiter zu fassen und so das Feld für die Forschung der audio-visuellen Rhetorik zu öffnen, konfrontiere ich die Persuasion mit dem Begriff der Wirkungsintentionalität. Mit diesem Begriff beschreibe ich den Grundsatz, dass mit der rhetorischen Kommunikation eine bestimmte Wirkung auf den Adressaten intendiert wird, die sich nicht unbedingt auf eine Überzeugung im engeren Sinne bezieht.46 So ist für die Filmrhetorik die Initiierung eines Standpunktwechsels beim Adressaten lediglich der Extremfall der rhetorischen Kommunikation, ein intendierter Handlungsimpuls, wie ihn Joachim Knape beschreibt, also nur eine der möglichen Folgen. Die Adressierung eines Publikums, die Erweckung und Lenkung seiner Aufmerksamkeit und die affektive Stimulierung sind die Ziele der Filmrhetorik, durch sie kann der Erfolg eines Produktes gewährleistet werden. Wirkung bedeutet folglich ein Einwirken auf den Adressaten, es bedeutet, ihn mit kommunikativen Mitteln zu erreichen und zu stimulieren, und diese Wirkung ist intendiert, da von ihr im ganz engen Sinne der Erfolg 46. Die Persuasion initiiert einen Standpunktwechsel seitens des Adressaten, so definiert es Knape. Er beschreibt die Rhetorik als persuasiv in einem lenkenden Sinne: Ziel des rhetorischen Handelns sei die »Lenkung des Denkens des anderen nach dem auf Veränderung gerichteten Metabolieprinzip«. Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 79f.
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eines Films abhängt. Misslingt das Einwirken auf das Publikum, so entsteht taedium, Langeweile, und die Konsequenz daraus ist, dass ein Film »floppt«, dass er auf dem Markt keinen Erfolg hat. Eine rhetorisch gelungene Adressierung des Publikums, mit dem Ziel, es zu unterhalten, zu schockieren, zu rühren, ist also ganz im Interesse des Regisseurs und des Produktionsteams, es stellt ein wichtiges Kriterium für die Filmgestaltung dar. In dieser Perspektive ist die Rhetorik nicht an eine bestimmte, überzeugende Nachricht gekoppelt, denn auch bei Unterhaltungsfilmen handelt es sich um rhetorisch strukturierte Medien. Der zeitgenössische Action-Adventure-Film etwa will unterhalten, ist dabei auf seinen kommerziellen Erfolg angewiesen und arbeitet mit starken Affektmitteln, um die Verführung durch das »Kino-Erlebnis« zu perfektionieren. Der Erfolg hängt von einer überzeugenden Präsentation ab wie von der erfolgreichen Etablierung einer (affektiven) Wirkung auf den Zuschauer. Mit dieser Verschiebung des Schwerpunkts von der Persuasion hin zur Wirkungsintentionalität der Rhetorik findet mein Ansatz seine theoretische Begründung. Nach rhetorischen Kriterien können demnach alle Arten der medialen Kommunikation untersucht werden, die auf einer Wirkungsintentionalität beruhen, mit denen also ein Publikum adressiert wird. Mit dieser Setzung wird lediglich jene Form der Kommunikation ausgeschlossen, die zufällig oder unbeabsichtigt erfolgt, etwa in Form von nicht-sprachlichen Äußerungen ohne kommunikatives Ziel. Auf dieser Grundlage entwickle ich für die rhetorische Filmtheorie vier zentrale Forschungsthesen: 1. Die Gestaltung des Films unterliegt kommunikativen wie medienspezifischen Techniken und Regeln, die als eine Rhetorik des Films ausgewiesen werden können. 2. Die Rhetorik beschreibt medial vermittelte Kommunikation nach Kriterien der Wirkungsintentionalität. 3. Die Rhetorik kann als Kommunikationstheorie Film spezifisch beschreiben, und Film ist in seiner Praxis rhetorisch verfasst. Darin spiegelt sich die Verschränkung von Theorie und Praxis, von rhetorica docens und rhetorica utens wider. 4. Die Rhetorik beschreibt den systemischen Zusammenhang zwischen Rhetor, Medium und Adressat im Kommunikationsprozess.
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Die erste These zeigt, dass mit der Rhetorik des Films seine Gestaltungsregeln beschrieben werden. Dazu steht das umfangreiche Erfahrungswissen der Disziplin um die rhetorischen Kommunikationstechniken zur Verfügung. Die audio-visuelle Rhetorik nutzt dazu die bestehende differenzierte Terminologie und kann diese gleichzeitig um medienspezifische Komponenten erweitern. Die zweite These habe ich bereits hergeleitet: Als treibende Kraft der Rhetorik, als ihr Motor fungiert die Wirkungsintentionalität. Ohne sie entsteht keine rhetorische Kommunikation, ohne die Intention, beim Adressaten eine Wirkung zu etablieren, hat der Rhetor keinen Anlass, in Aktion zu treten. Die dritte These bezieht sich auf die Verschränkung von Theorie und Praxis, mit der sich zwei Zugänge zum medial vermittelten Kommunikationsakt eröffnen. Einerseits geht es um den Einfluss rhetorischer Strategien auf den produktiven Prozess der Gestaltung, andererseits um die Anwendung rhetorischer Kategorien zur Analyse des filmischen Zeichensystems. Rhetorik stellt sich folglich als Generierungssystem und Analyseinstrument dar.47 Diese doppelte Perspektive formuliert Umberto Eco in seiner Definition der modernen Rhetorik, wenn er sie einerseits als generative Technik zur Erzeugung von persuasiven Argumentationen beschreibt, andererseits als Sammlung von kodifizierten Lösungen zur effizienten Kommunikation bezeichnet, das heißt als Repertoire von Mustern und Motiven mit bestimmtem konnotativen Gehalt.48 Auch Helmut Schanze formuliert diese Perspektive und bezieht sich an dieser Stelle explizit auf multimediale Texte: die Rhetorik könne »als Produktions- wie auch als Analysesystem für Texte im weitesten Sinn, auch multimediale«49 fungieren. Meine zweite Arbeitsthese kann nachfolgend genauer differenziert werden. Der Einfluss der Rhetorik auf den Film zeigt sich: 47. Zur begrifflichen Differenzierung der Rhetorik als »Generierungssystem« und »Analyseinstrument« vgl. Heinrich Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1985, S. 3f. 48. Vgl. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 184f. 49. Helmut Schanze: Rhetorisches Besteck: Anmerkungen zur Rhetorikforschung vor und nach der Postmoderne, in: Neue Tendenzen der Rhetorikforschung, (Rhetorik: Ein internationales Jahrbuch, Bd. 21, hrsg. von Manfred Beetz, Joachim Dyck, Wolfgang Neuber, Gert Ueding), Tübingen 2002, S. 28–36, hier S. 33.
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als Rhetorik des Produktionsprozesses: als eine Sammlung von kommunikativen Strategien und Mustern, die in der Zeichenproduktion durch die Produktionsinstanz (den Rhetor) angewandt werden; als rhetorische Filmanalyse: zur analytischen Durchdringung filmischer Zeichensysteme mit der Zielsetzung, die argumentativen, affektiven und stilistischen Konstruktionsprinzipien offenzulegen.
Gerade in der Verschränkung dieser beiden Seiten der Rhetorik liegt ihr theoretisches Potential: Produktionsprozess und Analyse können in Abhängigkeit voneinander beschrieben werden, so dass die Ergebnisse jeweils in die Theoriebildung wieder eingespeist werden können. Die vierte These nimmt die Kommunikation als Interaktionszusammenhang in den Blick – eine Perspektive, die ihren Prozesscharakter hervorhebt. Schwerpunkt ist der kommunikative Wirkungszusammenhang zwischen der Produktionsinstanz (dem Rhetor), seiner Konzeption der Kommunikation und der Ausrichtung auf einen Adressaten. Der Kommunikationsprozess und die Interaktionen zwischen den beteiligten Instanzen sind somit im Blickfeld der rhetorischen Analyse – eine Perspektive, die von bestehenden filmwissenschaftlichen Ansätzen bisher nur wenig wahrgenommen wurde. Dabei geht es insbesondere um die Beschreibung aus der Perspektive der Produktionsinstanz: um die strategischen Überlegungen, mit welchen kommunikativen Mitteln potentiell eine bestimmte Wirkung beim Adressaten erzielt werden kann, um den Einsatz dieser Mittel bei der Gestaltung und um die Evaluation des Erfolgs der Mittel.50 Diesen Wirkungszusammenhang beschreibe ich zu einem späteren Zeitpunkt als eine »rhetorische Maschine«, als das funktionale Herzstück rhetorischer Kommunikation. Diese Maschine bildet den systematischen Rahmen der Theorie.
50. Dieser Wirkungszusammenhang wird im Modell der rhetorischen Kommunikation beschrieben, das im Rahmen dieser Arbeit speziell für das Medium Film entwickelt wird. Vgl. Kapitel 3.1.
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1.3. Forschungsber icht Zu einer rhetorischen Theorie des Films gibt es bis heute einige Ansätze, über die ich im Folgenden einen Überblick gebe. Die Mehrzahl der Beiträge entstammt dem »Rhetorical Criticism« in den USA und ist somit den Konzepten der »New Rhetoric« geschuldet. Nur vereinzelt kam es zu Beiträgen aus dem deutschsprachigen Raum, aus Frankreich, Italien oder Skandinavien. Sie beziehen sich meist nicht aufeinander, so dass es bisher zu keiner systematisch ausgearbeiteten theoretischen Grundlegung für eine Rhetorik des Films gekommen ist. Darüber hinaus befassen sich einige Ansätze ausschließlich mit Teilgebieten der Rhetorik: mit einer Figurenlehre des Films oder mit der persuasiven Dimension rhetorischer Rede im Kontext von Werbung oder Propaganda. Um einen Überblick über den Stand der Forschung zu geben, stelle ich zunächst Beiträge zu einer Stilistik des Films vor, um anschließend thematisch weiter gefasste Beiträge zu Film und Rhetorik zu diskutieren.
1.3.1. Figurenlehren des Films In den 1960er Jahren und nachfolgend entwickelten sich unterschiedliche Ansätze zu einer visuellen Rhetorik, die zum Teil semiotisch geprägt waren. Sie sind insofern als Vorläufer einer audio-visuellen Rhetorik des Films zu sehen, als dass sie rhetorische Theoriebestände auf visuelle Phänomene übertragen, wenngleich es dabei nicht um Film, sondern insbesondere um Werbegrafik ging. Untersucht wurden die kommunikativen Funktionen des Bildes und von Text-Bild-Ensembles im Rahmen von Werbeanzeigen. Daraus entwickelten vor allem Gui Bonsiepe, Roland Barthes und Umberto Eco Ansätze zu einem System visueller Stilfiguren, das die Ensembles als rhetorische Figurationen beschreibt. Besonders Barthes’ Beitrag zu einer »Rhetorik des Bildes«51 und Ecos Analysen der »Reklame-Botschaft«52 sind hier als einflussreiche Beispiele zu nennen. Barthes skizziert in seinem vielzitierten Essay grundlegende Gedanken zu einer Bildtheorie, die sich nur lose an der Rhetorik orientiert und vielmehr semiotische – oder, nach Barthes, semiologische – Grundzüge trägt. Auch Eco geht mehr auf se51. Roland Barthes: Rhetorik des Bildes, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 1990, S. 28–46. 52. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 267–275.
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miotische Aspekte des Bildes und seiner Kodierungen ein, beschreibt jedoch auch einige rhetorische Ansätze näher, etwa zu Aspekten der Topik, der Figurenlehre und, in knapper Form, zur Argumentation. Beide Ansätze sind jedoch als Skizzen zu sehen, denen keine stringente Theoriebildung folgte. Aus der frühen Designforschung entstammen weitere wichtige Beiträge: So behandelt Tomàs Maldonado bereits 1957 in einem Seminar an der Hochschule für Gestaltung Ulm das Thema »Neorhetorik« als eine Perspektive der Designforschung. Bonsiepe entwickelte diesen Ansatz in differenzierter Weise weiter und legte 1961 einen ersten Katalog visuell/verbaler Figuren vor – die erste systematische Liste visuellverbaler Figuren der Werbung, an der sich viele der nachfolgenden Ansätze orientierten.53 Er zielte jedoch über eine reine Stiltheorie hinaus, indem er die Forderung nach einer gegenseitigen Befruchtung und Kooperation von Theorie und Praxis im Design formulierte. So übernimmt die Rhetorik auch für Bonsiepe die Rolle einer übergreifenden Kommunikationstheorie, die beide Seiten verbindet. Auch wenn sich die Erprobung der Rhetorik in seinem ersten Beitrag auf eine Stiltheorie beschränkte, so ist eine weiterführende Perspektive hier bereits entworfen, eine Perspektive, die auch heute noch für die Designtheorie von Bedeutung ist.54 Die neueren Beiträge zur visuellen Rhetorik der Werbung von Sharon Poggenpohl55 und Hanno Ehses56 sind als Weiterführung der visuellen Rhetorik zu sehen, die für das Design inzwischen einen tragfähigen 53. Dieser Katalog und seine theoretische Herleitung wurden mehrfach überarbeitet, bis sie 1965 in der Zeitschrift der HfG Ulm nochmals veröffentlicht wurden. Gui Bonsiepe: Persuasive Communication: Towards a Visual Rhetoric, in: Theo Crosby (Hrsg.): Uppercase, Nr. 5, London 1961, S. 19–34; ders.: Visuell/ verbale Rhetorik, Visual/verbal Rhetoric, in: ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung 14/15/16, Ulm 1965, S.23–40, überarbeitete Neuversion in: ders.: Interface – Design neu begreifen, Mannheim 1996; auch: [http:// www.guibonsiepe.com/pdffiles/rhetorik.pdf], (letzter Zugriff am 17.03.2008). 54. Vgl. Gesche Joost: Audio-visuelle Rhetorik und Informationsdesign, in: Maximilian Eibl, Harald Reiterer, Frank Thissen, Peter Friedrich Stephan (Hrsg.): Knowledge Media Design – Grundlagen und Perspektiven einer neuen Gestaltungsdisziplin, München 2007. 55. Sharon H. Poggenpohl: Visual Rhetoric: An Introduction, in: Visible Language, Chicago 1998 (32), Nr. 3, S. 197–199; dies.: Double Damned: Rheto-
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Rahmen zur Beschreibung stilistischer Parameter der grafischen Gestaltung entwickeln konnten. Der 2004 erschienene Sammelband »Defining Visual Rhetorics«57 belegt zudem das anhaltende Interesse an einer rhetorischen Theorie des Visuellen, zeigt jedoch ebenfalls auf, dass zur systematischen Theoriebildung in diesem Bereich noch weitere Forschungsarbeit aussteht. Es ist wiederum Gui Bonsiepe, der die theoretische Entwicklung für das Design in den letzten Jahren weitergetrieben hat: er entwickelte die »visuell/verbale Rhetorik« bis heute konsequent weiter, so dass er seit Ende der 1990er Jahre Forschungsergebnisse zur »Rhetorik der AudioVisualistik« und zu einer »digitalen Rhetorik« vorstellt.58 An dieser Stelle ist auch der Übergang zu einer Rhetorik des bewegten Bildes zu sehen, die sich nicht mehr auf Werbegrafiken beschränkt, sondern mediale Produkte insgesamt, speziell Film und digitale Medien, in den Blick nimmt. Schwerpunkt seiner »Rhetorik der Audio-Visualistik« ist eine praxistaugliche Theorie der Rhetorik, die sich für das Design als Instrument zur analytischen Durchdringung der Gestaltungspraxis darstellt. Die Rhetorik ist in dieser Perspektive ein System zur Beschreibung der gestaltungstechnischen Kompetenzen des Designs. Dabei geht es weniger um eine systematische Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen einer medialen Rhetorik oder um eine Untersuchung der Anwendbarkeit der klassischen Rhetorik en detail. Vielmehr überschreitet Bonsiepe die disziplinären Grenzen und setzt auch visuelle Mittel zur Forschungsarbeit ein. So entwickelt er unterschiedliche Skizzen zu einer visuellen Heuristik, um damit audio-visuelle »Patterns« der Medien zu rical and Visual, in: ebd., S. 200–234. Vgl. auch Charles Forceville: Pictoral Metaphor in Advertising, London, New York 1996. 56. Hanno Ehses: Representing Macbeth: A Case Study in Visual Rhetoric, in: Design Issues, Bd. 1, Nr. 1, Chicago 1984, S. 53–63, Nachdruck in: Victor Margolin (Hrsg.): Design Discourse: History, Theory, Criticism, Chicago, London 1989, S. 187–197; ders.: Design and Rhetoric: An Analysis of Theatre Posters, Design Papers 1, Halifax 1986; ders., Ellen Lupton: Rhetorical Handbook: An Illustrated Manual for Graphic Designers, Design Papers 5, Halifax 1988. 57. Hill, Helmers: Defining Visual Rhetorics. 58. Vgl. Bonsiepe: Audiovisualistik und die Darstellung von Wissen; vgl. auch die Darstellung der Ergebnisse im Kölner Design Jahrbuch 2001: »bricolage«, hrsg. von Fachbereich Design der Fachhochschule Köln, Köln 2001, S. 22f. und CD-ROM; vgl. auch Gui Bonsiepe: Design as Tool for Cognitive Metabolism.
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untersuchen. Sein Ziel ist es, durch Visualisierungen den kognitiven Mehrwert der Analyse und der Darstellung der Ergebnisse zu erhöhen. Dieser Methode folge ich mit der Entwicklung des visuellen Notationssystems für Film, so dass Bonsiepes Forschung eine wichtige Grundlage für mich bildet. Ich komme nun zu Beiträgen, die eine Figurentheorie des Films vorstellen, womit wir nun einen Medienwechsel vom Bild zum bewegten Bild des Films vollziehen. Die Beiträge beziehen sich nicht auf die beschriebenen visuellen Rhetoriken – gemeinsam ist ihnen jedoch der Versuch, die rhetorische Theorie als Stiltheorie für visuelle und audiovisuelle Medien zu etablieren. Aus der Filmtheorie und der interessierten Filmpraxis sind es insbesondere Roy Clifton sowie Christian Metz und Trevor Whittock, die diesen Ansatz, wenn auch in unterschiedlichen Richtungen, weiterführen. Cliftons Beitrag »The Figure in Film«59 blieb zumindest im deutschsprachigen Raum wenig beachtet, obwohl hier eine umfassende Liste rhetorischer Figuren des Films mit vielfachen Beispielen der Umsetzung vorgestellt wird. Der Autor bezieht sich bei dieser Untersuchung filmischer Figurationen auf die Terminologie der klassischen Rhetorik, jedoch nicht, ohne ihr Potential für die Beschreibung des Films kritisch zu befragen. Sein Beitrag versteht sich als ein praxisnahes Handbuch, das sowohl für Filmtheoretiker wie -praktiker als auch für das interessierte Filmpublikum geschrieben wurde. Daher reduziert Clifton die Menge an sperrigen Fachtermini der Rhetorik zugunsten einer praktikablen, überschaubaren Terminologie.60 Die Stärke von Cliftons Beitrag liegt in der umfangreichen und detaillierten Darstellung von Figuren des Films und ihrer anschaulichen Illustration mit Filmbeispielen, die gleichzeitig die Beschreibungsmacht seiner Fi59. Cliftons Publikation »The Figure in Film« erschien 1983, wird jedoch in den nachfolgenden Publikationen zur rhetorischen Stillehre des Films kaum erwähnt, im deutschsprachigen Diskurs gänzlich ignoriert. 60. Clifton ergänzt zum Teil Begriffe der filmspezifischen Gestaltungspraxis, die sich mit den bestehenden rhetorischen Figuren nicht, oder nur in unzureichendem Maße, beschreiben lassen. Dies ist besonders im Bereich der syntaktischen Figuren der Konjunktion von Bedeutung, wenn es um die Beschreibung formaler wie auch narrativer Konjunktionen zwischen den Einstellungen geht, beispielsweise um die beschleunigende Montage oder die Konjunktion durch Bewegung.
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guren belegen. Er zeigt damit, wie fruchtbar die Benennung rhetorischer Figurationen für die Beschreibung der Filmpraxis ist und wie differenziert sich der Aufbau von Bedeutung und Wirkung mit dieser Terminologie fassen lässt. Auch wenn sich Clifton ausschließlich auf die Figurenlehre der Rhetorik bezieht und wichtige Aspekte der Wirkungsintentionalität, Affekterregung und Argumentation auslässt, ist sein System im Ganzen als ein wichtiger Beitrag zu einer rhetorischen Theorie des Films zu sehen.61 Christian Metz wie auch Trevor Whittock hingegen nähern sich der Figur im Film von einer anderen Position. Ich führe die Beiträge als Gegenposition zu Clifton an, um den Unterschied zwischen einer rhetorischen Stiltheorie des Films und einer linguistisch orientierten Theorie der Filmsprache nach Metz und Whittock hervorzuheben. Metz konzipiert in seiner Arbeit »Der imaginäre Signifikant«62 die rhetorische Figur im Film aus semiotischer und psychoanalytischer Perspektive. Er untersucht die Figuren der Metapher und Metonymie. Seine grundlegende Frage, die er bereits in seinem einflussreichen Aufsatz zur Denotation im Spielfilm formuliert,63 ist die nach der grundlegenden Rhetorik im »Gewebe« des Films.64 Es geht ihm somit nicht um eine Kategorisierung rhetorischer Figuren – von diesen distanziert er sich sogar explizit.65 Vielmehr beschreibt er den Bedeutungsaufbau des Films insgesamt als Figurationsprozess von Metapher und Metonymie, als psychoanalytische Kategorien der Verdichtung und Verschiebung. Unter Bezugnahme auf das Achsensystem von Paradigma und Syntagma entwickelt er vier Grundtypen der textuellen Verkettung und legt damit ein alternatives, gegenüber den rhetorischen Kategorien jedoch stark reduziertes Raster zur Beschreibung des filmischen Bezeichnungsprozesses als Filmsprache vor.66 61. Cliftons Überlegungen fließen im Rahmen dieser vorliegenden Arbeit in die Liste rhetorischer Figuren des Films ein (siehe Anhang). 62. Christian Metz: Der imaginäre Signifikant: Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, Originalausgabe: ders.: Le Signifiant imaginaire: Psychoanalyse et Cinéma, Paris 1977. 63. Ders.: Probleme der Denotation im Spielfilm, S. 161. 64. Vgl. Der imaginäre Signifikant, S. 112. 65. Ebd., S. 125. 66. Auf diesen Ansatz werde ich bei der Beschreibung des filmischen Zeichensystems weiter eingehen. Vgl. Kapitel 2.1.
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Auch Trevor Whittock beschäftigt sich mit der Theorie der Metapher im Film: Er untersucht sowohl einzelne Typen von Metaphern als auch den metaphorischen Prozess der Generierung von Bedeutung. Dabei ordnet er einige Figuren der Metapher unter, bezeichnet also beispielsweise die Metonymie und die Synekdoche als Metaphern, womit er das System der Allgemeinen Rhetorik verlässt. Eine Parallele zwischen den Ansätzen von Metz und Whittock ist, dass beide die Figurationsprozesse des Films von der Metapher beziehungsweise von Metapher und Metonymie her konzipieren.67 Sie werden zu Meta-Kategorien, der sich andere Figurationen unterordnen. Beide Ansätze verfolgen nicht das Ziel, ein Beschreibungsmodell für die Filmpraxis zu liefern. Die Frage, wie die spezifischen Gestaltungstechniken des Films besonders im Bereich der Bilddynamik und Montage beschrieben werden können, bleibt hier offen. Fraglich bleibt auch, inwieweit diese Ansätze der Medienspezifik des Films in angemessener Weise Rechnung tragen, oder ob es sich vielmehr um linguistisch orientierte Ansätze handelt, die das Modell der Sprache implizit zu Grunde legen. Mit der Analogie zum System der Sprache verfolgen sie ein anderes Ziel, nämlich die Untersuchung des Bedeutungsaufbaus des Films als Sprache.68 Im Verständnis Cliftons hingegen bezeichnet die Rhetorik des Films ein System von Mustern und deren Anwendungsregeln, das den Film als rhetorisches Produkt entwirft. Bis zu diesem Punkt habe ich eine Auswahl von Forschungsansätzen vorgestellt, die sich mit Aspekten einer Figurenlehre des Visuellen beschäftigen und dabei – je nach Ansatz mehr oder weniger intensiv – rhetorische Theoriebestände auf visuelle oder audio-visuelle Phänomene beziehen. Im Folgenden soll es um Ansätze gehen, die eine breiter gefasste Konzeption der Rhetorik als Theorie des Films verfolgen und so unterschiedliche Aspekte jenseits einer reinen Figurentheorie konzeptualisieren.
67. Ergänzend ist der Beitrag von Peter Larsen zu nennen, der sich eben-
falls mit dem Begriffspaar von Metapher und Metonymie im Film beschäftigt: Vgl. Peter Larsen: Fra figur til figurering: om film & retorik (»On Film and Rhetoric«), in: Rhetorica Scandinavica, Nr. 1, Åstorp 1997, S. 44–54. 68. Vgl. Karl-Dietmar Möller-Naß: Filmsprache: Eine kritische Theoriegeschichte, Münster 1986. Vgl. auch Manfred Muckenhaupt: Text und Bild, Tübingen 1986.
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1.3.2. Filmrhetoriken Unter dem Stichwort der »Filmrhetoriken« diskutiere ich nun Ansätze, die sich explizit auf die Rhetorik beziehen, sei es nominell, sei es referentiell, etwa auf ein Teilgebiet der Rhetorik-Lehre. Im deutschsprachigen Raum entstand in den 1980er Jahren ein Bereich der Filmphilologie, der rhetorische Aspekte des Films in den Blick nahm und besonders durch die Arbeiten Klaus Kanzogs geprägt wurde. Kanzog entwickelte im Rahmen einer Vorlesung die Grundzüge einer rhetorischen Lehre des Films, die als »Grundkurs Filmrhetorik«69 veröffentlicht wurden. Hier spannt er ein Panorama vielfältiger Bezugspunkte und Ansätze auf, um die Wissensbestände der Rhetorik auf den Film anzuwenden. So greift er beispielsweise Aspekte der Deixis des Films, der Stilistik und Montage, der Topik sowie der Affektsteuerung auf und macht deutlich, wie vielfältig sich die Bezugspunkte zwischen Rhetorik und Film darstellen. In dieser Hinsicht leistet Kanzog einen wichtigen Beitrag zur Begründung einer Rhetorikforschung des Films. Als problematisch beurteile ich jedoch eine theoretische Setzung, die gleich zu Anfang des »Grundkurses« formuliert wird: die Definition des Films als Analogie zum verbalen Sprechakt und des Bildes als Analogie zur »Rede«.70 Kanzog bezieht sich auf die strukturale Texttheorie und behandelt den Film wie einen verbalsprachlichen Text. Diese Setzung berücksichtigt meines Erachtens die spezifisch audio-visuelle Struktur des Mediums nicht in genügendem Maße und lässt lediglich den Blick auf mögliche sprachanaloge Strukturen des Films zu.71 Diese Analogiebildung läuft zudem Gefahr, am Film lediglich die vordefinierten Strukturen und Begriffe des sprachlichen Rasters erkennbar zu machen, ohne auf Phänomene wie etwa die Überblendung, Slow Motion oder Sounduntermalung einzugehen, Phänomene, die für den Film charak69. Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik; vgl. auch ders.: Einführung in die Filmphilologie, 2. Aufl., München 1997, besonders S. 68ff.; ders.: Internalisierte Religiösität: Elementarstrukturen der visuellen Rhetorik in Dziga Vertovs »Drei Lieder über Lenin«, in: Natascha Drubek-Meyer, Jurij Murasov (Hrsg.): Apparatur und Rhapsodie: Zu den Filmen Dziga Vertovs, Frankfurt a. M., Bern u. a. 2000, S. 201–219. 70. Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik. S. 15; vgl. auch Anke-Marie Lohmeier: Hermeneutische Theorie des Films, Tübingen 1996, S. 1–50. 71. Vgl. die Diskussion in Kapitel 1.1.
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teristisch sind und die nicht unter dem Text-Paradigma zu fassen sind.72 Insgesamt entwirft Kanzog bereits den Pfad, um Rhetorik und Film aufeinander zu beziehen. Jedoch geht er meines Erachtens von einer schwierigen theoretischen Prämisse aus. Die Theorie der Filmrhetorik kann, um es zu betonen, nicht auf einer grundlegenden Analogie zwischen Film und Rede fußen. Die Problematik dieses Analogie-Theorems wurde in der Filmsemiotik bereits vielfach kritisch reflektiert und führte zu der Erkenntnis einer »fundamentale[n] semiotische[n] Differenz zwischen ikonischen und sprachlichen Zeichen«.73 Kanzog selbst verlässt in seinen Filmanalysen die enge Analogie, so dass seine theoretische Setzung von ihm selbst unterlaufen wird. Die Anwendbarkeit der Rhetorik basiert auf ihrem Charakter als übergreifende Kommunikationstheorie, die die Zusammenhänge zwischen Produktionsinstanz, Medium und Adressat nach wirkungsintentionalen Aspekten beschreibt, wie ich in dieser Arbeit darlege.74 Wird die Parallelisierung zu eng gefasst, so läuft die Theorie Gefahr, den eigentlichen Untersuchungsgegenstand, den Film in seiner audio-visuellen und dynamischen Struktur, nicht angemessen abbilden zu können. Diese Problematik spiegelt sich auch in den Ansätzen von Hermann Barth und Anke-Marie Lohmeier wider.75 Barth führt Kanzogs Ansätze 76 weiter und fokussiert besonders die Affektsteuerung des Films, die er als »psychagogische Strategien« beschreibt. Er fasst die Filmrhetorik als einen Teil der Filmsemiotik auf und belegt damit seinen engen Bezug zu 72. Clifton formuliert diese Bedenken folgendermaßen: »[T]o come to such an inquiry with a bag of terms and the theories they presuppose is to risk using the films to justify notions held beforehand, rather than let the films form the notions.« In: Clifton: The Figure in Film, S. 17. 73. Anke-Marie Lohmeier: Artikel »Filmrhetorik«, HWR, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 347–364, S. 350. 74. Vgl. Kapitel 3.1. 75. Ebd.; Hermann Barth: Psychagogische Strategien des filmischen Diskurses in G. W. Pabsts Kameradschaft (Deutschland, 1931), München 1990; ders.: Insinuatio: Strategien der Emotionslenkung in den Anfangssequenzen von G. W. Pabsts Die freudlose Gasse (1925), in: Elfriede Ledig (Hrsg.): Der Stummfilm: Konstruktion und Rekonstruktion, München 1988, S. 9–33. 76. Weder Kanzog noch Barth beziehen Ansätze der Filmrhetorik aus dem englischsprachigen Raum in ihre Überlegungen ein.
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Kanzogs Grundannahme der Sprachanalogie. Gleichzeitig jedoch zeigt er das Potential der Rhetorik zur Beschreibung des »Systemcharakter[s] der Wirkungsfunktionalität filmischer Zeichen-(komplexe)«77 auf und weist so über die Grenzen einer reinen Filmsemiotik hinaus, wodurch die Unterordnung der Rhetorik unter die Semiotik in Frage gestellt wird. Dezidiert definiert er auf die Leerstelle der Filmtheorie in Bezug auf die Rhetorik und zeigt sich zu Recht verwundert darüber, dass trotz der breiten Etablierung der Filmwissenschaften bisher »keine explizite Einbeziehung der Rhetorik(-forschung)«78 gebe. Zentral für Barths Ansatz ist die Fokussierung der persuasiven Dimension des filmischen Diskurses, die er mit den Mitteln der Rhetorik analysiert. Ihm geht es nicht um eine allgemeine rhetorische Theorie des Films, sondern um eine Anwendung auf einen Sonderdiskurs des Films: auf seine argumentative Funktionalisierung, die sich die Persuasion des Publikums zum Ziel setzt. Somit ist es nur folgerichtig, dass sich Barth mit dem politischen Propagandafilm der 1930er Jahre auseinandersetzt. Barths Ansatz ist jedoch potentiell erweiterbar und formuliert bereits wichtige Grundlegungen für eine umfassende rhetorische Filmtheorie, an die die vorliegende Arbeit zum Teil anknüpft. Seine Weiterführung von Kanzogs Grundlegung zeigt im theoretischen Rahmenwerk also einige wichtige Präzisierungen, die ich aufgreife. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass im deutschsprachigen Raum auf diese Beiträge bisher kaum nennenswerte Fortführungen folgten, so dass sich dieser Bereich der Filmphilologie nicht langfristig etablieren konnte. Im Gegensatz dazu stehen die Entwicklungen im US-amerikanisch geprägten Diskurs: Hier ist eine Vielfalt der Ansätze zu verzeichnen, die an den »Departments of Rhetoric« an vielen Universitäten entstehen. John Harrington etwa beleuchtet die Frage nach dem persuasiven Kern der Rhetorik anders als Barth: In seiner bereits 1973 veröffentlichten Publikation »The Rhetoric of Film« 79 wendet er sich gegen eine Beschränkung der rhetorischen Theorie auf persuasive Diskurse in Werbung und Propaganda mit der Begründung, dass jede Form der Kommunikation im Film immer schon persuasive Aspekte impliziere.80 Er öffnet seinen Ansatz hin zu einer grundlegenden rhetorischen 77. Barth: Psychagogische Strategien, S. 11. 78. Ebd., S. 13. 79. John Harrington: The Rhetoric of Film, New York u. a. 1973. 80. Vgl. ebd., S. 3f.
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Theorie des Films. Sein Beitrag ist als eine Art Handbuch zu sehen, das sich weniger dem wissenschaftsinternen Diskurs widmet, als vielmehr für das interessierte Filmpublikum verfasst wurde. Die Rhetorik wird insgesamt als ein pragmatisches Beschreibungsmodell konzipiert, das zur analytischen Durchdringung des Films herangezogen wird. Ziel dabei ist es, dem Publikum eine Möglichkeit zu eröffnen, ein kritisches Potential gegenüber medialer Kommunikation zu entwickeln, das Filmverständnis zu verbessern und die »basic rhetorical tools and strategies«81 der Filmemacher zu reflektieren.82 Harringtons Beitrag stellt nur einen Anfang von Beiträgen einer rhetorisch geprägten Filmwissenschaft in den USA dar. Insbesondere durch die theoretische Grundlegung einer modernen Rhetorik durch die »New Rhetoric« öffnet sich ein Feld für neue Ansätze, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten entwickeln: Nick Brownes früher Ansatz zur Rhetorik der filmischen Narration, Hardisons Beitrag zu Hitchcocks Rhetorik,83 David Bordwells und Noël Carrolls Filmpoetik und -rhetorik, Thomas Bensons und Martin Medhursts Fallstudien zu »rhetorischen Dimensionen« der Medien oder Seymour Chatmans Beitrag zur rhetorischen Theorie der Narration84 bilden Eckpunkte eines Spektrums von Herangehensweisen. David Blakesley spricht aufgrund des gemeinsamen Fokus auf rhetorische Aspekte sogar von einem »rhetorical turn«, der sich in den letzten Jahren in den Filmwissenschaften vollzogen habe.85 Die Rhetorik werde, so Blakesley, nicht 81. Ebd., S. VI. 82. Dabei geht er zum einen auf grundlegende filmtechnische Strukturen ein, liefert zum anderen jedoch auch eine Auswahl rhetorischer Figuren des Films. Er untersucht typische »Patterns« der Filmgestaltung, wie beispielsweise die Verkettung von Ursache und Wirkung, die Klimax-Struktur oder typische Schlusseinstellungen des Films (»obligatory scenes«). 83. O. B. Hardison: The Rhetoric of Hitchcock’s Thriller, in: W. R. Robinson (Hrsg.): Man and the Movies, Louisiana 1967, S. 137–152. 84. Seymour Chatman: Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca, London 1990. 85. David Blakesley (Hrsg.): The Terministic Screen: Rhetorical Perspectives on Film, Carbondale, Edwardsville 2003, S. 1. Meiner Ansicht nach ist es schwierig, von einem übergreifenden »rhetorical turn« der Filmwissenschaften zu sprechen, da der zugrunde liegende Rhetorik-Begriff nicht geklärt ist. Die oben zitierten Ansätze, die Blakesley unter diesem Schlagwort vereint, sind sehr
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mehr als eine Teildisziplin der Filmwissenschaften konzipiert, sondern sie gewinne den Status einer Metatheorie des Films, die unterschiedliche Ansätze interdisziplinär verbinden könne.86 Unter dieser rhetorischen Metatheorie subsumiert er neben den oben angeführten Beispielen so unterschiedliche Konzepte wie die der Gender Studies nach Kaja Silverman oder die Filmsemiotik nach Christian Metz. Wenn ein »rhetorical turn« in den US-amerikanischen »Film Studies« postuliert wird, so betone ich jedoch, dass es sich dabei um einen weit gefassten Rhetorik-Begriff handelt, der sich in wesentlichen Punkten von jenem der vorliegenden Arbeit unterscheidet. Wenn ich nachfolgend näher auf einige exemplarische Beiträge eingehe, so wird deutlich, dass dabei ganz unterschiedliche theoretische Konzepte verhandelt werden, die thematisch von einer Narratologie bis zur Rolle der Identifikation im Film reichen. Im ersten Beispiel geht es um die Beiträge David Bordwells. Hier taucht der Begriff Rhetorik zwar häufiger auf, jedoch verbirgt sich dahinter kein eigenständiges Konzept einer umfassenden Filmrhetorik. Bordwell nutzt den Begriff mit dem Schwerpunkt auf der persuasiven Dimension, wobei er einerseits bestimmte Strukturen des Films als rhetorisch deklariert, andererseits die verbal geführte Interpretation von Film in ihrer Rhetorik untersucht. In seinem Beitrag »Narration in the Fiction Film« wird der erste Aspekt deutlich, wenn Bordwell einen Typus der filmischen Narration als rhetorisch charakterisiert, und zwar heterogen, fokussieren zum Teil eher poetologische Aspekte oder beschäftigen sich mit linguistischen Modellen der Filmanalyse. Der Rhetorik-Begriff, der die Klammer dieser Ansätze darstellt, ist sehr weit gefasst. Festzuhalten ist gleichzeitig, dass sich jener »rhetorical turn« in den meisten Fällen auf US-amerikanische Ansätze beschränkt. In der deutschsprachigen Filmwissenschaft etwa ist von einer wie auch immer gearteten »rhetorischen Wendung« wenig zu spüren. 86. Blakesley bezeichnet die Rhetorik als einen »terministic screen«. Dieser Begriff ist Burke entlehnt, der ihn in »Language as Symbolic Action« verwendet. Burke beschreibt damit den Zusammenhang zwischen dem verwendeten Begriffsapparat und den möglichen Beobachtungen und Erkenntnissen einer wissenschaftlichen Untersuchung. Burke formuliert: »Not only does the nature of our terms affect the nature of our observations, on the sense that the terms direct the attention to one field rather that to another. Also, many of the ›observations‹ are but implications of the particular terminology in terms of which the observations are made.« In: Burke: Language as Symbolic Action, S. 46.
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die »historisch-materialistische Narration« von sowjetischen Propagandafilmen.87 Diese Auffassung spielt auch in »The Cinema of Eisenstein« eine Rolle, wenn es um die filmischen Gestaltungsmittel Eisensteins geht.88 »Making Meaning: Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema« hingegen beschäftigt sich mit dem zweiten genannten Aspekt von Rhetorik: Hier geht es um die Rhetorik der Film-Interpretation. Er untersucht die kommunikativen Strategien der Filmkritik und -interpretation und nutzt dazu eine etablierte Definition von Rhetorik, die er explizit auf Aristoteles zurückführt.89 Für die audiovisuelle Rhetorik sind diese Beiträge jedoch weniger relevant, da der zugrunde liegende Rhetorik-Begriff stark von jenem abweicht, der dieser Arbeit zugrunde liegt. Um die Rhetorik der Narration geht es auch in dem Beitrag Nick Brownes. Er setzt den Schwerpunkt jedoch nicht auf die Persuasion, sondern es geht ihm primär um die Möglichkeiten der Identifikation des Zuschauers. Browne untersucht die Konstellation von »Narrator«, Zuschauer und filmischer Repräsentation und bezeichnet die Blickregie in einem gedachten Dreieck dieser Konstellation als Rhetorik des Films.90 Auch in diesem Beispiel wird insgesamt nur ein Teilaspekt der rhetorischen Theorie aktualisiert, um ihn auf den Film zu übertragen. Umfassender hingegen ist die Auffassung von Filmrhetorik in einem wenig beachteten, jedoch wichtigen Artikel von Jerry Hendrix und James Wood aus dem Jahre 1973.91 Die Autoren entwerfen ein umfang87. David Bordwell: Narration in the Fiction Film, London 1985. 88. Ders.: The Cinema of Eisenstein, Cambridge, London 1993. 89. Ders.: Making Meaning. Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema, Cambridge, London 1989, S. 206. 90. Nick Browne: The Rhetoric of Filmic Narration, Ann Arbor 1976. Zu den Möglichkeiten der Identifikation als filmrhetorisches Mittel arbeitet auch Gilberto Perez. Er bezieht sich auf Burkes Definition der Identifikation als Grundprinzip rhetorischer Kommunikation. Auf seinen Beitrag gehe ich in Kapitel 3.2.2.1. weiter ein. Vgl. Gilberto Perez: Rhetoric of Film: Identification and the Spectator, Paper: Society for Cinema Studies Conference, Chicago 2000. [http:// www.sensesofcinema.com/contents/00/5/rhetoric2.html] (letzter Zugriff am 17.03.2008). 91. Jerry Hendrix, James A. Wood: The Rhetoric of Film: Toward a Critical Methodology, in: The Southern Speech Communication Journal Nr. 39, Boone, NC 1973, S. 105–122.
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reiches Panorama an Bezugspunkten und gehen dabei sowohl auf die Produktionsstadien der Rede als auch auf die Überzeugungsgründe von Logos, Ethos und Pathos ein. Sie verweisen darüber hinaus auf ein Kommunikationsmodell der Rhetorik, anhand dessen sie die Effektivität der rhetorischen Kommunikation reflektieren. Damit liefern sie insgesamt einen fruchtbaren Ansatz zur Anwendung des rhetorischen Systems auf den Film, der sich durch seine gute Kenntnis der Rhetorik und ihrer Zusammenhänge wie durch die Beschreibung vielfältiger Ansatzpunkte zur Übertragung auszeichnet. Insgesamt geht der vielversprechende Ansatz jedoch über eine Skizze in diesem kurzen Beitrag nicht hinaus, der keine systematische Weiterführung folgte. Die Vertreter des »Rhetorical Criticism« legen den Schwerpunkt auf das (sozial-)kritische Potential der Rhetorik: Sie untersuchen insbesondere die persuasive und auch manipulative Wirkungsmacht des Massenmediums Film. Als Beispiel stelle ich einen Beitrag von Medhurst und Benson vor: Sie legen mit ihren Fallstudien zu »Rhetorical Dimensions in Media« einen anwendungsbezogenen Beitrag vor, der rhetorische Aspekte in unterschiedlichen Medien, von sozialen Kampagnen bis zu Musik- und Radiorhetorik, untersucht. Auch hier findet sich der übergreifende Ansatz wieder, den Hendrix und Wood angedeutet haben: die rhetorische Kommunikation als Interaktion zwischen »Autor«, Botschaft, Thema, Kontext und Publikum. Sie verstehen die Aufgabe der Untersuchung folgendermaßen: A rhetorical critic is interested in why an artist chose to deal with certain topics (and not others); why the artistic elements chosen were structured as they were (and not some other way); why certain characteristics of the medium, be it clay, celluloid, proscenium, or pigments are emphasized (and others are not emphasized); what purpose, among all those possible, seems to be governing these choices; and to what audience the work addresses itself with what potential effect.92
Damit zeigen sie die Bandbreite von Fragestellungen auf, der sich die Medienrhetorik stellt, und belegen den grundsätzlichen Charakter der Herangehensweise. Wenn sie die rhetorische Theorie auf unterschiedliche Medien anwenden, dann problematisieren sie auch das Verhältnis von Poetik und Rhetorik. Im Anschluss an Thomas Sloan93 und Edward 92. Medhurst, Benson: Rhetorical Dimensions in Media, S. X. 93. Thomas Sloan u. a.: Report of the Committee on the Advancement and
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Corbett94 sprechen sie von »rhetorischen Dimensionen« unterschiedlicher Medien und halten an der persuasiven Funktion der Rhetorik als Abgrenzungsmerkmal fest. Sie knüpfen hiermit an die aristotelische Distinktion zwischen Rhetorik und Poetik prinzipiell an, definieren den Rahmen der persuasiven Diskurse jedoch so weit, dass sich so unterschiedliche Untersuchungsgegenstände wie Rockmusik, Architektur oder Ballett zuordnen lassen.95 Anhand unterschiedlicher Fallstudien, die in ihrem Beitrag versammelt sind, zeigen sie die Facetten ihres Ansatzes auf und stellen seine Tragfähigkeit unter Beweis. Der Bezug auf die Rhetoriktheorie, insbesondere auf ihre antiken Grundzüge, wird nur in loser Form hergestellt, so dass es zu keiner stringenten Aktualisierung des rhetorischen Repertoires kommt. Vielmehr wird hier, wie schon bei Harrington, ein anwendungsbezogener Ansatz vorgestellt, der das rhetorische Werkzeug für die Medienanalyse nutzt. Insgesamt gilt für die Ansätze des »Rhetorical Criticism«, dass sie die Rhetorik an die Zielsetzung der Persuasion koppeln. Mit den Ansätzen zur rhetorischen Medienanalyse verfolgen sie somit in der Regel das Ziel der kritischen Reflexion der Möglichkeiten massenmedial inszenierter Persuasion. An welchen Punkten kann die audio-visuelle Rhetorik an die bisherige Forschung anknüpfen, was sind die wesentlichen Wegbereiter für eine Rhetorik der Medien? Bis zu dieser Stelle ist klar geworden, dass vor allem drei Aspekte wichtig sind: 1. Für die audio-visuelle Rhetorik muss die Distinktion zwischen Poetik und Rhetorik neu konzipiert werden. Hierfür leisten die Vertreter des »Rhetorical Criticism« die theoretische Vorarbeit. 2. Die Theorie überschreitet mit ihrem methodischen Ansatz der Visualisierung die disziplinären Grenzen der Allgemeinen Rhetorik und öffnet sich für neue, auch experimentelle Herangehensweisen. Für diese Öffnung ist Gui Bonsiepe mit seiner »Rhetorik der AudioVisualisitik« wegbereitend. 3. Die audio-visuelle Rhetorik basiert nicht auf der Annahme einer Refinement of Rhetorical Criticism, in: Lloyd Bitzer, Edwin Black (Hrsg.): The Prospect of Rhetoric, Englewood Cliffs 1971. 94. Corbett: Rhetorical Analyses of Literary Works. 95. Vgl. Sloan u. a.: Report of the Committee on the Advancement and Refinement of Rhetorical Criticism, S. 22.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
grundlegenden Analogie zwischen Verbalsprache und Film, konzeptualisiert also den Film nicht als Rede. Durch diese Setzung distanziert sie sich von Ansätzen der Filmsemiotik und Filmphilologie. Die Anknüpfungspunkte sind aus diesen Gründen zwar vielfältig, beziehen sich jedoch lediglich auf jeweilige Teilaspekte der vorliegenden Theorien. Ich knüpfe beispielsweise an die Figurenliste Cliftons, die Vorarbeiten Kanzogs und Barths und die Analysen von Medhurst und Benson an, ohne jedoch eine tragfähige und umfassende theoretische Fundierung einer Filmrhetorik vorzufinden. Aus der Darstellung und Diskussion der bestehenden Ansätze wurde deutlich, dass eine Lücke in der bisherigen Forschung besteht: Zum einen gibt es bisher keinen zufrieden stellenden Ansatz, der den Umfang der Filmrhetorik adäquat beschreibt und theoretisch fundiert. Zum anderen kam es zu keiner konsistenten Forschung zur Rhetorik der Medien, auf deren Ergebnissen heutige Ansätze systematisch aufbauen könnten. Zwischen der europäischen, besonders der deutschsprachigen Rhetorikforschung und den US-amerikanischen Ansätzen fand kaum eine Bezugnahme statt. Zudem wurde die Mehrzahl der englischsprachigen Beiträge bisher nicht ins Deutsche übersetzt wie auch umgekehrt keine Übersetzung stattfand – die Forschungsansätze stehen einander unverbunden gegenüber. Insgesamt lässt sich ein großer Forschungsbedarf im Bereich der Medienrhetorik konstatieren, der eine theoretische Fundierung wie eine Explikation unterschiedlicher Forschungsbereiche umfasst. Zur Rhetorik der interaktiven Medien wie des Internets, des Games oder von Software-Anwendungen sind bisher sehr vereinzelte Beiträge zu verzeichnen.96 Auch zur auditiven Rhetorik des Films – also zu Filmmusik, Dialog, Sound – sind ebenfalls nur vereinzelte Beiträge erschienen.97 Hier öffnet sich ein Bereich, in dem sich eine visuell, audio-visuell und interaktiv orientierte Rhetorikforschung entfalten kann, die neue Einsichten in den Kommunikations- und Wirkungszusammen96. Vgl. zum Thema »Game und Rhetorik« Steffen Walz: Delightful Identification & Persuasion: Towards an Analytical and Applied Rhetoric of Digital Games, in: Marinka Copier, Jost Raessens (Hrsg): Level Up: Proceedings of the 1st International Digital Games Research Conference, Utrecht 2003, S. 194–207. 97. Vgl. Michel Chion: Audio-Vision: Sound on Screen, New York 1994; Barbara Flückiger: Sound Design: Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg 2001;
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1. Einführung
hang medialer Produkte liefert. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur systematischen Erarbeitung des rhetorischen Bauplans des Films leisten.
vgl. auch Rick Altman (Hrsg.): Sound Theory/Sound Practice, New York 1992; Jacques Aumont: L’Image, Paris 1990; Claudia Gorbman: Unheard Melodies: Narrative Film Music, Bloomington 1987; Matthias Keller: Stars and Sounds: Filmmusik – Die dritte Kinodimension, Kassel 1996. Diese Beiträge beschäftigen sich nicht explizit mit der Rhetorik des Auditiven, sondern sind eher als Quellen für eine auditiv orientierte Rhetorikforschung zu sehen.
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2. Film als Zeichensystem Bevor ich zur theoretischen Konzeption einer audio-visuellen Rhetorik komme, füge ich an dieser Stelle einige grundsätzliche Anmerkungen zum Zeichensystem des Films ein. Es geht darum, aus einem zeichentheoretischen Modell zur Beschreibung des Films Rückschlüsse auf seine rhetorische Tiefenstruktur zu ziehen. Diese Überlegungen stelle ich an, um auch durch eine solche semiotisch orientierte Näherung zu belegen, dass die Rhetorik des Films nicht als rein stilistisches Phänomen zu beschreiben ist. Mit Bezug auf Metz und seine Filmtheorie formuliere ich die These, dass Film grundsätzlich auf der basalen Ebene seiner Zeichen rhetorisch strukturiert ist. Kerngedanke ist, dass sich der Bedeutungsaufbau des Films als rhetorische Zeichenoperation entlang des Zwei-Achsen-Modells von Paradigma und Syntagma beschreiben lässt. Dieses Modell ist gleichzeitig die theoretische Grundlage des hier vorgestellten Notationssystems. Das System bildet somit jene rhetorische Struktur ab, die sich im Modell zwischen der paradigmatischen und syntagmatischen Achse aufspannt, und stellt auf diese Weise eine Methode dar, um diese rhetorische Struktur visuell abzubilden.
2.1. Die Achsen des Filmverstehens Eine grundsätzliche Frage, der sich die Filmsemiotik widmet, ist es, wie sich auf der zeichentheoretischen Ebene der Bedeutungsaufbau im Film beschreiben lässt. Zu ihrer Beantwortung konnte auf Ergebnisse der Linguistik zurückgegriffen werden, die sich auf eine zweidimensionale Matrix zur Bestimmung des Sprachaufbaus bezieht. Diese Matrix geht insbesondere auf die Arbeiten Roman Jacobsons zurück, der mit den zwei Achsen von Paradigma und Syntagma Elemente und Strukturen der Sprache bestimmte.1 Roland Barthes benannte diese als »Ach51
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
sen der Rede«2, zwischen denen sich Bedeutung von Sprache und sprachanalogen Systemen aufbaut und deutete mit dieser Setzung bereits den Transfer zu anders kodierten Zeichensystemen an. Paradigma und Syntagma sind folglich als diejenigen Organisationsprinzipien zu verstehen, durch die sich ein Zeichensystem konstituiert.3 Als AchsenModell gedacht spannt sich so ein Feld auf, in dem sich ein Zeichensystem entlang dieser beiden Parameter definieren und, räumlich gedacht, zweidimensional verorten lässt. Die zugrunde liegende Beschreibungsmatrix ist in zwei Kategorien zu unterteilen: in die syntagmatische Kombination und die paradigmatische Selektion. Im Modell ist die erste als horizontale und die zweite als vertikale Achse gedacht, so dass sich in x-Richtung die Kombination erstreckt, während sich in y-Richtung die Selektion abtragen lässt. Die Kombination von Zeichen ist eine lineare Verkettung zu komplexeren Einheiten. Ähnlich wie die gesprochene Sprache (parole), die ein gleichzeitiges Aussprechen zweier Begriffe ausschließt, sich somit als »Kette des Sprechens«4 linear und irreversibel in der Zeit erstreckt, ist es auch dem Syntagma eigen, dass seine Elemente hintereinander und nicht gleichzeitig erscheinen. Die syntagmatische Folge verbindet fortlaufende Elemente zu Kombinationen, für die es unterschiedliche Konjunktionsarten gibt, nämlich Kontinuitäten, Relationen und Kontraste. Die Selektion hingegen stellt die Kategorie der substituierbaren Elemente innerhalb des Syntagmas dar. Jacobson beschreibt diese Achse als die der Assoziation, Barthes verwendet den Begriff der systematischen Achse. Das Paradigma ist somit die Auswahlkategorie oder Austauschklasse: Ein Einzelelement aus der horizontalen Kette des Syntagmas ist gegen ein alternatives Element der gleichen Gruppe oder Klasse austauschbar. 1. Vgl. Roman Jacobson, Morris Halle: Fundamentals of Language, Den Haag 1956. Dt. Fassung: dies.: Grundlagen der Sprache, Berlin 1960, S. 49–70; vgl. zur Entwicklung der Begriffe in der Linguistik auch Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 130. 2. Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M. 1979, S. 49ff. 3. Vgl. auch Bernhard Springer: Narrative und optische Strukturen im Bedeutungsaufbau des Spielfilms, Tübingen 1987, S. 29. 4. Barthes: Elemente der Semiologie, S. 49.
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2. Film als Zeichensystem
Der Vorteil dieses Modells ist es, dass die einzelnen Elemente des Zeichensystems in dieser Matrix genau bestimmt werden können – sowohl in ihrer Position im Syntagma als auch in ihrer paradigmatischen Klasse. Wie in einem gedachten Koordinatensystem können die Elemente als Teil eines Rasters notiert und in ihrer Relation zu anderen Elementen definiert werden. Christian Metz überträgt im Rahmen der Filmsemiotik dieses ZweiAchsen-Modell auf das Zeichensystem des Films. Er legt für diese Übertragung jedoch nicht, wie man annehmen könnte, eine stringente Analogie zwischen Verbalsprache und Film an, sondern differenziert beide Zeichensysteme systematisch voneinander.5 Bei seinem Transfer stellt er zunächst eine homologe Beziehung zwischen Syntagma und Metonymie wie zwischen Paradigma und Metapher fest.6 Metz intendiert damit weniger die Lokalisierung einzelner Figuren der Metapher oder der Metonymie im Film, vielmehr geht es ihm darum, das textuelle Geflecht des filmischen Zeichensystems als das Ergebnis metaphorischer und metonymischer Operationen darzustellen. Die Homologie ist auf die Prinzipien von Kontiguität (von Metonymie wie Syntagma) und Similarität (von Metapher wie Paradigma) zurückzuführen. Das Zeichensystem des Films, sein zeichentheoretisches Gerüst, kann nach Metz folglich mit den gleichen Achsen wie die Sprache bestimmt werden: in horizontaler Ebene als eine zeitliche Berührung von aufeinander folgenden Elementen, als ein Zusammentreffen von Ereignissen in Folge, in vertikaler Ebene hingegen als Ähnlichkeit von Elementen, die untereinander austauschbar sind. Durch die Berührung der Elemente innerhalb des Syntagmas entstehen Beziehungen, so dass sich jedes Element sowohl an das vorstehende wie das nachfolgende Element anlehnt, durch diese Anlehnung seine Bedeutung bestimmt. Im Film ist dies die Abfolge der Einstellungen, und es ist anschaulich nachzuvollziehen, dass sich die semantische Ebene des Films durch die Folge erschließt. Der Rezipient sieht den Film in seinem zeitlichen Verlauf und stellt das Gesehene in den Kontext der vorangegangenen und folgenden Einstellungen. Die Ähnlichkeit der Elemente hingegen, und hiermit befinden wir uns auf der Ebene des Paradigmas, bewirkt, dass ein Austausch mögVgl. Metz: Probleme der Denotation im Spielfilm, S. 154–161. Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 130. Vgl. auch Barthes: Elemente der Semiologie, S. 50f. 5. 6.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
lich ist. Entlang dieser Ebene können einzelne Einstellungen des Films substituiert werden, und das bedeutet, dass sich hier die Auswahl zwischen realisierten und nicht realisierten Einstellungen zeigt. Das Paradigma systematisiert folglich die Gruppe alternativer Einstellungen, die sich beispielsweise als andere Einstellungsgröße oder Motivwahl manifestieren. Spezifisch für das Zeichensystem des Films im Gegensatz zur Sprache ist es, dass eine Überlagerung des syntagmatischen und des paradigmatischen Organisationssystems möglich ist. Diese Überlagerung realisiert sich in der Überblendung zweier oder mehrerer Filmbilder innerhalb einer Einstellung. Diese Bildebenen, die sich gegenseitig durchdringen, kombinieren auf der Achse des Paradigmas mehrere Bilder gleichzeitig, was in der Sprache – als zeitgleiche Nennung mehrerer Begriffe – nicht möglich ist. Die Überblendung oder Mehrfachbelichtung kann so auch als »zusammengezogenes« Syntagma interpretiert werden, bei dem sich die diachrone Ausdehnung minimiert und sich die Bildebenen übereinander schieben. Es entsteht ein Knotenpunkt der syntagmatischen und paradigmatischen Assoziationen – ein Stilmittel der Filmgestaltung, das oft ästhetisch motiviert eingesetzt wird. Mit der Beschreibung der metaphorischen und metonymischen Operationen im Zwei-Achsen-Modell geht Metz auch auf die Frage ein, »was an primärer Rhetorik im Gewebe des Films vorhanden«7 sei, und diese Frage ist für unseren Kontext besonders interessant. Er benennt die beiden Zeichenoperationen als grundlegend für »das textuelle Entstehen des Films«.8 Daraus lässt sich folgern, dass die Rhetorik des Films auch nach Metz nicht lediglich als eine Stiltheorie der wohlgeformten Rede zu verstehen ist, sondern dass die Rhetorik den Bedeutungsaufbau erst konstituiert. Film ist also auf der zeichentheoretischen Ebene immer schon rhetorisch strukturiert, unabhängig von der Art der Narration oder vom Einsatz bestimmter rhetorischer Figuren. Damit zeigt sich der grundlegende Charakter der Rhetorik, der die Bezeichnungsprozesse auf der kleinsten Ebene des filmischen Zeichensystems betrifft. In dieser Perspektive beschreibt die Rhetorik nicht nur das übergreifende Kommunikationssystem des Films, das sich zwi7. Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 112 (Auszeichnungen im Original). Vgl. auch ders.: Probleme der Denotation im Spielfilm, S. 161. 8. Ebd.
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2. Film als Zeichensystem
schen Rhetor, Medium und Adressat entwickelt, sondern sie bezieht sich auch auf die Struktur des Mediums auf der Ebene der Zeichen. Die Metapher des Gewebes zieht Metz heran, um die textuelle Struktur und den Aufbau des Mediums zu veranschaulichen. Diese Metapher ist ein sprechendes Bild, da es die horizontalen und vertikalen Verflechtungen – im Zwei-Achsen-Modell gedacht – veranschaulicht, auf deren Basis an der Oberfläche eines Gewebes Muster entstehen. Diese Musterbildung aufgrund von regelmäßigen Zeichenbewegungen entlang der Achsen von Syntagma und Paradigma ist rhetorisch. Die entstehenden Muster und die daraus abzuleitenden Regeln benennt die Rhetorik, um sie als Theorie zu systematisieren. Dieses Bild eines Gestaltungsprozesses, in dem unterschiedliche Materialien – seien es unterschiedliche Stoffe und Farben oder unterschiedliche auditive und visuelle Materialien – miteinander kombiniert werden, um ein Gewebe zu formen, ist ein Bild für die rhetorische Gestaltung. Die Muster, die dabei auf der Fläche des Gewebes entstehen, sind Resultat der angewandten Techniken, ihre Systematisierung wie ihre Rückführung auf die angewandten Techniken sind Gegenstand der Rhetorik. Dieses Prinzip verweist auf die ZusammenhängezwischenTheorieundPraxis:DasProduktistGegenstand der Regelbildung, auf der Grundlage des Produkts werden seine Techniken ablesbar und können in die Theorie überführt werden. Zur gleichen ZeitistdasProduktjedochimmerschonErgebnisderAnwendungderRegeln, die zum Erfahrungswissen der Produktionsinstanz gehören. Dass die Rhetorik auf der Ebene der filmischen Zeichen grundlegend Bedeutung konstituiert, dem Geflecht somit inhärent ist und nicht lediglich a posteriori appliziert wird, ist einer der theoretischen Pfeiler meiner Arbeit. Dies spiegelt sich auch im Notationssystem wider: In der Notation werden diese rhetorischen Strukturen visuell abgebildet, wodurch ihre Dynamiken und Figurationen erkennbar werden. Der Film wird auf diese Weise insgesamt in seiner rhetorischen Struktur bildlich dargestellt, wodurch eine visuelle Übertragung der Rhetorik des Films entsteht, anhand derer Erkenntnisse über den Aufbau und die eingesetzten Mittel gewonnen werden können. Es ist Gegenstand der Analyse, diese Struktur zu systematisieren und zu beschreiben. Mit der Notation wird, um die Metapher nochmals aufzugreifen, der Film als Gewebe verbildlicht, so dass wie auf einem Gobelin die Geschichten auf der Oberfläche sichtbar werden. Durch einzelne Fäden in ihrer Überkreuzung und Verknüpfung entsteht aus zunächst distinkten Elementen ein Bild, eine Bilderge55
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
schichte, wie sie auf großen Wandteppichen zu sehen ist. Die gleichsam kleinste rhetorische Operation ist also die Überkreuzung zweier Fäden, ihre Verknüpfung, die eine Relation herstellt. Durch diese Operation wird Bedeutung geknüpft. Die weiteren Verknüpfungen lassen nach und nach an der textuellen Oberfläche Bilder und -geschichten entstehen – in den Gobelins sind es Jagdszenen, große Schlachten, Szenen im Garten. Jeder einzelne Knotenpunkt dieses Gewebes von Kette und Schuss kann in seiner syntagmatischen und paradigmatischen Relation in jenem dyadisch gedachten System definiert werden. Aus der Summe der Einzelbestimmungen erschließt sich das Gesamtbild als Abfolge, erschließt sich der Bedeutungsaufbau der Bilderzählung auf einer emergenten Ebene. Als eine solche Bestimmung einzelner Knotenpunkte ist das Notationssystem zu verstehen. In ihm werden die einzelnen Bildeinheiten, die Einstellungen des Films, in einem gedachten Zwei-Achsen-Raster abgetragen. Die Notationszeichen vollziehen den rhetorischen Bauplan des Werks nach, sie lassen wiederum selbst an ihrer textuellen Oberfläche ein Gewebe entstehen, das visuell zu entziffern ist. Dieses zweite Gewebe hat eine interpretierende Funktion, ist ein gleichsam funktional-rhetorisches Abbild des ersten.
2.2. Visuelle Notation als Methode Werden die rhetorischen Strukturen des Films untersucht, so ist das eine analytische Tätigkeit, für die zunächst aus den Filmwissenschaften etablierte Methoden zu Verfügung stehen. Eine der gängigsten ist das Filmprotokoll, in dem der Film in eine verbalsprachliche Fassung übertragen wird, die dann die Grundlage für die Interpretation darstellt. Warum ich mich gegen diese Methode entscheide und eine visuell orientierte Näherung vorschlage, begründe ich mit dem kognitiven Mehrwert der Darstellung. Ziel der Analyse ist es, den strukturellen Aufbau sowie die angewandten Gestaltungstechniken des Films kenntlich zu machen. Ich halte für dieses Ziel eine Visualisierung in Kombination mit einer systematischen Terminologie für angemessen. Was sind die Gründe dafür, dass sich das Filmprotokoll als Methode für diese Zielsetzung weniger eignet? Es handelt sich um eine Beschreibung der Handlung sowie der technischen Parameter des Films wie der Einstellungsgröße, Perspektive oder Kamerabewegung. Der 56
2. Film als Zeichensystem
Film wird damit in ein detailliertes lineares Protokoll überführt, das zur Unterstützung der Filmanalyse dienen soll. Formal stellt sich diese Protokoll meist als eine Tabelle dar, in der Szene für Szene beschrieben wird, was zu sehen ist. Nach Werner Faulstich wird mit dieser Vorgehensweise das »Transitorische am Film« in optimaler Weise in »Lineares« überführt: »Das Filmprotokoll ist die möglichst exakte, detaillierte Transskription eines Films in Sprache bzw. Text«9, so Faulstich. Vorteil dieser Methode ist es, dass eine schriftlich fixierte Beschreibung der audio-visuellen Strukturen des Films deren Komplexität reduziert und verbal fassbar macht. Die Beobachtungen des Protokollierenden können auf diese Weise festgehalten werden und als Ausgangspunkt für weitere Interpretationen dienen. Diese Transformation ist jedoch zugleich der Nachteil der Methode: Visuellen und auditiven Strukturen kann durch diese Übertragung kaum in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden. Die Übertragung in das Kodesystem der Sprache bringt eine Reduzierung auf die Handlungsebene des Gezeigten mit sich. Wie ließe sich etwa die berühmte Filmszene aus Buñuels Der andalusische Hund in einem Protokoll darstellen, in der einer Frau das Auge mit einer Rasierklinge aufgeschnitten wird? Auf der Handlungsebene lässt sich dieses Bild nicht fassen, da es um die bedrückende Bildwirkung geht, um den Schauer, den es auslöst. Es ist ein generelles Problem, wie der Film analytisch zu fassen ist, und dieses Problem ist nicht trivial. Im Zentrum steht der Informationsverlust durch den Kodewechsel, durch die Transformation des filmischen Erlebens in eine Beschreibungssprache, die für die Analyse tauglich ist. Die Filmwissenschaften müssen sich jedoch die Frage stellen, durch welche Art der Transformation die wenigsten Informationsverluste entstehen und wie der Film in seiner audio-visuellen und bewegten Form am besten in die Analyse einbezogen werden kann. Die größte Gefahr sehe ich darin, wenn das Filmprotokoll zu einer eigenen Geschichte wird, die quasi den Film verdrängt, wenn die verbalsprachliche Fassung durch ihre reduzierte Form an die Stelle des Films als Ausgangsmaterial tritt. Dies wäre die extremste Form der Transskription, die zu einem methodischen Fehlschluss führen würde. Jedoch auch wenn das Filmprotokoll lediglich unterstützend eingesetzt wird, wenn es als eine erste Interpretationsleistung des Films konzipiert 9.
Werner Faulstich: Grundkurs Filmanalyse, München 2002, S. 63.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
wird, bleiben dennoch einige Kritikpunkte bestehen. Christoph Lehner merkt kritisch an: Aus modelltheoretischer Sicht ist nicht unbedingt einzusehen, warum bei der Analyse eines Zeichensystems ausgerechnet der Umweg über die natürliche Sprache gemacht werden sollte, da die natürliche Sprache bekanntlich ihre Tücken und Fallen hat. Sieht man die bisher existierenden Filmprotokolle einmal näher an, so erscheint […] die Art der Beschreibung bestimmter Filmszenen nicht frei von einer gewissen Willkür.10
Entgegen der Meinung Faulstichs gehen die transitorischen Aspekte des Films, seine dynamische Basis, in einer schriftlichen Fassung meiner Ansicht nach weitgehend verloren. Ohne dabei weiter auf die übergeordnete differenzierte Diskussion von Text versus Bild einzugehen, lässt sich für die Filmanalyse festhalten, dass dynamische Entwicklungen und Verläufe, wiederkehrende Strukturen und Zusammenhänge zwischen auditiven und visuellen Parametern in einer verbalsprachlichen Beschreibung nur schwer gekennzeichnet werden können. Wie wird eine sich intensivierende Spannung in einem Protokoll wiedergegeben, wie das Zusammenspiel von Bild und Ton? Ich schlage aus diesen Gründen für die Analyse eine andere Methode vor: eine visuell gestützte Analyse. Anstatt der verbalen Beschreibung wird eine visuelle Übersetzung filmischer Strukturen und filmtechnischer Parameter in ein Diagramm versucht – ein Ansatz, der durchaus einen experimentellen Charakter hat. Welche Vorteile kann eine Form der Visualisierung bringen? Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Strukturen und dynamische Entwicklungen werden sichtbar gemacht. 2. Die Transformation des Films in Text wird vermieden. 3. Dem transitorischen Charakter des Films wird durch ein dynamisches Diagramm Rechnung getragen. 4. Die Beschreibung filmtechnischer Parameter wie beispielsweise Einstellungsgröße, Perspektive, Montageform wird durch Notationszeichen in kognitiv effizienter Form gestaltet. 10. Christoph Lehner: Einige zentrale Probleme der neueren Filmsemiotik, in: Ludwig Bauer, Elfriede Ledig, Michael Schaudig (Hrsg.): Strategien der Filmanalyse, (diskurs film, Bd. 1), München 1987, S. 59–72, hier S. 65.
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2. Film als Zeichensystem
Zu betonen ist an dieser Stelle, dass es sich bei einer visuell gestützten Filmanalyse nicht um einen allgemeinen Gebrauch von Bildern handelt, sondern vielmehr um den Einsatz indexikalischer und symbolischer Zeichen in der Funktion eines Notationssystems. Die Diskussion bezieht sich somit nicht auf die allgemeine Erkenntnisfähigkeit von Bildern, sondern vielmehr auf die Möglichkeiten, durch visuelle Zeichen und Zeichensysteme eine Heuristik bereitzustellen, die spezifische Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand liefert. Das Bild wird in den Begriffen Nelson Goodmans als Notation, Diagramm oder Partitur gefasst. Im Rahmen des Informationsdesigns kommt es in den 1980er und 1990er Jahren bereits zu einer Diskussion der kognitiven Funktion von visuellen Zeichensystemen, insbesondere von der Darstellung und Transformation von Informationen in Form von Diagrammen oder Mappings. Edward Tuftes Sammlung von Beispielen für »Visual Explanations« stellt einen wichtigen Beitrag zur Methodenforschung des Bildes dar, mit dem er die Potentiale visueller Darstellungsverfahren hervorhebt: »When principles of design replicate principles of thought, the act of arranging information becomes an act of insight.«11 Laut der Informationsdesign-Agentur »Dynamic Diagrams«12 setzt sich diese visuell realisierte Form der Erläuterung Folgendes zum Ziel: • • •
große Datenmengen schnell und effizient analysierbar zu machen, Muster und Entwicklungen hervortreten zu lassen, Anomalien und kritische Punkte auf einen Blick sichtbar zu machen.
Betont werden hier die funktionalen Aspekte: Visuelle Darstellungsverfahren sind Werkzeuge, um Informationen aufzubereiten und effizient zu kommunizieren. Dabei werden visuelle Aussagen ermöglicht, die in schriftlicher Form weit weniger ersichtlich werden und die jene dyna11. Tufte: Visual Explanation, S. 9. Vgl. auch ders.: Envisioning Informa-
tion. Cheshire, CT 1990; ders.: The Visual Display of Quantitative Information. Cheshire, CT 2001. Zu den rhetorischen Aspekten visueller Darstellungen vgl. auch Michael Hasset, Charles Kostelnick: Shaping Information: The Rhetoric of Visual Conventions, Illinois 2003. 12. Siehe [http://www.dynamicdiagrams.com], (letzter Zugriff am 17.03.2008).
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
mischen Entwicklungen und Muster hervortreten lassen, die sich der verbalsprachlichen Beschreibung nur schwer erschließen. Florian Dombois spricht in diesem Kontext von der »Erkenntnis durch Darstellung«13 und betont so den Zusammenhang zwischen Form und Inhalt, der für den Einsatz visueller Zeichensysteme als Erkenntniswerkzeug zentral ist. Nelson Goodman geht in »Sprachen der Kunst«14 explizit auf die Rolle von Notationssystemen ein. In seinen Erläuterungen zu »notationalen Sprachen« geht es ihm nicht um eine allgemeine Beschreibung des kognitiven Potentials von Bildern, sondern vielmehr um jene zentrale Frage, inwieweit visuelle Zeichen und Zeichensysteme funktional als Erkenntniswerkzeug eingesetzt werden können und welche Unterscheidungsmerkmale zur verbalen Sprache bestehen. Dazu benennt er fünf Kriterien der »Notationalität«, um Anhaltspunkte zur funktionalen Beschreibung eines notationalen Zeichensystems zu bieten. Er benennt: •
•
• • •
syntaktische Disjunktivität: alle Realisationen eines Zeichens sind syntaktisch äquivalent; sie dürfen zu nicht mehr als einem Zeichen gehören; syntaktisch endliche Differenzierung: auch die Nichtzugehörigkeit von Markierungen zu den Zeichen des Symbolsystems muss eindeutig möglich sein; Fehlen von Ambiguität: eine Mehrdeutigkeit einzelner Zeichen wird ausgeschlossen; Semantische Disjunktheit: deutliche Trennung des semantischen Gehalts eines Zeichens von einem anderen; Semantisch endliche Differenzierung: distinkte Anzahl von Elementen innerhalb des Systems.15
13. Vgl. Florian Dombois: cff – content follows form: Das Design am Übergang von naturwissenschaftlicher und künstlerischer Forschung, in: Swiss Design Network (Hrsg.): Forschungslandschaften im Umfeld des Designs, Zürich 2005, S. 41–52. 14. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1995, S. 125– 168. 15. Der Kriterienkatalog ist das Ergebnis einer detaillierten Untersuchung der Unterscheidungsmerkmale zwischen notationalen Sprachen, anderen Sprachen und Nicht-Sprachen, die Goodman differenziert. Vgl. zu diesen Kategorien
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2. Film als Zeichensystem
Ein Notationssystem ist nach Goodman eine notationale Sprache, die potentiell sowohl die syntaktischen als auch die semantischen Kriterien erfüllen kann. Sein Beispiel für ein solches System ist die musikalische Partitur, die neben der Funktion, ein Werk zu identifizieren, auch »[...] das Transponieren, das Verstehen, ja sogar das Komponieren«16 erleichtern könne. Als weiteres Beispiel führt er die Tanznotation nach Rudolf Laban an, die auch zur Entwicklung des hier vorgestellten Notationssystems des Films herangezogen wurde. Wie diese Tanznotation kann auch dieses Notationssystem die Goodmanschen Kriterien nicht vollständig erfüllen. So wird etwa das Kriterium der semantischen Disjunktheit vernachlässigt zugunsten der Option, bestimmte Aspekte nicht zu notieren oder verbal zu beschreiben. Auch die Offenheit der auditiven Notation im Notationssystem des Films widerspricht den Kriterien zugunsten einer höheren Praktikabilität. Doch genau der Kompromiss zwischen der Erfüllung dieser Kriterien einer reinen notationalen Sprache und Aspekten der Praktikabilität eines Systems ist nach Goodman ausschlaggebend für seine Anwendbarkeit und Qualität. Mit dem Vorschlag der alternativen Analysemethode bewege ich mich also insgesamt in einem Rahmen, der theoretisch bereits fundiert wurde. Die Methode lässt sich im Sinne Tuftes als ein visuell erklärendes Diagramm beschreiben, das durch die Art der Informationsvisualisierung Erkenntnisse generiert, die durch die verbale Beschreibung schwer zu erreichen sind. Nach Goodman ist es eine Methode, die auf den Prinzipien einer notationalen Sprache beruht, einer Sprache, die Einblicke in die Komposition eines Werks eröffnet und die gleichzeitig einen Werkzeugcharakter hat.
2.3. Visuell or ientierte Modelle der Filmanalyse Obwohl die Nützlichkeit von Notationsverfahren zur Unterstützung der Filmanalyse unter Filmtheoretikern bereits vielfach angemerkt wurde, konnte sich bisher kein einheitliches Verfahren durchsetzen. Bisher existieren lediglich vereinzelte Ansätze für eine Notation des auch Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, 2. erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2000, S. 474f. 16. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 126.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Abbildung aus Springer: Narrative und optische Strukturen im Bedeutungsaufbau des Spielfilms, S. 115. Das Bild zeigt die Syntagmen der sechsten und siebten Sequenz des Films Falsche Bewegung von Peter Handke und Wim Wenders.
Films, die auf einer visuellen Heuristik beruhen. Einige davon stelle ich nun als Überblick vor und diskutiere ihre Vor- und Nachteile. Neben einigen computergestützten Verfahren, die begleitend zur Erstellung eines schriftlichen Filmprotokolls verwendet werden und die gängigen Schemata von Schnittfrequenz und Einstellungslänge in Diagrammform produzieren,17 haben sich wenige alternative Nota17. Vgl. etwa die Modelle »CAFAS« von Werner Faulstich und Holger Poggel
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2. Film als Zeichensystem
tionsmethoden entwickelt, die die rein schriftliche Fixierung des filmischen Handlungsverlaufes verlassen. Bernhard Springer 18 beispielsweise wendet für seine semiotisch geprägte Analyse narrativer und optischer Strukturen des Spielfilms ein formalisiertes Notationsverfahren an, das sich an der tabellarischen Struktur des schriftlichen Filmprotokolls orientiert, zusätzlich jedoch ein System von Bildzeichen verwendet. In den Kategorien Zeit, Raum, Figur, optische Struktur/Sequenz, Prädikat und Situation bildet er einzelne Sequenzen des analysierten Films ab und fokussiert dabei die Syntagmen-Bildung. Dazu verwendet er zum einen Notationszeichen zur Darstellung unterschiedlicher Blenden, zum anderen entwickelt er ein formales Abkürzungs- und Bezeichnungssystem, mit dem er die formallogischen Beziehungen innerhalb der Einstellung zu beschreiben sucht. Ein Vorteil des Systems im Gegensatz zum rein sprachlichen Filmprotokoll ist die Möglichkeit, mit Notationszeichen einige filmtechnische Parameter abzubilden. Dadurch wird prinzipiell auf einfache Weise ersichtlich, in welchen Einstellungsgrößen eine bestimmte Szene realisiert wurde. Springer löst sich jedoch nicht von der tabellarischen Abbildungskonvention des Filmprotokolls, so dass das von ihm vorgeschlagene Modell lediglich als eine Präzisierung des Filmprotokolls gesehen werden kann, die nicht die Vorteile einer optischen Strukturierung des Filmverlaufs mit sich bringt, da sie linear rezipiert werden muss. Es stellt sich somit die Frage nach einem kognitiven Mehrwert dieser Art der Darstellung. Ein weiteres Beispiel für eine formalisierte Zeichenkonvention zur Beschreibung filmischer Strukturen liefert der Beitrag Ekkat Kaemmerlings. Er entwirft ein System der rhetorischen Montagefiguren.19 Am Beispiel von zwanzig Figuren illustriert er diesen Ansatz, um einerseits zu zeigen, dass die Montage im Film als rhetorische Figuration aufgefasst werden kann, andererseits, um diese Figuren in formelhaften Ausoder »Filmprot« von Günter Giesenfeld und Philipp Sanke; Darstellung der Systeme in: Helmut Korte, Werner Faulstich (Hrsg.): Filmanalyse interdisziplinär, (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, hrsg. von Helmut Kreuzer, Beiheft 15), Göttingen 1988. 18. Springer: Narrative und optische Strukturen im Bedeutungsaufbau des Spielfilms, S. 29ff. 19. Vgl. Ekkat Kaemmerling: Rhetorik als Montage, in: Friedrich Knilli (Hrsg.): Semiotik des Films, Frankfurt a. M. 1971, S. 94–109.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Abbildung des Systems von Kaemmerling.
drücken zu präzisieren. Er verzichtet jedoch auf die Verifikation der Anwendbarkeit seines Systems auf den Film. Schwierigkeiten ergeben sich beispielsweise bereits bei der Übertragung der Rede-Figuren der Anapher und Epipher auf den Film. Eine Wiederholung exakt derselben Einstellung am Anfang bzw. Ende aufeinander folgender Sequenzen findet als Kunstmittel im Film äußerst selten Anwendung. Es lassen sich kaum Beispiele benennen, in denen ein »Filmbild« ohne Variation wiederholt wird, da sich daraus ein Verfremdungseffekt ergeben würde. Um ein Element zu betonen oder kunstvoll auszuschmücken, werden im Film andere Stilmittel verwendet, die der dynamischen und audiovisuellen Struktur des Mediums mehr entsprechen, wie das Polyptoton oder die Variation. Dadurch, dass Kaemmerling jedoch von dem Kanon der rhetorischen Figuren der Sprache ausgeht und die filmspezifische Überprüfung nicht unternimmt, gelangt er zu einer wenig anwendungsbezogenen Figurenliste.20 Die Abstraktion der Figurenlehre aus dem Kommunikationssystem der Rhetorik heraus, gekoppelt mit der extremen Formalisierung, birgt somit konzeptuelle Schwierigkeiten. Bei Kaemmerlings System handelt es sich nicht um ein Notationssystem im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um eine Konvention für den formelhaften Ausdruck einzelner rhetorischer Figuren. Er unternimmt den Versuch, rhetorische Montagefiguren auf eine be20. Hermann Barth kritisiert darüber hinaus an dem Ansatz von Kaemmerling, dass er »das Vorurteil von der Rhetorik als bloßer Nomenklatur« bestätige. Barth: Psychagogische Strategien, S. 13.
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2. Film als Zeichensystem
Abbildung aus Dietrich Hahne: Komposition und Film.
grenzte Menge an Formausdrücken zu reduzieren. Zwischen bestimmten, mit Buchstaben bezeichneten filmischen Elementen fügt er Relationen ein, die er mit mathematischen Zeichen wie Äquivalenz, Opposition oder Identität charakterisiert. Die Systematisierung der Figur Klimax hat bei Kaemmerling beispielsweise die abgebildete Form. Augenscheinlich ist das eine sehr komplizierte und aufwändige Form der Notation, so dass sich seine Vorschläge nicht durchsetzen konnten. Bei diesem System stellt sich insgesamt das Problem der Operationalisierbarkeit, da die Vielzahl der Formalisierungen die Rezeption erschwert. Auch bleibt seine Auflistung der formalisierten Montagefiguren ein Einzelfall. Zwar legt Kaemmerling ein Modell zur detaillierten Beschreibung filmischer Strukturen vor, jedoch nimmt er nicht die zur Handhabung eines Systems nötigen Reduzierungen vor, so dass der Notationsaufwand – selbst einfacher filmischer Operationen – unangemessen groß wird. Weitere alternative Modelle zur Visualisierung von Filmstrukturen entwerfen Wolfgang Ramsbott und Joachim Sauter auf der Basis von Computerdaten, mit deren Hilfe zweidimensionale und dreidimensionale Grafiken erstellt werden.21 Unter Einbeziehung der Parameter der 21. Wolfgang Ramsbott, Joachim Sauter: Visualisierung von Filmstruktu-
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Einstellungsgröße, Kameraachse, Perspektive, Bewegung (Kamera, Objekt), Special Effects und Tonebene werden unterschiedliche grafische Umsetzungen zur Veranschaulichung des filmischen Bauprinzips realisiert. Dabei entstehen optische Muster, die zum Teil die Entwicklung der filmtechnischen Parameter abbilden, zum Teil auch grafische, dreidimensionale Objekte entstehen lassen. Ramsbott und Sauter selbst weisen jedoch darauf hin, dass es sich nicht um ein Analyseverfahren im streng wissenschaftlichen Sinne handelt, da die Präzision der Notation zugunsten des grafischen Ausdrucks vernachlässigt wird. Vielmehr geht es in diesem Ansatz darum, auf experimentellem Wege unterschiedliche Verfahren der Notation filmischer Strukturen zu entwickeln, die zur Grundlage für ein visuelles Notationssystem dienen können. Somit sind diese Modelle zu analytischen Zwecken nicht weit genug entwickelt, um einen tragfähigen Analyseansatz zu bilden, sie weisen jedoch in eine interessante Richtung, um auf experimentellem Wege zu neuen Darstellungsformen zu gelangen. Als letztes Beispiel führe ich das System von Dietrich Hahne an, das mittels eines visuellen Verfahrens das Zusammenspiel von Filmmusik und Bildebene darstellt.22 Auch Hahne entwickelt ein System von Bildzeichen zur Darstellung kameratechnischer Parameter und trägt diese in einem horizontalen Notationsfeld ab. Das System leidet jedoch unter der fehlenden Reduzierung der abgebildeten Parameter. Zudem wird, wie in den übrigen Beispielen auch, die Ebene des Filmbildes nicht mit einbezogen, sondern lediglich beschrieben. Zwar hält Hahne in der Konzeption des Notationsverfahrens richtig fest, dass bei der grafischen Umsetzung eine Konzentration auf wesentliche bildkompositorische Merkmale zu erfolgen habe, die sich jeder Form der Inhaltlichkeit enthalten solle. Die grafische Umsetzung stellt sich jedoch selbst als ein sehr komplexes System dar, das einen hohen Aufwand zur Dekodierung erfordert. Ergebnis der Diskussion bisheriger Notationssysteme ist es, dass keines der vorgestellten Beispiele die Anforderungen an eine formale Reduzierung der Darstellung, eine Erlernbarkeit der Zeichenkonvenren mit rechnergestützen Mitteln, in: Helmut Korte, Werner Faulstich (Hrsg.): Filmanalyse interdisziplinär, (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, hrsg. von Helmut Kreuzer, Beiheft 15), Göttingen 1988, S. 156–165. 22. Dietrich Hahne: Komposition und Film: Projekt nach Motiven aus Camus’ »Der Abtrünnige« für Chor, Orchester und Spielfilm, Essen 1992.
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2. Film als Zeichensystem
tion und eine kognitive Effizienz der Darstellung in vollem Umfang erfüllt. Die angeführten Beiträge bleiben Einzelbeispiele, deren Notationskonventionen nicht wieder aufgegriffen wurden. Meiner Ansicht nach ist es für ein solches Notationssystem ausschlaggebend, welche formale Qualität der Entwurf hat. Die Forderungen nach einem visuell erklärenden Charakter der Zeichen, nach ihrer syntaktischen und semantischen Differenzierung, können nur dann erfüllt werden, wenn bei der Entwicklung der Notationszeichen eine kohärente Abbildungslogik bedacht wird. Diese Zeichen haben keinen ikonischen Charakter, vielmehr sind es Indices und Symbole, die es in systematischer Weise zu entwickeln gilt.
2.4. Das Notationssystem audio-visueller Rhetor ik Als Alternative stelle ich ein System vor, das sich in der Anwendung zur Analyse von Filmsequenzen als einfach in der Handhabung gezeigt hat und sich zudem für eine präzise Visualisierung filmtechnischer Parameter wie auch rhetorischer Figurationen eignet.23 Die Struktur einer Sequenz wird im System nach vorher definierten Konventionen in No23. Die erste Version des Notationssystems habe ich in Zusammenarbeit
mit Sandra Buchmüller im Rahmen meiner Diplomarbeit bei Gui Bonsiepe entwickelt. Vgl. Sandra Buchmüller, Gesche Joost: Audio-visuelle Rhetorik, Manuskript Köln 2001, unveröffentlicht, Diplomprüfung an der Fachhochschule Köln, Fachbereich Design, Juli 2001. In dieser ersten Version wurden die Notationszeichen sowie die Notationskonvention speziell für die Analyse von Werbefilmen entwickelt. In der hier vorgestellten Fassung des Systems wurden die Notationszeichen überarbeitet sowie die Darstellung so optimiert, dass sie sich für die Analyse von Stummfilmsequenzen (Dauer von bis zu sechs Minuten) eignet. Für diesen Zweck sind einige Notationszeichen hinzugekommen (zum Beispiel für die Zwischentitel des Stummfilms), andere kommen nicht zur Anwendung (zum Beispiel die Zeichen zur Darstellung von gesprochenen Dialogen). Insgesamt habe ich die Notationen vereinfacht, um bestimmte filmische Parameter in der Analyse zu fokussieren. Die fokussierten Parameter sind insbesondere die BildSchnitt-Kette, die rhetorischen Figuren, die Objektreferenz und die Filmmusik. Darüber hinaus habe ich eine vereinfachte Darstellungsweise entwickelt, die es ermöglicht, zwei Filmsequenzen parallel zueinander im Notationssystem darzustellen und zu vergleichen. Bei diesen Weiterentwicklungen wurde insgesamt
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
tationszeichen umgesetzt. Das so entstehende Protokoll lässt Rückschlüsse auf den Aufbau und die angewandten Gestaltungstechniken zu und beschreibt so Aspekte der rhetorischen Regelbasis. Das System erhielt in der Konzeption Anregungen von bestehenden Systemen zur Notation von Choreografien des Tanzes. Insbesondere das bereits erwähnte Notationssystem von Rudolf Laban, das 1928 unter dem Namen »Kinetografie« veröffentlicht wurde,24 diente als Inspiration, um ein formal reduziertes, abstraktes Zeichensystem zu entwerfen, das zur Darstellung komplexer Zeichenprozesse genutzt wird. Die reduzierte Darstellung von Bewegung durch einfache Icons, die auf der Grundform des Rechtecks beruhen, wurde beim Entwurf des audio-visuellen Notationssystems aufgenommen. Weitere Anregungen bezieht das System aus den heute gängigen Programmen zur digitalen Bearbeitung von Musik, wie zum Beispiel dem Programm »Cubase«. Die Aufteilung der Spuren, die horizontal übereinander angeordnet sind und einzeln bearbeitet werden können, ist ein Prinzip dieser heute gängigen Musiksoftware, das für das Notationssystem übernommen wird. Die übersichtliche Aufteilung und Handhabung der einzelnen Spuren und Parameter fließt als Anregung in den Entwurf ein. Die Grundannahmen für die Konzeption des Systems können in sechs Punkten zusammengefasst werden. Sie beziehen sich sowohl auf das zugrunde liegende theoretische Modell wie auf dessen Umsetzung im System der Zeichen. Eine Auflistung der einzelnen Einstellungszeichen und ihrer Bedeutung findet sich im Anhang. Sie kann herangezogen werden, um die Beschreibung des Systems anhand der konkreten Zeichen nachzuvollziehen.
deutlich, dass die Notationszeichen je nach Anwendung und Fokus leicht variiert werden können, um besonderen filmspezifischen Parametern Rechnung zu tragen. Das bedeutet, dass sich der Satz von Notationszeichen, der hier vorgestellt wird, nicht für die Analyse von Filmen eignet, die sich beispielsweise durch eine besondere innerbildliche Dynamik auszeichnen. Ein nächster Schritt für die zukünftige Weiterentwicklung des Systems ist es folglich, für unterschiedliche Anforderungen beziehungsweise Filmgenres unterschiedliche Sätze von Notationszeichen zu entwickeln. 24. Rudolf von Laban: Kinetografie – Labanotation: Einführung in die Grundbegriffe der Bewegungs- und Tanzschrift, hrsg. von Claude Perrottet, Wilhelmshaven 1995.
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2. Film als Zeichensystem
1. Syntagmatische und paradigmatische Ebene
Für das Notationssystem wird das theoretische Modell von Syntagma und Paradigma angenommen. Die Kategorie des Paradigmas bezeichnet die Auswahl der Möglichkeiten der Inszenierung eines bestimmten Elements. Die Kategorie des Syntagmas bezeichnet die Aufbaukategorie und beschreibt damit die Folge der einzelnen Elemente. Das »Gewebe« des Films entspannt sich zwischen diesen gedachten Achsen. 2. Visuelle, auditive und korrelative Spuren
Das Notationsfeld selbst bildet die zeitliche Ausdehnung des Films entlang der horizontalen Achse ab. Entlang der vertikalen Achse werden unterschiedliche filmtechnische Parameter in Spuren abgetragen. Sie gliedern sich insgesamt in drei Kategorien: die visuellen und die auditiven Spuren sowie die Spur der audio-visuellen Korrelation. In den visuellen Spuren werden die mehr bildlich orientierten Parameter des Films abgetragen, wie etwa die Einstellungsgrößen, die Kameraperspektive und die Art der Konjunktion der Elemente. In den auditiven Spuren geht es um alle Arten der auditiven Gestaltung des Films, die sich in Sound, Musik und Dialoge gliedern lassen. Wenn der Film in beiden Spuren notiert ist, wird die dritte Spur, die Korrelationsspur, ergänzt. Sie definiert die dominante Form der Kombination zwischen den auditiven und visuellen Spuren als Figuren der audio-visuellen Kombination. Sie lassen sich in den drei Figuren der Konvergenz, Divergenz und Komplementarität beschreiben.25 Auf diese Weise kann auf einer Meta-Ebene die übergeordnete Relation zwischen den auditiven und visuellen Zeichen beschrieben werden, die als Ergänzung zur detaillierten Untersuchung einzelner Parameter innerhalb der auditiven und visuellen Spuren konzipiert ist. 3. Bezeichnung der Spuren
Als Standard-Spuren des Systems sind im auditiven Bereich folgende Spuren definiert: Musik (im »off« und im »on«), Geräusche und Dialog. Im visuellen Bereich sind Schrift/Grafik, Montagefiguren, Bild/Schnitt, Perspektive, Objektreferenz, Schärfe und Bilddynamik als 25. Sie sind in Kapitel 3.4. näher beschrieben.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Abbildung des Notationsfeldes in schematischer Darstellung.
Spuren festgelegt. Für die spezifische Anwendung des Systems für unterschiedliche Filme bzw. Genres lassen sich die Spuren erweitern. Es können also, je nach Anwendungsfall, beispielsweise Spuren für die Notation von Farbe und Formen angefügt werden. Das System ist also erweiterbar und wird hier in einer Grundform vorgestellt, die sich für die Notationen im Rahmen der Fallstudie eignet. 4. Entwicklung der Notationszeichen
Bei der Entwicklung des visuellen Zeichenrepertoires für das Notationssystem gilt es, zum einen Grundelemente als kleinste gemeinsame Nenner der Zeichen zu definieren, zum anderen Abbildungskonventionen und -logiken zu definieren, die eine Kohärenz bei der Entwicklung der Zeichen gewährleisten. Sie müssen die Goodmanschen Kriterien der semantischen und syntaktischen Differenzierung erfüllen. Ein Grundelement ist das Zeichen für eine filmische Einstellung, das ich als rechteckigen Bildrahmen definiere. Innerhalb dieses Bildrahmens werden die Spezifika der Mise en Scène bezeichnet, das bedeutet, dass die Größenrelation des gefilmten Objekts zu seinem Bezugsrahmen in den Einstellungszeichen abgebildet wird. Zwischen den einzelnen Bildrahmen werden die Montagekonjunktionen angezeigt, die sich auf der filmtechnischen Ebene als Schnitt, Blende und Mehrfachbelichtung definieren lassen. Die rhetorischen Konjunktionsfiguren werden darüber hinaus eingetragen, sie sind jedoch nicht visuell 70
2. Film als Zeichensystem
Zuordnung der Einstellungsgrößen zu den Notationszeichen.
kodiert. Für die Einstellung wird eine Kreisform eingeführt, die jene relative Größe des Objekts in Bezug zum Ausschnitt darstellt (Nahaufnahme, Großaufnahme, amerikanische Einstellung, Halbtotale / Totale, Panorama). Die Nahaufnahme, als größte bezeichnete Einstellungsgröße, wird durch einen vollständig ausgefüllten Bildrahmen bezeichnet – die Kreisform im Rechteck füllt dieses somit ganz aus. Richtungweisend für die Terminologie der Einstellungsgrößen ist die Einteilung nach Steven Katz .26 Die von ihm benannten Größen werden für das Notationssystem in fünf Icons zusammengefasst, so dass sich beispielsweise für die Halbtotale und die Totale nur ein Icon ergibt (siehe Schema). Die Anzahl der Icons reduziert sich durch diese Zusammenfassung, so dass das System leichter erlern- und anwendbar wird. Für diese Entscheidung war es ausschlaggebend, dass die Praktikabilität des Systems im Vordergrund steht, und diese kann nur gewährleistet werden, wenn die Menge der Zeichen auf ein Mindestmaß reduziert wird. Eine weitere Abbildungskonvention ist die der dynamischen Entwicklung eines Parameters: sie wird generell durch eine horizontale Linie dargestellt. Zum Beispiel wird bei dem Zeichen für die dynamische Schärfenentwicklung eine horizontale Linie verwendet, die die Zeichen für Schärfe und Unschärfe miteinander verbindet. Geht die Kamera al26. Steven D. Katz: Shot by Shot – Die richtige Einstellung: Zur Bildspra-
che des Films, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 170ff.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
so ohne Schnitt von der scharfen zu einer unscharfen Fokussierung, so wird diese Entwicklung durch die horizontale Linie angezeigt, die die beiden Icons miteinander verbindet. Kameratechnische Parameter werden generell außerhalb des Bildrahmens angebracht, um das Einstellungs-Icon informationell nicht zu überfrachten. So werden die Perspektive, die Kamerabewegung und die Schärfe jeweils außerhalb des Bildrahmens angefügt und beziehen sich auf die zugehörige Einstellung. Ein Punkt unter einem Icon für die amerikanische Einstellung bedeutet beispielsweise, dass es sich um eine Froschperspektive handelt, ein Punkt am oberen Rand des Zeichens eine Vogelperspektive. Die Interpretation rhetorischer Stilmittel wird visuell durch Bezugslinien und Klammerungen abgebildet und zusätzlich begrifflich fixiert. So werden rhetorische Figuren wie etwa ein Parallelismus oder eine Paronomasie durch eine Klammer visuell zusammengeführt und mit der Bezeichnung der Figur konkretisiert. 5. Notation der visuellen und auditiven Spuren
Die Bild/Schnitt-Kette ist das Kernstück der visuellen Spuren, die sich im Wesentlichen als eine Abfolge von Einstellungs-Icons und Montagekonjunktionen darstellt. Hier wird abgetragen, welche Einstellungsgrößen aufeinander folgen, wie lang sie zeitlich gesehen sind und mit welcher Art der Konjunktion die folgende Einstellung verbunden wird. Ausgehend von dieser Notation werden die anderen Spuren notiert: die Schärfe, Bilddynamik, Kamerabewegung, die Dialoge und anderen auditiven Zeichen. Sie orientieren sich an der Bild/Schnitt-Kette, da diese die Referenz für die Folge der Einstellungen ist. Die übrigen Parameter beziehen sich auf die einzelnen Einstellungen und ihre Abfolge und müssen insofern in Relation zu ihnen abgetragen werden. Der Maßstab für die Notation ist durch eine Zeitskala gegeben, die am oberen Rand des Notationsfelds erscheint. Der Protokollierende kann beispielsweise zeitgenau notieren, wann eine Einstellung beginnt und endet, wie sich die Schärfe und Fokussierung entwickelt, an welcher Stelle der Dialog einsetzt und wann ein neues Motiv der Filmmusik zu hören ist. Für die visuellen Spuren sind die Notationszeichen genau festgelegt, und so gibt es ein distinktes Zeichen für eine Totale, eines für den Schwenk, eines für die Mehrfachbelichtung. Die Notation der auditiven Ebene ist hingegen insgesamt freier. Hier geht es in erster Linie darum, 72
2. Film als Zeichensystem
Dialogsequenzen den jeweiligen Einstellungen auf der Bildebene zuzuordnen, Geräuschcharakteristiken oder -dominanzen einzutragen sowie eine musikalische Verlaufskurve aufzuzeichnen, die anhand ihres Linienmodus oder anderer Visualisierungsformen eine Grundcharakteristik der Musik zum Ausdruck bringt. Ein durchgehendes Stakkato kann beispielsweise durch eine punktierte Linie angezeigt werden, es kann aber auch durch kurze Abwärtsstriche visualisiert werden. Diese Notationszeichen, ihre Logik und Beschreibungskompetenz basiert auf den Konventionen von Notationsbeispielen Neuer Musik, wie sie John Cage und Karlheinz Stockhausen vorstellen.27 Dabei geht es nicht um eine exakte Wiedergabe musikalischer Verläufe, wie sie durch die musikalische Standardpartitur abgebildet wird, sondern vielmehr um Klangfarben, Tonhöhen und Rhythmen sowie die Art ihres Zusammenspiels mit der Bildebene. Bei der Notierung dieser Parameter kann mit zusätzlicher verbaler Beschreibung gearbeitet werden, um die Notation zu präzisieren. 6. Reduzierung und Fokussierung
Das Notationssystem bezieht sich auf die Ausdehnung in der realen Zeit, und so werden die Einstellungen im angegebenen Maßstab in ihrer zeitlichen Länge abgetragen. Es besteht die Möglichkeit, nur ausgewählte Szenen oder Einstellungen zu notieren: Die ausgelassenen Zwischenteile werden durch eine eckige Klammer mit Auslassungszeichen gekennzeichnet. Dieses Verfahren bietet sich beispielsweise an, wenn sich eine Einstellung zeitlich sehr lang ausdehnt oder wenn die Notation eines bestimmten Zwischenteils für die Interpretation von geringer Bedeutung ist. Ebenso können für die jeweilige Notation bestimmte Spuren ausgeblendet werden. Für die Anwendung auf den Stummfilm beispielsweise werden die Spuren des Dialogs und des Geräusches ausgeblendet. Durch dieses Verfahren kann ebenfalls eine Fokussierung bestimmter Parameter umgesetzt werden, wenn es etwa in einer Analyse speziell um die Montagefiguren oder um die Perspektive der Kamera geht. In der Anwendung ist das System somit flexibel und richtet sich je nach dem Erkenntnisinteresse und dem Fokus der Analyse aus. 27. Vgl. die Darstellung der Notationen in: Erhard Karkoschka: Das Schriftbild der neuen Musik, Celle 1966, S. 97–100 und S. 154–163. Hier wird ihre Abbildungslogik analysiert und systematisch vorgestellt.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Mit Hilfe dieses Visualisierungsverfahrens wird die Struktur des Films in einem übersichtlichen Diagramm dargestellt. Dieses Diagramm bietet die Möglichkeit der synchronen Betrachtung parallel angeordneter Spuren. Das entstehende Bild kann also als eine Übersicht synchron rezipiert werden, wobei die Transskription in Icons ein schnelles Erfassen der Struktur ermöglicht – unter der Prämisse, dass das System der Notationszeichen erlernt wurde. Dem Rezipienten eröffnen sich quasi auf einen Blick das gestaltungstechnische Gerüst und die rhetorische Struktur des Films. Er kann dynamische Entwicklungen anhand der Notation ablesen, sieht, an welcher Stelle von den filmischen Gestaltungsmitteln her ein Höhepunkt gesetzt wird, kann nachvollziehen, wie das Zusammenspiel von auditiven und visuellen Parametern aufgebaut ist. Bei der Visualisierung werden die Mittel der Reduktion, der Strukturierung und grafischen Akzentuierung eingesetzt. In der Zusammenschau der unterschiedlichen Spuren wird die Interpretation bestimmter Konstellationen als rhetorische Muster möglich, die sich als visuelle Muster auch grafisch in dem Notationsprotokoll erschließen – ein Parallelismus ist beispielsweise durch die wiederkehrende Abfolge derselben Zeichen abzulesen. Die Zielsetzung dieses Systems ist es nicht, in erster Linie als Hilfsmittel beim Entwurf einer Anwendung zu dienen oder eine rein dokumentarische Funktion zu übernehmen. Die Analyse steht im Vordergrund, wobei das Notationssystem als kognitives Werkzeug begriffen wird, das der Benutzer individuell als Grundlage einer Interpretation einsetzt. Die Notationsprotokolle, die für die Fallstudie erstellt worden sind, finden sich in animierter Form unter www.geschejoost.org/AVRhetorik. Der Film wird direkt oberhalb der Notationen angezeigt, so dass die Animation des Protokolls und der Film parallel abgespielt werden können. Das hat den Vorteil, dass sich der Rezipient leicht in der Notation orientieren kann und auf einen Blick sieht, welche Szene des Films in welcher Art notiert wurde. Mit dieser Art der Darstellung erreiche ich, dass mit Hilfe der Multimedia-Technologie der Film selbst als Analysematerial gezeigt werden kann und als Teil der wissenschaftlichen Arbeit integriert wird. Das Notationsprotokoll ist durch diese Parallelschau besser nachvollziehbar und kann auch im Detail der einzelnen Zeichen rekapituliert werden. Durch die Animation des Protokoll-Diagramms können darüber hinaus dynamische Entwicklungen besser gezeigt werden, als es durch ein statisches Bild möglich wäre. 74
2. Film als Zeichensystem
Die einzelnen Zeichen des Systems sind im Anhang detailliert aufgelistet, und auch auf den Notationsprotokollen ist jeweils eine Zeichenlegende zu finden, die den Umgang mit dem System erleichtern soll. In mehreren Seminaren konnte ich das System bereits mit Studierenden ausprobieren und weiterentwickeln. Dabei ergab sich zudem eine zweite Anwendungsmöglichkeit, die sich auf die Konzeption eines Films bezieht: Als Ergänzung zu einem Storyboard kann das System dazu eingesetzt werden, um den Verlauf eines Films zu konzipieren, um seine rhetorische Struktur hinsichtlich der Klimax, der audio-visuellen Kombination oder der syntaktischen Struktur festzulegen. Meines Wissens nach besteht ein solches System für Filmemacher bisher nicht, und es ließe sich in der Praxis testen, inwieweit eine solche visuelle Sprache sich als ein geeignetes Instrument der Filmkonzeption herausstellt.
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3. Die rhetor ische Maschine Nachdem nun Perspektiven für eine audio-visuelle Rhetorik des Films entwickelt und methodische Fragen geklärt wurden, geht es um die Ausarbeitung der theoretischen Grundzüge. Es gilt zu klären, welche Theorien die Allgemeine Rhetorik, wie sie im Tübinger Ansatz systematisch zusammengeführt werden, bereitstellt, um Film zu beschreiben. Bei dieser Beschreibung geht es nicht um eine allgemeine Filmtheorie, sondern um eine rhetorische Perspektive auf die kommunikative Funktion des Films. Motivation ist es aufzudecken, auf welches System bei der Konzeption eines Films zurückgegriffen werden kann, um erfolgreich zu kommunizieren. Erfolgreich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Adressierung gelingt – ausschlaggebend ist somit die Wirkung auf das Publikum. Um eine bestimmte Wirkung beim Publikum hervorzurufen – sei es, zu unterhalten oder mitzureißen – werden bei der Gestaltung bestimmte Techniken eingesetzt, und diese sind rhetorischer Art. Den Zusammenhang zwischen diesen rhetorischen Gestaltungstechniken und ihrer Wirkungsdimension wie auch die Techniken selbst erläutert die Filmrhetorik. Sie kann, pragmatisch gesehen, als ein Set von Werkzeugen für die Filmproduktion betrachtet werden, und hat in dieser Hinsicht auch einen ganz praktischen Verwendungszusammenhang. Roland Barthes verglich die Rhetorik mit einer »Strumpfmaschine«: »Bei der Maschine […] werden vorn Textilien eingespeist und am Ende kommen Strümpfe heraus.«1 Davon abgeleitet beschreibt Barthes die Rhetorik als einen systematischen Ablauf von Funktionen, als ein System, in das »Material« im Rohzustand eingespeist wird, und das nach Beendigung des Verarbeitungsprozesses ein strukturiertes Produkt liefert. Das Produkt ist der »für die Überredung gerüstete […] Diskurs«.2 Auch wenn dieser Vergleich die vielfachen Nuancen und Bedeu1. 2.
Barthes: Die alte Rhetorik, S. 15–101, S. 52. Ebd.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
tungen der Rhetorik stark reduziert, so ist die gewählte Metapher trotzdem sehr anschaulich: Die rhetorische Maschine ist nichts anderes als ein Werkzeug, ein Mittel, um ungestaltetes Material auf der Grundlage eines Regelwerks zu transformieren, um daraus ein rhetorisch strukturiertes Produkt zu fertigen. Gegen diese Metapher ist anzuführen, dass eine solche unidirektionale Verkettung von Eingabe und Ausgabe, eine technoide Auffassung der Rhetorik insgesamt zu kurz greift – das wird deutlich, wenn ich später die Facetten des rhetorischen Kommunikationsmodells erläutere. Jedoch sind einerseits die Charakterisierung einer funktionstüchtigen Maschine zur Herstellung eines wirkungsmächtigen Produktes und andererseits auch das quasi maschinengleiche Ineinandergreifen bestimmter Techniken Aspekte, die die Rhetorik des Films in plakativer Weise zu beschreiben vermögen. Zum Verständnis der Motivation einer rhetorischen Theorie des Films nehme ich dieses Bild als Ausgangspunkt an, um es in der Analyse des rhetorischen Systems zu differenzieren.
3.1. Das Funktionsmodell Für die Konstruktionszeichnung der »rhetorischen Maschine« bedarf es der Differenzierung ihrer Elemente und ihrer Funktionsweise. Bei Barthes’ »Strumpfmaschine« blieb die Maschine selbst eine Art Black Box, bei der nur die Ein- und Ausgabemodalitäten benannt wurden. Um das Bild der Maschine für unseren Kontext jedoch nicht nur in Umrissen zu erfassen, unternehme ich den Versuch, die Elemente zu separieren, zu beschreiben und miteinander in Beziehung zu setzen. Wie weit sich das Bild der Maschine für diesen Zweck als tragfähig erweisen wird, ist jedoch noch offen. Funktion der Maschine ist die Herstellung von wirksamer Kommunikation, die Herstellung einer Nachricht, wie es in Anlehnung an Karl Bühlers Organonmodell formuliert werden kann.3 Die Kommunikation entspannt sich zwischen dem Sender und Empfänger der Nachricht, folglich sind dies zunächst die drei grundlegenden Elemente der rhetorischen Maschine. Sie können mit den drei maßgeblichen Bezugsgrößen der rhetorischen Kommunikation in Verbindung gebracht Karl Bühler: Die Axiomatik der Sprachwissenschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 147 und S. 164; und ders.: Sprachtheorie, Stuttgart 1965, S. 28. 3.
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3. Die rhetorische Maschine
werden, die Aristoteles in der »Rhetorik« klar definiert: »Dreierlei braucht man für eine Rede: einen Redner, einen Gegenstand und eine Zuhörerschaft, und dieser letzte, der Zuhörer, ist richtunggebend.«4 Mit diesem rhetorischen Grundsatz werden die Elemente jedoch nicht nur aufgereiht, sondern vielmehr in ihrer Beziehung zueinander präzisiert: Die rhetorische Kommunikation richtet sich am Zuhörer aus, das ist ein Axiom der Rhetorik. Um die drei Elemente nach dieser Maßgabe zu präzisieren, setze ich also die Begriffe des Rhetors, des Mediums und des Adressaten als Basiselemente der rhetorischen Maschine ein. Um das Bild noch ein wenig weiter zu treiben, nehme ich an, dass der Rhetor gleichsam Bediener der Maschine ist, der Adressat hingegen jener, für den ihr Produkt bestimmt ist. Über den Erfolg der Kommunikation, und somit über den erfolgreichen Lauf der Maschine, entscheidet der Adressat: Kann bei ihm eine bestimmte Wirkung hervorgerufen werden, ist für ihn die Nachricht überzeugend, so kann die rhetorische Konzeption des Rhetors als gelungen gelten. Die hier beschriebene Maschine bezieht sich auf die medial vermittelte Kommunikation, nicht auf die Rede im Sinne eines mündlich gehaltenen Vortrags vor einem Publikum. Es geht dabei um so unterschiedliche Medien wie Film, Radio, Theater-Performance oder Zeitung, die sich durch eine indirekte, durch ein Medium vermittelte Kommunikation mit einem Publikum auszeichnen. Für die weitere Beschreibung gilt es nun, tiefer in das Zusammenwirken der genannten Elemente einzudringen, um grundlegende Fragen zu klären: Welche Rolle spielt die Wahl des Mediums für die Kommunikation? Was ist die Funktion des Rhetors? Welche Aufgabe übernimmt der Adressat im Kommunikationsprozess? Zur Klärung dieser Fragen verlasse ich zunächst das Bild der Maschine und untersuche die einzelnen Elemente separat.
3.1.1. Film als Medium Dass die Wahl des Mediums weitreichende Auswirkungen auf das Kommunizierte, auf die Nachricht hat, ist seit dem plakativen Satz Marshall McLuhans »The medium is the message« eine bekannte These. An einem Beispiel wird dieser Zusammenhang besonders deutlich. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort v. Franz G. Sieveke, München 1989, S. 20f. (1358a). 4.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
1938 wurde im Radio das Hörspiel War of the Worlds 5 gesendet – und diese fiktive Reportage einer Landung von Marsmenschen wurde von vielen Zuhörern – wohl unvorhergesehen – als realistisch empfunden, so stellte es die Presse damals dar. Orson Welles entschied sich zum damaligen Zeitpunkt, aus der Romanvorlage ein Hörspiel und nicht einen Science-Fiction-Film zu produzieren. Diese Entscheidung hatte weitreichende Konsequenzen: Ein Film hätte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dieselbe enorme Wirkung ausgelöst wie das Hörspiel. Laut Zeitungsberichten kam es zu vielfachen Panikreaktionen, es wurde berichtet, dass Zuhörer der Sendung teilweise in Luftschutzkellern oder Kirchen Zuflucht suchten, in der Annahme, dass ein Raumschiff auf der Erde gelandet sei. Auch wenn diese Berichterstattung in einigen Fällen wohl als übertrieben gelten kann, wird an diesem Beispiel deutlich, welche Wirkungsmacht die Inszenierung hatte. Ein Grund für diese Wirkung ist in der Wahl des Mediums zu suchen. Die Mehrzahl der Zuhörer schaltete vermutlich inmitten der Sendung im Radio zu und verpasste so die wichtige Information, dass es sich um ein fiktives Hörspiel handelte. Der Reportage-Stil, ein bekanntes Radio-Format, suggerierte daraufhin eine aktuelle und reale Berichterstattung, und diese Annahme einer realen Situation löste die Panik der Zuhörer aus. Wären – in einem Science-Fiction-Film im Kino – konkrete Bilder von Außerirdischen gezeigt worden, wäre es nicht zu einer derartigen Reaktion gekommen. Wenn man Welles in seiner Funktion als Rhetor betrachtet, so zeigt sich seine Wahl des Mediums als sehr erfolgreich, da die mitreißende und erschreckende Wirkung seiner Inszenierung in vollem Maße eingetreten ist. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, dass sich die Wirkung verselbstständigt hat und sich der Kontrolle des Rhetors teilweise entzog – konnte das Produktionsteam kalkulieren, welche Auswirkungen es mit sich brachte, dass die Information über den fiktiven Charakter der Reportage großenteils verloren ging? Konnten sie einschätzen, in welcher Weise die Presse reagieren würde, die im Nachhinein maßgeblich an der Konstruktion einer Erfolgsgeschichte beteiligt war? 5. Orson Welles und das Mercury Theatre on the Air produzierten das Hörspiel War of the Worlds von H. G. Wells, das am 30.10.1938 über das Columbia Broadcasting System gesendet wurde. Vgl. u. a. Werner Faulstich: Radiotheorie: Eine Studie zum Hörspiel »The War of the Worlds« (1938) von Orson Welles, Tübingen 1981.
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3. Die rhetorische Maschine
Um den Begriff des Mediums theoretisch zu fassen, liefert zunächst Knape eine allgemeine Definition, in der das Medium als »eine Einrichtung zur Speicherung und Sendung von Texten«6 expliziert wird. Sie zielt auf den kommunikationstechnischen Aspekt, bei dem das Medium als ein Hilfsmittel zur Verbreitung von Texten aufgefasst wird. Knape fasst »Texte« als einen Oberbegriff, unter den unterschiedliche Zeichensysteme wie Bild, Film oder Musik fallen. Diese funktionale Sichtweise reicht jedoch für das Modell der rhetorischen Kommunikation nicht aus, vielmehr muss der Zusammenhang zwischen dem, was vermittelt wird, und dem Vorgang, wie es vermittelt wird, geklärt werden, jener Zusammenhang, der im Beispiel des Hörspiels deutlich wurde. Für das Medium Film wird es deutlich: »Film« bezeichnet gleichzeitig den »Text« im Sinne Knapes und das Medium im kommunikationstechnischen Sinne. Wenn wir allgemein von »Film« sprechen, vermischen sich die Ebenen von »Text« und technischem Trägermaterial. Siegfried J. Schmidt präzisiert diesen Zusammenhang, indem er bestimmt, inwieweit sich die Aspekte gegenseitig beeinflussen.7 Das Medium ist in Schmidts Verständnis ein Kommunikationsmittel, das auf das realisierte Zeichensystem Einfluss nimmt. So verfügen Medien über konventionalisierte Regeln ihres Gebrauchs und determinieren auf diese Weise – bis zu einem gewissen Grade – das Zeichensystem. Sie stehen in einem engen Wechselverhältnis mit medienspezifischen Kodes, die sich für den Film als filmtechnische, narrative oder übergreifend kulturelle Kodes darstellen. Implizit verfügt das Publikum selbst über ein großes Wissen, welche konventionalisierten Regeln dem Film zugrunde liegen, ein Wissen, wie Film »funktioniert«. Es begreift die Konventionen der Montage, weiß, dass ein Wechsel von Schuss zu Gegenschuss von zwei Personen einen Dialog bezeichnet, kennt die unterschiedlichen Filmgenres und ihre Darstellungsregeln. Darüber hinaus determiniert das Medium auf der gestaltungstechnischen Ebe6. Joachim Knape: The Medium is the Massage? Medientheoretische Anfragen und Antworten der Rhetorik, in: ders.: (Hrsg.): Medienrhetorik, Tübingen 2005, S. 17–40, S. 22. Für die Medienrhetorik differenziert Knape die Begriffe »Kode« und »Textur« in Bezug auf den Begriff des Mediums und kommt somit zu einem kommunikationstheoretisch fundierten Medienbegriff. Vgl. ebd., S. 19ff. 7. Vgl. Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, Frankfurt a. M. 1994, S. 83.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
ne das Zeichensystem, indem es beispielsweise die Wiedergabe des Bildes einschränkt – von der dreidimensionalen Szene im Raum zur zweidimensionalen Projektion auf der Leinwand. Für die Filmrhetorik lässt sich daraus folgern, dass sich der Rhetor bei der Konzeption und Gestaltung des Films der Kodes des Films bewusst sein muss, sie in genauer Kenntnis zur Grundlage seiner Gestaltung nehmen muss, um erfolgreich zu sein. Die Entscheidung, welches Medium für eine optimale Wirkung auf den Adressaten zu wählen ist, liegt beim Rhetor. So wird er beispielsweise das angemessene Format eines Films wählen, ob Kurzfilm, Dokumentar- oder Spielfilm, wird sich Gedanken über das Filmmaterial machen, Schwarz-Weiß oder Farbe, 16 mm oder 35 mm, und wird so eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, die auf die Wirkung Einfluss haben.
3.1.2. Der »Autor« des Films, der Rhetor im Film Wenn die Rhetorik des Films die Adressierung eines Publikums durch das Medium beschreibt, so gilt es zu klären, wer diese Mittel nutzt und welche Absicht er damit verbindet. Übernimmt der Regisseur eines Films die Rolle des Rhetors, und ist er gleichzeitig als »Autor« des Films zu bezeichnen? »Spricht« ein Rhetor durch den Film, um zu überzeugen? Welche Person ist im Produktionsprozess als »Autor«, welche als Rhetor zu bezeichnen? Bereits 1934 beschäftigt sich Rudolf Arnheim mit der Frage nach dem Autor im Film. Er problematisiert die Urheberschaft des Films und stellt fest, dass sie sich nicht eindeutig klären lässt und dass sie nicht auf eine Einzelperson festzuschreiben ist. Vielmehr handele es sich bei einem Film um eine Gemeinschaftsproduktion, an der unterschiedliche Personen mit verschiedenen Funktionen beteiligt seien: »die Arbeit des kaufmännischen Leiters, des Autor-Regisseurs, des Schauspielers, Kameramanns, Architekten, Musikers muß zusammenkommen, damit ein Film entsteht«,8 so Arnheim. Problematisch sei die Annahme, dass allein der Regisseur für ein filmisches Werks verantwortlich ist,9 so wie es analog zur Künstlerpersönlichkeit in der Bilden8. Rudolf Arnheim: Urheber – Wer ist der Autor eines Films? (1934), S. 203f., in: ders.: Die Seele in der Silberschicht. Hrsg. von Helmut H. Diederichs, Frankfurt a. M. 2004, S. 196–207. 9. Arnheim weist beispielsweise auf die bedeutende Rolle der Architek-
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3. Die rhetorische Maschine
den Kunst gesehen werden könnte. Um die Urheberschaft eines Produktionsprozesses nachzuvollziehen, muss, so kann aus Arnheims Darstellungen gefolgert werden, das gesamte Produktionsteam untersucht werden, das Anteil an der Filmgestaltung und den künstlerischen Entscheidungsprozessen hat. Eine Gegenposition zu diesem Standpunkt formuliert in den 1960er Jahren die politique des auteurs, die die Gleichsetzung des filmischen »Autors« mit dem Regisseur forciert.10 Zur Argumentation dieses Standpunktes werden Beispiele berühmter Regisseure herangezogen, die durch ihre künstlerischen Entscheidungen – im Sinne einer künstlerischen Handschrift – einen Film in besonderer Weise prägen. Folgt man dieser Argumentation, so würde etwa im Falle Charles Chaplin der Regisseur zum Autor des Films. Chaplin würde folglich nicht mehr als Mitglied einer Gruppe aufgefasst, die kollektiv für einen Film verantwortlich zeichnet, sondern durch die Dominanz einer künstlerischen Einzelperson wird, so die Argumentation, der Film gleichsam zum Kunstwerk eines einzelnen Künstlers. Dass diese Position seit den 1970er Jahren immer weiter in die Kritik geriet, ist insbesondere vor dem Hintergrund der literaturtheoretischen Autor-Debatte zu verstehen, die den Begriff weiter differenzierte. Zwei Beiträge markieren exemplarisch die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Debatte, zum einen der strukturalistische Ansatz nach Peter Wollen,11 zum anderen das Konzept des »impliziten Autors« im Film nach Seymour Chatman. Beide Modelle liefern einige grundlegende theoretische Annahmen, die für die Definition des filmischen Rhetors von Bedeutung sind. Wollen, als Vertreter einer semiotisch geprägten Filmtheorie, formuliert den »Autor« im Film als eine nachträgliche Konstruktion, als eine Struktur, welche die für einen Regisseur typischen Gestaltungsmuster beschreibt. Bei der strukturalistischen Analyse des filmischen ten Warm, Reimann und Röhrig für Das Cabinett des Dr. Caligari hin, ohne deren Kulissen der Film nicht in dieser Art seine Wirkung hätte entfalten können. 10. Ein zentraler Text der politique des auteurs ist: François Truffaut: Une certaine tendance du cinéma français, in: Cahiers du Cinéma, 31, Januar 1954. Vgl. dazu die Darstellung in Werner Kamp: Autorkonzepte in der Filmkritik, in: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Rückkehr des Autors, Tübingen 1999, S. 441–464. 11. Peter Wollen: Signs and Meaning in the Cinema [1969]. 3. durchgesehene und erw. Aufl., Bloomington, London 1972, S. 74–115.
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»Autors« geht es nach Wollen darum, den »Stil« eines Regisseurs in Form von wiederkehrenden Motiven, Themen, Grundkonflikten und stilistischen Mustern zu konstruieren. Es handelt es sich somit nicht um den Nachvollzug der Intention eines Autors als Person. »The meaning of the films of an auteur is constructed a posteriori; the meaning – semantic, rather than stylistic or expressive – of the films of a metteur en scène exists a priori«,12 formuliert Wollen. Die konstruierte »AutorStruktur« differenziert sich demnach sowohl von der Person des Autors als auch von einem »metteur en scène«, welcher nach Wollen für die Bedeutungskonstruktion eines Werks steht. Wollen skizziert damit einen Ansatz, der den »Autor« als reale Person für die Analyse des Films lediglich als Referenz annimmt, um die Autor-Struktur zu verankern. Insbesondere der Name des Regisseurs wird so zu einer Referenzfolie, durch den die stilistische Struktur gekennzeichnet wird. Diese Referenz beeinflusst wiederum die Erwartungen eines Massenpublikums an einen Film sowie auch dessen Interpretation: Das Etikett »Hitchcock-Film« etwa bringt bestimmte Erwartungen mit sich, sowohl an einen bestimmten Stil als auch an die Qualität des Films. Seymour Chatmans Theorie des »impliziten Autors« nimmt die Unterscheidung zwischen einem Autor als Urheber und dessen Vermittlung durch den Film ebenfalls zur Grundlage. Der »implizite Autor« ist jedoch enger an eine reale Person gekoppelt als bei Wollen, denn Chatman ist der Auffassung, dass sich die Intention des Urhebers im Film manifestiert. Durch diese Manifestation werde die Rezeption des Films gelenkt: The implied author is the agency within the narrative fiction itself which guides any reading of it. Every fiction contains such an agency. It is the source – on each reading – of the work’s invention. It is also the locus of the work’s intent .13
Auf diese Weise wird der »implizite Autor« als rezeptionsleitende Instanz für die Interpretation etabliert. Wenn bei Wayne Booth,14 der die Grundlagen dieses Modells liefert, noch anstelle einer genauen Definition unterschiedliche Beschreibungen gebraucht werden, die den »im12. 13. 14.
Ebd., S. 78, Hervorhebungen im Original. Chatman: Coming to Terms, S. 74, Hervorhebungen im Original. Booth: The Rhetoric of Fiction, S. 67ff.
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pliziten Autor« als zweites Selbst (»the author’s second self«) oder als »Bild« des Autors im Text fassen, so ist Chatman präziser. Er betont, dass eine theoretische Differenzierung zwischen zwei Instanzen notwendig ist, und zwar zwischen dem textinternen und somit impliziten Autor und dem Urheber des Films. Dass die Frage der Urheberschaft des Films ohnehin problematisch ist, habe ich bereits anhand der Erläuterungen Arnheims gezeigt. Die Differenzierung der Instanzen ist folglich ein wichtiger Punkt, da so ausgeschlossen werden kann, dass ein Zugang zu den ursprünglichen Intentionen eines Urhebers möglich wäre. Ein solcher Zugang würde bedeuten, dass anhand des Films nachzuvollziehen wäre, was der Regisseur als Person ausdrücken wollte, was er mit bestimmten Entscheidungen intendierte. Eine solche Annahme ist in zweifacher Hinsicht problematisch, und zwar zum einen, weil keine sicheren Aussagen über etwaige Intentionen im Nachhinein getroffen werden können. Der Nachvollzug bestimmter Entscheidungen oder Absichten hat immer einen konstruktiven Charakter, selbst dann, wenn die Person selbst dazu befragt wird. Zum anderen ist eine Folgerung daraus theoretisch umstritten, und zwar, dass der Zugang zu den Intentionen des Regisseurs nur bestimmte Interpretationen des Werks zuließe. Durch eine solche Verkürzung würden Kriterien etabliert, die bestimmte Deutungen als »im Sinne des Autors« rechtfertigten, und andere dadurch als unzulässig zurückwiesen.15 15. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, übers. v. Andreas Knop, München 1994, S. 284–292; Ansgar Nünning: Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des »implied author«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 67, 1993, S. 1–25; vgl. auch Tom Kindt, Hans-Harald Müller: Der »implizite Autor«: Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs, in: Jannidis u. a.: Rückkehr des Autors, S. 273–288. Eine starke Kritik an der Figur des Autors stellt die Position Michel Foucaults dar, indem er die Vision einer Kultur formuliert, die ohne die Figur des Autors operiert. Der Autor sei eine psychologisierende Projektion, die einen bestimmten Umgang mit der Textinterpretation rechtfertigt, so Foucault. Michel Foucault: Qu’est-ce qu’un auteur?, in: ders.: Dits et Ecrits 1954–1988, I 1954– 1969, hrsg. von Daniel Defert, François Ewald, Paris 1994, S. 789–821. Dt. Übersetzung: ders.: Was ist ein Autor?, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, S. 7–31.
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Festzuhalten ist, dass Wollen und Chatman zwei unterschiedliche Modelle entwerfen, um den Autor im Film zu bestimmen, ohne auf ein verkürztes Verständnis zurückgreifen zu müssen, das den »Filmautor« mit seinem biografischen Hintergrund als den künstlerischen Schöpfer eines Werks definiert. Beide Konzepte dienen als Vorläufer zur Bestimmung des filmischen Rhetors, da sie diese wichtigen theoretischen Differenzierungen vornehmen. Chatman ordnet seinen Beitrag selbst der Rhetorik des Films zu,16 und so könnte man folgern, dass der Rhetor nichts anderes als der implizite Autor eines Films sei. Dies ist jedoch nicht der Fall, da es um zwei unterschiedliche Perspektiven geht. Chatman nimmt den Autor in seiner Bedeutungsabsicht in den Blick, es geht darum, eine Referenz zur Interpretation eines Werkes zu etablieren. Der Rhetor des Films hingegen wird nicht zur Interpretation herangezogen, vielmehr geht es darum, ihn als Element des rhetorischen Regelkreises zu beschreiben. Dieser Regelkreis wird mit dem Modell der rhetorischen Kommunikation beschrieben.
3.1.3. Rhetor – Medium – Adressat Für die Rhetorik des Films ist der Rhetor in seiner Abhängigkeit und Verflechtung mit dem Medium und dem Adressaten zu begreifen, und an dieser Stelle knüpfe ich wieder an das ursprüngliche Bild der rhetorischen Maschine an, das die drei Elemente in einem unlösbaren systematischen Zusammenhang begreift. Um ihr Zusammenspiel zu beschreiben, fahre ich nun mit der Konstruktionszeichnung dieser Maschine fort. Ergebnis dieser Zeichnung ist das Modell der rhetorischen Kommunikation. Mit Bezug auf die bisher dargestellten Konzepte leite ich ab, dass der Rhetor nicht als empirische Person zu begreifen ist, auf die be16. Diese Differenzierung wurde bereits in der Kritik am Ansatz von Booth wenig beachtet. Booth konzipiert seinen Begriff des »impliziten Autors« im Rahmen einer Rhetorik der Erzählung (»Rhetoric of Fiction«) und setzt dabei voraus, dass der reale Autor in der Textproduktion bestimmte Wirkungsabsichten verfolge und diese sich im Text manifestierten. Damit fokussiert Booth rhetorische Fragestellungen, die sich mit der Evaluation eines durch den Text vermittelten Wertesystems befassen. Die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger wird zum einen als persuasive Strategie, zum anderen als Übermittlung und Vermittlung sozialer Bindungen spezifiziert. Vgl. dazu Knape: Was ist Rhetorik?, S. 34.
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stimmte Intentionen individuell zurückgeführt werden könnten. Es geht also nicht um einen Rhetor als Person, die zur Begründung bestimmter Interpretationen herangezogen wird, vielmehr ist der Rhetor jenes Element im Modell, das einerseits Träger einer Wirkungsintentionalität ist, andererseits Auslöser für die rhetorischen Produktionsentscheidungen. In diesem Element, oder vielmehr an dieser Position innerhalb des Modells, kulminieren die Entscheidungen einer ganzen Gruppe von Personen, die am Produktionsprozess beteiligt sind: Kameraleute, Cutter, Produzenten, Drehbuchautoren, Regisseure, Kostümbildner und viele mehr. All jene werden im Modell zur Funktion des Rhetors zusammengefasst, und zwar ist diese Funktion quasi als eine Resultante der wirkenden Kräfte zu begreifen. Der gesamte Produktionsprozess, bestimmt durch Interdependenzen, dynamische Entwicklungen, Planungen und deren Ge- oder Misslingen, resultiert in bestimmten Produktionsentscheidungen und filmpraktischen Resultaten. Und diese Resultate verweisen auf den Rhetor, also auf jene abstrakte Funktion, der die rhetorischen Produktionsentscheidungen zugeschrieben werden. Zu dieser grundsätzlichen Fassung der Rhetor-Funktion ist jedoch zu ergänzen, dass auch einzelne Personen als Rhetoren tätig werden. Diese Ergänzung ist eine logische Konsequenz, da die einzelnen Beteiligten im Produktionsprozess jeweils selbst Rhetoren sind, insofern als dass sie strategisch agieren und sich rhetorischer Muster bedienen. Diese Muster stehen ihnen durch die eigene Erfahrung zur Verfügung oder sind auf das Kodesystem des Films zurückzuführen. Folglich kann die Kommunikation zwischen Rhetor und Adressat auf unterschiedlichen Ebenen, in einer jeweils verschiedenen Granularität betrachtet werden: auf der Ebene einzelner Rhetoren, die an der Produktion eines Films beteiligt sind, oder auf der übergeordneten Ebene der abstrakten RhetorFunktion, die die getroffenen Produktionsentscheidungen hinsichtlich ihrer rhetorischen Struktur beschreibt. Joachim Knape nennt diese unterschiedlichen Ebenen »Settings«,17 die für einen Kommunikationskontext jeweils unterschiedlich definiert werden können. Beispielsweise kann bei einem Film wie Jurassic Park von Regisseur Steven Spielberg untersucht werden, welche rhetorischen Techniken dem Sounddesign des Films zugrunde liegen, das heißt, wie der verantwortliche Sounddesigner Gary Rydstrom es schafft, mit auditiven Mitteln eine so intensive 17.
Knape: Was ist Rhetorik?, S. 71.
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Modell der rhetorischen Kommunikation nach Joost/Scheuermann.
Wirkung bei der Darstellung von Dinosauriern zu erreichen. Ein mögliches »Setting« wäre es, den Anteil Rydstroms an der Gestaltung nach rhetorischen Gesichtspunkten zu beschreiben: Welche Techniken setzt er mit welcher Wirkungsintention ein? Für welches Zielpublikum ist der Sound konzipiert, an welche Hörerfahrungen kann angeknüpft werden? Mit welchen Techniken kann ein als realistisch empfundener Sound erreicht werden, und was bedeutet das für die Filmwirkung insgesamt? Auch hier steht jedoch der Name des Designers wiederum nur stellvertretend für eine ganze Gruppe von Mitarbeitern, die an der Gestaltung beteiligt sind. Rydstrom kann selbst bei der Produktion rhetorisch tätig werden und insofern selbst als Rhetor agieren. Der Nachvollzug dieser Rolle, die Separation eines einzelnen Rhetors und seiner Entscheidungen auf der Grundlage des Films hat jedoch immer den Charakter einer Konstruktion, so dass sich auch der einzelne Rhetor im Nachvollzug nur als Rhetor-Funktion beschreiben lässt. Wie wird nun der Rhetor als Funktion auf der Grundlage des Films konstruiert und wie ist er mit den anderen Elementen verschaltet? Zur Beantwortung dieser Frage stelle ich die Konstruktionszeichnung der rhetorischen Maschine vor, den Bauplan des rhetorischen Regelkreises.18 Im Modell wird zum einen der Produktionsprozess gezeigt, der vom Rhetor durch das Medium zum Adressaten führt. Dieser Prozess ist im oberen Teil der Darstellung anhand der nach rechts gehenden Pfeile nachzuvollziehen. Er zeigt den Einsatz rhetorischer Mittel bei der Produktion sowie die konzipierte Wirkung auf den Adressaten. Diese Wirkung wird auf einen angenommenen Adressaten hin konzipiert, richtet sich also an einen »Ideal-Adressaten«. Sie ist folglich idealtypisch und beschreibt die Kalkulation aus der Produktionsperspekti18. Das Modell ist Ergebnis der Arbeitsgruppe Film/Rhetorik/Design in Zusammenarbeit mit Arne Scheuermann und wurde 2004/2005 in Köln entwickelt.
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ve, bei der aufgrund einer Wirkungsintention des Rhetors bestimmte rhetorische Mittel eingesetzt werden, um auf den Adressaten einzuwirken. Die tatsächliche Wirkung kann von der angenommenen stark abweichen, wovon später noch die Rede sein wird. Im unteren Teil der Darstellung, anhand der Pfeile von rechts nach links, zeigt das Modell den analytischen Nachvollzug vom Adressaten zu einer Projektion des Rhetors. Dieser Prozess stellt dar, wie durch die Analyse des Mediums die Funktion des Rhetors nachträglich konstruiert wird. Durch die Abweichung von Rhetor zu Rhetor' wird deutlich, dass durch die mediale Vermittlung ein konstruiertes Bild des Rhetors entsteht, das mit dem ursprünglichen Rhetor nicht deckungsgleich ist. Als ursprünglichen Rhetor bezeichne ich einzelne Personen oder Gruppen, die in der Produktion rhetorisch tätig sind. Der analytische Nachvollzug untersucht jedoch die Funktion des Rhetors im Film. Diese Funktion ist eine zu konstruierende Struktur, die Gestaltungsmuster und -techniken eines Werks beschreibt. Es geht – und hier zeigt sich die Verbindung zum Ansatz nach Wollen – um die Offenlegung rhetorischer Strukturen im Werk, denen post factum eine Rhetor-Funktion zugeschrieben werden kann. Eine Funktion ist mathematisch definiert als eine gesetzmäßige Zuordnung der Elemente zweier verschiedener Mengen zueinander. Sie reflektiert im Modell die Zuordnung bestimmter Gestaltungsmerkmale des Films zum Rhetor'. Diese Merkmale – seien es rhetorische Figuren, Argumentationsmuster oder affektive Strukturen – werden den Entscheidungen des angenommenen Rhetors zugeschrieben. Auf dieser Grundlage wird die Funktion des Rhetors in der Analyse konstruiert. Wie ist jedoch der Zusammenhang zwischen dem ursprünglichen Rhetor und der Rhetor-Funktion zu definieren? Am Beispiel von Jurassic Park wird dieser Zusammenhang nochmals deutlich: Rydstrom ist bei der Produktion des Action-Films selbst als Rhetor tätig, indem er das Sounddesign auf eine als realistisch empfundene Wirkung hin konstruiert. Durch den Einsatz intensiver Subwoofer-Töne und die Überlagerung und Manipulation mehrerer Tierstimmen erreicht er diese Wirkung. Obwohl das Publikum keine Erfahrung darin hat, wie ein Dinosaurier tatsächlich klingt, gelingt es dem Designer so, einen realistischen Eindruck zu erwecken. Es geht also um eine rein rhetorische Konstruktion einer Wirkung, nicht um eine mimetische Abbildung eines bestehenden Geräusches. Aus der Analyse des Sounds heraus können im Nachhinein Annahmen getroffen werden, welche rhetorischen Ent89
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scheidungen hinter dem Sounddesign stehen. Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass dieser Sound zufällig entstanden ist, ohne strategische Überlegungen über die Wirkung, die Affektsteuerung oder über das Zielpublikum. Diese Möglichkeit ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da allein schon der ökonomische Druck einer solchen Produktion darauf schließen lässt, dass die Produktionsentscheidungen bewusst getroffen und kalkuliert werden. Zudem ist es wahrscheinlich, dass Rydstrom als Sounddesigner über ein großes Erfahrungswissen verfügt, das von technischen Voraussetzungen über filmspezifische Kodes bis hin zu SoundFiguren reicht, die er als Designer einsetzt. Daraus lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit folgern, dass er sich rhetorischer Strategien in Form von Mustern und Techniken bei der Produktion bediente. Im Nachvollzug dieser Produktionsentscheidungen kann nicht ohne weiteres empirisch belegt werden, welche Strategien bewusst angewendet wurden und welche konkrete Wirkungsintention ein einzelner, handelnder Produzent hatte. Der Rhetor' beschreibt darum eine Konstruktion, die bestimmte Beobachtungen einer Funktion im Kommunikationsprozess zuschreibt. Es ist jedoch, das lässt sich nun insgesamt folgern, wahrscheinlich, dass zwischen der post factum konstruierten Rhetor-Funktion und dem agierenden Rhetor Parallelen bestehen.19 Um das Modell der rhetorischen Kommunikation als einen dynamischen Prozess zu beschreiben, ist es wichtig, auf seine Zirkularität hinzuweisen. Vom Bild der Maschine aus betrachtet ist es ein geschlossener Regelkreis, dessen Produkte immer wieder in das System eingespeist werden. Der Kreislauf stellt quasi das fehlende Bindeglied zwischen Rhetor und Rhetor' dar. Im Modell wird diese Verbindung als »Erfahrung« gekennzeichnet und bildet so eine Art »Feedbackschleife« aus. Diese Schleife ist wie folgt zu beschreiben: Der Rhetor bezieht nicht nur die Position des Adressaten – projektiv – mit in seine Konzeption ein, sondern er bewegt sich selbst innerhalb des Systems. Er versetzt sich zum einen an die Stelle des Adressaten, um die gewünschte Wirkung zu kalkulieren, zum anderen nimmt er aber in anderen Kom19. Auch Hermann Barth deutet auf diesen Zusammenhang hin, wenn er es für die rhetorische Filmanalyse als unerheblich ansieht, »ob die in einem Text nachweisbaren Strategien vom realen Autor absichtlich oder unabsichtlich, bewusst oder unbewusst angewendet werden«, da die Möglichkeit einer wissenschaftlich relevanten Aussage über das tatsächliche »Autorbewusstsein« nicht gegeben ist. Barth: Psychagogische Strategien, S. 15.
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munikationssituationen selbst die Rolle des Adressaten ein und sammelt auf diese Weise Erfahrung. Für den Film bedeutet es, dass Regisseure, Cutter, Set-Designer und andere mehr selbst Filme rezipieren, selbst also auch Teil des Publikums sind, und über ein breites Erfahrungswissen verfügen. In der Analyse wird von der Position des Adressaten aus die Wirkung der Kommunikation analysiert und der Erfolg oder Misserfolg der Kommunikation evaluiert. Ein Ergebnis daraus ist die Rhetor-Funktion (Rhetor'), quasi als Resultante der Analyse. Die Evaluation des Prozesses fließt als Erfahrung wieder in die Produktion ein, sie wird in das System eingespeist mit dem Ziel der Optimierung. Dadurch wird das System der Rhetorik dynamisch und kann auf kontextuelle Veränderungen reagieren. Der Rhetor konzipiert insgesamt nicht nur die Wirkung der Kommunikation, sondern reflektiert gleichzeitig seine eigene Rhetor-Funktion, indem er sie evaluiert. Er konstruiert somit sein eigenes Bild – implizit oder explizit – selbst mit. Für die nachfolgenden Kommunikationen wird diese Erfahrung einbezogen – ein erfolgloser Film hat Konsequenzen für zukünftige Produktionsentscheidungen, und ebenso wird eine erfolgreich angewandte Strategie kommende Produktionen prägen. Die so skizzierte Definition der Funktion des Rhetors weist bis zu einem bestimmten Punkt zu dem von Knape im Rahmen der Allgemeinen Rhetorik formulierten Begriff des »Orators« Parallelen auf. Knape nutzt den Begriff des Orators als »Redner« und betont so die Vortragssituation als Ursprung für seine Theorie. Er formuliert, dass der Orator »als abstrakte Größe zu sehen [ist], als theoretisches Konstrukt, das sich analytisch aus der Untersuchung verschiedener Diskurse gewinnen und unter verschiedenen Perspektiven betrachten lässt: als kognitives Kalkül, als soziale Handlungsrolle oder als Kommunikationsfaktor und textkonstruierende Instanz.«20 Knape beschreibt den im Produktionsprozess agierenden Rhetor, der sich rhetorischer Strategien bei der Textgestaltung bedient, um beim Adressaten eine bestimmte Wirkung hervorzurufen. Bis zu diesem Punkt stimmt das hier vorgestellte Konzept mit dieser Definition überein. Jedoch verlässt es den Ansatz nach Knape an dem Punkt, an dem es um die Rekonstruktion des Rhetors im Werk geht. Knape konzipiert den Orator als den realen Autor eines Textes, der seine Intentionalität über Texte ausagiert und zum zentralen Bezugsobjekt der rhetorischen Kommunikation wird. Davon grenzt 20.
Knape: Was ist Rhetorik?, S. 33.
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sich der hier skizzierte Begriff des Rhetors ab, da die Rekonstruktion einer »tatsächlichen« Intentionalität eines Orators wie dargestellt problematisch ist.21 Für eine mediale Rhetorik, insbesondere eine Rhetorik des Films, kann die Gleichsetzung eines inkorporierten Autors mit der Funktion des Rhetors, wie oben gezeigt, nicht Ausgangspunkt sein. Es bleibt noch zu ergänzen, wie das Zusammenspiel von Rhetor und Adressat zu verstehen ist. Der Adressat repräsentiert im Modell der rhetorischen Kommunikation ein im Produktionsprozess entworfenes Idealbild. Dieses Idealbild ist ein angenommenes Publikum, an das sich der Rhetor in seiner Konzeption richtet. Hier zeigen sich Parallelen zu Umberto Ecos Konzept des »Modell-Lesers«, wenn wir jenen als einen fiktiven Rezipienten verstehen, der mit einem Text adressiert wird.22 Entworfen wird der Adressat aufgrund von bestimmten Annahmen über das Publikum, beispielsweise über seinen soziokulturellen Hintergrund oder den zeitgeschichtlichen wie auch lokalen Rahmen der Rezeption. Diese Annahmen basieren einerseits auf den Erfahrungen des Rhetors, andererseits auf bestimmten Anweisungen des Regelsystems der Rhetorik über die Adressierung eines Publikums. An diesem angenommenen Publikum orientieren sich die Produktionsentscheidungen hinsichtlich einer geplanten Wirkungsweise. Die tatsächIn der von Knape vorgestellten Theorie ist eine Verschiebung des Schwerpunktes zu beobachten: von dem »Orator« als Abstraktion aus unterschiedlichen Diskursen zur im Verlauf seiner Theorie vollzogenen Hinwendung zum Subjekt des Autors als Orator. Wenn Knape die »Körperpräsenz« des Orators als zentralen Faktor für die rhetorische Kommunikation darstellt (ebd., S. 94f.), so findet sich für diesen Ansatz kein direkter Anknüpfungspunkt zu einer Rhetorik der Medien. 22. Vgl. zum Begriff des »Modell-Lesers« Umberto Eco: Lector in fabula, übers. von Günter Memmert, München 1987; ders.: Im Wald der Fiktionen: Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1994, S. 9–37; ders.: Überzogene Textinterpretation, in: ders.: Zwischen Autor und Text, München 1996, S. 52–74. Der »Modell-Leser« fungiert als »ein Ensemble von textimmanenten Instruktionen, die an der Oberfläche des Textes erscheinen, und zwar gerade in Form von Behauptungen und anderen Signalen« (Eco: Im Wald der Fiktionen, S. 27). Damit entsteht der »Modell-Leser« im Text selbst und realisiert sich, pointiert formuliert, als Anweisungstext zur Interpretation. Der Text impliziert eine Aufforderung an den empirischen Leser, sich als Kooperateur zur Interpretation der Textbedeutung zu verhalten. Der Modell-Leser ist in dieser Hinsicht eine Form der 21.
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liche Wirkung auf den Adressaten entsteht aus dem Rezeptionskontext und kann von der Planung stark abweichen. Wenn in der Konstruktionszeichnung die Wirkung vereinfachend als unidirektionaler Vorgang dargestellt wird, der sich vom Medium auf den Adressaten überträgt, so bezieht sich diese Darstellung lediglich auf die geplante Wirkung. Für die tatsächliche Wirkung eines Films spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle, wie etwa die Erwartungen des Publikums, der Rezeptionskontext oder individuelle Voraussetzungen, Faktoren, die in dieser Arbeit nicht weiter thematisiert werden. Die rhetorische Theorie ist in diesem Sinne auf die Produktion und ihre rhetorischen Entscheidungen fokussiert. Vor diesem Hintergrund ist der Adressat das IdealPublikum, auf das die Kommunikation strategisch ausgerichtet wird. Daraus wird deutlich, dass es bei der rhetorischen Konzeption des Adressaten primär um die Wirkungsintention des Rhetors geht, für deren erfolgreiche Etablierung eine angemessene Adressierung ausschlaggebend ist. Es ist im Nachhinein empirisch überprüfbar, inwieweit sich der angenommene Adressat im konkreten Rezeptionskontext als richtig erweist. Wird das tatsächliche Publikum mit der Adressierung verfehlt, so misslingt die rhetorische Kommunikation.
3.1.4. Die Ränder der Rhetorik An den »Rändern« der Rhetorik sind jedoch auch Kommunikationen zu beobachten, die sich der Wirkungsintention des Rhetors entziehen. Am Beispiel des Hörspiels War of the Worlds wurde deutlich, wie sich die Publikums- und Pressereaktionen verselbstständigten, wie sich eine unvorhergesehen heftige Reaktion entwickelte, die vermutlich in Adressierung des empirischen Lesers. Wolfgang Kemp liefert auf der Grundlage von Wolfgang Isers Konzept des »impliziten Lesers« ein Modell für die visuellen Medien, in dem er die Rolle des Betrachters in der Bildenden Kunst beschreibt. Wolfgang Kemp (Hrsg.): Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik: Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985, S. 7–27; Wolfgang Iser: Der implizite Leser, München 1972; vgl. auch ders.: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976. Gérard Genette expliziert den Zusammenhang der Konzepte in folgendem Schema: [Realer Autor [impliziter Autor [Erzähler [Erzählung] Adressat] impliziter Leser] realer Leser]. Gérard Genette: Impliziter Autor, impliziter Leser?, in: Jannidis u. a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 230–246, hier S. 235.
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dieser Form kaum im Vorhinein kalkuliert werden konnte. Ich spreche insofern von den »Rändern« der Rhetorik, als dass sich diese Phänomene als Ablenkungen vom modellhaften Prozess begreifen lassen, als Störungen, die die planvolle Kommunikation aufbrechen und zum Teil scheitern lassen. Diese Ränder bezeichnen somit Entwicklungen, die sich der Kontrolle des Rhetors entziehen, Prozesse, die sich ungeplant entwickeln, Adressierungen, die scheitern. Ein Beispiel für eine gescheiterte Filmrhetorik ist der posthume Erfolg des Regisseurs Ed Wood, der als »schlechtester Regisseur aller Zeiten« 23 bekannt wurde. Aufgrund von knappen Budgets, schwierigen Produktionsbedingungen, aber auch aufgrund des schlichtweg mangelnden Talents des Regisseurs entstanden mit Glen or Glenda, Bride of the Monster und Plan 9 from Outer Space Filme, die heute gerade wegen ihrer offenkundigen handwerklichen Fehler, ihrer absurden Handlung und schlechten Ausstattung bei einem »Fanpublikum« beliebt wurden. Wenn ein Science-Fiction-Film wie jener Plan 9 from Outer Space weder Spannung noch Furcht hervorruft, sondern das Publikum angesichts der auftretenden Monster-Figuren in Gelächter ausbricht, wenn dem filmerfahrenen Zuschauer nicht entgeht, dass die Verknüpfungen von Tag- und Nachtaufnahmen keiner Logik folgen, sondern auf Fehler der Montage zurückzuführen sind, dann ist es eine misslungene Kommunikation des Rhetors, die nicht zur intendierten Wirkung beim Adressaten führte. Die misslungene Adressierung des Publikums ist in diesem Beispiel also schlicht auf ein Unvermögen der Produktionsteams zurückzuführen. Solche Filme können dann wiederum eine nicht intendierte Wirkung entfalten, indem sie gerade aufgrund ihres Misslingens als Groteske rezipiert werden. Dies ist nur ein Beispiel für die Vielzahl möglicher Störungen der Kommunikation, für Abweichungen der antizipierten Wirkung, für den Kontrollverlust des Rhetors. Diese Möglichkeit der tatsächlich misslingenden Kommunikation24 kann darüber hinaus auf weitere Ursachen zurückgeführt werden, etwa wenn der angenommene Adressat vom rea23. Ed Wood bekam den »Golden Turkey Award« und wurde mit dem Titel des »schlechtesten Regisseurs aller Zeiten« ausgezeichnet, in: Harry Medved, Michael Medved: The Golden Turkey Awards, Nominees and Winners, the Worst Achievements in Hollywood History, New York 1980. 24. »Misslingen« bedeutet an dieser Stelle, dass das kommunikative Ziel, eine bestimmte Wirkung beim Adressaten hervorzurufen, nicht erreicht wird.
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len Rezipienten stark abweicht und sich die erwartete Wirkung dadurch verschiebt. Ein Misslingen kann durch einen geänderten Rezeptionskontext bedingt sein, wenn beispielsweise ein Film Jahrzehnte nach seiner Entstehung aufgeführt wird und der Rezipient mit den damals geläufigen Darstellungskonventionen und Motiven nicht mehr vertraut ist. Daraus entsteht zum Teil ungewollt Komisches, Lächerliches, oder auch ein bestimmter Reiz, der sich aus der historischen Patina des Films ergibt. Das Phänomen der nicht intendierten Wirkung bezeichnet Roland Barthes als eine »Anti-Rhetorik«, als den »stumpfen Sinn« der Kommunikation.25 Es ist das, was sich der Kontrolle des Kommunizierenden entzieht, und dies bereitet das Feld für das Triviale, das Unechte und den Karneval.26 Durch diesen Kontrollverlust des Rhetors entsteht eine »Schichtung von Sinn, die den vorhergehenden Sinn immer bestehen lässt«.27 Barthes fokussiert mehr die unterschiedlichen Interpretationen, die an ein Zeichensystem herangetragen werden können, jedoch ist diese Art der »Schichtung« auch bezüglich unterschiedlicher Wirkungen zu beobachten. Die rhetorisch intendierte Wirkung ist eine der möglichen, gleichzeitig und nebeneinander entstehen jedoch jene Abweichungen und Überlagerungen, entstehen Wirkungen, die sich der Strategie des Rhetors entziehen. Zu einem bestimmten Teil bleibt die Wirkung der Kommunikation unvorhersehbar, da die ausschlaggebenden Faktoren vielschichtig und interdependent sind. Wie sich die Wirkung eines Films etwa Jahrzehnte später entwickelt, ist schwer vorauszusagen. So ist der Erfolg sogenannter »Filmklassiker« nicht ausschließlich auf ihre handwerkliche und ihre rhetorische Qualität zurückzuführen, sondern er hängt von einer Reihe von Faktoren ab wie dem neuen Rezeptionskontext, von Moden oder von der Verfügbarkeit des Materials. Diese Möglichkeiten einer umschlagenden Wirkung, einer Veränderung des Rezeptionskontextes oder eines ursprünglich nicht adressierten Publikums muss der Rhetor in seine Konzeption einbezie25. Roland Barthes: Der dritte Sinn, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 1990, S. 47–66; Originalfassung: zuerst veröffentlicht im Cahier du cinéma 1970, wiederabgedruckt in: ders.: L’Obvie et l’obtus. Essais critiques III, Paris 1982. 26. Ebd., S. 50. 27. Ebd., S. 54.
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hen, wenn er sie auch nur zum Teil beeinflussen kann. Der »Kontrollverlust« ist so immer auch Teil des rhetorischen Systems, so dass selbst die Einhaltung rhetorischer Regeln, die Konzeption nach den Grundsätzen des decorum und die sorgfältige Adressierung eines Publikums nicht immer zum Erfolg führen müssen. Diese »Ränder der Rhetorik« sind somit wichtige Ergänzungen des Modells, um seine Durchlässigkeiten und Abweichungen zu verdeutlichen.
3.2. Die rhetor ischen Techniken Die funktionalen Elemente der rhetorischen Maschine sind nun beschrieben, jedoch blieb ihr Regelwerk bisher noch eine black box. Wenn wir noch einmal zur Ausgangsmetapher von Barthes zurückkehren, zur Strumpfmaschine, so wissen wir bislang noch nicht, wie ihr Betrieb abläuft, nach welchen Regeln also aus den Textilien im Rohzustand die tatsächlichen Strümpfe werden. Dieses Bild scheint mir zur Erläuterung zunächst geeignet, da es an den Webstuhl erinnert, eine der ersten Maschinen überhaupt, ein bedeutendes Kulturprodukt zur Herstellung von Texturen. Diese Texturen sind immer schon auch Texte, die Bedeutungen tragen und die zur Kommunikation innerhalb einer Gemeinschaft eingesetzt wurden, um beispielsweise traditionelle Symbole und Muster zu zeigen. Gehen wir nun tatsächlich von einem Weber aus, der ein Gewebe konzipiert und produziert, und fassen wir diesen Vorgang als einen Prozess, der uns den rhetorischen Techniken selbst näher bringen soll. Zunächst gilt es für jenen Weber, der in unserer Sichtweise natürlich ein Rhetor ist, eine ganze Reihe von Entscheidungen zu treffen bezüglich der Auswahl des Rohmaterials, seiner Farbe, der Ordnung des Materials sowie der Muster des Gewebes. Ausschlaggebend für diese Entscheidungen wird der Verwendungskontext für das fertige Produkt sein, dessen Käufer adressiert werden muss. Handelt es sich um einen Brautstoff, der eine hohe gesellschaftliche Bedeutung hat, so werden wahrscheinlich bestimmte Symbole für Liebe und Fruchtbarkeit angemessen sein. Die Kategorie der Angemessenheit bezieht sich hier nicht nur auf den thematischen Kontext, sondern sie bemisst sich auch auf der Grundlage der Erwartungen des Adressaten, auf der Kalkulation seiner Reaktionen. Bei einem solchen Stoff geht es folglich auch um eine emotionale Komponente, eine affektive Adressierung, die sich in der 96
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Rhetorik in den Überzeugungsgründen von ethos und pathos manifestiert. Erfolgreich wird das Produkt sein, wenn der Käufer oder die Käuferin von der Qualität, von der Ästhetik, wie auch von der Angemessenheit für den Anlass überzeugt wird. Diese Überzeugung wird dann umso leichter gelingen, wenn das Produkt seinen Käufer emotional anspricht, wenn es gefällt und wenn bestimmte Muster womöglich wiedererkannt und mit Bedeutung verbunden werden. Das Gewebe hat also eine kommunikative Funktion, es soll in einem ganz wörtlichen Sinne ansprechend auf den Käufer wirken. Um diese Zusammenhänge bei der Konzeption des Gewebes abschätzen zu können, stehen dem Weber rhetorische Techniken zur Verfügung. Er kann sich auf das Eichungssystem der Rhetorik beziehen, das decorum, das den Gegenstand der Darstellung einer bestimmten Stilhöhe und dem angemessenen Einsatz rhetorischer Mittel zuordnet.28 Mit diesem Wissen kann er abschätzen, dass der Wirkungsfunktion des Erfreuens (delectare) die sanften Affekte zugeordnet sind, und dass das Überzeugungsmittel das rhetorische ethos ist. Geht es also um ein festliches Gewand, so sollte sich der Weber nach der Lehre des decorums nur mäßig schmückender Figuren bedienen. Das Gewebe sollte eine angenehme Gestalt haben, das Auge erfreuen und zu intensive Farben und Muster vermeiden. Der hohe Anlass einer prunkvollen Hochzeitsfeier jedoch kann auch der starken Affektlage und dem hohen Stil zugeordnet werden, dann geht es um das rhetorische pathos. Für diesen Kontext kann das Gewebe mit vielfachen Figuren geschmückt werden, wobei besonders edle und prunkvolle Stoffe angemessen sind. Die Gestaltung muss sich jedoch immer am Rahmen des als schicklich Empfundenen orientieren und ist in dieser Hinsicht dem herrschenden Geschmack unterworfen. In diesen Grenzen kann sich der Weber des ganzen Gestaltungsrepertoires bedienen, um einen einzigartigen Stoff zu gestalten, der große Bewunderung hervorrufen soll. Dazu muss er bestimmte rhetorische Entscheidungen treffen. Um für den VerwenZu Funktion der emotionalen Überzeugungsmittel und ihrer Koppelung an die Stilhöhen verweise ich insbesondere auf folgende Beiträge: Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik, Zürich 1968, darin besonders: Die Rhetorik als Quelle des Vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte, ebd., S. 46–69; und ders.: Rhetorica movet: Protestantischer Humanismus und karolingische Renaissance, in: Helmut Schanze (Hrsg.): Rhetorik, Frankfurt a. M. 1974. 28.
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dungszweck die angemessenen Motive zu finden, kann der Weber auf die Topik zurückgreifen. Es ist ursprünglich ein System, das bestimmten Redegegenständen die möglichen Argumentationsmuster zuordnet und in Kategorien sortiert. Für den Entwurf einer Rede kann der Rhetor auf der Grundlage der Topik potentiell alle möglichen Argumentationsschemata durchspielen und die jeweils passenden für seine Zwecke zusammenstellen. Für den Weber ist die Topik ein umfangreiches Musterbuch, das potentiell alle möglichen Muster des Webens zusammenstellt, sie jedoch nicht nach rein ästhetischen Prinzipien ordnet, sondern nach bestimmten Motiven und ihrem Bedeutungskontext. Für einen Brautstoff sind beispielsweise die loci a sexus und die loci a fortuna nach der Unterteilung von Quintilian angemessen,29 die Darstellung der beiden Geschlechter und ihres Glücks als Ehepaar. An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig das Kriterium der Angemessenheit, das aptum, für den Einsatz rhetorischer Techniken in der Gestaltung ist. Die Beurteilung der Angemessenheit beruht sowohl auf dem Kontext der Kommunikation als auch auf den zu erwartenden Reaktionen des Adressaten und muss folglich vom Rhetor präzise kalkuliert werden. Dabei spielt wiederum seine Erfahrung eine große Rolle. Auf der Grundlage der Einschätzung, wie sich die Kommunikation in ihren Wirkungskontext einfügt, kommen die rhetorischen Techniken zum Einsatz. Bereits in der antiken Rhetorik wurde das Kriterium der angemessenen Gestaltung beschrieben. Cicero definiert den überzeugenden Redner als jemanden, der auf dem Forum und in Zivilprozessen so spricht, dass er beweist [probare], unterhält [delectare] und den Willen der Zuhörer beherrscht [flectere]. Beweisen ist notwendig, Unterhaltung angenehm; wer aber den Willen der Zuhörer zu bestimmen weiß, der trägt den Sieg davon.30
Daraus lassen sich die drei Überzeugungsgründe von logos, ethos und pathos ableiten, die in ihrer Zuordnung zu den Wirkungsfunktionen in 29. Auf dieses System der Topoi nach Quintilian stützt sich auch Lausberg. Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, S. 201–220. 30. Marcus Tullius Cicero: Orator, hrsg. von Bernhard Kytzler, 3., durchgesehene Aufl., München, Zürich 1988, S. 57 (= I, 69).
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3. Die rhetorische Maschine
einem einfachen Schema dargestellt werden können. Dieses Schema kann dem Rhetor als Orientierungshilfe für eine angemessene Gestaltung dienen. Überzeugungsmittel logos ethos pathos
Wirkungsfunktion docere delectare movere
Affektlage Keine Affekte Sanfte Affekte Starke Affekte
Das Schema der rhetorischen Affektenlehre.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein idealtypisches System der rhetorischen Kommunikation den Anlass den je angemessenen Mustern im Rahmen der Stilhöhe zuordnet. Wie kann ein solches System für den Filmemacher und sein Team aussehen? Anhand von vier Schwerpunkten, und zwar anhand der Möglichkeiten der visuellen Argumentation, der Formen der Affekterregung, der Topik des Films und der rhetorischen Figuren, zeichne ich ein solches System nach. Zielsetzung ist es dabei zu klären, inwieweit die rhetorische Maschine im Film insgesamt wirksam ist, das heißt, inwieweit sie als beschreibungskompetentes Modell angenommen werden kann, um das Zusammenspiel der gestaltungstechnischen Entscheidungen und ihrer Wirkungsdimension zu beurteilen.
3.2.1. Visuelle Argumentationen Eine der zentralen rhetorischen Techniken, um einen Adressaten von einem Produkt oder Sachverhalt zu überzeugen, ist die Argumentation. Für die Filmrhetorik ist zu klären, ob erstens Film selbst zur Argumentation eingesetzt werden kann, ob es zweitens eine spezifische Bildargumentation gibt, und drittens, welche Techniken und Mittel dazu genutzt werden. Die erste Frage scheint zunächst aus der eigenen Anschauung heraus mit »Ja« beantwortet werden zu müssen, denn ist nicht jeder Werbefilm ein Beispiel für einen argumentativ eingesetzten Film? Ist nicht der Werbespot, in dem junge, attraktive »Twens« eine eisgekühlte Coca Cola trinken, ein Argument für den Kauf des Produkts? Folgen wir dieser Frage jedoch, so ist es nicht ohne weiteres zu klären, worauf genau diese argumentative Wirkung beruht, denn, so könnte man entgegenhalten, die Bilder allein stellen nur dar. Ein Bild ist 99
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ein Bild ist ein Bild – ohne die Möglichkeit einer logischen Verknüpfung, einer eindeutigen Folgerung, einer Begründung, wie sie der Sprache eigen ist. Paul Messaris 31 wie auch Anke-Marie Lohmeier 32 gehen von der These aus, dass Argumentationen an sich sprachlich vermittelt werden müssen, um die nötige Präzision des Ausdrucks zu gewährleisten. Damit schränken sie die Möglichkeit einer visuell geführten Argumentation mit der Begründung ein, dass das Bild dem narrativen Primat untergeordnet sei und zwar eine Art »visueller Persuasion« hervorbringen könne, jedoch nicht auf der Grundlage des logos überzeuge. Ich gehe jedoch davon aus, dass sowohl Einzelbilder argumentativ eingesetzt werden können, als auch dass Bildfolgen zu logischen Schlussfolgerungen führen können, die man als Argumentationen bezeichnen kann. Die erste These belegt Pablo Schneider, indem er nachzeichnet, welche Rolle die visuelle Repräsentation durch Bilder für die Machtkonstruktion Ludwigs des XIV. spielte. 33 Mit Rückgriff auf den UnendlichkeitsTopos wurde am französischen Hof eine Strategie der visuellen Argumentation entworfen, so Schneider, die maßgeblich zum Aufbau des Machtanspruchs und zu dessen Sicherung beitrug. Mit der Visualisierung der Architektur- und Gartenanlagen des Königshofes beispielsweise entstand ein exemplarischer Beleg für die Mächtigkeit, und dieser Beleg spielt für die Argumentation eine wichtige Rolle. Auch Aron Kibédi Varga verdeutlicht, dass Argumentation und visuelle Repräsentation eng miteinander verschaltet sind, wenn er auf die Rolle der rhetorischen actio verweist. Jede mündlich vorgetragene Argumentation werde maßgeblich durch die visuellen Mittel der Körpersprache untermauert, Mittel, die nonverbal sind und die auf der Gestik und Mimik des Redners beruhen.34 Jedoch auch das Bild selbst, wie es Paul Messaris: Visual Persuasion, London, New Delhi 1997. Lohmeier: Artikel »Filmrhetorik«, S. 347–364. 33. Pablo Schneider: Die Tugend der Endlichkeit – Repräsentationsprobleme unter Ludwig XIV., in: Horst Bredekamp, Pablo Schneider (Hrsg.): Visuelle Argumentationen: Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, München 2005, S. 121–137. 34. Aron Kibédi Varga: Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität, in: Wolfgang Harms (Hrsg.): Text und Bild. Bild und Text, Stuttgart 1990, S. 356– 367, S. 358. Zur Frage der argumentativen Funktionen des Einzelbildes legen unter anderem Boehm, Eco und Barthes weitere Untersuchungsansätze vor, die 31. 32.
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Varga am Beispiel von Heiligenbildern zeigt, hat ein argumentatives Potential, das sich in der Dialogizität der Rezeption entfaltet: Tritt der Betrachter dem Bildnis gegenüber, so beginnt die Phase der Identifizierung und des (Wieder-)Erkennens, die rationaler Art ist. Erst dann folgt die Affektion, so Varga, die sich als Bewunderung, aktive Reue oder Anstoß zur Besserung äußert und eine Form der Überzeugung für ein religiös fundiertes Wertesystem ist.35 Der Affektion geht nach Varga folglich eine Überzeugung durch das rhetorische ethos voraus, die potentiell dazu führt, dass der Rezipient mit dem Dargestellten ethisch-moralisch übereinstimmen wird. Diese wie auch die anschließende affektive Wirkung resultieren aus dem fiktiven Dialog zwischen Rezipient und Einzelbild, so stellt es Varga dar, und begründet auf diese Weise, dass auch ohne eine Bildfolge eine visuell basierte Argumentation entstehen kann. In Bezug auf den Film und seine visuelle Struktur, und zwar in Bezug auf die filmische Arbeit Sergej Eisensteins im Speziellen, nutzt Hans-Joachim Schlegel den Begriff der »konzeptionelle[n] Bildargumentation«.36 In seinem Artikel anlässlich der Aufführung der neu restaurierten Fassung von Panzerkreuzer Potemkin auf der Berlinale 2005 expliziert er die Bezeichnung jedoch nicht weiter, so dass ich dies lediglich als Hinweis aufnehme, dessen Validierung noch aussteht. Anhand einer Filmszene, hier aus Eisensteins frühem Film Streik, können wir diesen Hinweis überprüfen: Gibt es in diesem Beispiel argumentative Strukturen, die belegen, dass Film visuell argumentieren kann? Ein Messer in Großaufnahme, das zusticht. Ein sterbender Stier, der zusammenzuckt und zu Boden fällt. Dann die Großaufnahme von Händen, die sich in den Himmel strecken. Fliehende Arbeiter, schießende Soldaten. Zuletzt ein Feld, übersäht mit den toten Körpern der sich auf den narrativen Charakter des Bildes und seine persuasive Wirkung beziehen. Vgl. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 29ff.; Eco: Einführung in die Semiotik, S. 274f.; Barthes: Rhetorik des Bildes, S. 41ff.; ders.: Der dritte Sinn, S. 47–66, bes. S. 49f. Ulrich Heinen belegt am Beispiel Rubens die Bedeutung der Bildargumentation für die Malerei und ihre Konzeption in Renaissance und Barock. Ulrich Heinen: Rubens zwischen Predigt und Kunst: Der Hochaltar für die Walburgenkirche in Antwerpen, Weimar 1996, S. 16–18. 35. Varga: Visuelle Argumentation, S. 359. 36. Hans-Joachim Schlegel: Die Welle der Rekonstruktion, in: Freitag 07, 18.02.2005.
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Standbilder aus der Abschluss-Sequenz von Streik.
Arbeiter. Es handelt sich um die Abschluss-Sequenz von Streik, und was hier zu sehen ist, so meine These, ist eine Bildfolge mit argumentativem Charakter, das heißt eine visuelle Argumentation. Es ist die Darstellung der blutigen Niederschlagung eines Streiks von Arbeitern, die als Parallelmontage zwischen der Schlachtung eines Tieres und der Tötung von Arbeitern durch Regierungstruppen realisiert wird. Um mich der argumentativen Funktion zu nähern und sie zu entschlüsseln, formuliere ich das zugrunde liegende Argument zunächst in sprachlicher Form: Die Niederschlagung des Arbeiter-Streiks ist ungerecht und unmenschlich, da die Arbeiter unschuldig und wehrlos sind wie Tiere. Wenn ich den Gehalt also zunächst versprachliche, wird deutlich, dass die Kommunikation über rein visuelle Strukturen wiederum nur auf der sprachlichen Ebene stattfinden kann. Die Ebene des Diskurses und der präzisen Benennung ist somit immer die der verbalen Sprache. Diese Tatsache bedeutet jedoch nicht, dass eine argumentative Wirkungskraft im Sinne einer Überzeugung ebenfalls zwingend an die Sprache gekoppelt wäre, sondern das Beispiel zeigt, wie jene Wirkung durch reine Bildstrukturen hervorgebracht werden kann. Die Argumentation muss nun jedoch im Detail analysiert werden, um zu klären, wie ohne verbalsprachliche Mittel kommuniziert wird 102
3. Die rhetorische Maschine
Fünfgliedriges Argumentationsschema.
und auf welche Weise die Überzeugung aufgebaut wird. Wenn ich formuliere, dass ohne verbalsprachliche Mittel kommuniziert wird, so ist dies eine Pointierung zugunsten des Bildes. Insgesamt gehe ich jedoch davon aus, dass die argumentativen Strukturen auf ein latent vorhandenes sprachliches Raster zurückgehen und das Verständnis eines intellektuellen Hintergrunds bedarf. Die Hervorhebung des Bildes bedeutet somit nicht, dass allein qua visueller Evidenz argumentative Schlussfolgerungen vermittelt werden, sondern dass der Argumentationsprozess einem Schema der logischen Verknüpfung folgt, das sich der Evidenz zu argumentativen Zwecken bedient. Zu untersuchen ist es, wie dieses Schema aufgebaut ist und wie es durch die Mittel des Bildes kommuniziert. Anthony Blair sucht in seinem Beitrag »The Rhetoric of Visual Arguments«37 die Wirkungsweise dieser visuellen Evidenz zu klären. Die Struktur visueller Argumentationen sei relativ einfach aufgebaut, nicht dialektisch gefasst, und ihre Wirkungsweise beruhe auf dem genuinen Potential des Bildes: »The visual has an immediacy, a verisimilitude, and a concreteness that help influence acceptance that is not available to the verbal.«38 So betont Blair die unterschiedliche argumentative Funktion von Visuellem versus Verbalem, und setzt damit einen Anfangspunkt zur Beschreibung der Möglichkeiten visueller Argumentation. Cicero bezeichnet zunächst das Argument als den Grund, der einer zweifelhaften Sache Glaubwürdigkeit verschaffen soll. Im fünf37. J. Anthony Blair: The Rhetoric of Visual Arguments, in: Hill, Helmers: Defining Visual Rhetoric, S. 41–61. 38. Ebd., S. 59.
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gliedrigen Argumentationsschema wird der Zusammenhang zwischen Argument, Konklusion und ihrer jeweiligen Begründung deutlich. Das Argument kann durch einen exemplarischen Beleg unterstützt werden. Um es zu sichern, leistet der Topos die Anbindung an die allgemeine Meinung, an das, was als wahrscheinlich und glaubwürdig gilt. Durch diese Struktur wird die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der Konklusion gesichert. Wie wird im Streik-Beispiel die Konklusion vorbereitet, die Folgerung, dass die Niederschlagung des Arbeiterstreiks moralisch falsch und grausam ist? Zunächst wird lediglich eine Handlung gezeigt, die aus mehreren Einstellungen aufgebaut ist, jedoch dieser Akt des Zeigens, der visuellen Deixis, beinhaltet bereits die Einflussnahme auf das Publikum. Dessen Blick und folglich dessen Aufmerksamkeit werden gelenkt, es wird auf eine Interpretation und logische Verkettung der Bilder hingewiesen, und so hebt die Deixis hervor: »Siehe dieses Massaker«.39 Man kann in diesem Beispiel von einer appellativen Deixis sprechen, deren Appellfunktion aus der Häufigkeit der wiederholten Großaufnahmen in Zusammenhang mit der suggerierten semantischen Verbindung resultiert. Die Darstellung ist folglich nicht wertneutral, sondern im Gegenteil wird eine starke Wertung aufgebaut, die durch die implizierte Schlussfolgerung entsteht. Das Argument ist, dass die Arbeiter unschuldig sind und sich gegen die Gewalt der Aggressoren nicht zur Wehr setzen können, und die Konklusion daraus wird durch zwei Topoi gestützt, den des Opfertieres und den des unterdrückten Arbeiters. Beide Topoi sind affektstark,40 sie rufen einerseits Mitleid mit dem geschlachteten Tier und andererseits Mitleid und Entsetzen beim Anblick der getöteten Arbeiter auf. Die Affektstärke des ersten Topos wird in der Inszenierung durch die auch aus heutiger Sicht erstaunlich direkten Aufnahmen der Tierschlachtung erreicht. In Großaufnahme werden die Details gezeigt: das Fleischermesser, das dem Tier die Halsschlagader durchschneidet, die zuckenden Glieder, die verdrehten Augen. Das Bild der TierschlachVgl. Birgit Schneider: Die Inventur des Luxus, in: Bredekamp, Schneider: Visuelle Argumentationen, S. 103–120, S. 106; vgl. zur Deixis auch Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik, S. 30–47, bes. S. 30f. und S. 46f. Hier weist Kanzog darauf hin, dass durch die Rekonstruktion der filmischen Zeigeakte »die spezifischen Strategien des Erzählens (Spielfilm) und Berichtens (Dokumentarfilm) sowie des (oft verdeckten) Argumentierens offengelegt werden können« (ebd. S. 30). 40. Vgl. auch Eco: Einführung in die Semiotik, S. 274f. 39.
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tung ruft gleichzeitig die Assoziation eines Opfertieres hervor, das in einem religiösen Ritual einer metaphysischen Macht dargebracht wird. Ist es ein Stier, Symbol von Kraft und Fruchtbarkeit, der der herrschenden Klasse geopfert wird? Oder steht die Brutalität gegenüber dem wehrlosen Opfer im Vordergrund? Beide Topoi, Arbeiter und Opfertier, werden miteinander verschränkt und (be-)deuten sich gegenseitig als Doppelfigur. Ihre Verbindung ist ein Vergleich, jedoch keine verbal angezeigte Vergleichsstruktur des ›Wie‹, sondern formal realisiert durch die Parallelmontage und gekoppelt durch den Übertrag der Affekte. Tertium comparationis beider Motive ist die Opferrolle: Tier wie Mensch werden unschuldig und auf brutale Weise getötet. Beide sind wehrlos, und in beiden Fällen ist schwer nachzuvollziehen, warum sie sterben müssen. Durch diesen doppelten Topos werden die Affekte verbunden und steigern sich in ihrer Wirkung: Mitleid gegenüber dem Opfer und Abscheu gegenüber dem Aggressor gelten für beide Bilder und verstärken einander. Die Wiederholung der intensiven Bilder steigert sich bis zum Kulminationspunkt: dem Anblick des Leichenfeldes. Der Einsatz dieser starken Affektstruktur hat aus strategischer Sicht den Nutzen, etwaige Lücken in der intellektuellen Überzeugung auszufüllen, nach Klaus Kanzog gelange das Publikum erst »durch eine Intervention des Affekts zu spezifischen Wahrnehmungen«.41 Die affektive Stützung der Argumentation ist folglich ein elementares Mittel der filmischen Überzeugung, die sich in diesem Beispiel durch eine Verschränkung von logos und pathos realisiert. Wie im Argumentationsschema dargestellt, wird das Argument exemplarisch belegt, und dieser Beleg liegt in der Evidenz der Bilder. Es ist nicht nur von allgemeiner Gültigkeit, dass Arbeiter rechtlos sind und unterdrückt werden, wie es der Topos suggeriert. Vielmehr wird in der Sequenz explizit gezeigt, dass die Arbeiter getötet werden, um den Streik niederzuschlagen. Bei visuellen Argumentationen ist ein exemplarischer Beleg in den meisten Fällen gegeben, da die Begründung in einer konkret bildlichen Dar41. Klaus Kanzog: Erzählstrategie, München 1976, S. 36; siehe auch Klaus Wüsthoff: Die Rolle der Musik in der Film-, Funk- und Fernsehwerbung, Berlin 1978, S. 5. Vgl. auch: Gabriele Brößke: »… a language we all understand«: Zur Analyse und Funktion von Filmmusik, in: Ludwig Bauer, Elfriede Ledig, Michael Schaudig (Hrsg.): Strategien der Filmanalyse, (diskurs film, Bd. 1), München 1987, S. 9–23, bes. S. 18.
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stellung erfolgt. Diese Bilder zeigen insofern keine allgemeinen Begründungsformeln auf, sondern sie begründen anhand der Darstellung des Einzelfalls, der narrativ eingebettet wird. Lohmeier definiert dies als »erzählerische Argumentation« im Film, die auf der »narrativen Grundstruktur der Bilder« beruhe.42 Mit der Abschluss-Sequenz des Beispiels wird insgesamt für den Film Streik eine peroratio inszeniert, eine Form der Abschlussrede, die die wesentlichen Argumente nochmals aufruft. Durch die affektstarken Bilder wird eine besondere Einprägsamkeit beim Publikum erreicht, und so erfüllt die Sequenz ganz den rhetorischen Grundsatz, zum Abschluss nochmals die stärksten Affekte bei der Zuhörerschaft aufzurufen und zu verankern. Die Konklusion, die sich auf den ganzen Film bezieht, befürwortet die revolutionäre Agitation der Arbeiter und rechtfertigt die notwendigen Opfer. In der letzten Einstellung wird die Konklusion ausdrücklich verbal formuliert: Zu sehen ist das Augenpaar eines Arbeiters in Nahaufnahme, worauf ein Zwischentitel folgt: »Proletarier, erinnert euch!« Hier ist also explizit die Aufforderung zur Erinnerung der revolutionären Taten und der sie repräsentierenden Bilder formuliert. Die Erinnerungsfunktion wird in dieser Weise wörtlich wiederholt. Bei der Untersuchung rein visuell strukturierter Argumentationen muss jedoch bedacht werden, dass Bildfolgen meist in Kombination mit anderen visuellen oder auditiven Zeichen vorkommen, die diese determinieren: mit verbalen Texten im Form von Dialogen im Film, mit erläuternden Zwischentiteln im Stummfilm oder mit musikalischer Untermalung der Filmmusik. Die argumentative Funktion ist immer auch abhängig von der Zeichenkombination, in der sie realisiert wird. Die argumentative Wirkung des Emblems beispielsweise resultiert maßgeblich aus dem Zusammenspiel zwischen verbaler Fixierung durch die inscriptio und subscriptio und der exemplarischen Veranschaulichung durch das Bildelement der pictura. Auch im Stummfilm werden Zwischentitel als verbale Verankerung der visuellen Ebene eingesetzt, die gleichzeitig eine Interpretation des Gezeigten darstellen. Insbesondere für den Werbe- und Propagandafilm spielt die Frage nach den argumentativen Möglichkeiten des Visuellen eine große Rolle. In diesem Kontext ist eine visuelle Argumentation nach Barth als 42.
Lohmeier: Artikel »Filmrhetorik«, S. 355f.
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»die schrittweise explizite Erweiterung der Extension bestimmter, vom Text positiv bewerteter und zu Beginn implizit eingeführter Propositionen«43 aufzufassen. Die Zielsetzung ist die Überzeugung des Adressaten, um eine Änderung der Meinung und eine potentielle Initiation einer Handlung zu erreichen. Die Anschaulichkeit des Gezeigten ersetzt eine verbal explizierte Argumentation und entzieht auf diese Weise dem Zuschauer die Möglichkeit einer rationalen Gegenargumentation. Der Grund dafür ist, dass visuell gestützte Argumentationen keinen diskursiven Charakter haben. Die durch die Evidenz des Gezeigten scheinbar bewiesene Konsequenz einer Handlung ist ein starker Überzeugungsgrund, der sich durch eine verbale Gegenargumentation nur schwer revidieren läßt.
3.2.2. Die affektive Adressierung des Publikums Für die Wirkung und den Erfolg des Massenmediums Film spielt die affektive Stimulierung des Publikums eine entscheidende Rolle, so dass die Techniken zur Affektproduktion im Laufe der Filmgeschichte in hohem Maße differenziert und weiterentwickelt wurden. Bereits in den ersten Filmproduktionen, die sich einem Massenpublikum präsentierten, wurde ein Spektakel inszeniert, das das Publikum mitreißen sollte. Dieses frühe »Kino der Attraktionen«44 inszenierte attraktives Material mit hohem affektivem Gehalt. Faszination lösten die ersten Aufnahmen von Großbränden oder Boxkämpfen aus, Grauen erregten die Aufnahmen eines Elefanten, der auf einer elektrischen Platte getötet wurde. Auch Slapstick-Filme hatten großen Erfolg, die mit grotesken Elementen die Lächerlichkeit inszenierten. Bereits diese frühen Beispiele zielten darauf ab, das Publikum zu erschüttern, es zum Zittern oder zum Lachen zu bringen – das Wissen, dass die affektive Adressierung des Zuschauers ein Erfolgsfaktor ist, war also schon zu diesem Zeitpunkt präsent. Barth: Psychagogische Strategien, S. 20. 44. Vgl. Tom Gunning: The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde, in: Wide Angle, Bd. 8, Nr. 3/4, Athens, Ohio 1986, S. 63– 70. Dt. Fassung: ders.: Das Kino der Attraktionen: Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde, in: Meteor Nr. 4, 2. Jg., Wien 1996, S. 25–34; vgl. auch: ders.: An Aesthetic of Astonishment: Early Film and the (In)Credulous Spectator, in: Art & Text Nr. 34, 1989, S. 31–45. 43.
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Die Beschäftigung mit der Affektproduktion des Films hat in den Filmwissenschaften in den letzten Jahren zugenommen, wobei insbesondere kulturkritische oder psychoanalytische Zugänge gesucht wurden.45 Was meiner Einschätzung nach jedoch weiterhin aussteht, ist eine systematische Untersuchung der Zusammenhänge zwischen den eingesetzten filmischen Mitteln, ihrem wirkungsintentionalen Hintergrund und ihrem kommunikativen Regelwerk zur Adressierung eines Publikums. Auf diese Weise würde eine produktionsseitige Perspektive entworfen, die den Filmemacher als Rhetoren in den Blick nimmt, und zwar nicht unter psychologischen oder soziokulturellen Gesichtspunkten, sondern mit dem Ziel, eine Theorie der rhetorischen Affektkommunikation des Films zu entwerfen.46 Was bislang aus der praxisbezogenen Sicht vorliegt, sind Sammlungen von Filmtechniken, die viel45. Vgl. u. a. den frühen Beitrag zum Pornofilm: Karola Gramann (Hrsg.): Lust und Elend: Das erotische Kino, München, Luzern 1981; vgl. zur Affektproduktion im Film u. a. Matthias Brütsch u. a. (Hrsg.): Kinogefühle: Emotionalität und Film, Marburg 2005; Noël Carroll: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York, London 1990; ders.: Toward a Theory of Film Suspense, in: ders.: Theorizing the Moving Image, Cambridge 1996, S. 94–117; Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild: Kino 1, Frankfurt a. M. 1989, S.123–192; Jens Eder: »Noch einmal mit Gefühl!«: Zu Figur und Affekt im Spielfilm, in: Jan Sellmer, Hans J. Wulff (Hrsg.): Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Marburg 2002, S. 93–107; Torben Grodal: Moving Pictures: A New Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition, Oxford 1999; Hermann Kapelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004; Gertrud Koch: Zu Tränen gerührt: Zur Erschütterung im Kino, in: Klaus Herding, Bernhard Stumpfhaus (Hrsg.): Pathos, Affekt, Gefühl: Die Emotionen in den Künsten, Berlin, New York 2004, S. 562–574; Carl Plantinga, Greg M. Smith (Hrsg.): Passionate Views: Film, Cognition and Emotion, Baltimore, London 1999; Ed Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine, Mahway, N.J. 1996; Peter Wuss: Das Leben ist schön ... aber wie lassen sich die Emotionen des Films objektivieren? In: Jan Sellmer, Hans J. Wulff (Hrsg.): Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Marburg 2002, S.123–142. Vgl. auch Thomas Anz: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung, in: Literaturkritik.de 8, 2006, Nr. 12. 46. Einen Ansatz zu einer solchen Theorie liefert Arne Scheuermann, indem er die Affekttechniken des Filmemachers auf ihre präsentative und repäsentative Funktion hin untersucht. Arne Scheuermann: Film als rhetorisches De-
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mehr die technischen Fertigkeiten als ihren wirkungsintentionalen Einsatz fokussieren.47 Die Techniken zur Affekterregung gehören zum Handwerkszeug des Filmemachers, jedoch werden sie aus seiner Sicht nur selten beschrieben. Vielmehr bleiben sie Teil des Erfahrungswissens, das bei der Filmproduktion angewendet wird.48 Ich verstehe unter den Techniken zur Affektproduktion das Wissen um die zur Verfügung stehenden Mittel und die Regeln ihres Einsatzes. Die rhetorische Affektenlehre, ihre Terminologie und ihr System können zur Beschreibung dieser Techniken und Mittel dienen, um sie zu differenzieren und zu ordnen. In Bezug auf die Mittel können wir zunächst davon ausgehen, dass dem Filmemacher die formalen Gestaltungsmittel der Montage und Mise en Scène zur Verfügung stehen. Um diese qualitativ zu differenzieren, können wir auf die Überzeugungsmittel von ethos und pathos zurückgreifen. Hinter diesen Begriffen steht das System des decorums. Will der Rhetor sein Publikum schockieren, so sollte er bildreich kommunizieren, die stärksten Metaphern einsetzen, seine Stimme anheben, mit Mimik und Gestik das Gesagte unterstützen und dem Publikum anschaulich eine schockierende Situation vor Augen stellen. Der Filmemacher wird ähnlich agieren: Er wird die schockierendsten Bilder verwenden, sie in kurz aufeinander folgenden Schnitten montieren, wird mit den Mitteln von Suspense und Überraschung arbeiten, um sein Publikum zu fesseln. Will er hingegen sein Publikum amüsieren, so wird er sanfte Affekte nutzen, wird weniger starke Bilder aufrufen, sondern vielmehr das Publikum auf der Ebene von Sympathie und Empathie einladen, an dem Gezeigten teilzuhaben. sign: Grundzüge einer Theorie des Filmemachens mit einer Fallstudie zu präsentativen Affekttechniken, Manuskript Wuppertal 2006. 47. Neben den rein technisch orientierten Büchern zur Filmpraxis (wie etwa Katz: Die richtige Einstellung) ist eines der wenigen Beispiele einer Darstellung der Zusammenhänge von Wirkungsintention und Einsatz der Mittel: Christian Mikunda: Kino spüren: Strategien der emotionalen Filmgestaltung, München 1986. Vgl. auch ders.: Der verbotene Ort oder die inszenierte Verführung, 2. erweiterte Auflage, Frankfurt a. M. 2005. 48. Vgl. Arne Scheuermann: Moving Picture Audience – Affektkommunikation im populären Film, in: Anna Zika (Hrsg.): The Moving Image – Beiträge zu einer Medientheorie des bewegten und bewegenden Bildes, Weimar, Kromsdorf 2004, S. 113–130.
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Auf diese Weise produziert der Rhetor Affektstrukturen. 49 Es sind Elemente des Films, die nach rhetorischen Regeln gestaltet werden, um das Publikum emotional zu involvieren, es affektiv zu adressieren. Sie zu differenzieren und in ihrer Funktion zu beschreiben, bedeutet, einen Teil der filmischen Regelbasis offenzulegen. Affektstrukturen lassen sich in ihren Eigenschaften nach zwei Gesichtspunkten unterscheiden: zum einen unter formalen Aspekten, zum anderen unter Aspekten der Affektstärke. Formal gesehen sind es Makro- oder Mikrostrukturen: Im Verlauf der filmischen Erzählung bilden sich Makrostrukturen aus, die mehrere Szenen umspannen. Mikrostrukturen hingegen beziehen sich auf die affektive Ausgestaltung einzelner Einstellungen oder kurzer Sequenzen. Insbesondere auf solche Mikrostrukturen der Affektgestaltung komme ich später zurück. Unabhängig davon lässt sich die Affektstärke differenzieren, zum einen die sanften Affekte, in der Rhetorik dem ethos zugeordnet, zum anderen die starken Affekte des pathos. Die sanften Affekte zielen auf eine länger anhaltende emotionale Involvierung des Publikums, bei der es primär um dessen Unterhaltung, emotionale Anteilnahme durch Identifikation und um eine länger andauernde Stimmung des Films geht. Das pathos bedient sich der Wirkungsfunktion des movere zur Erregung starker Affekte, beispielsweise durch Furcht, Entsetzen, Mitleid oder auch durch extreme Freude. In ihrer stärksten Verdichtung wird diese Affektstruktur zum einzelnen Affektbild, auf das ich später zurückkomme. Die beiden Kategorien sind als Kontinuum zu begreifen und beleuchten unterschiedliche Aspekte der affektiven Wirkungsweise, die sich im Film überlagern und durchdringen. Ihr Einsatz ist abhängig vom jeweiligen Kontext, jedoch lässt sich sagen, dass eine ihrer grundlegenden Funktionen auf die Aufmerksamkeit des Publikums gerichtet ist. Sie dienen, dem rhetorischen Grundsatz des attentum parare folgend, der Aufmerksamkeitserweckung, der Aufmerksamkeitssicherung und der Affektlenkung.50 Darin formulieren sich drei rhetorische Regeln zur Vermeidung von taedium, der Langeweile des Zuschauers. Seine Aufmerksamkeit immer wieder zu erlangen, sie kontinuierlich zu halten und Affekte im richtigen Maß und an der rechten Stelle einzusetzen, sind Kriterien, die für eine erfolgreiche Kommunikation, und so auch für einen erfolgreichen Film, ausschlaggebend sind. Diesen Begriff nutzt auch Barth für die Beschreibung rhetorischer Strukturen im Film, vgl. Barth: Psychagogische Strategien, S. 11. 49.
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3.2.2.1. Affektübertragung durch Identifikation: Das ethos
Um die sanfte Affekterregung nach rhetorischen Kriterien zu untersuchen, befrage ich das ethos-Konzept nach seiner Beschreibungskompetenz für den Film. Bei der Übertragung muss zunächst eine Differenzierung beachtet werden, die sich aus den Bedingungen des audio-visuellen Mediums ergibt. In der antiken Rhetoriktheorie bezieht sich das ethos auf diejenigen Überzeugungsgründe, die auf dem Charakter des Redners basieren. Er überzeugt mit seiner Person, mit der körperlichen Performanz von Stimme, Mimik, Gestik, um auf das Publikum sympathisch zu wirken.51 So geht diese Theorie zunächst von der Situation des mündlich gehaltenen Vortrags aus, und daraus folgt, dass die Funktion des Rhetors mit der Person des Redners zusammenfällt. Wenn sich Einsatz des ethos auf den Rhetor selbst bezieht – von welcher Person gehen wir dann im Film aus? Dort haben wir es im Gegensatz dazu mit einem Rhetor als Element der rhetorischen Maschine zu tun, mit einer Funktion im System. Untersuchen wir die Wirkungsweise des ethos unter diesen Voraussetzungen, stellt sich also die Frage, welche analogen Bezüge im Film angenommen werden können, da die Person des Redners fehlt. Ich zeige dazu zwei Ansatzpunkte auf: einerseits das ethos im Film als Identifikation, andererseits das ethos des Films als Grundlage einer Evaluation. Für den ersten Ansatzpunkt gilt, dass nicht der Rhetor selbst, sondern die Protagonisten des Films mit dem rhetorischen ethos überzeugen. Es ist quasi ein Übersprung des ethos vom Rhetor auf eine filmische Repräsentationsfigur. Die Protagonisten schaffen für das Publikum Angebote zur Identifizierung, indem sie zur empathischen und sympathischen Teilnahme einladen. An dieser Stelle setze ich das ethos mit der Identifikation gleich, oder vielmehr: es wirkt durch die Identifikation des Betrachters mit den Protagonisten des Films. Es ist eine wirkungsintentionale Art der Adressierung, die der Rhetor als Mittel einsetzt, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern und es affektiv zu stimulieren. Wie lassen sich nun die Ebenen von Identifikation, Empathie und Sympathie für die Filmwirkung aufspannen? Vgl. Ebd., S. 132. Aristoteles definiert das ethos als dem Charakter des Redners zugeordnetes Überzeugungsmittel, vgl. Aristoteles: Rhetorik, u.a. S. 13 (=1356b), S. 84 (=1378a). 50. 51.
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Nach Burke ist die Identifikation ein Kernelement der Rhetorik, eine der wichtigsten Strategien der Überzeugung, die maßgeblich an der Wirkung einer Darstellung beteiligt ist.52 Und dieser Grundsatz gilt sogar in besonderem Maße für den Film, wie Berys Gaut zeigt.53 Zunächst sind zwei grundsätzliche Ausrichtungen der Identifikation zu unterscheiden: die Identifikation als etwas oder mit etwas.54 Die erste Bedeutungsvariante kommt dem Begriff der Identität nahe, was an einem einfachen Beispiel deutlich wird: Im Film wird eine Person als Mörder identifiziert, das bedeutet, er ist ein Mörder. Jedoch wenn sich jemand, in der zweiten Bedeutungsvariante, mit einem Mörder identifiziert, so ist es ein Prozess der Annäherung, der situativen Aneignung bestimmter Aspekte oder Eigenschaften. Diese zweite Bedeutung ist für die rhetorische Kommunikation in zweifacher Hinsicht wichtig: Einerseits identifiziert sich der Rhetor mit seinem Adressaten (bzw. mit bestimmten Aspekten oder Zielen des Adressaten), um seine Kommunikation wirkungsvoll an dessen Vorstellungen und Erwartungen zu orientieren. Andererseits, in umgekehrter Richtung, identifiziert sich das Publikum – idealerweise – mit dem Gesagten und Gezeigten. Diesen zweiten Fall betrachte ich nun genauer: Das Publikum soll sich mit dem Gezeigten, insbesondere mit den Protagonisten identifizieren, und daraus soll eine Affektion resultieren, so die Strategie. Sympathie und Empathie fasse ich in diesem Zusammenhang als ein Kontinuum der Affektion auf. Beide Begriffe beschreiben von ihrer Wortbedeutung im Griechischen her ein Mitleiden mit einer Person, wobei die sympathische Teilnahme eine distanzierte, positive Affektion gegenüber der Person darstellt, während Empathie ein Eintauchen in die Perspektive und emotionale Disposition des Gegenübers benennt. Um die Affektübertragung und seine Auswirkungen zu beschreiben, nehme ich zunächst ein Modell an, das auf der Annahme einer Affektfigur beruht. Die Affektfigur ist als ein Mittel zu verstehen, mit dem der Rhetor im Film Identifikationsangebote gestalten kann. An einem Vgl. Virginia Holland: Counterpoint: Kenneth Burke and Aristotle’s Theories of Rhetoric, New York 1995, S. 38. 53. Vgl. Berys Gaut: Identification and Emotion in Narrative Film, in: Carl Plantinga, Greg Smith (Hrsg.): Passionate Views: Film, Cognition and Emotion, Baltimore, London 1999, S. 200–216. 54. Auf diese grundsätzliche Unterscheidung weist Gilberto Perez hin: Perez, Rhetoric of Film. 52.
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Detail aus Masaccio: Die Vertreibung aus dem Paradies, 1427–1428.
Beispiel aus der Bildenden Kunst wird das Modell deutlich: In dem Ausschnitt des Freskos »Die Vertreibung aus dem Paradies« von Masaccio sind Adam und Eva dargestellt, verfolgt von einem Engel mit einem Schwert. Das Paar zeigt in Mimik und Gestik höchste Verzweiflung, Evas Gesicht ist vom Schmerz verzerrt, Adam bedeckt sein Gesicht schamvoll mit den Händen – affekt-rhetorisch gesehen stellen sie pathos dar. Beide Figuren funktionieren als Affektfiguren, die eingesetzt werden, um vermittels der Identifikation den Betrachter zu affizieren, und so sehen wir die Identifikation als einen inhärenten Teil nicht nur des ethos, sondern auch des pathos. Adam und Eva stellen in diesem Falle den Sündenfall der Menschen an sich dar, und so ist der Betrachter aufgefordert, ihr Leid mitzuleiden, ihre Verzweiflung zu tei113
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len. Ulrich Heinen beschreibt diese Übertragung als eine Affektbrücke,55 durch die innere Vorstellungsbilder beim Rezipienten hervorgerufen werden, und durch diese Imagination wird jener selbst affiziert. Die Darstellung der Figuren überträgt folglich den Affekt nicht in direkter Form, vielmehr regt es den Betrachter zur Produktion eigener Vorstellungsbilder an, die ihn affizieren. Identifikation bedeutet in diesem Zusammenhang also, dass der Betrachter sich empathisch in die dargestellte Situation versetzt, um eigene, innere Bilder hervorzubringen, die ihn mitleiden lassen. Das Bild muss dazu bestimmte Qualitäten aufweisen, die den Betrachter zur Identifikation anregen. Je lebendiger der Ausdruck des Bildes, desto geeigneter ist es, um den Adressaten zur empathischen Teilnahme zu bewegen.56 Die Intensität des Ausdrucks der Figuren Adam und Eva in Gesicht und Körperhaltung, die Lebendigkeit der Szene, in der sie gerade in diesem Augenblick das Paradies zu verlassen scheinen, im Gehen begriffen sind, gerade jetzt den Zorn Gottes zu spüren scheinen, führen zur Affektstärke der Darstellung. Sie folgt dem Konzept des kairos, des glücklichen Augenblicks, in dem eine Szene im Kulminationspunkt des intensivsten Ausdrucks festgehalten wird. Ein weiteres Beispiel, das Bild Schmerzensmutter von Tizian, zeigt ebenso eine Lebendigkeit des Ausdrucks. Die illusionistische Wirkung ist der Grund dafür: Die Frauenfigur scheint gerade in diesem Augenblick die Hände in Verzweiflung zu heben und den Blick demütig zu senken. Bei der Darstellung können wir auch von einer Affektfigur sprechen, die in diesem Falle jedoch auf der Affekthöhe des ethos kommuniziert und die Mitleid wie Bewunderung des Zuschauers wecken soll. Es geht hier um eine empathische Teilnahme. Ziel ist die moralische Erbauung des Betrachters, die auf einer Selbstaffizierung beruht. Eine Andacht vor dem Bildnis und seiner religiösen Symbolik wandelt sich langsam in aktivere Emotionen wie die Reue über eigene Taten bis hin zu einem Handlungsdrang zur Läuterung.57 Das Bildmedium kann durch dieses deutliche »Vor-Augen-Stellen« die affektive Wirkung in hohem Grade steigern, indem sie in einen fiktiven Dialog mit dem BeHeinen: Rubens zwischen Predigt und Kunst, S. 18f. Vgl. Marcus Fabius Quintilian: Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, 2 Bde., hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1972–1975, VI 2, S. 27–32. 57. Vgl. Varga: Visuelle Argumentation, S. 359. 55. 56.
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Tizian: Schmerzensmutter, 1554.
trachter tritt. So war sich nach Heinen bereits die antike Rhetorik bewusst, dass in dieser Hinsicht das Bild effizienter kommunizieren könne als das Wort.58 Für den Film gilt diese Wirkung vielleicht in noch stärkerem Maße, da sich die Lebendigkeit des Ausdrucks durch die bewegten Bilder intensiviert. Aus filmtheoretischer Perspektive gilt für eine Teilnahme des Adressaten am Geschick eines filmischen Protagonisten ebenfalls, dass sie auf die inneren Vorstellungsbilder des Rezipienten rekurriert. Um diese aufzurufen, müsse eine partielle oder projektiv zu konstruierende Ähnlichkeit des Beobachteten mit dem Beobachter vorhanden sein, so Hilmar Mehnert. Nur so könne der Protagonist für den Zuschauer sympathisch wirken.59 Die Identifikation baut sich als teils rationale, teils emotionale Übereinstimmung mit den Attributierungen der ProtagoHeinen: Rubens zwischen Predigt und Kunst, S. 19. Identifikatorische Prozesse beruhen zumeist auf der Grundlage von Ähnlichkeits- oder Komplementärprinzipien, nach denen »die Bezugsperson einen bestimmten Grad der Ähnlichkeit, der Übereinstimmung oder Ergänzung im Sinne der gewünschten Erweiterung der eigenen Persönlichkeit repräsentieren muss«. Hilmar Mehnert: Das Bild in Film und Fernsehen, Leipzig 1986, S. 78. 58. 59.
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nisten im Film auf, mit ihren »menschlichen Haltungen, Schicksalen, Charakteren, Stimmungen und Entscheidungen«.60 Diese Projektionen ermöglichen es dem Rezipienten, sich für eine begrenzte Zeit in die Situation der Bezugsperson auf der Leinwand zu versetzen und dadurch ein eigenes, inneres Erleben zu produzieren.61 Für den Rhetor resultiert daraus, dass er die Auswahl und Gestaltung der Protagonisten sorgfältig an seinem Zielpublikum ausrichten muss. Für ihn ist es wichtig abzuschätzen, welcher Schauspieler oder welche Schauspielerin sich als Identifikationsfigur eignet, welche akzeptiert und positiv bewertet wird. In Werbefilmen werden daher oftmals prominente Personen, sogenannte »Celebrities« gezeigt, die ein Produkt benutzen oder es »anpreisen«, da so das ethos instrumentalisiert werden kann, um es mit dem Produkt zu verknüpfen. In der Werbung spricht man von einem »Imagetransfer«. Um die Identifikation als rhetorisches Mittel möglichst optimal zu nutzen, kann der Rhetor die Kameraführung einsetzen. Das Eintauchen in die Perspektive der Protagonisten wird durch die Führung des Blicks mittels der Kamera verstärkt, und so lenkt der Rhetor die Aufmerksamkeit seines Publikums. Hierzu bieten sich die Mittel des Fokus und Zooms, der Fahrt und des Bildausschnitts an, mit denen eine Blickregie des Films gestaltet wird. Mit Hilfe einer bewussten Betonung einer Figur kann der Blickpunkt des Zuschauers geführt werden, um seine Aufmerksamkeit zu erregen und zu fokussieren. Für welchen Protagonisten der Adressat Sympathie empfindet und mit welchem er sich idenEbd., S. 79. Zu den identifikatorischen Prozessen der Filmwahrnehmung entstanden in der psychoanalytisch geprägten Filmtheorie seit den 70er Jahren differenzierte Ansätze. Zu nennen ist u. a. die Apparatustheorie nach Jean-Louis Baudry: Cinéma: effets idéologiques produits par l’appareil des base, in: Cinétique, Nr. 7–8, 1970, S. 1–8; ders.: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Psyche 48, Heft 5, 1994, S. 1047–1074. Siehe auch Christian Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 13ff. und S. 79ff. Renate Lippert: Vom Winde verweht: Film und Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. auch die Übersichtsdarstellung von Hermann Kapellhoff: Kino und Psychoanalyse, in: Jürgen Felix (Hrsg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2002, S. 130–190. Vgl. auch Hermann Kapellhoff: Matrix der Gefühle. Vgl. auch Alex Neill: Empathy and (Film) Fiction, in: David Bordwell, Noël Carroll (Hrsg.): Post-Theory: Reconstructing Film Studies, Madison, London 1996, S. 175–194. 60. 61.
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tifizieren kann, liegt so zu einem Teil im Einflussbereich des Rhetors und hängt zum anderen Teil vom ethos der gezeigten Person selbst ab. Den Einsatz der Identifikation als filmrhetorisches Mittel illustriere ich nun anhand von drei Beispielen, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte hinsichtlich ihrer Bezugnahme zum Adressaten zeigen. Hier geht es nicht mehr um eine allgemeine Sympathie oder Empathie, sondern um eine differenziertere Unterscheidung zwischen Alignment und Allegiance. Alignment benennt die identifikatorische Annäherung an eine Person, nach Murray Smith beschreibt es den Prozess »by which spectators are placed in relation to characters in terms of access to their actions and to what they know and feel«. Die Distanz zur Person ist in diesem Fall deutlich gewahrt, jedoch wird eine Beziehung dadurch aufgebaut, dass der Zuschauer Einblick in die rationale und emotionale Entscheidungsebene des Protagonisten erhält. Allegiance hingegen, als (Partei-)Zugehörigkeit und Übereinstimmung, »pertains to the moral and ideological evaluation of characters by the spectator«.62 Hier geht es um eine Bewertung des Verhaltens, das durch eine moralische Identifikation beeinflusst wird, ein Aspekt also, der stärker in eine persuasive Richtung geht. Um eine starke Wirkung des ethos zu erreichen, müssen beide Aspekte miteinander kombiniert werden: die Identifikation mit der Perspektive und Handlung des Protagonisten und eine moralische Zustimmung. Ein solches quasi doppeltes ethos findet sich häufig bei der Konzeption eines klassischen Filmhelden wie beispielsweise bei der Figur des Forrest Gump im gleichnamigen Film des Regisseurs Robert Zemeckis. Mit dieser Figur soll sich der Zuschauer identifizieren, seine Abenteuer miterleben, und gleichzeitig vom moralischen Standpunkt her seiner Handlung zustimmen – um womöglich daraus Lehren zur moralisch richtigen Handlungsweise zu ziehen. Die Figur des Forrest Gump überzeugt einerseits durch ihre Tugendhaftigkeit, da er in jeder Situation die moralisch richtigen Entscheidungen zu treffen scheint. Gleichzeitig involviert er den Zuschauer in Form von Wohlwollen und Anteilnahme an seinem Schicksal. Wenn der minder intelligente Gump 62. Murray Smith: Altered States: Character and Emotional Response in Cinema, in: Cinema Journal, Bd. 33, Nr. 4, 1994, S. 41; vgl. auch: ders.: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, or Apparently Perverse Allegiances, in: Plantinga, Smith (Hrsg.): Passionate Views. S. 217–238; und Murray Smith: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford 1995.
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auf einer Parkbank sitzt und mit naivem Gestus seine Lebensgeschichte erzählt, während er Pralinen aus einer Schachtel isst, so hat das Publikum Einblick in seine Handlungen und Gefühle und kann gleichzeitig seine Entscheidungen positiv evaluieren, da sie mit dem gängigen System von Werten und Normen übereinstimmen. Gump funktioniert aus rhetorischer Sicht stark über sein ethos. Eine Trennung von Alignment versus Allegiance hingegen ist seltener zu finden. Ein Extrembeispiel für die Darstellung einer Identifikation qua Perspektive des Protagonisten bei fehlender moralischer Übereinstimmung ist der belgische Film Mann beißt Hund. Die Kamera, die durch das inszenierte Kamerateam selbst in die Handlung einbezogen wird, folgt einem Serienmörder, der 25 brutale Morde begeht. Die intensive Gewaltanwendung des Protagonisten steht in einem krassen Gegensatz zu seinem alltäglichen Leben, in dem er Gedichte rezitiert und über Kunst und Architektur reflektiert. In diesem Beispiel oszilliert die Identifikation zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht ihr vollkommenes Fehlen durch die moralische Verurteilung des Protagonisten, dem jeglicher ethische Charakter zu fehlen scheint; auf der anderen Seite entsteht die identifikatorische Annäherung dadurch, dass die Perspektive des »Helden« eingenommen wird. Entsteht in dieser Inszenierung jedoch jemals eine Annäherung an den Protagonisten? Oder äußert sich die Identifikation nicht vielmehr als ihr Gegenteil, als eine Abstoßung durch die Perversion der gezeigten Handlungen? In diesem Falle würde gerade der Entzug des ethos, die Enttäuschung der Identifikationserwartung und die Thematisierung moralischer Werte durch ihre Pervertierung zur Filmwirkung beitragen. Mann beißt Hund beschreibt ein Spiel mit diesen Identifikationen und ihrer Verweigerung, und wirft gleichzeitig die Frage auf, ob ein Film gänzlich ohne eine Identifikationsfigur, und sei es auch durch eine negativ bewertete, wirksam sein kann. Der umgekehrte Fall, eine moralische Identifikation ohne eine vorhergehende identifikatorische Annäherung durch die Perspektive des Protagonisten, ist bei den Filmen Eisensteins hingegen häufig zu beobachten. Immer wieder werden Figuren kaum individuell eingeführt, der Zuschauer erhält keinen Einblick in ihre Gefühls- und Entscheidungswelt, und trotzdem werden sie zu Vorbildern für eine moralisch als gut bewertete Handlungsweise. Sie verkörpern insofern nicht ein individuelles ethos, sondern versinnbildlichen gleichsam ein kollektiv wirksames Wertesystem. Diese Tatsache scheint zunächst verwunderlich, da diese Filme in besonderem Maße rhetorisch wirksam sind und 118
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Plakat von Forrest Gump, Regie: Robert Zemeckis, 1994.
vielfältige Mittel der Überzeugung nutzen. Diese Schwächung des ethos dadurch, dass nur eine der beiden Facetten rhetorisch genutzt wird, ist durch einen konzeptionellen Kunstgriff des Regisseurs zu erklären. Vorgenommen wird eine starke Typisierung der Charaktere, welche einen politischen Hintergrund hat. Im Sinne der sozialistischen Ideologie ist das Thema »Masse« gegenüber »Individuum« hervorzuheben, und so werden nicht individualisierte »Filmhelden« gezeigt, sondern vielmehr Massenszenen mit Laienschauspielern, die bestimmte Typen darstellen: den Arbeiter, den Direktor, den Soldaten. Durch diese Entscheidung kommt es zu keinem Alignment mit den Figuren, da der Zuschauer ihre Gefühls- und Gedankenwelt nicht kennt. Auf zwei anderen Wegen findet die rhetorische Überzeugungsarbeit jedoch statt, zum einen durch die Identifikation im Sinne einer moralischen Zustimmung – und dieses Überzeugungsmittel kommt umso stärker zum Tragen –, zum anderen durch das pathos des Films, das mit großer Wirkungskraft eingesetzt wird.63 Die moralische Identifikation ist beispielsweise an der Figur des unschuldigen Diebs in Streik zu beDen Einsatz des Pathos in den Filmen Eisensteins untersuche ich gesondert in Kapitel 4.1.4. 63.
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obachten. Sie wird kurzfristig eingeführt, so dass eine Identifikation mit der Handlungsweise kaum aufgebaut werden kann. Als die Figur jedoch unschuldig verurteilt wird und sich daraufhin das Leben nimmt, wird eine moralische Identifikation etabliert. Der »Dieb«, so die Implikation, konnte nichts gegen die Macht des Direktorats ausrichten und wurde zum unschuldigen Opfer, so dass er vom Standpunkt des ethos her die Zustimmung des Publikums finden muss. Noël Carroll beschreibt den Zusammenhang der beiden Identifikationsarten: »In order to understand a situation internally, it is not necessary to identify with the protagonist. We need only have a sense of why the protagonist’s response is appropriate or intelligible to the situation.«64 Für die Wirkung des ethos, so lässt sich folgern, ist bereits die Nachvollziehbarkeit und moralische Zustimmung ausreichend, ein empathisches »Eintauchen« in die Perspektive des Protagonisten verstärkt die Wirkung lediglich. Bis zu diesem Punkt habe ich gezeigt, wie das rhetorische ethos-Konzept sich in Form von unterschiedlichen Identifikationen im Film beschreiben lässt. Der zweite, kategorial andere Aspekt bezieht sich nun auf das ethos des Films, das heißt auf rhetorische Strategien, die über den Film selbst hinausweisen und auch die Kommunikation über Film betreffen. Ziel dieser Funktionalisierung des ethos ist es, ein positives Bild des Regisseurs oder der Produktionsfirma aufzubauen, ein Aspekt, der für die Filmindustrie und ihre Öffentlichkeitsarbeit von großer Bedeutung ist. Wenn die Glaubwürdigkeit und Moral eines Regisseurs vermittelt werden können, so sind das Werte, die zu einem positiven »Image« beitragen, und das ist wiederum wichtig für den Erfolg eines Films.65 Wege, um diese Werte zu etablieren, sind zum einen das Werk selbst, zum anderen Kommunikationsformen wie Interviews, Medienberichte oder Kampagnen, die es flankieren. Die Kontrolle und strategische Planung dieser Darstellungsmittel kann für die Wirkung eines Films oder des Regisseurs selbst ausschlaggebend sein, denn ein Verlust an Glaubwürdigkeit, eine schlechte Reputation und somit eine Verletzung des ethos sind schwerwiegende Argumente gegen Person und Werk. Ein Beispiel für das abrupte Ende einer Karriere durch einen Bruch des ethos liefert der Stummfilm-Star Roscoe Conkling Arbuckel. Als erfolgreicher Schauspieler und Regisseur wurde er 1921 des Mordes an einer jungen Frau angeklagt, jedoch aus Mangel an Beweisen freige64. 65.
Noël Carroll: The Philosophy of Horror, S. 95f. Vgl. Hendrix, Wood: The Rhetoric of Film, S. 109.
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sprochen. Arbuckel selbst betonte seine Unschuld, und auch die weitere Untersuchung ergab keinen Hinweis auf seine Schuld. Die Presse berichtete jedoch intensiv über den »Arbuckel-Skandal« und nahm den Vorfall zum Anlass, um die fehlende Moral der Filmindustrie Hollywoods insgesamt anzuprangern.66 So wurde Arbuckel durch die Medienberichte zu einem Beispiel für diesen moralischen Verfall stilisiert, was das Ende seiner Karriere bedeutete. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich in Folge dieses Skandals und weiterer, ähnlicher Vorfälle 1930 eine Institution gründete, die zur Kontrolle moralischer Standards der Filmindustrie auftrat. Die »Motion Picture Producers and Distributors of America«, auch als »Hays Office« bekannt geworden, formulierten ein Programm, das die moralische Verantwortung dieser Industrie reflektierte und daraus Prinzipien ableitete, die zur Wahrung des ethos des Films beitragen sollten. So wurde etwa formuliert, dass Vulgarität, Obszönität und sexuell freizügige Darstellungen nicht erlaubt seien, aber auch, dass die Darstellung von Tänzen, die »sexuelle Handlungen oder Leidenschaften repräsentieren«, vermieden werden müssten.67 So wurde ein gemeinsamer ethisch-moralischer Kodex der Filmindustrie verfasst, der detailliert festhält, welche Arten der Darstellung als angemessen bewertet werden. An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig das ethos für den Film ist, da er von der Meinung und Beurteilung eines Massenpublikums abhängig ist. Die Wahrung des ethos ist, so kann man aus diesen Bemühungen folgern, für die gesamte Filmindustrie ein entscheidender Faktor. 3.2.2.2. Die Rolle des pathos im Film
Die Affektstrukturen des pathos operieren mit einem hohen affektiven Potential, und sie werden im Film eingesetzt, um das Publikum nicht nur zu involvieren, sondern zu fesseln, zu erschüttern. In Spielfilmen wird diese affektive Intensität kaum über die gesamte Spieldauer hin eingesetzt, da sie das Publikum überfordern würde, und so sind vielmehr Mischformen aus der länger andauernden, sanften Affizierung 66. Der Journalist William Randolph Hearst trieb diese Kampagne voran, die ein breites Publikum erreichte. 67. Vgl. Leonard J. Leff, Jerold L. Simmons: The Dame in the Kimono: Hollywood, Censorship and the Production Code from the 1920’s to the 1960’s, New York 1991.
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und dem hohen pathos gängige Praxis. Klassische Genres des pathos sind der Horror- und der Pornofilm, daneben auch das Melodram und der Propagandafilm. Pathos bedeutet von seinem griechischen Ursprung her zunächst allgemein Affekt, Gemütsbewegung, Leidenschaft oder Überschwang. In der Gegenwart wurde pathos zu einem pejorativen Begriff, mit dem übertriebener Schwulst bezeichnet wird. Diese Gefahr des Abrutschens in den Schwulst ist ein tradiertes Problem der pathetischen Rede, und so ist der pathetische der anspruchsvollste Stil, der dem Rhetor eine hohe Kompetenz abverlangt. Für die rhetorische Theorie definiert Manfred Kraus pathos als akute[n] und temporäre[n], aber heftige[n], spannungsreiche[n] Gefühlsablauf, der durch ein Zusammenspiel von äußeren Ursachen, kognitiven Bewertungen und seelischen Dispositionen veranlasst ist und am Ende meist in eine (häufig einen Handlungsimpuls beinhaltende) Affektentladung mündet. 68
Unter dem Begriff sind folglich mehrere Aspekte zu fassen, die miteinander in Zusammenhang stehen; pathos hat einen transitorischen Charakter. Es beschreibt den Durchgangsprozess durch unterschiedliche Stadien, vom Einsatz eines Affektauslösers über den Affektaufbau beim Adressaten bis hin zu einer Affektentladung, die potentiell in einem Handlungsimpuls mündet. Auslöser ist eine Affektstruktur im Film, beispielsweise die verdichtete Pathosformel, von der später noch die Rede sein wird. Die Affektstruktur wird nach den Regeln des hohen Stils gestaltet, um beim Publikum die stärksten Affekte auszulösen, und dafür ist die gesamte Palette der rhetorischen Figuren einsetzbar.69 Das Affektempfinden des Adressaten selbst hat ebenso mehrere Valenzen, auf die Ulrich Port hinweist.70 Es kann sich sowohl als passives Erleiden, als Schmerzerfülltheit oder auch als aktive Leidenschaft darstel68. Manfred Kraus u. a.: Artikel »Pathos«, HWR, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 689–717, S. 689f. 69. Diesem Stil sind in der antiken Rhetorik folgende pathetische Figuren zugeordnet: Ausruf, Apostrophe, Prosopopoiie, rhetorische Frage, Alliteration, Anapher, Hyperbaton, Asyndeton, Aposiopese, Anakoluth, Interjektion. Auch die Amplifikation für einen lebendigen, anschaulichen Ausdruck ist ein geeignetes Stilmittel. 70. Ulrich Port: Pathosformeln: Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888), München 2005, S. 15. Vgl. auch ders.: Katharsis des
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len. Und dieser dritte Aspekt meint den Übergang zu einer Kraft, die aus dem affizierenden Prozess resultiert: den Übergang zur Affektentladung, zur Handlung, zur Ekstase. Diese Ekstase, begriffen als ein Zustand, der den Empfindenden »außer sich selbst« zu bringen scheint, ist gleichsam der Kulminationspunkt des pathos, an dem das passive Erleiden in das Performative kippt. »Außer sich selbst« zu sein ist dafür ein metaphorischer Ausdruck, der zunächst einen kategoriell anderen Zustand beschreibt. Diesen Zustand illustriert das Bild der Mänade, der Rasenden, der Verzückten, die den orgiastischen Kult des Dionysos zelebriert und die zur phantasmatischen Ikone des Weiblichen in der Moderne wurde.71 Sie wird zum Inbegriff der Ekstase, die in einer Fiktion von entfesselter Weiblichkeit gipfelt, die nicht nur den intensiven, freien Lauf jeglicher starker Gefühle symbolisiert, sondern auch eine Verbindung zu einer Sphäre des Obskuren, Irrationalen und Bedrohlichen suggeriert. Das Zusammenspiel von pathos und Ekstase begreift Pseudo-Longinus als wichtiges Prinzip der Rhetorik: Das Übergewaltige nämlich führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall wirkt, was uns erstaunt und erschüttert, jederzeit stärker als das Überreden und Gefällige, denn ob wir uns überzeugen lassen, hängt meist von uns selber ab, jenes aber übt eine unwiderstehliche Macht und Gewalt auf jeden Zuhörer aus und beherrscht ihn vollkommen.72
Die Ekstase wird so zur stärksten Macht der Rhetorik. Es ist der Bereich, in dem sie ihre intensivste Wirkung entfalten kann. Dahinter steht die Leidens, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Heft 73, 1999, S. 5–42. 71. Vgl. Alexandra Karentzos: Kunstgöttinnen: mythische Weiblichkeit zwischen Historismus und Secessionen, Marburg 2005. Vgl. Silvia Eiblmayr: Die verletzte Diva, in: dies., Dirk Snauwaert, Ulrich Wilmes, Matthias Winzen (Hrsg.): Die verletzte Diva: Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 2000, S. 11–28; vgl. auch Barbara Eschenburg: Der Kampf der Geschlechter, in: Helmut Friedel (Hrsg.): Der Kampf der Geschlechter: Der neue Mythos in der Kunst 1850–1930, Ausstellungskatalog der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, Köln 1995, S. 9–42, bes. S. 9–12. 72. Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen, 1, 3–4, übersetzt und kommentiert von Reinhard Brandt, Darmstadt 1966.
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Vorstellung, dass durch den Einsatz des pathos beim Rezipienten ein ekstatischer Zustand hervorgerufen werden könne, der ihn seiner rationalen Beurteilungsfähigkeit gänzlich enthebt. In diesem Zustand nimmt das »ungezügelte« emotionale Erleben überhand und entzieht sich der Ratio. Es folgt eine rauschhafte Phase, in der der Erlebende von außen stark beeinflussbar ist und sich, so die Idee, in der Gewalt des Rhetors befindet. Verbildlicht wird diese Vorstellung in dem Emblem von Andreas Alciatus zur Macht der Beredsamkeit, das Hercules darstellt, der gefangene Gallier an einer Kette führt, die von seiner Zunge ausgeht. Die Inscriptio lautet: »Die wohlberedtheit ubertrifft die kühnheit und sterck.« 73 Hercules wird in diesem Bild dadurch zum Heroen, dass er kraft seiner Beredsamkeit die Gefangenen in seiner Gewalt hat. Die Fesseln, die er ihnen anlegt, sind folglich nur virtuell, da die Führungsgewalt von seiner Zunge, einer Metonymie für seine Worte, ausgeht. Hier zeigt sich der Konnex zwischen dem gewaltigen und gewaltsamen Potential des pathos,74 zwischen Aktivität und Ohnmacht der Leidenschaften,75 der es zum wirkmächtigsten Instrument der Rhetorik werden lässt. Im Gegensatz zum sanften Wirken des ethos geht es hier darum, ihn in seiner psychischen und physischen Konstitution temporär zu manipulieren und durch starke Affekte regelrecht zu fesseln. In der heutigen Filmindustrie scheint dieses Wissen um die Führungsgewalt des pathos weit verbreitet zu sein, denn ihre Produktionen bedienen sich rege einer ganzen Palette von starken Affektauslösern. Pathos wird für den Film zu einem wichtigen Erfolgsfaktor. Inzwischen scheint es nur noch eine Frage der (rhetorischen) Technik zu sein, wie man das Publikum zum Weinen bringt – sei es, weil der Außerirdische E.T. seinen Finger hebt, um »nach Hause zu telefonieren«, sei es, weil das Liebespaar in Titanic am Bug des Schiffes zu fliegen scheint, um 73. Der lateinische Titel lautet: »Eloquentia fortitu – dine praestantior«. Das Emblem ist abgebildet in: Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hrsg.): Emblemata: Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 1651f. 74. Vgl. Gert Ueding: Rhetorica movet – zur rhetorischen Genealogie des Pathos, in: Norbert Bolz (Hrsg.): Das Pathos der Deutschen, München 1996. S. 27–38. Vgl. auch Stephen Lowry: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus, Tübingen 1991. 75. Vgl. Erich Auerbach: Passio als Leidenschaft, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, München 1967, S. 161–175.
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später bei dessen Untergang mit dem Tod zu kämpfen. Das Kino vermag, seine Zuschauer zu Tränen zu rühren.76 Überspitzt formuliert könnte man von einer »Pathosindustrie« des heutigen Films sprechen, die ihre Techniken an den Bedürfnissen ihres Publikums ausrichtet. Eines der Beispiele aus jüngerer Zeit ist die Trilogie Herr der Ringe, die mit einem erstaunlich hohen pathos arbeitet. An dem kommerziellen Erfolg dieses Werks wird deutlich, dass vielleicht sogar eine neue Blütezeit des pathetischen Films begonnen hat, in die auch Produktionen wie Oliver Stones Alexander oder Ridley Scotts Gladiator passen. Doch nicht nur diese aufwändigen »Blockbuster« haben eine affektstarke Wirkung, genreübergreifend finden sich in unterschiedlichen Zusammenhängen Momente des pathos wieder. Anhand von drei Beispielen skizziere ich die unterschiedlichen Formen der Pathosproduktion und ihrer Umsetzung mit filmischen Mitteln. Dabei geht es um drei unterschiedliche Affektstrukturen: erstens jene, die auf affektauslösenden Topoi basieren, zweitens die expressiven und drittens die präsentativen Affektstrukturen. Dies sind drei grundlegende Kategorien, die in der Filmpraxis in den meisten Fällen in Durchdringung und Überschneidung miteinander eingesetzt werden, um eine intensive Affektwirkung zu erzielen. Die erste Kategorie umfasst also jene Strukturen, deren Wirkung auf einem Topos beruht.77 In den später folgenden Beispielen des Regisseurs Eisenstein werden wir sehen, dass solche affektstarken Topoi beispielsweise der Tod eines Kindes oder eine in Verzweiflung schreiende Frau sind, die eine immense Wirkung auf das Publikum entfalten. Als pathetische Topoi der jüngeren Filmgeschichte gelten beispielsweise Motive der Nationalität oder des Vaterlandes, die eingesetzt werden, um Affekte des Erhabenen und des Stolzes hervorzurufen. Sie spielen für Filme wie Independence Day von Regisseur Roland Emmerich, Apocalypse Now von Regisseur Francis Ford Coppola oder Rob Reiners The American President eine Rolle, in denen das Vaterland und Vaterlandskonflikte thematisiert werden. Je breiter die Affektwirkung eines Topos im gesellschaftlichen 76. Gertrud Koch beleuchtet die Hintergründe, warum gerade das Kino seine Zuschauer so leicht zu Tränen rührt. Koch: Zu Tränen gerührt, S. 562– 574. 77. Bevor ich auf den Topos-Begriff und die Bedeutung einer visuellen Topik im folgenden Kapitel näher eingehe, sei an dieser Stelle Topos vorläufig als ein allgemein bekanntes Motiv definiert, dem eine bestimmte affektive Wirkung zugeordnet wird.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Plakat von The American President, Regie: Rob Reiner, USA 1995.
Kontext verankert ist, desto größer ist folglich auch die Zielgruppe, die damit potentiell erreicht wird. Ein gängiges Motiv dieses Topos ist die Flagge einer Nation, die beispielsweise in US-amerikanischen Spielfilmen häufig zum Einsatz kommt. Bei der Verwendung dieses symbolträchtigen Motivs, das für die amerikanischen Werte und die Identität der Nation steht, kann von einer sehr breiten Wirksamkeit ausgegangen werden. Die Gefahr ist jedoch, dass es zum Klischee erstarrt und auf diese Weise wiederum seine rhetorische Wirksamkeit umkehrt. Das pathos der amerikanischen Flagge wird auf diese Weise zu einer Kippfigur, die sowohl starke »nationale Gefühle« des Vaterlandsstolzes auslösen kann, zugleich jedoch zu einer leeren Phrase gerinnt, die durch den zu häufigen Gebrauch die intendierte Affektwirkung verliert. Das richtige Maß des Einsatzes, das aptum, ist bei Verwendung dieses Motivs zu wahren. Eine der wohl berühmtesten Szenen der Filmgeschichte, die auch heute noch dem Publikum gleichsam Schauer über den Rücken jagt, ist der Mord in der Dusche in Psycho. Diese Szene hat man vor Augen: die Hand mit dem Messer, das auf den nackten Frauenkörper einsticht, das Entsetzen im Gesicht des Opfers, das Blut, das in den Abfluss läuft. Besonders wirksam wird sie durch den Topos des Frauenmordes. Dieser ist stark negativ belegt und ruft Abscheu, Zorn, Entsetzen hervor. In dieser filmischen Umsetzung überhöhen die Weiblichkeit und Nacktheit des Opfers noch die Brutalität des Ereignisses und unterstreichen 126
3. Die rhetorische Maschine
Standbilder aus Psycho, Regie: Alfred Hitchcock, USA 1960.
seine Wehrlosigkeit. Mit dem Motiv der nackten Frau, die ihren Körper reinigt, ist darüber hinaus ein ganzes Geflecht von Topoi verbunden, das mit dem Stichwort »Die Badenden« in der bildenden Kunst nur ein Beispiel der Verbildlichungen des nackten Frauenkörpers aufruft. Im Beispiel des »Duschmordes« ist interessant, dass der Mord zwar anschaulich vor Augen geführt, jedoch nicht in allen Details tatsächlich gezeigt wird. Es ist in keiner Einstellung zu sehen, wie das Messer in die Haut des Opfers eindringt, in keiner die Totale der Szene zu sehen, wie der Täter tatsächlich den Mord begeht. Trotzdem, oder eben gerade daraus resultierend, handelt es sich um eine der affektstärksten Szenen des Films. Wird ein affektauslösendes Motiv detailgenau ausgeführt, so verringert sich oftmals die Affektwirkung. Wir haben es mit einem Möglichkeitsraum zu tun, in dem sich die Affektwirkung zwischen den beiden Polen von Vergegenwärtigung und Verdunkelung im Sinne der obscuritas bewegt. Dadurch, dass der Film die Möglichkeit hat, einen überaus anschaulichen Eindruck zu vermitteln und ein Ereignis zu zeigen, resultiert gerade aus dessen partieller Verdunkelung, aus der Andeutung und der Suspense eine größere Affektwirkung. In der Szene wird die Wirkung einerseits durch den Einsatz der Musik erreicht, die hier eine zentrale Rolle spielt, andererseits jedoch durch die geradezu Aufsplitterung der Szene in einzelne, affektstarke Detailaufnahmen: das zustechende Messer vor dem Frauenkörper, die Hand am Duschvorhang, der Abfluss. Jede dieser Einstellungen zeigt nur ein Bruchstück der Tat an, so dass sich das Gesamtbild erst im Auge des Betrachters zusammenfügt. Das Wirkungsprinzip der zweiten Kategorie, der expressiven Affektstrukturen, beruht auf dem Ausdruck eines Affekts durch die Prota127
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Standbild aus The Shining, Regie: Stanley Kubrick, USA 1980.
gonisten des Films selbst. Welche Rolle dabei das Gesicht auf der Leinwand spielt, wird in nachfolgenden Überlegungen noch vertieft. Expression bedeutet zunächst, dass der Protagonist die Empfindung selbst hervorbringt, sich selbst affiziert und seine Affizierung performativ umsetzt. Es ist eine Frage der Performanz des Schauspielers, auf der die Wirkung beruht, und auch hier beobachten wir das zugrunde liegende Modell einer Affektfigur, die den Rezipienten zur Produktion eigener Vorstellungsbilder anregt. Mechanismus der expressiven Affektstrukturen ist die empathische Teilnahme, so dass sich die Wirkmechanismen von ethos und pathos, von Identifikation und Affektion, überkreuzen. Im gewählten Beispiel des Duschmordes wird die expressive Seite durch die Protagonistin realisiert, deren Gesicht in Großaufnahme die Todesangst und den Schmerz zeigt. Ihr Gesicht verdeutlicht die Entwicklung der Szene: zunächst ist sie in der intimen Situation der Körperreinigung zu sehen, die sie zu genießen scheint. Ihr Gesichtsausdruck wirkt entspannt. Nur der Zuschauer sieht zunächst, dass ihr Mörder bereits vor dem Vorhang steht und das Messer hebt. In einer schnellen Schnittfolge ist nachfolgend nur kurz ihr Gesicht zu sehen, das ihre tödliche Verletzung ausdrückt. Kurz darauf wird ihr Gesicht bereits beinahe ausdruckslos, starr, als Anzeichen für ihren nahenden Tod. Sie streckt ihre Hand aus, hilfesuchend, bevor sie tot zusammenbricht. Die letzte Einstellung zeigt ihre aufgerissenen Augen in Großaufnahme, als sie bereits tot am Boden liegt. Auf diese Weise fokussiert 128
3. Die rhetorische Maschine
die Inszenierung weniger den Akt der Tötung an sich, also durch Einstellungen, die die Waffe, Blut und die körperlichen Wunden zeigen. Vielmehr spiegelt sich die Tat im Gesicht des Opfers wider, wird also durch expressives pathos wirksam. Dieser inszenatorische Kunstgriff zeigt, wie wirkungsvoll diese Affektstrukturen sind, da auf diese Weise der Zuschauer auf der Ebene der Empathie erreicht wird. Ein weiteres, eindringliches Beispiel für eine expressive Affektstruktur ist das Bild des Darstellers Jack Nicholson aus The Shining, das auch zur Vorlage des Filmplakats wurde. Nicholson steht hier in der Rolle des Jack Torrance der Wahn buchstäblich ins Gesicht geschrieben, wenn er durch das Hotel »Overlook« streift, um seine Frau und seinen Sohn zu töten. Die Affektwirkung geht in diesem Beispiel direkt von der Expression auf dem Gesicht des Schauspielers aus, der mit diesem Bild psychische Abgründe vor Augen führt. Unterstützt werden diese Ausdrucksformen des Films durch die präsentativen Strukturen, die dritte Kategorie, bei denen die Affektproduktion primär auf physischen Stimuli beruht. Ihr sind filmtechnische Mittel zugeordnet, die zunächst abgekoppelt von der Handlung eines Films zu betrachten sind: helle Lichtblitze, tiefe Subwoofer-Töne, hohe Schnittfrequenzen, unvermittelt einsetzende Geräusche. Die Techniken, die zur Produktion dieser Affektstrukturen eingesetzt werden, nennt Arne Scheuermann »präsentative Affekttechniken«.78 Sie finden ihren häufigsten Einsatz im Action-Adventure, wenn es um die Inszenierung spektakulärer Bilder und Töne geht, jedoch kommen sie prinzipiell in allen Filmgenres vor. Diese Art der Affektstrukturen trägt zur heutigen Filmwirkung in hohem Maße bei, da durch die Möglichkeiten neuer Filmton-Verfahren und durch den verstärkten Einsatz digitalen Materials die präsentative Seite des Films intensiver zum Einsatz kommt. In einem Kino mit Dolby-Surround-Technik beispielsweise kann die unmittelbar physische Stimulierung des Publikums über die Raumakustik genutzt werden, um starke Affekte zu produzieren, um das Publikum beispielsweise durch plötzliche Geräusche zu erschrecken, es durch tiefe Frequenzen zu beunruhigen oder um durch eine Soundkulisse Spannung zu erzeugen. Solche Stimuli sind auch auf der visuellen Ebene zu finden, wenn es etwa um starke Kontraste zwischen Farben oder Hell und Dunkel geht. Dies sind Mittel, deren sich bereits der Stummfilm bedient hat, wenn wir etwa an das Beispiel Sturm über 78.
Vgl. Scheuermann: Moving Picture Audience, S. 113–130.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Asien des Regisseurs Wsewolod Pudovkin denken. Die überraschend schnelle Schnittfolge zum Abschluss des Films erinnert beinahe an die hohe Schnittfrequenz heutiger Musikvideos, durch die ein Wechsel zwischen unterschiedlichen Helligkeiten, Formen, Mustern entsteht. Dieser Reizwechsel wirkt auf der physischen Ebene besonders intensiv, da hohe Anforderungen an eine schnelle kognitive Verarbeitung gestellt werden. Dadurch wird nicht nur die Aufmerksamkeit des Zuschauers erhöht, sondern auch eine Irritation durch die hohe Dynamik der Bilder ausgelöst. Im Beispiel der Duschszene sind es, neben dem schnellen Schnittwechsel, die berühmt gewordenen hohen Töne der Streicher, die in dieser Szene den Mord untermalen. Die Töne erklingen parallel zu den Messerstichen, mit denen der Mörder sein Opfer tötet. Sie geben jedoch nicht die realen oder pseudo-realistischen Geräusche der Szene wieder, sondern sie wirken auf zwei anderen Ebenen gleichzeitig: Einerseits scheinen sie die Bewegung des Messers zu illustrieren und seine Bewegung musikalisch aufzunehmen (illustrative Musik), andererseits wirken sie im präsentativen Sinne durch die Tonhöhe und Kürze der Töne als akustische Stimuli auf das Publikum. Auf diese Art wirken die akustischen Elemente als Affektproduzenten. Bernhard Hermann konzipierte sie so wirkungsvoll, dass sie sich als eigene Figur etabliert haben und als implizites Zitat in vielen folgenden Filmen aufgegriffen wurden.79 Mit diesen Kategorien lassen sich einige Aspekte der Affektstrukturen des pathos aufzeigen. In der filmischen Inszenierung überlagern und durchdringen sich die Kategorien oftmals wie im Falle von Psycho, da durch eine solche Schichtung ein Pathoserleben auf unterschiedlichen, sich multiplizierenden Ebenen erreicht werden kann. Inhaltlich motivierte Affektstrukturen werden z. B. häufig mit präsentativen Strukturen kombiniert, so wie auch die expressiven Affektstrukturen im Rahmen einer inhaltlich motivierten Darstellung präsent sind. In stark affektgeladenen Darstellungen findet sich häufig eine Kombination aller drei Kategorien.
79. Die Internet Movie Database verzeichnet allein über 300 Filme, die auf Hitchcock’s Psycho verweisen bzw. ihn ironisch zitieren. Siehe [http:// german.imdb.com/title/tt0054215/movieconnections] (letzter Zugriff am 17.03.2008).
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3. Die rhetorische Maschine
3.3. Die Topik als Instrumentar ium von Argumentation und Affekterregung Der Begriff des Topos ist bereits mehrfach verwendet worden und ich habe ihn vorläufig als ein allgemein bekanntes Motiv charakterisiert. Nun ziehe ich den Rahmen etwas weiter auf, um die Topik als rhetorisches Instrument zu beschreiben und um dann zu fokussieren, welche Rolle eine visuelle Topik des Films spielen kann. Die Topik ist ein rhetorisches Verfahren, das allgemein bekannte Motive als Material für die Argumentation und Affekterregung zur Verfügung stellt. Sie ist als ein System zu begreifen, das es dem Rhetor ermöglicht, für unterschiedliche Themen und Zielsetzungen die möglichen Überzeugungsmittel zu finden, und zwar in einem ganz praktischen Sinne. Unterteilt nach den loci a persona und den loci a re,80 also jenen Topoi, die an eine Person oder an eine Sache gekoppelt sind, stellt die Topik eine Reihe von allgemein anerkannten Begründungsformeln dar, die der Rhetor einzeln durchgehen kann, um das für seine Zielsetzung Passende zu finden. Diese Begründungsformeln basieren auf der öffentlichen Meinung, der doxa, und knüpfen auf diese Weise an das an, was von einem Großteil der Gesellschaft als richtig angenommen wird und anerkannt ist.81 Der Topos ist also ein »Argumentationsgesichtspunkt von allgemeiner Relevanz«,82 der in ein Ordnungsprinzip eingebettet ist, das den Rhetor befähigen soll, »auf der Grundlage der herrschenden Meinungen über jede vorgelegte Zweifelsfrage zu einem Urteil zu kommen«,83 so die aristotelische Definition.84 Zur Differenzierung des Topos-Begriffs haben sich die vier Kategorien nach Lothar Bornscheuer durchgesetzt: die Habitualität, PotentiVgl. Ueding, Steinbrink: Grundriss der Rhetorik, S. 243–258. Vgl. Aristoteles: Topik. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Eugen Rolfes, Hamburg 1968, I, 1 100b 21–23; I, 10 104a 8–11; I, 14 105a 34–37. 82. Lothar Bornscheuer: Topik: Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 45. 83. Aristoteles: Topik, I, 1. 84. Bornscheuer definiert die Topik im Anschluss an Aristoteles als »die Substanz der ›herrschenden Meinung‹« (Bornscheuer: Topik, S. 21). Ein Topos könne »jeder allgemeine oder konkrete, formale oder inhaltliche Gesichtspunkt [sein], der in einem jeweils vorliegenden Problemzusammenhang eine neue und wichtige Perspektive eröffnet«, so Bornscheuer. (Ebd., S. 44f.) 80. 81.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
alität, Intentionalität und Symbolizität des Topos.85 Sie sind als vier Beschreibungsmomente aufzufassen, die zu einer trennscharfen Definition eines Topos dienen, denn diese Trennschärfe ist bei der Fülle von Motiven und ihrer Verflechtung nicht unproblematisch. Die Habitualität beschreibt die »kollektiv-habituelle Vorprägung«86 eines Topos, die auf der herrschenden Meinung gründet. Hier spiegelt sich wider, dass innerhalb der Topik jedem Darstellungsmuster ein spezifisches psychologisches Wissen über dessen Einsatz zugeordnet ist.87 Dahinter steht die Vorstellung eines dem Topos eigenen Habitus, einer ihm eigenen Merkmalsausprägung, die durch seinen wiederkehrenden, kollektiv anerkannten Einsatz zu seinem Charakteristikum bestimmt wird. Die Potentialität hingegen beschreibt, dass ein Topos in seiner inhaltlichen Ausgestaltung zunächst nicht determiniert ist, so dass er, je nach argumentativer Zielsetzung, für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden kann. So begriffen ist er eine Art grundlegender Formel, die es mit Inhalt zu füllen und auszugestalten gilt. Die dritte Kategorie, die Intentionalität, bezieht sich auf den wirkungsintentionalen Einsatz eines Topos, wie ich ihn bereits im Modell der rhetorischen Kommunikation beschrieben habe. Um rhetorisch erfolgreich zu kommunizieren, wird der Rhetor ihn als zielgerichtetes Argument vorbringen, ihn mit hohem Affektpotential gestalten und ihn an einer möglichst günstigen Stelle innerhalb einer Präsentation platzieren. 85. Ebd., S. 96ff. Bornscheuer entwirft so einen rhetorisch geprägten Topos-Begriff, der sich durch seine strategische Ausrichtung auf Argumentation und Affekterregung von einem poetisch geprägten Begriff unterscheidet. Vgl. dazu Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 89–115, bes. S. 92f. Vgl. auch Ulrich Pfisterer: »Die Bildwissenschaft ist mühelos«: Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte, in: ders., Max Seidel (Hrsg.): Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München, Berlin 2003, S. 21–47; vgl. zum aktuellen Stand der Toposforschung auch: Thomas Schirren, Gert Ueding (Hrsg.): Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. XIII–XXXI. 86. Bornscheuer: Topik, S. 105. 87. Vgl. Jürgen Sprute: Ethos als Überzeugungsmittel in der aristotelischen Rhetorik, in: Gert Ueding (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften: Geschichte, System, Praxis als Probleme des »Historischen Wörterbuchs der Rhetorik«, Tübingen 1991, S. 281–290, hier S. 283.
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3. Die rhetorische Maschine
Als letzte Kategorie führt Bornscheuer die Symbolizität ein, um bei der vielfachen Gestaltungsfreiheit den Topos definitorisch abgrenzen zu können. Diese Kategorie beschreibt, dass ein Topos auf ein bestimmtes Grundmuster, auf eine Einheit zurückzuführen sein muss. Auch wenn er sehr vielschichtig und mit anderen Motiven verbunden sein kann, müsse ein Elementarcharakter gegeben sein, der eine Wiederholbarkeit und Erinnerbarkeit im Sinne der memoria sicherstelle. Ohne diese letzte Charakterisierung würde der Topos Gefahr laufen, nicht als distinktes Element bezeichnet werden zu können, seine Ränder würden, bildlich gesprochen, ausfransen. Auf der anderen Seite bedeutet diese definitorische Setzung jedoch gleichzeitig eine Abstraktion von der topischen Praxis, da sich der Topos, wie ich anhand einiger Beispiele später zeigen werde, immer wieder verändert. Durch diese Entwicklung wächst ein Motiv und verzweigt sich in der Kommunikationspraxis. In dieser Hinsicht ist der Topos ein lebendiges Motiv, das durch seine Verwendung und Gestaltung bestimmt wird und sich seiner formalen Festschreibung immer wieder entzieht. Für den heutigen Spielfilm ließe sich eine eigene Topik entwerfen, die sein motivisches Repertoire in systematischer Weise festhalten würde. Wie kann eine solche Topik aussehen, nach welchen Kriterien wäre sie geordnet? Zunächst kann sie nach Genres unterteilt werden, so dass beispielsweise die gängigen Topoi des Italo-Westerns oder des film noir aufgeführt werden. Zum Teil genreübergreifend sind die Themen der Darstellung. Hier ist eine interessante Frage, ob das überlieferte System nach Quintilian heute noch ein ausreichendes Spektrum abdecken würde. Es benennt bereits eine Bandbreite von Themen wie Geschlecht (Abstammung), Nationalität, Vaterland, Sexualität, Alter, Erziehung, Körperbeschaffenheit, Schicksal, soziale Stellung und einige mehr. So können unter den loci a aetas, den Topoi des Alters, beispielsweise Filme wie Harold and Maude von Hal Ashby oder Citizen Kane von Orson Welles aufgeführt werden, in denen das Alter wie auch das Altern thematisiert werden; unter den loci a animi natura, den Topoi der Wesensart, solche Filme, die eindringliche Psychogramme ihrer Protagonisten zeichnen, wie Fritz Langs M – eine Stadt sucht einen Mörder, Alfred Hitchcocks Psycho oder Das Schweigen der Lämmer von Jonathan Demme. Unter den loci a tempore, den Topoi der Zeit, sind Filme wie Tom Tykwers Lola rennt aufzuführen, der das unaufhaltsame Ablaufen der Zeit in mehreren Versionen der gleichen Sequenz thematisiert, Memento von Christopher Nolan, der in der chronologischen Zeitfolge 133
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
rückwärts abläuft, oder 21 Gramm von Alejandro González Iñárritu, der unabhängig von der Chronologie der Ereignisse in einzelnen Facetten eine Geschichte zusammensetzt. Eine solche Topik des Films ist bislang Fiktion, sie zu schreiben steht noch aus. Ich begreife sie als ein Analogon zum Musterbuch des Webers, das ich bei der Beschreibung der rhetorischen Maschine skizziert habe. Dieses Buch führt das motivische Repertoire des Films auf, katalogisiert seine Formen, Grundmuster und Farben. Implizit greifen heutige Filme auf einen solchen topischen Katalog zurück, das bedeutet, dass sein System zum impliziten Wissen des Filmemachers gehört. Auch wenn eine Topik des Spielfilms heute nicht mehr schriftlich fixiert und gelehrt wird, so bildet sie doch eine Motivsammlung, die dem Film zugrunde liegt. Will der Filmemacher aus rhetorischer Sicht erfolgreich kommunizieren, muss er sich dieser systematisierten Motive bewusst bedienen – was auch heißen kann, dass er bewusst gegen sie verstößt – denn die Topoi knüpfen an die Erfahrungen und Sehgewohnheiten des Publikums an. Für eine Topik des Films ist darüber hinaus ein weiterer Aspekt ausschlaggebend, und zwar ihre visuelle Kodierung. Dieser unterscheidet sie von der tradierten rhetorischen Topik der Rede. Auch wenn ihre Kategorien auf ein sprachliches Raster zurückgreifen, hängt ihr Einsatz und ihre Wirkungsweise doch zu einem großen Teil von dieser visuellen wie auch der audio-visuellen Kodierung ab. Eine Topik des Films, so lässt sich daraus ableiten, enthält zusätzliche Arten der Systematisierung, die auf diese visuellen Aspekte eingehen. Ein visueller Topos kann also auf der einen Seite als eine visuelle Übersetzung eines gängigen, sprachlich vermittelten Motivs verstanden werden, und würde sich in diesem Fall allein durch den Kodewechsel von einem verbal fixierten Topos unterscheiden. Auf der anderen Seite kann der visuelle Topos jedoch auch als Bildformel verstanden werden, die sich durch wiedererkennbare formale Aspekte auszeichnet, beispielsweise in Form eines bestimmten Gestus.88 Aby Warburg untersucht solche Bildformeln in seinem »Mnemo88. Ernst H. Gombrich setzt sich mit dem Zusammenhang von Schema und Geste in der Bildenden Kunst auseinander. Eine bildlich fixierte Geste, so Gombrich, bezeichnet einerseits einen physischen Ausdruck, andererseits kommt jedoch ein konventioneller Zeichengehalt hinzu. So wird die Geste zu einem Symbol, das auf kulturelle Traditionen der Darstellung rekurriert und einen fixierten semantischen Gehalt überliefert. Ernst H. Gombrich: Bild und Auge, Stuttgart
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syne-Atlas«,89 einer Sammlung von ikonografischen Darstellungen affektstarker Ausdrucksgebärden. 1905 prägte Warburg dafür den Begriff der »Pathosformel«, um die bildlichen Darstellungsformen eines gesteigerten Gefühlsausdrucks zu beschreiben – den »Superlative[n] der Gebärdensprache«,90 wie er selbst es nannte. Die Gebärde des Augenblicks als Ausdruck des individuellen Empfindens vermag die Emotion nur für einen sehr kurzen Zeitraum zu kommunizieren. In einem Bild dargestellt, gleichsam als eingefrorene Geste, wird sie zur Formel und damit zum reproduzierbaren Abbild, zur Formel des Affekts, so Warburg. Die Begriffe »Pathos« und »Formel« benennen als Verbindung das »Resultat einer Transformation […], bei der etwas individuell Ereignishaftes – pathos – zu etwas Objektivem und Dauerhaftem gemacht wird«.91 Ziel dieser Sammlung war es, die Formeln der Darstellung von pathos in der Kunst der Frühen Neuzeit zu dokumentieren und an ihnen ein Nachleben antiker Vorbilder des emotionalen Ausdrucks nachzuweisen. Sie ist als eine eigene visuelle Sondertopik aufzufassen, die das Beziehungsgeflecht zwischen visuellen Ausdrucksformeln nachverfolgt. Daraus lässt sich folgern, dass für Warburg nicht eine thematische oder allgemein motivische Parallele ausschlaggebend war, sondern dass das Wesen seiner Topik auf den wiederkehrenden Bildzeichen beruht, deren Bezüge und Ableitungen er nachverfolgt. Mit einer visuellen Topik des Films folgen wir also den Spuren Warburgs, der dafür das Fundament legte. 1984, und ders.: Kunst und Illusion, Stuttgart u. a. 1978, S. 63–77. In diesem Beitrag skizziert er eine eigene visuelle Topik des Gestus, indem er anhand von mehreren Beispielen Gesten in ihrer ikonographischen Tradition untersucht. 89. Neuausgabe des Bilderatlas: Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne. Aby Warburg: Gesammelte Schriften, zweite Abteilung, Bd. II.1, Berlin 2000. 90. Aby Warburg: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Forster, Nicolas Mann, Salvatore Settis, Martin Warnke, Bd. 1 u. 2, Berlin 2000 S. 461 (künftig zitiert als Warburg: Ges. Schriften). Vgl. auch Ernst Saxl: Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst, in: Aby Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 1979. 91. John Michael Krois: Die Universalität der Pathosformeln, in: Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz (Hrsg.): Quel Corps?, München 2002, S. 295–308, hier S. 295.
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Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich vier Gesichtspunkte ableiten, die den visuellen Topos beschreiben: 1. Der visuelle Topos ist eine Bildformel, die durch visuelle Bildzeichen definiert ist. 2. Die Darstellung knüpft an bildliche Vorläufer an und zieht alternative Darstellungen, Zitate, Ironisierungen nach sich, so dass sie in ein topisches Bildernetz eingegliedert ist. 3. Der visuelle Topos ist in seinem Elementarcharakter wiederholbar und memorierbar. 4. Er ist in seiner Gestalt einer topischen Genese unterworfen, die ihn mit der Zeit verändern kann. Für die Topik des Films lässt sich daraus folgern, dass sie aus mindestens zwei Schichtungen aufgebaut ist: zum einen motivisch orientiert auf der Grundlage der bestehenden rhetorischen Topik, zum anderen visuell orientiert als System von Bildformeln. Beide Schichten ergänzen und durchdringen sich, ihre jeweils gesonderte Betrachtung ist demnach lediglich als eine Verschiebung des Blickwinkels zu verstehen. Die Topik des Films ist ein Bilder- und Motivgeflecht, dessen Verbindungen nach unterschiedlichen Kriterien aufgespannt werden können. Der rhetorischen Tradition folgend sind thematische Bezüge wichtigstes Ordnungskriterium. Darüber hinaus, sich mit dieser Ordnung überlagernd, sind visuelle Parallelen von Bedeutung. So kann beispielsweise ein einzelnes Bild in seinen topischen Wanderbewegungen durch die Filmgeschichte nachverfolgt werden, beispielsweise das Bild der Frau als Maschine, des weiblichen Roboters. Bei diesem Nachvollzug werden topische Linien von Metropolis bis zu Blade Runner gespannt, an denen die Wandlungen und Variationen abgelesen werden können – nicht nur auf der visuell-motivischen Ebene, sondern auch auf der Ebene der Semantik. Durch die vielschichtigen Verflechtungen visueller Topoi wird das stringente System der Topik nach Quintilian durchkreuzt und es öffnen sich mehrere Ebenen der Beziehung. So ist die Topik des Films nicht als ein zweidimensionales Rastersystem zu denken, sondern als eine mehrdimensionale Netzstruktur, die sich ständig fortschreibt, die im Wachsen begriffen ist. Eine solche Topik bildet das latente Bildergedächtnis einer Gesellschaft ab, ein visuell gefasstes Erfahrungswissen, indem die dominanten Bildformeln in ihrem Beziehungsgeflecht aufgedeckt werden. Pfisterer fragt in diesem 136
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Bild aus dem Comic Lucky Luke.
Zusammenhang nach »dem Stellenwert von in ›visuellen Gemeinplätzen’ gefasstem Erfahrungswissen, d. h. nach formelhaften (Bild-)Traditionen und ihrer jeweiligen Aktualisierung im Prozess künstlerischer Invention und anschließender Rezeption«.92 Für die Rhetorik ist dieser Stellenwert besonders hoch, denn diese Topik ist ein grundlegendes Werkzeug rhetorischer Filmgestaltung. Dadurch, dass der Rhetor an diesen Bilddiskurs anknüpft, bezieht er sich auf das Erfahrungswissen seines Publikums und schreibt es gleichzeitig fort. Es ergeben sich Überlagerungen mit einer Vorlage, die selbst immer schon auf Vorläufer zurückgreift, die also vielmehr beinahe willkürlich den Anfangspunkt eines Stranges von Verknüpfungen bildet. Daran knüpfen mediale Reproduktionen an, die auf ihre Vorlage selbst wiederum Einfluss haben, Kopien, die das »Original« selbst zu verändern scheinen. Dieser Prozess ist nicht als eine zeitliche Abfolge zu begreifen, sondern als ein sich neben- und übereinander schiebender Prozess. Ein Beispiel für einen visuellen Topos des Films ist der einsame Held, der in der letzten Einstellung des Films mit dem Rücken zur Ka92. Pfisterer: »Die Bildwissenschaft ist mühelos«, S. 22; vgl. auch den Begriff des ›bildlich realisierten Topos‹ nach Scholz: Bernhard E. Scholz: Bildlich realisierte »formale« und »materiale« Topoi, dargestellt anhand der Verwendung von Leonardo da Vincis »Proportionsfigur« in der Werbung, in: Thomas Schirren, Gert Ueding (Hrsg.): Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. 697–732.
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mera allein eine Straße entlanggeht oder wahlweise auf seinem Pferd entlang reitet.93 Diese »signifikante Schlusseinstellung«, wie Kanzog sie nennt, ist beispielsweise in Charles Chaplins The Tramp zu sehen, in John Fords The Searchers und in Christian Wagners Wallers letzter Gang. Der filmerfahrene Zuschauer hat sie schon oft gesehen, kommt sie doch gerade im Genre des Western häufig zur Anwendung, ja, sie ist hier bereits zu einem solchen Klischee geworden, dass sie in Comics wie Lucky Luke als letztes Bild einer Folge ironisierend konventionalisiert wird. Der Zuschauer hat mit dieser Seherfahrung bereits ein umfangreiches Wissen über die Verwendung des Topos gespeichert. Auf dieses Wissen greift die Aufnahme zurück: Sie vermittelt die Einsamkeit des Helden, eine gewisse Tragik liegt in diesem Motiv. Gleichzeitig kann jedoch durch die Bewegung der Figur ein neuer Anfang oder der mögliche Beginn einer neuen Geschichte signalisiert werden. Im Western steht dieses Klischee für den Weg zu neuen Abenteuern, die der Held erleben wird. Durch die häufige Wiederholung des Motivs wird es zu einem visuellen Topos des Films, der semantisch aufgeladen ist und zum Teil im Film nur noch angedeutet werden muss, um den Bedeutungskontext beim Publikum aufzurufen. Formal konstantes Element ist die Einstellungsgröße der Totalen, in der diese Schlusseinstellung meist realisiert wird. Aspekte der Mise en Scène sind ebenfalls konstitutiv für den visuellen Topos des einsamen Helden: Der Bildaufbau wird durch die zentrierte Figur in der Mitte bestimmt, wobei die Flucht der Perspektive dahinter in die Ferne zielt.
3.3.1. Visuelle Topoi des Films: Das Gesicht Ein häufig im Film verwendeter visueller Topos ist das Gesicht in Großaufnahme,94 das insbesondere in der Zeit des Stummfilms die Leinwand ausfüllte. Drei Valenzen dieses Bildes beschreiben sein Wirkungspotential in besonderem Maße: das Gesicht als Attraktion im früVgl. Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik, S. 141ff. 94. Vgl. u. a. Jacques Aumont: Image, Visage, Passage, in: Christine van Assche, Catherine David, Raymond Bellour (Hrsg.): Passages de l’image, Paris 1989, S. 62–70 (ins Deutsche übertragene, gekürzte Fassung: ders.: Bild, Gesicht, Passage, in: Christa Blümlinger, Karl Sierek (Hrsg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien 2002, S. 97–114). Vgl. auch Petra Löffler: Affektbilder: Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004. 93.
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hen Film, als Index der menschlichen Psyche und als Affektträger. In der frühen Phase des Stummfilms entwickelt sich das Genre der »facial expression films«,95 das das Gesicht in ungewöhnlichen Großaufnahmen zeigt und damit filmische Attraktionen 96 produziert. Der Einsatz des Gesichts-Topos spielt hier weniger im narrativen Kontext eine Rolle, vielmehr geht es in Beispielen wie The Big Swallow (1901) oder Grandma’s Reading Glass (1900) 97 um Komik und Faszination. Durch sie entsteht ein besonderer Schauwert des Bildes. Das erste Beispiel handelt von einem Mann, der so nah an die Kamera herangeht, dass er sie zu verschlucken scheint. Sein geöffneter Mund füllt dabei in einer extremen Nahaufnahme das ganze Bild aus. Das zweite Beispiel zeigt einen kleinen Jungen, der mit einem Vergrößerungsglas unterschiedliche Objekte untersucht. Ein Auge (es handelt sich um das Auge der Großmutter des Jungen) ist durch de Lupe in der extremen Nahaufnahme zu sehen – ein überraschender optischer Effekt. Diese Aufnahmen führten beim wenig filmerfahrenen Publikum nicht zu Schreckreaktionen, vielmehr erfreuten sie sich großer Beliebtheit, wie Kessler formuliert. »Das Gesicht in Nah- oder Großaufnahme ist offenbar eine der Attraktionen, 95. Vgl. Tom Gunning: In Deinem Antlitz: Dir zum Bilde, in: Blümlinger, Sierek (Hrsg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, S. 22–66, S. 55ff. (Original: ders.: In Your Face: Physiognomy, Photography, and the Gnostic Mission of Early Film, in: Mark Micale (Hrsg.): Modernism/Modernity 4:1 (1997), Stanford 2004, S.1–30.) 96. Den Begriff der Attraktion verwende ich hier im Sinne Gunnings. Eine Attraktion forciert die direkte Ansprache des Publikums durch eine theatrale, jahrmarktartige Zurschaustellung, die nicht oder nur zum Teil narrativ eingebettet wird. Die Attraktion arbeitet mit den Mitteln der Überraschung und des Schocks und zielt auf die intensive Ansprache der Affekte des Publikums. »Zusammenfassend lässt sich sagen, daß das Kino der Attraktionen die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sehr direkte Weise fordert, indem es die visuelle Neugier erweckt und vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen bereitet – eines einmaligen Ereignisses, egal ob fiktiv oder dokumentarisch, das für sich interessant ist.« Gunning: Das Kino der Attraktionen, S. 24–34, S. 29; vgl. auch Miriam Hansen: Early Cinema, Late Cinema: Transformations of the Public Sphere, in: Linda Williams (Hrsg.): Viewing Positions: Ways of Seeing Film, New Brunswick, NJ 1994. 97. The Big Swallow. Regie: James Williamson, 1901. Grandma’s Reading Glass, Regie: G. A. Smith, 1900.
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die für das Publikum der Frühzeit die Faszination der bewegten Bilder ausmacht und bisweilen sogar als eigenes Genre vermarktet wird.« 98 Die fotografische und filmische Aufnahme des Gesichts in dieser frühen Phase beider Medien ist im engen Zusammenhang mit einer neuen Art der Erforschung der Mimik und Ausdruckskraft des Gesichts verbunden. Frühe Kinetoskop-Filme zeigen Menschen bei Handlungen wie dem Niesen oder Küssen und geben die Möglichkeit der detaillierten Beobachtung. Diese visuelle Erkundung physischer Prozesse entwickelt sich weiter zur Fokussierung affektiver Vorgänge, die sich in der Mimik niederschlagen. Gunning spricht von einer entstehenden »Gesichtsforschung«,99 die im Zusammenhang mit tradierten Erkenntnismethoden zur Entschlüsselung des menschlichen Gesichts zu sehen ist. Durch die bildreproduzierenden Medien entsteht mit Hilfe der Großaufnahme eine Art der visuellen Evidenz, die auf das Publikum eine Faszination ausübt. »Das Gesicht ist der Angelpunkt zwischen Individualität und Typologie, zwischen Ausdruck und Schicksal, Körper und Seele«,100 formuliert Gunning in seiner Analyse der Funktion dieser Abbildungen. Der Schauwert, der von der medial vermittelten visuellen »Entdeckung« des Gesichts ausging, war groß. Hier ergibt sich bereits der Übergang zum zweiten Beschreibungsaspekt des Gesichts-Topos: das Gesicht als Index der Psyche. Hier wird es als Zeichenträger funktionalisiert, um eine Person zu charakterisieren. Welche Merkmale visualisieren bestimmte Charaktereigenschaften und wie ist das Gesicht als Index zu lesen? Der Gedanke einer Typologisierung von Gesichtsdarstellungen spannt den Bogen zu den Erkenntnissystemen der Physiognomik: Le Bruns Bilder der menschlichen Physiognomie 101 um 1700 liefern eine Typologie für die Darstellung des mimischen Ausdrucks bestimmter Affekte. Er stellt ein Handbuch für die Bildenden Künste vor, das den individuell affektiven Ausdruck des Gesichts auf Schemata zurückführt, die als Vorlage für die bildliche Umsetzung dienen. Diese Vorlagen sind ebenso als Beiträge zu einer Art von »Gesichtsforschung« zu sehen, die sich im Rahmen der Kunst98. Frank Kessler: Das Attraktions-Gesicht, in: Blümlinger, Sierek: Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, S. 67–76, S. 69. 99. Vgl. ebd. 100. Gunning: In Deinem Antlitz: Dir zum Bilde, S. 24. 101. Vgl. Charles Le Brun: Méthode pour apprendre à dessiner les passions, Nachdruck der Ausgabe Amsterdam 1702, Hildesheim, Zürich, New York 1982.
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3. Die rhetorische Maschine
theorie und Kunstpraxis entspinnt. Die Methode der Erforschung ist hier wie im Film jene der visuellen Evidenz als augenscheinliche Deutlichkeit einer bestimmten Analogie oder eines emotionalen Ausdrucks. Über die Typologie des affektiven Ausdrucks hinaus entwirft Le Brun Illustrationen zur Klassifizierung der menschlichen Physiognomie anhand eines Tier-Mensch-Vergleichs.102 Die Darstellung dieser Vergleiche fungiert ebenfalls als eine Typologisierung der Charaktere im Sinne von Stereotypen. Mit dieser Parallelisierung der Charaktereigenschaften durch angenommene visuelle Analogien knüpft Le Brun an die physiognomischen Vergleiche zwischen Mensch und Tier nach Della Porta Ende des 16. Jahrhunderts an.103 Die so geartete Charakterisierung des Gesichts beruht dabei auf einer traditionsreichen Stereotypisierung des Ausdrucks und findet als spezifischer visueller Topos in der Malerei bis in die Aufklärungszeit hinein weite Verbreitung.104 Mit dem verstärkten Interesse an der Darstellung des Gesichts in den bildreproduzierenden Medien zu Beginn des 20. Jahrhunderts taucht der Topos des Tier-Mensch-Vergleiches auch im Medium des Films wieder auf.105 Insgesamt seien die Verbindungslinien zwischen der filmspezifischen »Gesichtsforschung« und der Wissenschaft der Physiognomik hier jedoch nur angedeutet. Nun gehe ich auf den dritten, zentralen Aspekt ein, unter dem der Gesichts-Topos betrachtet werden soll: das Ge102. Diese Zeichnungen wurden erst Anfang des 19. Jahrhunderts publiziert: Morel d’Arleux: Dissertation sur un traité de Charles Le Brun conçernant les rapports de la physiognomie humaine avec celle des animaux, Paris 1806; Lucien Métivet: La Physionomie humaine comparée à la physionomie des animaux d’après les desseins de Le Brun. Contribution à l’étude de la caricature, Paris 1816. 103. Giovan Battista Della Porta: De humana physionomia Libri quattuor, Frankfurt a. M. 1601; kommentierte und in moderner Diktion verfasste Ausgabe, Theodor Lessing, Wilhelm Rink (Hrsg.): Die Physiognomie des Menschen von Johann Baptista Porta, in: Der Körper als Ausdruck, Schriftenreihe zur Gestaltkunde, Bd. 1, Radebeul 1929. 104. Vgl. Hartwig Kalverkämper: Artikel »Physiognomik«, in: HWR, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1083–1190. 105. Am Beispiel von Streik (1925) und Ohm Krüger (1940/41) vollziehe ich unter 3.1.2.1. die Charakterisierung der Protagonisten anhand eines physiognomischen Tier-Mensch-Vergleichs nach und beschreibe damit einen Rückgriff auf einen traditionell in der Malerei vertretenen Topos im Rahmen des Films.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
sicht als Affektträger. Durch die Weiterentwicklung des narrativen Films kommen neue Funktionalisierungen des Gesichts-Topos hinzu, die einen Wandel vom »Attraktions-Gesicht« zum »Affekt-Gesicht« begründen. In dieser Funktion baut das »Affekt-Gesicht« auf der Wirkung der Attraktion auf: Das Gesicht in Großaufnahme auf der Leinwand, an sich bereits attraktives Ereignis, wird zur Stimulierung der Affekte des Publikums eingesetzt. Die Bilder der Stars des frühen Stummfilms sind ein anschauliches Beispiel für die Massenwirksamkeit des Topos. Barthes beschreibt das Beispiel Greta Garbos: Greta Garbo gehört noch zu jenem Augenblick in der Geschichte des Films, da das Erfassen des menschlichen Gesichts die Massen in die größte Verwirrung stürzte, da man sich buchstäblich in einem menschlichen Abbild verlor wie in einem Liebestrank, da das Gesicht eine Art von absolutem Zustand des Fleisches bildete, den man nicht erreichen und von dem man sich nicht lösen konnte.106
Hier wird die Überlagerung von Attraktion und Affekt vollzogen: Die Großaufnahme des Gesichts wird an sich bereits zum Auslöser der »größte[n] Verwirrung« und führt zu einem faszinierenden Seh-Ereignis. Die Wirkung vergleicht Barthes mit der eines »Liebestranks«, der den Zuschauer unlösbar in seinen Bann zieht. Das Gesicht der Garbo in seiner stilisierten Schönheit wirkt durch seinen Schauwert faszinierend. Darüber schiebt sich die Affektwirkung, die zum einen aus der narrativen Einbettung der Aufnahme entspringt, zum anderen aus dem Ausdruck des Affekts auf dem Gesicht selbst resultiert. Wie später am Beispiel der Frauenfiguren in Panzerkreuzer Potemkin zu zeigen sein wird, wirkt ein Gesicht auf der Leinwand besonders affektstark, wenn es selbst die stärksten Affekte zeigt. So schreibt sich etwa das Bild der verzweifelten Mutter auf der großen Freitreppe von Odessa als Bildformel in die Filmgeschichte ein – als paradigmatischer Ausdruck des Leidens. In rhetorischer Perspektive wird der Topos des »Affekt-Gesichts« zu einem Mittel der gezielten affektiven Stimulierung des Adressaten. Carl Plantinga beschreibt die Möglichkeiten der Identifikation mit dem Gesicht im Film und spricht damit das ethos an.107 Häufig wird der To106. Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964, S. 73. 107. Carl Plantinga: The Scene of Empathy and the Human Face in Film. In:
Plantinga, Smith (Hrsg.): Passionate Views, S. 239–256.
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3. Die rhetorische Maschine
pos darüber hinaus zur Erregung des pathos eingesetzt und funktioniert als verkürzte Formel, quasi als »Shortcut« des Affekts. Pointiert formuliert: Das Affektbild erscheint auf der Leinwand – das Publikum ist sofort emotional involviert, gerührt, erschüttert. Durch diese Funktionsweise wird der Topos zu einem hoch verdichteten rhetorischen Mittel, das, wenn die antizipierte Wirkung sich mit der tatsächlichen deckt, seine starke affektive Wirkung in kurzer Zeit entfaltet. Gehen wir weiter der Frage nach, warum sich die Darstellung des Gesichts als affektiv wirkender Topos im Film etabliert hat: Warum wirkt das Bild des Gesichts in spezifischer Weise auf den Adressaten? Diese Frage beantwortet Gertrud Koch. Sie entwirft einen psychoanalytischen Begründungszusammenhang, der sich mit der Reaktion des Menschen auf das Gesicht des Gegenübers auseinandersetzt. Koch bezieht sich dabei auf die Theorie des »Spiegelstadiums« von Jacques Lacan.108 Das »Spiegel-Ich«, das Gesicht im Spiegel, stellt nach Lacan die Basis des sich beim Kleinkind nach und nach entwickelnden Selbstbildes dar. Dieses Bild des Selbst ist Vorraussetzung für die Identitätsbildung. Das Gesicht auf der Kinoleinwand nun wird für die psychoanalytische Filmtheorie zum maßgeblichen Identifikationspunkt des Zuschauers, zu einer Art Wieder-Erleben des frühkindlichen Spiegelstadiums. Der Zuschauer strebt einer Vereinigung mit dem sich auf der Leinwand darstellenden »Spiegel-«Bild zu: »Die Leinwand wurde zum Spiegel-Bildschirm, zum ›Screen-mirror‹ eines integralen und großartigen Selbstbildes, das dem Zuschauer die narzisstische Lust kompensatorischer Größenphantasien vermittelt.«109 Der Identifikationsprozess des Rezipienten mit dem Gesicht auf der Leinwand stelle sich, so Koch, als psychischer Prozess der Selbstprojektion eines Identitätsbildes dar. Der Rezipient projiziere alternative Selbstbilder, gleiche diese ab, nähere sich ihnen an und differenziere wiederum zwischen dem Selbst und dem Alternativbild auf der Leinwand. Koch beschreibt: »In der Großaufnahme war das Gesicht […] die gläserne Haut der Innen108. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie
uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: ders.: Schriften I, Bd. 1, hrsg. von Nobert Haas. 3. korrigierte Aufl., Weinheim, Berlin 1991, S. 61–70. 109. Vgl. Kapellhoff: Kino und Psychoanalyse, S. 137. Vgl. auch: Jean Louis Baudry: Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus, in: Philip Rosen (Hrsg.): Narrative, Apparatus, Ideology, New York 1986, S. 286– 298, S. 293.
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welt, in einem psychologischen Sinne Spiegel der Innenwelt des Subjekts.«110 Das Gesicht ist demnach Ausdrucksfläche der Emotionen des gesamten Körpers, ist Spiegel der Empfindungen, die in differenzierter Weise in ihm ausgedrückt werden. Es stellt sich als pars pro toto für die Figur, für ihre psychische Konstitution dar. Durch die Präsentation der Affekte durch die Mimik des Gesichts wird die Möglichkeit zu empathischer Teilnahme und Identifikation geschaffen. Der visuelle Topos des Gesichts wird jedoch auch – oder vornehmlich, wie Deleuze es darstellt – zur Erregung starker Affekte eingesetzt, wie am Beispiel Greta Garbos deutlich wurde. Affekte wie Zorn, Entsetzen, extreme Freude oder Extase werden, wie wir gesehen haben, auf zwei Arten durch den Topos des Gesichts ausgelöst: zum einen durch die Darstellung des empfundenen Affekts durch den Protagonisten, zum anderen durch die spezifische Wirkungsweise der Großaufnahme. Was bedeutet diese spezifische Wirkungsweise für das Filmgesicht? Die poststrukturalistisch geprägte Filmtheorie nach Deleuze beschreibt den Topos des Gesichts in der Großaufnahme insgesamt mit dem Begriff des »Affektbildes«.111 Zur Definition gibt Deleuze an: »Ein Affektbild ist eine Großaufnahme und eine Großaufnahme ist ein Gesicht«.112 Er betont damit, ganz im rhetorischen Sinne, die starke affektive Wirkung des Gesichts und beschreibt sie als ein formal definiertes Element der Filmgestaltung. Worin begründet sich jedoch die affektive Wirkungsweise der Großaufnahme des Gesichts? Eine Antwort darauf gibt bereits Béla Balázs. Er legt dar, dass sich die Affektwirkung nicht nur durch die Präsentation des Affekts entwickelt, sondern dass das formale Element der Großaufnahme eine spezifische Wirkungsweise zeigt.113 Sie liegt in der Isolierung der Einstellung. Die Großaufnahme des Gesichts durchbricht, so Balázs, das zeitlich und räumlich imaginierte Kontinuum des Films – und daraus resultiere die Wirkung der Einstellung. Der Ausdruck eines isolierten Antlitzes […] ist in sich selbst geschlossen und verständlich, man muß sich nichts hinzudenken, weder im Raum noch in der Zeit. Haben wir das Gesicht soeben noch inmitten einer Masse gesehen und wird es dann ge110. Gertrud Koch: Auge und Affekt, Frankfurt a. M., S. 272. 111. Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Deleuze benennt drei Formen des Bewegungs-Bildes: das Wahrnehmungsbild, das Aktionsbild und das Affektbild. 112. Ebd., S. 123. 113. Vgl. auch ebd., S. 134.
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3. Die rhetorische Maschine sondert hervorgehoben, dann ist es, als wären wir plötzlich mit ihm unter vier Augen allein. Sahen wir es auch vorher in einem großen Raum, so werden wir dennoch, wenn wir dann während der Nahaufnahme in dieses Gesicht blicken, nicht an jenen Raum denken. Denn der Ausdruck dieses Gesichts und die Bedeutung dieses Ausdrucks hat keinerlei räumliche Beziehung oder Verbindung. Einem isolierten Antlitz gegenüber fühlen wir uns nicht im Raum. Unser Raumempfinden ist aufgehoben. Eine andersgeartete Dimension erschließt sich […] 114
Mit dieser Wirkungsweise, die eine »andersgeartete Dimension« eröffne, berührt Balàzs die Definition der Entstehung von pathos im Film, von der an anderer Stelle noch die Rede sein wird.115 Die Großaufnahme wird zum Auslöser des pathos durch die gesonderte Hervorhebung, durch ein Durchbrechen des Kontinuums, das das Gesicht aus dem räumlichen und zeitlichen Kontext dissoziiert. Deleuze bezeichnet diesen Effekt als eine »Deterritorialisierung« der Einstellung und bezieht sich damit auf Balàzs. Das Empfinden, allein »unter vier Augen« mit jenem Gesicht zu sein, hebt, so Balàzs, das Raumempfinden auf und eröffnet eine neue Dimension der Empfindung, jene »Deterritorialisierung« im Deleuzeschen Sinne. Diese Hervorhebung ist spezifisch für die Großaufnahme des Gesichts, dessen Wirkung sich von anderen Einstellungstypen unterscheidet. Die intensive Ausdrucksmacht des Gesichts entsteht dann, wenn das Publikum mit dem »isolierten Antlitz« außerhalb der fließenden Handlung und der räumlichen Koordinaten konfrontiert wird. Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Durch die isolierte Großaufnahme entstehe, und dies beschreibt wiederum Deleuze, die Fiktion einer subjektiven Perspektive des Protagonisten: [I]n einer allgemeinen Auffassung verleiht die Großaufnahme – indem sie zeigt, wie die Personen die Szene, deren Teil sie sind, erleben – der objektiven Totalen eine ihr gleichkommende oder sie sogar überbietende Subjektivität.116 114. Béla Balázs: Der Geist des Films, Wien 1948, S. 11f., Neuausgabe:
ders.: Schriften zum Film, Bd. 2, Berlin (DDR), München, Budapest 1984. 115. Die Beschreibung des Pathos im Film ist für Eisenstein in seiner Theorie und Filmpraxis prägend. Auf seine Theorie zu Pathos und Ekstase im Film gehe ich später ein, an dieser Stelle sei nur auf diese erste Parallele verwiesen. Vgl. Kapitel 3.1.3. 116. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 51.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Mit der Großaufnahme des Gesichts wird eine imaginäre Innenperspektive des Protagonisten vermittelt. Diese kann sich zum einen als subjektive Kamera realisieren, durch die die Blickrichtung des Protagonisten nachvollzogen wird. Zum anderen, und das ist hier gemeint, wird diese subjektive Perspektive durch das Bild des Gesichtes selbst vermittelt. Auf diesem Gesicht spiegelt sich das Erleben wider, und damit wird, als metonymische Zeichenbewegung, der Verweis auf das subjektive Erleben inszeniert. Das Gesicht vermittelt die Fiktion einer intimen Perspektive auf das Erleben des Protagonisten, die den Zuschauer einzubeziehen scheint. Auch hier lässt sich eine Spur für die spezifische Wirkungsweise des Gesichts-Topos finden, die seine Rolle für die Filmwirkung beschreibt und die weite Verbreitung seines Einsatzes begründet. Der Topos des Gesichts wurde nun in drei unterschiedlichen, sich überlagernden und ergänzenden Facetten beschrieben: als »Attraktions-Gesicht« im Sinne Gunnings, als »Index der Seele« in den physiognomischen Darstellungen, und schließlich als »Affekt-Gesicht« in der psychoanalytischen und poststrukturalistischen Filmtheorie. Diese Gesichtspunkte sind als Hintergrund für den rhetorischen Einsatz des Topos zu sehen und erklären seine Wirkungsweise. Gunnings »Cinema of Attractions« ist dabei ganz im rhetorischen Sinne zu lesen, da er die pragmatische Ebene des Kinos, den Zusammenhang zwischen dem Einsatz der Mittel und der antizipierten Wirkung auf den Zuschauer, fokussiert. Der poststrukturalistische Ansatz nach Deleuze dagegen beschreibt mit seiner Kategorisierung des »Affekt-Bildes« nicht den Kommunikationszusammenhang zwischen Produzent, Medium und Adressat, sondern vielmehr zielt Deleuze auf eine Kino-Philosophie der Zeit. Ihm geht es somit nicht um Aspekte der Wirkungsintentionalität und Affekterregung im Film, sondern vielmehr um eine Kategorisierung des Kinos in »Bewegungs-« und »Zeitbilder«. Spricht Deleuze somit von »Affekt-Bildern«, so geht er nicht auf den Kommunikationskontext oder Wirkungszusammenhang ein. Auch wenn Deleuze für eine rhetorische Theorie des Films daher nicht ohne Einschränkung herangezogen werden kann, so benennt er doch einige interessante Aspekte in Bezug auf die Funktion der Bildkategorien. Diese Aspekte können in die Filmrhetorik Eingang finden und ergänzen das theoretische Fundament der antiken und modernen Rhetorik.117 117. Die unterschiedlichen Facetten des Einsatzes des »Gesichts-Topos«
lassen sich anhand vieler Beispiele illustrieren. Im Kontext dieser Arbeit gehe
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3. Die rhetorische Maschine
3.4. Rhetor ische Figuren im Film Für die theoretische Grundlegung einer audio-visuellen Rhetorik des Films stellt sich die Frage, wie das System der Figuren der klassischen Rhetorik auf den Film übertragen werden kann. Dabei findet eine Transformation von der sprachlich orientierten Systematik der elocutio auf eine audio-visuell orientierte elocutio des Films statt. Bevor ich einen Katalog audio-visueller Stilfiguren skizziere, gehe ich zunächst auf den Begriff der Figur im Film ein. Die Figur bezeichnet zunächst allgemein ein Gestaltphänomen der Oberflächen- oder Tiefenstruktur von Zeichensystemen.118 Mit Bezug auf das Medium Film können Figuren als Muster beschrieben werden, die in einem kulturellen Formenkanon verankert sind. Nach Du Marsais hängt die Erkennbarkeit der Figur dabei von ihrer Kodifizierung ab.119 Die Benennung, also die terminologische wie formale Fixierung einer Figur determiniert ihre Erkennbarkeit. Damit wird ein rekursiver Prozess beschrieben, der zwischen der inventio einer Figur und ihrem Eingang in den Formenkanon stattfindet. Der Katalog der rhetorischen Figuren ist somit zugleich Ergebnis der Beobachtung der Figurationsprozesse im Zeichensystem und Vorlage dafür, Figuren zu identifizieren. Wie in Kapitel 2.1. beschrieben, ist der Film grundlegend rhetorisch strukturiert. Die Theorie der rhetorischen Figuration im Film kann somit nicht von der traditionellen Deviationstheorie ausgehen, nach der die rhetorischen Figuren als Abweichungen von einem »normalen« Zeichengebrauch, einer »Nullstufe« der »Sprache« aufzufassen sind.120 Dieser »normale« Zeichengebrauch ohne rhetorische Auszeichnungen ist eine theoretische Annahme, von der ich mich distanich auf Beispiele aus Streik, Panzerkreuzer Potemkin und Die Generallinie ein und zeige damit, dass der Topos in einer Affektstruktur des Pathos in den Filmen Eisensteins häufige Verwendung findet (Kapitel 3.3.). 118. Die Definition orientiert sich an der Definition nach Knape, vgl.: Joachim Knape: Artikel »Figurenlehre«, HWR, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 289–342, S. 290. 119. Vgl. ebd., S. 294; vgl. César Chesneau Du Marsais: Des Tropes ou des différents sens (1818), Genf 1967, S. 253. 120. Aus dieser Abgrenzung ergibt sich auch, dass sich das hier gewählte System der rhetorischen Figuren auf das von Lausberg vorgelegte bezieht und nicht auf jenes der »groupe µ« (vgl. Jacques Dubois u. a.: Allgemeine Rhetorik,
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
ziere. Zeichen im Film sind immer schon rhetorisch geformt und daher nicht als Abweichungen von einer Nullstufe zu begreifen. Für die audio-visuelle Rhetorik im Film beziehe ich mich auf die »Elementartheorie der rhetorischen Figuration« nach Knape,121 die sich aus drei Elementen zusammensetzt: dem Zwei-Achsen-Modell, einer Doppelkodierungstheorie und einer pragmatische Sprachsteuerungstheorie. Das Zwei-Achsen-Modell von Paradigma und Syntagma bildet die Basis, um Figurationen im Film zu beschreiben.122 Die Doppelkodierungstheorie beschreibt die rhetorischen Figuren als einen Sekundärkode,123 auf den sich der Rhetor bezieht, um erfolgreich zu kommunizieren. Dabei ist der Sekundärkode als ein rhetorischer Kode zu fassen: Er überformt die erste Ebene der Kodierung und ruft zusätzlich kommunikative Paradigmen der zweiten Ebene auf. Diese Paradigmen können mit Barthes auch als Elemente einer Metasprache bezeichnet werden, und diese Metasprache ist nach Barthes die Rhetorik.124 Der Rhetor verfolgt mit der Verwendung des rhetorischen Kodes somit das Ziel, an bekannte kommunikative Muster anzuknüpfen und diese für eine wirkungsvolle Kommunikation zu funktionalisieren. Die pragmatische Sprachsteuerungstheorie, das letzte Element der Theorie, beschreibt die Interaktion von Rhetor und Adressat im KommunikationsMünchen 1974). Die »groupe µ« geht in ihrem strukturalistisch geprägten Figurenmodell von einer angenommenen Nullstufe der Sprache aus, von der sich die Figuren als Abweichungen bestimmen lassen. Vgl. zur Kritik der Deviationstheorie auch: Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 116f. 121. Knape: Figurenlehre, S. 296ff. 122. Vgl. 2.2. 123. Knape führt den Begriff auf folgende Quellen zurück: den Begriff des »sekundären modellbildenden Systems«: Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 43ff.; die Unterscheidung zwischen »Primär-« und »Sekundärgrammatik«: Ingrid Hantsch, K. Osterheeren: Linguistik und Rhetorik: Positionen der neueren Forschung, in: Werner Welte (Hrsg.): Sprachtheorie und angewandte Linguistik, Tübingen 1982, S. 87–111, hier S. 91; den Begriff einer »ersten« und »zweiten« Linguistik nach Benveniste und Barthes: vgl. u. a. Emile Benveniste: Die Ebenen der linguistischen Analyse, in: ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 135–150, hier S. 148ff.; Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier S. 104ff. 124. Vgl. Barthes: Rhetorik des Bildes, S. 42; ders.: Die alte Rhetorik, S. 16.
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3. Die rhetorische Maschine
prozess. Die Theorie der Figuration bezieht damit Aspekte der Wirkungsintentionalität ein: Der Einsatz rhetorischer Figuren richtet sich an der Wirkung auf den Adressaten aus, die der Rhetor hervorzubringen sucht. Die rhetorischen Figuren bilden also, so lässt sich zusammenfassen, einen Kode, der im gemeinsamen Handeln von Rhetor und Adressat zum Einsatz kommt. Der Katalog der audio-visuellen Figuren ist ein System argumentativer und ästhetischer Muster, das von einem Rhetor mit einer bestimmten Wirkungsintentionalität eingesetzt wird.125 Insbesondere für den Film ist die Kategorie des Musters spezifisch, da sie auch formale Aspekte des Zeichensystems reflektiert. Solche Strukturelemente treten bei der Analyse im Notationssystem visuell hervor und sind als Muster der Notation wahrnehmbar. Um ein System der rhetorischen Figuren des Films aufzubauen, gilt es insgesamt zu klären, mit welcher Zielsetzung es beschrieben wird: –
–
um eine Übertragung der etablierten rhetorischen Terminologie von der Beschreibung sprachlicher Figuren auf audio-visuelle Figuren zu leisten, oder um einen neuen Katalog filmspezifischer Figuren zu skizzieren, der sich durch einen hohen Gebrauchswert für die Filmanalyse auszeichnet, sich jedoch von der rhetorischen Terminologie abgrenzt.
Beide Verfahrensweisen haben Vorteile und können einen Beitrag zur Theorie der audio-visuellen Rhetorik leisten. Das erste Verfahren nutzt das im etablierten Katalog der Figuren gespeicherte Wissen um Formprozesse und kommunikative Muster und knüpft an ein seit der Antike tradiertes Erfahrungswissen an. Das zweite geht stärker auf die Spezifik des Mediums ein und nutzt das Wissen der Filmpraxis und Filmwissenschaft um filmspezifische Figurationen. Dabei wird die komplexe Terminologie der klassischen Rhetorik reduziert und durch ein Begriffsinstrumentarium ersetzt, das sich durch einen hohen Gebrauchswert auszeichnet. Eco schlägt eine Heuristik vor, die eine Verbindung dieser beiden Verfahrensweisen zum Aufbau eines Katalogs der Stilfiguren versucht. Er bezieht sich zunächst auf visuelle Stilfiguren für die Beschreibung des Kodes der Werbung. Seine Heuristik 125. Vgl. Bernd Spillner: Linguistik und Literaturwissenschaft: Stilfor-
schung, Rhetorik, Textlinguistik, Stuttgart 1974, S. 102.
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kann jedoch auf einen Katalog der audio-visuellen Figuren übertragen werden. Eco beschreibt die Arbeitsschritte zur Transformation des Systems als eine Aufarbeitung der rhetorischen Abhandlungen, um ein möglichst komplettes System von rhetorischen Figuren, Beispielen und Argumenten aufzustellen, auf das dann eine umfassende Liste von verbalen und visuellen Situationen bezogen werden kann; in Bezug auf die verbalen Figuren: die Akzeptierung der Repertoires der klassischen Rhetorik (z. B.: Lausberg, 1960; Fontanier, 1830; Lanham, 1968); Einordnen der visuellen Lösungen der Reklame unter Rubriken, die nach den Figuren, Beispielen und Argumenten der klassischen Rhetorik benannt sind; Wenn man auf visuelle Lösungen träfe, die nicht auf die codifizierbaren verbalen Lösungen der klassischen Rhetorik zurückgeführt werden können, wäre zu sehen, ob wir in diesem Fall der Entstehung von visuellen Kunstmitteln eines neuen Typs beiwohnen oder ob auch diese katalogisiert und homologisiert werden können.126
Im Umgang mit rhetorischen Figuren des Films beziehe ich mich auf diese Heuristik. Ich stelle eine Liste audio-visueller Stilfiguren vor, die sich als eine Auswahl des gesamten Katalogs der rhetorischen Figuren des Films begreift. Diese Liste umfasst Figuren, die für die Analysen im Rahmen der Fallstudie eine Rolle spielen. Ein umfangreicher Katalog rhetorischer Figuren des Films findet sich als Überblicksdarstellung im Anhang. Dieser Katalog führt bestehende Figurenlisten des Films und der Musik zusammen und bezieht sich dabei auf folgende Beiträge: auf die Liste der visuell-verbalen Figuren nach Bonsiepe,127 die er in seiner jüngsten Forschung zur »Rhetorik der Audio-Visualistik« erweiterte,128 auf die Arbeit von Clifton »The Figure in Film«,129 auf den Katalog der auditiven Figuren, den Unger anhand der Untersuchung der Beziehun126. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 269. 127. Bonsiepe: Interface – Design neu begreifen, S. 85–103. 128. Im Rahmen mehrerer Lehrveranstaltungen Bonsiepes, die zwischen 1998 und 2001 am Fachbereich Design der Fachhochschule Köln stattfanden, entstand eine Liste audio-visueller Stilfiguren. Diese Ergebnisse wurden bisher nicht publiziert und fließen in die vorliegende Arbeit ein. 129. Clifton: The Figure in Film.
150
3. Die rhetorische Maschine
gen zwischen Rhetorik und Musik im 16.–18. Jahrhundert aufstellt ,130 sowie auf den Beitrag von Whittock zur Metapher im Film. In der folgenden Auswahl werden zum einen Figuren vorgestellt, die sich auf die etablierte rhetorische Terminologie beziehen und die gleichzeitig in ihrer Definition filmspezifisch adaptiert werden. Zum anderen werden filmspezifische Figuren ergänzt, die bisher nicht in der klassischen Rhetorik benannt sind, wie beispielsweise Figuren der Montage. 131 Rhetorische Figuren des Films 132
1. Audio-visuelle Figuren •
Analogie: ein narrativ angezeigter Sachverhalt wird mit semantisch äquivalenten Zeichen auf den audio-visuellen Bereich übertragen
•
Antithese: ein semantischer Widerspruch zwischen zwei Bereichen (Bild und Dialog, Bild und Schrift, Bild und Geräusch, Bild und Musik)
•
Emphase: Ausdruckssteigerung durch auditive und visuelle Zeichen
•
Filmisches Zitat: a) interfilmisch: aus einem Film wird eine (häufig allgemein bekannte) Szene, eine Person o. Ä. zitiert (Beispiel: die Duschszene aus Psycho ist ein interfilmisches Zitat) b) extrafilmisch: ein Sachverhalt, eine Person o. Ä. wird im Film zitiert (Beispiel: ein historisches Zitat)
130. Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.–18. Jahrhundert. 131. Vgl. dazu auch Eco: Einführung in die Semiotik, S. 186f. 132. Einige dieser Figuren wurden von Gui Bonsiepe entwickelt oder in Zusammenarbeit mit ihm definiert. Dies gilt für folgende Figuren: Farbkonjunktion, narrative Konjunktion, Bewegungskonjunktion, illustrative Musik, evokative Musik, illustrativer Sound, pseudorealistischer Sound, metonymischer Sound. Vgl. »Audiovisualistische Rhetorik: Über die kognitive Relevanz diagrammatischer Visualisierungen«, Beitrag für das Symposion »Zeit der Bilder – Bilder der Zeit«, Fachhochschule Würzburg 15.–16. April 2004, unveröffentlicht.
151
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
•
Hyperbel: Übertreibung durch visuelle oder auditive Mittel über das Glaubwürdige hinaus, häufig mit einer pathetischen Wirkungsintention
•
Klimax: eine sich steigernde Reihung von Einstellungen, wobei die Folge der Glieder gelockert sein kann und eine synonymische oder tropische Ersetzung möglich ist
•
Metapher: Ersetzung eines »eigentlichen« Bildes durch eine »uneigentliche« Übertragung
•
Metonymie: ein assoziiertes Detail oder eine assoziierte Vorstellung wird genutzt, um eine Idee zu evozieren oder einen Gegenstand darzustellen
•
Parallelismus: analoge Anordnung zweier oder mehrerer Elemente der auditiven und/oder visuellen Ebene
•
Paronomasie: Wiederholung einer Einstellung oder Sequenz mit einer minimalen Variation auf der auditiven oder visuellen Ebene
•
Polyptoton: Wiederholung einer Einstellung in veränderter formaler Gestalt (z. B. Perspektive, Farbe, Einstellungsgröße) ohne Veränderung des semantischen Gehalts
•
Repetitio: Wiederholung einer auditiven oder visuellen Struktur (auditiv, chromatisch, formal, narrativ, …)
•
Synekdoche: auf der visuellen Ebene steht ein Teil für das Ganze oder das Ganze wird durch ein Teil ausgedrückt
•
Variation: a) auditiv: melodische, harmonische oder rhythmische Abwandlung eines musikalischen Themas b) visuell: Wiederholung eines Motivs in Abwandlung
•
Verbale Verankerung: eine visuell angezeigte Bedeutung wird durch verbale Zeichen semantisch präzisiert
152
3. Die rhetorische Maschine
2. Auditive Figuren
•
Illustrative Musik a) des Raumes: Musik bezeichnet einen bestimmten Raum oder Ort b) der Bewegung: Musik untermalt eine Bewegung (Tempo) c) der Zeit: Musik bezeichnet eine bestimmte Jahreszeit, Epoche o. Ä.
•
Evokative Musik: Musik evoziert eine bestimmte Affektlage
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llustrativer Sound: ein Geräusch illustriert ein visuelles Motiv
•
Metonymischer Sound: ein Geräusch deutet etwas an, was nicht zu sehen ist
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Pseudo-realistischer Sound: ein visuelles Motiv oder eine Einstellung wird durch ein scheinbar realistisches Geräusch untermalt (Beispiel: »Knuff« bei einem Boxkampf) 3. Montagefiguren
•
Alternierende Montage: regelhafter Wechsel zweier oder mehrerer Einstellungen oder Motive
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Beschleunigende Montage: Reihung sich verkürzender Einstellungen
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Deduktive Montage: regelhafte Montage von weiten Einstellungen zu nahen (»Zoom in« der Einstellungen)
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Induktive Montage: regelhafte Montage von nahen Einstellungen zu weiten (»Zoom out« der Einstellungen)
•
Jump Cut: »Sprung-Schnitt« als zeitliche Ellipse
•
Kontrastmontage: Zwei oder mehrere Einstellungen werden kontrastierend montiert, um eine formal-ästhetische Qualität bzw. eine semantische Steigerung zu erreichen
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Match Cut: zusammenfügender Schnitt durch Wiederholung einer Handlung oder Form 153
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
•
Parallelmontage: zwei oder mehrere Handlungsverläufe werden parallel zueinander montiert, z. B. um ihre Gleichzeitigkeit anzuzeigen
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Rhythmisierende Montage: Einstellungen werden nach rhythmischen Kriterien montiert, häufig in Übereinstimmung mit der auditiven Ebene 4. Audio-visuelle Korrelationsfiguren
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Kongruenz: auditive und visuelle Ebene stimmen überein (illustrativ, untermalend, pseudo-realistisch, realistisch)
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Divergenz: auditive und visuelle Ebene widersprechen sich (Sonderfall: Antithese)
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Komplementarität: auditive und visuelle Ebene ergänzen und steigern sich (metonymisch, rhythmische Parallelität, evokativ) 5. Konjunktionen
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Auditive Konjunktion: Einstellungen werden durch einen auditiven Übergang (Dialog, Geräusch oder Musik) verbunden
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Konjunktion der Bewegung: Einstellungen werden durch eine gleiche Bewegungsrichtung miteinander verbunden
•
Konjunktion der Form: formale Elemente verbinden Einstellungen auf der visuellen Ebene (Sonderfall: Match Cut)
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Konjunktion der Farbe: Einstellungen werden durch eine chromatische Wiederholung verbunden
•
Narrative Konjunktion: Übergänge entsprechen einem handlungslogischen Ablauf
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins Nach der Darstellung der theoretischen Grundzüge der audio-visuellen Rhetorik des Films gehe ich nun auf eine exemplarische Anwendung der Theorie ein. Gegenstand der Untersuchung ist das Werk Sergej Eisensteins, das in einer doppelten Perspektive in den Blick genommen wird. Zunächst folgt ein Exkurs zum filmtheoretischen Werk Eisensteins, anhand dessen seine Konzeption des Films auf rhetorische Einflüsse hin untersucht wird. In einem zweiten Zugang geht es um die Analyse ausgewählter Stummfilme Eisensteins im Hinblick auf ihre rhetorische Struktur. Anhand exemplarischer Szenen und Sequenzen werden Aspekte der Topik, der Argumentation und Affekterregung sowie der Stilistik analysiert. Dabei gilt es nachzuweisen, inwieweit sich die Theorie der audio-visuellen Rhetorik als Beschreibungsmodell für den Stummfilm eignet, als wie fruchtbar sich die Anwendung des rhetorischen Systems auf den Film darstellt. Für die Analysen werden jeweils Notationsprotokolle erstellt, die die rhetorische Struktur des Films visualisieren. Diese Protokolle sind Grundlage der Analyse und stellen die Gestaltungsmuster der Montage und Mise en Scène anschaulich dar. Sie sind unter www.geschejoost.org/AVRhetorik zu finden.
4.1. Die rhetorische Filmtheor ie Eisensteins Als prominenter Vertreter des sowjetischen Films der 1920er bis 1940er Jahre entwirft Sergej Eisenstein parallel zu seiner Arbeit als Regisseur und Drehbuchautor ein umfassendes filmtheoretisches Werk, das bis heute in der Filmtheorie rezipiert wird. Die Eisenstein-Forschung konnte bereits vielfältige Facetten seines Werkes beleuchten, auf die ich an dieser Stelle nur verweisen kann.1 Auch wurde an anderer Stelle Eisensteins schicksalhafte Verbindung zum politischen Sys155
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
tem und zum Stalinismus ausführlich reflektiert 2 – für diese Fallstudie werde ich auf sein Werk insgesamt sowie auf die politischen Hintergründe nicht eingehen. Mir ist es wichtig zu zeigen, ob und in welcher Form rhetorische Aspekte in den theoretischen Konzepten Eisensteins zu finden sind. Ausgangspunkt ist eine Bemerkung von Dudley Andrew, der in einem kurzen Abriss seiner historischen Filmtheorie auf die Verbindung von Eisensteins filmischem Werk und der Rhetorik hinweist.3 Jedoch macht Andrew gleichzeitig deutlich, dass an keiner Stelle in Eisensteins theoretischen Schriften ein expliziter Bezug zur rhetorischen Theorie zu finden ist.4 Daher gilt es, die implizit vorhandenen Spuren der Rhetorik in Eisensteins Theorien und in seinen Filmen zu finden und nachzuzeichnen. Ich formuliere vier Verbindungspunkte zwischen Eisensteins Theorie und der Rhetorik als Ausgangsthesen: 1. Seine Kunstauffassung ist rhetorisch geprägt, da er sein Werk an der Wirkungsdimension orientiert. Zielsetzung ist die Persuasion eines Massenpublikums. 2. Der rhetorische Grundsatz, dass das Publikum richtungsweisend für die Kommunikation sei, gilt ebenso für Eisenstein. Er stellt zur Rolle des Publikums und zu den Möglichkeiten seiner Adressierung umfangreiche Überlegungen an. 1. Vgl. dazu die ausführliche Bibliografie von Anna Bohn, in: dies.: Film und Macht: Zur Kunsttheorie Sergej M. Eisensteins, München 2003, S. 372ff.; vgl. auch die Eisenstein-Bibliografie in: Malte Hagener, Michael Töteberg: Film: An International Bibliography, Stuttgart, Weimar 2002, S. 230–232. 2. Vgl. u. a. Bohn: Film und Macht; für den Kontext dieser Arbeit zudem interessant: Jacques Aumont: Montage Eisenstein, Paris 1979; Bordwell: Cinema of Eisenstein; Oksana Bulgakowa: Sergej Eisenstein – drei Utopien: Architekturentwürfe zur Filmtheorie, Berlin 1996; Hilmar Hoffman, Walter Schobert (Hrsg.): Sergej Eisenstein im Kontext der russischen Avantgarde, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. auch Claudia Dillmann-Kuhn (Hrsg.): Sergej Eisenstein im Kontext der russischen Avantgarde 1920–1925, Kinematograph Nr. 8, hrsg. v. Deutschen Filmmuseum Frankfurt, Frankfurt a. M. 1992. 3. J. Dudley Andrew: The Major Film Theories, An Introduction, London, Oxford, New York 1976, S. 68–72. 4. Ebd. S. 68 und 72.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
3. Seine Montagetheorie besteht zum einen aus formalen Überlegungen zu den gestalterischen Mitteln des Films, zum anderen ist sie in einen übergeordneten Wirkungszusammenhang eingebettet. Dieser Zusammenhang beschreibt die Beziehung zwischen der kommunikativen Zielsetzung, dem Einsatz der Mittel und der Adressierung des Zuschauers auf der rationalen und emotionalen Ebene. Damit formuliert Eisenstein den Ansatz einer Figurentheorie des Films, wobei er gleichzeitig den Wirkungszusammenhang der rhetorischen Kommunikation reflektiert. 4. Eisensteins Konzeption zu pathos und Ekstase umfasst affektrhetorische Überlegungen zur Wirkungsfunktion des movere. Dabei beschäftigt er sich mit der Frage, mit welchen Mitteln die maximale affektive Wirkung auf das Publikum erzielt werden kann, um die Kommunikation am effektivsten zu gestalten. Diese Anknüpfungspunkte führe ich näher aus, um daran exemplarisch die folgende These zu belegen: Eisensteins Überlegungen zur Regelbasis der filmischen Gestaltung, die wirkungsintentionale Auffassung des Films als massenwirksames Kommunikationsmittel wie auch seine Ideen zur Affekterregung lassen sich als eine Rhetorik des Films avant la lettre lesen. Diese These überprüfe ich anhand ausgewählter Konzepte zu den filmischen Gestaltungsmitteln sowie zu Eisensteins Reflexionen zum Affektpotential des Films. Insbesondere die Aufsätze »Montage der Attraktionen«,5 »The Montage of Film Attractions«,6 »Dramaturgie der Film-Form«,7 sowie Eisensteins späteren Schriften »On the Structure of Things«, »Pathos« und »Once Again on the Structure of Things«8 stehen für die Untersuchung im Mittelpunkt. 5. Sergej Eisenstein: Montage der Attraktionen, Erstdruck 1923. Dt. Fassung in: ders.: Schriften, Bd. 1 / Streik, hrsg. von Hans-Joachim Schlegel, München 1974, S. 216–220 (diese Ausgabe ist Referenz für die folgenden Zitate); wieder veröffentlicht in: Franz-Josef Albersmeier: Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001, S. 58–69. 6. Ders.: The Montage of Film Attractions, Erstdruck 1924. Wieder veröffentlicht in: Jay Leyda, Zina Voynow (Hrsg.): Eisenstein at Work, London, New York 1982, S. 17–20. 7. Ders.: Dramaturgie der Film-Form. 8. Alle drei Aufsätze sind erschienen in: ders.: Nonindifferent Nature:
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
4.1.1. Kunst als massenwirksames Instrument Eisensteins Kunstauffassung, wie er sie prägnant 19299 formuliert, ist von den sozialistischen Idealen der russischen Avantgarde der 1920er Jahre geprägt. »Aufgabe der Kunst« sei es, »den richtigen intellektuellen Begriff zu schmieden [und] die richtige Anschauung zu formen.«10 Darin bestehe, so Eisenstein, die »soziale Mission« der Kunst. Bereits in dieser kurzen Formulierung wird eine Kernthese der Theorien deutlich: Die Kunst ist nicht Ausdrucksmedium des Künstlers als Individuum, sondern sie übernimmt eine Aufgabe im gesellschaftspolitischen Kontext. Zielsetzung ist die Überzeugung des Massenpublikums von festgesetzten politischen Idealen und revolutionären Ideen. Kunst wird zur massenwirksamen Persuasion eingesetzt, sie soll den Alltag der Massen durchdringen und als effizientes Kommunikationsmittel funktionieren.11 Diese Konzeption der Aufgaben der Kunst in der Gesellschaft entspricht der revolutionären Aufbruchsstimmung der Künstler der russischen Avantgarde der 1920er Jahre, von denen sich eine große Zahl von den Idealen der Revolution überzeugen ließ. Kunst soll im Sinne des »Agitprop« die Ideen der sozialistischen Lehre kommunizieren: Das künstlerische Schaffen stellt sich dadurch in den Dienst einer ideologischen Prägung, durch die das alltägliche Leben der Massen revolutioniert werden soll. Diese Auffassung vereinte insgesamt den Künstlerkreis um MayFilm and the Structure of Things, übersetzt v. Herbert Marshall, Cambridge, New York 1987. 9. Anmerkungen zu den Aufgaben der Kunst sind in mehreren Schriften von Eisenstein zu finden. Besonders deutlich 1929 in »Dramaturgie der FilmForm« und 1935 in »Die Wichtigste aller Künste« (dieser Aufsatz wurde 1935 in der Zeitung »Iswestija« abgedruckt und in erweiterter Fassung nach einem Manuskript aus dem Eisenstein-Archiv wieder publiziert in: Sergej Eisenstein: Gesammelte Aufsätze 1, Zürich 1962, S. 7–14. 10. Eisenstein: Dramaturgie der Film-Form, S. 201. 11. Vgl. Sebastian Deisen, Britta Grüter, Ralf Hutzler: Einführung zu Sergej Eisenstein im Kontext der russischen Avantgarde, in: Hoffmann, Schobert: Sergej Eisenstein im Kontext der russischen Avantgarde, S. 7. Zur Rolle Eisensteins im Kontext der russischen Avantgarde vgl. auch: Bohn: Film und Macht, S. 346f. Bohn beschreibt darin die spätere kritische Auseinandersetzung Eisensteins mit dem stalinistischen System.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
akovsky, Tatlin, Rodchenko, Popova, Tretyakov und andere, dem auch Eisenstein angehörte. Die Positionierung von Kunst als Instrument zur Einwirkung auf ein Massenpublikum entwickelt sich bei Eisenstein aus den frühen Erfahrungen am Theater, die er für seine filmische Arbeit transformiert,12 wie auch aus den Einflüssen der künstlerischen Avantgarde, etwa durch die Gruppe LEF.13 Um seine Ideen zu verwirklichen, sucht Eisenstein das geeignete (Massen-)medium und verlässt das Theater. Er geht zum Film, wird Drehbuchautor und Regisseur. Der Film erweise sich, so formuliert es Eisenstein, als das geeignete Medium, dessen Möglichkeiten, »auf Herz und Verstand von Millionen einzuwirken«, so groß seien, »dass sie sich mit keiner der verwandten Kunstrichtungen vergleichen lassen«.14 Die Massenwirksamkeit des Mediums Film war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Kommunikation: Zum einen eignete sich das Medium dazu, auch die Landbevölkerung, die zum Teil nicht alphabetisiert war, zu erreichen; zum anderen ist Eisenstein die attraktive Funktion des Films bewusst. Er hebt insbesondere die Möglichkeiten der rationalen und emotionalen Einflussnahme auf das Publikum hervor, die er metonymisch mit »Herz« und »Verstand« beschreibt. Dieses enorme Potential des Films bezieht er grundlegend in seine filmischen Konzeptionen ein: Film ist für Eisensteins das herausragende Medium, das sich, mehr noch als das Theater, für die massenwirksame Kommunikation auf emotionaler wie auch rationaler Ebene eigne. Damit spricht er die rhetorischen Wirkungsfunktionen von logos und pathos an. Die Auswahl des Mediums seiner künstlerischen Kommunikation erfolgt also insgesamt nach strategischen Kriterien: auf welche Weise der maximale Effekt auf ein Massenpublikum erzielt werden kann. Im Kontext der sozialistischen Propaganda mag eine Auffassung von Kunst als Mittel zur Einflussnahme auf die Massen zunächst als problematisch erscheinen – und im Zuge dieser Problematik eine Rhetorik des Films mit den traditionellen Vorurteilen konfrontiert werden, 12. Vgl. hierzu Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 1–15; Bulgakowa: Eisenstein und Deutschland, Berlin 1998; Christine Engel (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, Weimar 1999. 13. Die Gruppe LEF war eine Sammlungsbewegung der linken Avantgarde, zu der unter anderem Tretjakov und Majakovsky gehörten. 14. Eisenstein: Die Wichtigste aller Künste, S. 7.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
dass es um eine unlautere Überredung und Manipulation gehe. Die Möglichkeiten zur Manipulation durch die Massenmedien, wie sie immer wieder im Rahmen ideologischer Systeme eingesetzt werden, sind ohne Frage kritisch zu reflektieren. Eine Untersuchung der Rolle Eisensteins für die politische Propaganda des sozialistischen Systems insbesondere unter Stalin nimmt in der Eisenstein-Forschung folgerichtig einen wichtigen Schwerpunkt ein. Gleichzeitig jedoch ist die Wirkungsintentionalität des Films, wie sie Eisenstein so prägnant formuliert, ein Faktor, der für die Filmindustrie, für die Produktion so genannter »Blockbuster«, auch heute bestimmend ist. Die Frage nach den Möglichkeiten der affektiven Stimulierung des Publikums knüpft sich eng an die Frage des kommerziellen Erfolgs eines Films. Wird das Publikum durch die eingesetzten filmischen Mittel »erreicht« und in gewünschter Weise stimuliert, so ist das ein Erfolgsfaktor des Films. Wenn wir somit von den politischen Implikationen absehen, wird deutlich, dass die rhetorische Auffassung von Film als strategische Kommunikation, die auf bestimmten Regeln basiert, sehr aktuell ist. Es geht damit nicht um Persuasion im politischen Sinne, sondern um eine Wirkungsintentionalität als allgemeines Erfolgskriterium des Films.
4.1.2. Die Adressierung des Publikums Das Publikum ist für Eisenstein das zentrale Eichmaß: an ihm richtet sich die Kommunikation aus. »Als Hauptmaterial des Theaters«, so formuliert er 1923, »wird der Zuschauer herausgestellt«.15 Aus diesem Grunde ist es eine wichtige Frage für seine Überlegungen, mit welchen Mitteln das Publikum adressiert werden kann und welche Möglichkeiten es zu Kontrolle seiner Reaktionen gibt. Für die Klärung dieser Fragen bezieht sich Eisenstein nicht explizit auf rhetorische Lehrtexte, ja, es ist sogar fraglich, ob er die antiken Rhetoriker oder ihre Nachfolger überhaupt rezipierte. Auch wenn seine Konzepte eine rhetorische Prägung aufweisen, so beruht sie eher auf einem impliziten, kulturell verankerten Wissen um die rhetorisch wirksame Kommunikation. Die Rhetorik zeigt sich hier als eine kulturell verankerte Technik, deren Wissen in Form praktischer Anwendung und impliziter Regelweitergabe gespeichert wird. Für die Frage der Adressierung des Publikums greift Eisenstein statt auf rhetorische 15. Eisenstein: Montage der Attraktionen, S. 217.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
Grundlagen auf Konzepte zu Reiz und Reaktion zurück, die er in seine eigene Systematik einbindet. Die Idee der kalkulierbaren Adressierung des Publikums nach einem Reiz-Reaktions-Schema greift er unter anderem von Tretyakov auf.16 Dieser formulierte die Auffassung vom Künstler als »Psycho-Ingenieur«, der die Reaktionen des Publikums in berechenbarer Art steuere. Diese Idee fußt auf Theorien der Reflexforschung, Theorien, die zu dieser Zeit im Kreise der Künstler kursierten. Eisenstein bezieht darüber hinaus aus unterschiedlichen Quellen physiologische Konzepte, auf die er seine Konzeption stützt: Von seinem Lehrer Meyerhold übernimmt er den Begriff der »Biomechanik«, der die Körperarbeit des Theaterschauspielers physiologisch determiniert, und überträgt ihn auf den Zuschauer. Schriften von Vladimir Bekhterev und Ivan Pavlov, in denen es um das tierische Reflexverhalten geht, beeinflussen Eisenstein.17 Der Künstler als Ingenieur könne durch kalkulierbare physiologische Wirkungsmechanismen die Affekte des Publikums steuern – so die Auffassung Eisensteins. Ein bestimmter Reiz löst eine kalkulierbare Reaktion aus – und dieser Zusammenhang kann, so Eisensteins These, zu einer Konditionierung der Reaktionen genutzt werden. Um dies zu erreichen, werden »alle Bestandteile des Theaterapparats« als »Werkzeug zur Bearbeitung« der Reaktionen verwendet.18 Der Einsatz der Mittel von Theater und Film wird dabei mit dem Einsatz von Werkzeugen gleichgesetzt, die quasi zur mechanischen Beeinflussung des psychischen Apparates des Publikums angewendet werden. Eisenstein beschreibt den Zusammenhang zwischen Affekterregung und Publikum wie folgt: If we regard film as a means of producing an emotional impact on the masses […], then it follows that we must secure it in the impact category. […] The Theater […] shares with the cinema the same basic material – the audience – and the same goal – influencing this audience in the desired direction through a series of calculated pressures on its psyche.19 16. Vgl. Sergej Tretjakov: Kunst in der Revolution und Revolution in der
Kunst, LEF 1923. 17. Vgl. hierzu auch Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 115ff., sowie Aumont: Montage Eisenstein, S. 61f. 18. Eisenstein: Montage der Attraktionen, S. 217. 19. Ders.: The Montage of Film Attractions, S. 17 (Hervorhebungen im Original).
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Ziel der filmischen Kommunikation ist es demnach, das Publikum durch ein kalkuliertes Einwirken auf seine Psyche in bestimmter Richtung zu beeinflussen. Deutlich wird hier ein weiteres Mal, dass die formulierte Zielsetzung die der Persuasion ist, der Überzeugung des Publikums durch die Mittel der künstlerischen Kommunikation. Die affektive Stimulierung, hier durch den Aufbau einer kalkulierten psychischen Spannung beschrieben, geschieht mit dem Ziel der Einflussnahme auf die Einstellung oder Handlung des Publikums »in der gewünschten Richtung«. An dieser Stelle finden sich deutliche Parallelen zu den Basistheoremen der Rhetorik in Bezug auf die Wirkungsintentionalität, die strategische Adressierung des Publikums und den Einsatz affektstimulierender Kommunikationsmittel. Eisenstein geht damit weit über das unidirektionale Schema von Reiz und Reaktion hinaus: Er bettet es in den systemischen Zusammenhang der Rhetorik ein und reflektiert so den gesamten Kommunikationsprozess, der sich zwischen dem Rhetor, dem Medium und dem Adressaten abspielt. Dies wird auch an anderer Stelle deutlich. Eisensteins Überlegungen zu den Reaktionen des Publikums lassen darauf schließen, dass er ihre Evaluation in den Kommunikationsprozess einbezieht. Kriterium für die Auswahl und Gestaltung der Mittel ist, so Eisenstein, die Reaktion des Publikums. Reagiert es in intendierter Weise, so ist die Wahl der Mittel erfolgreich und die strategische Ausrichtung führt zum Ziel. The current phase of audience reaction determines our methods of influence: what it reacts to. Without this there can be no influential art and certainly no art with maximum influence.20
Eisenstein beschreibt so die wirkungsbezogene Kommunikation zu einem Massenpublikum als einen rekursiven Prozess, in dem – analog zum Modell der rhetorischen Kommunikation – die tatsächlichen Reaktionen des Publikums in die Kalkulation der Mittel einbezogen werden. Aus der Erfahrung, worauf das Publikum in gewünschter Weise reagiert, erwachsen die Regeln für die Anwendung der kommunikativen Mittel. Mit diesem Hinweis spricht Eisenstein auch die unterschiedlichen Arten der Reaktion des Publikums an, die abhängig von kulturellem Kontext und Bildungsstand, von individuellen Faktoren 20. Ders.: Constanta (1926), in: Richard Taylor (Hrsg.): Eisenstein Wri-
tings 1922–1934, S. 67–73, hier: S. 69.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
wie auch von variierenden Konventionen und Moden sind. Der Erfolg der Kommunikation muss nach Eisenstein also immer wieder an der Reaktion des Publikums gemessen werden. Erreichen die eingesetzten Mittel die gewünschte Reaktion des Publikums, so wird es in eine emotionale Stimmung versetzt, die sich positiv auf die Aufnahmefähigkeit für die kommunizierte Botschaft auswirkt – hier decken sich Eisensteins Überlegungen mit der Rhetorik-Theorie. Darüber hinaus stellt Eisenstein Überlegungen zur Rolle des »Autors« an. Er beschreibt die Relation zwischen dem »Autor« und dem präsentierten Material des Films: The relationship to what is represented is achieved by the manner in which this representation is presented. And immediately the question arises concerning the methods and means with which one must treat the representation so that there is a relationship between what is shown and how the author relates to it, and how the author wishes the viewer to perceive, feel, and sense what he is representing.21
In dieser Formulierung Eisensteins wird deutlich, wie er die Rolle der Produktionsinstanz auffasst. Der »Autor« entscheide darüber, wie ein Sachverhalt präsentiert werde, und kontrolliere dessen Wirkung auf den Betrachter. Er beschreibt, dass der Zusammenhang zwischen Präsentation und Repräsentation maßgeblich durch den »Autor« bestimmt sei: Die Art der Präsentation durch den »Autor« lasse darauf schließen, wie der Adressat das Gezeigte aufnehmen solle. Dieser Zusammenhang ist im Modell der rhetorischen Kommunikation mit der Funktion des Rhetor' reflektiert. Die durch den Adressaten im analytischen Nachvollzug konstruierte Instanz des Rhetor' lässt Rückschlüsse auf seine Wirkungsintention zu: wie das Publikum das Gezeigte wahrnehmen, fühlen und empfinden solle, wie Eisenstein es formuliert. Anhand der exemplarischen Passagen wird deutlich, wie umfassend Eisenstein den Prozess der strategischen Kommunikation reflektiert: Über die Idee einer Stimulierung der Reflexe durch die künstlerischen Gestaltungsmittel hinaus bezieht er Überlegungen zum Prozesscharakter der Kommunikation, zu den beteiligten Instanzen wie zur Evaluation des Prozesses in seine Theorien ein. Seine künstlerische Kommunikation wird insgesamt zu einem Instrument zur Adressie21. Ders.: On the Structure of Things, in: ders.: Nonindifferent Nature,
übers. von Herbert Marshall, Cambridge, New York 1987, S. 3.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
rung eines Massenpublikums mit der Zielsetzung der Persuasion. Aus dieser Auffassung folgt konsequent eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den filmischen Gestaltungsmitteln zur Adressierung des Publikums, gekoppelt mit einer Reflexion ihrer affektiven Wirkungsdimension. Damit entwirft Eisenstein ein eigenes System der strategischen Kommunikation des Films.
4.1.3. Stilistische Konzepte Eisensteins: Die »Montage der Attraktionen« Aus der Darstellung ist bis zu diesem Punkt deutlich geworden, dass Eisenstein systematisch den Fragenkomplex bearbeitet, mit welchen filmtechnischen, dramaturgischen und ästhetischen Mitteln das Publikum auf der rationalen und der emotionalen Ebene adressiert werden kann. Eine herausragende Position nehmen dabei seine Montagetheorien und insbesondere seine Konzeption zur »Montage der Attraktionen« ein, auf die bereits hingewiesen wurde. Der Begriff der Attraktion bedeutet im ursprünglichen Sinne »Anziehungskraft« (lat: attrahere).22 Eine Attraktion ist zunächst eine Darbietung im Zirkus, die auf das Publikum eine anziehende Wirkung ausübt. Das Gezeigte wirkt attraktiv auf die Menge und garantiert die Zugkraft einer Vorstellung. Der Ursprung des Begriffs ist also im Kontext von Zirkus und Theater anzusiedeln und rückt, wie Gunning zeigt, in die Nähe des »Spektakels«.23 Eisenstein überträgt diesen Begriff auf das Theater, später dann auf den Film.24 Dabei geht es zunächst, ganz allgemein, um die Beschreibung eines Elementes, das zur Anziehungskraft des Theaters oder Films beiträgt. Die Attraktion ist nach Eisenstein ein Mittel, um den Unterhal22. »Attraktion: Anziehungskraft, zugkräftige Darbietung (im Zirkus). Zunächst fachsprachlich (als ›Anziehungskraft‹) entlehnt aus lat. attractio, einem Nomen actionis zu lat. attrahere ›anziehen‹, aus lat. trahere (tractum) ›ziehen‹ und lat. ad- ›hin, zu‹. Dann im 19. Jh. die heute übliche Bedeutung unter Einfluss von ne. attraction, dieses aus frz. attraction ›Anziehung‹.« Aus: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., Berlin, New York 2002. 23. Vgl. Gunning: Cinema of Attractions; vgl. auch ders.: Now You See It, Now I Don’t: The Temporality of the Cinema of Attractions, in: The Velvet Light Trap, Nr. 32, 1993, S. 3. Gunning beschreibt die Nähe der »Attraktion« zum Begriff des Spektakels. »Spektakel: entlehnt aus lat. spectaculum ›Schauspiel, Wun-
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
tungswert einer Darstellung zu steigern. Er definiert den Begriff folgendermaßen: Eine Attraktion (im Theater) ist jedes aggressive Moment des Theaters, d.h. jedes seiner Elemente, das den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die experimentell überprüft und mathematisch berechnet ist auf bestimmte emotionale Erschütterungen des Aufnehmenden. Diese stellen in ihrer Gesamtheit ihrerseits einzig und allein die Bedingungen dafür dar, daß die ideelle Seite des Gezeigten, die eigentliche ideologische Schlußfolgerung aufgenommen wird. (Der Weg der Erkenntnis »über das lebendige Spiel der Leidenschaften« ist der spezifische Weg des Theaters.)25
Die Attraktion wird an dieser Stelle als ein Mittel zur Adressierung des Zuschauers beschrieben, als eine Art Werkzeug, mit dem die Emotionen des Adressaten stimuliert werden können. Potentiell könne jedes Element des Theaters als Mittel eingesetzt werden, um auf den Zuschauer einzuwirken – sei es das »Trikot der Primadonna« oder »die Salve unter den Sitzen der Zuschauer«.26 Eisenstein betont die Möglichkeit einer »mathematischen Berechnung« der Reaktionen und weist auf eine genaue Kalkulierbarkeit des Einsatzes der Mittel hin. Das erscheint zunächst rein funktional gedacht: Die Stärke und Art der Einwirkung unterschiedlicher Mittel determiniere in einem berechenbaren Verhältnis die Wirkung auf den Zuschauer. Und das ist nach Eisenstein ganz wörtlich zu verstehen: In einem Beispiel beschreibt er, dass unter den Sitzen des Publikums Feuerwerkskörper angebracht werden sollen, die als Attraktionen wirken. Je lauter der Knall des Feuerwerkskörpers unter dem Sitz sei, desto höher springe der Zuschauer. derwerk, Anblick‹, zu lat. spectare ›schauen, anschauen, ansehen‹, einem Frequentativum zu lat. specere (spectrum) ›sehen‹. Zunächst entlehnt als ›(lärmendes) Schauspiel‹.« Aus: Kluge: Etymologisches Wörterbuch. Vgl. dazu auch Aumont: Montage Eisenstein, S. 57. Aumont weist auf die Verbindung des Begriffs der Attraktion zum Zirkus hin und betont ebenfalls das Moment des Spektakels. 24. Eisenstein entwickelt diesen Begriff für seine theoretische Konzeption des Films insbesondere in folgenden Aufsätzen: Eisenstein: Montage der Attraktionen, 1923; ders.: The Montage of Film Attractions, 1924, und ders.: Dramaturgie der Film-Form, 1929. 25. Eisenstein: Montage der Attraktionen, S. 217f. 26. Ebd., S. 217.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Ein solch direktes Abhängigkeitsverhältnis in berechenbarer Form erscheint sicherlich als ein zu reduziertes Modell, um vielschichtige Strukturen der Affekterregung durch filmische Mittel zu beschreiben. Die Kalkulierbarkeit der Affektwirkung nach Erfahrungswerten und rhetorischen Regeln des effektiven Einsatzes der Mittel sind jedoch, wie wir gesehen haben, Aspekte, die Eisenstein darüber hinaus reflektiert. Sehr klar formuliert er auch an dieser Stelle den Zusammenhang zwischen Affekterregung und Wirksamkeit der kommunizierten Botschaft. Um die Aufnahmefähigkeit des Zuschauers für die »eigentliche ideologische Schlußfolgerung« zu erhöhen, werden in kalkulierter Weise die Mittel der Affekterregung eingesetzt – womit sich wiederum eine Parallele zur rhetorischen Theorie zeigt. Die grundsätzliche Erkenntnis, dass ein Zuschauer, der durch starke Affekte von Mitleid, Zorn oder Furcht in das Gezeigte emotional involviert wird, potentiell leichter einer implizit geführten Argumentation folgt, ist ein Grundsatz der Aristotelischen Rhetoriktheorie, der sich in Eisensteins Schriften an mehreren Stellen wiederfindet.27 Die »Attraktionen« sind in dieser Perspektive die Mittel der Affekterregung – also die rhetorischen Figuren des Films. Ein zweiter Gesichtspunkt ist die dialektische Struktur der Attraktion. Im Sinne Eisensteins beschreibt die Attraktion nicht nur ein singuläres oder statisches Element zur Erzeugung einer Affektwirkung. Vielmehr geht es um eine dynamische Konzeption der Attraktion, die sich in der Montage zweier Elemente herausbildet. Zugrunde liegt die Idee einer dialektischen Struktur des Materials an sich, die sich aus der Theorie des dialektischen Materialismus nach Marx und Engels speist. Die Theorie beschreibt den Aufbau eines »Ganzen« durch einzelne »Materien«, die im Konflikt zueinander stehen. Durch die filmische Reproduktion eines solchen Konflikts im Rahmen der Montage werde lediglich, wie Eisenstein es formuliert, eine »Reproduktion des dialektischen Ablaufs (Wesens) äußerer Vorgänge der Welt«28 geschaffen. Das dialektische System werde also lediglich projiziert, nicht durch die filmische Montage erfunden. Damit wird eine dynamische Auffassung des Films formuliert: »Bestehen als ständiges Entstehen aus der Rückwirkung zweier konträrer Widersprüche. Synthese, die im Widerspruch von These und Antithese entsteht.«29 Mit diesen Über27. Vgl. Kapitel 3.3. 28. Eisenstein: Dramaturgie der Film-Form, S. 200. 29. Ebd., S. 201, Hervorhebungen im Original.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
legungen sucht Eisenstein nach den grundlegenden Prinzipien des Films: Film entsteht als ein »Ganzes« aus den widerstrebenden Bewegungen und aus dem Konflikt einzelner Attraktionen, die nicht den Kriterien der Harmonie folgen, sondern die durch einen Zusammenprall von These und Antithese eine emergente Bedeutung generieren. Basierend auf dieser grundsätzlichen Auffassung des Films wird die Montage bei Eisenstein zum zentralen Gestaltungsprinzip, bei dem es nicht lediglich um eine Zusammenstellung von Einstellungen im narrativen Kontext geht, sondern weit darüber hinaus um eine dialektische »Explosion« der Bedeutung. Um das Prinzip der dialektischen Grundstruktur zu illustrieren, nutzt Eisenstein das Beispiel der »Bedeutungsexplosion« japanischer Schriftzeichen. In ihrer Kombination ergeben zwei Zeichen eine neue Bedeutung, die mehr als die Summe ihrer Teile ausmacht. In dieser übergeordneten Bedeutung realisiere sich die dialektische Synthese. Die Kombination oder die Montage der einzelnen Schriftzeichen für Auge und für Wasser ergibt, so das Beispiel, den Begriff »weinen«, von Messer und Herz den Begriff »Kummer«.30 So zeigt sich Eisensteins Auffassung der filmischen Elementarstruktur: Die emergente Bedeutungsebene der filmischen Zeichen liegt nicht in einem »imaginären Raum« jenseits der Bildbegrenzung, sondern sie wird vielmehr zwischen den Einstellungen selbst generiert. Oksana Bulgakowa formuliert das Prinzip wie folgt: Die Einstellung (begriffen als Abbildung, Darstellung) akkumuliert Konflikte (des Vorder- und Hintergrunds, der Linien, Konturen, Räume, Lichtflecke, Massen, Bewegungsrichtungen, Beleuchtung, eines Vorgangs und seiner zeitlichen Darstellung in Zeitlupe oder Zeitraffer usw.), die Konflikte zerreißen das Bild und werden durch die nächste Einstellung ab- bzw. aufgelöst.31
Auf dieser Grundlage entwickelt Eisenstein systematische Überlegungen zu den filmischen Ausdrucksmitteln. Er beschreibt eine Reihe von Stilfiguren des Konflikts, die ihm als »Werkzeuge« zur Filmgestaltung zur Verfügung stehen. Er benennt folgende Figuren: 32 30. Ebd., S. 205. 31. Oksana Bulgakowa: Sergej Eisenstein, in: Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure, Stuttgart 1999, S. 206–210, S. 207. 32. Eisenstein: Dramaturgie der Film-Form, S. 209ff.
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
a) b) c) d) e) f) g) h) i) j)
Grafischer Konflikt Konflikt der Pläne (Bildebenen) Konflikt der Volumen Raum-Konflikt Beleuchtungs-Konflikt Tempo-Konflikt Konflikt zwischen Stoff und Ausschnitt Konflikt zwischen dem Stoff und seiner Räumlichkeit Konflikt zwischen dem Vorgang und seiner Zeitlichkeit Konflikt zwischen dem ganzen optischen Komplex und einer ganz anderen Sphäre
Auch dieses System kann als ein Beitrag zu einer eigenen »Rhetorik des Films« gelesen werden: Eisenstein baut auf diese Weise einen Katalog rhetorischer Stilfiguren auf, oder, präziser formuliert, einen Katalog der syntaktischen Figuren des Kontrasts, die er immer wieder an ihre Wirkungsdimension rückkoppelt. Er definiert sie selbst als »KonfliktFiguren« oder auch als »Elemente der emotionalen Dynamisierung«, womit er Aspekte der Affektrhetorik anführt. Dann wiederum stellt er seine Reflexionen als den »Versuch einer Film-Syntax« dar, betont damit also die grammatische Struktur der Einstellungsfolgen. Auch wenn seine Terminologie hier etwas unscharf bleibt, ist doch deutlich abzulesen, dass es ihm hier um eine systematische Untersuchung der filmischen Gestaltungsmittel nach ihren wirkungsintentionalen Einsatzmöglichkeiten geht. Diese Überlegungen gehen weit über eine rein filmästhetische Dimension hinaus, wenn Eisenstein seine Mittel der Filmgestaltung nach ihrem Attraktionswert aufschlüsselt und damit ihr Einflusspotential auf das Publikum fokussiert. Insgesamt bleibt Eisensteins Stiltheorie eine Skizze, in der eine Vielfalt von Aspekten angesprochen wird und die weniger systematischen als vielmehr beschreibenden Charakter hat. Seinen Katalog der Montagefiguren illustriert er mit eigenen filmischen Beispielen, wobei er nicht auf eine fixierte Taxonomie der Syntagmen des Films zielt, wie es Metz Ende der 1960er Jahre unternimmt.33 Vielmehr geht es um eine anwendungsorientierte Stiltheorie, die aus dem Zusammenwirken zwischen Theorie und Praxis entsteht: zum einen aus den Reflexionen 33. Christian Metz: Syntagmatische Analyse des Films, in: ders.: Semiolo-
gie des Films, S. 198–237.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
zur dialektischen Struktur des Films, zum anderen aus den praktischen Ergebnissen der Filmproduktion und aus den Montageexperimenten, die Eisenstein unter Lev Kuleshovs Einfluss weiterführt. Beide Prozesse – die filmische Arbeit wie die theoretische Konzeption – hängen bei Eisenstein eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Die beschriebenen Montagefiguren sind dabei nicht stilistische Einzelphänomene, sondern sie werden zu wiederholbaren Grundmustern der elocutio. Wenn Eisenstein schreibt: »The attraction will in turn be arranged in a certain pattern«,34 so verweist er an dieser Stelle selbst auf den Figurencharakter der Attraktionen und macht deutlich, dass es ihm um wiederholbare Gestaltungsmuster des Films geht.
4.1.4. Pathos als Propaganda Ich komme nun zum letzten Aspekt, auf den ich für die exemplarische Betrachtung der Zusammenhänge zwischen der Filmtheorie Eisensteins und der Rhetorik eingehen möchte: die Konzeption von pathos im Film.35 Explizit formuliert Eisenstein sein Konzept des pathos erst in seinen späteren Schriften,36 jedoch bezeugt die Verwendung stark affektiv wirkender Bilder bereits in seinen frühen Filmen eine eingehende Beschäftigung mit diesem Thema. Auch hier finden wir demnach eine Koppelung der praktischen Arbeit mit der theoretischen Konzeption des Films, wobei in diesem Fall die praktische Erprobung der Techniken der Affekterregung vor der theoretischen Ausführung liegt. 34. Zitiert in: Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 120. 35. In den 30er Jahren entwickelt Eisenstein das Thema »Pathos und Ekstase« in verschiedenen Essays und Vorlesungen, die bisher unveröffentlicht sind (vgl. hierzu: Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 192, Fußnote 6). Folgende seiner späteren Essays verweisen auf das Thema: »On the Structure of Things« (1939), »Once Again on the Structure of Things« (1949), die Essays im Sammelband »The Film Sense« (1939–1941 entstanden), engl. Ausgabe: Jay Leyda (Hrsg.): The Film Sense, New York 1942, 1947 und London 1943, 1946), sowie die unveröffentlichten Teile seines Essays »Eine nicht gleichmütige Natur« (zwischen 1940–1947 entstanden, dt. Ausgabe: Rosemarie Heise (Hrsg.): Eine nicht gleichmütige Natur, Berlin 1980). Vgl. zur Forschungslage auch Bohn: Film und Macht, S. 219ff. 36. Insbesondere in: »On the Structure of Things«, »Once Again on the Structure of Things« und »Pathos«, 1945–1947, alle drei Aufsätze in: Eisenstein: Nonindifferent Nature.
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Eisenstein definiert pathos auf diese Art: Pathos is what forces the viewer to jump out of his seat. It is what forces him to flee from his place. It is what forces him to clap, to cry out. It is what forces his eyes to gleam with ecstasy before tears of ecstasy appear in them. In word, it is everything that forces the viewer to ›be beside himself‹.37
Pathos hat eine Wirkung, durch die der Zuschauer quasi gewaltsam (»to force someone«) dazu gebracht wird, auf eine Darstellung zu reagieren. Die Formen der Reaktion sind unterschiedlich: Der Zuschauer springt aus dem Sitz auf, flieht, er klatscht Beifall oder weint »ekstatisch«, so beschreibt es Eisenstein. Diese Reaktionen lassen sich unter dem Begriff des movere vereinen, der die mitreißende und aufwühlende Affektwirkung beschreibt. Gehen wir von dieser Definition des pathos aus, so stellen sich insbesondere zwei Fragen: 1. Durch welche Mittel wird pathos erzeugt? 2. Mit welcher Zielsetzung wird pathos im Film eingesetzt? Zunächst zur ersten Frage: Die Mittel zur Erzeugung von pathos beschreibt Eisenstein in seiner Stiltheorie, insbesondere in der »Montage der Attraktionen«. Wie wir gesehen haben, ist Eisensteins Konzeption durch die Reflexion des Wirkungszusammenhangs der filmischen Mittel gekennzeichnet. Bei der Beschreibung der Stilmittel wird die affektive Wirkungsdimension immer schon eingebunden, die Überlegungen zu den Stilmitteln des Films und zur affektiven Adressierung des Publikums durch das filmische pathos sind folglich miteinander verschaltet. Die Frage nach der Entstehung der hohen Affektstufe zielt infolgedessen auf den systemischen Zusammenhang zwischen dem Einsatz der Mittel und der antizipierten Wirkung auf den Adressaten. Das grundlegende Prinzip des Films, das Eisenstein mit der dialektischen Montage der Einstellungen beschreibt, ist für ihn das auslösende Moment des pathos: [O]ne might say that a structure of pathos is that which compels us, in repeating its course, to experience the moments of culmination and becoming of the norms of dialectic processes.38 37. Eisenstein: On the Structure of Things, S. 27. 38. Ebd., S. 35.
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Pathos entsteht nach Eisenstein aus der Erfahrung des »dialektischen Prozesses« im Film, und folglich nicht allein aus der Präsentation affektiv wirkender Motive, also schockierender oder aufwühlender Bilder an sich.39 Er grenzt sich sogar von einer Untersuchung eines rein aus der Darstellung entspringenden pathos ab mit der Begründung, dass die Wirkung der bildlichen Darstellung von pathos an den sozialen und kulturellen Kontext gebunden und damit relativ sei. Ihm geht es um die pure »kinematografische Bedeutung«, durch die dem unbelebten Objekt eine bestimmte Eigenschaft und Bedeutung zugewiesen werde. Such ›delimitation‹ of means of expression had meaningful importance from the point of view of pathos in composition [...], because in this sequential system of expressive means there was a similar displacement (›a leap‹) from one dimension to another – from the dimension of cinema-acting (›theatrical‹ cinematography) to the dimension of ›pure‹ cinematography, of independent, unique, and unmatched means and possibilities.40
Die tatsächliche psychische Wirkung auf den Adressaten beschreibt Eisenstein mit dem Begriff der »Ekstase«: Der Einzelne werde dadurch in eine affektiv »höhere Qualität« überführt, die Eisenstein als einen »Sprung« in eine andere Dimension beschreibt.41 Es folge daraus ein Zustand der Empfindung, »außer sich selbst« zu sein, der analog zur religiösen Ekstase oder zur Auswirkung von Drogenkonsum zu sehen ist, wie Bohn ausführt.42 Diese Auffassung von pathos in seiner ekstatischen Wirkung weist Parallelen zur Beschreibung der rhetorischen pathos-Konzeption nach Pseudo-Longinus auf. In seiner Schrift »Vom Erhabenen« weist der antike Autor eben jenen Zu39. »The discussion is not of pathos content in general but in what way pathos is realized in composition.« Ebd., S. 28. 40. Ders.: Pathos, S. 51. 41. »This is that same being beside oneself, going out of state, a move from one quality to quality, ecstasy. And if water, steam, ice, and steel could psychologically register their own feelings at these critical moments – moments of achieving the leap, they would say they are speaking with Pathos, that they are in ecstasy.« Ebd., S. 36. 42. Bohn: Film und Macht, S. 218–263. Vgl. auch Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 193.
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sammenhang als grundlegend für die rhetorische Wirkungsweise aus: Das Übergewaltige nämlich führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall wirkt, was uns erstaunt und erschüttert, jederzeit stärker als das Überreden und Gefällige, denn ob wir uns überzeugen lassen, hängt meist von uns selber ab, jenes aber übt eine unwiderstehliche Macht und Gewalt auf jeden Zuhörer aus und beherrscht ihn vollkommen.43
Durch die Mittel des pathos, so Pseudo-Longinus, werden nicht die rationalen Überzeugungsgründe aufgerufen, sondern es entsteht eine Affektwirkung, die den Adressaten zur Ekstase bringt. Er wird »erstaunt und erschüttert«, oder, wie Eisenstein formulierte, er flieht von den Sitzen, weint, klatscht vor Begeisterung. Der Rhetor erlangt durch die Affektwirkung eine starke Macht über den Adressaten, die er für die Zielsetzung der Persuasion einsetzen kann. Hier blenden sich die Beschreibungen von Pseudo-Longinus und Eisenstein gleichsam übereinander und entwerfen pathos als zündendes Moment jeder Kommunikation, welches das Publikum mit aller Gewalt zur Ekstase verführt. Insgesamt wird die hohe Affektlage des pathos für Eisenstein zum zentralen Ausdrucksmittel. Dies erscheint aus rhetorischer Perspektive nur logisch: Dem hohen, gewichtigen Redeinhalt, dem er sich vor dem Hintergrund des politischen Zeitgeschehens widmet, ist die hohe Affektlage vorbehalten. Geht es bei Eisenstein um die überzeugende Kommunikation der sozialistischen Doktrin und revolutionären Ideen, so nutzt er dazu die Wirkungsfunktion des pathos und den hohen, figurenreichen Stil – ganz im Sinne der Zuordnung des decorum. Im nachfolgenden Kapitel wird zu zeigen sein, wie diese Affektstrukturen des pathos im Film selbst umgesetzt worden sind. Eisenstein begreift insgesamt die Kommunikation durch das Medium Film als eine rhetorische Technik, die gesellschaftspolitisch wirksam eingesetzt werden kann. Seine Auffassung von Kunst weist auf der funktionalen Ebene Parallelen zur rhetorischen Kommunikation auf, die sich als dynamischer Prozess zwischen Rhetor, Medium und Adressat entwickelt. Anhand der exemplarischen Untersuchung des Kunstbegriffs Eisensteins, seiner Stilistik des Films sowie seiner Konzeption 43. Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen, 1, 3–4, übersetzt und kommentiert
von Reinhard Brandt, Darmstadt 1966.
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des pathos habe ich Parallelen zur rhetorischen Theorie dargestellt. Diese Untersuchung bleibt skizzenhaft und ließe sich an vielen Beispielen weiterführen, etwa, wenn Eisenstein Aspekte der memoria des Bildes 44 anspricht oder argumentative Schlussverfahren des Films thematisiert.45 Die hier untersuchten Konzepte gewähren insoweit nur einen Einblick in die Zusammenhänge, gerade soweit, um Eisenstein als einen genuinen Filmrhetoriker begreifen zu können.
4.2. Filmanalysen: Die stummen Bilderwerke Eisensteins Nach der Untersuchung des filmtheoretischen Werkes Eisensteins geht es nun um die Analyse seiner praktischen Arbeiten. Dabei wende ich die theoretische Konzeption der audio-visuellen Rhetorik an, die im ersten Teil erarbeitet wurde, und beziehe mich auf das dort entwickelte System und die Terminologie. Die exemplarische Untersuchung umfasst ausgewählte filmische Werke des Regisseurs, und zwar die frühen Stummfilme Streik, Panzerkreuzer Potemkin, Die Generallinie und Oktober. Anhand von Beispielsequenzen wird die rhetorische Struktur dieser Filme untersucht. Der Aufbau von Affektstrukturen, implizit geführte Argumentationen, rhetorische Figurationen sowie die Rolle der visuellen Topoi sind Schwerpunkte der Analyse. Zu jeweils einer Sequenz der vier Beispiele habe ich Notationsprotokolle erstellt, die eine Visualisierung der rhetorischen Struktur vorstellen und Grundlage für die Analyse sind.46
4.2.1. Affe, Eule, Bulldogge: Animalische Typisierungen Wie wir am Beispiel der Opferschlachtung in Streik gesehen haben, unterstützen visuelle Topoi im Film Argumentationen durch ihre allgemeine Bekanntheit und Akzeptanz. Sie sind ein Stilmittel, das insbe44. Vgl. dazu Sergej Eisenstein: Word and Image, in: The Film Sense, Hrsg. von Jay Leyda, San Diego, New York, London 1970, S. 3–68, S. 16f. 45. Vgl. dazu ders: Dramaturgie der Film-Form, S. 224. 46. Die Notationsprotokolle sind unter www.geschejoost.org/AVRhetorik zu finden.
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sondere Eisenstein gezielt einsetzt, um über die Bildebene bestimmte Meinungen beim Adressaten zu etablieren – um eine Allegiance aufzubauen. Ein weiteres Beispiel für solche argumentativ eingesetzten visuellen Topoi sind die Tier-Mensch-Vergleiche zur Charakterisierung einer Figur, die bereits in der Physiognomika 47 aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. überliefert wurden – und hier spanne ich den Bogen zurück zur Beschreibung des Gesichts als Index der Psyche. Der Vergleich geht davon aus, dass jede Tierart entsprechend bestimmter Eigenschaften ihre Gestalt ausbilde, dass sich somit die charakteristischen Eigenschaften in der Physiognomie widerspiegeln.48 Der Vergleich basiert auf folgendem Prinzip: Die Charaktereigenschaften, die einer bestimmten Tierart zugeschrieben werden, werden durch die Mittel des Vergleichs auf eine Person übertragen. Die bestimmte Person »ist« somit »wie« Tier X. Diese Art der Merkmalsübertragung ist ein Topos, der schon mit den ersten Tierfabeln überliefert wurde. Ein einschlägiges Beispiel für den visuellen Vergleich zwischen Mensch und Tier im Kontext der physiognomischen Forschung liefert Della Porta.49 Er überträgt die charakteristischen physiognomischen Züge bestimmter Tiere auf die Physiognomie des Menschen und schafft auf visueller Ebene eine Parallele. Durch diese Parallelisierung – und damit wird die Auffassung von der Deutungsmacht der Physiognomie hervorgehoben – wird eine Person mit den zugeschriebenen Attributen des Tieres belegt. Der Esel etwa wird als »langsam« und »dumm« beschrieben, auch die Charakterisierung als Schwein oder Affe ist stark pejorativ geprägt. Menschen, die eine ähnliche Physiognomie wie diese Tiere aufweisen, etwa in Form eines langen Schädels oder einer bestimmten Form der Stirn, werden in der physiognomischen Deutungsweise mit dessen Attributen belegt. Diese Art der visuellen Argumentation, die nicht verbal expliziert wird, sondern mit den Mitteln der visuellen Evidenz arbeitet, findet sich erneut in Eisen47. Pseudo-Aristoteles: Die aristotelische Physiognomik: Schlüsse vom Körperlichen auf Seelisches, Heidelberg 1929. Es stellt die älteste erhaltene systematische Darstellung der Physiognomik dar, die zunächst Aristoteles zugeschrieben wurde. Vgl. dazu auch: Norbert Borrmann: Kunst und Physiognomik: Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln 1994, S. 27f. 48. Vgl. Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance, S. 89f. 49. Della Porta: De humana physionomia Libri quattuor.
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Physiognomische Vergleiche zwischen Mensch und Tier nach Della Porta, Abbildung in: Borrmann: Kunst und Physiognomik, S. 62.
steins erstem Film Streik. Hier geht es um die Charakterisierung von vier Spitzeln, die von der Fabrikleitung angestellt werden, um die Unruhen unter den Arbeitern zu beobachten. Aus der Perspektive der Arbeiter, die der Film klar positiv besetzt, sind die Spitzel negativ bewertete Figuren, die dem Kodex von Ehre und Kameradschaft der Arbeiter nicht gehorchen. Um diese Spitzel nun im Film wirkungsvoll zu charakterisieren, werden sie bei ihrer Einführung mit einem Tier-MenschVergleich belegt, der zur Verankerung auch verbal angezeigt wird. Sie werden als »der Affe«, »die Bulldogge«, »die Eule« und »der Fuchs« benannt. Visuell wird die Charakterisierung durch eine Überblendung umgesetzt. Die Verbindung der Aufnahmen von Mensch und Tier stellt auf diese Weise eine formale Konjunktion her: Eine bestimmte Geste wird übertragen (bei dem Affen: das Trinken aus einer Glasflasche, bei der Bulldogge: das Hecheln mit heraushängender Zunge) oder eine mimische Parallele inszeniert (bei der Eule: der Ausdruck der Augen, bei dem Fuchs: die Kopfhaltung). Die Charakterisierungen dieser Tiere haben eine mythologische Tradition, auf der die rhetorische Wirkung der Inszenierung aufbaut. Der Affe gilt – insbesondere durch seine Menschenähnlichkeit – in der altchristlichen Tradition als Zerrbild des sündigen Menschen und als Projektionsfigur für unmoralisches Verhalten. Er wird literarisch häufig als Tier des Teufels oder sogar als dessen Per175
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Standbilder aus Streik: die Charakterisierung der Spione: der Affe, die Bulldogge, die Eule, der Fuchs.
sonifikation beschrieben. Seine negativen Eigenschaften sind die Eitelkeit, Lüsternheit, Habgier und Rachsucht.50 In der antiken Fabel von Fuchs und Affe wird er als Lügner dargestellt, der den Fuchs aus Eitelkeit übertrumpfen will und ihn daher belügt. Die Eitelkeit des Affen ist in dieser Darstellung mit Schlauheit gepaart. Der Hund hingegen wird ambivalent charakterisiert: Gilt er einerseits als Freund des Menschen, als zuverlässig und treu, so wird er ebenso mit negativen Attributen belegt. In der pejorativen Charakterisierung gilt der Hund als aggressiv, 50. Vgl. Rudolf Schenda, Susanne Schenda: Artikel »Affe«, in: Enzyklopädie des Märchens: Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung [im Folgenden zitiert als EdM], hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich, Bd. 1, Berlin, New York 1977, S. 137–146.
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faul, gierig, als ein unsauberes Tier, das sich Schwächeren gegenüber dominierend verhält.51 Er wird zum Teil auch als feige angesehen, wie die Fabel von Hund und Fuchs deutlich macht. Ein Jagdhund, der einen Löwen verfolgt, erschreckt sich derart über dessen Brüllen, dass er sofort die Flucht ergreift. In dieser Fabel triumphiert der Fuchs über den Hund. Auch die Eule wird ambivalent beschrieben. Einerseits gilt sie als das Tier, das die Weisheit verkörpert. Andererseits ist die Eule bereits in der ägyptischen Tradition als Todestier und Vorbote von Tod und Unglück charakterisiert. Die Eule steht in der literarischen Tradition häufig im Zusammenhang mit Hexen oder dem Teufel, gilt als unheimlich und dämonisch.52 Das letzte Tier in der Reihe, der Fuchs, hat ebenfalls eine lange Tradition in der Fabel,53 in der er meist als listig und verschlagen vorgestellt wird. In den antiken Tierfabeln, etwa der Fabel von Fuchs und Rabe, wird der Fuchs als ein kluges, aber hinterlistiges Tier gesehen, das sich anderer Tiere bedient, um sein Ziel zu erreichen. Wenn der Fuchs beispielsweise dem Raben schmeichelt, damit dieser den Käse aus dem Schnabel fallen lässt, zeigt sich die List des Fuchses als erfolgreich, so dass der Rabe den Schaden davonträgt. Der Fuchs als literarisches Motiv taucht auch als ein Symbol des Teufels auf, der Menschen und Tiere überlistet und verführt.54 Diese Charakterisierungen der Tier-Motive werden in der filmischen Inszenierung funktionalisiert. Sie finden ihren Einsatz in Form des visuellen Topos, der das kulturelle Wissen um diese Motive speichert. Innerhalb von sehr kurzer Zeit – die einzelnen Überblendungen dauern nur Sekunden – werden so die Charaktere der Personen effektiv und in komprimierter Form eingeführt. Wichtig ist, dass es hier nicht um eine wörtlich ausgeführte Argumentation geht, die die Rolle der Spitzel im Streik als negativ ausargumentiert. Vielmehr wird durch die visuelle Verknüpfung eine bestimmte Charakterisierung suggeriert. 51. Vgl. Rudolf Schenda: Artikel »Hund«, in: EdM, Bd. 6, 1990, S. 1317–
1340. 52. Vgl. Nikolaus: Artikel »Eule«, in: EdM, Bd. 4, 1984, S. 531–538. 53. Die erste überlieferte Fabel, in der der Fuchs auftaucht, geht auf Archilochos zurück (680 v. Chr.). 54. Vgl. Hans-Jörg Ut: Artikel »Fuchs«, EdM, Bd. 5, 1987, S. 447–478. Vgl. für die angeführten Beispiele von Fabeln z. B.: Antike Tierfabeln, übers. von Ludwig Maler, Hamburg 1968.
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Die Stoßrichtung, in der eine Haltung beim Publikum etabliert werden soll, wird bereits aus dem übergeordneten Zusammenhang des Films deutlich. Der Kontrast zwischen den »ehrlichen« und moralisch »guten« Arbeitern und ihren Gegnern wird in den Einstellungen in verkürzter Form lediglich wiederholt, indem die Spitzel mit negativ belegten Topoi verbunden werden. Ohne eine umfangreiche Einführung der einzelnen Personen zu geben, erreicht die filmische Inszenierung durch diesen Vergleich eine effektive Charakterisierung der Figuren.
Standbilder aus Ohm Krüger (1940/41): die Charakterisierung des englischen Kommandanten.
Das rhetorische Mittel des Tier-Mensch-Vergleichs findet sich auch im nationalsozialistischen Propagandafilm Ohm Krüger, der 16 Jahre später gedreht wurde. Wie noch zu zeigen sein wird, weist dieser Film an mehreren Stellen Parallelen zu Filmen Eisensteins auf. Hier geht es zunächst um eine Szene, in der ebenfalls ein visueller Vergleich zwischen Mensch und Tier zur Charakterisierung einer negativ besetzten Figur eingesetzt wird: Ein englischer Kommandant, der eine deutsche Minderheit in Afrika in ein Arbeitslager interniert hat, wird in dieser Sequenz mit einer Bulldogge verglichen. Inszeniert wird der Vergleich im Rahmen eines opulenten Essens – im Kontrast dazu zeigten die Szenen davor die schlechte Versorgung im Arbeitslager. Um den Eindruck von Luxus und Verschwendung noch zu verstärken, füttert der Kommandant seinen Hund voll Überdruss mit dem Essen. Der Vergleich zwischen dem Kommandanten und dem Hund wird in dieser Szene etwas anders inszeniert als in Streik, und zwar handelt es sich nicht um eine Überblendung, sondern um eine visuelle Parallelisierung der beiden Figuren. Zunächst werden beide im Profil in der Nahaufnahme nebeneinander gezeigt. Verbindendes Element ist beider Körperfülle, wodurch der Eindruck einer physiognomischen Ähnlichkeit entsteht. In einer weiteren Einstellung werden beide Figuren in der Nahaufnahme frontal gezeigt und auch hier entsteht der Eindruck von physiognomi178
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schen Parallelen. Dieser Eindruck wird dadurch gestützt, dass beide Figuren beim Essen gezeigt werden und sich wiederum Parallelen der Form, hier des Kreises, ergeben. Die Szene arbeitet insgesamt mit einer hohen Affekthöhe und ruft Abscheu hervor, da das Essen als übermäßige Völlerei dargestellt und dadurch verschwendet wird, dass der Hund damit gefüttert wird. Diese negative Charakterisierung des Kommandanten folgt somit dem gleichen topischen Muster wie die Charakterisierung der Spitzel in Streik. Das Motiv der Bulldogge fungiert in dieser Verwendung nicht nur als Bild für einen minder intelligenten, aber gefährlichen Wachhund, sondern steht darüber hinaus für den sittlichen Verfall, für Gier und Gefräßigkeit. Zudem handelt es sich um eine englische Hunderasse – die Bulldogge ist der Nationalhund Englands. Hier wird das Motiv des Hundes zusätzlich mit dem Fremdheits-Topos verschränkt, der in der nationalsozialistischen Ideologie eine wichtige Rolle spielt. Er wird für Argumentationen verwendet, die darlegen, dass das »Fremde« von außen den deutschen »Volkskörper« bedrohe. In der zitierten Szene wird auf diese Art ein komplexer Topos für die visuelle Argumentation eingesetzt, der die Diffamierung des Kommandanten als Hund mit der ideologischen Ausgrenzung des Fremden koppelt. Das rhetorische Mittel des Vergleichs und in diesem Beispiel speziell des Tier-Mensch-Vergleich ist, wie wir gesehen haben, keine Erfindung des Films, sondern hat eine lange Tradition in der Fabel. Interessant ist hier, dass sich dieses Mittel auch als effektiv für den Film zeigt, so dass sich sowohl Sergej Eisenstein als auch Hans Steinhoff in ihren Filmen dieses Mittels bedienen. Seine Wirkung resultiert daraus, dass die topischen Charakterisierungen der Tiere gemeinhin bekannt sind und dass die visuelle Parallelisierung dem Rezipienten eine Merkmalsübertragung nahe legt. Die augenscheinliche Parallele – der Spitzel ist ein Fuchs – hat eine starke Überzeugungskraft, die nicht weiter verbal expliziert werden muss. Mit diesem Mittel können im Film rationale Argumentationen und Erläuterungen des politischen Hintergrundes, der für beide Filmbeispiele von großer Bedeutung ist, vermieden werden.
4.2.2. Die Ekstase der Maschine in »Die Generallinie« Als Beispiel für die Realisierung von pathos und Ekstase im Film dient eine Szene aus dem Film Die Generallinie. In dieser Szene, die Eisenstein selbst als Beispiel für die filmische Umsetzung des pathos-Kon179
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zeptes benennt,55 geht es auf der Handlungsebene um die Einführung eines Milchseparators als technische Innovation in den Betrieb eines landwirtschaftlichen Kollektivs. Diese Maschine zur Herstellung von Butter wird angeschafft und erprobt, wobei die Arbeiterinnen und Arbeiter diesem »Schauspiel« zunächst skeptisch gegenüberstehen. Die Maschine nimmt ihren Betrieb auf, und die umstehenden Personen beobachten nun, ob tatsächlich innerhalb kurzer Zeit Butter hergestellt werden kann. Diese Szene wird mit der höchsten Affektstufe inszeniert, und so kommt zunächst die Frage auf, welchen Grund eine solche Hervorhebung hat. Es ist eine Schlüsselszene für den gesamten Film, da der Erfolg der Maschine insgesamt zum Prüfstein für die Möglichkeiten des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft wird. An dieser Stelle geht es also um eine Überzeugung zugunsten des technischen Fortschritts, die bei den Adressaten etabliert werden soll. Dieser Impetus ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Thema des Einsatzes von Maschinen für die landwirtschaftliche Produktion Ende der 1920er Jahre in der Sowjetunion von großer Bedeutung war. Der Film Die Generallinie stand im Dienste der ideologischen Etablierung von Neuerungen der Fünfjahrespläne im Rahmen der Agrarrevolution. Die technische Modernisierung wie auch die Zusammenarbeit in Kolchosen und Sowchosen werden im Zuge dessen propagiert, so dass dieser Film ganz die Rolle eines massenwirksamen Propagandainstruments erfüllt. Das Misstrauen der Bevölkerung gegen die Auswirkungen der technischen Modernisierung, das als reale Reaktion auf die Neuerungen zu erwarten war, ist ein zentrales Thema des Films. Diesem Misstrauen wird in der Szene des Milch-Separators begegnet, die Vorbehalte der Bauern und Bäuerinnen werden aufgegriffen, um sie anschließend umso wirkungsvoller zu zerstreuen. Aus diesem Grund wird die Darstellung des Erfolgs in hohem Maße mit affektrhetorischen Mitteln unterstützt, um auf diese Weise eine nachhaltige Wirkung zu etablieren. Die Inszenierung des pathos wird in der Sequenz zweifach realisiert: Zum einen durch den Ausdruck von pathos durch ein unbelebtes Objekt (den Milch-Separator), zum anderen durch die starke Affizierung der Protagonisten. Im Notationsprotokoll wird sichtbar, dass es sich um einen regelhafter Wechsel von drei Hauptmotiven handelt: erstens der Maschine, zweitens den Bäuerinnen und Bauern und drittens 55. Vgl. dazu: Eisenstein: Pathos, S. 38–58.
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Standbilder aus Die Generallinie (1929), die drei Hauptmotive: die Maschine, die Bäuerinnen und Bauern, Marfa.
der Hauptfigur Marfa an der Maschine. Ebenfalls ist aus dem visuellen Protokoll abzulesen, dass der gesamte Aufbau durch den formalen Wechsel der Motive wie eine musikalische Komposition wirkt, in der unterschiedliche Themen kombiniert und variiert werden, um in einem pathosgeladenen Finale zu gipfeln. Die Montage scheint vielmehr formalästhetischen Prinzipien zu folgen, als dass sie handlungslogisch motiviert wäre, so lässt sich aus der streng formalen Abfolge der Motive mit häufigen Wiederholungen, Variationen und rhythmischer Montage folgern. Die gesamte Sequenz steigert sich nach und nach bis zum finalen Siegeszug der Maschine; die Klimax steigt also über die gesamten fünf Minuten Dauer an. Dieser Anstieg vollzieht sich zum einen durch eine Tempo-Steigerung, die im Protokoll durch die immer kürzer werdenden Abstände visuell nachzuvollziehen ist. Zum anderen werden jedoch, und dieser Kunstgriff zeichnet die Sequenz aus, zwei Ebenensprünge inszeniert, die jeweils eine höhere Affektstufe erreichen. Diese Sprünge lassen sich als drei Formen der Ekstase differenzieren: Es beginnt mit einer dynamischen Form, die durch die schnelle Bewegung der Maschine inszeniert wird, steigert sich zu einer implizit sexuellen Ekstase und gipfelt in einer symbolischen Überhöhung, die 181
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eine abstrakte Form der Ekstase darstellt. Im Protokoll sind diese Ebenensprünge zeitlich bei 03:55 min und 04:40 min zu erkennen.56 Wie ist die Sequenz im Detail konzipiert und wie sind die drei Ebenen jeweils gestaltet? Es beginnt auf der Handlungsebene mit der Enthüllung der Maschine, die unter einem Tuch verborgen ist. Zu sehen ist der glänzende Metallkessel, auf dem das Licht reflektiert wird. Der Einsatz der Lichtreflexe auf dem Kessel der Maschine ist ein Gestaltungselement, das sich durch die gesamte Sequenz zieht und das zur Ästhetisierung und Überhöhung des Objekts eingesetzt wird. Die erste Einstellung, in der die Maschine zu sehen ist (0:05), fokussiert allein auf diese Lichtreflexe und arbeitet mit dem Mittel der Unschärfe. Es entsteht der Eindruck, von dem glänzenden Metall und seiner Helligkeit »geblendet« zu sein. Erst allmählich stellt die Kamera die richtige Schärfe ein, so dass der Kessel der Maschine klar zu sehen ist. So wiederum entsteht der Eindruck, dass sich das Auge an den Glanz der Maschine »gewöhnt« habe. Das helle Lichtspiel auf dem glänzenden Kessel weist der Maschine einen hohen Wert zu, und der filmtechnische Einsatz des Lichts zur Einführung der Maschine hebt die Einstellung besonders hervor (Emphase). Darüber hinaus ist interessant, wie der Akt der Enthüllung der Maschine filmisch umgesetzt wird: Das Abdecken des Tuches durch einen Bauern wird mehrfach in gleicher Weise wiederholt, ohne auf die Logik der Bewegungsabfolge zu achten. Vielmehr geht es um die Verstärkung der Wirkung durch eine dreimalige Repetitio der gleichen kurzen Einstellung mit einer Dauer von unter einer Sekunde (0:13–0:16). Auf diese Eingangsszene folgt nun der Test der Maschine. In der Inszenierung wird mit dem Mittel der Synekdoche gearbeitet, die Teile der Maschine zeigt, die für den ganzen Apparat stehen. Hier wird die Darstellung zunehmend dynamisch (ab 01:30): Werden anfangs der statische Kessel sowie die langsamen Zahnräder gezeigt, die den beginnenden Betrieb der Maschine visualisieren, so treten nach und nach Einstellungen des rotierenden Inneren der Maschine in den Vordergrund. Die starke Rotation wird durch einen speziellen Einsatz des Lichts (als Highlights oder Oberlicht) noch betont. Diese dynamischen Einstellungen vom Betrieb der Maschine stehen im Kontrast zu den statisch wirkenden Großaufnahmen der Gesichter der Bäuerinnen und Bauern. Sie dokumentieren ihre Ablehung gegenüber der neuen Technologie 56. Die Zeitangaben beziehen sich auf die Zeitleiste im Notationsproto-
koll. Sie werden künftig in Klammern in Minuten angegeben.
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durch einen skeptischen Gesichtsausdruck. An dieser Stelle (01:34– 01:40) taucht das Motiv der Bäuerinnen und Bauern zum ersten Mal auf, und zwar als eine Montage einzelner Großaufnahmen der Gesichter im kurzen Abstand (pro Einstellung etwa 2 sec.). Dieses Motiv basiert auf einer Variation der Gesichter, die bei jeder Wiederholung des Motivs in ähnlicher Reihenfolge in kürzer werdenden Abständen gezeigt werden. Bedeutsam sind dabei nicht die einzelnen Protagonisten, sondern vielmehr die Typen, die für die Menge der Bäuerinnen und Bauern und für deren Reaktionen auf die Neuerungen der Technik stehen. Die Einstellungen sind rhythmisch in gleicher Dauer hintereinander montiert und bilden zusammen eine Figur, die sich in der gesamten Sequenz acht Mal wiederfindet. Der Betrieb der Maschine wird nun mit steigender Intensität inszeniert, wobei jeweils die Reaktionen der Umstehenden kontrastierend montiert werden. Ihr Erfolg scheint sich zunächst recht bald einzustellen, was durch die Reaktionen auf den Gesichtern (Lächeln) sowie durch den Zwischentitel »Sie wird sämig« angezeigt wird (02:25). Hier jedoch setzt ein retardierendes Moment ein, ein Moment des Zweifels (02:32– 03:06). Angezeigt durch den Zwischentitel »Oder?« und die zweifelnden Gesichter der Umstehenden, führt dieser Moment zu einer Steigerung der Spannung. Um dies zu erreichen, werden Großaufnahmen der Maschine im Betrieb in schneller Folge hintereinander montiert (ab 03:06). Hier kommt die Figur des Polyptoton der Perspektive verstärkt zum Einsatz wie auch die Repetitio derselben Einstellungen. Die dynamische Steigerung der Geschwindigkeit realisiert sich als Klimax. Um eine weitere Intensivierung zu erreichen, ist nun der erste Ebenenwechsel zu beobachten: Zur Steigerung des pathos wird auf der Bildebene eine sexuelle Konnotation geschaffen (ab 03:55), die durch Bildsymbole von hochschießenden Wasserfontänen und Bilder von spritzender Sahne realisiert wird. Auf der Handlungsebene zeigt sich an dieser Stelle der Erfolg der Maschine dadurch, dass aus den Hähnen sämige Milch fließt, worauf die Bäuerinnen und Bauern mit Freude und Begeisterung reagieren, die sich bis zur Ekstase steigert. Aus den Hähnen der Maschine spritzt die Sahne auf die Protagonistin Marfa, die daraufhin ekstatisch zu lächeln beginnt. Die phallische Dimension der »Milchhähne« und die Parallele zu einem pornografischen »CumShot« sind erstaunlich offensichtlich. Diese erotische Semantisierung wird zur affektiven Steigerung eingesetzt, die den Zustand der Ekstase beim Publikum hervorrufen soll. Diese Ekstase gipfelt in der erotischen 183
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Überhöhung in dem Moment, indem es gleichsam zu einer körperlichen Vereinigung zwischen Mensch und Maschine kommt, in der der Siegeszug in einer Gefühlsentladung kulminiert, die Marfa gleichsam zur Braut der Maschine stilisiert. Der zweite Ebenensprung folgt kurz darauf. Es werden abstrakte Symbolbilder in Form von Zahlen eingesetzt, die sich mit der vorigen Ebene zu überblenden scheinen und sich zwischen die Bilder der Wasserfontänen schieben. Auf diese Weise wird eine weitere Überhöhung der Sequenz auf abstrakter Ebene erreicht, die zum einen metaphorischer, zum anderen metonymischer Art ist. Die hochspritzenden Wasserfontänen fungieren als Metapher für den Erfolg der Maschine. Sie symbolisieren die Dynamik der nun sämigen Milch, die aus der Maschine kommt, und stehen für das Wachstum des Kollektivs sowie für die Kraft, die von dieser Bewegung ausgeht. Metonymisch wirken die Zahlen, die in kurzem Abstand mit steigendem Wert hintereinander montiert werden, da sie den Zuwachs des Kollektivs und letztlich den Erfolg metonymisch anzeigen. Mit jedem neuen Mitglied, so die visuelle Argumentation, breitet sich der Erfolg der Modernisierung aus. Dieser Erfolg wird in der letzten Einstellung durch den Zwischentitel »Die Genossenschaft funktioniert...« verbal konkretisiert. Beim Aufbau der Sequenz ist insgesamt auffällig, dass sich die Darstellung der Hauptmotive unterschiedlich verteilt. Im ersten Drittel der Sequenz wechseln sich Einstellungen von »Marfa mit der Maschine« mit Einstellungen von Teilen der Maschine ab (Synekdoche). Im zweiten Drittel (02:00–04:00) folgen nur noch zwei Einstellungen, in denen Marfa zusammen mit der Maschine zu sehen ist. Stattdessen dominiert die Kontrastmontage von Groß- und Nahaufnahmen der Maschine und der Gesichter der Bäuerinnen und Bauern. Der Konflikt zwischen beiden Motiven wird durch diese Art der Inszenierung hervorgehoben. Darüber hinaus werden die Einstellungen der Maschine in immer kürzerer Frequenz hintereinander montiert und zeichnen sich durch eine innerbildliche Dynamik aus (03:10–03:30). Die einzelnen Einstellungen wiederholen sich häufig (Repetitio). Im letzten Drittel der Sequenz (04:00–05.30) taucht das Motiv von Marfa an der Maschine wieder dominant auf (fünf Mal) und wird zum einen mit der Figur der Gesichter in Großaufnahme kombiniert. Zum anderen, zum Ende der Sequenz hin mit steigender Häufigkeit, werden zu diesem Motiv symbolische Einstellungen kombiniert. In diesem Bereich ist gleichzeitig eine extreme Steigerung der Schnittfrequenz zu beobachten (zum Teil fünf 184
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Schnitte/sec.). Auf diese Weise wird die Klimax der gesamten Sequenz erreicht. Das zugrunde liegende, formal strenge Kompositionsschema der Sequenz ist im visuellen Protokoll deutlich nachzuvollziehen. Der Eindruck einer rhythmischen Montage entsteht durch die strenge Taktung, die bei der Schnittfrequenz eingehalten wird: Immer im selben Rhythmus folgt eine Einstellung auf die nächste, das Gesicht des einen Bauern auf das folgende. Die starke Affektwirkung beruht insgesamt auf der Vielzahl der rhetorischen Mittel, die zum Einsatz kommen und die sich zu einem dichten Geflecht der Stimuli verknüpfen. Die dynamischen Aufnahmen der Maschine in ihrer schnellen Bewegung mit den glitzernden Lichteffekten, die Affektbilder der Gesichter in Großaufnahme, die immer wiederkehren, dann die Steigerung zur implizierten erotischen Ekstase bis hin zur extrem schnellen Schnittfrequenz der Zahlenbilder am Ende, die sich vollkommen von der Handlungsebene zu lösen scheint, sind Mittel der rhetorischen Komposition, die auf eine bewusst und streng kalkulierte Wirkungsintention eines Rhetors schließen lassen. Dadurch, dass das Publikum von heute jedoch Metaphern wie die der hochspritzenden Fontänen bereits kennt und sogar ihre ironische Brechung bereits in vielen Filmen vollzogen wurde, verliert die Szene heute einiges von ihrer Affektwirkung. Das filmerfahrene Publikum von heute wird mit dieser Inszenierung nicht mehr angemessen adressiert. Die formale Komposition der Motive und die Dynamik der Montage bleiben jedoch auch aus heutiger Sicht beeindruckend.
4.2.3. Die Frauen von Odessa Das Gesicht in Großaufnahme ist ein Stilmittel, das in den Filmen Eisensteins häufig angewendet wird, um Affekte zu produzieren. So haben wir es am Beispiel der Gesichterfolge der »Milchseparator-Sequenz« (Die Generallinie) gesehen und werden es noch in der Auseinandersetzung zwischen dem Direktorat und dem Arbeiter in Streik nachvollziehen können. Zunächst geht es nun um die stark affektgeladenen Großaufnahmen der Gesichter der Frauen, die bei dem Massaker auf der Freitreppe in Odessa getötet werden (Panzerkreuzer Potemkin) – Aufnahmen, die zu vielzitierten Bildsymbolen wurden und sich in das visuelle Gedächtnis des Kinos einschrieben. Die Augen weit aufgerissen, den Mund zum stummen Schrei verzerrt, sie schreit, sie schreit – und sinkt sterbend zu Boden. In den Beispielen des Panzerkreuzer Potemkin beruht die Affektwirkung der Ge185
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
sichtsdarstellungen besonders auf der Wiederholung der Bilder (Repetitio und Paronomasie). Sie zeigen das intensive Leiden in Großaufnahme immer wieder und »hämmern« sich auf diese Weise in das Gedächtnis des Publikums ein. In der untersuchten Sequenz geht es um die Darstellung eines Massakers, das zaristische Truppen an der Bevölkerung von Odessa verüben. Hintergrund dafür ist, dass sich die Bevölkerung mit den aufständischen Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin solidarisiert und sie mit Lebensmitteln unterstützt. Es wird gezeigt, wie die Matrosen des Panzerkreuzers auf der Freitreppe von vielen Menschen freudig begrüßt werden, man winkt dem Schiff zu. Diese Szenerie, die von Frauen und Kindern dominiert wird, findet ein jähes Ende, als plötzlich die Soldaten am Kopf der Treppe aufmarschieren und die nun fliehende Bevölkerung unter Beschuss nimmt. Die Menschen fliehen die Treppe abwärts, wobei viele getötet werden und auf den Stufen liegen bleiben. Währenddessen marschieren die Soldaten rhythmisch die Treppe herunter und bilden eine Reihe. Beendet wird das Massaker dadurch, dass der Panzerkreuzer seine Bordkanone einsetzt und so die Truppen stoppt. In der folgenden Analyse 57 geht es speziell um die erste Frauenfigur, die aus der Masse hervortritt und in Großaufnahme zu sehen ist: eine Mutter, deren Sohn von den Schüssen der Soldaten getötet wird. Ich ziehe zwei unterschiedliche Schnittfassungen der Sequenz mit unterschiedlichen Filmmusiken heran, um daran deutlich zu machen, welch unterschiedliche Wirkung aus divergierenden rhetorischen Kompositionen der gleichen Sequenz resultiert. Es geht zum einen um die 1986 von Enno Patalas und Lothar Prox erstellte Restaurierung des Films mit der neu bearbeiteten Musik von Edmund Meisel und zum 57. Ich beziehe mich in der Analyse auf einen Teil der gesamten Treppensequenz und fokussiere eine Frauenfigur. Die gesamte Sequenz und ihre rhetorische Struktur im Überblick beschreibt Klaus Kanzog (Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik, S. 101ff.). Kanzog hält dabei interessante Beobachtungen zu KlimaxStrukturen und zur rhythmischen Montage fest. Problematisch ist jedoch die enge Analogie zwischen filmischer Rhetorik und verbalsprachlicher, die Kanzog auch hier betont. Daraus resultiert seine Benennung rhetorischer Figuren der Anapher und Epipher im Film, die ich aufgrund der fehlenden Analogie zwischen einem Satz und einer filmischen Einstellung oder Szene für schwierig halte. Ich würde in diesem Kontext eher von Figuren der Wiederholung sprechen, die sich nicht auf den Anfang bzw. das Ende einer Satzstruktur beziehen.
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zweiten um die 1950 von Studio Mosfilm erstellte Fassung mit der Musik von Nikolai Krjukow. Die Schnittfolge beider Versionen unterscheidet sich stark voneinander, da in der Fassung von 1950 durch Zensur einige zentrale Einstellungen bei der Konfrontation von Mutter und Sohn wie bei der Konfrontation von Mutter und Soldaten fehlen. Auf die Auswirkungen dieser Kürzungen und des Umschnitts gehe ich in der Analyse ein, wobei das Notationsprotokoll dazu wichtige Einsichten in die zeitliche und motivische Komposition der jeweiligen Sequenz gibt. In den Protokollen lässt sich visuell gegenüberstellen, wo Einstellungen herausgeschnitten wurden und wo es aufgrund dieser Kürzungen zu Fehlern in der rhetorischen Komposition kommt, zu mangelnden Übereinstimmungen zwischen Bild und Ton und zu Brüchen in der Darstellungslogik. Zudem spielt in den beiden Versionen die unterschiedliche Vertonung für die Bildwirkung eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund habe ich im Notationsprotokoll die Struktur der Filmmusik festgehalten, um sie in Bezug auf die Bildebene darzustellen. Die Auswahl dieser Figur für die Analyse findet in der Dichte ihrer Inszenierung ihre Begründung. Gezeigt wird die Reaktion einer Mutter auf die schwere Verletzung ihres kleinen Sohnes. Er wird von den Kugeln der Regierungstruppen angeschossen und bricht auf den Treppenstufen zusammen, wo er von den panisch fliehenden Menschenmassen überrannt und getötet wird. Die Mutter sieht diesen Vorgang und zeigt höchste Verzweiflung. Sie eilt zu ihrem Kind und nimmt es auf die Arme. Die für die Analyse ausgewählte Szene beginnt mit der Einstellung, in der Mutter und Sohn gemeinsam die Treppe hinab fliehen, bevor der Schuss fällt, der den Sohn trifft. Sie endet mit der Einstellung der Mutter, die ihren toten Sohn auf den Armen trägt und sich den Truppen entgegen wendet.58 Zu der Szene sind zunächst einige generelle Beobachtungen anzuführen. Bei der Detailanalyse wird am Protokoll deutlich, dass es sich wie bereits bei der »Milchseparator-Sequenz« bei der Montage um einen regelhaften Wechsel von drei Motiven handelt: der Mutter, des Sohnes und der fliehenden Massen auf der Freitreppe. Diese Motive werden kontrastierend montiert, wobei sich zwei Arten von Kontrasten er58. Ich schließe die Analyse an dem Punkt ab, weil in der folgenden Einstellung eine neue Figurengruppe und damit ein neues Motiv auftaucht. Die nachfolgende Szene zeigt die Konfrontation der Mutter mit den Truppen und endet mit dem Tod von Mutter und Sohn (siehe Notationsprotokoll online).
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geben: zwischen Individuum und Masse und zwischen Dynamik und Statik. Im weiteren Verlauf der Sequenz, in dem sich die Mutter gegen die Truppen wendet, kommt eine weitere Art des Kontrastes hinzu: der Kontrast der Bewegungsrichtungen. Wir beobachten in der kurzen Szene, die besonders die Reaktion der Mutter hervorhebt, eine hohe Dichte rhetorischer Mittel, die zur Steigerung der affektiven Wirkung herangezogen werden. Die Großaufnahmen ihres Gesichts werden in einer rhythmischen Wiederholung montiert (Repetitio), wobei die Reihe in ihrer Intensität von Einstellung zu Einstellung gesteigert wird (Klimax). Im regelhaften Wechsel dazu, als Schuss-Gegenschuss-Montage, ist ihr Kind auf den Stufen der Treppe zu sehen – beide jeweils in Groß- oder Nahaufnahme. Auch diese Einstellungen werden wiederholt und in ansteigender Intensität montiert. Es ergibt sich insgesamt ein Muster aus zwei Reihen repetierter Einstellungen in steigender Intensität, die jeweils quasi um ein Bild verschoben werden, das Wechselspiel zweier Motive, das sich wie ein jeweils ansteigender Akkord im Kontrast zum nächsten Akkord aneinander reiht und sich gegenseitig überhöht. Ausschlaggebend für die Wirkung ist besonders die Aufteilung in kürzeste Einstellungen: Die Reaktion der Mutter wird nicht in einem durchgehenden Schuss gezeigt, sondern in Momentaufnahmen von ein bis zwei Sekunden. Die Verzweiflung, die sich in ihrer Miene widerspiegelt, ist so nur schlaglichtartig zu sehen. Die Affizierung wird durch physische Anzeichen wie den zum Schrei geöffneten Mund, die erhobenen Hände und das Raufen der Haare dargestellt. Hier zeigt sich eine expressive Form des pathos dadurch, dass die Protagonistin in einem Zustand des höchsten Schmerzempfindens gezeigt wird. Die intensive Wirkung resultiert darüber hinaus aus der rhythmischen Wiederholung dieser affektstarken Bilder: Die Konfrontation der Mutter mit der Tatsache, dass ihr Sohn stirbt, wird dem Publikum in variierter Form fünf Mal gezeigt. Dabei steigert sich nach und nach die Stärke der Affizierung der Mutter, von der Großaufnahme ihrer ersten Reaktion, als sie wahrnimmt, dass ihr Sohn auf den Stufen zusammengebrochen ist, bis hin zur Erkenntnis, dass er stirbt, eine Erkenntnis, die sich durch aufgerissene Augen, den zum Schrei geöffneten Mund und das Raufen der Haare in Nahaufnahme zeigt. Dass es sich dabei um keine »reine« Wiederholung handelt, sondern um eine Variation, um ein stetiges Voranschreiten der Aufnahme, hängt mit der Dynamik des Mediums zusammen, und zwar mit der Bewegung des Films im Sinne Deleuze’. Es ist keine Repetitio statischer 188
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Bilder, sondern diese Figur basiert auf der Dekonstruktion der Einstellung im wörtlichen Sinne: aus ihrer Destruktion in Fragmente einer Affektdarstellung, um diese Fragmente wiederum zu einer neuen Konstruktion zusammenzufügen, und diese Konstruktion ist durchsetzt mit dem Bild gegenüber, Mutter, Sohn, Mutter, Sohn. Ihre Einheit wird zerschnitten, und dieser Schnitt wird wiederholt. Die Trennung von Mutter und Sohn findet sich in dieser formalen Konstruktion wieder, und so wird das pathos sowohl auf der Formebene als auch auf der Darstellungsebene inszeniert. So wird nicht die ungeschnittene Darstellung der Reaktion der Mutter gezeigt, die vielleicht sechs Sekunden dauern würde, sondern durch das Mittel der Kontrastmontage und durch die Figur der Klimax wird die Wirkung der Einstellungen gesteigert. Die intensive Affektwirkung basiert hier also zusätzlich auf den syntaktischen Mitteln der Filmgestaltung. Das Motiv des Sohnes wird im Gegensatz dazu nicht als eine sich intensivierende Reihe montiert, vielmehr ist er nur anfangs in einer Großaufnahme zu sehen. Im weiteren Verlauf wird sein auf der Treppe liegender Körper nur in Teilen gezeigt (pars pro toto): seine Hand, auf die eine Figur aus der fliehenden Masse mit dem Fuß tritt, oder sein Rumpf, über den eine andere Figur hinübersteigt. In diesen Einstellungen wird metonymisch dargestellt, wie der Körper des Jungen durch die Fliehenden getötet wird. Dieser Inhalt wird in unterschiedlichen Variationen inszeniert, ohne dabei eine wesentliche Steigerung zu erfahren. Das Bildmotiv der leidenden Frau wird hier zum visuellen Topos der Opferfrau, der die höchste Affektstufe auslöst. Der topische Kern beinhaltet zum einen die Semantisierung der Frau als schwaches Geschlecht, das unschuldig zum Opfer von Gewalt wird. Zum anderen ist daran die Tradition der Darstellung weiblichen Leidens und weiblicher Ekstase geknüpft. Darüber hinaus ist diese leidende Frau Mutter, wodurch weitere Assoziationen geweckt werden, die für die Affektwirkung der Szene wichtig sind. Das Motiv der Mutter im Angesicht ihres sterbenden Sohnes ist ein Topos, der eine kulturell etablierte, starke Affektwirkung hervorruft. Er liegt dem Motiv der Pietà zugrunde, der Mutter Gottes, die ihren toten Sohn betrauert. Damit knüpft das Motiv an einen traditionsreichen, christlich besetzten Topos an, der durch seine Verbreitung und Gestaltung seine starke Wirkung entfaltet. Die Parallele zwischen der Mutterfigur des Panzerkreuzer Potemkin und der Pietà ist jedoch nicht nur motivisch zu ziehen, sondern hier scheint es auch eine direkte visuelle 189
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Standbilder aus Panzerkreuzer Potemkin, die Sequenz auf der Freitreppe von Odessa, Figur der ansteigenden Wiederholung (Klimax).
Bezugnahme zu diesem Motiv zu geben. Auf der ikonografischen Ebene ist eine Verbindung zwischen der Darstellung der Mutter, die ihren toten Sohn auf den Armen den Truppen entgegen trägt, und der Gottesmutter, die ihren toten Sohn in den Armen hält, zu ziehen. Deutlich wird dies am Beispiel der Darstellung der Pietà von Michelangelo, aber auch anhand anderer Darstellungen der Gottesmutter, die ihren toten Sohn betrauert.59 Die im Sinne der Evidenzia »augenscheinlichen« Parallelen zwischen der Inszenierung der Mutterfigur im Film und der Figurengruppe von Mutter und Sohn in der Skulptur Michelangelos beziehen sich auf die Körperhaltung und die Position der Figuren. Hier ist eine motivische Überblendung der Figurenkonstellation »Mutter – Sohn« mit christlich-mythologischen Bedeutungen zu beobachten. Die Mutter in Panzerkreuzer Potemkin hebt ihren schwer verletzten Sohn von den Treppenstufen auf und ist in dieser Körperhaltung und Konstellation als eine Anlehnung an den visuellen Topos der Pietà zu sehen. Sie verharrt nun jedoch nicht in ihrer Trauer, den Sohn in den Armen bergend, wie es die Figur der Pietà suggeriert. Vielmehr hebt sie ihren Sohn anklagend gegen die Truppen empor, wendet sich gegen sie, geht – im wahrsten Sinne des Wortes – gegen die Truppen an. Dadurch wird sie zu einem Sinnbild des Widerstandes. Der leblose Körper ihres Kindes in ihren Armen wird zu einem Zeichen der Anklage. Die Figur erfährt so eine Umdeutung im ideologischen Sinne: von der Gottesmutter, die passiv ihren toten Sohn betrauert, zur revolutionären Frau, die anklagend gegen die Macht anschreitet. 59. Vgl. u. a. Sandro Botticelli: La Pietà, 1500; Bellini: Pietà Beweinung Christi, 1460, Tempera auf Holztafel, 60 x 107 cm, Pinacoteca di Brera, Mailand; vgl. auch eine zeitgenössische Darstellung: Marina Abramovic: Pietà, Color Cibachrome, 178,8 x 178,8 cm, 1993.
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Mutter, die ihren schwer verletzten Sohn
Michelangelo: Pietà, ca. 1499,
trägt (Panzerkreuzer Potemkin, Sequenz auf
174 x 195 cm, Petersdom, Vatikan.
der Freitreppe in Odessa).
Der Blick der Mutterfigur des Films ist in der abgebildeten Einstellung nicht trauernd nach unten gerichtet, wie es in der Skulptur der Pietà zu sehen ist. Vielmehr blickt die Figur direkt in die Kamera und damit zum Betrachter. Die Anklage, die sie mit der Präsentation des leblosen Körpers ihres Sohnes stumm formuliert, richtet sich so direkt an das Filmpublikum, das implizit zur Handlung aufgefordert wird. Die ideologische Botschaft, die sich als Aufruf zu revolutionärer Agitation gestaltet, wird durch die Parallele zum christlich geprägten Topos der Pietà semantisch überhöht. So wird die affektive Wirkung des Topos durch dieses Bild gleichsam »abgerufen« und für die neue Argumentation funktionalisiert. Ein Teil der starken Affektwirkung der Sequenz ist damit auf das Motiv der Mutter zurückzuführen. Wie diese Wirkung jedoch durch unterschiedliche rhetorische Kompositionen verstärkt oder aber abgeschwächt wird, zeigt die Analyse der beiden Schnittfassungen der Sequenz deutlich.60 Bereits ab der vierten Einstellung im Notationsprotokoll werden die Szenen unterschiedlich montiert. Die beiden Fassun60. Als »erste Fassung« bezeichne ich die 1986 von Enno Patalas und Lo-
thar Prox erstellte Restaurierung des Films mit der Musik von Edmund Meisel, als »zweite Fassung« die 1950 von Studio Mosfilm erstellte Fassung mit der Musik von Nikolai Krjukow. Ich folge also nicht einer chronologischen Nennung, sondern vielmehr beziehe ich mich mit der »ersten Fassung« auf die nach heutigen Kriterien der Filmrestauration relevante Version, die sich dicht an der ursprünglichen Konzeption von Eisenstein orientiert.
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Standbilder aus Panzerkreuzer Potemkin, Fassung von Studio Mosfilm, 1950: Wiederholung der gleichen Einstellung.
gen divergieren also bereits zu Beginn der Szene, was sich zunächst am auffälligsten darin zeigt, dass die Großaufnahmen des verletzten Kindes auf den Treppenstufen in der zweiten Fassung komplett entfallen. Das führt in der zweiten Fassung zu einem irritierenden Moment: Einstellung vier und fünf zeigen exakt das gleiche Bild. Zu sehen ist die Mutter, die zwei Mal hintereinander dasselbe Stück Treppe hinunter läuft. Die Bewegung wird also nicht fortgeführt, sondern schlicht wiederholt. Ich vermute, dies kommt dadurch zustande, dass in der ursprünglichen Fassung von Eisenstein, an der sich die Patalas/Prox-Fassung orientiert, eine Großaufnahme des Kindes zwischengeschnitten wurde. Das Weglassen dieses Zwischenschnitts verursacht nun eine unlogische Handlung und wird vom Rezipienten als Irritation oder gar als »Fehler« wahrgenommen. Durch diese Irritation wird besonders deutlich, wie stark die Filmwirkung von der Montage abhängig ist. Die unterschiedlichen Versionen, die im Beispiel durch Filmzensur entstanden sind, können demnach die Wirkungsintentionalität des ursprünglichen Rhetors unterlaufen. Um eine genaue Untersuchung vorzunehmen, muss also jeweils auf den Entstehungszusammenhang der Filmversion rekurriert werden. Die ursprüngliche Konzeption einer starken Affektwirkung durch die Mittel der Kontrastmontage, wie wir sie in der Version von Patalas/Prox rekonstruiert sehen, wird in der Mosfilm-Version unterlaufen. Zu beobachten ist eine Anti-Rhetorik, ein »stumpfer Sinn« in der Terminologie von Barthes,61 der wie eine Störung im Fluss des Films wirkt. Die Figur der Mutter, die zwei Mal die Bewegung vollführt, wird zu einem »Sprung« im Film. In der heu61. Vgl. Barthes: Der dritte Sinn; vgl. dazu Kapitel 3.1.3.
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tigen Lesart wäre dieser »Sprung« ein Mittel der Stilisierung, die zur Verfremdung eingesetzt wird. Die kurze Dauer der Einstellung (die Wiederholung dauert insgesamt vier Sekunden) lässt jedoch im situativen Rezeptionszusammenhang eine weitere Interpretation der Wiederholung kaum zu, vielmehr bleibt ein kurzer Moment der Irritation haften, dessen Ursprung nicht auf den ersten Blick deutlich wird. Diese Irritation ist jedoch der affektiven Wirkung der Szene abträglich, weil der filmische »Realitätseffekt«, wie Siegfried Kracauer ihn nennt, unterbrochen wird. Die ausgesparten Aufnahmen des Kindes, durch die der »Fehler« der zweiten Fassung entsteht, führen zu weiteren Unterschieden: Während in der ersten Fassung ein regelhafter Wechsel zwischen dem Motiv der Mutter und dem des Sohnes montiert wird, ist in der zweiten Fassung ein regelhafter Wechsel zwischen dem Motiv der Mutter und dem der fliehenden Masse auf der Treppe zu sehen. Funktioniert im ersten Fall eine Schuss-Gegenschuss-Montage, die anzeigt, wie die Mutter die Verletzung des Sohnes beobachtet, ist im zweiten Fall die Filmkonvention von Schuss und Gegenschuss gebrochen. Man sieht die affektstarke Reaktion der Mutter als »Schuss«, der Gegenschuss zeigt jedoch nicht das, was sie sieht (ihren Sohn), sondern die Massen auf der Treppe. Von der Filmkonvention ausgehend ist hier ein zweites Mal eine unlogische Verknüpfung zu beobachten. In der Umsetzung der ersten Fassung dominieren die Großaufnahmen, die von wenigen Aufnahmen in der Totale (Motiv der Massen auf der Treppe) unterbrochen werden. Der Fokus der Szene liegt auf den nahen Einstellungen von Mutter und Sohn. In der zweiten Fassung dagegen ist ein häufiger Wechsel zwischen Großaufnahme und Totale montiert. Der Konflikt von Mutter und Sohn spielt nicht mehr die tragende Rolle, vielmehr wird die Mutter als Individuum gegen die fliehende Masse kontrastiert. Dabei wird die Motivation ihrer starken Affekt-Reaktion weit weniger deutlich herausgestellt, als es in der ersten Version der Fall ist. In der ersten Fassung ist insgesamt ein dramaturgischer Spannungsaufbau zu beobachten, der durch die rhetorischen Figuren der Klimax, der Repetitio, der Variation des Motivs und des Polyptotons der Perspektive unterstützt wird. Die rhythmische Montage steigert sich in ihrer Intensität durch zunehmende Schnittfrequenz und Fokussierung und erreicht einen ersten Höhepunkt in der letzten nahen Einstellung der Mutter (Zeit: 0:30, Einstellung 20, 1. Fassung). Diese Figur wird in stärker werdender emotionaler Erregung gezeigt, deren Entwicklung 193
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sich sich über etwa 20 Sekunden erstreckt. Auf diese Weise entsteht eine Affektstruktur des pathos, deren Wirkung durch die rhythmische Filmmusik noch unterstützt wird. Die zweite Fassung arbeitet weniger mit klaren Montagefiguren als das erste Beispiel. Die vorhandenen Wiederholungsfiguren wirken darüber hinaus zum Teil unmotiviert. Die Entwicklung des Motivs der Mutter ist in dieser Version nicht als eine sich klar steigernde Reihe, als Klimax, montiert, sondern es handelt sich mehr um eine Montage von Variationen dieses Motivs, das nur anfangs eine Steigerung erfährt. Dominierend für die Bildwirkung ist hier die Kontrastierung der eher statischen Aufnahmen der Mutter gegen die dynamischen Aufnahmen, die die fliehenden Massen zeigen. Die musikalische Begleitung trägt auch hier in hohem Maße zur Wirkung der Sequenz insgesamt bei, jedoch unterstützt die Vertonung die Szene jeweils in unterschiedlicher Weise: in der ersten Fassung mittels einer starken Rhythmisierung durch den Einsatz von Schlagwerk (alle 0,5 sec. ist ein Paukenschlag zu hören), in der zweiten Fassung durch eine melodiöse Untermalung der Szene, die nur teilweise mit einer rhythmischen Unterstützung der Montage arbeitet. In der ersten Fassung ist anhand des Notationsprotokolls deutlich zu ersehen, dass sich Bildschnitt und Rhythmus aneinander orientieren, so dass ausgewählte Einstellungen durch eine Übereinstimmung von Schnitt und Takt der Musik (Komplementarität) verstärkt werden. Einige Einstellungen sind exakt auf Takt geschnitten und werden durch einen Paukenschlag betont, wie beispielsweise Einstellungen sechs und acht. Diese Komplementarität findet sich insbesondere vor den affektstarken Aufnahmen der Mutter, was an der zeitlichen Parallele von Schnitt und Rhythmus der Musik im Protokoll deutlich wird. Mit dieser Übereinstimmung von Bildschnitt und Takt wird die Figur der Emphase als eine Hervorhebung der jeweiligen Einstellung fünf Mal realisiert. Eine solche Parallele ist darüber hinaus auch im Hinblick auf bestimmte Bildmotive zu beobachten. So ergibt sich beispielsweise eine onomatopoetische Wirkung, wenn eine Salve von Schüssen aus den Gewehren der Soldaten zu sehen ist und gleichzeitig ein Paukenschlag ertönt (2. Einstellung, 1. Fassung im Filmprotokoll). Durch die Kongruenz der auditiven und der visuellen Spur ergibt sich ebenfalls eine Emphase. Das gleiche Stilmittel ist zu beobachten, wenn in der ersten Fassung ein Fußtritt auf den Körper des Jungen zu sehen ist und ein Paukenschlag erklingt. Dieser Paukenschlag hat in diesem Beispiel eine illustrierende Funktion. 194
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Über die dominante Wirkung des Rhythmus in der ersten Fassung hinaus sind musikalische Elemente zu beobachten, die die Wirkung der Bildebene unterstützen. Zunächst werden ab der dritten Einstellung, in der das verletzte Kind auf der Treppe liegend zu sehen ist, Geigen eingesetzt, die durch ihre hohe Frequenz die Affektwirkung der Einstellungen unterstützen. Das Motiv der Geigen wird im Verlauf der Sequenz mehrfach wiederholt, um im zweiten Teil durch eine einsetzende Melodie und durch Bläser zurückgenommen zu werden. Der Höhepunkt der Filmmusik ist in der ersten Fassung etwa bei 0:24 erreicht, wonach die Tonhöhe abnimmt. So wird die affektive Reaktion der Mutter auf ihr getötetes Kind besonders hervorgehoben. Die Filmmusik der zweiten Fassung ist durch das wiederkehrende Motiv tiefer Bläser charakterisiert. Sie werden von tiefen Streichern begleitet, die die Musik im Vergleich zur ersten Fassung insgesamt ruhiger und dunkler wirken lässt. Pauken geben hier ebenfalls den Rhythmus vor, sie werden jedoch nicht durchgängig eingesetzt, sondern betonen lediglich die Einstellungen im letzten Drittel der Szene. Es kommt dabei kaum zu einer Komplementarität zwischen der auditiven und der visuellen Spur, wie es in der ersten Version mehrfach der Fall war. Das Zusammenspiel der beiden Ebenen findet hier in Form einer einfachen Kongruenz von Takt und Schnitt seinen Ausdruck. Emphatisch hervorgehoben wird besonders die erste und zweite Einstellung, die mit dem Einsatz der Pauke in Kombination mit einer Fanfare von Trompeten begleitet wird. Dies ist die einzige Stelle einer audio-visuellen Komplementarität, in der der Schuss der Soldaten, der das Kind tödlich trifft, durch einen Paukenschlag musikalisch unterstützt wird. Die Trompeten übernehmen in diesem Fall die Funktion einer exclamatio und betonen die Bedeutung der Einstellung. Eine zweite Einstellung wird zum Ende der Szene hin musikalisch hervorgehoben, wenn gezeigt wird, wie die Mutter gegen die Soldaten aufbegehrt. Diese Einstellung wird durch den Einsatz hoher Streicher und durch Pauken untermalt. Das revolutionäre pathos soll in in dieser Einstellung durch die auditive Emphase zum Tragen kommen. Es wird insgesamt deutlich, dass die Filmmusiken der beiden Fassungen recht unterschiedliche Akzente setzen: Liegt in der ersten Fassung die Betonung auf der emphatischen Unterstützung der Affektstruktur, die die Mutter zeigt (Mitte der Szene), so betont die zweite Fassung Anfang und Schluss der Szene. Die Filmmusik der ersten Fassung hat einen intensivierenden Charakter, der die rhythmische Montage der 195
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Einstellungen durch die dominanten Paukenschläge betont. Das unaufhaltsame Fortschreiten der Soldaten auf der Treppe, ihre rhythmischen Schritte und die Schüsse werden durch die Paukenschläge hörbar. Die Musik untermalt nicht die Szene, vielmehr addiert sie zusätzliche Dynamik und unterstützt die syntaktische Struktur des Films. In der zweiten Fassung hingegen hat die Musik eher eine begleitende Funktion, die mit melodiösen Elementen arbeitet. Der Einsatz des Rhythmus ist verhaltener als in der ersten Fassung, so dass die Version insgesamt ruhiger wirkt. Die Wirkungsweise der zweiten Version ist weniger affektstark, da es nicht zu einer emphatischen Steigerung der Affektstrukturen durch die Musik kommt, wie es in der ersten Version der Fall ist. Für diesen Vergleich zweier Schnittfassungen war eine visuelle Gegenüberstellung der Notationsprotokolle hilfreich. Mit der Parallelschau lässt sich auf einen Blick vergleichen, an welchen Stellen die Versionen nicht übereinstimmen, welche Einstellungen fehlen oder umgestellt wurden. Dadurch wird deutlich, welche rhetorische Komposition hinter der jeweiligen Fassung steht. Das erste Beispiel zeichnet sich durch eine hohe Dichte rhetorischer Figuren und eine hohe Komplementarität der auditiven und visuellen Spuren aus. Die zweite Fassung hingegen ist aus rhetorischer Perspektive von Fehlern und Verstößen gegen das decorum geprägt, die der Affektwirkung der Sequenz abträglich sind. Anhand der Protokolle konnten die rekonstruierten Schnittfassungen auch nach rhetorischen Kriterien überprüft und bewertet werden.
4.2.3.1. Die Wiederkehr der Frauen von Odessa In der gesamten Treppensequenz in Odessa tauchen insgesamt vier hervorgehobene Frauenfiguren auf, deren Tod durch Schüsse der Soldaten gezeigt wird. Den zugrunde liegenden Topos habe ich als Topos der Opferfrau bezeichnet. Aus dieser Gruppe sticht neben der Pietà-Figur besonders eine Mutter einem Kinderwagen heraus, die sterbend zusammenbricht und damit auslöst, dass der Wagen die große Freitreppe von Odessa hinabrast. Diese Szene gilt heute als eine der bekanntesten der Filmgeschichte. In Filmzitaten kehrt sie als eigener Topos in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen wieder. Drei dieser Zitate stelle ich vor, um daran die Wanderbewegungen dieses Topos Eisensteinscher Prägung zu verdeutlichen. Die Zitate verfolgen unterschiedliche Wirkungsabsichten: zum einen wird der Topos zitiert, um einen ähnlichen affektiven Ausdruck zu produzieren, zum zweiten, um eine 196
4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
»Hommage« an einen »Filmklassiker« zu zeigen, oder zum dritten, um den Topos ironisch zu brechen. Leitende Frage ist es, mit welcher Wirkungsabsicht der Topos aufgegriffen wird und welche stilistische Umsetzung und Variation er dabei erfährt. Im ersten Beispiel geht es erneut um den nationalsozialistischen Propagandafilm Ohm Krüger, in dem der Topos der Opferfrau aus Panzerkreuzer Potemkin für die Affektgestaltung eingesetzt wird. Als rhetorisches Mittel zielt sein Einsatz auch in diesem Film auf eine Wirkung des pathos. Jahre nach Entstehung von Eisensteins bekanntestem Werk scheint Ohm Krüger jedoch nicht direkt auf diese Vorlage zu verweisen, sondern vielmehr dessen rhetorische Techniken zur Erzeugung starker Affekte aufzugreifen. An dieser neuerlichen Parallele wird deutlich, dass sich dieser Film mehrfach an den rhetorischen Techniken der Filmgestaltung Eisensteins orientiert. Es handelt sich hier um eine Art Weitergabe einer erfolgreichen rhetorischen Technik, durch die eine Beziehung zwischen den Mitteln des russischen Propagandafilms der 1920er Jahre und denen des deutschen Propagandafilms der späten 1930er und 1940er Jahre entsteht. In Ohm Krüger wird der Topos der Opferfrau an einer signifikanten Stelle des Films aufgegriffen, durch die eine Allegiance beim Adressaten etabliert werden soll. Zu diesem Zweck wird nicht nur die Affektfigur des Panzerkreuzer Potemkin aufgegriffen, sondern, so könnte man pointiert sagen, es wird eine gesamte Szene aus dem berühmten Film kopiert. Es handelt sich um eine Szene in einem Internierungslager, die den Auslöser eines Aufstandes der deutschen Lagerinsassen darstellt. Gezeigt werden deutsche Frauen, die in einem Lager unter sehr schlechten Bedingungen von britischen Truppen festgehalten werden. Der Auslöser von Unruhen ist die Essensausgabe, bei der die Frauen mit Konserven verdorbenen Fleisches versorgt werden. Diese Situation erinnert stark an den Auslöser des Aufstands auf dem Panzerkreuzer Potemkin, bei dem die Matrosen mit verdorbenem Fleisch ernährt werden sollen. Ohm Krüger greift nun nicht nur diese Begründung auf, sondern zeigt eine sehr ähnliche Figur eines Arztes mit Zwicker, der die Lebensmittel begutachten soll. Wie in Eisensteins Vorlage wird dieser Arzt nun von der Kommandantur dazu genötigt, das Fleisch als unbedenklich zu deklarieren. Dies ist der Auslöser der Revolte in beiden Filmen. Die Argumentation läuft in beiden Beispielen ähnlich: Die unmenschlichen Lebensbedingungen, dargestellt durch das Motiv des abstoßenden verdorbenen Fleisches, dienen als Rechtfertigung für die Revolte 197
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Standbilder aus Panzerkreuzer Potemkin, Treppensequenz in Odessa, die Frauenfigur mit Kinderwagen.
Standbilder aus Ohm Krüger: zwei Frauen werden erschossen.
gegen die machthabende Instanz. Die Revolte zeigt sich so als logische Konsequenz aus den Verhältnissen, die die Machthaber zu verschulden haben. Die Zulässigkeit des Aufstandes und seine Berechtigung werden aus der Ausweglosigkeit der Situation der unterdrückten Menschen, der Matrosen bzw. der gefangenen Frauen, begründet. In Ohm Krüger eskaliert die Situation in dem Moment, als eine der Frauen sich offen dem britischen Kommandanten entgegenstellt und daraufhin vor aller Augen erschossen wird. Bei dieser Figur wird nun der Topos der Opferfrau aufgegriffen, um die höchste affektive Wirkung zu erreichen. Auf der visuellen Ebene beschränken sich die Parallelen auf die Attribute der starken Affektion der Frau – der weit aufgerissene Mund, der Schrei, der zurückgeworfene Kopf, wenn die Protagonistin langsam sterbend niedersinkt, sowie auf ihre Inszenierung in Großaufnahme. Die Ähnlichkeiten des Bildausschnitts und des Ausdrucks auf dem Gesicht der Frau sind jedoch signifikant. Und noch ein weiteres Mal taucht dieser Topos im Film auf, und zwar an einer späteren Stelle: bei der Darstellung des heroischen Opfertods eines Ehepaa198
4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
res zum Ende des Films hin. Hier wird die Frauenfigur in der Halbtotalen gezeigt, wie sie von einer Kugel getroffen vor der sie umstehenden Menge niedersinkt. An diesen topischen Parallelen zwischen zwei Propagandafilmen wird deutlich, dass nachfolgende Regisseure von den rhetorischen Techniken Eisensteins profitierten und diese aufgriffen. Die Affektwirkung seiner Motive ist so groß, dass sie in unterschiedlichen Kontexten mit ähnlicher Wirkung importiert werden kann. In diesem Beispiel handelt es sich dabei um eine ähnlich gelagerte Wirkungsintention eines Rhetors. In den folgenden Beispielen verschiebt sich diese Motivation jedoch nach und nach. Das zweite Beispiel einer Wiederholung hat eine ganz andere Funktion. In The Untouchables von 1987 wird die Sequenz insgesamt als filmisches Zitat der Treppensequenz realisiert. Der »final showdown« zwischen Polizei und Gangstern wird auf einer großen Treppe in einem Bahnhof inszeniert, so dass sich hier vom Motiv der Treppe her eine Parallele ergibt. Signifikant wird das Zitat jedoch durch die Inszenierung einer Mutter mit ihrem Kinderwagen, die zwischen die Fronten gerät. In Zeitlupe wird die dramatische Abfahrt des Kinderwagens gezeigt, der von der obersten Treppestufe her abstürzt. Die Szene endet, anders als in seiner Vorlage, mit der Rettung des Kindes. Welche Funktion hat nun dieses filmische Zitat? Anders als im ersten Beispiel realisiert sich die Wiederholung nicht als ein Aufgreifen der rhetorischen Technik, als eine Funktionalisierung einer erfolgreichen Argumentationsweise und Affektstruktur. Vielmehr geht es hier um ein explizites Zitat, das durch das Motiv des Kinderwagens umgesetzt wird. Durch die große Bekanntheit des »Filmklassikers« Panzerkreuzer Potemkin und insbesondere der Treppensequenz entsteht eine eigene Dynamik ihrer Motive. Das Bild des Kinderwagens, der die Treppe hinab stürzt, wird durch seine Verbreitung zu einem eigenen visuellen Topos, unabhängig von seiner rhetorischen Funktionalisierung. Wenn im »showdown« in The Untouchables dieser Topos also aufgegriffen wird, ist eine Überlagerung unterschiedlicher Bedeutungsschichten zu beobachten. Zum einen ist das Bild nach wie vor ein starker Affektauslöser. Darüber legt sich die Bedeutung als filmisches Zitat einer der berühmtesten Sequenzen der Filmgeschichte, die sich durch eine starke pathetische Wirkung auszeichnet. So knüpft das Zitat an die affektstarke Wirkung seiner Vorlage an und ruft ihren Kontext wieder auf. Es entwickelt sich gleichzeitig eine eigene Meta-Ebene des filmischen Verweises. The Untouchables ist 199
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
selbst zu einem erfolgreichen »Hollywood-Klassiker« geworden, der mit diesem Zitat eine »Hommage« an Eisensteins Vorlage präsentiert. Dabei wird das Zitat gleichzeitig zu einer Dokumentation der eigenen filmischen Qualität von The Untouchables eingesetzt, weil damit die Kenntnis der Filmtechniken Eisensteins dokumentiert wird und die Treppensequenz von Odessa damit – implizit – zum Vorbild und auch Vorläufer für die neue Umsetzung wird. Der Regisseur Brian De Palma setzt in seinem Film zudem weitere Zitate ein, unter anderem von Filmen Alfred Hitchcocks, und inszeniert sich selbst so als Filmkenner. Bei der Betrachtung der filmischen Inszenierung der Treppenszene in The Untouchables fällt Folgendes auf: Die Szene wird zu großen Teilen in Zeitlupe umgesetzt und arbeitet oftmals mit der Nah- und Großaufnahme. Auf der auditiven Ebene wird die Filmmusik stark zurückgenommen, es sind als Untermalung teilweise hohe Geigen zu hören. Auditiv dominieren jedoch die Geräusche der Schüsse und des rhythmischen Aufschlagens der Räder des Kinderwagens auf der Treppe. In der Szene kommt insgesamt eine große Anzahl rhetorischer Mittel zum Einsatz, sie wird also im hohen Stil des pathos realisiert. Der starke Kontrast zwischen dem Bild des Kindes im Kinderwagen und den Aufnahmen der brutalen Schießerei zwischen Polizei und Gangstern erhöht die affektstarke Wirkung der Inszenierung. Die Rettung des Kindes am Ende, die den endgültigen Sieg signalisiert, wird auf der auditiven Ebene durch eine Kindermelodie begleitet, die ebenfalls den hohen Stil bedient. Wenn man die Szene aus heutiger Sicht betrachtet, wirkt sie zum Teil überladen und überzogen pathetisch. Die extreme Zeitlupe wie auch die Großaufnahmen der schreienden Mutter legen eine ironische Brechung bereits nahe. Die Choreografie zwischen Polizei und Gangstern ist exakt komponiert, jedoch wohnt gerade dieser Exaktheit zum Teil ein komisches Moment inne. Somit ist ein Umschlagen der affektstarken Wirkung ins Lächerliche zu beobachten. Diese »Anti-Rhetorik« greift der Film Nackte Kanone 33 1/3 auf und verstärkt sie. Damit kommen wir zu dem dritten Beispiel der Wiederholung des Topos-Komplexes der Treppensequenz: das Zitat als ironische Brechung. Gleich die Anfangsszene aus Nackte Kanone 33 1/3 greift die Treppenszene ironisierend auf, und zwar die Treppenszene aus The Untouchables. Damit wird ein doppeltes Zitat realisiert: das Zitat eines Zitats als doppelte Verweisstruktur. Nackte Kanone 33 1/3 zitiert The Untouchables, der wiederum Panzerkreuzer Potemkin zitiert. 200
4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
Standbilder aus Nackte Kanone 33 1/3
Die Ausstattung dieser dritten Szene ist ihrer Vorlage aus The Untouchables sehr ähnlich, es handelt sich folglich um ein enges Zitat, das einzelne Einstellungen exakt kopiert. Der Verweis auf die filmische Vorlage ist in diesem Fall explizit. Die Choreografie der Personen auf der Treppe ist an ihre Vorlage angelehnt, nutzt dabei jedoch das Mittel der Übertreibung, um Komik zu erzeugen. So gibt es in dieser Umsetzung der Szene nicht nur eine Mutter mit einem Kinderwagen, sondern drei. Alle drei Mütter schieben ihre Kinderwagen die Treppe hoch oder hinunter und geraten auch hier zwischen die Fronten der Auseinandersetzung. Die affektstarke Wirkung des Topos der Opferfrau wird in dieser Version also ironisch gebrochen – ihre Darstellung erweckt nicht mehr die Affekte von Zorn und Mitleid, ihre Übertreibung wirkt vielmehr komisch. Der spannungsreiche Moment der Szene, in dem nun vier Kinderwagen gleichzeitig – eine Mutter hat Zwillinge – in Zeitlupe die Treppe abstürzen, treibt die Komik auf die Spitze. Die Szene endet mit der Rettung der Kinder, die einzeln aus ihren Wagen in die Luft geschleudert und aufgefangen werden. Eine weitere Übertreibung erfährt die Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Gangstern. Ähnlich wie das Motiv der Mutter mit dem Kinderwagen werden auch hier viele Personengruppen eingesetzt, die nacheinander, meist schwer bewaffnet und schießend, die Treppe herunter laufen. Elemente der Groteske werden eingesetzt, wenn bekannte Personen wie der Papst und der Präsident der USA die Szene betreten und von dem »Helden« der Szene, dem Polizisten, gerettet werden. Die Absurdität der Szene wird dadurch aufgelöst, dass sie sich schließlich als eine Traumsequenz herausstellt. Am Ende der Szene erwacht der Polizist schweißgebadet in seinem Bett. 201
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Die Affektstärke der ursprünglichen Sequenz aus Panzerkreuzer Potemkin wird insgesamt zu einer ironischen Brechung bis hin zur Groteske genutzt und nicht im Sinne der ursprünglichen rhetorischen Funktionalisierung eingesetzt. Als bekanntes filmisches Zitat in der doppelten Verweisstruktur erhält der Topos-Komplex eine konträre rhetorische Funktionalisierung als Element des Lächerlichen. Das Zitat nicht nur einzelner Topoi, sondern der gesamten Sequenz aus Eisensteins »Filmklassiker« entwickelt auf diese Art einen eigenen internen Diskurs. Dieser beschreibt die Wanderung des Topos-Komplexes der Treppensequenz, seine Funktionalisierung, Zitierung wie auch seine ironische Brechung. Diesem internen Diskurs sind noch weitere Beispiele zuzurechnen. So wird die Treppensequenz beispielsweise in der bekannten Comicserie The Simpsons zitiert. Auch Woody Allen inszeniert ein Zitat in Die letzte Nacht des Boris Gruschenko (1975), er zitiert die berühmten steinernen Löwen am Ende der Treppensequenz. Kanzog weist ebenfalls auf die Ironisierung des »Treppentopos« hin und führt als Beispiel den experimentellen Videofilm Steps von 1987 an.62 In diesem Film werden mittels Filmtrick andere Schauspieler zusätzlich in die originale Treppensequenz eingefügt. Als amerikanische Touristen scheinen sie nun im Filmgeschehen selbst aufzutreten. Sie fotografieren die schießenden Soldaten, begutachten das Kind, das in seinem Kinderwagen die Treppe hinab rollt, und geben Kommentare zum Aufbau der Sequenz. Auch hier ist demnach eine ironische Brechung des Topos zu beobachten, der in diesem Fall eine Verschränkung des Originals mit seiner Kopie unternimmt. Der Metadiskurs über Panzerkreuzer Potemkin als »Filmklassiker« fügt sich in das Original selbst ein, wenn einer der Touristen in einer Originalszene gezeigt wird, der das »Shot-by-shot«-Buch des Films kontrolliert. In gleicher Weise wirkt der ironische Hinweis für die Zuschauer auf die »meistbekannte Sequenz in der Welt des Kinos« (TC 05:26). Dies sind Beispiele für die topischen Wanderbewegungen innerhalb der Filmgeschichte, für Motive, die wieder aufgegriffen werden, um mit ihrer rhetorischen Wirkung zu spielen, sie zu refunktionalisieren oder umzukehren. In dieser Weise kann eine visuelle Topik des Films entworfen werden, die solche Wanderbewegungen, Variationen und Zitate nachverfolgt, ihre Verbindungslinien nachzeichnet und da62. Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik, S. 151ff.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
durch Einblicke in das topische Bildergedächtnis des Films generiert. Wie in Warburgs »Mnemosyne-Atlas« kann so eine Bildersammlung entstehen, die sich hier auf Filmsequenzen bezieht, als systematische Zusammenstellung von Film-Topoi.
4.2.4. Die Metamorphose des Diebs in ›Streik‹ In den Filmen Eisensteins werden immer wieder auch religiöse Topoi eingesetzt, um ihre rhetorische Wirkung zu nutzen. Sie werden zum Teil in Form von diffamierenden Darstellungen von Religion insgesamt eingesetzt, wofür als Beispiel die Figur des Priesters in Panzerkreuzer Potemkin oder die Sequenz der Götterfiguren in Oktober dient.63 Zum anderen werden die Topoi aber auch zur semantischen Überhöhung einer Darstellung funktionalisiert, wie das Beispiel der visuellen Parallele zur Pietà-Darstellung in Panzerkreuzer Potemkin gezeigt hat. Auch in Eisensteins erstem Film Streik ist ein Beispiel für den Einsatz von Topoi der christlichen Ikonografie zu beobachten, und zwar handelt es sich hier um eine umfangreiche, topisch strukturierte Bildargumentation, bei der mehrere Topoi miteinander verschränkt werden. Wie in der Pietà-Parallele wird der Topos mit der Zielsetzung funktionalisiert, in einem neuen Bedeutungszusammenhang eine starke Affektwirkung vom ursprünglichen auf ein neues Motiv zu übertragen. Um den christlichen Wertekontext geht es dabei nicht, vielmehr wird die etablierte Affektlage des Topos für eine rhetorisch wirksame Kommunikation genutzt, bei der die ursprüngliche Bedeutung verändert wird. Der visuelle Topos, um den es im Beispiel geht, ist das Bild der Kreuzabnahme Christi. Es ist ein ikonografisch fixiertes Bildmuster, für das es eine Vielzahl von Beispielen aus der Malerei der Renaissance gibt. Als Topos findet die Kreuzabnahme Eingang in einen kulturell verankerten Formenkanon, der durch diese Bildbeispiele etabliert wird, so dass der Rhetor bei dessen Einsatz von einer allgemeinen Bekanntheit und definierten Affektlage ausgehen kann.64 Anwendung findet er 63. Vgl. Eisenstein: Dramaturgie der Film-Form, S. 217. 64. Für die Beispiele kann im Kontext dieser Arbeit nicht letztlich geklärt werden, inwieweit die genutzten christlichen Topoi dem sowjetischen Publikum der 1920er und 1930er Jahre tatsächlich geläufig waren. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die hier zitierten Darstellungen der Kreuzabnahme und der Pietà im kulturellen Gedächtnis einer orthodox geprägten Gesellschaft
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Fotomontage von John Heartfield aus der »AIZ« (Arbeiter-Illustrierte Zeitung), AIZ 5/1934, Bildunterschrift: »Gefolgschaft, mal herhören! Unser Führer hat bestimmt: Ab heute bin ICH euer Führer, weil ich euer Chef bin und den Profit einstecke.«
in einer Sequenz zu Beginn des Films Streik, in der der Auslöser für einen Aufstand der Arbeiter inszeniert wird. Die Szene schildert die ungerechtfertigte Beschuldigung eines Arbeiters – er wird des Diebstahls beschuldigt – und führt die Willkür des Fabrikdirektors vor Augen. Die Auseinandersetzung zwischen dem Arbeiter und dem Direktor eskaliert. Als sich der Beschuldigte aus Verzweiflung erhängt, beginnt die Revolte der Arbeiter – der Streik bricht los. Der Topos der Kreuzabnahverfügbar waren und dass Eisenstein diese Motive daraufhin auswählte. Der Film entfaltet jedoch auch ohne Kenntnis des Topos seine Wirksamkeit. Die metaphysische Überhöhung, die durch die religiösen Topoi transportiert wird, unterstützt die Wirkung des Pathos im Film, ist jedoch nicht alleinige Voraussetzung für seine Wirkung.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
men kommt nun an der Stelle zum Einsatz, wenn die Kameraden den toten Arbeiter vom Strick an einem Balken abnehmen, ihn anschließend umringen und betrauern. Zorn und Trauer der Arbeiter entladen sich später im Aufstand gegen die Leitung der Fabrik. Zunächst zur Sequenz selbst und zu ihrem argumentativen Gehalt: Der Film vermittelt hier innerhalb von kürzester Zeit (etwa 3 min.) ein klares Wertesystem. Dem ungerecht beschuldigten Arbeiter werden durch seine Handlungsweise die Attribute von Ehrlichkeit und Anstand zugeordnet – beispielsweise meldet er sofort pflichtgemäß den Diebstahl eines Werkzeugs bei seinem Vorarbeiter. Auf diese Meldung folgt die ungerechtfertigte Beschuldigung, er selbst habe das Werkzeug entwendet und müsse es nun ersetzen. Da der Preis aber zu hoch für sein niedriges Einkommen ist, sieht er sich in einer ausweglosen Lage. Er wird in einer chancenlosen Position gegenüber der Machtinstanz gezeigt, die durch den Direktor und die beiden Vorarbeiter verkörpert wird. Die drei Figuren in der Machtposition werden im Gegenzug als unehrlich und gewissenlos charakterisiert – sie machen sich über den verzweifelten Arbeiter lustig und treiben ihn durch ihre Anschuldigung, so die Darstellung, in den Tod. Die Werteverteilung folgt also dem Schema des ehrlichen Arbeiters gegen die willkürliche und ungerechte Direktion. Diese Zuschreibung wird zum einen über das rhetorische Mittel der visuellen Evidenz etabliert: durch die anschauliche Vergegenwärtigung der ungerechtfertigten Beschuldigung. Der ehrliche Arbeiter ist in der Konfrontation mit der machthabenden Instanz chancenlos unterlegen und wird im wahrsten Sinne des Wortes zum Opfer der Macht. Aus dieser impliziten Argumentation heraus wird die Notwendigkeit des Aufstandes zur Revolution des Systems hergeleitet – ein wichtiger Begründungszusammenhang für den ideologischen Kontext des Films. Darüber hinaus wird die Wertung topisch gestützt: Der Topos des aufrechten Arbeiters wird dem Topos des unmoralischen Direktors gegenübergestellt. Damit knüpft die Szene an Vorlagen an, die über eine lange Tradition verfügen und besonders in den 1920er und 1930er Jahren in der kommunistisch geprägten Propaganda Verwendung finden. Exemplarisch für ihren Einsatz steht eine Fotomontage von John Heartfield aus den 1930er Jahren, in der die Machtstellung der Industriellen gegenüber den Arbeitern demonstriert und kritisiert wird. Der visuelle Topos des Direktors wird in diesem Beispiel mit typischen Attributen wie einem Zylinderhut, einem schwarzen Mantel und einem Spazierstock ausgestattet. Zudem zeichnet er sich gegenüber den Ar205
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Der Direktor in Streik.
beitern durch eine größere Körperfülle aus – eine Eigenschaft, die auch heute noch im klischierten Bild eines Direktors auftaucht. Diese Attribute finden sich auch in der Darstellung des Direktors in Streik sowie der Minister in Oktober wieder: Der Direktor, der zu Beginn des Films als groteske Figur eingeführt wird, trägt ebenfalls einen Zylinder, hat eine beachtliche Körperfülle und wird Zigarre rauchend dargestellt. Ähnlich die Minister: Rauchend, gut gekleidet, verkörpern sie durch ihr Verhalten Unmoral und Verschwendungssucht und sind damit extrem negativ konnotiert. Die rhetorische Wirkungsfunktion der Sequenz insgesamt ist die aufrüttelnde und erschütternde Affektwirkung des movere. Ihre rhetorische Komposition gliedert sich dazu in drei Teile: die Vorgeschichte des Diebstahls, die Konfrontation mit der Fabrikleitung und der Tod des unschuldigen »Diebs«. Der Affektgehalt steigt im Verlauf der Sequenz an: von der »schmucklosen« Darstellung des Diebstahls über den schnellen Wechsel der Großaufnahmen bei der Konfrontation der beiden Parteien bis hin zum hohen pathos der Darstellung des Selbstmords. Schon in diesem frühen Film Eisensteins sind einige typische Stilmittel nachzuweisen: die Kontrastmontage im regelhaften Wechsel, Metonymien und Variationen des Motivs, Repetitionen gleicher Einstellungen. Ähnlich der »Milchseparator-Szene« in Die Generallinie 65 findet sich auch hier eine Komposition der Hauptmotive, in diesem Fall aus den vier Motiven des Arbeiter, der Fabrikleitung, des Protagonisten (des »Diebs«) und der Maschinen. Diese Motive werden miteinander kombiniert und gegeneinander kontrastiert: Arbeiter gegen Fabriklei65. Vgl. Kapitel 4.2.2.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
Standbilder aus Streik.
tung, Arbeiter und Maschinen, Protagonist und Arbeiter. Die Maschinen übernehmen in diesem Zusammenhang die Funktion eines Leitmotivs und werden in Kreisformen als Schwungräder und Zahnräder zu einem zentralen Motiv, das metonymisch für die Maschinen steht. Im letzten Teil der Sequenz steigt die Affektwirkung stark an, da der Selbstmord des Arbeiters eine der Schlüsselszenen des Films darstellt. Hier kommen nun die visuellen Topoi zum Einsatz, durch die eine übergeordnete Bedeutungsebene eingeführt wird: Der »Dieb« wird auf der topischen Ebene zum Märtyrer stilisiert. Rhetorisch wird diese Metamorphose des Arbeiters zum Märtyrer als eine ikonografische Parallele zweier Motive aufgebaut, und zwar einer Parallele zum Motiv der Kreuzabnahme und zur Beweinung Christi. Wie genau wird nun die Kreuzabnahme visuell inszeniert? In der ersten Einstellung sind mehrere Arbeiter zu sehen, die den toten Körper von einem Balken an einer Maschine abnehmen. Der Tote ist im Bildrahmen links oben zu sehen. Mehrere Arbeiter steigen nun an der Maschine hinauf, um den »Dieb« von seinem Strick (einem Gurt) los zu schneiden. Vom Bildaufbau her zeigt sich hier eine visuelle Parallele zur Kreuzabnahme des Rosse Fiorentino von 1521. Diese Parallele ist 207
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Standbild aus Streik: Der als unschuldig
Rosso Fiorentino: Kreuzabnahme,
dargestellte Arbeiter wird von einem
1521, Holz, 332 x 196 cm,
Balken der Maschine abgenommen.
Pinacoteca Communale, Volterra.
jedoch nicht auf dieses eine Bildnis einer Kreuzabnahme beschränkt, vielmehr ist das Beispiel Fiorentinos ein typisches für eine ganze Reihe von Darstellungen aus Renaissance und Barock, bei denen sich eine vergleichbare Anordnung wiederfindet.66 Die visuelle Parallele der Figurenkomposition sowie des Bildaufbaus lassen auf eine Bezugnahme auf das Motiv an sich schließen, wenn auch die Ausgestaltung in der Filmszene variiert. Beide Kompositionen basieren auf einer klassischen Dreiecks-Form, die durch eine Kreuz-Form ergänzt wird. In dem Standbild aus Streik ist die Form aus der Mittelachse nach links verschoben, während sie im Gemälde Fiorentinos zentral in der Bildmitte angeordnet ist. An der Spitze des Dreiecks ist der Körper des Toten in beiden Bildern die zentrale Figur. Im Gemälde sind die anderen Figu66. Vgl. u. a. Peter Paul Rubens: Kreuzabnahme, Öl auf Holz, 418 x 310 cm, Antwerpen, Onze-Lieve-Vrouwe-Kerk; Rembrandt: Da es schon Abend wurde, Holztafel, 89,5 x 65,2 cm, um 1632–1633, München, Alte Pinakothek; Caravaggio: Kreuzabnahme, Öl auf Leinwand, 1603–1604, Vatikan, Musei Vaticani.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
Kompositionsschema
Kompositionsschema
zum Standbild aus Streik.
zu Rosso Fiorentino: Kreuzabnahme.
ren in einer ovalen Form um den toten Christus herum angeordnet, während im Standbild aus Streik weniger Figuren zu sehen sind und sich diese unterhalb des Toten gruppieren. Aus den Unterschieden in der Inszenierung lässt sich folgern, dass es sich nicht um ein explizites Zitat einer bestimmten Darstellung der Kreuzabnahme handelt, das der Rhetor in Streik eingesetzt hätte. Vielmehr geht es um den visuellen Topos, der beiden Darstellungen zugrunde liegt und der in der Ausgestaltung einige Ähnlichkeiten zeigt. Auch in der folgenden Einstellung lassen sich Parallelen zur bildlichen Darstellung der Leiden Christi ziehen. Der tote Körper des »Diebes« wird hier nach der Abnahme von dem Strick von den umstehenden Arbeitern betrauert. Sie tragen ihn auf ihren Händen und bahren den Toten dadurch auf. In dieser visuellen Inszenierung sind Parallelen zur Darstellung der »Grablegung Christi« von Raffael zu sehen.67 In 67. Vgl. zur Darstellung der Grablegung Christi auch: Fra Bartolomeo: Gra-
blegung Christi, Holz, 158 x 199 cm, 1516, Florenz, Galleria Pitti; Rembrandt: Und
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Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Standbild aus Streik:
Detail aus: Raffael: Grablegung Christi,
Der Arbeiter wird von seinen
1507, Holz, 184 x 176 cm,
Kollegen betrauert.
Galleria Borghese, Rom.
beiden Bildern wird der Tote von den Umstehenden getragen und betrauert. Sie schauen in das Gesicht des Toten, das in beiden Fällen den Blickpunkt des Bildes darstellt. Von der Bildkomposition her ergeben sich im Vergleich der beiden Darstellungen ebenfalls Parallelen: In beiden Fällen stehen die Trauernden in einer ovalen Form um den Toten in ihrer Mitte. Auf diese Weise wird auf der visuellen Ebene eine Ursituation des menschlichen Leidens inszeniert: die Trauer um einen geliebten Toten. Die bildliche Darstellung der Leiden Christi ist in hohem Maße affektiv wirksam – durch ihre Vergegenwärtigung wird potentiell der gesamte Kontext der christlichen Botschaft um Jesus Christus aufgerufen. Im christlich geprägten Abendland gibt es wenige Darstellungen, die in ähnlich starker Weise affektiv aufgeladen sind wie diese Bilder. Wenn sie, wie ich gezeigt habe, in Streik topisch funktionalisiert werden, so geschieht dies auf der wirkungsintentionalen Ebene mit der Zielsetzung der Erregung des pathos. Auf ideologischer Ebene wird eine klare Botschaft kommuniziert: die Ersetzung des religiösen durch das revolutionäre pathos. Pointiert formuliert ist hier eine Ersetzung der Religion insgesamt durch die Revolution zu beobachten: Der neue Märtyrer ist der Arbeiter, der für seine Überzeugung stirbt, der neue Glaubensinhalt die Lehre der sozialistischen Ideologie. Diese starke Botschaft wird rein auf der visuellen Ebene kommuniziert und bleibt legten ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war, Leinwand, 92,5 x 69 cm, 1635, München, Alte Pinakothek; Andrea Del Sarto: Beweinung Christi, Öl auf Holz, 238,5 x 198,5 cm, 1523, Pitti, Galleria Palatina, Uffizien und Palazzo Pitti.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
dabei implizit, wird also nicht auf der sprachlichen Ebene (in den Zwischentiteln) ausgeführt. Sie wird nicht logisch-argumentativ ausgefaltet, sondern vielmehr rein durch die Mittel der visuellen Evidenz kommuniziert. Festzuhalten ist jedoch, dass der Arbeiter nicht gekreuzigt wird, sondern sich selbst erhängt. Die christlich motivierte Parallele dazu wäre die Figur des Judas. Daraus kann die Folgerung gezogen werden, dass sich der unschuldige Dieb als »schuldiger Judas« zunächst selbst richtet und sich so der Macht der Direktion beugt. Durch die visuell inszenierte Kreuzabnahme wird er jedoch nach seinem Tod rehabilitiert – und steigt dadurch auf der topischen Ebene zur ChristusFigur auf. Insgesamt zeigen die angeführten Beispiele, in welcher Form visuelle Topoi der christlichen Ikonografie rhetorisch höchst wirkungsvoll funktionalisiert werden. Zielsetzung ist es, wie wir gesehen haben, dadurch starke Affekte aufzurufen, dass ein Motiv mit einem höheren Affektpotential aufgerufen wird, um die dargestellte Handlung zu überhöhen. Eine solche Technik ist insofern besonders effizient hinsichtlich der Wirkung auf das adressierte Publikum, da das hohe pathos nicht allein auf der Handlungsebene aufgebaut werden muss, sondern durch ein eigentlich fremdes Motiv mit einer etablierten Affektwirkung gleichsam der Szene zuaddiert wird. Solche topischen Überblendungen kommen in den Filmen Eisensteins häufig an den Stellen zum Einsatz, an denen eine ideologisch bedeutsame Darstellung erfolgt.
4.2.5. Kerenski versus Kornilow: Die visuelle Argumentation einer Niederlage in ›Oktober‹ Als abschließendes Beispiel für rhetorische Techniken der Inszenierung geht es um eine Form der visuellen Argumentation, die in Oktober zur Darstellung der politischen Geschehnisse der Oktoberrevolution 1917 eingesetzt wird. Gezeigt wird die Niederlage der provisorischen Regierung. Der militärische Putsch von General Kornilow gegen die provisorische Regierung unter Alexander Kerenski wird in einer nur etwa 40 Sekunden andauernden Szene auf einer symbolischen Bildebene zusammengefasst. Begründet wird die Niederlage Kerenskis mit visuellen Mitteln, und zwar nicht durch Bilder eines militärisch geführten Konflikts, sondern durch visuelle Metaphern und Metonymien, die die Auseinandersetzung auf einer symbolischen Ebene nachvollziehen. Auch hier wird die visuelle Argumentation strategisch eingesetzt, um 211
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
die politischen Hintergründe nicht auf der verbalen Ebene erklären zu müssen. Mit visuellen Mitteln wird argumentiert, dass Kerenski General Kornilow unterlegen ist, weil er schwach und machtlos ist. Er kann dem Angriff Kornilows nichts entgegensetzen und wird als der alten Monarchie verbunden dargestellt. Seine Macht, und damit die Macht der provisorischen Regierung, zerbricht unter der Stärke und Dynamik des Angriffs von außen, so suggeriert es die Szene. Mit welchen Mitteln wird die visuelle Argumentation inszeniert? 68 Die zwei Figuren, Kerenski und Kornilow, werden einander in einer Kontrastmontage auf zwei Ebenen gegenübergestellt: zum einen als reale Personen, zum anderen als kleine Napoleonfiguren aus Gips.69 Zu Beginn der ausgewählten Szene wird General Kornilow in Siegerpose auf einem Pferd gezeigt. Der Eindruck der Überhöhung entsteht einerseits durch eine leichte Untersicht, die die Figur dominant erscheinen lässt, zum anderen durch die Beleuchtung, die von unten gesetzt ist – hier findet sich also schon der erste Hinweis auf die überlegene Position Kornilows. Darauf folgt eine Einstellung, die die erste Napoleon-Figur zeigt. Zwischen den beiden Einstellungen wird dadurch ein visueller Vergleich inszeniert, dass sie mit einer Konjunktion der Form verbunden werden. Beide Figuren sind in der gleichen Position und Geste gezeigt, so dass eine annähernde Verdoppelung der Mise en Scène ensteht (Match Cut). Durch diese Parallele der Figuren wird deutlich, dass die Napoleon-Figur für Kornilow steht (Metapher). Auf diese Weise suggeriert das Bild eine Merkmalsübertragung, die Kornilow mit den Attributen Napoleons auszeichnet – er wird auf dieser symbolischen Ebene zu einem mächtigen und erfolgreichen Feldherren stilisiert, der sich durch Stärke und Dynamik auszeichnet. Die nun folgenden beiden Einstellungen wiederholen diesen Vergleich und steigern ihn auf der visuellen Ebene (Emphase): Kornilow hebt seine Hand zur Siegergeste, 68. Eisenstein selbst bezeichnet die in Oktober angewandte Form der Montage als »Intellektuelle Montage«. Vgl. u. a. Eisenstein: Dramaturgie der FilmForm; ders.: Intellektuelle Montage, in: ders.: Schriften 3, S. 242f.; auch Aumont: Montage Eisenstein, S. 162ff.; Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 81ff.; Hans-Joachim Schlegel: Eisensteins dialektisch-visuelle Demonstration der weltgeschichtlichen Oktoberwende und der »Kinematograph der Begriffe«. Eine Einführung in Oktober, in: Eisenstein: Schriften 3, S. 7–37. 69. Vgl. das Notationsprotokoll zu Oktober unter www.geschejoost.org/ AVRhetorik.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
die durch die entstehende Bilddynamik der Diagonale verstärkt wird. Die Napoleon-Figur wird herangezoomt und in einer größeren Einstellung gezeigt (amerikanische Einstellung), wie es im Notationsprotokoll zu sehen ist. Die darauf folgenden Einstellungen zeigen den Kontrahenten Alexander Kerenski. Eingeführt wird er durch das Bild einer Krone, das bereits an früherer Stelle der Sequenz eine Rolle spielte. Die Krone – eigentlich der Verschluss einer Karaffe – steht für die Monarchie des zaristischen Russlands und somit für das alte System, das durch die Oktoberrevolution abgelöst werden soll. Kerenski wird auf diese Weise mit dem alten System in Verbindung gebracht, das im Kontext des Films für eine negativ besetzte Tradition und Verweigerung des Fortschritts steht – inszeniert unter anderem in der berühmten Szene mit dem Schrifttitel »Für Gott und Vaterland«, die eine Kontrastmontage von Götterfiguren zeigt. Es folgt eine Einstellung, die Kerenski selbst in leichter Draufsicht, von oben beleuchtet, und in einer defensiven Körperhaltung (Kontrast) zeigt. Auch er wird nun mit einer Napoleon-Figur visuell verglichen, die ihn als Strategen mit vor der Brust verschränkten Armen zeigt. Der nun folgende Zwischentitel »Zwei Bonapartes« verbalisiert den Vergleich und leistet eine semantische Präzisierung. Die folgenden Einstellungen zeigen die Konfrontation der beiden Männer auf symbolischer Ebene, indem sich die zwei Napoleon-Figuren in den Einstellungen gegenüber stehen, wobei jeweils die Perspektive leicht verändert wird (Paronomasie). Die Filmmusik wird in diesem Teil gesteigert (Klimax) und unterstreicht die Zuspitzung des Konflikts, der auf der visuellen Ebene angezeigt wird. Die Schnittfrequenz steigert sich parallel dazu, was an den kürzer werdenden Abständen im Protokoll zu sehen ist. Am Höhepunkt dieser Gegenüberstellung wird die erste Napoleon-Figur auf dem Pferd erneut gezeigt, gefolgt von der Einstellung General Kornilows auf dem Pferd (Repetitio). Bereits an diesem Punkt wird auf der visuellen Ebene deutlich, dass Kornilow aus der Konfrontation als Sieger hervorgeht. Die folgenden sieben Einstellungen zeigen die Niederlage Kerenskis. Die Musik tritt zurück, so dass die Ebene des Geräusches den auditiven Bereich dominiert. Zu sehen ist zunächst ein Panzerfahrzeug, das diagonal von hinten rechts ins Bild kommt und damit die Bewegungsrichtung Kornilows wiederholt (Konjunktion der Bewegung). Wiederum mit einer Konjunktion der Bewegung wird die nächste Einstellung verbunden, die Kerenski zeigt, der sich auf ein Bett fallen lässt. Dieser 213
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
»Sturz« in das luxuriös ausgestattete, weiche Bett steht symbolisch für die Niederlage und Trägheit Kerenskis, der dem Angriff Kornilows nichts entgegenzusetzen hat. Parallel zu den nun heranrollenden Panzern wird in den folgenden Einstellungen die Napoleon-Figur gezeigt, wie sie zerbricht. Die einzelnen Teile der zerbrochenen Figur stehen metonymisch für die Niederlage Kerenskis und für die »zerbrechende« Macht der provisorischen Regierung. Auf der auditiven Ebene wird das Zerbrechen durch ein klirrendes Geräusch betont (Emphase). Diese kurze Szene begründet in extrem verdichteter Form die Niederlage Kerenskis mit visuellen Mitteln. Durch die metonymischen Ersetzungen durch die Napoleon-Figuren wird der Konflikt auf eine symbolische Ebene verlagert, auf der das Geschehen elliptisch zusammengefasst wird. Die Figur des Kerenski erfährt auf diese Weise Zuschreibungen von Schwäche und Machtlosigkeit, die sich an unterschiedlichen Stellen im Film wiederfinden: Während Kornilows Angriff mit einer dynamischen Sirene leitmotivisch unterstützt wird, ist Kerenski durch Symbole für Tradition und Religion bezeichnet.70 Sein erfolgloses Bemühen um die Macht wird insbesondere in der »Treppenszene« deutlich, in der er eine endlos erscheinende Treppe zum Zaren emporsteigt, was Bordwell mit der sprichwörtlichen Wendung der »Leiter des Erfolgs« vergleicht. Kerenskis symbolische Verbindung zu »Gott und Vaterland«, wie es ein Zwischentitel expliziert, wird durch die berühmte Montagesequenz der Götter-Statuen kritisiert. Die Verbindungen von Religion und tradierten Werten des alten Systems werden negativ bewertet und dem revolutionären Bestreben der Massen kontrastierend gegenübergestellt. Mit diesem letzten Beispiel für die rhetorischen Gestaltungsmittel in den Filmen des Regisseurs Eisenstein schließe ich die Analyse ab, auch wenn sie an vielen weiteren Beispielen fortgeführt werden kann. In den späteren Tonfilmen etwa finden sich differenzierte Anordnungen der Bild- und Tonebene, die Eisenstein selbst als eine »vertikale Montage« beschreibt. Hier sind Kompositionsstrukturen zu erkennen, die die auditiven und visuellen Zeichen miteinander verflechten, um eine möglichst intensive Wirkung zu erreichen. Herausragendes Beispiel dafür ist der Film Aleksandr Nevskiy von 1938, zu dem eine visuelle Notation zur Filmmusik Sergej Prokofievs vorliegt. Diese Notation, die die Bildebene parallel zur musikalischen Partitur der Filmmusik 70. Vgl. Bordwell: Cinema of Eisenstein, S. 93f.
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4. Eine Fallstudie zum Werk Sergej Eisensteins
abbildet, bezeichnet detailliert, welche einzelne Note auf welches Bildelement montiert wird. Eisenstein legt mit dieser vertikalen Montage eine neue, überaus präzise Art der Filmkomposition vor, für die eine Analyse nach rhetorischen Kriterien lohnenswert erscheint. Auch findet Farbe als Mittel zur Hervorhebung in den Schwarz-Weiß-Filmen Verwendung, wodurch chromatische Emphasen entstehen – auch dies ein neues Mittel der damaligen Filmgestaltung, das als eine rhetorische Gestaltungstechnik beschrieben werden kann. An diesen Stellen ergeben sich weitere Forschungsansätze, die eine Filmrhetorik Eisensteins ergänzen.
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5. Resümee Will man die Ergebnisse dieser Arbeit in einem Bild zusammenfassen, so bietet sich das Bild einer Landkarte an. Es ist eine Karte, die zeigt, welche Wissensgebiete die Filmrhetorik umfasst. Sie kartografiert, wie diese zusammenhängen, wie Grenzen verlaufen, wo sich Bezüge zu anderen Disziplinen ergeben. Die Karte ist Ergebnis einer Überblendung von Film und Rhetorik, durch deren gleichsam optischen Effekt auf dem darunter liegenden Zeichenblatt eine Topografie entsteht. Film wird auf diese Weise durch die Folie des rhetorischen Systems betrachtet, um abtragen zu können, welche Gestalt und Struktur sich für den Film als Rhetorik ergibt. Im Zentrum dieser Karte steht das Modell der rhetorischen Kommunikation, Herzstück einer Rhetorik der audio-visuellen Medien. Um dieses Zentrum herum gruppieren sich die Wissensgebiete zu den Kommunikationstechniken: die für den Film spezifische Art der Affekterregung, der Argumentation, die visuelle Topik als instrumentelle Grundlage sowie die rhetorischen Figuren des Films. Ebenfalls auf der Karte ist die Methode verzeichnet, mit der filmrhetorische Strukturen analysiert werden. Die Methode stellt eine interdisziplinäre Schnittstelle zu den Wissensgebieten der Designforschung her. Zum jetzigen Zeitpunkt bezeichnet die Karte mit dem Schwerpunkt auf Film ein Teilgebiet der audio-visuellen Rhetorik. Dabei bildet sie jedoch schon wichtige Territorien dieser übergeordneten Theorie ab. Für ihre näherungsweise Vollständigkeit sind noch andere Medien zu untersuchen, hierfür muss das Erfahrungswissen im Umgang mit audio-visuellen und digitalen Medien ergänzt werden. Sie ist als ein Ausschnitt einer Topografie der Medienrhetorik insgesamt zu verstehen. Gegenstand nachfolgender Forschungen wird sein, an dieser Stelle weiterzuzeichnen. Diese Karte beginnt, eine Forschungslücke zu schließen, die sich in zweierlei Hinsicht ausmachen lässt. Einerseits gibt es aus der Sicht der Allgemeinen Rhetorik bisher nur wenige Ansätze, die sich systematisch 217
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
einer Kommunikation der Neuen Medien widmen, die sich also mit Film, Hörfunk, Fernsehen oder Internet aus rhetorischer Perspektive auseinandersetzen. Andererseits ist aus Sicht der Medientheorie ein Desiderat auszumachen: Bisher fehlt es an theoretischen Modellen, um die wirkungsintentionale Kommunikation zwischen Rhetor, Medium und Adressat für die audio-visuellen Medien zu beschreiben und ihr Regelwerk zu bestimmen. Diese Kommunikation hat ihre eigene, medienspezifische Rhetorik, die sich sowohl als Generierungssystem wie auch als Analyseinstrument begreifen lässt. Eine solche Rhetorik ist praxisnah für die Medienanalyse einzusetzen. Gleichzeitig beschreibt sie aber auch die Verklammerung von Theorie und Praxis, von Regelwerk und Produktion. Sie beantwortet die zentrale Frage, welche Regeln aus der praktischen Erfahrung abgeleitet werden können und in welcher Form sie wiederum in den Produktionsprozess einfließen. Ein systematisch konzipierter Ansatz einer Rhetorik der audio-visuellen Medien zielt darauf, diese Leerstelle in der rhetorischen Theoriebildung wie auch in der Medientheorie zu füllen. Für diesen Ansatz wird Rhetorik grundsätzlich als eine Medientheorie benannt. Das bedeutet, dass sie prinzipiell alle Arten der medial vermittelten Kommunikation in erkenntnisfördernder Weise beschreiben kann. Dagegen scheint zunächst die Ansicht zu sprechen, Rhetorik sei eine Theorie der Rede, die sich zur Planung und Durchführung eines Plädoyers vor Gericht, einer Festtagsrede oder einer politischen Debatte anbiete. Dass diese Beschränkung nicht der antiken Konzeption von Rhetorik entspricht, sondern dass gerade diese bereits in ihrer historischen Grundlegung als eine medienübergreifende Theorie verstanden wurde, habe ich in meiner Spurensuche nachvollzogen. Rhetorik allein unter einem rein sprachlichen Paradigma fassen zu wollen, bedeutet eine Verkürzung ihrer Potentiale. Eine Rhetorik der Medien ist also keineswegs eine Neuerfindung, sondern sie knüpft vielmehr an die ursprüngliche Rhetorik-Konzeption an. Diese war, besonders in der Antike und Frühen Neuzeit, immer auch Bildtheorie und Anweisungstext der Gestaltungspraxis, und von diesem Verständnis aus habe ich eine Medienrhetorik des Films auf den Spuren einer alten und neuen Rhetorik konzipiert. Mit einer interdisziplinären Verbindung zur Designforschung tritt die Filmrhetorik heute in neuer Gestalt auf: Sie wird durch eine visuell orientierte Analysemethode ergänzt, die den Rahmen der Disziplin erweitert. Dazu stelle ich ein Notationssystem des Films vor, mit dem rhe218
5. Resümee
torische Strukturen visualisiert werden, und nutze dabei den Film selbst als Medium. Ich analysiere auf diese Weise Film mit Film und setze dazu bestimmte Abbildungslogiken fest, um die rhetorischen Strukturen des Films herauszufiltern. Somit durchbreche ich ein weiteres Mal die geschilderte Sprachzentrierung. Für die Filmanalyse stelle ich auf diese Weise der Verbalisierung die Visualisierung als Heuristik gegenüber, setze somit den etablierten, meist verbal kodierten Analysemethoden der Filmwissenschaften eine neue Methode entgegen, die das Bild als erkenntnisfähig ausweist. Diese Methode belegt, wie mit einer Notationssprache im Sinne Nelson Goodmans visuelle Explikationen generiert werden können. Auf dieser Basis werden bildbasierte Erkenntnisse über die rhetorische Struktur eines Zeichensystems vorgestellt, die wichtig sind, um den Aufbau, die dynamischen Entwicklungen sowie die Korrelation zwischen den Zeichen zu verstehen. Dieses Verfahren schlage ich als ein Instrument einer heutigen Rhetorik der audio-visuellen Medien vor, einer Rhetorik, die die Möglichkeit hat, durch technisch gestützte, visuell basierte Analyseverfahren neue Einsichten in die Struktur des Films zu gewinnen. Indem die Filmrhetorik auf den Wissensbeständen der Allgemeinen Rhetorik aufbaut, wird ihr Konzept auf breiter Basis theoretisch fundiert. Das hat zur Konsequenz, dass das rhetorische System gleichzeitig als theoretisches Gerüst des Films angenommen wird. Eine solche rhetorische Perspektive auf das Medium widerspricht nicht der Tatsache, dass Film in anderen theoretischen Zusammenhängen auch anders beschrieben werden kann. Vielmehr wird hier ein alternatives Beschreibungsmodell angeboten, bei dem es um strategische Kommunikationsaspekte geht. Film wird so als ein wirkungsintentionales Produkt beschrieben, das auf der Grundlage rhetorischer Techniken durch den Rhetor gestaltet wird, um das adressierte Publikum zu erreichen. Dieses Verständnis formuliere ich in einem übergreifenden Modell, das den kommunikativen Regelkreislauf beschreibt. »Übergreifend« meint in diesem Zusammenhang, dass die zirkulären Bezüge zwischen der Produktionsseite, dem Medium und dem adressierten Publikum dargestellt werden. Erstens geht es in diesem Regelkreislauf um den wirkungsintentionalen Einsatz rhetorischer Techniken, zweitens um die Produktion von Wirkung auf das Publikum, drittens um deren Evaluation der Adressierung und viertens um die Einbeziehung der Evaluation in den erneuten Produktionszyklus. Dieses Modell ist ein Basistheorem nicht nur der Filmrhetorik, sondern der audio-visuellen Rhetorik insgesamt. 219
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Der systematische Wissenstransfer von Rhetorik zu Film bezieht sich darüber hinaus auf die Affekterregung, die Topik sowie die Figurenlehre des Films, drei zentrale Bereiche der Allgemeinen Rhetorik, auf denen ihre Wirkungsmacht und Überzeugungsfähigkeit beruht. Zunächst ist die Affekterregung für den Film ein wichtiges rhetorisches Mittel, um das Publikum in den Bann zu ziehen, um es zu begeistern oder zu rühren, und aus diesem Grund hängt sein Erfolg maßgeblich von dem angemessenen Gebrauch affektiv wirksamer Mittel ab. Für die Filmrhetorik habe ich diese Mittel den zwei affektiv wirksamen Überzeugungsgründen der Allgemeinen Rhetorik, dem ethos und dem pathos, zugeordnet. Das ethos beschreibt, wie milde, länger andauernde Affekte beim Adressaten zu stimulieren sind, die besonders über die Identifikation mit dem Geschehen auf der Leinwand hervorgerufen werden können. Pathos hingegen umfasst die intensiven Affekte und hat als äußerstes Ziel, das Publikum in einen Zustand der Ekstase zu versetzen, einen Zustand, in dem die emotionale Disposition eine rationale Kontrolle außer Kraft zu setzen scheint. Welche rhetorischen Mittel zur Verfügung stehen, um diese Affekte beim Adressaten auszulösen, und welche Wirkungsweise sich daran koppelt, ist Gegenstand der Filmrhetorik. Grundlegend für die Produktion von Affekten im Film ist ein weiteres Instrument der Rhetorik: die Topik, der zweite Bereich des Wissenstransfers. Sie ist zunächst für die Konzeption einer Rede ein Instrument, um effizient zu jedem beliebigen Thema potentielle Argumentationsmuster aufzufinden. Für den Film hat sie eine zweite, visuelle Dimension, die die sprachliche durchdringt. Es ist eine visuelle Topik, die dem Film auch heute latent zugrunde liegt, eine Sammlung der Motive, die in einem Bilderatlas im Warburgschen Sinne zusammengetragen werden kann. Die Grundzüge einer solchen visuellen Topik werden theoretisch durch Aby Warburg und Lothar Bornscheuer fundiert. Ihre Elemente sind Bildmotive des Films, die wiederholt und variiert werden und die durch eine motivische, aber auch ikonographische Stabilität als Topos definiert werden. Diese Stabilität bedeutet prinzipiell auch, dass die Semantik eines visuellen Topos von Film zu Film tradiert wird. Gleichzeitig kann diese jedoch unterlaufen werden, wenn ein Topos ironisch gebrochen oder als explizites Filmzitat gesetzt wird. Diese Wanderbewegungen wurden am Filmbeispiel Panzerkreuzer Potemkin nachvollzogen, von dem sich ein Netz der Motivzitate aufspannt. Die visuelle Topik ist folglich nicht als eine Sammlung wiederkehrender Kli220
5. Resümee
schees zu verstehen, die unverändert reproduziert werden, sondern sie ist ein Netzwerk der bildlich kodierten Motive, die nach Kriterien der Wirksamkeit ausgewählt und gestaltet werden. Der dritte Bereich des Transfers umfasst schließlich die Figurenlehre des Films. Hier stelle ich eine umfassende, systematisierte Liste rhetorischer Figuren des Films vor, die mehrere Quellen der Bild-, Filmund Musik-Rhetorik zusammenführt. Darüber hinaus entwerfe ich einen Katalog von etwa 40 Figuren des Films als Auswahl, der als praxistaugliches Instrumentarium für die rhetorische Filmanalyse dient. In diesem Katalog werden die wichtigsten audio-visuellen Figuren, Montagefiguren, Korrelationsfiguren und filmspezifischen Konjunktionen zusammengeführt, um ein übersichtliches Begriffsinventar für die rhetorische Filmanalyse zu schaffen. Es ist im praktischen Sinne als Instrument für die Forschungsarbeit zur audio-visuellen Rhetorik gedacht. Eine Fallstudie zum Werk Eisensteins schließlich zeigt, inwieweit die vorgelegte Konzeption der Filmrhetorik und die übertragenen Wissensbereiche für den Film beschreibungskompetent sind. Ich nutze das erarbeitete Begriffsinventar in der Analyse von Filmsequenzen mit dem Ergebnis, zunächst die verwendeten Gestaltungsmittel differenzieren zu können, um dann auf ihre konzipierte Wirkungsdimension zu schließen. Auf diese Weise konstruiere ich eine Rhetor-Funktion des Films, wie sie das Modell der rhetorischen Kommunikation beschreibt: Eine abstrakte Größe, auf die der wirkungsintentionale Einsatz der Mittel und die dadurch getroffenen Produktionsentscheidungen zurückgeführt werden. Die rhetorische Struktur der analysierten Sequenzen wird in den Notationsprotokollen deutlich. Mit der Online-Darstellung zur Fallstudie lege ich eine multimediale Aufbereitung der Ergebnisse vor, in der der jeweilige Filmausschnitt parallel zum Notationsprotokoll abläuft. So kann gleichzeitig überprüft werden, wie sich diese Struktur im Film darstellt – und umgekehrt. Der einfache Aufbau des Notationssystems und die animierte Form der Darstellung tragen zur kognitiven Effizienz der Ergebnisse bei und veranschaulichen auf diese Weise, wie eine rhetorische Filmanalyse in der Praxis aussehen kann. Gegenstand der Fallstudie ist auch das filmtheoretische Werk Eisensteins. Die heuristische These lautete anfangs, dass sich seine filmtheoretischen Arbeiten als eine Filmrhetorik avant la lettre lesen lassen. Diese These kann eingeschränkt gelten, sie wurde jedoch unter der Fragestellung differenziert, ob es legitim ist, das gesamte filmtheoretische Werk unter dem rhetorischen Paradigma zu subsumieren, oder ob es 221
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
dadurch nicht zu unzulässigen Verkürzungen kommt. Auf der Grundlage der Fallstudie ist zu beobachten, dass sich in Eisensteins theoretischem wie filmpraktischem Werk rhetorische Prägungen wiederfinden lassen. Grund dafür ist jedoch nicht etwa das Studium der antiken Rhetoriker, das Eisenstein zu einer rhetorischen Filmauffassung geführt hätte, sondern vielmehr sein strategisches Interesse, mit seinen Filmen eine maximale Wirkung auf das Publikum erzielen zu wollen – so seine eigene Aussage. Dies scheint für ihn die treibende Kraft, und die daraus resultierenden – rhetorisch perfekt inszenierten – Filmkompositionen lassen auf eine solche Wirkungsorientierung schließen. In den Analysen zeigen sich derart klar konstruierte rhetorische Strukturen, dass ein wirkungsintentionaler Einsatz der Mittel nahe liegt – wenngleich über die eigentliche Intention des Regisseurs keine verlässliche Aussage getroffen werden kann, wie die Diskussion des Autor-Begriffs deutlich gemacht hat. Mit der Kartografie, dem Wissenstransfer und der medientheoretischen Aktualisierung stelle ich die Grundzüge einer audio-visuellen Rhetorik vor. Ich beschreibe ihre Theorie, das System und die praktische Nutzung. Ihre interdisziplinäre Verschränkung mit der Designtheorie führt zum einen zu einer neuen Analysemethode, die ihre den heutigen Anforderungen angemessene Entwicklungsfähigkeit unter Beweis stellt. Zum anderen begründet sich eine so formulierte Rhetorik als eigener Bereich des Wissens, der quer zu den Grenzen anderer Wissenschaften verläuft und diese ergänzt. Die Rhetorik hat im Kanon der Wissenschaften eine wichtige Querschnittsfunktion, die das Wissen um die wohlgeformte, auf Wirkung bedachte Kommunikation verfügbar macht. Ihre Anschlussfähigkeit zu anderen Disziplinen ist folglich ein zentraler Aspekt ihres Selbstverständnisses. Das Zusammenspiel von Rhetorik und Design ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig: Die hier vorgestellte audio-visuelle Rhetorik lässt sich selbst als eine Designtheorie begreifen, als eine Theorie, die die Gestaltung der Medien untersucht und systematisiert. Rhetorik und Design kooperieren hier miteinander und bringen ihre Kompetenzen so zusammen, dass eine interdisziplinäre Forschung möglich wird. Ist der Rhetor im heutigen Verständnis nicht ein Designer, der seine Gestaltungswerkzeuge im Blick hat, der seine Kommunikation wirksam zu gestalten weiß und dem die »gute Form« seines Produktes oberstes Ziel ist? Die vorgelegte Arbeit spricht für diese These: Der Rhetor ist Kommunikations-Designer. 222
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Filmverzeichnis (chronologisch) Grandma’s Reading Glass. Regie: G. A. Smith. GB 1900. The Big Swallow. Regie: James Williamson. GB 1901. The Tramp. Regie: Charles Chaplin. USA 1915. Streik (Stacka). Regie: Sergej Eisenstein. UdSSR 1924. Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosec Potemkin). Regie: Sergej Eisenstein. UdSSR 1925. Fassung a): 1986 von Enno Patalas und Lothar Prox erstellte Restaurierung des Films mit der neu bearbeiteten Musik von Edmund Meisel Fassung b): 1950 von Studio Mosfilm erstellte Fassung mit der Musik von Nikolai Krjukow Oktober (Oktjabr). Regie: Sergej Eisenstein. UdSSR 1927/1928. Das Alte und das Neue/Die Generallinie (Staroe i Novoe). Regie: Sergej Eisenstein. UdSSR 1926–1929. Metropolis. Regie: Fritz Lang. D 1927. M – eine Stadt sucht einen Mörder. Regie: Fritz Lang. D 1931. Citizen Kane. Regie: Orson Welles. USA 1941. Ohm Krüger. Regie: Hans Steinhoff, Herbert Maisch. D 1941. Glen or Glenda. Regie: Ed Wood. USA 1953. 244
Filmverzeichnis
Bride of the Monster. Regie: Ed Wood. USA 1955. The Searchers. Regie: John Ford. USA 1956. Plan 9 from Outer Space. Regie: Ed Wood. USA 1959. Psycho. Regie: Alfred Hitchcock. USA 1960. Harold and Maude. Regie: Hal Ashby. USA 1971. Die letzte Nacht des Boris Gruschenko (Love And Death). Regie: Woody Allen. USA 1975. Apocalypse Now. Regie: Francis Ford Coppola. USA 1979. The Shining. Regie: Stanley Kubrick. USA/UK 1980. E.T. Regie: Steven Spielberg. USA 1982. Blade Runner. Regie: Ridley Scott. USA 1982. Die Unbestechlichen (The Untouchables). Regie: Brian De Palma. USA 1987. Steps. Regie: Zbigniew Rybczynski. USA 1987. Wallers letzter Gang. Regie: Christian Wagner. D 1989. Das Schweigen der Lämmer. Regie: Jonathan Demme. USA 1991. Man beißt Hund. Regie: Rémy Belvaux, André Bonzel, Benoît Poelvoorde, B 1992. Jurassic Park. Regie: Steven Spielberg. USA 1993. Nackte Kanone 33 1/3 (Naked Gun 33 1/3). Regie: Peter Segal. USA 1994. Forrest Gump. Regie: Robert Zemeckis. USA 1994. The American President. Regie: Rob Reiner. USA 1995. Independence Day. Regie: Roland Emmerich. USA 1996. Titanic. Regie: James Cameron. USA 1997. Lola rennt. Regie: Tom Tykwer. D 1998. Memento. Regie: Christopher Nolan. USA 2000. Gladiator. Regie: Ridley Scott. USA 2000. 21 Gramm. Regie: Alejandro González Iñárritu. USA 2003. Alexander. Regie: Oliver Stone. USA 2004. Lord of the Rings. Trilogie. Regie: Peter Jackson. USA 2001, 2002, 2003.
Die im Buch vorhandenen Abbildungen fallen aus Sicht der Autorin unter das Zitationsrecht im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit. Falls ein Rechteinhaber für eine der Abbildungen dieses Recht verletzt sieht, bittet die Autorin um Kontaktaufnahme. 245
Anhang Rhetor ische Figuren des Films Diese Liste stellt eine Sammlung rhetorischer Figuren des Films dar, die sich aus einer Reihe von Quellen speist und das Ziel verfolgt, diese zusammenzuführen und in einer Systematik darzustellen. Die bisherigen Sammlungen werden durch eigene Ergebnisse ergänzt. Die Figuren sind mit ihren jeweiligen Quellen aufgeführt, Elemente ohne Quellenangabe sind eigene Arbeitsergebnisse und Ergänzungen. Quellennachweise und Abkürzungen: – Bon.: Gui Bonsiepe: Interface, Mannheim 1996 – Cl.: N. Roy Clifton: The Figure in Film, Newark 1983 – Eco: Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972 – Unger: Hans-Heinrich Unger: Die Beziehung zwischen Musik und Rhetorik im 16.–18. Jahrhundert, Würzburg 1941 – Wh.: Trevor Whittock: Metaphor and Film, Cambridge u. a. 1990
Figuren der Einstellung (Figuren der Mise en Scène) Tropen Ersetzung – Analogie – Antonomasie (Eco 274f.) – Hyperbel: a) Disproportion b) Reductio ad absurdum c) Fantasy d) Parodie (Cl. 130f.)
– – – –
Katachrese Metapher (Cl. 86f.) Metonymie (Cl. 162ff., Wh 60) Symbol/Signifikantes Objekt (Cl. 29ff.) – Synekdoche (Cl. 173ff.) – Vergleich (C86ff.) 247
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Fokus-Figuren Auslassung
– Ellipse: a) durch Bildausschnitt b) des Irrelevanten
c) als Emphase: Close-Up d) als Synekdoche (Cl. 139ff.)
Dynamische Figuren Bewegung – Beschleunigung (Cl. 186f.) – Approaching Shot (schnell/langsam) (Cl. 192ff.) – Panoramic Shot (Cl. 196ff.) – Retreating Shot (Cl. 194f.)
– – – – –
Travelling Shot (Cl. 195f.) Rückwärtslauf (Cl. 190ff.) Standbild (Cl. 188f.) Standbild-Sequenz (Cl. 190) Verlangsamung (Cl. 187f.)
Figuren der Sequenz Syntaktische Figuren (Montagefiguren) Hinzufügung – Akkumulation (Cl. 56f u. 207ff.) – Anadiplose (Carry over) (Cl. 230f.) – Beschleunigende Montage (acceleran-do) – deduktive Montage – Gradatio – induktive Montage – Klimax (Cl. 58f. u. 234ff.) – Leitmotiv (Cl. 57f.) – Paronomasie (Cl. 59f.) – Polyptoton
– Repetitio: a) akustische Übertragung b) einfach/mehrfach (Cl. 61ff.) c) exakte Wiederholung d) Substitution e) Wiederholung des Musters (Cl. 58ff.) – simultane Repetitio (Split-Screen) (Cl. 64ff.) – Rhythmisierung – Superimposition (Mehrfachbelichtung) (Cl. 66) – Variation
248
Anhang
Auslassung – Anadiplose als Bridge (Cl. 153) – Asyndeton (Cl. 153ff.) – Ellipse der Zeit (Cl. 151)
– Ellipse des Raumes (Cl. 151) – Parenthese (Cl. 152) – Jump Cut
Umstellung – Alternierende Montage (Cl. 214ff.) – Schachtel-Montage – Chiasmus
– Inversion (Anastrophe/Juxtaposition) (Cl. 271ff.) – Parallelismus (Wh. 66) – Parallelmontage
Kontrast – Antiklimax (Cl. 234ff.) – Antithese (Cl. 124 u. 125f.) – Ironie (Cl. 124f.)
– Oxymoron (Cl. 122f.) – Syncrisis (Cl. 123f.) – Kontrastmontage
Konjunktion – – – – – –
Blackscreen Blende (vgl. Cl. 227ff.) Dissolve Fade in/out Farbkonjunktion Formale Konjunktion (vgl. Cl. 211ff.) – Konj. durch Bewegung
– – – – – – – –
Konj. durch Dialog (Cl. 213f.) Konj. durch Geräusch (Cl. 213) Konj. durch Musik Match Cut Schwenk Wischblende Vorhang Zwischentitel
Sinnfiguren – – – – – –
Allegorie Anamnesis (Cl. 296ff.) Antizipation Aposiopesis (Cl. 318f.) Apostrophe Emphase (Cl. 319f.)
– Epistrophe (Cl. 321) – Exemplifizierung (Bon. 92) – Filmischer Index: (intra-, inter-, extrafilmisch) – Filmisches Zitat: (intra-, inter-, extrafilmisch) 249
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
– – – – – – – –
Hendiadyoin (Cl. 321ff.) Hypallage (Cl. 321ff.) Hypophora (Cl. 238) Hyrmos (Cl. 238 u. 315ff.) Hysteron proteron Interpunktion (Cl. 304ff.) Kommentar (Cl. 209ff.) Meiosis (Cl. 324f.)
Mimesis (Cl. 325) Parenthese Paronomasie (Cl. 325f.) Pathetischer Trugschluss (Cl. 326f.) – Personifikation (Cl. 327ff.) – Vision (Promnesis) (Cl. 303) – – – –
Auditive Figuren (aus Unger 64ff.) – Abruptio – Anabasis – Anadiplosis – Analepsis – Anapher – Anticipatio Notae – Antistaechon – Apocope – Aposiopesis – Apotomia – Assimilatio – Auxesis – Cadentia duriuscula – Catabasis – Circulatio – Complexio – Congeries – Consonantii improprii – Diminutio – Distributio – Dubitatio – Ellipsis – Emphase – Epanadiplosis – Epanalepsis – Epistrophe
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 250
Exclamatio Extensio Fauxbourdon Fuga Gradatio Heterolepsis Homaeoteleuton Homoiopstoton Hypallage Hyperbaton Hyperbole Hypotyposis Inchoatio imperfecta Interrogatio Katachrese Longiqua distantia Metabasis Metalepsis Mimesis Mora Multiplicatio Mutatio toni Noema Palillogia Parenthesis Parembole Paronomasie
Anhang
– – – – – – – – – – – – –
Passus duriusculus Pathopoiia Parrhesia Pleonasmus Polyptoton Polysyndeton Prolongatio Quaesitio notae Repetitio Retardatio Saltus duriusculus Schematoides Sexta superflua
– – – – – – – – – – – –
Subsumptio Superjectio Suspensio Symploce Synathroismus Syncopatio catachrestica Syncope Synhaeresis Tertia deficiens Tmesis Transgressus Variatio
Figuren der audio-visuellen Kombination Bild/Ton-Figuren – Antithese (Cl. 254f.) – Apostrophe (Cl. 261f.) – Diegetischer Ton: a) Ambiguität b) Metonymie c) Peristasis (Cl. 243ff.) – Nicht-diegetischer Ton: a) Anspielung b) Humor, Satire c) Kommentar d) Kongruenz (Bestätigung des Bildes) e) Transformation des Bildes f) Stille (Cl. 247f.) – Emphase (Cl. 259)
– – – – – – – – – – – – –
251
Illustration (Bon., Kel.) Ironie (Cl. 241f.) Kontrapunkt (Cl. 241f.) Metapher (Cl. 254) Metonymie (Cl. 257f., Bon.) Mickey Mousing (Bon., Kel.) Onnomatopoesie (Cl. 258f.) Prolepsis (Cl. 259ff.) Pseudorealistischer Sound (Bons.) Repetition (Cl. 257f.) Tautologie (Cl. 255f.) Vergleich (Cl. 253f.) Zeugma (Cl. 263f.)
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
System der Notationszeichen Musik Jingle und Variation des Jingles musikalisches Leitmotiv und Variation des musikalischen Leitmotivs
on
Notationsbeispiele für Musik on
Musik, die einer Quelle im Bild zueordnet werden kann (Radio, Stereoanlage, TV etc.)
Geräusche
Notationsbeispiele für Geräusche
Dialog a
Dialog der Person a
a
expressiver Dialog, Ausruf
off on
Dialog einer Person aus dem Off Dialog, der einer Quelle im Bild zugeordnet werden kann (Telefon, TV, Radio etc.)
252
Anhang
Korrelation Konvergenz: übereinstimmende Wirkung der auditiven und visuellen Spuren Divergenz: die auditiven und visuellen Spuren widersprechen sich in ihrer Ausage oder Wirkungsweise Komplementarität: die auditiven und visuellen Spuren ergänzen sich im Ausdruck stark und beeinflussen maßgeblich die Interpretation
Schrift / Grafik
Standbild oder Schwarzbild
statische Schrift
statische Grafik
animierte Grafik/Schrift
253
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Montagefiguren Montagefiguren sind im Bild/Schnitt-Kanal als Einstellungscluster zu identifizieren:
deduktive Montage
Découpage Classique
8
induktive Montage
: a
alternierendes Syntagma
b
Schuß – Gegenschuß
a
b
Syntaktische Katachrese – Parallel-Montage – Schachtel-Montage – Jump-Cut – Match-Cut – Découpage Classique – (als Schnittkonvention der Hollywood-Grammatik)
254
Anhang
Bild/Schnitt
Großaufnahme
Nahaufnahme, offen und geschlossen
amerikanische Einstellung, offen und geschl.
Halbtotale / Totale, offen und geschlossen
Panorama
Over-the-Shoulder-Shot*
Überblendung*
mehrfache Überblendung
Kreuz-Schnitt-Dialektik*
* Der Over-the-Shoulder-Shot, die Überblendung und die Kreuz-Schnitt-Dialektik sind hier als amerikanische Einstellungen gezeigt, sie können aber auch in anderen Einstellungsgrößen vorkommen.
255
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Bild/Schnitt Perspektive
Vogelperspektive
Froschperspektive
Normalperspektive
Perspektivwechsel / dynamisches Neigen
Perspektivwechsel / Schwenk, Zoom, Fahrt
Montage harter Schnitt Überblendung
256
Anhang
Bild/Schnitt Cluster
: a
10
alternierendes Syntagma (hier: 10facher Einstellungswechsel)
b
Schuß – Gegenschuß
a
b
Syntaktische Katachrese
innerbildliche Katachrese
Diese Einstellungscluster können als Montagefiguren im entsprechenden Kanal gekennzeichnet werden.
257
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Objektreferenz a, b, c
Bezeichnung für Personen, Objekte oder charakteristische Einstellungen (z.B. Innen- Außenaufnahmen)
Schärfe Tiefenschärfe flache Schärfe, Vordergrund scharf flache Schärfe, Hintergrund scharf dynamische Schärfe, Schärfenwechsel dynamische Schärfe, Schärfenmitführung Bewegungsunschärfe
Bilddynamik Dynamik im Bild Beschleunigung Verlangsamung / Slow Motion Standbild / Freeze Rollen der Kamera
258
Anhang
Plot
Klimaxstruktur
Wendepunkt
Symmetrie
Die Darstellungen sind Beispiele, wie ein Spannungsverlauf notiert werden kann.
Meta-Zeichen ...
Auslassungszeichen: zum Auslassen gleichartiger oder weniger relevanter Filmsequenzen
259
Bild-Sprache – Die audio-visuelle Rhetorik des Films
Optionskanäle Beleuchtung
Oberlicht
Unterlicht
Seitenlicht (links)
Seitenlicht (rechts)
Frontallicht
Gegenlicht
Kamera-und Personenbewegung
b
Bewegung der Kamera (oben), Bewegung der Person (unten)
Kameraspezifik
a
subjektive Kamera (Buchstabe bezieht sich auf den Blick der jeweiligen Person) Handkamera-Optik
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Dank Mein besonderer Dank gilt meinem Betreuer Gert Ueding, der diese Arbeit erst ermöglicht hat und mir am Seminar für Allgemeine Rhetorik in Tübingen mit Rat und Tat zur Seite stand. Großen Einfluss auf meine Arbeit hatte auch Gui Bonsiepe, bei dem ich mich für all seine Anregungen, Diskussionen, seine visionäre Forschungsarbeit und seine Lehre in Köln bedanken möchte. Er hat mich in meinem Designstudium maßgeblich begleitet und mir vieles eröffnet, das heute meine Forschungen prägt. Wolfgang Jonas danke ich für seine hilfreiche Begutachtung und Kritik, Sandra Buchmüller, Stefan Börnchen und Arne Scheuermann für ihre große Unterstützung, für die vielen Diskussionen und Korrekturen und für manche Anregung, die in die Arbeit eingeflossen ist. Till Schäfers danke ich für seine unermüdliche Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt auch der Studienstiftung des deutschen Volkes und namentlich Uli Nauels, der mich jahrelang begleitet hat und mich zu dieser Arbeit erst ermutigte. Die Studienstiftung hat mit ihren Doktorandenforen, der großzügigen Förderung und dem Netzwerk von Stipendiatinnen und Stipendiaten maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Ohne die herzliche Unterstützung meiner Eltern wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen, ihr Vertrauen und ihre Begleitung sind das Fundament dieses Buches. Schließlich möchte ich noch den Deutsche Telekom Laboratories in Berlin für die großzügige Unterstützung bei der Umsetzung dieser Publikation danken. Berlin, im Februar 2008 Gesche Joost
Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel »Grundzüge der Filmrhetorik. Theorie, System und Praxis einer audio-visuellen Medienrhetorik« von Gesche Joost als Dissertation an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen. Das Kolloquium fand am 23.7.2007 statt. Hauptberichterstatter war Prof. Dr. Gert Ueding, Nebenberichterstatter waren Prof. Dr. Wolfgang Jonas, Prof. Dr. Dorothee Kimmich und Prof. Dr. Manfred Muckenhaupt. Amtierender Dekan war Prof. Dr. Joachim Knape.
Film Catherine Shelton Unheimliche Inskriptionen Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm Juni 2008, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-833-9
Joanna Barck Hin zum Film – Zurück zu den Bildern Tableaux Vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini Juni 2008, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-817-9
Gesche Joost Bild-Sprache Die audio-visuelle Rhetorik des Films Mai 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-923-7
Roland Reiter The Beatles on Film Analysis of Movies, Documentaries, Spoofs and Cartoons März 2008, 214 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-885-8
Thomas Weber Medialität als Grenzerfahrung Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre
Katrin Oltmann Remake | Premake Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930-1960 Februar 2008, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-700-4
Daniel Devoucoux Mode im Film Zur Kulturanthropologie zweier Medien 2007, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-813-1
Daniel Winkler Transit Marseille Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-699-1
Nadja Sennewald Alien Gender Die Inszenierung von Geschlecht in ScienceFiction-Serien 2007, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-805-6
Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-563-5
Februar 2008, 374 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-823-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Film Sandra Strigl Traumreisende Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-659-5
Doris Agotai Architekturen in Zelluloid Der filmische Blick auf den Raum 2007, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-623-6
Klaus Kohlmann Der computeranimierte Spielfilm Forschungen zur Inszenierung und Klassifizierung des 3-D-Computer-Trickfilms 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-635-9
Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm 2006, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-552-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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