Bilder machen Geschichte: Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst 9783050095295, 9783050063171

Kunstwerke haben immer wieder die Aufgabe übernommen, Ereignisse der Weltgeschichte bildnerisch zu reflektieren und ins

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German Pages 532 Year 2014

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Table of contents :
VORWORT
DIE IDEOLOGIE DES AUGENBLICK. EREIGNISBILDER ALS ZEUGEN UND PROTAGONISTEN DER GESCHICHTE
GESTICKTE GESCHICHTE. DER »TEPPICH VON BAYEUX« ALS VISUALISIERUNG ZEITGENÖSSISCHER EREIGNISSE
»EINER FÜR ALLE…«. HISTORIA, MONUMENTUM UND ALLEGORIA: DER DREIFACHE RUHM DES GUIDORICCIO DA FOGLIANO
AUFPRALL, SCHOCK, GESCHICHTE. PAOLO UCCELLOS »SCHLACHT VON SAN ROMANO«
DAS EREIGNIS ALS POLITISCHES EXEMPLUM. ÜBER DIE BILDWÜRDIGKEIT DER ZEITGESCHICHTE IN JEAN FOUQUETS »LIT DE JUSTICE DE VENDÔME«
EIN WUNDER GESCHIEHT. GESCHICHTE UND IDEAL IN GENTILE BELLINIS »PROZESSION AM MARKUSTAG«
EREIGNIS UND VEDUTE. DIE »HINRICHTUNG SAVONAROLAS AUF DER PIAZZA DELLA SIGNORIA« ZWISCHEN STADTANSICHT UND VOTIVBILD
SIEG MIT DEN PINSELN. GIORGIO VASARIS »SCHLACHT VON LEPANTO«
DIE GÖTTLICHE ORDNUNG DER GESCHICHTE. MASSAKER UND MARTYRIUM IM GEMÄLDE »DIE BARTHOLOMÄUSNACHT« VON FRANÇOIS DUBOIS
GESCHICHTSKONSTRUKTIONEN IM WIDERSTREIT. DER MEDICI- UND DER KONSTANTINZYKLUS VON PETER PAUL RUBENS
AUF DER BÜHNE DER GESCHICHTE. DIE »ÜBERGABE VON BREDA« DES DIEGO VELÁZQUEZ
DER AUGENZEUGE. GERARD TER BORCH UND »DER SCHWUR AUF DIE RATIFIKATION DES FRIEDENS VON MÜNSTER«
DIE PERSONALISIERUNG DER GESCHICHTE. CHARLES LE BRUNS »PASSAGE DU RHIN« IN DER SPIEGELGALERIE VON VERSAILLES ZWISCHEN EREIGNIS UND MYTHOS
DIE HANDELNDE MENGE. JACQUES-LOUIS DAVIDS »DER SCHWUR IM BALLHAUS« ALS REVOLUTION DES HISTORIENBILDES
DER TAG DANACH. »NAPOLEON AUF DEM SCHLACHTFELD VON EYLAU« VON ANTOINE-JEAN GROS
DAS PATHOS DER SINNLOSIGKEIT. MODERNE GESCHICHTSERFAHRUNG IN FRANCISCO GOYAS »ERSCHIESSUNG DER AUFSTÄNDISCHEN«
SCHIFFBRUCH DES ZUSCHAUERS. THÉODORE GÉRICAULTS »FLOSS DER MEDUSA« ALS DEKONSTRUKTION DES HISTORIENBILDES
VOM EREIGNISBILD ZUM BILD-EREIGNIS. »DIE FREIHEIT FÜHRT DAS VOLK AUF DIE BARRIKADEN« VON EUGÈNE DELACROIX
DAS UNFERTIGE BILD UND SEIN FEHLENDES PUBLIKUM. ADOLPH MENZELS »AUFBAHRUNG DER MÄRZGEFALLENEN« ALS VISUELLE VERDICHTUNG POLITISCHEN WANDELS
DIE UNVERFÜGBARKEIT DER GESCHICHTE. EDOUARD MANET INSZENIERT DIE »ERSCHIESSUNG KAISER MAXIMILIANS VON MEXIKO«
AUFRUHR DER MALEREI. DAS EREIGNIS ALS SYNÄSTHETISCHER SCHOCK IN CARLO CARRÀS »BEGRÄBNIS DES ANARCHISTEN GALLI«
DIE EWIGE WIEDERKEHR DES GLEICHEN. ZUR GESCHICHTSAUFFASSUNG DES GEMÄLDES »DER KRIEG« VON OTTO DIX
DIE WAHRHEIT DER MALEREI. PABLO PICASSOS »GUERNICA« ZWISCHEN ATELIERUND EREIGNISBILD
IM ANGESICHT DES HOLOCAUST. FELIX NUSSBAUMS »TRIUMPH DES TODES« ALS ALLEGORIE DER ZEITGESCHICHTE
EREIGNIS UND MEDIALITÄT. ANDY WARHOLS »JACKIE (THE WEEK THAT WAS)«
UNSER MANN AUF DEM MOND. APOLLO 11 UND DER WEG VOM EREIGNISBILD ZUM GESCHICHTSBILD
ABSTRAKTE GESCHICHTE. K. R. H. SONDERBORG MALT DIE »SPUR ANDREAS B.« ALS GESTISCHE CHIFFRE
DAS UNAUSLÖSCHLICHE GEDÄCHTNIS DER BILDER. GERHARD RICHTERS ZYKLUS »18. OKTOBER 1977«
DAS INFORMELLE HISTORIENBILD. KARL OTTO GÖTZ UND DIE GEMALTE WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS
DIE ENTTÄUSCHUNG DES KRIEGES HISTORISCHES. EREIGNIS UND ÄSTHETISCHES NACHLEBEN IN JEFF WALLS »DEAD TROOPS TALK«
DAS EREIGNIS UND SEINE BILDER. ZUR MEDIALEN GEGENWART DES TERRORANSCHLAGS AUF DAS WORLD TRADE CENTER IN NEW YORK
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Bilder machen Geschichte: Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst
 9783050095295, 9783050063171

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Uwe Fleckner (Hrsg.)

BILDER MACHEN GESCHICHTE Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst

STUDIEN AUS DEM WARBURG-HAUS, BAND 13 Herausgegeben von Uwe Fleckner Julia Gelshorn Margit Kern Bruno Reudenbach

Uwe Fleckner (Hrsg.)

BILDER MACHEN GESCHICHTE Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst

INHALT

9 11

Vorwort Die Ideologie des Augenblicks Ereignisbilder als Zeugen und Protagonisten der Geschichte Uwe Fleckner

29

Gestickte Geschichte Der »Teppich von Bayeux« als Visualisierung zeitgenössischer Ereignisse Cornelia Logemann

41

»Einer für alle …« Historia, monumentum und allegoria: Der dreifache Ruhm des Guidoriccio da Fogliano Ulrich Pfisterer

53

Aufprall, Schock, Geschichte Paolo Uccellos »Schlacht von San Romano« Hannah Baader

73

Das Ereignis als politisches Exemplum Über die Bildwürdigkeit der Zeitgeschichte in Jean Fouquets »Lit de Justice de Vendôme« Nina Zenker

85

Ein Wunder geschieht Geschichte und Ideal in Gentile Bellinis »Prozession am Markustag« Rebecca Müller

99

Ereignis und Vedute Die »Hinrichtung Savonarolas auf der Piazza della Signoria« zwischen Stadtansicht und Votivbild Matthias Krüger

113

Sieg mit den Pinseln Giorgio Vasaris »Schlacht von Lepanto« Iris Wenderholm

127

Die göttliche Ordnung der Geschichte Massaker und Martyrium im Gemälde »Die Bartholomäusnacht« von François Dubois Martin Schieder

141

Geschichtskonstruktionen im Widerstreit Der Medici- und der Konstantin-Zyklus von Peter Paul Rubens Wolfgang Brassat

159

Auf der Bühne der Geschichte Die »Übergabe von Breda« des Diego Velázquez Martin Warnke

171

Der Augenzeuge Gerard Ter Borch und »Der Schwur auf die Ratifikation des Friedens von Münster« Karin Gludovatz

185

Die Personalisierung der Geschichte Charles Le Bruns »Passage du Rhin« in der Spiegelgalerie von Versailles zwischen Ereignis und Mythos Hendrik Ziegler

201

Die handelnde Menge Jacques-Louis Davids »Der Schwur im Ballhaus« als Revolution des Historienbildes Wolfgang Kemp

6 | Inhalt

211

Der Tag danach »Napoleon auf dem Schlachtfeld von Eylau« von Antoine-Jean Gros Gerrit Walczak

221

Das Pathos der Sinnlosigkeit Moderne Geschichtserfahrung in Francisco Goyas »Erschießung der Aufständischen« Werner Busch

235

Schiffbruch des Zuschauers Théodore Géricaults »Floß der Medusa« als Dekonstruktion des Historienbildes Gregor Wedekind

253

Vom Ereignisbild zum Bild-Ereignis »Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden« von Eugène Delacroix Sabine Slanina

267

Das unfertige Bild und sein fehlendes Publikum Adolph Menzels »Aufbahrung der Märzgefallenen« als visuelle Verdichtung politischen Wandels Françoise Forster-Hahn

279

Die Unverfügbarkeit der Geschichte Edouard Manet inszeniert die »Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko« Barbara Wittmann

293

Aufruhr der Malerei Das Ereignis als synästhetischer Schock in Carlo Carràs »Begräbnis des Anarchisten Galli« Kerstin Thomas

305

Die ewige Wiederkehr des Gleichen Zur Geschichtsauffassung des Gemäldes »Der Krieg« von Otto Dix Olaf Peters

319

Die Wahrheit der Malerei Pablo Picassos »Guernica« zwischen Atelier- und Ereignisbild Uwe Fleckner

7 | Inhalt

341

Im Angesicht des Holocaust Felix Nussbaums »Triumph des Todes« als Allegorie der Zeitgeschichte Maike Steinkamp

357

Ereignis und Medialität Andy Warhols »Jackie (The Week That Was)« Michael Lüthy

371

Unser Mann auf dem Mond Apollo 11 und der Weg vom Ereignisbild zum Geschichtsbild Hole Rößler

387

Abstrakte Geschichte K. R. H. Sonderborg malt die »Spur Andreas B.« als gestische Chiffre Sven Beckstette

399

Das unauslöschliche Gedächtnis der Bilder Gerhard Richters Zyklus »18. Oktober 1977« Julia Gelshorn

417

Das informelle Historienbild Karl Otto Götz und die gemalte Wiedervereinigung Deutschlands Christoph Zuschlag

431

Die Enttäuschung des Krieges Historisches Ereignis und ästhetisches Nachleben in Jeff Walls »Dead Troops Talk« Ursula Frohne

447

Das Ereignis und seine Bilder Zur medialen Gegenwart des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York Dietrich Erben

463

Anmerkungen

523

Register

531

Abbildungsnachweis

8 | Inhalt

VORWORT

Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens. Diese vielleicht ein wenig abgegriffene, aber nichtsdestoweniger gültige Sentenz Ciceros verpflichtet den Historiker zu einer besonderen intellektuellen Sorgfalt im Umgang mit den methodischen Grundlagen seines Faches. Und wie der Historiker, so sollten sich auch Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker ihrer Verantwortung stellen, sollten sich dessen bewusst sein, dass ihr Blick auf geschichtliche Vorgänge nicht nur registrierenden Charakter hat, sondern in unser Verständnis der Vergangenheit eingreift, diese wesentlich mitbestimmt und zum Erkenntnisumfang gerade jener Lehren beiträgt, die eben nur aus der Geschichte zu ziehen sind. Wie immer sind ihnen die Künstler auch darin vorangegangen, denn seit jeher haben sie sich der Herausforderung unterzogen und Ereignisse der Zeitgeschichte in ihren Werken wiedergegeben, ja, diese Ereignisse überhaupt erst zu dem gemacht, was sie sind, wenn sie Bild geworden sind: Instanzen des sozialen Gedächtnisses, mit deren Hilfe der Mensch das Weltgeschehen ordnet und zu verstehen hofft. Das vorliegende Buch hat sich daher der Aufgabe gewidmet, nicht nur exemplarische Verbildlichungen zeitgenössischer Ereignisse vom Mittelalter bis zur Gegenwart in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu untersuchen, sondern darüber hinaus das Wesen und die Leistungsfähigkeit des Ereignisbildes grundsätzlich zu erkunden; zu fragen, ob und mit welchen visuellen Strategien das Kunstwerk ein erkenntnisleitendes Geschichtsverständnis hervorzubringen vermag, ob und wie es unsere Auffassung vom Ereignis als historisches Faktum wie als retrospektive Fiktion verändert und auf welche Weise es, so die These des Buches, durch das historiographische Narrativ vielfältiger und mit den Zeiten wechselnder bildnerischer Deutungsansätze in die Geschichte selbst eingreift. Die Publikation versammelt daher Aufsätze zu Kunstwerken,

9 | Vorwort

die als Ereignisbilder teils tatsächliche, öfter jedoch vermittelte Augenzeugenschaft für sich in Anspruch nehmen, zu Kunstwerken, mit denen Geschichte interpretiert, manipuliert und ideologisiert worden ist, und stellt sie auf den Prüfstand der eigenen Gattungsgeschichte. In einer Zeit, in der das Ereignis oft genug bereits im Augenblick seines Geschehens visuell um die Welt geht, in der das Bild zunehmend als politisches Argument, sogar als politische Waffe – und das ganz handgreiflich, über den metaphorischen Sinn hinaus – eingesetzt wird, muss auch das historische Bewusstsein dafür wachsen, dass das Ereignisbild nicht nur ein veritables Instrument der Geschichtsdeutung ist, sondern selbst zum Bildereignis wird und demzufolge als Protagonist der Geschichte wirksam wird. Folgerichtig hat sich das vorliegende Buch eine durchaus autoreflexive Rolle auferlegen müssen, es hat sich vorgenommen, mit seinen Beiträgen immer auch das Selbstverständnis des Kunsthistorikers im Blick zu haben, denn seine Arbeit im Weinberg der Bilder ist wesentlicher Bestandteil von Rezeption und Bildwirkung und verändert daher unser Verständnis historischer Ereignisse; auch er also »macht« Geschichte. Dass die Publikation in der Reihe der Studien aus dem Warburg-Haus erscheinen kann, verdanken wir der Aby-Warburg-Stiftung, die den Druck des Buches großzügig gefördert hat. Mein Dank gilt besonders ihrer Vorstandsvorsitzenden, der Hamburger Senatorin für Wissenschaft und Forschung Dorothee Stapelfeldt, ihrem Geschäftsführer Hartmut Halfmeier sowie den Mitherausgebern der Schriftenreihe Julia Gelshorn, Margit Kern und Bruno Reudenbach. Auch Veronica Beck, die unverzichtbare Hilfe bei der Bildrecherche geleistet hat, gebührt mein herzlicher Dank. Das nun endlich erschienene Buch hat lange, allzu lange auf sich warten lassen; seine Edition hat ihre eigene longue durée entwickelt, für die der Herausgeber allein verantwortlich ist. Daher gilt meine aufrichtige Anerkennung in erster Linie allen Autorinnen und Autoren, die seit Beginn des Vorhabens der Notwendigkeit und Aktualität einer solchen Publikation begeistert zugestimmt, die Tragfähigkeit des Konzepts mit ihren Beiträgen überhaupt erst erwiesen und schließlich geduldig dem Erscheinen des Buches entgegengesehen haben. Ob es selbst ein Ereignis darstellt, wird die Geschichte zeigen. Hamburg, September 2013

10 | Uwe Fleckner

Uwe Fleckner

DIE IDEOLOGIE DES AUGENBLICKS EREIGNISBILDER ALS ZEUGEN UND PROTAGONISTEN DER GESCHICHTE Uwe Fleckner

Ein Kunstwerk, das zeitgeschichtliche Vorgänge festhalten will, steht vor einem immensen Problem: Es muss sich der Herausforderung stellen, einen temporalen Verlauf wiederzugeben, ja, die Zeit selbst, den Wandel oder Umbruch, die allmähliche oder sprunghaft vollzogene Veränderung der Welt durch das historische Geschehen. Mehr noch: Es muss dabei insbesondere die gerade nicht sichtbaren oder doch nicht unmittelbar anschaulichen, mithin abstrakten Aspekte dieses Geschehens, seine Bedeutung eher als seine prozessuale Erscheinung erfassen und in visuelle Evidenz überführen. Zu diesem Zweck muss vor der Wiedergabe geschichtlicher Begebenheiten zuallererst festgestellt werden, welche dieser Sachverhalte tatsächlich weltverändernde Auswirkungen haben, Erschütterungen auslösen, deren seismische Wellen sich nachhaltig durch Raum und Zeit ausbreiten, um damit überhaupt bildwürdig zu werden, muss das bedeutungsvolle Ereignis aus der so vielgestaltigen wie endlosen Kette oft genug belangloser Vorkommnisse ausgegliedert werden. Und schließlich fragt sich, wer das historische Ereignis über das schlichte Faktum seines vergänglichen Daseins hinaus – und damit letzten Endes auch die Geschichte – eigentlich »macht«, ja, ob es überhaupt »gemacht« wird oder nicht vielmehr in einer Art von Parthenogenese aus sich selbst hervorgeht.1 Etymologisch lässt sich der Begriff des Ereignisses vom neuhochdeutschen »eräugen« ableiten; er bezeichnet demzufolge ein Geschehen, das dem Menschen vor Augen tritt, das visuell wahrgenommen, aber nicht notwendigerweise bildlich fixiert wird.2 Das Ereignisbild, das eine solche Wirklichkeitserfahrung im Kunstwerk gestaltend festhält, wird daher idealerweise zum Augenzeugen, auch wenn sich nur wenige künstlerische Bilddokumente dingfest machen lassen, die tatsächliche und unmittelbare Augenzeugenschaft

11 | Die Ideologie des Augenblicks

für sich in Anspruch nehmen können. Steht bereits das profane Historienbild als Darstellung oft weit zurückliegender geschichtlicher Begebenheiten vor den grundsätzlich gleichen Vermittlungsschwierigkeiten der simultanen Wiedergabe sukzedaner Sachverhalte, so verschärft sich das Problem, wenn sich das Kunstwerk vor der Aufgabe sieht, ohne historische Distanz zum Ereignis den erlebten Moment, die aktuelle Nachricht, das Gesehene, Gehörte oder Gelesene, aus der zeitlichen Nähe zum Geschehen heraus zum Thema einer bildlichen Interpretation zu machen. Denn in diesen Fällen fehlt naturgemäß die vermittelnde Instanz der Geschichtsschreibung, die dem Künstler mehr oder weniger kodifizierte – oder ideologisch miteinander wetteifernde – historische Reflexionen über Art und Bedeutung vergangener Ereignisse zur Verfügung stellt.3 Der ohnehin heikle Begriff des Ereignisses wird in der Wahrnehmung gegenwärtigen Geschehens um den eher noch heikleren Begriff der Aktualität erweitert, um einen temporalen Nullpunkt, wie ihn George Kubler in seiner ganzen Brisanz erfasst hat: »Aktualität ist, wenn der Leuchtturm dunkel ist zwischen den Lichtblitzen: es ist der Augenblick der Stille zwischen dem Ticken einer Uhr: es ist das leere Intervall, das auf ewig durch die Zeit schlüpft: es ist der Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft: die Nahtstelle des umgebenden Magnetfeldes an den Polen, so unendlich klein und doch existent. Es ist die zwischen dem Zeitlauf liegende Pause, wenn nichts geschieht. Es ist die Leere zwischen den Ereignissen.« 4 Und doch ist der »Augenblick der Aktualität«, fährt der amerikanische Kunsthistoriker fort, »alles, was wir je unmittelbar erfahren können«. Bereits Wilhelm von Humboldt hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Rolle von »Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe« erkannt, die den Historiker, auch den Schriftsteller und Künstler, leiten müssen, will er trotz fragmentierter Wahrnehmung zu wahrhaftigen Aussagen über geschichtliche Vorgänge gelangen: »Das Geschehene aber ist nur zum Theil in der Sinnenwelt sichtbar, das Uebrige muß hinzu empfunden, geschlossen, errathen werden.« 5 Übertragen wir diese Einsichten auf die Leistungsanforderungen eines Ereignisbildes, dann wird deutlich, dass der im Kunstwerk festzuhaltende Zeitpunkt eines Geschehens gleichsam von seinen Rändern her, vom Vorher und Nachher zu erfassen ist, was wiederum auf die Aporie von Simultaneität und Sukzession, auf die Darstellung des Verlaufs im Modus des Statischen zurückweist. Dass – und wie – Künstler aller Zeiten bildnerische Strategien entwickelt haben, um dieser inneren Widersprüchlichkeit zeitgeschichtlicher Darstellungen zu begegnen, ist Thema des vorliegenden Buches, das Analysen exemplarischer Ereignisbilder vom Mittelalter bis in die gerade erst vergangene Vergangenheit versammelt (die uns selbst, die Autoren und ihre Leser, zu Augenzeugen zumindest medial vermittelter Ereignisse gemacht hat) und danach fragt, ob und auf welche Weise zeitgenössische Geschichte in Werken der Bildenden Kunst überhaupt sinnstiftend dargestellt werden kann.

12 | Uwe Fleckner

DER FATALE MOMENT Nicht alle bedeutenden Ereignisse der Weltgeschichte sind bildkünstlerisch dargestellt worden. Andererseits wurden auch eher unbedeutende Vorkommnisse, die etwa dem Bereich der faits divers zuzuordnen sind, beispielsweise der Schiffbruch einer gewissen französischen Fregatte namens Méduse 1816, auf eine solche Weise zum Gegenstand der Kunst, hier – wie zumeist – der Malerei, dass aus einer wenn auch tragischen, so doch eigentlich banalen Begebenheit sehr wohl das Signum einer ganzen Epoche restaurativer Politik abgeleitet werden konnte.6 Théodore Géricaults Gemälde dieses Themas zeigt, wie andere Ereignisbilder auch, das ästhetische Bemühen, die »Leere zwischen den Ereignissen« einzufangen, in diesem Fall den von den Schiffbrüchigen erlittenen Augenblick zwischen Verzweiflung und Erlösung, und dergestalt aus jenem kurzen Wimpernschlag prekärer Ungewissheit, während dessen das rettende Schiff kaum wahrnehmbar am Horizont auftaucht, ein bildliches Zeichen für die Peripetie des Geschehens zu gewinnen: Der Moment wird zum Ausdruck temporaler Dauer gedehnt, Untergang und Verderben, Hoffnung und Rettung ergänzen sich in der Rezeption des Betrachters zu einer komplexen Zeitstruktur, ohne dass eine Bildhandlung tatsächliche Vorgänge in Szene gesetzt hätte. Ohnehin ist es geradezu ein Merkmal des modernen Ereignis- wie Historienbildes, dass die Geschichte oft genug ohne Handlung auszukommen hat.7 Frühe exemplarische Vergegenwärtigungen zeitgenössischer Geschehnisse wie der um 1070 entstandene Teppich von Bayeux und selbst noch Paolo Uccellos dreiteilige Schlacht von San Romano von etwa 1435–1441 oder Gentile Bellinis Prozession am Markustag von 1496, die darüber hinaus in einen Zyklus vergleichbarer Episoden eingebettet ist, nutzen nicht selten eine panoramahafte Ausfaltung der Ereignisse, wodurch der Augenblick multipliziert, der historische Ablauf in gleichsam kinematographischer Narration vor Augen geführt wird.8 Doch seit Beginn der Frühen Neuzeit setzt die Malerei, wenn sie nicht allegorische Formen der Geschichtsdeutung bevorzugt, zumeist auf eine letztlich aristotelische Einheit von Raum, Zeit und Handlung und definiert damit eine Darstellungskonvention, die über Jahrhunderte, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und teils darüber hinaus, erfolgreich bleiben sollte. Wie das klassische Historienbild so beruht auch das Ereignisbild bezeichnenderweise auf einer Ideologie des Augenblicks, die ungebrochen davon ausgeht, dass sich Geschichte durch instantane Begebenheiten vollzieht und nicht etwa durch langandauernde strukturelle Prozesse oder sich allmählich verschiebende Konstellationen politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Kräfte. Damit aber ist der historische Moment zwangsläufig als ein Augenblick der Handlung bestimmt, als ein Impulssystem von so individueller wie weltverändernder Aktion und Reaktion, und wird erst als solches überhaupt narrativ erfahr- und erfassbar. Zielen allegorische, mythologische oder religiöse Darstellungen auch anlässlich zeitgeschichtlicher Vorkommnisse auf ein eher zuständliches Abstraktum der Historie, auf Idee und Begriff, und weniger auf die Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse, so kennen wir

13 | Die Ideologie des Augenblicks

1 Napoleon Bonaparte: Skizze taktischer Bewegungen in der Schlacht von Austerlitz, 1806, Feder auf Papier, 22,2 × 37 cm, München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv

jedoch auch Mischformen, in denen komplexe Begebenheiten aus der hybriden Zusammenschau von handlungsbestimmten und zeichenhaften Bildelementen entwickelt wurden. Beispielhaft sei hier auf Giorgio Vasaris Schlacht von Lepanto verwiesen, jenem Fresko von 1572–1573 im Vatikanpalast, in dem der Maler das Schlachtengetümmel offenbar nur dadurch bewältigen konnte, dass er einerseits als Chronist des Geschehens größten Wert auf die Schilderung historischer Fakten legte, was zu einer Komposition von höchster Unübersichtlichkeit führte, in der dann andererseits – und bezeichnenderweise – die Symbole des Christentums (Kelch, Hostie und Kreuz), schließlich sogar der leibhaftige Erlöser samt den Schutzpatronen der Heiligen Liga den mimetischen Modus durchbrechen, da Sieg und Sinn des Kampfes gegen die osmanischen Truppen ansonsten vollkommen unverständlich bleiben würden.9 Und selbst Jacques-Louis Davids Schwur im Ballhaus von 1790 –1792 nimmt streng genommen noch immer Zuflucht zu diesem bildrhetorischen Kunstgriff, auch wenn der Entwurf seines niemals ausgeführten Gemäldes mit Blitz und

14 | Uwe Fleckner

2 François Gérard: Napoleon in der Schlacht von Austerlitz, 1810, Öl auf Leinwand, 510 × 958 cm, Versailles, Musée national du château de Versailles et du Trianon

Sturm das Pneuma der Geschichte in die vorgeblich journalistische Schilderung seiner Szene bruchlos zu integrieren scheint.10 In aller Regel aber wird der so frucht- wie oft genug furchtbare Augenblick in den meisten neuzeitlichen Gemälden, die sich zeitgeschichtlichen Themen widmen, ausschließlich durch den Hinweis auf die entscheidende Aktion bestimmt, und Handlungsträger ist dabei notwendigerweise ein Bildheld, der – jedenfalls bis zur Moderne – den historischen Sachverhalt verkörpert. Und dies auch und gerade dann, wenn das darzustellende Faktum selbst keineswegs eindeutig ist, wie es beispielsweise bei der Schlacht im preußischen Eylau der Fall war, in deren geschichtspolitischer Manipulation durch Antoine-Jean Gros der Kaiser der Franzosen 1808 den ungewissen Ausgang der Kämpfe dadurch zumindest bildlich in einen Sieg umdeutet, dass alle Handlungsimpulse, alle Blicke und Gesten von ihm selbst, der »Weltseele« zu Pferde (Georg Wilhelm Friedrich Hegel), ausgehen oder zu ihm zurückführen.11 Die Gattungsvorgaben des Schlachtenbildes ließen den Künstlern bis ins 19. Jahrhundert kaum eine Möglichkeit, der Personalisierung und Heroisierung der Geschichte zu entgehen. Die Protagonisten der blutigen Konflikte, allen voran Napoleon selbst, waren sich allerdings vollkommen bewusst, dass es nicht die Tat des einzelnen Helden war, die Schlachten entschied, und nicht seine persönliche Milde, die eine Pazifizierung der unterlegenen Nationen einleitete. Wurden die ungezählten Kriegsdarstellungen der Epoche daher ganz bewusst – und gegen besseres Wissen – zu propagandistischen Zwecken eingesetzt, so zeigen andere Bildbelege, die bezeichnenderweise nicht als Kunstwerke entstanden sind, dass die über Sieg oder Niederlage entscheidenden Kräfte längst zweifelsfrei erkannt waren (Abb. 1).12 Wenige Wochen nach der Schlacht von Austerlitz warf der Kaiser

15 | Die Ideologie des Augenblicks

3 Benjamin West: Tod des General Wolfe, 1770, Öl auf Leinwand, 151 × 213 cm, Ottawa, National Gallery of Canada

der Franzosen im Januar 1806 eigenhändig und mit energischen Federzügen eine erstaunliche Skizze des Kampfgeschehens aufs Papier, mit der er die Stellungen der Bataillone und ihr taktisches Vorgehen festhielt: Seitlich zur Straße von Brünn nach Olmütz, die in der Zeichnung durch zwei parallele Geraden angedeutet wird, standen die kaiserliche Armee und die alliierte Armee einander gegenüber, wiedergegeben als lineare Abfolge längerer beziehungsweise kürzerer Striche; der Versuch der Russen und Österreicher, die Flanke der Franzosen zu umgehen, um ihnen in den Rücken zu fallen, angezeigt durch die Fortsetzung der kürzeren Striche in einer umklammernden Bogenform, wurde von Napoleon rechtzeitig erkannt, die gegnerische Angriffslinie durch massive Kräfte im Zentrum kampfentscheidend durchbrochen, wie eine teils in Stoßrichtung verwischte Kreisform in der Blattmitte sowie eine komplexe Kurvatur erläutert. Eine solche diagrammatisch-abstrakte Konfiguration zeigt aber nicht nur anschaulicher als jedes herkömmliche Schlachtengemälde, etwa François Gérards Szene gleichen Themas (Abb. 2), den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse vom 2. Dezember 1805, sie legt darüber hinaus beredtes Zeugnis ab von der psychischen wie physischen Erregung des Zeichnenden, der geradezu seismographisch den Aufeinanderprall der feindlichen Energien im gestischen Duktus seiner Skizze nachvollzieht.

16 | Uwe Fleckner

4 Jacques-Louis David: Tod des Marat, 1793, Öl auf Leinwand, 162 × 128 cm, Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique

Andererseits wird seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts der souveräne Akteur der zeitgeschichtlichen Bilderzählung auch in offiziellen Kunstwerken in seiner Wirkungsmacht mehr und mehr in Frage gestellt: Der Held stirbt, wird anonymisiert, marginalisiert oder isoliert.13 Der Tod desjenigen, der einst Handlungsträger war, erfährt nun in einer Epoche geschichtsphilosophischer Reflexionen eine bemerkenswerte Bildkonjunktur. General James Wolfe stirbt auf dem nordamerikanischen Schlachtfeld des Siebenjährigen Krieges, Jean-Paul Marat in der Einsamkeit seines Krankenzimmers, und die geschichtemachenden Gemälde, die ihnen – und so vielen anderen Helden in Agonie – gewidmet sind, antworten insofern auf das nicht länger zu übersehende darstellungstheoretische Dilemma, als es zu einer Inversion herkömmlicher Bilderzählung kommt (Abb. 3–4). An die Stelle der heroischen Tat tritt eine Implosion szenischer Bezüge, wenn sämtliche Kompositionslinien im

17 | Die Ideologie des Augenblicks

handlungslosen Zentrum des Bildes in Richtung auf die Figur des sterbenden Generals zusammenfallen, oder aber die Narration wird, wie im Fall des ermordeten Revolutionsführers, zugunsten einer ihrem Wesen nach eigentlich unmöglichen Bildgattung, des Einfigurenhistorienbildes, rundheraus preisgegeben.14 Und schließlich verschwindet der Held völlig vom Schauplatz der Geschichte, wird wie in Adolph Menzels Aufbahrung der Märzgefallenen von 1848 oder in Carlo Carràs Begräbnis des Anarchisten Galli von 1910 –1911 durch eine passiv beobachtende oder aktiv handelnde und jedenfalls anonyme Menschenmenge ersetzt.15 Greift schon Davids Tod des Marat auf eine ihres ursprünglich religiösen Sinnes beraubte Bildformel christlicher Kunst zurück, um Darstellungsmöglichkeiten des Historienbildes wie in einem ikonographischen Echo in seine nicht länger erzählende Komposition zu retten, so werden derlei inhaltliche wie formale Allusionen das Ereignisbild bis ins 20. Jahrhundert hinein begleiten, wie beispielsweise in Picassos Guernica von 1937 mit seiner ergreifenden Pietà von Mutter und Kind zu sehen ist oder im Triptychon Der Krieg, das Otto Dix 1929–1932 nicht nur im Format eines Altarretabels ausgeführt, sondern auch mit einer Reihe von Versatzstücken christlicher Ikonographie, etwa einer invertierten Kreuzigung, versehen hat.16 Verschwindet mit dem handelnden Helden zuletzt auch die Bildhandlung selbst, jedenfalls in ihrer narrativen Form, aus der Geschichtsdarstellung, so mussten an ihrer Stelle neue Werkstrategien gefunden werden, um das Ereignis künstlerisch bewältigen zu können und ihm über die tagesaktuelle Berichterstattung hinaus historische Relevanz zu unterlegen, denn schließlich war es gerade die höhere, wenn nicht sogar metaphysische Bedeutung der Geschichte, die in den zunehmend säkularen Gesellschaften nach der Aufklärung mehr und mehr angezweifelt wurde. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Francisco Goyas Erschießung der Aufständischen von 1814, in der nicht nur die entsetzlichen Ereignisse aus dem Kampf gegen die französische Okkupation im Mai 1808 in Madrid zum Darstellungsgegenstand wurden, sondern vor allem anderen die Trostlosigkeit und Wesensleere moderner Geschichtserfahrung.17 Goyas anonymer Held, wenn wir ihn denn als solchen überhaupt noch bezeichnen wollen, ist ebenfalls unter Zuhilfenahme christlicher Würde- und Pathosformeln ins Bild gesetzt worden, doch der Sinn der Geschichte will sich angesichts der disparaten Komposition nicht länger erschließen: Mit der so verzweifelten wie ergebenen Geste seiner ausgestreckten Arme wird der Mann, der im fatalen Moment seiner Darstellung erschossen wird, zum säkularen Märtyrer ohne Heilsgewissheit.

DAS EREIGNISBILD WIRD BILDEREIGNIS Die philosophische Hermeneutik hat im Anschluss an Nietzsche, Husserl und Heidegger einen Ereignisbegriff entwickelt, der nicht mit dem herkömmlichen Verständnis des Ereignisses als historische Begebenheit verwechselt werden darf, sondern ausdrücklich

18 | Uwe Fleckner

den Erkenntnisakt bezeichnet, der auch und gerade beim Betrachten von Kunstwerken von entscheidender Bedeutung ist. Solcherart verstanden macht die Vorstellung vom Kunstwerk als Ereignis etwa bei Hans-Georg Gadamer darauf aufmerksam, dass es sich bei Bildern nicht um passive, historisch abgeschlossene und daher unwandelbare Objekte handelt, die als Verfügungsmasse der Geschichte den Akteuren ihrer Interpretation hilflos ausgeliefert sind.18 Vielmehr haben wir es bei jedem Kunstwerk – zumindest bei jedem Kunstwerk von Rang – mit einem lebendigen Organismus zu tun, der mit seinen Rezipienten über die Zeiten hinweg aktiv in immer neue dialogische Konstellationen eintritt, dessen Wahrnehmung demzufolge ereignishaften Charakter aufweist und der mithin – im Fall zeithistorischer Themen – nicht allein als Reportage, Zeugnis oder Dokument, sondern vielmehr als Protagonist der Geschichte verstanden werden muss.19 Die Werke der Kunst entfalten dieser Vorstellung nach ihre eigene lebensweltliche Dynamik, sie nehmen – mindestens bis zu ihrer Autonomisierung in der Moderne, sodann seit der anhaltenden Forderung, das Kunstwerk möge zurück ins Leben finden – für sich in Anspruch, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Sinn zu stiften, unseren Blick auf die Geschichte und damit die Geschichte selbst zu verändern. Besondere Brisanz liegt dabei in der vom Kunstwerk behaupteten und durchaus provokativen Evidenz, denn anders als die schriftliche Quelle führt das Ereignisbild den historischen Vorgang buchstäblich vor Augen, »eräugt« das Geschehene in wahrhaftiger Anschaulichkeit, wenn auch unabhängig von einem unverrückbaren, zeitunabhängigen Wahrheitsgehalt (der damit grundsätzlich in Frage steht), und das nicht selten in propagandistischer oder zumindest erkenntnisleitender Absicht. Von der Macht der Bilder zeugen dabei insbesondere die historischen wie aktuellen Zensurmaßnahmen, die ihrerseits auf das Ereignis von Bildwahrnehmungen reagieren und die in den Werken getroffenen Aussagen zurückweisen, ja, zu unterdrücken versuchen. Dass die Diktaturen der Vergangenheit wie der Gegenwart diesen zumindest potentiellen Ereignischarakter von Artefakten verspürt haben und immer auch einen Kampf gegen die Kunst vorhergehender Regime oder ganzer Epochen führten, zeigen nicht zuletzt die ansonsten unverständlichen Bilderstürme von der Antike bis zu den Wiedertäufern, von der nationalsozialistischen Aktion »Entartete Kunst« bis zur Zerstörung der Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan.20 Auch für das Ereignisbild gilt, dass sich die Werke dieser Gattung vom eigentlichen Anlass ihres Entstehens lösen und in immer neuen Zusammenhängen wirksam werden können, wie sich beispielsweise an Eugène Delacroix’ Gemälde Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden demonstrieren lässt, das zu einer enthistorisierten Ikone geworden ist, die sich – in Gadamers Sinne – vor dem Hintergrund gewandelter Kontexte stets auf andere Weise »ereignet«.21 Anhand der Rezeptionsgeschichte nicht weniger Ereignisdarstellungen lässt sich dementsprechend nachvollziehen, dass Kunstwerke selbst historische Ereignisse generieren können, die deutlich über ihren vorgeblich bloß abbildenden Charakter hinausweisen. Ein Beispiel mag dies erläutern: Als der damalige US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Natio-

19 | Die Ideologie des Augenblicks

5 Pablo Picasso: Guernica, 1955, Tapisserie (ausgeführt von Jacqueline de la Baume Dürrbach), Wolle, 305 × 671 cm, New York, United Nations Headquarters, Dauerleihgabe des Nelson A. Rockefeller Estate, 1985–2009

nen in New York die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit eines militärischen Angriffs auf den Irak überzeugen wollte, wurde im Foyer des Sitzungssaales auf Druck der amerikanischen Regierung eine dort seit 1985 angebrachte Tapisserie nach Picassos Guernica verhüllt, da die versammelte Presse die medialen Bilder ihrer Berichterstattung offenkundig nicht vor dem Hintergrund eines Kunstwerks aufnehmen sollte, das als eindrücklichstes Antikriegsbild des 20. Jahrhunderts die Folgen der geplanten Bombardierungen heraufbeschworen hätte (Abb. 5).22 Auch wenn der historische Kontext des Kriegsverbrechens deutscher, italienischer und frankistischer Truppen gegen die baskische Stadt im Frühjahr 1937 kaum in einen sinnfälligen Bezug zum drohenden, seit März 2003 dann tatsächlich entfesselten Irakkrieg gesetzt werden konnte, hätte Picassos Komposition die amerikanischen Angriffspläne dennoch in ein moralisches Zwielicht getaucht.23 Anstelle des Kunstwerks zeigte der Außenminister eine suggestive Folge von Bildbelegen, die eine Aufrüstung des Iraks mit biologischen, chemischen und möglicherweise nuklearen Waffensystemen beweisen sollten; doch gerade der Versuch, Guernica aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verdrängen, legte für manchen Beobachter die zweifelhafte Begründung des Krieges offen und ließ Picassos Friedensbild auf gänzlich unerwartete Weise erneut sichtbar werden.24 Bezeichnenderweise wurden daher beim gleichen Anlass, und seither immer wieder, Reproduktionen und Adaptionen des Gemäldes von Demonstranten als Protestmedium eingesetzt (Abb. 6). Auf diese Weise wird die gemalte Anklage gegen den Krieg in den politischen Auseinandersetzungen in Stellung gebracht, das Bild wird zum Handlungsträger, mit seiner Hilfe wird versucht, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, und zudem verändert der über die Jahrzehnte immer wieder anders motivierte Bildeinsatz von Guernica den Blick auf die historischen Geschehnisse aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Hatte Picassos Gemälde auf der Pariser Weltausstellung von 1937 aus dem nationalen Ereignis zunächst einen internationalen Aufschrei gegen den Faschismus gemacht, so wurde es seit dieser Zeit zu einem allgemeinverständlichen Menetekel gegen jede Form von militärischer

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6 Eine Gruppe von Kunststudenten demonstriert mit Figuren aus Pablo Picassos »Guernica« gegen den drohenden Irakkrieg, New York, Februar 2003, Fotografie: Gregory Sholette

Gewalt. Ent- und rekontextualisiert entwickelte sich gerade dieses Kunstwerk zu einer politischen Universalformel mit höchster, gelegentlich eben auch zu bekämpfender Wirkung, und selbst als Werbebild für die deutsche Bundeswehr musste das Gemälde in der wechselhaften Geschichte seiner Rezeption schon herhalten (Abb. 7).25 Die in der Gegenwart dramatisch schrumpfende mediale Distanz von Ereignis und Ereignisdarstellung macht das Bild zunehmend zum essentiellen Teil des Geschehens. Bereits die erste Mondlandung vom 20. Juli 1969 war und ist als mediales Ereignis nicht vom schieren Faktum dieser wissenschaftlich-technischen Eroberungsleistung zu trennen, darüber hinaus werden in den nicht verstummenden Verschwörungstheorien die Fernsehbilder vom ersten Menschen auf dem Mond gelegentlich für den eigentlichen Tatbestand gehalten, für den Tatbestand einer Inszenierung freilich, und nicht etwa der historische Sachverhalt selbst.26 Welterschütternde Ereignisse wie die terroristische Attacke auf das World Trade Center in New York und das Pentagon bei Washington am 11. September 2001 vollziehen sich heute im gleichen Moment wie ihre mediale Wahrnehmung (Abb. 8).27 Die Ideologie des Augenblicks, die seit Jahrhunderten historische Darstellungen

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7 Werbeanzeige der Bundeswehr unter Verwendung von Pablo Picassos »Guernica« (»Feindbilder sind die Väter des Krieges«), in: Der Spiegel 37/1990

beherrscht hat, wird hier in unerwarteter Weise erneut zum wesentlichen Faktor des Bildes. Nun aber nicht mehr als manipulierte, das Verständnis kanalisierende Verdichtung geschichtlicher Vorgänge, sondern als synchrone und damit scheinbar Authentizität verbürgende Wiedergabe der Ereignisse, womit freilich auch die Erkenntnisleistung der ungezählten Fernseh- und Pressebilder in Frage steht, die das dramatische Geschehen aufzeichnen und dieses – durchaus am Historienbild geschult – in Szene zu setzen versuchen. Ohne reflexive Distanz allerdings können solche Bilder kaum eine wirkliche Analyse des Ereignisses liefern, sondern ihren Rezipienten lediglich ein oft genug ideologisch gefärbtes Vorverständnis vor Augen stellen. Auch wenn das tatsächliche Leid tausender Menschen nicht vergessen ist, so überlagert dabei die mediale Präsenz der Bilder in der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zumindest tendenziell das historische Ereignis selbst. Das unbezweifelbar auf authentische Wiedergabe zielende Registrieren historischer Vorgänge im medialen Bild setzt mithin die Tatsache nicht außer Kraft, dass der Betrachter solcher Bilder, will er verstehen, was sie eigentlich mitzuteilen haben, auf »Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe« (Wilhelm von Humboldt) angewiesen ist. Insbesondere das Ereignisbild – aber selbstverständlich auch jede andere bewusst eingesetzte Form der Geschichtsschreibung – macht das zeitlich abgeschlossene Faktum zum Bestandteil einer lebendigen, andauerndem Wandel unterzogenen historischen Überlieferung, die als zurückblickende Vision charakterisiert werden kann. Als Bildereignis unter

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8 Unbekannter Betrachter der Fernsehberichterstattung zum Angriff auf das World Trade Center, Peterborough, 11. September 2001

den Bedingungen einer jeweils veränderten Gegenwart stets anders wahrgenommen und aktualisiert, greift das Kunstwerk – ebenso das mediale Bild – in die eigene Zeit ein; es wirkt darüber hinaus auf das Ereignis, wirkt auf die Geschichte zurück. Der zunächst so heikle Begriff der Aktualität kann auf diese Weise neu bestimmt werden, denn der Erkenntnisvollzug im Augenblick bildlicher Wahrnehmung führt zu einer tatsächlichen Aktualisierung des Kunstwerks und mit ihr zu einer Aktualisierung der historischen Begebenheit, die ihren Sinn unter Maßgabe gegenwärtiger Wahrnehmungszusammenhänge immer aufs neue verändert. Darin begründet sich nicht zuletzt auch die »zeitlose Gegenwart« (HansGeorg Gadamer) des Kunstwerks.28 Für die Darstellungen zeitgenössischer Geschichte bedeutet dies: Das Ereignisbild wird zum Bildereignis.

HISTORIENBILD OHNE HISTORISCHE DISTANZ Zeitgeschichtliche Vorgänge sind in der Bildenden Kunst seit dem 20. Jahrhundert, allerdings nur gelegentlich, auch als abstrakte Bildkompositionen dargestellt worden. Mit den Möglichkeiten gegenstandsloser – besser gesagt: nicht-figurativer – Kunst antworteten Malerei und Grafik dergestalt auf die Krise von Bilderzählung, heldischem Handlungsimpuls und nachschöpfender Mimesis, die sich bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts abzuzeichnen begann. Als vermutlich frühestes Beispiel darf El Lissitzkys Lithographie

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9 El Lissitzky: Schlagt die Weißen mit dem roten Keil, 1920, Lithographie, 47,9 × 58,8 cm, Eindhoven, Stedelijk Van Abbe Museum

Schlagt die Weißen mit dem roten Keil von 1920 gelten, die der Künstler während der entscheidenden Schlussphase des russischen Bürgerkriegs zwischen der Roten und der Weißen Armee für die politische Verwaltung der Westfront entworfen hatte (Abb. 9).29 Die Grafik erfüllt gleich mehrere Bildfunktionen: Als Propagandaplakat ruft sie die bolschewistischen Truppen und ihre Anhänger zum entschlossenen Kampf gegen die Reaktion auf; zugleich stellt sie sich, wenn auch mit ungewohntem visuellem Idiom, in die Gattungstradition des Schlachtenbildes, knüpft also – freilich unbewusst – an Napoleons taktische Stellungsskizze von 1806 an, ohne indes ein tatsächlich stattgefundenes Kampfgeschehen zu illustrieren. Anders als etwa Werke des Klassizismus, der akademischen Salonmalerei oder des Realismus übereignet das Blatt die militärische Tat nicht einem oder mehreren Protagonisten, sondern evoziert ausdrücklich die Kräfte des historischen Geschehens in einer zwar abstrakten, gleichwohl vollkommen eindeutigen und gerade auf diese Weise besonders schlagkräftigen Ikonographie kämpfender Formen. Im übrigen bezeugt die erneute Verwendung des Motivs in der »linken« Gebrauchsgrafik bis in die Gegenwart hinein auch in diesem Fall den aktualisierenden Ereignischarakter des Kunst-

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10 Plakat der Partei »Die Linke« zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt (»Die soziale Alternative«), Offsetdruck, 2011

werks, etwa dann, wenn die deutsche Partei »Die Linke« das richtungsweisende Kompositionselement des Keils mit seinem signifikanten Rot sinnträchtig für ihr Parteisignet einsetzt, so dass Typographie und Design unmittelbar auf die politische Tendenz der Partei aufmerksam machen, auch wenn nicht mehr angezeigt wird, wer mit dem roten Keil eigentlich zerschlagen werden soll (Abb. 10). Die Kunst der Moderne hat die Errungenschaften abstrakter Kompositionsformen auch in anderen politisch motivierten Werken genutzt, etwa wenn K.R.H. Sonderborg mit seinem Leinwandbild Spur Andreas B. von 1980 den umstrittenen Tod eines Terroristen der ersten Generation der RAF als subversive abstrakte Chiffre visualisiert, die ohne Hintergrundinformationen kaum als Reflex auf eine spurensichernde Pressefotografie verständlich ist und es daher als scheinbar unverfängliches, weil rein ästhetisches Gebilde – und gewiss in Unkenntnis seines tatsächlichen Bildinhalts – bis zum Wandschmuck der Berliner Landesvertretung des Saarlandes gebracht hat.30 Und auch Karl Otto Götz nimmt mit seinem Gemälde Jonction 3.10.90 aus dem Jahr 1990 die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten zum Anlass einer abstrakten Komposition, in der die Kräfte der Geschichte auf gleichsam seismographische Weise in ein erregtes Gefüge von Farbschwüngen überführt werden.31 Einen Grenzfall bildet dabei Piet Mondrians unvollendetes letztes Werk, sein Bild Victory Boogie Woogie von 1942–1944, ein tanzendes Arrangement farbiger Elemente, an dem der Künstler bis zu seinem Tod im New Yorker Exil gearbeitet hatte (Abb. 11). Im Lauf der Entstehungsjahre immer wieder verändert, durchdringen sich hier musikalisch-bildnerische Rhythmen freier Formen mit einer politischen Aussage, mit der Hoffnung auf einen Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn der Künstler eine

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11 Piet Mondrian: Victory Boogie Woogie, 1942–1944, Öl, Papier, Karton, Klebeband, Bleistift und Kohle auf Leinwand, 127 × 127 cm, Den Haag, Gemeentemuseum

dermaßen konkrete Lesart nicht ausdrücklich sanktioniert hat, stellt sich die entsprechende historische Assoziation, provoziert durch den Kriegseintritt der USA, beim Betrachter geradezu zwangsläufig ein: Der Sieg über die Diktatur und der Sieg künstlerischer Freiheit gehen in Mondrians Bild eine unverbrüchliche ästhetische Verbindung miteinander ein. In all diesen Beispielen, bei Lissitzky, Sonderborg und Götz, möglicherweise auch bei Mondrian, wird das affektive Potential der Form- und Richtungswerte zu politischen Bildaussagen genutzt, ihr unwillkürlicher psychischer Impuls überträgt sich auf den Betrachter, ihre vordergründig noch ganz unkonkrete Botschaft wird durch die Kenntnisnahme der jeweiligen Bildanlässe inhaltlich aufgeladen. Mehr noch: Die unfigürlichen Kompositionen werden auf diese Weise nicht allein als Visualisierungen eines spezifischen Ereignisses begreifbar, sie diagnostizieren darüber hinaus die Unanschaulichkeit der abstrakten Realität der Zeitgeschichte. Das Ereignisbild, ein Historienbild ohne historische Distanz, steht von jeher aber nicht nur vor darstellungstheoretischen Problemen, es ist auch dazu angehalten, dort erkenntnis-

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stiftend zu wirken, wo keinerlei historiographische Deutung vorausgeht, auf die es sich beziehen könnte. Der Künstler muss dementsprechend selbst als Historiker tätig werden, er setzt sich damit nicht nur bildnerischen Herausforderungen aus, sondern sieht sich auch vor der bedenklichen Aufgabe, Stellung zu beziehen oder zumindest Sinngehalt und Tragweite gerade erst vollzogener Tatbestände aufzudecken. Die Zwangsläufigkeit einer solchen Positionsbestimmung zwischen Involvierung und auktorialer Distanznahme führt notwendigerweise zu autoreflexiven Überlegungen zur eigenen Rolle, die gelegentlich motivisch, kompositorisch oder auf andere kommentierende Weise in die Werke integriert worden sind. Ein politisch engagierter Künstler wie Jacques-Louis David beispielsweise setzt in seinem Schwur im Ballhaus von 1790 –1792 folgerichtig auch die notwendigen Abweichungen vom historischen Sachverhalt in Szene, um zu historischer Wahrheit (jedenfalls zur Wahrheit aus der Sicht eines Künstlers, der selbst Partei ergriffen hatte) zu gelangen. Der mögliche Held seiner Darstellung ist durch die handelnde Menge ersetzt worden, und auch zwei journalistisch tätige Protokollanten des Geschehens, der Journalist und Abgeordnete Bertrand Barère sowie – fiktiv – Jean-Paul Marat, werden nun als Chronisten des Ereignisses und damit als Reflexionsfiguren in das Gemälde aufgenommen und übernehmen dort stellvertretend diejenige Rolle, die dem Maler als Urheber des Bildes insgesamt zukommt.32 Damit ist diesem Werk, wie anderen Werken auch, ein innerbildlicher Darstellungskommentar eingeschrieben, der sich dann in Ereignisbildern des 20. Jahrhunderts, etwa bei Andy Warhol oder Gerhard Richter, mit den bildtheoretischen Optionen der Moderne als Medienkritik äußern sollte.33 Kunstwerke haben immer wieder und auf vielfältige Weise die Aufgabe übernommen, Ereignisse der Zeitgeschichte bildnerisch zu reflektieren und ins Bewusstsein der Mit- und Nachwelt zu heben. Durch ihre visuelle Leistungsfähigkeit arbeiten sie aus dem tatsächlichen Ereignis ein übergeordnetes Verständnis für zeitgenössische Vorgänge heraus und werden dadurch – neben der eigentlichen Geschichtsschreibung – zu einem Erkenntnisinstrument, mit dessen Hilfe das historische Gedächtnis zu einer leitenden Ordnungskategorie des Weltgeschehens wird.34 Das Ereignisbild erfasst, interpretiert, manipuliert die historischen Begebenheiten, wechselnde Strategien haben dabei im Lauf der Jahrhunderte zu stets neuen produktiven Deformationen geschichtlicher Sachverhalte geführt und diese dadurch überhaupt erst sicht- und verstehbar gemacht. Dem flüchtigen Ereignis wird durch seine mediale Transformation dauerhafte Präsenz verliehen, denn gerade angesichts solcher Geschehnisse (Krieg, Tod und Gewalt), die dem Menschen die eigene Vergänglichkeit unabweisbar vor Augen führen, muss dem Verlöschen ein memoriales Bild entgegengesetzt werden. Darüber hinaus verändert sich durch die vermittelnden Eingriffe der Ereignisdarstellung und deren immerwährende Aktualisierung in der Werkrezeption nachfolgender Zeiten das Ereignis selbst, das im historischen Bewusstsein weniger als Fakt sondern vielmehr als variable Fiktion wahrgenommen wird. Die Frage nach derjenigen Instanz, die das historische Ereignis eigentlich hervorbringt, muss also dahingehend beantwortet werden, dass für unser Verständnis der Geschichte allein das

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historiographische Narrativ verantwortlich ist, wie es im Ereignisbild auf unterschiedliche Weise inszeniert wird, als scheinbar authentischer Augenzeugenbericht, als dramatisierender Heldenepos, als Allegorie und Personifikation, als moralisierendes Exemplum und entlarvende Dekonstruktion oder als theoretisierende Abstraktion. Und für all diese Erscheinungsformen zeithistorischer Darstellung gilt: Bilder machen Geschichte.

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GESTICKTE GESCHICHTE DER »TEPPICH VON BAYEUX« ALS VISUALISIERUNG ZEITGENÖSSISCHER EREIGNISSE Cornelia Logemann

Kaum ein mittelalterliches Artefakt wurde so sehr beim Wort genommen wie der berühmte Teppich von Bayeux. Oft genug wurde er den zeitgenössischen Schriftquellen vorgezogen, um Aufstieg und Fall Harold Godwinsons und schließlich die Eroberung Englands durch den normannischen Thronaspiranten Wilhelm zu schildern: Die Schlacht von Hastings wird in zahlreichen Szenen dargestellt; es ist das zentrale Ereignis, das in dem Werk so bildmächtig in den Blick gerückt wird. Kostbarkeit und Fragilität des über 68 Meter langen und lediglich ungefähr einen halben Meter breiten bestickten Stoffstücks, das heute in einem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Museum in der Stadt Bayeux aufbewahrt wird, kontrastieren auffällig mit den Gefahren, denen das Werk in der Vergangenheit ausgesetzt war. Die Rettung des Kunstwerks über die Jahrhunderte hinweg gipfelt immer wieder in dramatischen Ereignissen, oft von besorgten Zeitgenossen nicht weniger dramatisch geschildert als die Geschehnisse auf der Tapisserie selbst: So wird etwa berichtet, wie im Zuge der französischen Revolution einige Bewohner von Bayeux den kostbar bestickten Stoff als Abdeckung für Pferdewagen zweckentfremden wollten. Durch wenig geeignete Aufbewahrungsformen, durch häufiges Aufrollen und Entrollen des umfangreichen Stoffstreifens kamen in der Folgezeit Beschädigungen hinzu, die wohl letztlich den englischen Zeichner Charles Stothard zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu veranlassten, die Tapisserie minutiös durch Zeichnungen zu dokumentieren. Damit versuchte Stothard die graphischen Reproduktionen zu präzisieren, die Bernard de Montfaucon bereits 1730 in seinen Monuments de la Monarchie française wiedergab. Die letzte große Gefahr drohte der Tapisserie schließlich am Ende des Zweiten Weltkrieges, da die Nationalsozialisten erhebliches Interesse daran hatten, das unschätz-

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bare Objekt in ihren Besitz zu bringen. Heinrich Himmlers Versuch, das Objekt aus dem Louvre zu zerren (dort verwahrte man die Tapisserie seit Landung der Alliierten in der Normandie), scheiterte. Bereits hier wird deutlich, dass die Geschichte, welche die Stickereien erzählt, und die Geschichte der Tapisserie selbst sich kaum noch voneinander trennen lassen.1 Dass all diese Begebenheiten, die das Kunstwerk in Gefahr brachten, so gut dokumentiert sind, zeigt vor allem, dass die in Form und Farbe gebannte Eroberung Englands die nationale Identität sowohl Frankreichs als auch Englands berührt. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass die Schilderung der Begebenheiten auf dem langen Stoffstreifen nicht erkennen lässt, welche Sicht der Dinge hier präsentiert wird: Die Bilder erweisen sich in gewissem Sinne als unparteiisch und ambivalent. Sie bilden einen offenen Text, der erst durch seine Leser und Betrachter vervollständigt werden kann. Ungeklärt ist nach wie vor auch die Identifizierung des Auftraggebers. Nährte die Zuschreibung an die Ehefrau Wilhelms, Königin Mathilde, vor allem am Beginn des 19. Jahrhunderts zusätzlich romantische Fiktionen, wird mittlerweile der Halbbruder Wilhelms, Odo von Bayeux, als Initiator favorisiert; jedoch basiert diese Zuweisung ebenso auf Mutmaßungen.2 Auch die Frage nach den Erschaffern dieses Werks und insbesondere die Vorstellung von Stickkunst als weiblicher Beschäftigung gaben Anlass zu Spekulationen, etwa dazu, die Königin Mathilde als eine emsig am Ruhm ihres Gatten stickende Frau und damit als alleinige Herstellerin dieses Kunstwerks zu sehen. So erfolgte auch die erste Ausstellung der Tapisserie in Paris dieser verklärenden Idee, und noch heute ist zuweilen von der »Tapisserie de la Reine Mathilde« die Rede. Zu all dem bringt die Tapisserie etwas mit – besser: es fehlt ihr etwas –, das sie zu einem Geschichten produzierenden Objekt machen musste. Die Geschichte, die erzählt wird, kennt kein Ende, und trotz der eindrücklichen Länge ist der Teppich an einigen Stellen lückenhaft. Da das letzte Stück unvollständig erhalten ist, weiß man nicht einmal, ob es überhaupt eine Szene gegeben haben mag, die zur Klärung des Bildprogramms beitrug. Genau dieses offenbar fehlende – oder auch nie vorgesehene – Teil hält viele Fragen unbeantwortet im Raum. Dazu fügt sich, dass es sich um ein genuin profanes Erzählwerk handelt, denn die Systematik der Heilsgeschichte, so prägend für die Bildwelt des Mittelalters, greift hier nicht, die Rhythmisierung der Geschichte und ihre Unterteilung in einzelne Abschnitte gehorchen anderen Vorgaben. Ebenso ist die politische Ambivalenz der Erzählung auffällig, besteht dadurch doch noch immer Uneinigkeit darüber, wo die Tapisserie überhaupt gefertigt wurde. Festigte Francis Wormald einst die These, dass die Stickerei ein insulares Werk ist, so plädierte Wolfgang Grape vor einigen Jahren für die Lokalisierung des Unternehmens direkt nach Bayeux.3 Kaum ein Werk wurde einer gründlicheren Autopsie unterzogen als die Tapisserie von Bayeux, denn auch die politische Positionierung dieses Bilderbogens ist bisher nicht eindeutig gelungen. Jeder Nadelstich, fehlend oder von Restauratoren einst womöglich ungefragt hinzugefügt, gewinnt an Bedeutung. Mit größter Sorgfalt wurden Veränderungen dokumentiert, jegliche dargestellten Objekte, Rüstungen, Waffen, Schiffe, mit

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zeitgenössischen Quellen so genau wie nur irgend möglich abgeglichen. So sollte einst der aufwendige Nachbau eines Schiffes beweisen, ob die Darstellung auf der Tapisserie der Wahrheit überhaupt entsprechen konnte. Doch auch dieser sich in vielen Publikationen fortsetzende Indizienprozess hat letztendlich keine Klärung gebracht, und so bleibt nur, sich mit der dargebotenen Geschichte selbst auseinanderzusetzen.

DIE FILMISCHE ABWICKLUNG DER EREIGNISSE Was war überhaupt passiert, welche umwälzenden Ereignisse bedurften einer so langen gestickten Erwähnung, und wessen Ruhm sollte hier verstetigt werden? Die Tapisserie selbst liefert keine Erklärung der Geschehnisse – Harold Godwinson erscheint zu Beginn der Erzählung beim englischen König Edward, dem Bekenner. Dieser entsendet ihn vermutlich in die Normandie, doch selbst Ziel und Zweck der Reise ist den Szenen nicht zu entlocken. Durch schicksalhaftes Wetter nicht am ursprünglichen Reiseziel angelangt, wird Harold von einem Vasallen des normannischen Herzogs Wilhelm gefangengenommen. Er gelangt schließlich an den Hof des Normannen, bewährt sich in mehreren Kriegszügen und leistet daraufhin einen folgenschweren Eid ab. Als Vasall Wilhelms kehrt Harold Godwinson nach England zurück – wo er trotz allem nach dem Tod Edwards den englischen Thron besteigt. Ein Komet verweist auf drohendes Unheil, das Harold Godwinson über sein Königreich bringen wird. Denn mit seiner Thronbesteigung brach er sogleich den zuvor geleisteten Treueeid, und der normannische Anwärter auf den englischen Thron, Wilhelm, bereitet die Invasion Englands vor. Die Schlacht von Hastings vom 14. Oktober 1066 war die Konsequenz dieser Verstrickungen, aus der der Normannenfürst siegreich hervorging. Diese Schlacht änderte wie kaum eine andere den Weg der Geschichte, und so kommt der Tapisserie von Bayeux eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Denn dort, wo die Stickereien für die Nachwelt der Erklärung bedürften, bleibt nur der Blick auf das bloße Leinengewebe, und dort, wo die Stickereien Rätsel aufgeben, helfen auch die Inschriften nicht weiter. Wie die Moiren aus ihren Fäden das Schicksalgewebe der Menschheit spannen, durchzieht der lange Faden der schicksalhaften Geschichte eine der ältesten erhaltenen Tapisserien des Mittelalters. Streift man zunächst mit flüchtigem Blick über die langen gestickten Bahnen, so mag man dort innehalten, wo Höhepunkt und Zentrum der Bilderzählung liegen, wo Menschen und Pferde gedrängt und in dichtem Durcheinander, lebendig und im Sterben zusammengefasst erscheinen. In glaubhafter Wucht überschlagen sich die Leiber tapferer Schlachtrösser, die den einzigen ernsthaften Rückschlag der normannischen Reiterei eindrücklich wiedergeben; ein letztes Straucheln der Eroberer, ein letzter Widerstand der Engländer, bevor sich das Schlachtenglück unaufhaltsam wendet und das Schicksal erfüllt, indem Harold, König von England, von einem normannischen Ritter niedergestreckt wird. Die Schlacht von Hastings tobt hier in unmittelbarer Drastik und Dramatik (Abb. 12).

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12 Unbekannter Künstler: Rückschlag der normannischen Reiterei in der Schlacht von Hastings, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

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13 Unbekannter Künstler: Entsendung Harold Godwinsons durch den englischen König Edward, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

Die bunten Fäden auf hellem Leinenuntergrund geben der Schilderung eine Lebendigkeit, die alle zeitgenössischen Texte, ganz gleich, wie präzise und ausführlich verfasst, in den Schatten stellt. Doch nur sehr langsam gelingt es dem modernen Betrachter, sich zu orientieren und die Vorgeschichte dieses Schlachtengetümmels Meter für Meter zu verstehen; ohne Vorwissen und Hilfestellungen vielleicht sogar ein hoffnungsloses Unterfangen, denn zu sehr werden unsere Sehgewohnheiten auf die Probe gestellt. Nichts lockt mehr, als die 68 Meter gestickter Geschichte auf eine imaginäre Spule zu drehen und in einen Film umzuwandeln, der durch die zahlreichen Inschriften vertont werden könnte. Kunstvoll verschlungene Bäume, mehr Ornament als Vegetation, geben die Unterscheidung verschiedener Handlungssegmente vor, und mit Beischriften versehene Gebäude ermöglichen eine Orientierung des Lesers im Fortgang von Raum und Zeit. Vielleicht waren die Adressaten der Tapisserie so diszipliniert, sich nicht gleich mit neugierigem Auge auf die Schlacht von Hastings zu stürzen, vielleicht erlaubte die Präsentation des Objekts nur eine partielle Sicht der Dinge, Meter um Meter im Kerzenschein am Schicksal von Harold Godwinson und Wilhelm dem Eroberer teilzuhaben. Obgleich auch über die mögliche Anbringung viele Mutmaßungen existieren – ob sich beispielsweise bei einer Hängung in einem annähernd viereckigen Raum sinnvolle Bezugsachsen ergeben könnten – ist bis zum 15. Jahrhundert nichts bekannt über den Aufbewahrungs- und Anbringungsort der Tapisserie. Seit 1476 ist zumindest dokumentiert, dass das Objekt in Bayeux gelagert und zu jährlich wiederkehrendem Anlass aufgehängt wurde.4 Doch muss der Faden wohl am Anfang aufgenommen werden, um den Ablauf der Ereignisse zu verstehen. Und so zeigt die erste Szene die Entsendung Harold Godwinsons durch König Edward in die Normandie (Abb. 13). Was der genaue Inhalt des Gesprächs ist,

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14 Unbekannter Künstler: Aufbruch Harold Godwinsons mit seinem Gefolge zum Festland, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6 838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

das hier innerhalb von Palastmauern stattfindet, kann der Betrachter nur durch die Kenntnis weiterer Textquellen erahnen: Ob Harold Godwinson tatsächlich von Edward in die Normandie entsendet wird, um Wilhelms Anrecht auf den englischen Thron zu bekräftigen und ein bereits gegebenes Versprechen zu erneuern? Der thronende englische König weist mit einem Fingerzeig auf die beiden Gestalten neben seinem Thron, der vordere der beiden erwidert diese Geste, und die nach oben gehaltenen linken Hände der Männer bezeugen, dass die erhaltene Weisung gehört und befolgt werden wird. Harold bricht daraufhin mit seinem Gefolge auf, eine Meute Hunde eilt den Reitenden voraus, und der Graf selbst hält einen Falken in die Höhe (Abb. 14). Die Falkenjagd mag die friedvolle und höfische Absicht der königlichen Entsendung unterstreichen und weniger das Handeln Harolds denn seine moralische Integrität betonen. Ein Gebet in der Kirche von Bosham und ein gemeinsames Mahl des Grafen mit seinem Gefolge schließt sich an, bevor die Reise über das Meer offenbar die erste Fügung des Schicksals ankündigt. Der volle Wind, der die Segel

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15 Unbekannter Künstler: Harold in Wilhelms Palast sowie ein Kleriker und Aelfgyva, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

von Harolds Schiff füllt, führt ihn direkt in die Gefangenschaft des Grafen von Ponthieu, und von dort wiederum in die Hände von dessen Lehnsherrn Wilhelm, Herzog und Graf der Normandie. In der Anordnung der einzelnen Szenen wird hier bereits deutlich, in welcher Weise Wilhelm langsam eine prominente Rolle übernimmt, denn noch während Harold in Gefangenschaft des Herzogs verbleibt, kehren die Befehle Wilhelms auf den folgenden Metern der Tapisserie die Erzählrichtung mehrfach um. Die vom normannischen Herzog entsendeten Boten eilen zu Guy de Ponthieu, woraufhin der getreue Vasalle den englischen Grafen vor Wilhelm führt. Noch immer dienen die Falken, die von den Adligen empor gehalten werden, als Attribute ihrer höfischen Werte; noch scheint alles in den richtigen Bahnen zu laufen. Obgleich sich bereits in den Szenen unterhalb der Haupterzählung das Unheil anzudeuten scheint: Die Aesopschen Fabeln in den Randfriesen, die allesamt Themen wie Verrat und Betrug thematisieren, unterlaufen die redlichen Bemühungen im

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16 Unbekannter Künstler: Rettung zweier Normannen aus dem Treibsand durch Harold Godwinson, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6 838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

17 Unbekannter Künstler: Harold berichtet König Edward von seiner Reise, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

darüberliegenden Bildfeld. Wie durch ein Stimmengewirr werden hier die Ereignisse um Wilhelm und Harold kommentiert und nicht selten konterkariert.5 Kopfzerbrechen bei der Deutung des Bildprogramms bereiteten auch die folgenden Nebenszenen, die das Geschehen rund um die Schlacht von Hastings am oberen und am unteren Rand der Tapisserie rahmen. Die offenbar durchaus karikierend gemeinten Kommentare, die zwischen Satire und frivolen Anspielungen schwanken, sind nur punk-

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18 Unbekannter Künstler: Ein Komet über England sowie Harold auf dem Thron, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

tuell auf das Hauptgeschehen zu beziehen. Es ist keine stringente Argumentationslinie, an der sich die politische Position der Tapisserie ablesen ließe, sondern ein Oszillieren von Interpretationsmöglichkeiten. Kaum ist Harold Godwinson im Palast Wilhelms angekommen, folgt eine Szene, die offenbar völlig außerhalb des Erzählzusammenhangs steht; vielleicht ein Rückgriff auf Vergangenes (Abb. 15). Eine weibliche Gestalt innerhalb einer Architektur wird von einem tonsurierten Kleriker berührt. Seine dynamische Beinstellung und die forsche Bewegung des Arms, der durch die Mauer greift, künden von der moralischen Transgression, die hier vermutlich stattfindet. Die dazugehörige Inschrift, »ein Geistlicher und Aelfgyva« trägt für den modernen Betrachter auch nicht zur Klärung bei, da der im 11. Jahrhundert sehr geläufige Frauenname keine Identifizierung zulässt.6 Doch scheint diese geheimnisvolle Szene als eine Chiffre für Verrat und Betrug zugleich negatives Vorzeichen für die kommenden Ereignisse zu sein. In den folgenden Szenen begleitet der englische Gast Wilhelm auf dessen kriegerische Unternehmungen und bewährt sich mehrfach als durchaus tugendhafter Held. So rettet Harold eigenhändig zwei Soldaten Wilhelms aus Treibsand. Doch auch hier scheint es fast, als ob der strauchelnde Reiter hinter Wilhelm das Straucheln Harold Godwinsons als König von England vorwegnimmt (Abb.16). Der kopfüber in den Fluss stürzende Leib des Pferdes wirkt wie ein rhetorischer Doppelpunkt vor den sich überschlagenden Schlachtrössern, die als eine der kraftvollsten visuellen Markierungen innerhalb der Schlacht von Hastings gelten können. Bei der Rückkehr von Harold und Wilhelm in die Normandie kommt es schließlich zu der folgenschweren Verpflichtung, die den Engländer zum Vasallen Wilhelms macht. Nachdem Harold Godwinson seine Waffen von Wilhelm erhielt, schwor er einen Eid auf die Reliquien von Bayeux. Gleich darauf erfolgt offenbar die Rückkehr Harolds nach

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19 Unbekannter Künstler: Niederlage der Engländer in der Schlacht von Hastings, Teppich von Bayeux (Ausschnitt), um 1070, Stickerei auf Leinen, 48/53 × 6838 cm, Bayeux, Centre Guillaume le Conquérant

England, und nun hält er statt des Falken eine Streitaxt in seinen Händen. In buckliger Haltung steht er vor König Edward und berichtet vermutlich von seinen Erlebnissen und seinen Taten in der Normandie. In einer zeitgenössischen angelsächsischen Chronik wird berichtet, wie König Edward ahnte, dass der Besuch in der Normandie Unglück über das englische Königreich bringen würde. Den Kopf tief eingezogen scheint Harold Godwinson um Erklärung für sein Tun zu ringen (Abb. 17). Doch die Ereignisse überstürzen sich, denn neben dem amtierenden König weist bereits ein Diener, ebenfalls mit einer Streitaxt ausgestattet, auf das folgende Bildfeld, das nicht nur die Fertigstellung der Abtei von Westminster, sondern vor allem das Sterben Edwards des Bekenners in Anwesenheit von Harold und Königin Edith und schließlich – entgegen der Lesrichtung – die Bestattung Edwards zeigt. Nur kurz ist es Harold Godwinson daraufhin vergönnt, den englischen Thron einzunehmen, denn das Unheil hat bereits seinen Lauf genommen. Kaum inthronisiert, kündet der bereits erwähnte Komet am Himmel von den schlechten Vorzeichen, unter denen die Regierung Harolds begann, und eine Menschenmenge weist mit bestürzten Gesten auf den Stern (Abb. 18). Unterhalb des Palastes schwimmen am Rand des Teppichs leere Boote, die fast gespenstisch an die bevorstehende Invasion denken lassen. Schon kurz darauf wird Wilhelm in der Normandie von den Veränderungen in England unterrichtet, und die Vorbereitung der finalen Schlacht beginnt mit dem Bau von Schiffen, dem Transport von Waffen und Rüstungen, und die düsteren Ahnungen bewahrheiten sich. Kaum an Land angekommen, setzen die Normannen ihre Vorbereitungen für die Invasion fort, Vorräte werden aufgefüllt, ein Festmahl abgehalten, Festungen aufgestellt. Am Ausgang der Schlacht lässt allein diese minutiöse Schilderung keinen Zweifel, denn vorbildlich erfüllt Wilhelm alle Voraussetzungen zum Gelingen seines Unternehmens und stellt hier sein Beherrschen der Kriegskunst zur Schau.

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Über einige Meter erstreckt sich nun die Darstellung des Kampfgetümmels, Bogenschützen und Reiterei wechseln einander ab, und das Gedränge auf dem Schlachtfeld scheint so groß zu sein, dass auch der untere Rand der Tapisserie, auf dem bisher Fabeln und Phantasiewesen Platz fanden, von Kriegern bevölkert wird. Die Leiber der Getöteten scheinen aus dem Hauptbildfeld in diesen marginalen Bereich zu fallen, und das schaurige Ergebnis der Schlacht von Hastings zeigt sich unmittelbar in den Plünderungen, die das Geschehen säumen, in zerborstenen Waffen, und vor allem in den fragmentierten und entkleideten menschlichen Körpern, die eindringlich die Niederlage der Engländer zur Schau stellen (Abb. 19). Am Ende fällt auch Harold und mit ihm der letzte Widerstand, denn – wie es ein wenig später entstandenes Gedicht des Baudri de Bourgeuil zusammenfasst – sein Tod ist das Ende des Krieges, da er der Grund dafür war.

FINGIERTE AUGENZEUGENSCHAFT Inwiefern fügt sich die Erzählung der Ereignisse in eine vorgegebene Gesamtordnung, die Anfang und Ende der Geschichte bestimmt und dem dominierenden mittelalterlichen Erzählverständnis am nächsten kommt? Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass mit Vorausdeutungen, mit Querverweisen gearbeitet wird, und dass die auf vielen Metern erzählten Begebenheiten keine Reihung einzelner Szenen, sondern eine durchdachte Einheit mit Rhythmen und Wiederholungen ist.7 Und obwohl man geneigt ist, aufgrund der vor Augen geführten Details an die Objektivität der Darstellung zu glauben, ermöglicht auch die Tapisserie nur eine Näherung an das Geschehen um Harold Godwinson und Wilhelm den Eroberer. Fingierte Augenzeugenschaft einerseits, die nicht als Fakt, sondern als kalkulierte Fiktion wahrgenommen werden muss, zieht den Betrachter in den Bann. Doch die detailreiche Darlegung der Ereignisse ist nicht als Beleg von Authentizität zu lesen, sondern steht – wie alle anderen Elemente –, zunächst einmal im Dienste der Erzählung. Zahlreiche Quellen unterrichten über die Geschehnisse, die auch der Teppich darstellt, doch ist den Texten die deutliche Wertung der Ereignisse und damit die politische Orientierung anzumerken. Die verschiedenen Schilderungen derselben Ereignisse gemahnen allerdings auch zur Vorsicht, die Fäden, die hier gesponnen wurden, zu sehr beim Wort zu nehmen. Nicht nur Chronisten schilderten die Schlacht von Hastings und ihre Vorgeschichte mit der ungeklärten Nachfolge Edwards des Bekenners. Auch der Roman de Rou aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts beschwört nochmals den Feldzug Herzog Wilhelms.8 Und die Dichtung des Baudri de Bourgeuil lobt in höchsten Tönen die Tugenden Wilhelms, der in dessen Sicht aufgrund seiner Verwandtschaft der einzig rechtmäßige Thronerbe sein konnte.9 Mag der Autor Kenntnis von der Tapisserie gehabt und diese gleichsam literarisch in das Schlafgemach der Adele von Blois eingefügt haben, auf jeden Fall erlaubt sein Gedicht eine kulturelle Kontextualisierung der Tapisserie von Bayeux. Im fiktiven Zimmer

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der Adele von Blois wird in Form einer Ekphrasis die Geschichte, die zur Schlacht von Hastings führte, auf demselben gewebten Stoff dargeboten wie die Schöpfung, das Alte Testament, der Trojanische Krieg; und all dieses ist eingebunden in ein enzyklopädisches Gesamtkonzept, das eine Weltkarte auf dem Boden und eine Darstellung der Artes Liberales am Bett des beschriebenen Zimmers platziert. Weshalb lassen sich die visualisierten Geschehnisse nicht ohne weiteres einordnen? Weshalb wird dem Betrachter die Möglichkeit gegeben, das Handeln der Protagonisten selbst zu bewerten? Möglicherweise scheint dies so, weil das Ende der Geschichte, das wir als fehlend erachten, von den zeitgenössischen Adressaten der Tapisserie als längst vorherbestimmt wahrgenommen wurde. Und vielleicht offenbart sich hier am deutlichsten die Rolle des unabänderlichen Schicksals, das Wilhelm und Harold jeweils auf ihre Weise handeln ließ und die Schlacht von Hastings unausweichlich hervorbrachte.

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»EINER FÜR ALLE…« HISTORIA, MONUMENTUM UND ALLEGORIA: DER DREIFACHE RUHM DES GUIDORICCIO DA FOGLIANO Ulrich Pfisterer

»Die Annalen der Kunst wie die der Heldentaten überliefern direkt nur sehr wenige der vielen großen Augenblicke, die sich ereignet haben. Wenn wir eine Klassifizierung dieser großen Momente vornehmen wollen, so sind wir gewöhnlich erloschenen Sternen konfrontiert.« Erhalten haben sich, so fährt George Kubler in seiner Analyse der historischen Zeitlichkeit von (Kunst-)Dingen fort, zumeist nur indirekt nachweisbare Spuren und »Replikationen« von diesen »primären Objekten« und zentralen Ereignissen, die für die Wissenschaft daher häufig allein als theoretische oder ideale »Vorstellung« am Anfang einer historischen beziehungsweise künstlerischen Problemstellung zu rekonstruieren sind.1 Seltene Ausnahme eines erhaltenen »primären Objekts« – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht – scheint das Simone Martini zugeschriebene Fresko des Guidoriccio da Fogliano im Ratssaal des Palazzo Pubblico der Stadt Siena zu sein (Abb. 20–21). Es zeigt den in Diensten der toskanischen Kommune stehenden Feldherrn oder condottiere in voller Prunkrüstung mit dem Kommandostab in der Rechten hoch zu Ross, dieses mit einer Parade-Schabracke geschmückt, und vor einer vollkommenen menschenleeren Landschaftskulisse mit strahlend blauem Himmel. Links vor Guidoriccio liegt die von ihm nach siebenmonatiger Belagerung eroberte Stadt Montemassi umgeben von einem Belagerungszaun, in seinem Rücken sind das temporäre, großteils aus Holz errichtete Belagerungskastell (die sogenannte battifolle) und das Heerlager der Sienesen mit zahllosen schwarzweißen Sieneser Wappen zu sehen. Der illusionistisch gemalte Rahmen der Szene mit fingiertem Marmor präsentiert ebenfalls schwarzweiße Wappenschilde und das Jahr 1328, in dem diese Eroberung stattfand: »A[N]NO D[OMI]NI MCCCXXVIII«.

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Blick in die Sala del Mappamondo, 14. Jahrhundert, Siena, Palazzo Pubblico

Das insgesamt 340 auf 968 Zentimeter messende Fresko, das die gesamte Breite einer der Schmalseiten des Ratssaales einnimmt, darf für sich nicht nur in Anspruch nehmen, das früheste erhaltene Beispiel eines monumentalen gemalten Reiterbildnisses der Neuzeit zu sein, das erste erhaltene Ehrenmal für einen condottiere und die früheste erhaltene Darstellung einer gesamten Stadt samt umgebender »Landschaft als topographischem Porträt«.2 In Verbindung mit dem genau datierten historischen Kriegsereignis lässt sich hier auch erstmals – zumindest für Italien – diskutieren, ob nicht in diesem Werk all diejenigen Elemente vereint sind, welche die spätere Erfolgsgeschichte des (militärischen) Historienbildes ausmachen. Der für die Renaissance im Sinne Jacob Burckhardts besonders charakteristische neue Menschentyp des condottiere wäre so auch für einen neuen Bild- beziehungsweise Monumenttypus verantwortlich.3 Allerdings hat bereits Werner Hager in seiner klassischen Untersuchung zum geschichtlichen Ereignisbild von 1939 darauf hingewiesen, dass der monumental porträtierte Reiter aufgrund seiner kompositorischen Beziehungslosigkeit zur Landschaft, dem »Raume seiner Taten«, eher »denkmalhaft« inszeniert sei, wir daher doch »keine Historie« im uneingeschränkten Sinne, sondern viel-

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21 Simone Martini oder Werkstatt: Guidoriccio da Fogliano, 1332 oder 1351–1353, Fresko, 340 × 968 cm, Siena, Palazzo Pubblico, Sala del Mappamondo

mehr einen »Grenzfall zwischen Bildnis und Ereignisbild«, ein »Gedenkbild« vor uns hätten.4 Die »diagnostischen Schwierigkeiten« solcher Anfangskonstruktionen jedenfalls – wie sie bereits Kubler vorhergesagt hatte – traten bei dem Guidoriccio-Fresko vehement zutage, als 1977 unterhalb von diesem ein weiteres, offenbar wenig früher entstandenes Wandbild mit Personen vor einer Stadtkulisse entdeckt wurde.5 Dieses wird in der Forschung häufig als die »Neue Stadt« bezeichnet und stellt vermutlich die Übergabe Guincaricos dar, ein Gemälde, das für 1314 dokumentiert ist, allerdings nur partiell freigelegt werden konnte, da ansonsten die beiden Fresken Sodomas, die im Jahr 1520 ebenfalls unterhalb des Guidoriccio-Freskos und teils über die »Neue Stadt« gemalt worden waren, Schaden genommen hätten (Abb. 22). Dieser veränderte materielle Befund stellte sowohl die Entstehungszeit und Zuschreibung des Guidoriccio-Freskos als auch die Identifizierung der dargestellten Topographie radikal in Frage. Bis heute erst teilweise entschiedene Möglichkeiten boten sich seither an: Das Werk könnte 1328 oder wenig später, um 1352, entstanden sein, wobei vermutet wurde, dass vielleicht nur der Reiter nachträglich eingefügt wurde; es könnte daher von Simone Martini, seiner Werkstatt, aber auch erst von einem »archaisierenden« Quattrocento-Maler gemalt worden sein. Und schließlich muss gefragt werden, ob Montemassi und Sassoforte oder doch nur Montemassi und die temporäre Sieneser Belagerungsburg dargestellt worden sind.6 Vor allem aber wurde nun deutlich, dass es nicht ausreichte, das Guidoriccio-Fresko als Anfang von Traditionslinien zu postulieren, sondern viel genauer nach dessen eigenen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen zu fragen war. Und es wurde zunehmend bewusst, wie stark moderne Vorstellungen von einem Historienbild durch die Forschung rückprojiziert worden waren und die Wahrnehmung des Freskos konditioniert hatten.

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22 Werkstatt des Simone Martini: Die »Neue Stadt« (Übergabe Guincaricos), vermutlich 1314, Fresko, 223 × 378 cm, Siena, Palazzo Pubblico, Sala del Mappamondo

DATIERUNG UND ZUSCHREIBUNG Die gesicherten materiellen, archivalischen und historischen Fakten zu unserem Fresko sind schnell aufgezählt. Die erste eindeutige Erwähnung findet sich 1525 in Sigismondo Tizios handschriftlich überlieferter Geschichte Sienas: »[Guido Riccio] ist im Saal der Sieneser Ratsherren gemalt […], wo die Belagerung von Montemassi gemalt ist.«7 Dass es sich bei dem Reiter wirklich um Guidoriccio da Fogliano handelt, belegen das Rautenmuster und die Pflanzen auf den Überröcken von Mensch und Pferd, Bestandteile des Wappens der Fogliano.8 Der Name des (vermeintlichen) Malers Simone Martini fällt dagegen erst nochmals einhundert Jahre später in Giugurta Tomassis Historie di Siena; zuvor hatte etwa Giorgio Vasari in seiner Vita des Künstlers über das Fresko des condottiere geschwiegen.9 Allerdings ist in den Ratsdokumenten belegt, dass Simone Martini 1330 für die bildlichen Darstellungen von Montemassi und Sassoforte, 1331 für Arcidosso und Castel del Piano bezahlt wurde. Diese Gemälde sind allerdings zerstört, was sie genau zeigten und wo sie im Saal angebracht waren, bleibt unbekannt. Da die Stadt auf dem Guidoriccio-Fresko aber mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls als Montemassi zu identifizieren ist, muss entweder die Quelle von 1330 so gelesen werden, dass Simone Martini nicht ein Bild mit zwei Städten malte, sondern zwei getrennte Stadtdarstellungen (was aufgrund der gezahlten Geldsumme wenig wahrscheinlich scheint), oder aber, dass das Guidoriccio-Fresko nicht mit den dokumentierten Stadtbildern übereinstimmt

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und die Kommune Montemassi aus zunächst unbekanntem Grund zweimal dargestellt wurde. Eine andere Beobachtung könnte den terminus ante quem für das Guidoriccio-Fresko noch einmal um einige Jahre nach vorn verlagern. Denn der Putz von Sodomas Gemälde des Heiligen Ansano von 1520, das sich in einem Wandstreifen direkt unterhalb des Guidoriccio-Freskos befindet, überlagert dieses Werk. Die relative Chronologie der Putzschichten, wie sie in der Folge der Entdeckung der »Neuen Stadt« untersucht wurde, ergibt weiterhin, dass das neu entdeckte Gemälde noch vor dem Guidoriccio-Fresko entstanden sein muss. Dagegen ist die Putzschicht an dessen rechtem Rand erneuert, so dass das Verhältnis zur angrenzenden Längswand mit Wandbildern der Zeit von 1371 nicht mehr zu klären ist. Am linken Rand des Guidoriccio-Freskos wurde schließlich die Ansicht von Montemassi zu einem späteren Zeitpunkt praktisch komplett neu gemalt, wie mit bloßem Auge anhand der Farbunterschiede zu erkennen ist. Wenn damit die letzte Sicherheit fehlt, dass die ursprünglich dargestellte Stadt genau so ausgesehen hat wie die heute sichtbare, dann spricht doch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei der Erneuerung das Vorhandene einigermaßen getreu ersetzt wurde. Stilistisch scheinen die besten Vergleichsbeispiele jedenfalls auf Simone Martini oder seine Werkstatt hinzudeuten. Allerdings lässt die stets bemühte Gegenüberstellung mit Simone Martinis vor 1319 entstandener Kapelle des Heiligen Martin in San Francesco zu Assisi ahnen, dass beim Guidoriccio-Fresko nicht jene Ausführungsqualität erzielt wurde, die im dortigen Porträt des Auftraggebers Kardinal Gentile Portino da Montefiore dell’Aso sowie im Pferd des Heiligen festzustellen sind, wofür sich freilich verschiedene Gründe denken lassen. Und schließlich ist für die Frage von Entstehungszeit und -kontext auch das Leben des Guidoriccio zu berücksichtigen. Der Heerführer wird 1326 erstmals capitano della guerra von Siena. In den Auseinandersetzungen mit dem Papst und seinen Anhängern kann er zwei Jahre später Montemassi erobern, die Grenzfestung in der südlichen Toskana. 1332 wird Guidoriccio aufgrund dieser Verdienste von den Sieneser Stadtoberen zum cavaliere erhoben (wie Agnolo di Tura in seiner Chronik berichtet), fällt aber bereits wenig später, im September 1333, in Ungnade. Das Zerwürfnis kann aber nicht unüberwindbar gewesen sein, denn im Oktober 1351 wird Guidoriccio erneut Sienas Feldherr, bevor er kurz darauf am 16. Juni 1352 stirbt und ein ehrenvolles »Staatsbegräbnis« erhält. Vor diesem Hintergrund dürfte unser Fresko also entweder 1332 entstanden sein – und wäre dann wohl zumindest unter Aufsicht Simone Martinis ausgeführt worden – oder aber es wurde während Guidoriccios zweiter condotta 1351–1352 angebracht beziehungsweise als Ehrung unmittelbar nach dessen Tod; dann müsste das Fresko von einem ehemaligen Mitarbeiter oder Nachfolger Simone Martinis stammen, da dieser 1344 in Avignon verstorben war. Der Vollständigkeit halber sei hier noch vermerkt, dass in der Diskussion um Zuschreibung und Datierung zweimal deutlich spätere »Replikationen« als vermeintliche

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Beweise herangezogen worden sind. So glaubte man von den verlorenen Staatsakten (biccherne) für Juli bis Dezember 1328 zumindest den bemalten hölzernen Deckel wieder aufgefunden zu haben, auf dem ausgerechnet Guidoriccio vor der Kulisse von Montemassi einherritt. Die 1938 aus einer Privatsammlung in den Louvre gelangte Tafel wurde dort freilich eindeutig als Fälschung erkannt.10 Vor wenigen Jahren schließlich tauchten im Sizilianischen Antiquariatshandel fünf aquarellierte angebliche Vorzeichnungen Simone Martinis für den Guidoriccio auf, die aber bestenfalls aus dem 15. Jahrhundert stammen.11

ZUR TRADITION EINES UNVERGLEICHLICHEN BILDES Jeder Verortungsversuch des Guidoriccio-Freskos in einer Bildtradition sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, dass dessen seltsam »additive Komposition« es zu mindestens drei »Formklassen« in Beziehung setzt: zu Reiter- beziehungsweise CondottieriMonumenten, zu Stadt- und Landschaftsporträts sowie – angesichts der fehlenden Soldaten vielleicht sogar am wenigsten evident – zu Darstellungen von Belagerungen oder Eroberungen beziehungsweise den anschließenden Siegesfeiern.12 Im spätmittelalterlichen Italien waren wohl noch drei antike Reitermonumente zu sehen; das nächste von Siena aus war der vermeintliche berittene »Mars« am Ponte Vecchio in Florenz, der offenbar seit seinem Auffinden schwer beschädigt gewesen war und 1333 in den Arno stürzen sollte (die anderen beiden waren der Marc Aurel in Rom und der Regisole in Pavia).13 Neue Reitermonumente – ob plastisch oder gemalt – wurden erst seit dem 13. Jahrhundert wieder produziert. Die vier aus dieser Frühzeit erhaltenen oder dokumentarisch überlieferten Beispiele waren allesamt für den jeweiligen podestà einer Stadt errichtet worden, zumeist an einem Gebäude, für das dieser zugleich als Bauherr verantwortlich gewesen war, so in Reggio Emilia, Mailand und Castel di Serravalle. Näher an das Guidoriccio-Fresko führt die nicht erhaltene Ehrenstatue an der Fassade des Palazzo del Podestà in Padua heran, die nach 1320 an den Sieg des podestà Altenerio degli Azzoni über das Belagerungsheer des Cangrande I. della Scala erinnerte. Die 1329–1351 im Zusammenhang mit Grabmälern aufgestellten fünf Reitermonumente für norditalienische Stadtherren aus den Familien der Scaliger und Visconti sowie das spätere Reiterbildnis an der Spitze des Grabmals für König Ladislaus in Neapel spielen dagegen für unseren Kontext keine zentrale Rolle. Wichtiger scheint, dass in Siena bereits 1326 und dann 1348 auf Kosten der Kommune Ehrengrabmäler für den capitano del popolo Pietro Arnolfi della Branca da Roma und den podestà Vinciguerra di San Bonifacio di Verona beschlossen wurden. Mit dem Guidoriccio-Fresko hätten wir – einmal abgesehen vom etwas anders gelagerten Fall des podestà Altenerio degli Azzoni – die erste öffentliche Auszeichnung für einen Feldherrn vor uns, der aber bald zahlreiche weitere folgen sollten. Nach dem Staatsbegräbnis 1363 im Dom von Florenz für den verstorbenen capitano della guerra Pietro Farnese wurde 1366–1367 über seinem Grab ein aus ephemerem Material gefertigtes

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Reiterstandbild aufgestellt. In gemalter Form erhielt John Hawkwood 1395–1396 ein weiteres dieser Monumente, das dann 1436 von Paolo Uccello erneuert werden sollte; Andrea del Castagno setzte 1456 für Giovanni da Tolentino diese Tradition fort.14 Gualengo Ghisilieri, der capitano della guerra von Bologna, der 1380 im Kampf gefallen war, ist auf seiner Grabplatte (von der nicht bekannt ist, ob sie öffentlich oder privat finanziert wurde) als gewappneter Reiter mit eben jenem Banner zu sehen, das ihm sehr wahrscheinlich die Kommune als posthumes Ehrenzeichen verliehen hatte. Im Sieneser Dom wurde der 1390 verstorbene Feldherr der Stadt Giovanni d’Azzo Ubaldini mit einem auf Holz gemalten Reiterstandbild über seinem Grab geehrt, 1394 wurde an der Innenfassade zudem das Reiterstandbild für den condottiere Gian Tedesco di Pietramala aufgestellt.15 Hölzerne Reiterstandbilder erhielten auch der condottiere Cortesia Sarego 1424–1429 in S. Anastasia zu Verona sowie Paolo Savelli als capitano generale der Serenissima um 1425–1440 in S. Maria Gloriosa dei Frari zu Venedig. Andere formale Lösungen wurden mit den Stand- beziehungsweise Liegefiguren des Bonifacio de’ Lupi da Parma und Jacopo Cavalli an ihren jeweiligen Grabmälern gewählt. Alle diese Monumente entstanden jedenfalls im Zusammenhang mit posthumen Ehrungen und Grabmälern für verdiente Heerführer, und dies gilt bekanntlich noch bis hin zu Donatellos 1447 entstandenem Gattamelata-Monument in Padua.16 Allein das 1431 an eine Fassade im ersten Stock neben dem Palazzo della Signoria von Lucca – also an einem prominenten öffentlichen Platz – gemalte Reiterbildnis des siegreichen Feldherrn Niccolò Piccinino stellt eine Ausnahme dar (Abb. 23).17 Allerdings erinnert der Umstand, dass 1421 ein großes Leinwandgemälde im Auftrag Herzog Filippo Maria Viscontis von Mailand nach Florenz geschickt wurde, damit eine lebensgroße Wachs-Votivstatue für die dortige Kirche SS. Annunziata gefertigt werden könne, auch daran, dass offenkundig viele weitere Monumente unterschiedlicher Gattungen verloren gegangen sind.18 Es ist davon auszugehen, dass alle diese Auszeichnungen als eine Art immaterieller Ansporn für die condottieri wahrgenommen werden sollten, ihrer Stadt treu zu bleiben und sich nicht durch das nächst bessere Gehaltsangebot »kaufen« und abwerben zu lassen; ein Ansporn zusätzlich zu den materiellen Geschenken zu Lebzeiten wie kostbare Viktualien, Rüstungen, Pferde oder den immateriellen Akten wie dem Ritterschlag.19 Petrarca beschreibt ein vergleichbares »Prämiensystem« von Ehrenstatuen und Ehrenkronen schon beim antiken Militär. Auch die noch zu Lebzeiten John Hawkwoods erfolgte vertragliche Verpflichtung der Kommune von Florenz, ein Grabmonument nach dessen Tod zu errichten, deutet in diese Richtung: Der Florentiner condottiere auf Lebzeiten habe sich durch seine »großartigen und treuen Taten zu Ehren und Größe der Republik Florenz« für eine solche Auszeichnung verdient gemacht.20 In einem Kommunalpalast findet sich die Darstellung eines (nicht-antiken) Feldherrn im Tre- und frühen Quattrocento dennoch offenbar nur noch ein weiteres Mal: Ganz ähnlich wie in Siena ziert im Palazzo del Comune von Pistoia die Sala del Consiglio nicht nur eine Maestà (allerdings aus dem frühen 16. Jahrhundert, wobei sie möglicherweise eine

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23 Ambrogio Pucci und Nicolao Pucci: Ansicht der Piazza San Michele in Lucca mit dem gemalten Reiterstandbild des Niccolò Piccinino, 1523–1532, Intarsie, Lucca, Museo Nazionale di Villa Guinigi

frühere Darstellung gleichen Themas erneuert), sondern ihr gegenüber wurde bereits im 15. Jahrhundert der capitano generale Grandonio de’ Ghisilieri in grünmonochromer Grisaille freskiert, freilich stehend. Dabei handelte es sich allerdings um einen Akt der Beschwörung der großen Vergangenheit Pistoias, war Grandonio doch in den lange zurück liegenden Jahren 1113–1114 in städtischen Diensten gewesen.21 Weitere Darstellungen eroberter Städte wurden nach Ausweis der Sieneser Ratsbeschlüsse von mindestens 1314 bis 1331 im Ratssaal der Stadt gemalt. Das neu entdeckte Bild unter dem GuidoriccioFresko belegt, dass diese Stadtansichten durchaus auch schon mit Figuren bevölkert sein konnten, da die Szene der »Neuen Stadt« aber noch nicht überzeugend gedeutet ist, lassen sich daraus vorläufig keine allzu weitreichenden Schlüsse für die Darstellung Guidoriccios ziehen. Entscheidend ist auch für diese neuartigen topographischen Ansichten, dass es dokumentarisch überlieferte, wenig frühere Beispiele wohl aus den Jahren um 1306 im Florentiner Palazzo Vecchio gab.22 Noch weniger Vergleichsbeispiele finden sich in der italienischen Monumentalmalerei für Darstellungen von zeitgenössischen Belagerungen, Eroberungen oder anschließenden

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Siegesfeiern, obwohl Kämpfe und Schlachten eigentlich ein durchgehendes Thema der europäischen Kunst – und insbesondere der spätmittelalterlich-höfischen Bildkultur – darstellten. Für den Florentiner Bargello ist ein Wandbild mit dem Sieg der Florentiner von Campaldino 1289 überliefert, so dass auch in dieser Hinsicht die Sieneser Bilderwelt wohl sehr ähnlich derjenigen von Florenz war. Die Kämpfe des Erzbischofs Ottone Visconti gegen Napoleone della Torre wurden im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts im Castello di Angera am Lago Maggiore verewigt, und um 1330 entstand das Grabmal des Bischofs Guido Tarlati im Dom von Arezzo mit einem umfangreichen Reliefzyklus zu dessen Leben, darunter auch zahlreiche militärische Erfolge. In Handschriften scheint ein solcher »Chronikstil« für historische Ereignisse am ehesten (weiter-)entwickelt worden zu sein. Die Darstellung eines Kastells mit davor aufmarschierenden Truppen aus den Jahren um 1350–1360 hat sich in der Casa delle Guardie in Sabbionara d’Avio erhalten.23 Auf 1361 ist schließlich im Sieneser Kommunalpalast Lippo Vannis Fresko der Schlacht von Valdichiana datiert, das auf der Längswand des Ratssaals unmittelbar an das Guidoriccio-Fresko anschließt. Insgesamt bleibt die spezifische Konstellation des Guidioriccio vor der eroberten Stadt Montemassi mithin ohne exaktes Vergleichsbeispiel. Insbesondere aber die Tradition der öffentlichen posthumen Ehrung von condottieri durch Monumente scheint in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eingesetzt zu haben. Vor diesem Hintergrund wäre es einfacher, sich das Guidoriccio-Fresko um 1352 entstanden vorzustellen, als entsprechend posthume Ehrung Sienas an seinen verdienten Feldherrn und vor der Kulisse eines seiner wichtigsten Siege. Leichter zu verstehen wären so auch zwei weitere Probleme, die sich aus einer Frühdatierung ergeben würden: zum einen, dass das Bildnis eines zumindest zeitweise in Ungnade gefallenen Heerführers knapp zwei Jahrzehnte an prominenter Position belassen worden wäre, zum anderen, wie es zu der doppelten Darstellung von Montemassi kam; möglicherweise schien zwanzig Jahre nach Simone Martinis Fresko von 1330 dieses nicht mehr zeitgemäß, war eventuell beschädigt und wurde möglicherweise sogar durch das Guidoriccio-Fresko ersetzt. Ausgeführt worden wäre dieses dann freilich von einem Werkstatt-Nachfolger des 1344 verstorbenen Künstlers.

ZEITGESCHICHTE ALS HEILSGESCHICHTE Der große Rat oder consiglio generale der Stadt Siena war von zunächst dreihundert Mitgliedern im 13. Jahrhundert durch das Einbeziehen anderer Gremien auf über fünfhundert Personen um die Mitte des 14. Jahrhunderts angewachsen. Im Neu- und Erweiterungsbau des Palazzo Pubblico, der wohl um 1297–1298 begonnen worden war, stand mit Beginn des Trecento ein entsprechend großer Versammlungssaal im ersten Stock zur Verfügung.24 In und um diesen herum konzentrierte sich die neue Bildausstattung des Palazzo Pubblico: Unter dem Guidoriccio-Fresko an der Schmalwand wurde etwa 1344–

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1345 eine große, drehbare Weltkarte Ambrogio Lorenzettis angebracht, ein ganz außergewöhnliches Zeugnis für das Selbstbewusstsein und den Anspruch Sienas in »internationalem« Maßstab. Die Tradition städtischer Siegesbilder wurde an der Längswand mit den Schlachten von Valdichiana (1363–1373) und Poggibonsi (1479–1480) noch lange fortgesetzt. In der angrenzenden Sala dei Nove freskierte Ambrogio Lorenzetti 1338–1340 den Zyklus Die Folgen des guten und schlechten Regiments. In der durch Bogenöffnungen vom Saal unmittelbar einsehbaren Kapelle waren von Taddeo di Bartolo um 1414 das Leben der Jungfrau Maria sowie im Vorraum (anteconsistorio) Szenen mit antiken Göttern, Helden und Gelehrten gemalt worden und anderes mehr. Vor allem aber ist zu bedenken, dass im Ratssaal neben dem Guidoriccio-Fresko nicht nur Darstellungen anderer eroberter Städte zu sehen waren, sondern an der gegenüber liegenden Schmalseite das wandfüllende Fresko Simone Martinis der Maestà mit den vier Stadtheiligen Sienas von 1315–1316 (Abb. 24). Auch wenn für den Saal sicher kein einheitliches »Programm« geplant oder im Laufe der Zeit entwickelt worden war, so muss doch dieses Marien-Fresko als wichtigster Bildbestandteil des Saales gelten, und in Bezug zu diesem dürften alle anderen Bilder gesehen und verstanden worden sein: Der Gottesmutter waren am Vortag der Schlacht von Montaperti (1260) symbolisch die Schlüssel der Stadt übergeben worden, als Stadtpatronin Sienas hatte sie daraufhin den Sieg ermöglicht. Dass Maria und die sie begleitenden Stadtpatrone untrennbar von ihrer religiösen auch eine politische Rolle spielten, zeigt dabei gerade dieses Fresko besonders deutlich, wurde es doch als eine Art visuelle Zugehörigkeits-Chiffre von Simone Martinis Schwager Lippo Memmi 1317–1318 nochmals für den Ratssaal im Palazzo Pubblico der von Siena abhängigen Kommune San Gimignano mit leichten Variationen wiederholt.25 Bei allen folgenden Überlegungen ist daher zu bedenken, dass Guidoriccio und alle anderen eroberten Städte vor den Augen und unter dem Schutz Marias präsentiert wurden. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich nicht nur ein dreifacher Bezug und eine dreifache Funktion des Gudioriccio-Freskos ab, sondern auch sein Bildstatus lässt sich nur als Verbindung von historia, monumentum und allegoria beschreiben.26 Das Fresko bezieht sich gleichzeitig auf den capitano della guerra, auf die Kommune von Siena insgesamt und auf die göttliche Schutzherrin Sienas. Offensichtlich ist, dass es ein monumentum für Guidoriccio und eine Ehrung Sienas gegenüber einem verdienten und loyalen Kriegsherrn darstellt und dafür exemplarisch an eine herausragende Tat oder historia erinnert. Die bei den Kriegen und Eroberungen bewiesene virtus wie auch ihre bildlichen Darstellungen waren allerdings als Verdienst nicht nur Guidoriccio zuzurechnen, sondern mehrten zugleich entscheidend (und wohl sogar primär) den Ruhm und die Größe Sienas. Die für die Condottieri-Monumente des Florentiner Doms erhaltenen Dokumente unterstreichen diese Sichtweise: Das Monument Pietro Farneses wurde errichtet »zur Ehre der Kommune von Florenz und des Körpers des Petrus selbst«, dasjenige für John Hawkwood »sowohl zum großartigen Glanz der Kommune von Florenz wie zur Ehre und zum ewigen Ruhm des besagten Herrn Johannes«.27 Es gilt das Prinzip des »einer für alle«: Die individuelle

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Simone Martini: Maestà; 1315–1316, Fresko, 1058 × 977 cm, Siena, Palazzo Pubblico, Sala del Mappamondo

Großtat wird als Leistung am Gemeinwesen verstanden und das Ehrenmonument eines einzelnen als Auszeichnung und Schmuck der ganzen Stadt wie als Ansporn und Mahnung an ihre Einwohner gesehen, diese Tat und Tradition weiterhin als Maßstab zu nehmen.28 Dieser appellativ-adhortative Charakter der Bilder des Palazzo Pubblico kann dabei nicht genug betont werden; die Inschriften an der Maestà und an den Folgen des guten und schlechten Regiments etwa wenden sich in diesem Sinne ganz direkt an die Ratsmitglieder und andere Betrachter. Den Zeitgenossen war dabei vollkommen bewusst, dass diese Formen monumentaler Bildnissetzung eine der höchsten, auf die Antike zurückgehenden Auszeichnungen und zugleich größter Ansporn zu tugendhaftem Handeln darstellten. Solche Monumente wurden bereits vor dem 13. Jahrhundert in Texten topisch als Ruhmeszeichen aufgerufen: Verwiesen sei nur auf Buoncompagno da Signas Liber de obsidione Ancone (verfasst zwischen 1188 und 1220) und den dortigen Hinweis, dass antike Ehrenstatuen, Ehrensäulen und Triumphbögen an »wichtige Siege und herausragende Taten« erinnerten, oder an den Sieneser podestà und Stadtschreiber Bernardo Orlandi de’ Rossi, der 1224 auf die ehrende Tradition römischer (Ahnen-)Bildnisse verwies.29 Zwischen 1412 und 1425–1433 lieferte dann der Veroneser Magister Marzagaia die erste zusammenfassende Darstellung und Rechtfertigung für die »modernen« Ehrenmonumente der Condottieri und Signori.30 Zugleich belegen aber vor allem ein Verbot der Florentiner Kommune, das 1329 einzelnen Funktionären der Stadt untersagte, ihre Wappen oder andere Erinnerungszeichen an ihre Person öffentlich anzubringen, sowie die kontroverse Diskussion um die funerale

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Reiterstatue des Bernabò Visconti, welche Herausforderung es an die Zeitgenossen darstellte, diese ungewohnten Auszeichnungsformen zu akzeptieren.31 Dass in den erhaltenen Sieneser Ratsbeschlüssen, die jeweils für die Anbringung des Bildes einer eroberten Stadt gefasst werden mussten, teils explizit betont wurde, dass diese Darstellungen nicht mehr entfernt werden dürfen, verweist zugleich auf deren »dokumentarischen« Charakter: Diese Darstellungen wurden offenbar als eine Art historischer Bildbeweis für die Eroberung und damit als »Bild-Urkunde« verstanden, deren Präsenz und Instandhaltung im Palazzo Pubblico möglicherweise sogar »bildmagische« Komponenten in dem Sinne umfasste, dass dadurch auch in der außerbildlichen Wirklichkeit die Unterwerfung und Zugehörigkeit der Städte und Gebiete garantiert schien. Wohl nicht mehr zu klären ist, ob die Sienesen bereits an der Wende zum 14. Jahrhundert aus den Textquellen wussten, dass bereits in antiken Triumphzügen Bilder oder Modelle eroberter Städte und Gebiete mitgeführt und teils in Tempeln als Weihgeschenke hinterlassen wurden.32 Wenn ja, dann ließe sich die »Bildklasse« dieser Stadtdarstellungen insgesamt auf antike Bild- und Monumentvorstellungen zurückführen. Jedenfalls sind ganz ähnliche Vorstellungen auch bei den wenig früheren und zeitgleichen Schand- und Sühnebildern wirksam, die häufig ebenfalls Kriegsherren darstellten: Auch hier ging es um den (negativen) Lohn für (Un-)Taten, um bildmagische Wirkkräfte, um die Verbindung von historischen Ereignissen und deren Stellung im übergreifenden Wertesystem.33 Um nur einen besonders gut rekonstruierbaren Fall zu nennen: Das gemalte öffentliche Reitermonument für Niccolò Piccinino in Lucca von 1431 dürfte als »Gegenbild« zu dem zuvor seit einiger Zeit in Florenz öffentlich zu sehenden Schandbild Piccininos konzipiert worden sein. Indem jedenfalls alle diese Darstellungen eroberter Gebiete, siegreicher Schlachten und großer Männer Sienas vor den Augen der Madonna entfaltet wurden, ließen sich alle damit verbundenen Ereignisse auch als Fortsetzung von Marias Schutz und Wirken im Gefolge der Übergabe der Stadtschlüssel und des Triumphes von Montaperti 1260 verstehen. Zugleich entfalteten die topographischen Ansichten anschaulich das an Maria dedizierte Gebiet Sienas: Zeigte der Blick aus den Fenstern des Saales real das Zentrum Siena, dann spannten die Stadtbilder mit dem contado Marias weiteres Herrschaftsgebiet auf. Die Tugend des siegreichen Feldherrn Guidoriccio da Fogliano konnte so letztlich sogar zum Zeichen der Ehrerbietung an Maria und deren Gnade gegenüber der Stadt werden. Die Kontingenzen der Zeitgeschichte fügten sich damit in den großen Plan der Heilsgeschichte, die historia, das einmalige Ereignis in seiner Landschaft verband sich mit dem monumentum für Guidoriccio beziehungsweise für Siena und mit dem Bild des himmlischen Hofstaats der kommunalen Schutzherrin zu einer umfassenden allegoria auf Marias Herrlichkeit und auf die Größe des guten, gottesfürchtigen Regiments der Stadt.

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AUFPRALL, SCHOCK, GESCHICHTE PAOLO UCCELLOS »SCHLACHT VON SAN ROMANO« Hannah Baader

Am 30. Juli 1495, das heißt ungefähr ein halbes Jahr nach der Vertreibung der Medici aus Florenz, wandte sich ein gewisser Damiano Bartolini an die zur Verwaltung des beschlagnahmten Eigentums der Familie der Medici eingesetzten Amtsträger und machte seinen Anspruch auf anderthalb Bilder Paolo Uccellos geltend. Der Kläger gab an, dass die Gemälde des Künstlers, welche die sindaci als ehemaligen Besitz der Medici zu verwalten hatten, ihm gehörten, da diese unrechtmäßig in den Besitz des Lorenzo de’ Medici gelangt seien. Dieser habe sie gewaltsam an sich genommen. Bartolini wurde abgewiesen, nach Hinzuziehung weiterer Zeugen aber am darauffolgenden Tag angehört. Er erklärte, dass die Bilder aus dem gemeinsamen Erbe seines Vaters stammten, aus dem sie zu gleichen Teilen an ihn und seinen Bruder Andrea übergegangen seien. Nach dem Tode des Vaters habe der Bruder seinen Anteil dem Lorenzo de’ Medici übergeben und ihn, Damiano, mehrfach ersucht, Lorenzo auch die andere Hälfte der Malereien zu überlassen. Als Damiano das verweigerte, habe Lorenzo de’ Medici die Kunstwerke an sich gebracht, indem er einige seiner Getreuen geschickt habe, welche die Werke mit sich genommen hätten. In ihrer am folgenden Tag ergangenen Entscheidung bestätigten die Florentiner sindaci die Ansprüche des Klägers und erklärten Damiano Bartolini zum rechtmäßigen Eigentümer der fraglichen anderthalb Bilder Uccellos. Ohne auf die Schwierigkeiten einer Teilung von einzelnen Gemälden einzugehen, führen sie aus, dass ihm entweder die anderthalb Bilder selbst oder ein Äquivalent zustünden. Zugleich wird Damiano Bartolini von den sindaci das Recht eingeräumt, die andere Hälfte der drei Gemälde, das heißt jene anderthalb Bilder, die ursprünglich seinem Bruder Andrea gehörten, käuflich zu erwerben.

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25 Paolo Uccello: Die Schlacht von San Romano (Niccolò da Tolentino), um 1435–1441, Tempera auf Holz, 181 × 320 cm, London, National Gallery

Das Dokument, das zuerst 1999 publiziert, aber erst durch Francesco Caglioti in seiner Bedeutung erkannt wurde, hat die Quellenlage und damit unsere Kenntnis der Entstehungsgeschichte von Paolo Uccellos monumentalen Bilderzyklus der Schlacht von San Romano grundlegend verändert (Abb. 25–27).1 Denn bis zu diesem Moment galten der kunsthistorischen Forschung entweder Lorenzo de’ Medici oder sein Großvater Cosimo als Auftraggeber dieser wichtigen Gemälde Uccellos.2 Die Annahme, es habe sich um einen Auftrag der Medici gehandelt, schien naheliegend, weil die Bilder im Inventar des Palastes der Medici in der Via Largha von 1492 erwähnt sind. Zu diesem Zeitpunkt hingen sie in der sogenannten Camera Grande Terrena des Palazzo, die in dem Inventar auch als »chamera di Lorenzo« (also sein Schlafzimmer) bezeichnet wird. Dort bildeten sie mit drei weiteren Gemälden – von denen mindestens zwei ebenfalls Kampfszenen zeigten – einen vermutlich in Kopfhöhe angebrachten friesartigen Wandschmuck.3 Das Inventar beziffert den Wert der sechs Bilder mit der für Malereien hohen Summe von 300 Florin. Neben den drei Leinwänden Uccellos umfasste der Fries auch ein Gemälde mit der Darstellung eines Tierkampfes zwischen Drachen und Löwen, eine Jagdszene sowie ein Gemälde mit dem Urteil des Paris, das heißt jenes Wettstreites um weibliche Schönheit, der zum Auslöser des Trojanischen Krieges werden sollte. In den Wandschränken unterhalb des Frieses wurden laut Inventar auch Dolche und Schwerter aufbewahrt; Teile jener großen Waffensammlung, die Lorenzos Großvater Cosimo angelegt hatte, so dass metallene Realien und gemalte Imaginationen von Krieg und Schlacht aufeinander verwiesen.

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26 Paolo Uccello: Die Schlacht von San Romano (Der Lanzenkampf), um 1435–1441, Tempera auf Holz, 181 × 322 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi

Der Fund der Notariatsdokumente wirft ein neues Licht auf die Praktiken des Lorenzo de’ Medici als Sammler, dessen Methoden, wenn die Angaben Bartolinis stimmen, mehr als zweifelhaft waren, zugleich aber von seinem ausgeprägten Kunstverstand zeugen.4 Fragwürdig bleiben sie selbst dann, wenn Lorenzo die Bilder als den ihm gerechterweise zustehenden Lohn für seine Vermittlung zwischen den offenbar erbittert um ihr Erbe streitenden Brüdern Bartolini angesehen haben sollte, was auf Grund einer Reihe von Indizien nicht auszuschließen ist. Der Dokumentenfund über die Besitzstreitigkeiten bringt einen neuen Auftraggeber ins Spiel: Als solcher kann, wie Francesco Caglioti gezeigt hat, sinnvoller Weise nur der 1479 verstorbene Lionardo Bartolini gelten, der Vater des Klägers. Die Entstehung der Bilder selbst muss daher nicht länger mit dem Bau des Palazzo Medici in Verbindung gebracht werden. Sie dürfte wohl entgegen älterer Datierungen früher als bisher angenommen zwischen 1435 und 1441 liegen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es sich bei den drei strittigen Bildern Uccellos auch um jene »storia dipinta di 72 braccia in tre pezzi« handelt, die nach dem Tod des Lionardo Bartolini aus dem Stadtpalast der Familie auf deren Landsitz verbracht wurde, wie dies eine weitere durch Caglioti aufgefundene Quelle angibt.5 Der Umstand, dass die drei Gemälde Uccellos zunächst in einem privaten Stadtpalast des weniger prominenten und einem breiteren Publikum unbekannten Bartolini hingen, verändert die Sicht auf die konkreten Entstehungsbedingungen der Gemälde genauso wie auf das Florentiner Mäzenatentum des Quattrocento und die möglichen Auftraggeber für großformatige Historienbilder. Es ist bezeichnend für die auf prominente Werke und prominente Auftraggeber konzentrierte

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27 Paolo Uccello: Die Schlacht von San Romano (Michele Attendolo da Cotignola), um 1435–1441, Tempera auf Holz, 180 × 316 cm, Paris, Musée du Louvre

Interessenlage der Kunstgeschichtsschreibung, dass dieser Umstand auch in die neueren Publikationen zu Paolo Uccello oder dem Mäzenatentum der Medici nur zögernd, wenn überhaupt, Eingang fand. Genauso erhellend wie diese lange in Vergessenheit geratene Entstehungsgeschichte – die Giorgio Vasari in einzelnen Aspekten noch gekannt zu haben scheint – ist die in dem von Caglioti aufgefundenen Dokument verwendete Terminologie. Denn in diesem ist in Bezug auf die drei Schlachtengemälde die Rede von »una storia in tre pezzi« (»einer Geschichte in drei Teilen«). Dem hier erkennbaren Gedanken einer Zusammengehörigkeit der Bilder scheint auch die Entscheidung der Florentiner sindaci zu entsprechen, die diese zwar als »tres storiae« bezeichnen, zugleich aber eine Einheit des Bilderzyklus unterstellen, wenn sie sich in ihrer Urteilsfindung ganz offensichtlich um die Möglichkeit der Zusammenführung der Bilder bei einem einzigen Eigentümer bemühen, indem sie Damiano Bartolini explizit das Recht auf den Kauf des verbleibenden Teiles an anderthalb Bildern einräumen. Anders als dies etwa Albertis Verwendung des Begriffes der »istoria« nahelegen könnte, werden »storia« und Einzelbild hier nicht synonym verwendet; die Bilderzählung erstreckt sich demnach über mehrere Bilder.6 Auch sonst scheinen Uccellos Schlachtengemälde, wie gezeigt werden soll, einen gemalten Parallelentwurf zu Albertis nahezu zeitgleichem Konzept der historia darzustellen, der sich in wesentlichen Punkten von dessen Bildbegriff unterscheidet und insofern eine der möglichen historischen Alternativen zu diesem darstellt.

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LONDON, FLORENZ, PARIS: DREI BILDER Der Zeitpunkt des Besitzübergangs von den Bartolini an die Medici muss in der Mitte der achtziger Jahre des 15. Jahrhunderts liegen.7 Es ist sehr wahrscheinlich – aber nicht sicher –, dass die Bilder aus diesem Anlass in jene Form gebracht wurden, die sie heute aufweisen. Denn die drei in Tempera auf Holz gemalten Bilder wurden noch im Quattrocento in nahezu identischer Weise an den oberen Ecken ergänzt und vermutlich während des gleichen Eingriffs zugleich am oberen Bildrand beschnitten.8 Die Form der Ergänzungen spricht dafür, dass die Gemälde in ihrem ersten Bestimmungsort, dem Florentiner Stadtpalast des Lionardo Bartolini, in von Lünetten überfangene Wandfelder eingepasst waren, die späteren Einfügungen also auf die Aussparungen für kleine Wandkonsolen zurückgehen.9 Der obere Abschluss der Gemälde wäre dann als leicht bogenförmig zu rekonstruieren. Bei den für die Gemälde so charakteristischen Bäumen mit den großen Orangenfrüchten am oberen linken und rechten Bildrand handelt es sich dagegen um Teile der späteren Ergänzungen, die vermutlich auf das Arrangement der Bilder in der Camera di Lorenzo zurückgehen. Die drei Gemälde verblieben bis zum 18. Jahrhundert in mediceischem Besitz, um dann zwischen drei großen europäischen Sammlungen aufgeteilt zu werden. Ihre schon in der Frühzeit komplizierte materielle Geschichte wäre um Ausführungen zu den unterschiedlichen Restaurierungstechniken der verantwortlichen Museen, aus denen sich die weit voneinander abweichenden Erhaltungszustände zumindest teilweise erklären, zu ergänzen. Heute sind die in Tempera auf Holz gemalten Bilder Paolo Uccellos auf Museen in London, Florenz und Paris verteilt. Schon als Einzelstücke sprengen sie mit ihrer Größe von je 1,80 Metern Höhe und 3,20 Metern Breite die vertrauten Maße der Tafelmalerei. Zusammen zeigen sie auf einer Länge von nahezu zehn Metern die Schlacht von San Romano. Auf dem Gemälde der Londoner National Gallery, das wahrscheinlich den Anfang des Zyklus bildete, sieht man den condottiere Niccolò da Tolentino auf weißem Pferd im Sturm an der Spitze einer Gruppe von lanzenbewehrten Reitern nach vorn sprengen, in Richtung auf eine Gruppe von kämpfenden Reitern. In der Rechten hält der Heerführer befehlend den Kommandostab, über ihm flattert seine von einem verschlungenen Knoten, seinem heraldischen Zeichen, gezierte Fahne. In seinem Rücken hebt sich sein kurzer roter Mantel leicht vom Körper ab, um so – wie das Steigen seines Pferdes – die Härte seiner Bewegung zu evozieren. Die mit ihm von links hereindrängenden gerüsteten Soldaten bilden einen dichten Wald von Lanzen, zwischen denen Trompeter in ihre Fanfaren stoßen, auf denen sie zum Angriff blasen. Auf seinem Kopf trägt der condottiere einen großen, schon fast phantastisch anmutenden Hut aus rotem Damast, der eher einer Paradeuniform als einer im Feld eingesetzten Bekleidung zugehörig sein dürfte. Dem Feldherrn zur Seite reitet unbewaffnet sein Knappe, in seiner Hand den altmodischen Streithelm Niccolò da Tolentinos haltend. Zu ihren Füßen liegen zerborstene Lanzen, die sich zu einem perspektivischen Raster formie-

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ren, dazwischen sieht man verlorene Schilde, Helme und einzelne Rüstungsteile. Die zerbrochenen und aufgegebenen Waffen müssen das Werk jener Gruppe von Reitern sein, die rechts mit herabgezogenen Visieren im Kampf stehen. Deren Schwerter, metallische Rüstungen und elegante Helmbüsche zeichnen sich in einem eigenartigen Kontrast vor der blühenden Rosenhecke ab, die wiederum den Blick auf eine zwar kahle, aber dennoch kultivierte Landschaft frei gibt. Ein in extremer Verkürzung wiedergegebener Gefallener zu Füßen der vorrückenden Reiterschar, über den die Pferde gleich hinüberziehen werden, zeugt davon, dass als möglicher Endpunkt einer militärischen Begegnung immer der gewaltsame Tod droht. Auf der mittleren, heute in den Florentiner Uffizien befindlichen Bildtafel, die auf Grund ihres Erhaltungszustandes und der unterschiedlichen Restaurierungsgeschichte in ihrer Farbigkeit stark vom Londoner Bild abweicht, zeigt sich das Kampfgeschehen weiter verdichtet. Wieder gibt es eine von links hereinbrechende Gruppe mit Fanfarenträgern, so wie sich auch am Boden das schon bekannte Raster aus roten und weißen zerbrochenen Lanzen, verlorenen Kampfschilden und gefallenen Kämpfern wiederholt. Sie werden um zwei gestürzte Rosse ergänzt, die in einem eigentümlich bläulich-grauem Farbton wiedergegeben sind. Das eine der beiden hat seinen Reiter unter seinem massigen Körper begraben. Wieder ist rechts im Bild eine Gruppe gerüsteter Krieger platziert, die wie die Kämpfer zur Linken durch die dichte Folge erhobener Lanzen akzentuiert werden. Zwischen ihnen wird, wie schon auf dem Londoner Gemälde, der Blick in eine Landschaft freigegeben, durch die – perspektivisch übergroß – weitere Soldaten ziehen, die einen Hügel erklimmen, während ein Hund Jagd auf Hasen macht. Beherrscht wird das Florentiner Bild aber von jenem fast über seine ganze Breite sich erstreckenden gewaltigen Lanzenstoß, durch den einer der von links hereinbrechenden Reiter seinen schwer gepanzerten Gegner vom Pferd stößt. Er erzeugt einen Aufprall, dessen Macht sich auf den Betrachter überträgt. Als visuellen Aufprall und ästhetisch gewendeten Schock lassen sich auch die Bildstrategien Paolo Uccellos beschreiben. Folgt man den durch die zertrümmerten Lanzen indizierten perspektivischen Linien, so findet man, dass Uccello hier – wie auf vielen seiner Bilder – mit einem komplexen und widersprüchlichen perspektivischen System arbeitet.10 Diese bifokale Perspektive, bei der das Raster des Bodens von der Ansichtigkeit der Figuren abweicht, wirkt einer bruchlosen Vereinheitlichung des Bildgeschehens entgegen. Sie rechnet vielmehr mit einem Betrachter, der sich vor den großen Bildern als Körper bewegt, während seine Augen das Bildfeld absuchen, und führt immer wieder zu einer Spaltung seines Blicks. Diese Spaltung scheint der Komplexität des Geschehens geschuldet, welches sich aus den vielfältigen Verschränkungen von Körpern im Raum ergibt. Der die beiden Gemälde strukturierende Ausblick in eine kultivierte Landschaft ist auf dem dritten Teil des Zyklus, der heute im Pariser Louvre aufbewahrt wird, nicht gegeben. Die in dichter Folge gehobenen Lanzen der Ritter rhythmisieren hier die gesamte horizontale Ausdehnung des Bildfeldes, ohne dass sich in den Zwischenräumen die Sicht auf

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Landschaft oder Natur eröffnen würde. Wo er aufscheint, ist der Bildhintergrund von nächtlichem Dunkel, so dass es sich dabei auch um eine Bestimmung der Tageszeit des Geschehens handeln könnte.11 Zwar zentrieren sich die Reiter mit ihren überaus kunstvollen Federbüschen wiederum in zwei Gruppen im linken und rechten Bildfeld, die Bewegung der Pferde und der gepanzerten Reiter geht jetzt aber anders als auf den Bildern in London und Florenz entgegen der Leserichtung, das heißt von rechts nach links. Versteht man die drei Bilder als Elemente eines Zyklus, so wäre ihre Gesamtbewegung als eine in Richtung auf die Mitteltafel hin zu deuten. Entsprechend weht die schwarz-weiß-rote Fahne, die das Zentrum des Bildes markiert, nach rechts; auf ihr ist mit dem Einhorn das heraldische Zeichen des Michele Attendolo da Cotignola zu erkennen. Der Feldherr hat seinen Rappen nach links gewandt, dieser bäumt sich im Lauf bei gleichzeitigem Vorwärtsstürmen auf; den Kopf mit dem wiehernd geöffneten Maul wirft das Tier dabei zurück. Der Feldherr folgt dieser doppelten Bewegung, denn auch er hat seinen Kopf im Vorwärtspreschen zurück gewandt. Es ist dies ein für einen Heerführer erstaunlich melancholisch erscheinender Blick auf das, was hinter ihm liegt, den modernen Betrachter darin fast schon an Benjamins Engel der Geschichte gemahnend. Der Reiter, dessen starke Bewegung sich mit der seines voranpreschenden Pferdes verbindet, scheint an einer Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft zu stehen und so zwei Zeiten zu verschränken.

HISTORISCHES FAKTUM UND ÄSTHETISCHER ÜBERSCHUSS Der Krieg – für manche der Vater aller Dinge – lebt nicht zuletzt von seiner ästhetischen Dimension.12 Man hat in ihm ein faszinierendes Schauspiel der Opferung und Agonie gesehen; ob man in der bewaffneten Gewalt mit Paul Virilio auch das vorwissenschaftliche Modell des »Deliriums einer Gemeinsamkeit«, gestiftet in der antagonistischen Einheit des Todeswunsches, verstehen möchte, mag dahingestellt sein, die These aber bleibt erhellend.13 Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, am Krieg den Moment eines ästhetischen Überschusses zu erkennen, der auch in Uccellos Schlachtenbildern zur Geltung kommt. Dieser ästhetische Überschuss ist im realen Kriegsgeschehen darauf gerichtet, weniger nur den Körper als vielmehr auch die Sinne der Beteiligten gefangen zu nehmen. Es gilt, den Kämpfenden vor dem Tod in Todesschrecken zu versetzen, die eigene Todesverachtung zu demonstrieren. Daher gibt es, so erneut Virilio, »keinen Krieg ohne Selbstdarstellung und keine noch so entwickelte Waffe ohne psychologische Mystifikation.«14 Nicht nur der Umstand des gegenseitigen Tötens, sondern eben auch die potentiellen Tötungsinstrumente, die Waffen, müssen dabei in den Blick rücken, denn diese sind nicht nur Werkzeuge der Zerstörung, sondern immer auch solche der Wahrnehmung.15 Gerade im Hinblick auf die Techniken der Kriegsführung im Italien des 15. Jahrhunderts ist die Frage nach dem ästhetischen Überschuss des Krieges in spezifischer Weise zu

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stellen. Aufgrund der vielen Söldnerheere kam es seit Anfang des Jahrhunderts immer wieder zu militärischen Schlagabtauschen, die weniger auf die körperliche als auf die ökonomische Vernichtung des Gegners zielten.16 Kriege und Schlachten hatten oftmals den Charakter von Scheingefechten, bei denen die Frage der Beute von Pferden und der Erpressung von Lösegeldern im Vordergrund stand. Auch bei der Schlacht von San Romano war die Zahl der Toten gering, die der erbeuteten Pferde hoch. Neu war dagegen die Rolle der Infanterie, deren vermehrter Einsatz in den Jahren vor und nach 1500 die europäische Militärtechnik revolutionierte. Infanteristen sind auch in Uccellos Bildhintergründen zu erkennen. Der Überschuss einer Ästhetik des Krieges zeigt sich in den drei Gemälden Uccellos etwa in dem phantastischen Federschmuck der Helme, den bunten Fahnen und Standarten oder im metallischen Glanz der polierten Rüstungen. Diese Rüstungen sind gleichsam hochkomplexe zweite menschliche Körper aus Erz, deren Reiz auch jenseits ihres militärischen Nutzwertes liegt. In einzelnen Figuren Uccellos scheinen sie mit ihren schematischen Bewegungen als handelnde leere Hüllen ohne menschliche Körper, ähnlich wie auch in Texten des 15. Jahrhunderts gerüstete Ritter als mechanische Automaten beschrieben werden. Überschuss und Schrecken des Krieges liegen zugleich im Schall der Trompeten, durch die zu Rückzug oder Angriff geblasen wird, deren Lärm die Sinne gefangen nimmt. Sie machen den Krieg zusammen mit dem Klirren der Waffen zu einem akustischen Spektakel des Schreckens. Uccello nimmt für seine Malerei diese synästhetischen Momente des Krieges auf, wenn er etwa die Fanfarenträger in ihre Instrumente blasen lässt und so den Schlachtenlärm evoziert oder einzelne Krieger den Mund zum Schrei geöffnet haben. Uccellos Schlachtengemälde haben an den ästhetischen Strategien des Krieges daher im doppeltem Sinne teil: Sie repräsentieren den ästhetischen, die Sinne verwirrenden Überschuss und tragen auf einer zweiten Ebene durch die Art der Repräsentation in ihrer Vermischung von Schönem und Schrecklichem nochmals zu seiner Erzeugung bei, indem sie die Imaginationen des Krieges als ästhetische freisetzen. Der Versuch, die historischen Ereignisse der Schlacht von San Romano zu rekonstruieren, um damit zumindest ansatzweise den ästhetischen Überschuss der Bilder Uccellos in ihrem Abstand vom historischen Faktum der Schlacht beziffern zu können, ist nicht einfach. Der Wahrheit der Geschichte, auf die sich die Geschichtsschreibung in der Regel verpflichtet sieht, ist durch die Lektüre derjenigen historischen Quellen, die von der Schlacht berichten, nur bedingt und allenfalls in einer Synopse der unterschiedlichen Texte beizukommen, die zum Teil divergierenden Einschätzungen des Ereignisses Ausdruck verleihen.17 Unklar war den Zeitgenossen sogar der Ausgang der Begegnung. Obwohl die Florentiner die Schlacht als deutlichen Sieg feierten, ließen auch die vermeintlich besiegten Sienesen Dankgottesdienste für den erfolgreichen Ausgang abhalten; ein Umstand, der Leonardo Bruni wiederum zu zornigen Äußerungen veranlasste. Dennoch scheinen die Florentiner am Ende des Kampftages, bei dem es zu erbitterten Gefechten, aber nur zu wenigen Toten kam, eine gewisse Überlegenheit gezeigt zu haben. Diese Überlegenheit

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28 Leonardo da Vinci: Karte der westlichen Toskana, vermutlich um 1502–1503, 27,5 × 40,1 cm, Windsor Castle, Royal Library

fand ihren Ausdruck nicht zuletzt auch in der Zahl der Gefangennahmen und der Beute von über sechshundert Pferden. Der Ort der Austragung der Schlacht, die am Sonntag des 1. Juli 1432 stattfand, waren einige Hügel des westlichen Arno-Tals. Der Name San Romano findet sich auch auf einer der von Leonardo zu militärischen Zwecken angefertigten Karten – nämlich der der westlichen Toskana – eingetragen und bezeichnet einen dort stehenden Turm (Abb. 28). Die Schlacht fällt in die undurchsichtige politische Situation im Italien des 15. Jahrhunderts, das zum Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzungen unter Nachbarn geworden war. Die Begegnung war Teil des von Florenz leichtfertig und auf Grund von Fehleinschätzungen und Profitstreben gegen Lucca unternommenen Krieges, der selbst wiederum nur als eines der Elemente des lange andauernden Konfliktes zwischen Mailand und Florenz zu verstehen ist. Im Frühjahr 1432 hatten sich die Sienesen – nach Aufforderung durch den Mailänder Herzog, der ihnen mit dem Conte Bernardino della Carda vermutlich auch einen Heerführer schickte – überraschend auf die Seite von Lucca gestellt. In dieser Situation entschloss sich der Florentiner condottiere Niccolò da Tolentino, der erst wenige Wochen zuvor zum capitano generale der Stadt ernannt worden war, zu einer riskanten offenen Schlacht gegen die Sieneser Truppen. In Lucca traf unterdessen der deut-

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sche König Sigismund ein, der auf dem Weg nach Rom war und die Lucchesen unterstützte. Folgt man dem vielleicht besten Berichterstatter des Schlachtgeschehens, Luca di Maso degli Albizzi, der als Abgesandter der Florentiner unmittelbar an der Schlacht und ihrer Vorbereitung beteiligt war, so ergibt sich, dass Niccolò da Tolentino nach kleineren Auseinandersetzungen um die Festung Linari mit etwa 2.000 Reitern und 1.500 Infanteristen den offenen Konflikt suchte; ein Umstand, der auch unter Florentinern wegen des hohen Risikos auf heftige Kritik stieß.18 Dies vielleicht auch deswegen, weil der condottiere entgegen jeder Regel der Militärkunst das Terrain nicht kannte, wie Luca degli Albizzi kritiklos ausführt. Die Schlacht, die nach einigen Quellen acht, dem genannten Zeugnis des Albizzi zufolge aber zwanzig Stunden dauerte, schien nach langem Kampf um die Mittagszeit für die Florentiner verloren; vor allem, weil Niccolò da Tolentino in einem riskanten Manöver mit einer Gruppe von nur zwanzig Reitern seiner Vorhut zur Seite sprang, die bereits von den Sienesen geschlagen worden war. Dass es am Ende des Tages dennoch zu einer Überlegenheit der Florentiner kommen konnte, die schließlich zum Sieg führte, war nicht nur der Infanterie, sondern maßgeblich dem späten Eingreifen des Michele Attendolo da Cotignola zu verdanken, der erst in der Dämmerung zu den Florentiner Truppen stieß und dazu beitragen konnte, das Blatt zu wenden. Offenbar hatte Niccolò da Tolentino im Verlauf des Tages mehrfach Boten an diesen abgesandt, um ihn zum Eingreifen zu bewegen. Die ihren condottieri gegenüber grundsätzlich kritischen Florentiner hatten Michele Attendolo da Cotignola im Juni 1431, also im Vorjahr, in einer feierlichen Zeremonie in Florenz als capitano generale ihrer Truppen bestellt, ihn aber erst im Mai 1432 durch Niccolò da Tolentino ersetzt. Beide Feldherren verlangten exorbitante Gehälter. Es scheint, als habe Michele nur wenige Wochen vor der Auseinandersetzung mit der Gegenseite verhandelt. Sein Verhalten in der Schlacht von San Romano bleibt demnach doppeldeutig. Denn wenn auch sein Eingreifen den Sieg brachte, blieb der – etwa von Benedetto Dei nahegelegte – Verdacht, dass er sich zunächst bewusst abwartend verhielt, bis er mit seinen Truppen zum Heer stieß.19 Es gehört zum weiteren Verlauf dieser historischen Ereignisse, dass Niccolò da Tolentino 1435 im Auftrag der Mailänder ermordet wurde; nach opulenten Exequien widmeten ihm die Florentiner erst Mitte der fünfziger Jahre ein Grabmonument im Dom ihrer Stadt.

PERIPETIE, SIEG UND SCHOCK Uccello hat auf seinen monumentalen Gemälden demnach unterschiedliche Momente der über mehrere Stunden sich hinziehenden Schlacht in ihrem dramatischen Geschehen aus Kampf, vermeintlicher Niederlage und unerwartetem Sieg dargestellt: Auf der Tafel in London wird Niccolò da Tolentino gezeigt, welcher vielleicht der schon überwältigten

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Vorhut zur Hilfe eilt, der Aufprall und das Gefecht der Truppen ist auf dem Bild in Florenz und zuletzt das Eingreifen des Michele Attendolo da Cotignola auf der Pariser Tafel zu sehen. Uccellos Bilder zeigen die Heerführer mit ihren jeweiligen Feldzeichen, nicht aber einen eindeutigen Moment des Sieges. Der Maler verzichtet auf die Darstellung der Einnahme des Turms von San Romano, wie dies etwa der Bildpraxis in zeitgenössischen illustrierten Chroniken entsprochen hätte, aber auch auf jedes allegorische Moment, wie dies etwa in antiken römischen Kriegsbildern zur Konvention geworden war. Zugleich hat der Künstler den Zyklus so aufgebaut, dass in ihm gewisse Momente einer Peripetie, das heißt eines Umschwungs der Handlung, sichtbar werden. Die wichtigsten Schlachtenbilder, die als Vergleiche für Uccellos eigenwillige Darstellung dienen könnten, müssen als verloren gelten. Es ist schon von daher mehr als schwierig, die spezifische Eigenheit seiner Bildfindung zu bestimmen, wie überhaupt Schlachtenbilder als Bildgattung ohne feste Ikonographie gedeutet wurden.20 Neben Gentile da Fabrianos verlorenem Schlachtengemälde im großen Ratssaal des Dogenpalastes in Venedig von 1401 wären vor allem die ebenfalls zerstörten tre- beziehungsweise duecentesken Schlachtenbilder, die sich im Florentiner Stadtpalast und im Bargello, dem Sitz des Florentiner capitano generale, dargestellt fanden, als mögliche Referenzen Uccellos zu nennen. Überliefert sind außer einer Reihe von cassoni allein spätere prominente Beispiele, wie etwa die Relikte von Leonardos Anghiari-Schlacht von 1503–1506, kopiert von Rubens um 1603 (Paris, Musée du Louvre), oder Michelangelos Entwürfe für die Schlacht von Cascina von 1504–1505. Diese Werke machen deutlich, dass einer der kritischen Punkte bei der Darstellung einer Schlacht die Wiedergabe ihrer Zeitlichkeit ist. So lässt Leonardo das Schlachtgeschehen im Kampf um die Standarte kulminieren, während Michelangelo in der Schlacht von Cascina mit der Darstellung der beim Baden vom Feind überraschten Krieger den Moment vor dem Beginn der Schlacht wählt, den er mit dem Kampf kontrastiert.21 In ihrer Schilderung verschiedener Momente der Schlacht scheinen Uccellos Malereien, die das Ereignis der Schlacht in »drei Teile« zerlegen, eigentümlich zwischen Verfahren der kommunalen Chronik und solchen der Historia (als einer neuen humanistischen Form der Geschichtsschreibung) zu oszillieren. Wenn Uccello mit seinen drei Bildern drei Momente der Schlacht dargestellt hat, dann stünde das dritte der Bilder mit Michele Attendolo da Cotignola für das Eingreifen seiner Truppenteile, den Umschwung und den Sieg der Florentiner, ohne dass dies eindeutig gezeigt würde: Noch senken die Reiter ihre Lanzen zum Angriff. Dem gehen die Szene des ersten Aufpralls der Truppen in London sowie das mittlere der Bilder, das Florentiner, mit den übermächtig von links vordringenden Soldaten und dem gewaltigen Lanzenstoß voran. Die ästhetischen Strategien der Mitteltafel sind aufschlussreich für den gesamten Zyklus, denn hier bedient sich Uccello einer Bildsprache, deren Wirkung sich vielleicht am ehesten mit dem Begriff des Schocks in Verbindung bringen ließe. Die Geschichte dieses Begriffs ist lang und unerwartet kompliziert.22 Für den Bereich der Ästhetik wird man ihn vor allem mit Charles Baudelaires beziehungsweise Walter

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Benjamins Verständnis der Moderne als einer schockhaften Erfahrung in Verbindung bringen. Er entstammt tatsächlich aber dem Bereich des Militärischen, wo er um 1490 im Kontext der italienischen Feldzüge Karls VIII. zunächst als »Druck« und dann um 1500 zum ersten Mal im Rahmen einer Schlachtenbeschreibung explizit als »choc« auftaucht.23In den international zusammengewürfelten Söldnerheeren des 15. Jahrhunderts diente er dazu, das erste Aufeinanderprallen der Truppen zu beschreiben. An diesen militärischen Gebrauch anschließend wird der Ausdruck im 19. Jahrhundert genutzt, um die erschreckenden Folgen der bis dahin ungekannten Dynamik des Aufpralles bei Eisenbahnunglücken zu beschreiben, von wo er in die Poesie und Literaturkritik einzuziehen vermochte.24 Seine militärische Vorgeschichte reicht aber vermutlich noch bis zur Durchsetzung des Steigbügels im 9. Jahrhundert zurück, dessen Einsatz das körperliche Verschmelzen der Kräfte von Ross und Reiter und damit den Einsatz des Lanzenstoßes ermöglicht. In all diesen Fällen geht es um die Wirkung von Kräften und Energieballungen, die durch die Verbindung von mehreren Körpern entstehen. Es scheint vor diesem historischen Hintergrund nicht ungerechtfertigt, Uccellos Bildstrategien mit dem militärischen Schock als dem ersten Aufprall der Truppen – einem Gewaltakt, der sich aus der Konzentration vieler Einzelmomente zusammensetzt – in Verbindung zu bringen. Es ist, als wolle Uccello im mittleren der drei Bilder durch das Anrennen des Lanzenträgers und den Sturz seines Gegners in bis dahin ungesehener Weise die Macht eines kriegerischen Aufpralls ästhetisch evozieren. Seine Malerei ließe sich so als dem Thema angemessenes ästhetisches Äquivalent eines militärischen Schocks beschreiben, der hier zur visuellen Strategie eines einzigartigen und monumentalen Bilderzyklus wird.

DIE SICHTBARKEIT MILITÄRISCHER ORDNUNG Um die ästhetischen Strategien Uccellos zu begreifen, gilt es, sich nicht nur dem ästhetischen Überschuss und seiner ästhetischen wie schockierenden Wirkung, sondern auch dem grundsätzlichen Problem der Sicht- und Darstellbarkeit einer frühneuzeitlichen Schlacht zuzuwenden. Schlachten sind sowohl in der Realität als auch in ihrer bildlichen Repräsentation ein komplexes System von Ordnung und Unordnung. Eine Aufstellung, wie sie etwa Niccolò Macchiavelli um etwa 1520, also fast hundert Jahre nach Entstehung von Uccellos Bildzyklus, in der Skizze einer Schlachtordnung wiedergibt, kann nur die ideale Anordnung zu Beginn einer Schlacht zeigen (Abb. 29). Verschiedene Kürzel weisen hier auf die unterschiedlichen Soldatentypen beziehungsweise Waffengattungen oder den strategisch richtigen Ort der Standarte hin. Diese Ordnung muss aber durch die im 15. Jahrhundert noch gefochtenen Einzelkämpfe sukzessive verloren gehen. Das Kampfgeschehen selbst und insbesondere das Nahgefecht, die melée, bringen dabei ein Problem der richtigen Wahrnehmung mit sich, insofern sie, um erfolgreich zu sein, das jeweilige fehlerfreie Erkennen des Feindes beziehungsweise der eigenen Partei voraussetzen; ein

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Niccolò Macchiavelli: Skizze mit einer Schlachtanordnung, aus: Libro della Arte della Guerra, Florenz 1521

Umstand, auf dessen historische Bedeutung in jüngerer Zeit Valentin Groebner hingewiesen hat.25 Die Schwierigkeit, sich jeweils darüber im Klaren zu sein, wer zum Feind und wer zu den eigenen Truppen gehört, bestimmt die eigenartige Realität der vormodernen Schlacht. Sie zeigt sich bei Uccello auch in der bildlichen Wiedergabe. So tragen etwa etliche der Ritter auf ihrem Helm ein kleines Kreuz, das der eigenen Seite – wie auch dem Feind – als Erkennungszeichen dienen kann. Als Maler operiert Uccello aber noch auf komplexere Weise mit dem Problem der richtigen Wahrnehmung des Geschehens, wenn für den Betrachter zwischen den vielen Körpern der Kämpfer immer wieder neue Gestalten erkennbar werden und sich das Durcheinander an Armen, Beinen und Schwertern im Auge des Betrachters erst langsam zu einzelnen Figuren in bestimmten Bewegungen ordnet. So etwa im Mittelgrund der Mitte des Florentiner Bildes, wo erst ein geschärfter und genauer Blick jene grausame Szene erkennbar werden lässt, bei der sich ein jüngerer Infanterist seinem Gegner von hinten mit erhobenem Dolch nähert. Sicher vergebens versucht sich der hässliche Alte vor dem Stich in den Nacken mit nach hinten gehaltener Hand zu schützen. Uccello arbeitet hier aber nicht nur mit dem Problem der visuellen Ordnung beziehungsweise Verortung von Körpern und ihrer Bewegung. Sehr wahrscheinlich zeigt er

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30 Fiore dei Liberi: Das Lanzenführen zu Pferde, aus: Flos duellatorum, Ms. Dossi-Pisani, 1409, Italien, Privatsammlung, fol. 28r

Positionen und Griffe, wie sie in der Ausbildung der Krieger tatsächlich eingeübt wurden. Denn das Studium des Körpers und seiner möglichen Bewegungen war eines der bevorzugten Felder nicht nur der Maler, sondern auch der militärischen Experten. Die meisten der zahlreichen Traktate zu dieser Frage datieren erst aus dem 16. Jahrhundert, dürften aber älteres Wissen und ältere Praktiken wiedergeben.26 Immer wieder findet sich in ihnen betont, dass es im Kampf vor allem um das richtige Wahrnehmen der Bewegungen des Gegners gehe. So etwa in den Ausführungen des portugiesischen Königs Duarte I., der 1467 im Rahmen eines Traktats über das Reiten einen der ersten Texte zu den Techniken des Lanzenkampfs verfasste. Unter den vier möglichen Fehlern eines Kriegers, die zu seiner Niederlage führen, nennt er an erster Stelle die mangelnde Sicht und die fehlgeleitete Wahr-

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31 Camillo Agrippa: Trattato della Scientia d’Arme, con un dialogo di filosofia, Roma: Antonio Blado, 1553, fol. 3

nehmung. Danach verlieren Krieger einen Kampf zum einen, »weil sie keine Herrschaft über ihre Lanze oder über ihr Pferd haben, oder weil ihnen der Wille fehlt, zu gewinnen«, in erster Linie aber deshalb, »weil sie nicht in der Lage sind, zu sehen«.27 Ein Krieger muss daher lernen, zu erkennen, was der Gegner tut beziehungsweise tun wird. Entsprechende Ausführungen finden sich etwa im Flos duellatorum des Fiore dei Liberi aus Premariacco von 1401, einem der frühsten erhaltenen handschriftlichen Traktate über die Kriegskunst (Abb. 30).28 Dieser basiert nach Aussage seines Autors auf dessen fünfzigjähriger Erfahrung als Kämpfer und Soldat. Der in vielen Fassungen überlieferte und teilweise bebilderte Text zeigt eine Fülle an Positionen, Griffen oder Schlägen, die es nicht nur auszuführen, sondern beim Gegner auch vorherzusehen gilt. Kampf und Schlacht haben hier wie die Malerei eine visuelle Dimension und weisen insofern wichtige Parallelen zur deren Prinzipien auf. Beide Techniken zielen auf eine Verortung des Körpers in Raum; für Künstler wie Heerführer verbinden sie sich mit Fragen der Wahrnehmung, der Kontrolle und Darstellung des menschlichen Körpers sowie der Komposition einer Vielheit von Körpern. Uccello vermag es, uns mit dem doppelten Grund jener visuellen und kompositionellen Schwierigkeiten zu konfrontieren. Es spricht für den wegweisenden Charakter von Uccellos künstlerischem Vorgehen, wenn der Mathematiker Camillo Agrippa 1533 seinen Traktat über die Techniken der Waffenführung, dem Trattato di scientia d’arme, mit Bewegungsstudien versieht, auf welchen die Körperbewegungen eines Kämpfers in einzelne Sequenzen aufgespalten wer-

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Paolo Uccello: Die Schlacht von San Romano, um 1435–1441 (Detail aus Abb. 27)

den (Abb. 31). Ähnlich, wenn auch weit eindrucksvoller, hat Uccello in jener berühmten Szene am Rand des Pariser Bildes durch eine Gruppe von Reitern das Vorpreschen mit einer Lanze – gewissermaßen stereoskopisch – in einzelne Bewegungsmomente zerlegt (Abb. 32). Der Betrachter kann so das rasante Herabsenken der Lanze imaginieren, welches ihm in vier unterschiedlichen Bewegungsmomenten präsentiert wird. Es ist, als verdeutliche Uccello damit jene komplexe Zeitlichkeit des militärischen wie historischen Geschehens, die sich jeder bildlichen Darstellung entzieht, hier aber evoziert wird, indem sie sich dem Betrachter als Widerstand bietet. Fragen der Militärkunst begegnen demnach in den Schlachtenbildern Uccellos auf vielfältige Weise solchen der Malerei. Wie stark sich militärische Aufgaben mit den Aufgaben der Wahrnehmung verschränken, ließe sich etwa gerade auch im Bezug auf den Reiter-

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33 Fiore dei Liberi: Zweikampf, aus: Flos duellatorum, Ms. Dossi-Pisani, 1409, Italien, Privatsammlung, fol. 25v

kampf zeigen. Hier werden unter anderem die Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten beschrieben, den Gegner durch den Sehschlitz des Helmes, die visiera, zu beobachten. Dieser Sehschlitz ist notwendige Voraussetzung jeder gezielt auf den Gegner gerichteten Handlung des Kriegers, zugleich aber einer seiner schwächsten und verletzlichsten Punkte. Er ist jener Bereich des künstlichen Körpers der Rüstung, an dem sich dieser zum natürlichen Körper des Kriegers hin öffnen muss. Eine der Abbildungen des Flos duellatorum zeigt, wie genau diese Stelle zum Zielpunkt eines Angriffes werden kann, wenn der Krieger durch den Sehschlitz getroffen wird (Abb. 33). Schlagend wird hier das erwähnte Axiom von den Waffen als Instrumenten der Wahrnehmung unter Beweis gestellt, mit welchem auch Uccello operiert, wenn der Betrachter hinter einer Vielzahl von Helmen

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beunruhigende Blicke aus dem dunklen Spalt der visiere zu erahnen meint, welche so nahezu zu einem Paradigma seiner eigenen Wahrnehmung werden. Es ist ebenso bezeichnend, dass Uccello in seinen Bildern die Bewegungen der metallischen Rüstungen, der mechanischen Kunstkörper nicht nur sorgfältig studiert hat, sondern diese auch auf dem neuesten Stand der Waffentechnik der Jahre um 1435 wiedergibt.29 Es lässt sich demnach ein Insistieren des Malers auf den Bewegungen einzelner menschlicher Körper, genauso wie den Wahrnehmungsbedingungen und Bewegungsformen einer Schlacht ausmachen, vor allem aber ein Ausloten der Möglichkeiten ihrer Sichtbarkeit beziehungsweise Sichtbarmachung. In seiner Anwendung einer bifokalen Perspektive erfährt dieses Interesse an der Sichtbarkeit einer Schlacht eine komplexe Erweiterung, wenn der Betrachter im Angesicht der drei Bildtafeln immer wieder zwischen unterschiedlichen Blickführungen hin- und herspringen muss.

DER GEFLOHENE AUGENZEUGE Die wichtigste Eigenart der Bilder Uccellos stellt neben seinem Insistieren auf den Bedingungen ihrer Sichtbarkeit wohl die Auswahl der drei Szenen dar. Der Maler – und mit ihm sein Auftraggeber Bartolini, der vermutlich einer der Entscheidungsträger der Florentiner Comune bei der Schlacht war – hat in seiner Darstellung der Schlacht von San Romano, einer »storia in tre pezzi«, auf eine erzählerische Dramatik gesetzt, indem er das Geschehen in drei Momente aufspaltet.30 Anders als in einer Chronik zeigen sich hier allerdings Züge einer Peripetie, das heißt eines Umschwungs der Handlung. Diese unterscheidet sich von Albertis Prinzip der historia, bei der alle Handlungen auf einen zeitlichen Moment fokussiert und im Bild durch die Perspektive vereinheitlicht werden. Uccello verzichtet dabei auch auf all jene Bildstrategien, die einem an der Rhetorik entwickelten Bildkonzept geschuldet wären, wie etwa der von Alberti geforderten Figur, die zwischen Bild und Betrachter vermitteln soll, indem sie ihn in das Bildgeschehen »einlädt«, oder auf die Konzentration auf einen einzigen Moment, wie der Theoretiker sie an Giottos Navicella von 1298 (ehemals Rom, Alt Sankt Peter) gelobt hat. Uccellos Schlachtenbilder können daher vielleicht als ein historisch erfolglos gebliebener Parallelentwurf zu Albertis fast gleichzeitigem Konzept einer bildlichen historia gelten. Sie müssen als einer der möglichen Wege und malerischen Haltungen innerhalb einer ganzen Bandbreite an unterschiedlichen künstlerischen Optionen des frühen Quattrocento verstanden werden. Dabei reflektiert Uccellos Werk die Bedingungen der Wahrnehmung eines historischen Ereignisses. In diesem Interesse für das sinnlich Wahrnehmbare, Einzelne und Konkrete trifft er sich in bestimmten Punkten mit der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft des 15. Jahrhunderts, die sich in einer Phase grundlegender Neuerung befand. Diese formiert sich, indem sie den Übergang von der Cronaca zur Historia vollzieht.31 Erst mit dem aufkommenden Buchdruck, der die Techniken historischer Erinnerung revolutionieren wird,

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Paolo Uccello: Die Schlacht von San Romano, um 1435–1441 (Detail aus Abb. 26)

verändert sich die Geschichtsschreibung grundlegend.32 Uccellos Bilder entstanden in einem Moment, in dem Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung selbst einen Moment des Umbruches durchliefen, so dass sie zum Spiegel einer Phase nicht nur ästhetischer und visueller, sondern auch kultureller Experimente werden, an denen mit Paolo Uccello auch sein Auftraggeber Lionardo Bartolini Anteil hat. In einem ironisch zu nennenden Bruch hat sich Uccello dabei selbst als Berichterstatter ins Spiel gebracht. Er hat seine Signatur an den unteren Rand des mittleren Bildes gesetzt, wo auf einem der verlorenen Schilde Pauli Vgiel[l]i opus zu lesen ist (Abb. 34). Dieser Kunstgriff ist eigenartig ambivalent: Er legt nahe, dass der Maler selbst Zeuge des Geschehens war und seine Schilderung daher glaubwürdig sein muss. Genau das meint auch der Begriff der historia: die Erzählung eines Ereignisses durch einen Augenzeugen. Der Maler Uccello gibt uns als Betrachtern die Schlacht zwar zu sehen, hat seinen Schild aber im Kampf verloren. Offenbar noch rechtzeitig hat sich der Künstler aus dem Staub gemacht. Hinterlassen hat er einen Bildzyklus, der zum ästhetischen Zeichen einer anderen Form der Wahrnehmung von Geschichte und einer anderen Konzeption des Bildes geworden ist, deren machtvolle, ästhetisch faszinierende Spuren es zu rekonstruieren gilt.

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DAS EREIGNIS ALS POLITISCHES EXEMPLUM ÜBER DIE BILDWÜRDIGKEIT DER ZEITGESCHICHTE IN JEAN FOUQUETS »LIT DE JUSTICE DE VENDÔME« Nina Zenker

Man muss sich schon wundern, dass eines der berühmtesten und zudem ausgesprochen seltenen zeitgenössischen Ereignisbilder der Buchkunst des französischen Spätmittelalters nicht in einer Chronik, genau genommen nicht einmal in einer historischen Abhandlung, sondern ausgerechnet am Kopf einer der beliebtesten moraldidaktischen Exempla-Sammlungen der Epoche zu finden ist. Im Urtext wie in der um manches erweiterten französischen Übersetzung von Giovanni Boccaccios De casibus virorum illustrum braucht man nach dem Ereignis, das Jean Fouquet im sogenannten Lit de Justice de Vendôme festgehalten hat, gar nicht erst zu suchen (Abb. 35). Der hier dargestellte Prozess gegen den wegen Hochverrats und Verschwörung mit dem englischen Feind angeklagten Johann II. von Alençon fand am 10. Oktober 1458 erst 83 Jahre nach Boccaccios Tod seinen Abschluss. Auch Laurent de Premierfait, der Verfasser der französischen Textfassung, hat seine Arbeit ein halbes Jahrhundert zu früh abgeschlossen, um das Geschehen in seine Erläuterungen einfügen zu können. Überhaupt lässt sich keine literarische Quelle benennen, die das Ereignis ähnlich zeitnah und ausführlich geschildert hätte, denn die Abschrift des in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrten Buches, in dem das Bild beheimatet ist, wurde im Kolophon verbindlich auf den 24. November 1458 datiert, und es gibt keinen Grund, dessen Dekor entschieden später anzusetzen.1 Schon formal sprengt die Miniatur jede Konvention mittelalterlicher Buchgestaltung. Zwischen zwei unbeschriebenen Blättern nimmt das Bild auf der Rückseite des zweiten Foliums die ganze Seite ein. Eine Referenz auf den für den gesamten Kodex ansonsten verbindlichen Textspiegel ist nicht zu erkennen.2 Dabei hat sich das mittelalterliche Buchwesen für den Einsatz von Bildern doch eigentlich einem unumstößlichen Regelwerk ver-

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35 Jean Fouquet: Lit de Justice de Vendôme, 1458, Miniatur, 34 × 28 cm, aus dem »Münchner Boccaccio«, München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. Gall. 6, fol. 2v

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pflichtet: Als prachtvollstes Instrument des Initialdekors haben Miniaturen zunächst der Hervorhebung von Incipits zu dienen und die jeweiligen Textabschnitte durch ihre variable Größe gewichtend zu ordnen. Ihr Format ist dabei fast immer in das Gitterwerk des in Zeilen und Kolumnen gegliederten Textspiegels eingeschrieben und wird, ebenso wie ihre Platzierung, vom Schreiber vorgegeben. Dem Text als bestimmender Bezugsgröße ist das Bild damit nicht nur inhaltlich sondern auch formal grundsätzlich nachgeordnet. Fouquets Ereignisdarstellung aber illustriert nichts; die gegenüberliegende Seite bleibt ohne Schrift. Ein autonomes Bild, ein isoliertes Gemälde auf Pergament führt hier in Fortunas launisches Wirken auf das Leben der Menschen ein.3

EIN MAHNMAL KÖNIGLICHER SOUVERÄNITÄT Angesichts seines somit ganz unwahrscheinlichen Auftretens wird man im Profil des Auftraggebers der Handschrift und in der Bedeutung des dargestellten Ereignisses selbst eine Erklärung für das Bild erwarten. Als Erstbesitzer ist seit langem ein Mann aus jener Führungselite bürgerlicher Staatsbeamten bekannt, die unter Karl VII. zunehmend an Einfluss gewann. Laurens Girard, Finanzbeamter am Hofe des Königs, war an dem Prozess jedoch nicht unmittelbar beteiligt. Ein persönlicher Bezug zum Bildgeschehen lässt sich also kaum herstellen.4 Ohnehin ist der Prozess gegen Johann II. von Alençon aus Sicht des Mediävisten kaum mehr als eine historische Randnotiz, die sich nahtlos in den für die Regentschaft Karls VII. kennzeichnenden Konflikt zwischen König und Hochadel einfügt.5 Nachdem Frankreich, vom Krieg mit England schwer gebeutelt, während der Regierungszeit des schwachsinnigen Karls VI. im Wesentlichen von dessen Onkeln, den Herzögen von Berry und Burgund, sowie von dessen Bruder Ludwig von Orléans gelenkt wurde, und die französische Krone nach seinem Tod im Jahr 1422 sogar an den englischen König überging, hatte Karl VII. im Anschluss an seine feierliche Krönung in Reims 1429 erfolgreich am Aufbau eines souveränen Königsstaates gearbeitet. Dieser musste sich notwendig gegen die Interessen des Hochadels richten. Alençon selbst hatte sich als Prinz von Geblüt und Pair von Frankreich zunächst an der Seite von Jeanne d’Arc bei der Amtseinsetzung Karls VII. ausgezeichnet. Auf Entschädigung für seine persönlichen Kriegsverluste wartete er wie viele andere jedoch vergeblich. Zudem war der König nach seinem siegreichen Einzug in Paris 1436 bemüht, durch zahlreiche Reformen die königliche Zentralgewalt zu festigen, indem er unter anderem seit 1439 den Aufbau eines stehenden Heeres vorantrieb und damit die Möglichkeiten der Feudalherren auf die Einrichtung eigener Heereskompanien beschnitt. Ein daraus erwachsener, erster großer Aufstand des französischen Adels konnte schnell niedergeschlagen werden. Seitdem aber hatte sich Alençon, der zu den Anführern der Revolte gehörte, an jedwedem Aufstand gegen den König beteiligt. Hoffnungsträger und Zentrum der oppositionellen Bewegung war Ludwig, der älteste Sohn Karls VII., der sich

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schon früh von seinem Vater abgewandt hatte und diesen fortan in riskanten Allianzen mit dessen mächtigsten Widersachern bekämpfte, allen voran mit Philipp dem Guten. Den Anlass für die Verhaftung Alençons boten im Mai 1456 schließlich dessen Verhandlungen mit dem englischen König über eine erneute Invasion in Frankreich, nachdem England drei Jahre zuvor mit Ausnahme von Calais alle seine Besitzungen auf dem Kontinent aufgeben und den Hundertjährigen Krieg als verloren ansehen musste. Auch wenn die ursprünglich beschlossene Todesstrafe durch königliche Gnade in lebenslange Haft umgewandelt wurde, hat das Urteil seine Wirkung sicher nicht verfehlt: Der Titel eines Pairs von Frankreich wurde dem Herzog aberkannt, seine Ländereien und beweglichen Güter wurden eingezogen. Der König hatte neben effektiver Reformtätigkeit den Schauprozess als wirkungsmächtiges Instrument der Demonstration seiner Handlungsfähigkeit entdeckt. In modernen Geschichtsbüchern wird das Verfahren eher in Nebensätzen erwähnt; für die Zeitgenossen, vor allem für einen königstreuen Staatsbeamten wie Laurens Girard, muss der öffentlich geführte Prozess gegen einen Mann königlichen Blutes hingegen hohe Symbolkraft besessen haben. Tatsächlich hat Fouquet mit seinem Bild ein wahres Mahnmal königlicher Souveränität entworfen. Getragen wird die Komposition von einer außerordentlich rigiden geometrischen Grundform: Mannshohe Holzschranken definieren ein quadratisches Gerichtsfeld, welches sich dem Betrachter durch die Einbindung in das Motiv einer streng symmetrischen Raumecke als monumentaler Rhombus präsentiert. Durch Überschneiden der Seitenkanten mit dem Bildrand wird diese an sich doch eher fragile Rautenform fest im Bildraum verankert. Ober- und Unterkante kreuzen die Mittelachse und justieren den gleichförmigen Bildaufbau. In der Fläche kommt ein ausgeprägt ornamentaler Charakter zum Tragen: Boden und Seitenwände der Konstruktion sind durch einen unendlichen Rapport goldener fleurs de lis auf azurblauem Grund vollständig mit dem Tuch der französischen Könige ausgeschlagen. Im Zentrum des Bildes, etwas erhöht und durch einen weit in die Decke reichenden Baldachin zusätzlich ausgezeichnet, findet sich jenes Möbel, welches dem dargestellten Verfahren seinen Namen gibt: Lit de Justice, in diesem Zusammenhang wohl am ehesten mit »Wiege der Gerechtigkeit« zu übersetzen, nannte man jene mit einer Liliendraperie verkleidete Sitzgelegenheit, auf welcher der König als Oberster Richter den Vorsitz parlamentarischer Versammlungen führte.6 Oberhalb des Gerichtszirkels sind die Rückwände des Raumes zu beiden Seiten des Baldachins mit Tapisserien in den Livreefarben Karls VII. verkleidet. Breite Bahnen in Grün, Rot und Weiß wechseln sich ab und sind von Rose und Iris, dem Blumenemblem des Königs durchsetzt. Im Zentrum wird das französische Wappen jeweils von zwei geflügelten Hirschen getragen, dem persönlichen Wappentier Karls VII. Auch die schmale Randleiste, die das Bild einfasst, ist in diesem Dekor gehalten. Als Ergänzung der überindividuellen und damit zeitlosen fleurs de lis wird so eine erste historische Präzisierung vorgenommen: Das dargestellte Ereignis ist eindeutig in der Regierungszeit Karls VII., zwischen 1422 und 1461, zu verankern.7

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Der Monarch selbst ist in all der heraldischen Üppigkeit kaum auszumachen. Zwar sitzt er etwas erhöht; als Folge perspektivischer Verbindlichkeit musste er bei dem außerordentlichen Tiefenzug der Darstellung am Kopf der Versammlung jedoch notwendig recht klein wiedergegeben werden. Durch seine blaue Kleidung scheint er sich zudem im Meer der ihn umgebenden französischen Königsfarbe aufzulösen. Die übrigen Mitglieder der Versammlung haben sich in drei Reihen an den Gerichtsschranken niedergelassen. Dabei folgt die Sitzordnung einer streng festgelegten Hierarchie: Zur Linken des Monarchen haben auf dem obersten Rang die höchsten weltlichen Würdenträger, die Pairs von Frankreich, Platz genommen; zu seiner Rechten sitzt die geistliche Obrigkeit des Landes. Die übrigen Teilnehmer der Parlamentssitzung, Adel und Klerus, hohe Staatsbeamte, Advokaten und Sekretäre, füllen die niederen Ränge und die vom Betrachter abgewandten Flanken des Raumes. Das Volk findet im Vordergrund des Bildes, außerhalb der Gerichtsschranken, seinen Platz. Ein ganzes Spektrum der französischen Gesellschaft, Alte und Junge, Gelehrte und einfache Bürger, selbst einen Juden und einen italienischen Edelmann kann man hier ausmachen.8 Die Schaulustigen drängen sich an die Holzwände, recken die Hälse und werden von Amtsdienern und Soldaten nur mühsam in Schach gehalten. In allen denkbaren Nuancen hat der Maler die Aufmerksamkeitspanne der Zuhörer wiedergegeben und seinem Bild dadurch den Anschein einer echten Momentaufnahme gegeben.

AUTHENTIZITÄT ALS INSTRUMENT DER HERRSCHAFTSLEGITIMATION Tatsächlich deckt sich Fouquets Darstellung erstaunlich genau mit den erhaltenen archivarischen Zeugnissen der Verhandlung.9 Nicht nur die quadratische Grundform des Gerichtsraumes, auch der Dekor des Saales und die hierarchische Sitzordnung stimmen mit den zeitgenössischen Beschreibungen überein. Eine solche historische Genauigkeit, aber auch der Umstand, dass sich Jean Fouquet in der Kunstgeschichte unter anderem als Porträtmaler einen Namen gemacht hat, ließ einige Forscher zumindest unter den Beisitzern der oberen Ränge zahlreiche Bildnisse vermuten. Tatsächlich aber wird man kaum von echten Porträts ausgehen können, da weniger der authentische Bildnischarakter der Figuren, als vielmehr deren Kleidung sowie die logische Herleitung ihrer Platzierung eine Identifizierung ermöglicht. Leicht erkennbar ist allerdings die Gestalt, die zur Linken des Königs im gleichen königsblauem Gewand ebenfalls mit dem heraldischen Dekor des Raumes zu verschmelzen scheint. Charles de France, der jüngste Sohn Karls VII., ist hier wiedergegeben.10 Neben ihm hat der Maler einigen Platz gelassen, um das Fehlen des Thronfolgers Ludwig anzudeuten. Der Dauphin hatte an dem Verfahren nicht teilgenommen, da er seit dem endgültigen Zerwürfnis mit seinem Vater 1456 am Hofe Philipps des Guten lebte. Auch am linken Rand der Reihe der Pairs von Frankreich ist ein Sitzplatz frei geblieben: Der Herzog von Burgund hatte sich der Verhandlung ebenfalls verweigert.

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Trotz der genauen Beschreibung lässt sich der präzise Moment, den der Maler hier festgehalten hat, nur schwer ermitteln. Das vor dem König von einer Rückenfigur verlesene Schriftstück könnte Anklage, Urteil oder ein Plädoyer von Verteidiger oder Ankläger enthalten. Allerdings lehrt uns die Erfahrung bei derart sorgsam komponierten Bildern, dass grundsätzlich eher dramatische Höhepunkte für bildwürdig befunden wurden. Im vorliegenden Fall spricht dies für Auftakt oder Abschluss des Prozesses und nicht für einen willkürlichen Moment innerhalb des Verfahrens. Zudem wurden Anklage und Urteil üblicherweise in Abwesenheit des Angeklagten verlesen. Und wirklich: Alençons Platz im Zentrum bleibt leer. Möglicherweise liefert noch ein weiteres Detail innerhalb des Bildes Aufschluss über den wiedergegebenen Zeitpunkt: Der Auslegeteppich am Boden des Gerichtszirkels musste aufgrund der starken Beanspruchung im Verlauf des fast zweimonatigen Prozesses ausgebessert werden.11 Tatsächlich hat der Maler im unteren Eingangsbereich eine Anstückung angedeutet. Die Goldenen Lilien verlaufen dort fast orthogonal zu jenen im Zentrum des Gerichtsfeldes. Zudem ist eine deutliche Nahtstelle zu erkennen. Sicher war der auszuschlagende Raum zu groß, um von der höchsten verfügbaren Stoffbahnbreite vollständig bedeckt zu werden. Zunächst fügt sich dieses Detail also bruchlos in die allgemein naturnahe Darstellung ein, hat sich der Maler doch auch im Bereich des Thrones, der Bänke und des Baldachins bemüht, das reine Ornament durch schwere, schattige Falten und wechselnden Lilienverlauf in seiner Stofflichkeit zu beschreiben. Die Anstückung an dieser Stelle erscheint jedoch zu auffällig. Wahrscheinlicher ist daher, dass der Maler hier einen subtilen Hinweis auf den wiedergegebenen Zeitpunkt hinterlassen hat: Dargestellt ist ein fortgeschrittener Moment im Prozessverlauf, wahrscheinlich die Urteilsverkündung. Solch außergewöhnliche Präzision in der Beobachtung wirft Fragen nach der Informationsquelle des Malers auf. Vor allem weil die Schilderung des Ereignisses eben nicht, wie sonst üblich, dem zu illustrierenden Buch und – soweit bekannt – auch keiner anderen literarischen Quelle entnommen werden konnte, fühlt sich mancher Autor zu der Annahme verleitet, Fouquet hätte der Verhandlung selbst beigewohnt.12 Tatsächlich hat man in den Reihen der Zuschauer ein Selbstbildnis des Künstlers entdecken wollen: Am äußersten rechten Rand des Bildes, exakt auf der Mittelhöhe jenes Dreiecks, das die dicht gedrängte Zuschauermenge beschreibt, sticht die Gestalt eines tonsurierten Mannes mittleren Alters hervor. Dieser richtet seine Aufmerksamkeit nicht, wie die anderen Personen, auf das Geschehen im Zentrum, sondern wendet sich direkt dem Betrachter zu. Nun ist ein solches Motiv ein gängiges künstlerisches Mittel, den Betrachter in das Bildgeschehen einzubinden. Entschieden reizvoller ist jedoch die Annahme, dass Fouquet hier durch ein Selbstporträt seine Augenzeugenschaft unter Beweis stellen und sich so als erster Schilderer des Ereignisses zum Chronisten stilisieren wollte.13 Der Maler hätte sich dabei einen wesentlichen Topos der Geschichtsschreibung zunutze gemacht: Mit dem Ziel einer deutlichen Abgrenzung gegenüber anderen literarischen

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Aufarbeitungen historischer Stoffe haben die Chronisten des ausgehenden Mittelalters die Betonung der Augenzeugenschaft als wesentliches Instrument des Authentizitätsbeweises für sich entdeckt.14 Außerordentlich ausführlich und bildreich beschreiben sie die von ihnen bezeugten Ereignisse, um Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit ihrer Darstellung zu demonstrieren und damit gegenüber Reimchroniken, Romanen und epischer Bearbeitung von Historien höhere Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können. Tatsächlich haben sich die Literaten damit ins Hoheitsgebiet der Malerei gewagt: Während der Autor bei der Beschreibung sichtbarer Phänomene auf nicht selten redundante Aufzählung angewiesen ist und schon der Rhythmus des Lesens jede Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung verbietet, verbinden sich in der Malerei alle visuellen Details sofort zu einem ästhetischen Ganzen. In Fragen der Unmittelbarkeit entscheidet der Maler den Wettstreit der Künste für sich.15 Nun ist Wahrhaftigkeit, ganz anders als in den historischen Wissenschaften, nur selten Selbstzweck gewesen. Vielmehr dient die Betonung authentischer Wiedergabe in aller Regel der Legitimation eines spezifischen Ausdrucksziels. Man darf nicht vergessen: Der Maler hat hier ein Bild von Geschichte entworfen, welches – eben als Entwurf – immer den Makel der Behauptung mit sich führt. Historische Genauigkeit und Detailtreue erweisen sich als wirksame Mittel, den Betrachter vergessen zu lassen, dass der Künstler entschieden hat, in welchem Licht, aus welcher Perspektive das Geschehene gesehen wird. Um die Glaubwürdigkeit des von ihm konzipierten Geschichtsbildes zusätzlich zu erhöhen, tritt nun, paradox genug, der Maler selbst als Garant seiner eigenen Sichtweise auf.

EIN ZEITLOSER WERT IM GEWAND EINER MOMENTAUFNAHME Solch vehemente Authentizitätsbetonung lässt noch einmal nach der intendierten Bildaussage fragen. Tatsächlich erweist sich die Miniatur jenseits ihrer historischen Präzision als ikonengleiche Darstellung eines unumstößlichen gesellschaftlichen Ordnungsprinzips: Das in der kompositorischen Grundform der Raute angelegte Dreieck kann als pyramidale Ständeordnung gelesen werden, welche den König an die Spitze des Staates über Adel und Klerus stellt, während das Volk den breiten Unterbau repräsentiert.16 Überpersönliches Fundament des Ständestaates ist die französische Monarchie, die im Ornament der fleurs de lis Boden und Wand des Gesetzesraumes bildet. Der Amtsinhaber selbst erscheint nicht als Träger des Systems; durch seine geringe Größe und die farbliche Übereinstimmung von Kleidung und Hintergrund geht er ganz in der übergeordneten Heraldik des französischen Königtums auf. In seiner Kernaussage erscheint Fouquets Ereignisbild damit einem zeitlosen Wert verpflichtet. Tatsächlich liefert das lediglich in der Flächenbetrachtung erkennbare Motiv einer Ständepyramide den einzigen Textbezug des Bildes. Laurent de Premierfait hat die drei Stände und ihr jeweiliges Verhältnis zu Fortuna in seinem Prolog ausführlich beschrieben.17 Schon zu Beginn des Jahrhunderts, in den ersten Prachtabschriften der französi-

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36 Maître de la Cité de Dames (zugeschrieben): Frontispiz von Giovanni Boccaccios »Des cas des nobles hommes et femmes« in der Übersetzung Laurent de Premierfaits, um 1415, Miniatur, 4,3 × 3 cm, Paris, Bibliothèque nationale, Ms. fr. 131, fol. 1

schen Übersetzung von Boccaccios Exempla-Sammlung, hat dies zu einer weit verbreiteten Bebilderungstradition geführt. Das Eingangsbild zum Prolog des Übersetzers wurde in vier Kompartimente geteilt und die einzelnen Bildfelder mit einer klassischen Dedikation und Darstellungen der drei Gesellschaftsschichten besetzt (Abb. 36).18 Fouquet hat dieses noch recht emblematische Prinzip zur Grundlage der veristischen Schilderung eines aktuellen Ereignisses gemacht und das zu propagierende Gesellschaftsbild durch diese konkrete Anbindung fest in der Lebenswirklichkeit des zeitgenössischen Betrachters verankert. Dass Komposition und Dekorationskonzept in Monumentalität und symmetrischer Strenge hier Ausdruck einer Ordnung von allgemeinem Gültigkeitsanspruch sind, beweist zuletzt der Blick auf die lineare Bildstruktur: Durch die motivische Wahl der Raumecke konnte sich die Rautenform im Anschnitt an der Decke wiederholen. Ein unendlicher Rapport wird angedeutet und weist das dargestellte Prinzip als Teil eines größeren Ganzen aus. Mit diesem Kunstgriff behauptet der Maler, lediglich den Ausschnitt einer bereits bestehenden, übergeordneten Struktur aufzugreifen. Tatsächlich aber legt er durch das von ihm definierte, bildinterne Rautenmuster den Verlauf des endlosen Gitterwerkes erst fest. Seine Komposition ist nicht Ausschnitt sondern Initial jener zeitlosen, universellen Ordnung, die über die Bildgrenzen hinweg zu denken ist: Unter dem Deckmantel der Momentaufnahme wird hier ein Ewigkeitswert vorgetragen.19

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Der Prozess gegen Johann von Alençon erscheint somit lediglich als Exempel jener unumstößlichen königlichen Autorität, die Fouquet mit seiner Komposition als universales Herrschaftsprinzip behauptet. Dem Selbstverständnis des Auftraggebers der Handschrift dürfte ein solches Symbol der Wiederherstellung königlicher Souveränität durchaus entsprochen haben, gehörte er doch als Staatsbeamter zu jener Gesellschaftsschicht, die von dem kritischen Verhältnis zwischen König und Hochadel am meisten profitierte. Das Bild hatte jedoch sicher nicht allein der Selbstvergewisserung zu dienen, denn Prachthandschriften wie diese erfüllten auch repräsentative Zwecke. Schon die starken Abnutzungsspuren auf dem Frontispiz lassen vermuten, dass Laurens Girard das Bild bei passender Gelegenheit vorzuzeigen pflegte, um damit seine unbedingte Königstreue zu demonstrieren. Vielleicht hat er sich sogar bei Karl VII. selbst als loyaler Diener empfehlen wollen. Auch wenn die Miniatur damit in ihrer Ausdruckskraft gedeutet und in einen funktionalen Kontext eingebunden werden kann, bleibt der Ort ihres Erscheinens Gegenstand der Verwunderung, denn an geeigneten Texten, in denen die Darstellung eines solchen zeitgenössischen Ereignisses ihren logischen Platz gefunden hätte, hat es durchaus nicht gemangelt. Bereits 1437 hatte Karl VII. mit Jean Chartier das Amt des Hofhistoriographen besetzt. Auch am burgundischen Hof, wo der ärgste politische Widersacher des französischen Königs, Herzog Philipp der Gute, um die Mitte des Jahrhunderts die bedeutendste Bibliothek der Epoche aufbaute, wurde seit 1455 mit Georges Chastellain ein Hofchronist beschäftigt, der die Geschichte seiner Zeit aus burgundischer Perspektive niederschrieb. Der Schauprozess gegen Johann von Alençon hat in den Darstellungen beider Autoren ausführlich Erwähnung gefunden.20 Die frühesten Abschriften dieser Chroniken erhielten jedoch selten mehr als das obligatorische Widmungsbild zu Beginn des Buches. Dichter illustrierte Prachtexemplare finden sich, selten genug, erst in den Bibliotheken der nachfolgenden Generationen.

DIE SCHICKSALSGEBUNDENHEIT DER GEGENWART Ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bildwürdigkeit unmittelbaren Zeitgeschehens ist der französischen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts, jener Gattung also, in der sich die mittelalterlichen Bildvorstellungen am vielfältigsten und vor allem am vollständigsten erhalten haben, grundsätzlich nicht anzumerken. Der Mangel an zeitgenössischen Ereignisbildern steht in krassem Gegensatz zu der Flut an Historiendarstellungen, die in diesem Jahrhundert entstanden sind. In zahllosen Übersetzungen, Kompilationen und Neufassungen wurde die Geschichte von Dynastie und Territorialgebiet am Hofe des französischen Königs, aber auch im Umfeld der mächtigen Fürsten des Landes, allen voran in Burgund, in Romanen, Epen, Chroniken und Genealogien festgehalten. Die Abschriften dieser Texte gehören zu den am reichsten illustrierten Büchern der Epoche.

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Nun setzt die Hauptaufgabe, der die Darstellung historischen Geschehens in Text und Bild von Alters her zu dienen hatte, eine gewisse historische Distanz voraus. Die Vortellung, dass die Vergangenheit dem Menschen als Schule moralischen Verhaltens und dem Fürsten als Vorbild gerechter Herrschaft diene, hatte das gesamte Mittelalter überdauert. Lernen wollte man von den großen Akteuren alter Zeit. Die Einbindung der historischen Helden in die eigene Ahnenreihe, eine der Kernfunktionen geschichtlicher Darstellung, diente der Nobilitierung und Selbstvergewisserung, vor allem aber der Rechtfertigung eigener Herrschaftsansprüche. Ihre Geschichten waren in der Lebenswirklichkeit der Hofkultur fest verankert und wesentliches Instrument politischer Rhetorik. Auszüge aus Geschichtsbüchern konnten selbst vor Gericht noch bis ins 15. Jahrhundert hinein als Beweis dienen. In der Rhetorik von Ankläger und Verteidiger wurde der angeführte Präzedenzfall sogar aufgewertet, wenn er sich auf ein antikes Exemplum bezog. Zwischen literarischen Gattungen hat man bei der Suche nach geeigneten Belegen nicht geschieden. Giovani Boccaccios De casibus virorum illustrum eignete sich als Sammlung von Tugendbeispielen ebenso gut wie die Darstellung eines Chronisten.21 Die anfängliche Verwunderung über den scheinbar unangemessenen inhaltlichen Kontext des Bildes ist also zu relativieren: Der Text des italienischen Dichters und Humanisten wurde zur Zeit seiner höchsten Verbreitung in Frankreich nicht nur als Moraltraktat, sondern auch als Geschichtswerk, als glaubwürdige Quelle historischer Exempla betrachtet. Dies wird auch durch die Rezeptionsgeschichte des Buches bestätigt, denn die Originalfassung bedurfte erst einer historiographischen Überarbeitung, bevor sie in den französischen Bibliotheken erfolgreich Einzug halten konnte. Seinen größten Einfluss entfaltete der Text nicht in der lateinischen Urfassung von 1360, sondern in einer französischen Überarbeitung. Die erste, im Jahr 1400 angefertigte Fassung, in der sich der Übersetzer Laurent de Premierfait noch stark am Original orientierte, scheint – angesichts der Tatsache, dass nur sechs Abschriften erhalten sind – noch auf wenig Interesse gestoßen zu sein. Neun Jahre später hat der gleiche Gelehrte für den berühmtesten Bibliophilen seiner Zeit, Johann von Berry, eine zweite Übersetzung vorgenommen und den Umfang des Ausgangstextes dabei nahezu verdreifacht. Boccaccios kurze und auf ihre moraldidaktische Aussage konzentrierte Erzählungen von den Wechselfällen des Lebens berühmter Männer und Frauen sind nun durchsetzt von zahlreichen Erläuterungen zu Personen, Orten und historischen Begebenheiten. Erst als enzyklopädische Universalgeschichte menschlichen Hochmuts von Adam und Eva bis Johann II. dem Guten haben sich die Reflexionen des Autors in Frankreich erfolgreich verbreiten können.22 Nicht als politisches Geschehen an sich, sondern erst in der Fortschreibung der Geschichte menschlicher Hybris erhält der Prozess gegen Johann II. von Alençon mithin seine Bildwürdigkeit. Ganz ohne literarische Quelle und auch formal ohne jeden Textbezug tritt hier die Gegenwart als Beleg für die unabänderliche Schicksalsgebundenheit des Menschen ins Leben, um damit die Relevanz, ja, die unverzichtbare Lehrkraft und Autorität der Vergangenheit für die Gegenwart zu belegen. Karl VII. wird dabei gleichsam anti-

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podisch als Le Fortuné nach schicksalsgebeuteltem Anfang in die Reihe der großen Helden der Geschichte eingebunden.23 Den Spiegel ewiger Geltungsmacht göttlicher Gerechtigkeit verbindet Fouquet mit einem politischen Dogma, welches sich an den Hochadel der Zeit zu richten scheint und einen nicht minder absoluten Geltungsanspruch verfolgt: Die Autorität der französischen Monarchie ist nicht in Zweifel zu ziehen; Frankreich ist den Fängen Fortunas entgangen und endlich wieder in der Hand des Königs, des Repräsentanten der göttlichen Justiz auf Erden. Streng genommen kann auf Jean Fouquets Lit de Justice de Vendôme der Begriff des zeitgenössischen Ereignisbildes noch gar nicht vollständig angewendet werden, da alle Komponenten der Darstellung und auch das Geschehen selbst als reines Exemplum in den Dienst eines abstrakten Ausdrucksziels gestellt werden. Auch die moderne Geschichtsschreibung verzeichnet den dargestellten Prozess eher als Symptom einer übergeordneten Entwicklung. Fast scheint es, als ob erst der Ruhm der Miniatur dem Ereignis seinen Platz in der Geschichte zugesichert hätte, jedenfalls kommt hier der Malerei und nicht der Literatur die Würde jener ersten Beschreibung zu, die unsere Vorstellung des Geschehens bis heute prägt.

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EIN WUNDER GESCHIEHT GESCHICHTE UND IDEAL IN GENTILE BELLINIS »PROZESSION AM MARKUSTAG« Rebecca Müller

Gemessenen Schrittes zieht eine Prozession über den Markusplatz. Ein dichter Zug bewegt sich aus dem Dogenpalast, vorbei am Fuß des Campanile, überquert die Breite der Piazza und nimmt in engen Reihen Aufstellung vor den Rundbögen der Prokuratien (Abb. 37). Auf Höhe des Campanile ziehen der Doge und sein prächtig gekleidetes Gefolge die Aufmerksamkeit auf sich. Im Zentrum drängen sich Zuschauer hinter einer goldenen, baldachinüberhöhten Trage. Schaulustige sind über den Platz verstreut und säumen die Brüstungen der Fenster. Aus dem Gleichmaß der venezianischen Festtagsprozession, wie sie hier vor dem imposanten Architekturprospekt von San Marco auf über sieben Metern Leinwand ausgebreitet wird, ist einzig eine Begebenheit herausgehoben: Im Vordergrund gibt eine Lücke in der Reihe der Schreitenden den Blick frei auf einen barhäuptigen, knienden Mann. Ihn allein zeichnet ein bittender Gestus aus, den die weisende Hand des hinter ihm Stehenden unterstreicht (Abb. 38).1 »Gleichgültig zusammengestellte Figuren von einer gewissen puppenhaften Nettigkeit«, von Interesse allenfalls als »bunte Schilderung des mittelalterlichen Venedig«, so lautete das Urteil Jacob Burckhardts über Gentile Bellinis Prozession am Markustag.2 Der narrativen venezianischen Malerei um 1500 sprach der Autor des Cicerone den Charakter von Historienbildern rundweg ab, und dies ausdrücklich vor der Folie eines an der Florentiner Kunst orientierten Konzeptes von Historienmalerei: »Toscana allein bietet eine grosse, monumentale Geschichtsmalerei dar«, der die »sprechende Bewegung« und der »lebensvolle Moment« zu Eigen sind. Wie wenig sich die Gattungsdefinition Burckhardts mit der Begrifflichkeit der venezianischen Zeitgenossen deckte, erweisen die Quellen, in denen Gemälde, die wie Bellinis Prozession am Markustag die Bruderschaftsgebäude Venedigs schmückten, stets als

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37 Gentile Bellini: Prozession am Markustag, 1496, Öl auf Leinwand, 367 × 745 cm, Venedig, Gallerie dell’Accademia

istoria oder istorie bezeichnet werden. Aus Florentiner Perspektive, wie sie auch der frühe Burckhardt vertrat – später sollte er differenzierter zur Historienmalerei urteilen –, mangelt es Bellinis Gemälde nicht nur an einer Komposition, die sich aus dem Handeln der Figuren und ihrer dramatischen Einheit konstituiert.3 Es fehlt ihm gleichermaßen am Ausdruck körperlicher wie seelischer Bewegung, an Bildstrategien also, die entscheidend zur Lesbarkeit

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einer Handlung beitragen und den Betrachter unmittelbar affizieren. Nicht zuletzt aufgrund Bellinis ganz anders strukturierter Erzählweise wird der heutige Besucher der Accademia kaum ohne weiteres ein bestimmtes historisches Ereignis als Gegenstand des Bildes erkennen können, und er hat dies mit niemand geringerem als Giorgio Vasari gemein, der sich bekanntlich auch den Florentiner Blickwinkel zu eigen machte.

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38 Gentile Bellini: Prozession am Markustag (Ausschnitt), 1496, Öl auf Leinwand, 367 × 745 cm, Venedig, Gallerie dell’Accademia

Dem venezianischen Zeitgenossen hingegen dürfte das gezeigte Geschehen wohlbekannt gewesen sein. Die Prozession soll im Jahr 1443 stattgefunden haben, knapp zwei Generationen, bevor Bellini sie mit dem Pinsel festgehalten hatte. In der Figur des knienden Mannes wird Jacopo de’ Salis gezeigt, Kaufmann aus Brescia, den in Venedig die Nachricht einer lebensgefährlichen Verletzung seines kleinen Sohnes erreicht hatte. Am darauffolgenden Tag, dem 25. April, Festtag des heiligen Markus, betete de’ Salis für die Heilung seines Kindes zu der wundertätigen Kreuzreliquie der Bruderschaft des Evangelisten Johannes, die in der alljährlichen Prozession zu Ehren des Stadtpatrons mitgeführt wurde. Zurück in Brescia erfuhr de’ Salis, dass der Junge just einen Tag später unverhofft genesen war. Die Heilung des Kaufmannssohnes gehört zu den insgesamt wohl neun Episoden um die Kreuzreliquie, welche die Scuola Grande di San Giovanni Evangelista auswählte, als sie gegen 1493 einen Gemäldezyklus für ihren Albergo plante.4 Leicht über Kopfhöhe angebracht, füllten die Gemälde ringsum die Wände des Sitzungssaals. Hier bewahrte man auch eine Staurothek in Form eines kostbaren Vortragekreuzes auf. Seit der Großkanzler von Zypern der Bruderschaft eine Partikel des Wahren Kreuzes geschenkt hatte, mehrte die Reliquie das Ansehen der Institution durch »fast unzählbare Wunder«, zumal durch Heilungen.5 Deren jüngste hatte man erst 1480 verzeichnet. Die Wunder wurden nicht nur mündlich überliefert, sondern auch in einer gedruckten Mirakelsammlung veröffentlicht.6

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AUTHENTIFIZIERENDE BILDER Vergleicht man die Heilungsgeschichte mit Gentile Bellinis Bild, so zeigen sich Ereignis und Darstellung in bemerkenswerter Weise miteinander verschränkt. Es geschieht ein Wunder – aber der Maler erzählt es nicht. Bellini schildert nicht die dramatischen Höhepunkte dieses »Distanzmirakels«, etwa den Schädelbruch des Jungen oder das freudige Erstaunen bei seiner Heilung.7 Die Wahl fällt vielmehr auf einen Moment, der chronologisch vor jenem Ereignis liegt, das die Episode erst erinnerungswürdig werden ließ. Die Erwartung, dass nun auch dieses Ereignis vor Augen gestellt werde, enttäuscht der Zyklus. Aus der Geschichte um de’ Salis bleibt es bei jener einen Szene, die als prospektive Verheißung wie als retrospektive Erklärung nur auf das Mirakel verweist.8 Der Spannungsbogen ist ein zeitlicher und räumlicher zugleich: Der Ort der Heilung liegt jenseits der Bildgrenzen.9 Für den göttlichen Gnadenerweis ist der Betrachter an seine Imagination verwiesen. Im Gegensatz zur Prozession am Markustag geben die übrigen Gemälde des Zyklus die Höhepunkte der jeweiligen Episoden wieder: Die feierliche Übergabe der Reliquie, ihre Rettung durch Andrea Vendramin, den guardian grande der Bruderschaft, nachdem sie vom Ponte di San Lorenzo ins Wasser gestürzt war, und die Weigerung der immer schwerer werdenden Reliquie, das Begräbnis eines unfrommen Bruders in San Lio zu begleiten.10 Die übrigen Leinwände, allesamt Heilungsgeschichten, setzen Situationen der Bedrohung, die mirakulöse Heilung oder die Freude darüber ins Bild. Doch die Wahl des Handlungsmoments für die Prozession am Markustag überrascht nur auf den ersten Blick. Während bislang unklar war, wann die Mirakelberichte gedruckt wurden, kann ihre Datierung nun auf um 1481 präzisiert werden.11 Sie wurden damit bereits vor Beginn der Ausstattungskampagne schriftlich niedergelegt und müssen nicht wie bislang nur vergleichend, sondern als Quelle für die Gemälde berücksichtigt werden. Der dort enthaltene Bericht zur Heilung des Kaufmannssohnes umfasst nur wenige Sätze. Als einziger Wunderbericht nennt er mehrfach ein und denselben Schauplatz: Insgesamt dreimal wird die Piazza di San Marco erwähnt. Brescia bleibt als Handlungsort hingegen marginal. Der gemeinsame Ort der Prozession, der Präsentation der Reliquie und ihrer Verehrung durch de’ Salis wird so bereits im Text hervorgehoben. Damit war der Schauplatz der bildlichen Darstellung zumindest nahegelegt. Die Frage nach dem Verhältnis von Geschehen und Darstellung, nach der Handlung im Bild bleibt freilich virulent. Denn warum erhielt gerade dieses Wunder, das in den Mirakelberichten in keiner Weise unter den anderen hervorragt, ein derartiges Gewicht innerhalb des Zyklus? Bei der Prozession am Markustag handelte es sich um das vielleicht größte bis dahin in Venedig entstandene Leinwandbild, und auch der Umstand, dass sie als einzige Leinwand eine gesamte Wand des Raumes einnahm, erweist sie als Hauptbild des Zyklus. Bellinis Prozessionsbild teilt mit den anderen Wunderszenen und generell den venezianischen Zyklen der Zeit die Grundzüge der Erzählweise: Kleinteilig und jede Einzelheit

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gleichermaßen aufzeichnend ist die Schilderung mit einer ausführlichen Wiedergabe des venezianischen Stadtraums oder mit Konstruktionen einer idealen Stadtlandschaft nach dessen Vorbild verbunden.12 Patricia Fortini Brown charakterisierte diese auf die spätmittelalterliche Ausmalung des Dogenpalastes zurückgehende Tradition narrativer Malerei als »eyewitness style«.13 Sie erkannte darin das Bemühen, durch die Situierung in einem Umfeld, das dem zeitgenössischen Betrachter vertraut oder für ihn plausibel war, und die Einfügung zahlreicher »Augenzeugen« die Glaubwürdigkeit des Dargestellten als »wahr« zu unterstreichen. Der authentifizierende Charakter von Bildern wird auch aus zeitgenössischen Quellen erhellt: Die Familie Vendramin etwa sah das Wunder der Kreuzreliquie am Ponte di San Lorenzo und die hervorragende Rolle, die ihr Ahn dabei spielte, durch eine bildliche Darstellung der Episode bezeugt und sprach ihr damit eine dokumentarische Funktion zu. Venezianische Historiographen wie Martin da Canal und Marin Sanudo führten Bilder, schriftlichen Zeugnissen gleich, als Belege für die Wahrhaftigkeit ihrer Berichte an. Gemalte venezianische istorie konnten so, mit den Worten Browns, als »convincing testimony appearing true to past events« gelten.14 Wohl angeregt durch den Mirakelbericht wurde für die Prozession am Markustag der einzige Moment der Wundergeschichte ausgewählt, der sich in Venedig selbst und im Beisein der Bruderschaft zugetragen hatte. Die spezifisch bildlichen Strategien, die Gestaltung des Stadtraums und das Gewicht, das dem Zeremoniell als Rahmen des Ereignisses zukommt, aber auch die mehrfache Präsenz des Malers selbst in diesem Hauptbild des Zyklus führen auf Funktionen und Aussagen jenseits des Bezeugens eines Wunders und Beglaubigens einer Reliquie hin.15 Sowohl Burckhardts eingangs zitierte Kritik als auch der Umstand, dass Vasaris Lesung des gesamten Zyklus in die Irre geht, lenken das Augenmerk auf die rezeptionsästhetische Ebene. Das Abweichen von den Maximen eines Alberti macht dabei nur einen Aspekt aus. Es lässt sich zeigen, dass das geschilderte Ereignis nicht, wie behauptet wurde, formal oder inhaltlich zur Beiläufigkeit oder gar zum Vorwand gerät, sondern dass sich hier vielmehr ein Ereignisbild in spezifischer Weise konstituiert und dieser Vorgang kunstimmanent reflektiert wird.

DISPOSITIONEN DER WAHRHAFTIGKEIT Es ist vor allem die detailgenaue und weitgehend detailgetreue Präsentation der Markuskirche, die den Anschein einer wirklichkeitsnahen Darstellung der Piazza di San Marco erweckt. Der Bau breitet sich als goldschimmernde, kleinteilig gegliederte Schauwand aus. Die Basilika wird dem Betrachter in ihrer einzigartigen Gestalt mit den dichtgestellten Säulen, dem skulpturalen Schmuck, den Mosaiken und der filigranen Bauornamentik vor Augen gestellt. Spolien, denen die Erinnerung an historische Ereignisse anhaftet, meist kriegerische Triumphe der Serenissima, lassen sich ebenfalls ausmachen, so die bronzenen Pferde aus Konstantinopel. Die gleichermaßen detaillierte Wiedergabe der rechts an-

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schließenden Porta della Carta sowie des Dogenpalastes unterstreicht den Eindruck einer getreuen Schilderung. Tatsächlich lässt sich jedoch gut die spezifische Disposition der Gebäude nachvollziehen, mit deren Hilfe der Maler die Platzanlage zu einem eigenständigen Bildraum transformiert hat.16 Die mittig in der oberen Bildhälfte platzierte Kirche ist frontal gesehen und so angelegt, dass das Hauptportal mit der Mitte des Gemäldes korrespondiert und der Sockel bildparallel die horizontale Achse markiert. Der dem Betrachter in der frontalen Ansicht zugewiesene Blickwinkel stimmt mit keinem Standpunkt überein, den er auf der Piazza tatsächlich einnehmen könnte. Die Fahnenmasten vor der Kirche sind leicht zur Seite gerückt wiedergegeben, um das Hauptportal nicht zu verstellen. Die den Platz links begrenzenden Arkaden fluchten nicht von der Kirche weg, wie es ihrer wirklichen Lage entspräche, sondern auf sie zu und sind damit symmetrisch zu den gegenüberliegenden Fassaden angelegt. Die rechte Bauzeile mit dem Campanile ist im Bild zurückgesetzt, um den Blick auf den Dogenpalast freizugeben. Diese beiden flankierenden Fassadenreihen sind zudem in ihrer Tiefe gedrückt, wie aus stärkerer Distanz aufgenommen. Die unregelmäßig langgestreckt-trapezoide mittelalterliche Piazza wird so als großzügige und gleichmäßig rechteckige Anlage vorgestellt.17 Um der perspektivischen Verkleinerung entgegenzuwirken, sind Palast und Kirche leicht überproportional groß wiedergegeben. Aber nicht nur über die Tiefenerstreckung des Platzes bleiben wir im Unklaren. Da die seitlichen Fluchten nicht bis zum unteren Bildrand herangeführt werden, sondern auf halber Bildhöhe abgeschnitten sind, dehnt sich die Fläche unbestimmbar aus. Dieser Effekt wird weiter gesteigert durch einen hohen Augenpunkt: Die Fluchten treffen sich überwiegend im Türsturz des Hauptportals, die Piazza ist in Aufsicht gegeben. In diesen großrahmigen Bildraum ist der Prozessionszug gesetzt, streng eingepasst in die untere Hälfte der Bildfläche. Die monumentale Wirkung der vorn schreitenden Menschen ist dem Kunstgriff geschuldet, diese von der übrigen Prozession abzutrennen und das Betrachterauge im Unklaren über das proportionale Verhältnis zum Mittelgrund zu lassen.18 Nur durch die lockere, den Tiefenraum erschließende Streuung von Figuren vor der Kirche wird eine allzu statische Komposition vermieden, denn der Zug ist in seiner Formation eng auf die Markuskirche bezogen. Ihre Fluchten setzen die seitlichen Gruppen fort, und der horizontale Akzent der Fassade wiederholt die annähernd bildparallele Personenreihe im Vordergrund; eine Disposition, bei der die weißen Streifen in der Pflasterung, perspektivischen Hilfslinien gleich, die Prozession auf die Kirche beziehen. Drei Pflasterstreifen verbinden das Hauptportal mit der Personengruppe um den Baldachin und den knienden Kaufmann. Die Gruppe konstituiert in dieser Anordnung den spezifischen Moment der heilungsbringenden Reliquienverehrung. Die Handlung ist damit im Gefüge der Bildarchitektur verankert, Bildaufbau und Bildhandlung werden entgegen Albertis »antropomorphischem Kompositionsbegriff« nicht durch die Figuren, sondern durch die Architektur getragen.19 Indem sich die Stangen des Baldachins in die Bewegungsrichtung neigen und Baldachin samt Reliquie sich in die linke Bildhälfte hineinschieben, schreitet der

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39 Gentile Bellini: Prozession auf der Piazza San Marco, um 1495–1496, Feder, braune Tinte über roter Kreide, 13 × 19,6 cm, London, British Museum

Zug voran. Das Momentane des Ereignisses wird hier anschaulich: Einen Schritt später ist die Reliquie aus dem Blickfeld des Knienden verschwunden, der wunderbare Augenblick vorbei.20 Platzanlage und Prozession sind einer symmetrischen, auf Überschaubarkeit abzielenden Bildstruktur unterworfen. Diese Ordnung ist auch als soziale Kategorie zu begreifen: Während sich Pilger über die Menschenmassen bei den Prozessionen beklagten und im frühen 16. Jahrhundert Gesetze gegen Ausschreitungen bei derartigen Veranstaltungen erlassen wurden, blendet das Gemälde jedes Konfliktpotential aus.21 Bellini inszeniert das Ereignis der Prozession des 25. April 1443, indem er Raum und Proportion, Architektur und Mensch seiner ordnenden Hand unterwirft. Damit leistet er nicht die »Rekonstruktion einer Wirklichkeit«, sondern die Konstruktion eines Ideals.22 Eine in London aufbewahrte Kompositionsskizze wirft Licht auf den Prozess, der zu dieser Bildlösung führte (Abb. 39).23 Sie zeigt einen überfüllten Markusplatz mit vergleichsweise kleinen Figuren. Die Kirche, zerteilt durch den mittleren Fahnenmast, erhält noch nicht das ihr später zugemessene Gewicht. Das weniger ausgeprägte Querformat, vor allem aber die Aufnahme in stärkerer Aufsicht und die fast bis an den unteren Bildrand herangeführten Architekturen lassen die Piazza mehr als Kastenraum denn als begehbare Fläche erscheinen. Der Betrachterblick bleibt statisch, da die Kirche nicht wie im Gemälde ange-

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schnitten gezeigt ist. Die Person des de’ Salis ist nicht auszumachen, die Reihe der schreitenden Figuren hat sich noch nicht geöffnet.

BILD UND BETRACHTER Bellinis Gemälde bestimmt in mehrfacher Weise das Verhältnis von Bild und Betrachter. Nahe dem Besucher des Bruderschaftsgebäudes, in gut halber Lebensgröße und durch aufgenähte rote Kreuze ausgezeichnet, schreiten die Brüder der Johannesbruderschaft selbst. Erst hinter dieser Reihe stehen die Zuschauer, ihrer Kleidung nach Patrizier und cittadini.24 Die anderen Scuole sind in der kleinfigurigen Formation im Mittelgrund links zu suchen, und auch der Doge erscheint rechterhand in marginaler Position. Das Geschehen steht damit – und dies überrascht nicht – ganz unter der Prämisse einer maßgeblichen Rolle der Auftraggeber. Parallel zur Präsentation der Reliquie der Johannesbruderschaft wird im Bild die Überführung einer anderen Reliquie vorgetragen, jener des Körpers des heiligen Markus.25 Diese Translatio aus Alexandria war in den Portallünetten von San Marco in einem Mosaik dargestellt (Abb. 40). Der als furtum sacrum begriffene Raub der Apostelreliquien durch die Venezianer bildete das Paradigma venezianischer Reliquienfrömmigkeit und die Grundfeste im Selbstverständnis der Serenissima als durch göttliche Fügung auserwähltes Staatswesen.26 Der Modus des kleinteiligen Schilderns erlaubt es Bellini, einen Bezug zwischen diesem Heiligenkörper und der Kreuzreliquie herzustellen. Damit unterstreicht das Gemälde deren Bedeutung und gibt zugleich ein Muster für ihre Verehrung vor. Die Analogie der Bilderzählung scheint mir vor allem auf eines abzuzielen: Das Bild im Bild ruft das zentrale, den Erwähltheitsanspruch legitimierende Ereignis auf und aktualisiert seine Bedeutung für das zeitgenössische Geschehen.27 Die pietas der Ahnen ist Vorbild für die Zeitgenossen, und besonders die Scuola Grande di San Giovanni Evangelista selbst stellt sich in deren Nachfolge. Auf der Piazza sind auswärtige Besucher aufgeführt, so eine Gruppe von Griechen, einige Deutsche und Orientalen. In ihnen konnten sich jene »ambassadorj« und »persone forestiere« wiedererkennen, die ausdrücklich als Besucher der Scuola genannt werden.28 Während sich die Brüder als aktive Teilnehmer, ja, mit besonderer Bedeutung im Rahmen der Wunderheilung wahrnehmen, erblicken sich andere Besucher der Scuola ebenfalls in der ihnen bei dem Zeremoniell zugewiesenen Rolle, eben als Zuschauer. Die wenigen ärmlich gekleideten Personen vor den Kirchenportalen haben an der Prozession keinen Anteil. Sie sind Projektionsfläche für die caritas der Bruderschaften. Wie bei anderen Bruderschaftsbildern dürften auch in die Prozession am Markustag zahlreiche Porträts von Mitgliedern der scuola und weiteren Persönlichkeiten, die die Ausstattung finanziell unterstützt haben, Eingang in das Bild gefunden haben. So war eine nicht geringe Anzahl von Betrachtern dort selbst präsent und auch wiederzuerkennen. Dies

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40 Gentile Bellini: Prozession am Markustag (Ausschnitt), 1496, Öl auf Leinwand, 367 × 745 cm, Venedig, Gallerie dell’Accademia

gilt auch für den Maler selbst, dessen Porträt im Vordergrund links vermutet wird.29 Dass das Ereignis zu einem Zeitpunkt stattgefunden hatte, als einige der Porträtierten noch gar nicht geboren waren, irritierte offenbar ebenso wenig wie die anachronistisch zeitgenössische Kleidung. Beides dürfte die Aktualität des Ereignisses und die fortdauernde Mirakelkraft der Reliquie unterstrichen haben.30 Auf eine weitere Ebene führt die Frage nach der Interaktion von Bild und Betrachter als bildreflexives Moment, nach den Rezeptionsvorgaben im Bild. Da das Gemälde eine Zuschauermenge nur auf einer Seite der Schautrage zeigt, wird der Betrachter zu einer in der Bildstruktur selbst angelegten Ergänzung: Zuschauer im Bild und Betrachter vor dem Bild stehen einander gegenüber und flankieren auf diese Weise die Prozession.31 Auch das Ereignis selbst ist ausdrücklich auf den Betrachter ausgerichtet. Für ihn öffnen sich die Reihen der confratelli, um den Blick auf den Hauptakteur freizugeben; er ist Adressat der einmaligen und sinnstiftenden Konstellation von Reliquie und devotionalem Akt unter den Auspizien des Stadtpatrons. Die Differenz zwischen Bildraum und Betrachterraum wird durch den Künstler reflektiert, wenn er in einer zweiten, sich zwischen den Schrei-

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tenden auftuenden Lücke, jener direkt unter der Reliquie, einen cartellino mit seiner Signatur platziert. Dieser ist als trompe l’œil inszeniert, indem er wie mit einem Wachstropfen auf die Oberfläche des Gemäldes angeheftet scheint.32 Als Scharnier zwischen Bildrealität und Betrachterrealität lässt das Zettelchen den Bildcharakter des Gemäldes manifest werden; eine gerade in Venedig übliche Bildstrategie, die hier auch durch den Wortlaut der Signatur besonders akzentuiert wird. Bellini verwendet hier nicht nur stolz seinen Titel eines eques sondern nimmt, indem er sich als »in der Liebe zum Kreuz entflammt« bezeichnet, auf den Bildinhalt Bezug.33 Der Maler folgt in seiner Devotion dem Vorbild de’ Salis’, überliefert sie aber der Nachwelt nicht nur durch sein Selbstbildnis in den Reihen der Zuschauer, das zuvorderst seine Rolle als ehrwürdiger cittadino manifestiert, sondern an dieser zentralen Stelle durch die – illusionistisch gemalte – Schrift. Es entspricht der Logik des Bildraums, dass das Kreuzreliquiar auf den knienden de’ Salis und nicht zum Betrachter hin ausgerichtet ist. Inner- und außerbildliches Sehen sind verschränkt. Wir sehen, wie de’ Salis in Verehrung auf ein Reliquiar blickt, von dem wir wissen, aber nicht sehen, dass es sich in Form und Inhalt um das Kreuz handelt, und dass die über Blick und Gestik vermittelte Devotion die ersehnte Rettung erwirkt hat. Gleichzeitig wird die in der Überfülle der Details im Betrachter geweckte Erwartung, alles genau zu erschauen, in einem zentralen Punkt unterlaufen: eine »visual lacuna«, wie Rodini formuliert.34 Bellini dürfte damit die räumliche Disposition berücksichtigt haben: Anstelle eines Devotionsmomentes, der den Gläubigen durch den Anblick des gemalten Kreuzes direkt anspricht, ist dieser Moment im Bild zum Anblick der vorbildlichen devotionalen Haltung sublimiert, die gegenüber der im gleichen Raum real präsenten Reliquie eingenommen werden soll. Damit wird die Forderung Albertis konterkarriert, die historia solle beim Betrachter eben jene Emotionen wecken, die auch die in ihr Wiedergegebenen zeigen. Weder lassen sich bei de’ Salis Affekte ablesen, noch wird das verehrte Objekt »ansprechend« präsentiert. Die imitatio der devotionalen Handlung verlagert sich vom Bild weg vor das Objekt selbst.

WEGE DES SEHENS Gentile Bellinis Prozession am Markustag verbindet eine rasch überschaubare und in großem Format realisierte Komposition mit einer überaus kleinteiligen Binnenstruktur. Seh- und Wahrnehmungsprozess sind damit in besonderem Maß von der Relation zwischen Teil und Ganzem geprägt, sind also, um mit Gottfried Boehm zu sprechen, von der Fähigkeit des Auges abhängig, den »Weg zwischen Einzelnem und Ganzem zu suchen und ihn auf produktive Weise zu gehen«.35 Die Kleinteiligkeit der Dekoration von San Marco, die erinnerungsmächtigen Trophäen, die Porträts, aber auch weniger erhabene Details wie die auf dem Altan trocknende Wäsche verführen zu nahsichtigem Betrachten, zum Suchen und Wiedererkennen. Die schiere Größe der Markuskirche und der lange Prozessionszug hingegen veranlassen zum Zurücktreten, zu dem Versuch, das Ganze in den Blick zu

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nehmen. Diese der Bildstruktur inhärente Zeitlichkeit provoziert eine oszillierende Wahrnehmung, wie sie sich im Übrigen auch vor der monumentalen und zugleich wie kein anderer Bau von zahllosen Einzelstücken überzogenen Kirche selbst einstellt.36 Sie ist in einem Großteil der narrativen venezianischen Malerei angelegt, scheint mir aber besonders in der Prozession am Markustag in der Steigerung des Gegensatzes von Nähe und Ferne, Detail und Ganzem essentiell für die Rhetorik des Bildes zu sein. Auch die Beschreibung des Zyklus durch Giorgio Vasari erhellt, wie sehr dieser Aspekt das Verhältnis von Darstellung und Ereignis mitbestimmt. Gentile Bellini habe, so die Vita über die Malerfamilie der Bellini von 1568, in dem Zyklus »das Wunder des Kreuzes Christi« dargestellt: »Mit diesem Wunder verhält es sich wie folgt: Als besagtes Kreuz […] vom Ponte della Paglia in den Kanal gestürzt war, sprangen viele aus Verehrung zu dem sich darin befindenden Stück Holz vom Kreuze Christi ins Wasser, um es herauszuholen. Doch der Wille Gottes befand keinen anderen außer den Vorsteher dieser Bruderschaft für würdig, es zu bergen. Gentile zeigte bei seiner Darstellung dieser Szene viele Häuser entlang des Canal Grande in perspektivischer Verkürzung, den Ponte della Paglia, den Markusplatz, und eine lange Prozession von Männern und Frauen, die hinter dem Klerus laufen. […] Schließlich ist dort mit vielen schönen Erwägungen der Moment der Wiederaufstellung des Kreuzes dargestellt.« 37 Dass der Aretiner sich an dieser Stelle als wenig bewandert in der venezianischen Topographie erweist, kann hier außer Acht bleiben. Interessant ist hingegen die undifferenzierte Zusammenschau ganz unterschiedlicher Schauplätze. Denn offenbar waren es vor allem die an der mittelitalienischen Kunst ausgebildeten Sehgewohnheiten, die einem Verständnis der Geschichten entgegenstanden, ähnlich wie es Alessandro Nova für Vasaris Wahrnehmung der Fassadenmalerei Giorgiones am Fondaco dei Tedeschi in Venedig zeigen konnte.38 Die Darbietung der im Raum »atorno atorno« umlaufenden Geschichten überforderte Vasari offenbar.39 Er sah in den Leinwänden nicht die einzelnen Episoden voneinander unabhängiger Wunder, sondern eine auf mehrere Bilder aufgeteilte Erzählung, eben die Errettung der Reliquie aus dem Kanal und ihre erneute Aufrichtung. Sein Blick fokussierte nicht auf die einzelnen Ereignisse – die sich für ihn als solche nicht zu erkennen gaben –, erfasste aber auch die Gesamtheit der in sich abgeschlossenen Bildkompositionen nicht. Er bemerkt »viele, die ins Wasser gesprungen sind, andere, die gerade springen wollen, viele, die zur Hälfte im Wasser sind und andere mehr, die auf verschiedene Weisen und in wunderschönen Haltungen gezeigt sind«.40 Hier klingt der Wunsch Albertis nach, der Maler einer historia möge dem Betrachter mit – freilich einzugrenzender – Fülle und mit Mannigfaltigkeit in den Stellungen und Bewegungen Genuss bereiten. Diese Forderung ist innerhalb der Bilderfolge tatsächlich am ehesten in Bellinis Wunder am Ponte di San Lorenzo (Venedig, Gallerie dell’Accademia) erfüllt, das eine leicht verständliche Handlung in den Mittelpunkt stellt, die bereits im Bild die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Wohl deshalb nimmt Vasari innerhalb der Bilderfolge diese Gemälde als Darstellung des eigentlichen Ereignisses wahr. Bei der Prozession am Markustag stellt die

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varietas von Haltungen und Handlungen aber keine Kategorie dar, die das Verständnis erleichtern könnte. Vasaris Beschreibung des Zyklus ist damit das Zeugnis eines rezeptionsästhetischen Prozesses: Der Fehldeutung jener Erzählstrukturen, die für die venezianische narrative Malerei spezifisch sind.

IDEAL EINER GESELLSCHAFT Die Bruderschaften erfüllten in der venezianischen Gesellschaft eine essentielle Funktion, indem sie den cittadini ermöglichten, ihren Status zu demonstrieren und soziale Teilhabe zu verwirklichen. Beträchtlicher Aufwand galt dabei der künstlerischen Repräsentation der konkurrierenden Einrichtungen.41 Brown hat dargelegt, wie die Konkurrenzsituation – die sich beispielsweise in Streitigkeiten um die Reihenfolge bei den Prozessionen niederschlug – zugunsten eines sozial harmonischen Erscheinungsbildes der Serenissima als Ganzes ausbalanciert wurde.42 Dieses Bestreben wird gerade in der Prozession am Markustag anschaulich: Die Reliquie der auftraggebenden Bruderschaft steht im Vordergrund, der Reliquienbaldachin zeigt aber die Symbole aller vier scuole grandi.43 Dennoch ist der Zyklus als Ganzes dem kompetitiven Gefüge geschuldet. Als die Scuola Grande della Carità 1472 mit der Staurothek des Kardinals Bessarione eine überaus wirkmächtige Kreuzreliquie erhalten hatte, entging dies der Johannesbruderschaft nicht. Nur einen Monat nach der festlich inszenierten Schenkung ersuchten sie darum, die eigene Kreuzreliquie in einer zusätzlichen Prozession mitführen zu dürfen.44 Das Bestreben, die herausragende Wunderwirkung der eigenen Kreuzpartikel zu propagieren, führte wohl auch zu der spezifischen Themenwahl für den Gemäldezyklus: Die anderen scuole schmückten sich mit biblischen Darstellungen oder der Vita ihres Patrons, kein anderer bekannter Zyklus thematisiert unmittelbar den Reliquienbesitz. Auch die Publikation der Mirakelberichte im Buchdruck blieb unter den Bruderschaften eine Ausnahme. Dieser Strategie war Erfolg beschieden: Unter den fünf Kreuzreliquien, die Sanudo zufolge Venedig als »degne reliquie« zierten, rühmt er nur jene der Johannesbruderschaft als »miracolosa« und zählt sie sogar unter den »cosse notabile« auf.45 Wie kein anderes Werk der venezianischen Malerei wird der Heiligkreuz-Zyklus und insbesondere Gentile Bellinis Prozession am Markustag mit ihrem auch dem flüchtigsten Venedigbesucher bekannten Architekturprospekt herangezogen, um die soziale Übereinkunft und die Bedeutung des Rituals anschaulich zu machen, oder schlicht um die Atmosphäre des spätmittelalterlichen Venedig zu evozieren. Die Bilder werden als visuelles Konzentrat ihrer Zeit verstanden, wie es eindringlich Otto Pächt formuliert hat: »Wäre von der Lagunenstadt nichts als diese Gemälde erhalten geblieben, so könnte man sich von der in sich geschlossenen Welt Venedigs, von der Stadt, die nirgends ihresgleichen hat, mitsamt ihrem Leben – nicht bloß von Teilen ihrer baulichen Gestalt – eine anschauliche Vorstellung machen.«46 Heute wird man gegenüber Pächt gerade den nicht-abbildhaften

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Charakter von Bellinis Gemälde als Bild einer Prozession betonen.47 Das städtische Ritual vollzog sich eben nicht als unmittelbarer Reflex gesellschaftlicher Stukturen, sondern als ihre bewusst gestaltete, interessengeleitete Deutung; die bildliche Darstellung des Rituals erscheint als deren Interpretation mit den ihr eigenen visuellen Strategien, Topoi und spezifischen Modi der Rezeption. Über diese doppelte Brechung lassen sich einige Aspekte der Welt Venedigs aber durchaus erfassen. Das gezeigte Geschehen stellt die Devotion eines Einzelnen und die Wirkmacht einer Reliquie vor Augen; die Weise, in der es inszeniert wird, veranschaulicht die Devotion bestimmter Personen, einer spezifischen Gemeinschaft, weiter einer gesellschaftlichen Gruppe und schließlich der Serenissima, deren Reichtum an Reliquien sie als Gemeinwesen unter besonderem göttlichen Schutz erweist und legitimiert. Das Geschehen, als historisches Ereignis aufgefasst und in den Rahmen des venezianischen Festwesens gesetzt, wird zum Kern eines gesellschaftlichen Idealbildes.

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EREIGNIS UND VEDUTE DIE »HINRICHTUNG SAVONAROLAS AUF DER PIAZZA DELLA SIGNORIA« ZWISCHEN STADTANSICHT UND VOTIVBILD Matthias Krüger

Am 23. Mai 1498 war die Piazza della Signoria in Florenz Schauplatz der Hinrichtung Girolamo Savonarols. Zusammen mit seinen zwei Glaubensbrüdern Domenico da Pescia und Silvestro Maruffi wurde der vom Papst zum Häretiker erklärte Dominikanermönch vor den Augen der Florentiner Öffentlichkeit erst erhängt und dann verbrannt. Da das Ereignis vor einer großen Menschenmenge stattfand, sind zahlreiche Augenzeugenberichte überliefert. Doch wurde die Hinrichtung wahrscheinlich noch im selben Jahr auch Gegenstand eines Gemäldes, das in der Folgezeit oft kopiert wurde. Von den dreizehn noch heute nachweisbaren Fassungen befindet sich die wohl älteste im Museo San Marco, also im säkularisierten Gebäude jenes Klosters, in welches Savonarola 1490 eintrat, in dem er 1491 Prior wurde und bis zu seiner Festnahme in der Nacht zum 9. April 1498 lebte (Abb. 41). Ob diese Version des Bildes allerdings auch die erste Fassung des Gemäldes oder nur eine Kopie nach dieser – dann als verloren zu denkenden – Version darstellt, lässt sich heute nicht mehr klären. Das Museo San Marco bewahrt noch eine zweite indes deutlich kleinere und auf einen Ausschnitt reduzierte Fassung; in Florenz finden sich darüber hinaus je eine weitere in der Galleria Corsini sowie im Museo Firenze com’era. Außerhalb von Florenz gibt es Kopien des Gemäldes in Prato, Perugia, Ferrara, Mailand und London. Ferner sind noch eine Reihe anderer Fassungen für das 19. Jahrhundert belegt, die aber heute verschollen sind. Und schließlich illustriert das Bild als Miniatur auch ein im Florentiner Staatsarchiv verwahrtes Manuskript.1 Savonarolas Hinrichtung war Folge eines Zwistes mit dem Papst. Der Dominikanermönch hatte in seinen Predigten die Kirche wiederholt scharf angegriffen. Die moralische Verkommenheit, die er an ihr wahrnahm, interpretierte er als sicheres Indiz für das sich

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41 Unbekannter Maler: Hinrichtung Savonarolas, wohl 1498, Tempera auf Holz, 101 × 117 cm, Florenz, Museo di San Marco

nahende Weltgericht. Seit 1494 fand er mit dieser Botschaft Gehör bei großen Teilen der Florentiner Bevölkerung. Dabei kam ihm eine Krisensituation zu Hilfe, denn im Oktober des Jahres schien Florenz akut von den heranrückenden Truppen des französischen Königs Karl VIII. bedroht. Savonarola erkannte im französischen Heer die von ihm zuvor mehrfach angekündigte Geißel Gottes, mit der dieser Italien und insbesondere die Kirche ihrer Sünden wegen bestrafen wolle. Als die französischen Truppen Kurs auf Florenz nahmen, kam es in der angespannten Situation zum Sturz des Medici-Regimes. Doch indem die Signoria schließlich den Forderungen Karls VIII. nachgab und seinen Truppen in der Stadt Quartier gewährte, ließ sich eine militärische Eskalation im letzten Moment noch verhindern. Dass die Bedrohung ohne Blutvergießen hatte abgewendet werden können, deutete Savonarola als Zeichnen dafür, dass Florenz der Gnade Gottes teilhaftig geworden sei. Ja, er erklärte die Stadt sogar zum Teil eines göttlichen Heilsplanes. Als »neues Jerusalem«, ließ er verlautbaren, sei sie dazu auserkoren, Ausgangspunkt der moralischen Erneuerung der

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Welt zu werden. Da er der Aufforderung Papst Alexanders VI., nach Rom zu kommen, und dem ihm auferlegten Predigtverbot nicht nachkam, sondern an seiner Kritik an der Kurie und der Verkündigung des baldigen Weltendes festhielt, wurde er schließlich im Mai 1497 exkommuniziert. Von da an spitzte sich der Konflikt zu. Savonarola, der immer unverhohlener gegen die Kirche wetterte, war zunehmend umstritten. Der Stadt drohte der Kirchenbann, und in der Nacht zum 9. April wurde Savonarola schließlich festgenommen und gestand in den sich anschließenden Prozessen unter Folter angeblich die Falschheit seiner Prophezeiungen. Der Häresie und schismatischer Umtriebe für schuldig erklärt, wurde er schließlich zum Tode verurteilt.2 Dasselbe Verdikt erging auch an Fra Domenico da Pescia und Fra Silvestro Maruffi, zwei der engsten Mitstreiter Savonarolas. Beide hatten zu einem Zeitpunkt, als Savonarola bereits unter Predigtverbot stand, an seiner Stelle die Kanzel bestiegen, um von ihr herab seine Botschaft zu verkünden. Domenico hatte zudem die von Savonarola ins Leben gerufene gefürchtete Kinderpolizei geleitet. Dieser Trupp jugendlicher Sittenwächter war unter anderem für die »Verbrennung der Eitelkeiten« verantwortlich, die auf der Piazza della Signoria am 7. Februar 1497 sowie am 28. Februar 1498 stattgefunden hatten. Für beide dieser bruciamenti waren siebengeschossige pyramidale Holzgerüste errichtet worden, auf denen Luxusgüter verbrannt wurden, die im Auftrag Savonarolas von eben jener Kinderpolizei in Haus- und Straßensammlungen zusammengetragen worden waren. Die auf den Gerüsten versammelten Gegenstände umfassten alles, was der Dominikanermönch als Objekte der Eitelkeit eingestuft hatte: Karnevalskostüme, Toilettenutensilien, Musikinstrumente, Glücksspiele sowie als frivol erachtete Schriften, Statuen und Bilder.3

DIE HINRICHTUNG ALS SPEKTAKEL Die in San Marco verwahrte Fassung des Gemäldes zeigt die Hinrichtung der drei Mönche von einem erhöhten Betrachterstandpunkt. Von ihm aus lässt sich das Geschehen auf der Piazza gut verfolgen, doch zugleich kann der Blick über die Dächer des sich östlich an die Piazza anschließenden Teils der Stadt schweifen und weiter in die dahinterliegende Landschaft, wo man in der Ferne den Arno und auf einer Anhöhe rechts die Kirche San Minato al Monte sieht. Dieses Blickfeld bildet die Kulisse, vor der die Verbrennung stattfindet. Über der Szenerie schweben zwei Engel, die über den Himmel eine Banderole entfaltet haben und auf das Ereignis zeigen, dass auf der Piazza abläuft. Im Gemälde sind verschieden Phasen des mehrere Stunden währenden Spektakels so eingetragen, dass sich anhand von ihnen sein Hergang gut nachvollziehen lässt.4 Zunächst wurden die Mönche von drei Tribunalen erwartet, die auf der ringhiera des Palazzo della Signoria, dem heutigen Palazzo Vecchio, errichtet waren. Der zinnengekrönte und mit einem Turm ausgestattete Palast erhebt sich rechts im Bild. Dass er der Sitz der Signoria war, der Florentiner Regierung, wird nicht nur an seinem wehrhaften Aussehen kenntlich.

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Vielmehr ist es auch das dunkle, nahezu schwarze Grau, in welchem die Rustikafassade wiedergegeben ist, das dem Gebäude im Bild einen ominösen Anstrich verleiht. Längs der Fassade zieht sich die ringhiera hin, ein mit einer Brüstung versehenes Podium, das der Signoria, der Stadtregierung, aber auch anderen städtischen Magistraten als Tribüne für öffentliche Auftritte diente. Hier wurde die alle zwei Monate wechselnde Signoria auf ihr Amt eingeschworen, hier hatten die Condottieri, die Florenz zu seiner Landesverteidigung in den Dienst nahm, ihren Treueid abzuleisten, hier wurden auswärtige Fürsten, die Florenz einen Besuch abstatteten, feierlich begrüßt. In Zeiten der Not wurde auf dieser Bühne auch das Gnadenbild der Madonna von Impruneta ausgestellt, einem Ort im Umland von Florenz. Zu diesem Anlass wurden auf der ringhiera mitunter mehrere Stockwerke umfassende, mit Fahnen, Bannern und Reliquien geschmückte Aufbauten errichtet, die sie in einen riesigen Freilichtschrein verwandelten.5 Auch anlässlich der Hinrichtung Savonarolas und seiner beiden Mitstreiter wurde die ringhiera mit einem Aufbau versehen. Vermutlich um der dem Ereignis beiwohnenden Menge eine bessere Sicht zu verschaffen, war auf ihr eine hölzerne Plattform installiert worden, die an der nordwestlichen Ecke des Palastes in den Laufsteg mündete, welcher zu der in der Mitte der Piazza errichteten Richtstatt führte. Das erste Tribunal erwartete die drei Mönche am Anfang der ringhiera, noch in unmittelbarer Nähe zum Palastportal. Hier fand ihre Degradierung statt, die von Benedetto Paganotti, dem Bischof von Vasona, geleitet wurde, dessen rot gewandete Figur im Bild gut zu erkennen ist. Das an diesem Ort vollzogene Ritual wird hingegen nicht gezeigt: Zunächst legte man den drei Mönchen die Dominikanertracht an, um sie sodann bei ihrer symbolischen Degradierung wieder zu entkleiden. Zugleich wurden ihnen die Haare geschoren, um die Tonsuren, welche die drei Mönche als Kleriker auswiesen, unkenntlich zu machen. Zudem wurden ihre Hände mit Messer und Schere abgeschabt, wodurch die während der Priesterweihe vollzogene Salbung rückgängig gemacht werden sollte. Dass diese Erniedrigungen nur wenige Schritte entfernt von Donatellos Statuengruppe Judith und Holofernes durchgeführt wurde – im Bild erkennt man die golden schimmernde Heldin des Alten Testaments mit dem Schwert zum entscheidenden Schlag gegen den zu ihren Füßen kauernden Holofernes ausholen –, mag als Zufall erachtet werden (Abb. 42). Bedenkt man jedoch, dass die Statue nicht nur ein Ereignis aus der Geschichte des israelitischen Volks, sondern zugleich auf einer metaphorischen Ebene den Sieg der Tugend über das Laster, der Demut über die Hochmut zur Anschauung bringt, scheint der Ort für die offiziell an den Mönchen vollzogene Demütigung nicht ohne Hintersinn gewählt.6 Das zweite die Mönche erwartende Tribunal fand auf mittlerer Höhe der ringhiera statt, wo sich weitere Vertreter der Kirche zusammengefunden hatten, unter ihnen der General des Dominikanerordens Gioachino Torriani sowie der päpstliche Gesandte Francisco Remolins. Dieser hatte im Anschluss an die Degradierung das Urteil Papst Alexanders VI. zu verlesen, in dem dieser die drei Mönche der Häresie und schismatischer Umtriebe für schuldig befand. Sodann bot Remolins ihnen ebenfalls im Namen des Papstes die volle

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42 Donatello: Judith und Holofernes, um 1453–1457, Bronze, Höhe 236 cm, Florenz, Palazzo Vecchio

Absolution an; ein Gnadenakt, der den als Häretiker verurteilten Männern die Möglichkeit einräumte, sich in den Zustand ursprünglicher Unschuld zurückversetzen zu lassen, so dass ihnen die Strafe des Fegefeuers erspart bliebe. Alle drei nahmen das Angebot an: Im Gemälde sieht man die drei Mönche vor dem in der Mitte der ringhiera errichteten Altar knien, womit ihrer Reue visueller Ausdruck verliehen wurde. Erst jetzt – bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Zeremonie bereits zwei volle Stunden in Anspruch genommen – wurden die degradierten Mönche von Remolins den otto della Giustizia übergeben, den »Acht Vertretern der Justiz«, der für die weltliche Gerichtsbarkeit zuständigen Instanz innerhalb der Florentiner Republik. Diese saßen am linken Ende der ringhiera, dort wo auch der

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Marzocco stand, die steinerne Figur eines Löwen, der als Wappentier der Republik diente.7 Auch dieser Ort war von hoher symbolischer und zeremonieller Bedeutung, wurden hier doch die acht Mitglieder der Signoria auf ihr Amt eingeschworen; ein Anlass, der auch die feierliche Krönung des Marzocco einschloss. Am Tag der Hinrichtung Savonarolas führte von hier aus gleichsam als Verlängerung jener Plattform, die man auf der ringhiera installiert hatte, ein hölzerner Laufsteg in die Mitte des Platzes, wo sie in einem runden Podest ihren Abschluss fand, auf welchem man die Richtstatt konstruiert hatte. Auf dem Bild ist gut zu erkennen, wie die drei zum Tode verurteilten Männer von vermummten Henkern über diesen Steg geführt werden. Bevor sie den eigentlichen Schauplatz der Hinrichtung erreichten, knieten sie noch einmal in Richtung des Palastes nieder; ein Moment, der auch auf dem Gemälde festgehalten wurde. In der Mitte des besagten Podests war ein langer Mast errichtet worden, an dessen oberem Ende ein kurzer Querbalken angebracht war. An diesem Balken waren an Ketten die eisernen Halsbänder befestigt, an denen die drei Mönche erhängt wurden. Stricke konnte man nicht verwenden, da diese dem Feuer der anschließenden Verbrennung nicht standgehalten hätten. Im Bild ist auch die Leiter zu sehen, welche die Todeskandidaten zu erklettern hatten und von welcher sie von ihren Henkern herabgestoßen wurden. Erst nachdem sicher war, dass alle drei bereits ihr Leben ausgehaucht hatten, wurde der unter dem runden Podest gelagerte Zunder in Brand gesetzt. Im Bild ist der Scheiterhaufen bereits entzündet, auch wenn die Zungen der Flammen die Körper der Toten noch nicht erreicht zu haben scheinen. Zu diesem Zeitpunkt war freilich der hölzerne Steg, der die Richtstätte und den Palazzo verband, längst eingerissen, um zu verhindern, dass das Feuer auf den Palast übergreife. Augenzeugenberichten zufolge, kam es während der Verbrennung zu Ausschreitungen. Erst nach einer Stunde entschloss man sich, das Feuer nicht weiter in Gang zu halten. Um einem Reliquienkult vorzubeugen, wurde die Asche mit einer Eskorte zum Arno gekarrt und vom Ponte Vecchio aus verstreut. Für den Fluss verhängte die Signoria darüber hinaus ein einwöchiges Angelverbot. Doch das gehört schon zur Nachgeschichte der Hinrichtung, die im vorliegenden Bild hingegen nicht mehr erzählt wird.

BILDSTRATEGIEN EINES ZEITGENOSSEN Obgleich das Gemälde bis in viele Details mit den überlieferten Augenzeugenberichten übereinstimmt, bleibt so mancher Aspekt des Geschehens unausgesprochen. Zwar sind mehrere Phasen des Ereignisses wiedergegeben, doch die tatsächliche Dauer des Spektakels lässt sich dem Bild beispielsweise kaum ablesen. Die größte Unstimmigkeit zwischen dem, was das Bild zeigt, und dem, was die Augenzeugenberichte überliefern, besteht jedoch in Bezug auf das Publikum, das der Hinrichtung beiwohnt. Wird im Gemälde die Piazza von einem Gewimmel kleiner Figuren belebt, so vermag es jedoch den Eindruck einer dichten Menschenmenge nicht zu vermitteln, wie sie sich am 23. Mai 1498 auf der Piazza versam-

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melt hatte. Doch nicht nur ist die Anzahl der Zuschauer merkwürdig ausgedünnt, wenig ist auch von der gewaltgeladenen Atmosphäre, von den Tumulten und Krawallen zu spüren, welche die Hinrichtung begleiteten. Nur ein paar wenige der auf der Piazza versammelten Figuren künden von der Dramatik des Geschehens: Rechts und links vom Scheiterhaufen sieht man einige Gestalten zurückweichen oder gar fliehen, einem setzt ein Lanzenträger nach, drei weitere mit Lanzen bewaffnete Figuren eilen von der Loggia kommend zur Mitte des Platzes. Auch ein Reiter prescht heran. Doch scheint sich die Aufgeregtheit dieser Figuren den übrigen Menschen auf der Piazza nicht mitzuteilen, die meist in kleineren Personengruppen beieinander stehen; oft sind es Männer, nur an den Seiten des Platzes sieht man auch Frauen dem Schauspiel folgen, erkennbar an ihren längeren Gewändern und den Kopftüchern, die sie tragen. Zuschauer sind auch vor der ringhiera und in der Loggia dei Signori positioniert. Einige der versammelten Figuren scheinen allerdings in Gesprächen vertieft zu sein und den nur wenige Meter entfernt brennenden Scheiterhaufen zu ignorieren. In dem wohl größten dieser Gesprächskreise, rechts im Bildvordergrund, befinden sich auch zwei Dominikaner und zwei Franziskaner miteinander in einen Disput verstrickt. Diese Szene spielt wahrscheinlich auf eine Feuerprobe an, die auf der Piazza am 7. April desselben Jahres stattfinden sollte und deren Nichtzustandekommen den unmittelbaren Anlass für die Festsetzung Savonarolas abgegeben hatte. Zu ihr aufgefordert hatte der Franziskaner Francesco di Puglia aus dem Kloster San Minato in einer Predigt in Santa Croce, deren Fassade in unserem Bild links oberhalb der Gehängten aus dem Häusermeer herausragt. Die Herausforderung richtete sich an diejenigen Anhänger Savonarolas, die auch nach der Exkommunikation noch zu den von ihm verbreiteten Ansichten standen, und wurde von Domenico da Pescia angenommen. Alle Vorkehrungen für die Feuerprobe waren bereits ausgeführt, die notwendigen Aufbauten installiert, die Piazza von den angespannt wartenden Anhängern beider Fraktionen gefüllt, doch vereitelten gegenseitige Anschuldigungen schließlich die Durchführung.8 Es kam zu Unruhen, zum Sturm auf San Marco und schließlich zur Festnahme Savonarolas und Fra Domenicos. Das dargestellte Gespräch zwischen Franziskanern und Dominikanern lässt sich also vielleicht als eine Art Rückblende verstehen, mit deren Hilfe auf ein Ereignis aus der Vorgeschichte der Hinrichtung Bezug genommen wird. Mitunter sind im Gemälde sogar zwei zeitlich nacheinander verlaufende Handlungen miteinander verschränkt. Das zeigen etwa die von einem Soldaten eskortierten Reisigbündelträger, deren Last zweifellos für den Aufbau des Scheiterhaufens bestimmt ist, der im Bild längst lichterloh brennt. Das Gemälde zeugt zweifelsohne von einer genauen Kenntnis vom Ablauf des Geschehens. Ob diese auf der eigenen Augenzeugenschaft des Künstlers beruhte, lässt sich dem Bild nicht ablesen. Genauso gut hätte der Künstler sich auf Berichte anderer stützen können, wird doch in ihnen der Ablauf des Schauspiels bis ins Detail geschildert. So finden sich hier selbst Angaben zur Länge, Höhe und Breite des Laufsteges, über welchen die Verurteilten zur Richtstatt geführt wurden.9 Der Künstler hatte indes nicht nur eine genaue

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Kenntnis vom Hergang, sondern auch vom Schauplatz des Ereignisses, der Piazza della Signoria, die in genau jenem baulichen Zustand wiedergegeben ist, in welchem sie sich im Jahre 1498 befand.10 So erkennt man die zinnengekrönte Außenmauer des großen Ratssaals, des Maggior Consiglio, der nach Osten dem Palazzo della Signoria angefügt worden war (heute befindet sich hier der Salone dei Cinquecento). Dieser erst 1495 beschlossene Bau wurde im April 1496 mit einer Predigt Savonarolas offiziell eingeweiht. Ein weiteres Detail, welches von der Zeitgenossenschaft der Darstellung kündet, ist die bereits erwähnte Statue von Judith und Holofernes, die erst im Dezember 1495 vor dem Portal des Regierungspalastes errichtet worden war. Ursprünglich im Garten des Palazzo Medici aufgestellt, war sie zusammen mit anderen Skulpturen und Gemälden aus dem Besitz der Medici 1495 beschlagnahmt und in den Palazzo della Signoria überführt worden. Auch ihre Neuaufstellung lässt sich zumindest indirekt auf das Wirken Savonarolas zurückführen. Als Exemplum der Demut verkörpert die Figur der über Holofernes triumphierenden Judith just jene Tugend, auf die der Dominikanermönch seine Mitbürger in seinen Predigten immer wieder einzuschwören versuchte. Da die Statue jedoch bereits im Frühjahr 1504 ihren Standort dem David Michelangelos räumen musste, liefert ihr Erscheinen auf dem Gemälde einen terminus ante quem für seine Datierung.

DER KARTHOGRAPHISCHE BLICK Die Genauigkeit der Wiedergabe dieser Stadtlandschaft hat in der kunstgeschichtlichen Forschung zu der Vermutung Anlass gegeben, dass es sich beim Autor des Gemäldes um einen Kartographen handeln müsse.11 Tatsächlich sprechen neben der Detailfülle noch eine Reihe weiterer Indizien für diese These. Zu ihnen gehört auch der erhöhte Betrachterstandpunkt, der typisch für zeitgenössische Stadtansichten ist und beispielsweise auch im sogenannten »Kettenplan« von etwa 1500 vorliegt, der wohl berühmtesten Florentiner Stadtansicht (Berlin, Kupferstichkabinett). Dieser Standpunkt besaß keine reale Entsprechung, hätte also weder vom Künstler noch von einem Zeitgenossen wirklich eingenommen werden können. Zwar gibt das Gemälde von der Hinrichtung Savonarolas die Stadt nicht aus der Vogelperspektive wieder. Doch bietet keines der nach Westen die Piazza begrenzenden Häuser einen solchen Überblick über die Stadt und die sich dahinter erstreckende Arnolandschaft, wie ihn das Gemälde seinem Betrachter erlaubt. Zugleich sind – ähnlich wie bei zeitgenössischen Stadtansichten – die wichtigsten Gebäude überproportional groß dargestellt.12 In einem Punkt hat der Künstler sogar gegen die korrekte Abschilderung der städtischen Topographie verstoßen. So ist am linken Bildrand ein Teil der von Filippo Brunelleschi entworfenen Kuppel des Florentiner Doms Santa Maria Fiore ins Bild gerückt, obgleich diese streng genommen jenseits des Blickfelds liegen müsste. Diese Manipulation ließe sich zwar auch mit dem Hinweis erklären, dass mit dem Dom eine der wichtigsten Wirkungsstätten Savonarolas ins Gemälde integriert werden sollte,

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hatte der Mönch doch von der Kanzel des Doms herab seine Predigten und Visionen verkündet. Aber hätte unter dieser Prämisse nicht auch San Marco als das Kloster, von dem sein Wirken ausging, mit ins Bild genommen werden müssen? Plausibler scheint daher, dass in der topographischen Teilansicht der Stadt Florenz, wie sie das Gemälde bietet, der Dom als das wichtigste Wahrzeichen der Stadt nicht fehlen durfte. Wenn tatsächlich ein Kartograph der Autor des Bildes gewesen ist, würde dies auch das Missverhältnis zwischen perspektivischer und figürlicher Darstellung erklären. Denn während die perspektivische Konstruktion trotz mancher Fehler eine gewisse Schulung erkennen lässt, ist die Darstellung der Figuren durch handwerkliche Unbedarftheit charakterisiert. Das relative Unbedeutendsein der Figuren wird jedoch vor allem durch die Größenverhältnisse nahegelegt, denn angesichts der gewaltigen Stadtlandschaft mutieren die auf der Piazza versammelten Menschen zu Winzlingen. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch eine geradezu schwindelerregende perspektivische Verkürzung gesteigert. Sie bewirkt, dass die auf und vor der ringhiera platzierten Figuren nur einen Bruchteil jener Größe besitzen, die den im direkten Vordergrund stehenden Personen zugestanden wurde. All dies führt dazu, dass die Handlungsträger und die Zuschauer der Hinrichtung gleichermaßen zu Staffagefiguren herabgesetzt werden. Ja, es ist sogar die Meinung vertreten worden, dass der Künstler die dem Ereignis beiwohnende Menschenmenge deshalb so stark ausgedünnt habe, um möglichst viel von der Pflasterung aus rotem Ziegelstein freizulegen, die jedem zeitgenössischen Betrachter den Reichtum der Stadt Florenz prägnant vor Augen führte. Diese These ließe sich sogar noch zuspitzen, scheint doch das dem Pflaster Struktur verleihende, strenge Raster grauer Stege sogar zu suggerieren, dass das auf der Piazza stattfindende Ereignis die Stadt kaum aus ihren Fugen heben werde. Solche Beobachtungen lassen die Frage berechtigt erscheinen, ob das Gemälde überhaupt in erster Linie ein Ereignisbild darstellt oder nicht vielmehr eine vedutenhafte Ansicht der Stadt Florenz, in die der Künstler beziehungsweise Kartograph als narrative Zutat noch die Exekution Savonarolas eingefügt habe, ohne dieser jedoch größeres Gewicht beizumessen. Demnach wäre nicht Savonarola, sondern Florenz der eigentliche Protagonist des Bildes. Aber auch wenn man so weit nicht gehen möchte, ist doch unbestreitbar, dass das Bild jener Tradition topographischer Städteansichten verpflichtet ist, die sich im zeitgenössischen Florenz einer großen Blüte erfreute. Man kann in dieser Blüte die späte Manifestation eines bereits im 13. Jahrhundert nachweisbaren und im 14. Jahrhundert stark ausgeprägten kommunalen Eigenbewusstseins sehen, wie es typisch für italienische Stadtstaaten an der Schwelle zur frühen Neuzeit war. Dieser in Italien gern als campanilismo bezeichnete Lokalpatriotismus trug in Florenz mitunter sogar die Züge eines starken Sendungsdranges. So findet sich in zeitgenössischen Predigten und Chroniken der Zeit immer wieder die Vorstellung, die Florentiner seien ein von Gott auserwähltes Volk, wie es einst die Israeliten des Alten Testaments gewesen seien.13 Dieser Glaube an die eigene Auserwähltheit kam auch in der besonderen Vorbildfunktion zum Ausdruck, die dem alttestamentlichen Helden David zugesprochen wurde.

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Zum Zeitpunkt von Savonarolas Verbrennung erinnerten im Inneren des Palazzo della Signoria drei Statuen, zwei aus Bronze und eine aus Marmor, an den Sieg des jugendlichen Davids gegen den Philister Goliath. Sechs Jahre später kam noch die berühmte, vor dem Palast errichtete Davidstatue Michelangelos hinzu. In diesen Statuen manifestierte sich die Zuversicht der Florentiner, dank des göttlichen Beistands jeden äußeren Feind zu bezwingen, konnte doch die Geschichte Davids als Beispiel dafür dienen, dass sich vor der stärksten Streitmacht nicht zu fürchten brauche, wer sich der Gunst Gottes sicher war.14 Seine radikalste Formulierung fand der Florentiner Glaube an die eigene Auserwähltheit in der Gleichsetzung von Florenz mit dem »neuen Jerusalem«. Wenn Savonarola auch nicht der erste war, der diese Gleichsetzung vornahm, so war er zweifelsohne derjenige, der sie am entschiedensten propagierte.15 Immer wieder griff Savonarola dabei in seinen Predigten zu dem rhetorischen Stilmittel der Apostrophe, indem er seine Worte direkt an die Stadt richtete. So begannen viele seiner Mahnungen mit dem Ausruf »O Firenze«. Das lässt die Frage berechtigt erscheinen, ob die Bedeutung, welche der anonyme Künstler des in San Marco verwahrten Bildes von der Hinrichtung Savonarolas seiner Stadtansicht angedeihen ließ, auf die Vorstellung von Florenz als »neuem Jerusalem« rekurriere. Doch fehlt für eine solche Interpretation jeglicher gesicherter Beweis. Die mit kartographischer Sachlichkeit wiedergegebene Stadt verweigert sich vielmehr jeder sinnbildlichen Lesart. Ähnliches gilt ja auch für die Schilderung des Geschehens selbst, die in ihrer nüchternen Detailliertheit keine Parteinnahme erkennen lässt.

DIE RELIGIÖSE DIMENSION DES NARRATIVEN GEHALTS Allein die beiden Engel, die auf zwei Wolken schwebend auf das sich im Stadtbild vollziehende Schauspiel weisen, lassen sich als ein gleichsam himmlischen Wink lesen, dass das dargestellte Ereignis auch eine religiöse Dimension besitzt. Die beiden Engel sind zugleich die Träger einer über den Himmel entrollten Banderole. Solche Schriftbänder waren in der frühneuzeitlichen Malerei ein beliebtes Mittel, die Aussage eines Bildes durch Text zu ergänzen, und es darf mit Sicherheit angenommen werden, dass die Banderole auch im vorliegenden Fall als eine Art Spruchband in das Gemälde eingefügt wurde. Von dem auf ihr angebrachten Schriftzug hätte man einen Kommentar zum dargestellten Geschehen erwarten dürfen, der die Hinrichtung entweder gebilligt oder als Freveltat gebrandmarkt hätte. Doch das Spruchband ist leer. Wie die bildliche Darstellung verweigert es damit jede Stellungnahme. Statt Fragen zu klären, wirft es neue auf. Weshalb wurde darauf verzichtet, das bereits bereitgestellte Feld mit einer Inschrift zu versehen? Es ist interessant, dass sich gerade in diesem Punkt die verschiedenen Fassungen des Gemäldes am stärksten voneinander unterscheiden. So ist auf der heute im Besitz der Galleria Corsini befindlichen Version, die ansonsten nur in einigen unwesentlichen Details von der Tafel aus San Marco abweicht, gänzlich auf das Spruchband verzichtet worden

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43 Unbekannter Maler: Hinrichtung Savonarolas, 16. Jahrhundert, Tempera auf Holz, 96 × 119 cm, Florenz, Galleria Corsini

(Abb. 43). Das ist aus vielerlei Hinsicht konsequent. Wie gezeigt wurde, ließ sich ja auch der Darstellung der Hinrichtung keinerlei Stellungnahme entnehmen. Ja, das Bild ließ sogar die Vermutung zu, dass es dem unbekannten Künstler in erster Linie um die topographische Ansicht der Stadt Florenz gegangen sei, und er deshalb dem sich auf der Piazza abspielenden Ereignis eine nur sekundäre Rolle zugewiesen habe. Eine auf die Hinrichtung gemünzte Inschrift hätte dagegen die Aufmerksamkeit des Betrachters von der städtischen Kulisse auf die Bilderzählung gelenkt. So aber enthält sich das Bild jeder Parteinahme. Das dies einen Anhänger Savonarolas kaum hätte zufrieden stellen können, liegt auf der Hand. Dagegen ist zumindest auf der heute in der Galleria Nazionale in Perugia bewahrten, wohl aber erst im 17. Jahrhundert angefertigten Version des Bildes die Banderole mit einem Spruch versehen worden, der unzweideutig für Savonarola Partei ergreift: »Ecce quomodo moritur iustus / Et viri sancti de terra tolluntur« (»Siehe, wie der Gerechte starb und wie die heiligen Männer von der Erde gehoben wurden«).16 Der Spruch – ein verkapptes Zitat Savonarolas – steht hier jedoch zugleich in einer gewissen Spannung

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zur bildlichen Darstellung, der nicht zu entnehmen ist, ob es sich bei den Hingerichteten um drei Heilige oder drei Verbrecher handele. In San Marco findet sich jedoch noch eine zweite Fassung des Bildes, die sich in dieser Hinsicht als Korrektur lesen lässt (Abb. 44). Es handelt sich um eine freie Kopie nach einer jener Versionen, welche die ganze Piazza zeigen, doch hat sich der Künstler hier auf einen Ausschnitt beschränkt.17 Sein Bild gibt nur jenen Bereich des Platzes wieder, in dem die verschiedenen Phasen der Hinrichtung erzählt werden. Die Piazza lässt sich damit nicht mehr im urbanen Kontext verorten. Von den sie begrenzenden Häusern finden sich nur noch der Palazzo della Signoria und das Eckhaus, das nach Osten hin die Via Gondi flankiert, im Bild wieder. Doch auch diese Gebäude werden scheinbar willkürlich vom Bildrand durchschnitten. So sind vom Regierungspalast nur die unteren beiden Stockwerke zu sehen, während der rechte Bildrand mitten durch die zum Portal führende Treppe verläuft. Doch nicht nur die Gebäude werden durch die Beschränkung des Bildfeldes fragmentiert, sondern auch eine Reihe der auf der Piazza versammelten Figuren. So sieht man von der Gruppe der diskutierenden Mönche nur noch die oberen Körperhälften. So unvollständig die kleinere Fassung indes wirkt, so verdichtet scheint auf ihr der narrative Gehalt. Das Blickfeld ist hier nämlich auf eben jene Partie reduziert, in welcher das Ereignis geschildert wird. Überdies ist das dargestellte Geschehen hier um zwei weitere Episoden bereichert. So ist im Vordergrund zu sehen, wie Savonarola zusammen mit Fra Domenico von Soldaten über die Piazza geleitet wird. Angespielt wird damit zweifelsohne auf die Festnahme des Domonikanermönchs in der Nacht zum 9. April. Das szenische Bild der Menschengemenge, aus der Schlagstöcke und Fackeln emporragen, erinnert stark an Darstellungen der Gefangennahme Christi, und die Gestalt Savonarolas lässt zugleich an Bilder des seelenruhig durch den aufrührerischen Mob zum Kreuz schreitenden Christus denken. Eine andere Zutat, welche die kleine Version von der großen unterscheidet, ist die links oben ins Bildfeld eingefügte Mandorla, in der Gottvater erscheint, die drei Hingerichteten segnend. Durch Kronen und Palmwedel sind Savonarola und seine beiden Leidensgenossen hier eindeutig als Märtyrer ausgewiesen. Indem der Künstler dieser Version die Erzählung aus der topographischen Stadtansicht herauslöst, nimmt er gleichsam eine Korrektur vor. Zwar mag man vom künstlerischen Standpunkt aus die Reduktion des Blickfelds bedauern, lag dieser doch weniger in der narrativen Strategie als in der Wiedergabe der Florentiner Topographie. In Hinblick auf das Gedächtnis an Savonarola ist die Reduktion jedoch als Gewinn zu verbuchen. Denn während in der großen, in San Marco bewahrten Version die städtische Kulisse das dargestellte Ereignis beinahe zur Nebensächlichkeit zurückstuft, liegt in der verkleinerten Version der Akzent eindeutig auf dem Ereignis. Dazu trägt auch die Inschrift bei, die hier nicht einer Banderole eingeschrieben ist, sondern in einen nicht von Figuren besetzten Freiraum im Bildvordergrund integriert wurde. Die drei in roter Schrift ausgeführten Zeilen lauten: »morì il sopra detto Padre il di 23 maggio« (»[So] starb der oben genannte Pater am 23. Mai«). Der kurze Text stellt ein überaus wertvolles Indiz für die Datierung des

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44 Unbekannter Maler: Hinrichtung Savonarolas, wohl 1498, Tempera auf Holz, 38 × 58 cm, Florenz, Museo di San Marco

Bildes dar, legt doch das Fehlen einer Jahreszahl nahe, dass das Bild vermutlich noch im Jahr der Hinrichtung selbst gemalt und beschriftet worden ist. Die Inschrift verrät zugleich etwas über den Ausstellungskontext des Gemäldes, verweist sie doch auf einen offenbar außerhalb des Bildes befindlichen Text, indem sie in Bezug auf Savonarola von dem »oben genannten Pater« spricht. Vermuten lässt sich daher, dass es sich bei dem Gemälde um eine Votivtafel handelt; also um ein Bild, das der Fürbitte für Savonarola diente. Der beigefügte, heute verlorene Text hatte daher wahrscheinlich das konkrete Ansinnen des Fürbittenden enthalten. Gegenüber jenen Fassungen, die eine Gesamtansicht der Piazza zeigen, so mag man resümieren, hat sich hier das Ereignisbild aus der Stadtansicht emanzipiert. Autonom geworden ist eine solche ereignisgeschichtliche Darstellung dadurch freilich noch nicht. Vielmehr tritt die historische Schilderung uns hier im Gewand eines Kultbildes entgegen, denjenigen Trost und Hoffnung spendend, denen die Hinrichtung Savonarolas den Glauben an seine Prophezeiungen nicht zu rauben vermochte.

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SIEG MIT DEN PINSELN GIORGIO VASARIS »SCHLACHT VON LEPANTO« Iris Wenderholm

Mehr als das historische Ereignis selbst ist es der Name, der die Jahrhunderte überdauert hat: Lepanto. Mythisch mutet er an und erinnert doch nur an ein profanes Kampfgeschehen; allerdings an eines, das im Namen des Glaubens geführt wurde und die größte Seeschlacht zwischen Orient und Okzident im 16. Jahrhundert darstellt. Mit dem Sieg im Golf von Patras, vor der Meerenge von Lepanto, fiel der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Türken, die seit der Eroberung Konstantinopels 1453 als größte Bedrohung des Kirchenstaates und der Christenheit angesehen wurden. Zugleich stieg die Hoffnung auf eine Befreiung des Heiligen Landes aus muslimischer Gewalt. Lepanto nimmt aber auch mediengeschichtlich eine herausragende Stellung ein: Nicht nur die bildlichen Umsetzungen, sondern vor allem auch die Verse, die den errungenen Seesieg als einen Triumph über den anderen Glauben feiern, sind Legion.1 Durch dieses Ereignis bot sich dem Papst die Möglichkeit, die Geschlossenheit und Entschlossenheit der katholischen Seite zu demonstrieren und damit letztlich den Sacco di Roma, die Plünderung Roms 1527 durch die lutherischen Landsknechte und Söldner des spanischen Königs und deutschen Kaisers Karls V., vergessen zu machen. Als am Morgen des 7. Oktober 1571 die gegnerischen Linien in der Bucht von Nafpaktos, das im westlichen Europa Lepanto genannt wird, aufeinandertreffen, geht es sogleich um alles, um Sieg oder Niederlage. Die Schlacht wird noch am gleichen Tag entschieden. Die hochaufgerüstete Heilige Liga – der Kirchenstaat, die für diesen Zweck vereinigten Konkurrenten Spanien und Venedig sowie kleinere italienische Stadtstaaten –, die Papst Pius V. Ghislieri für die Sache der katholischen Kirche gewinnen und unter einer Fahne zusammenführen konnte, trifft auf eine leichte Übermacht der türkischen Flotte. Im

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45 Giorgio Vasari: Die Flottenschau vor der Schlacht von Lepanto, 1572–1573, Fresko, Rom, Vatikanpalast, Sala Regia

Namen des katholischen Glaubens wird mit Musketen und Pistolen gekämpft, den Osmanen stehen Pfeil und Bogen und Mannesstärke zu Verfügung. Auf beiden Seiten steht viel auf dem Spiel: Die Liga will verzweifelt den Zugang ins Heilige Land sichern, für den die Station in der Bucht von Nafpaktos zentral ist, und zugleich das bedrohliche Näherrücken des Osmanischen Reiches verhindern. Der türkischen Streitkraft geht es nach der erfolgreichen Eroberung Zyperns um den Ausbau ihres Einflussgebietes nach Westen.

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Giorgio Vasari: Die Schlacht von Lepanto, 1572–1573, Fresko, Rom, Vatikanpalast, Sala Regia

Eine der ersten künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Schlacht von Lepanto stammt von Giorgio Vasari und befindet sich in der Sala Regia des Vatikanischen Palastes (Abb. 45–46).2 Die künstlerische und intellektuelle Schwierigkeit, die Vasari zu bewältigen hatte, lag in dem Umstand begründet, dass es nur vordergründig um die Wiedergabe eines kriegerischen Konflikts ging. Seine Darstellung war mit den Mitteln der Mimesis allein nicht zu leisten, da das Ereignis gerade erst wenige Monate vergangen war und einer historisch-politischen Auslegung bedurfte. Zugleich war aber gerade die detailgetreue Abbildung des Geschehens erforderlich, um die Glaubwürdigkeit des Mediums der Malerei herauszustellen. Es war Vasaris Aufgabe, Zeitgeschehen ohne Darstellungskonventionen abzubilden, trotzdem verständlich umzusetzen und für die päpstliche Propaganda nutzbar zu machen.

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VON DER HISTORISCHEN ZUR CHRONIKALISCHEN DARSTELLUNG Als der Auftrag ihn erreichte, war der italienische Maler und Kunstschriftsteller Giorgio Vasari bereits seit langem ein vielbeschäftigter Mann. Mit seiner Werkstatt hatte er Anfang der siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts ein Auftragsvolumen erreicht, das sich nicht mehr in einer Stückzahl, sondern nur noch in bemalten Quadratmetern Wandfläche ausdrücken lässt. So war die Ausmalung des Palazzo Vecchio in Florenz (1563–1571), was konzeptionelle Durchdringung und künstlerische Erfindung angeht, allein schon aus quantitativen Gründen eine Meisterleistung, auch wenn die nachfolgende Kunstkritik diese Ansicht nicht immer teilen sollte. Dass auch der von Vasari verehrte und als Einlösung aller künstlerischen Tugenden gefeierte Michelangelo die schiere Masse des hier Erfundenen nicht unbedingt positiv beurteilte, ist bekannt. Als Vasari diesem stolz die Sala dei Cento Giorni im römischen Palazzo della Cancelleria präsentierte, für deren malerische Ausgestaltung er nur hundert Tage gebraucht hatte, sprach Michelangelo die legendären Worte: »Si vede« (»Das sieht man«). Es war nicht immer auszuschließen, dass Vasari für größere Freskenaufträge einige Partien seiner malerischen Erfindungen wiederverwendete, indem er die für die Aufbringung der Entwurfszeichnung auf die Wandfläche notwendigen Kartons mehrfach, teilweise spiegelverkehrt nutzte. Trotz aller Kritik ging die Raschheit der Ausführung und gleichsam serielle Produktion jedoch mit einem großen Innovationspotential auf der konzeptionellen Seite einher. Vasaris Anteil an der jeweiligen Bildlösung kann nicht hoch genug bewertet werden: Innerhalb der Trias von Auftraggeber, Entwerfer und Künstler nimmt er in vielen seiner Projekte eine eigenständige Aufgabe als Maler und gestaltender Konzeptor wahr, wie es etwa die posthum veröffentlichten Ragionamenti (Florenz 1588) zeigen, die Vasari als Erläuterung der anspruchsvollen Programme seiner Wandgemälde im Palazzo Vecchio in Florenz selbst verfasst hatte. Ein bedeutendes Beispiel für seine exzeptionelle Begabung als Künstler-Konzeptor ist die Ausmalung der Sala Regia im Vatikanspalast, wo Vasari zwischen 1572 und 1573 unter Pius V. und Gregor XIII. beschäftigt war. Zur Ausstattung der Sala gehören Vasaris Fresko der Flottenschau und das der Schlacht von Lepanto; von dem dritten Werk, das die allegorische Übergabe der kirchlichen Standarte an Don Juan d’Austria zeigen sollte und im Planungsstadium verblieb, existiert lediglich eine Entwurfszeichung.3 Wie aus seiner Korrespondenz von Anfang November 1571 hervorgeht, ging die Themenwahl der Lepanto-Schlacht auf Vasaris Anregung zurück.4 Die Sala Regia zählt zu den wichtigsten Sälen im Konsistorialbereich des päpstlichen Palastes und dient repräsentativen Zwecken; hier werden Kaiser, Könige und Gesandte empfangen. Mit ihrer malerischen Ausstattung wurde 1563 unter Pius IV. begonnen, unter Pius V. fortgesetzt und unter Gregor XIII. im Jahre 1573 vollendet. Die Zusammenstellung der Werke ist nicht nur aufgrund der drei unterschiedlichen Auftraggeber und der etwa dreizehn ausführenden Maler als heterogen zu bezeichnen. Auffällig und bedeutsam sind

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Vasaris Fresken vor allem in ihrem Verhältnis zu Themenwahl und künstlerischer Umsetzung der übrigen Bildsujets, vor deren Hintergrund das spektakulär Neue von Vasaris Lepanto-Darstellung überhaupt erst erfasst werden kann. Die Werke, die Vasari zu Beginn seiner Tätigkeit im Februar 1572 in der Sala Regia vorfand, zeigen vornehmlich historische Ereignisse, welche die Macht des Papsttums gegenüber weltlichen Herrschern herausstellen. Die Wahl der Bildsujets und ihre Umsetzung wies zu diesem Zeitpunkt eine klare Linie auf, da alle Darstellungen als klassische Historiengemälde frühchristlicher und mittelalterlicher Ereignisse konzipiert waren. In historischer Perspektive spielten sie auf die überzeitliche Stärke und Unerschütterlichkeit der päpstlichen Herrschaft an: Nach diesem Selbstverständnis hatte der Papst als Stellvertreter Christi auf Erden sowohl das spirituelle als auch das weltliche Schwert inne, welches er den irdischen Herrschern zum Gebrauch lediglich überließ.5 Die einfachen, in Latein verfassten Inschriften machten die Bildaussagen eindeutig und trotz historischer Distanz für jeden verständlich. Die dramatischen Ereignisse des 7. Oktober 1571 führten jedoch zu einem folgenreichen Planwechsel in der Ausstattung der Sala Regia. Angeregt von Vasari, und unterstützt vom päpstlichen Schatzmeister Guglielmo Sangaletti, hatte Pius V. den verwegenen Plan gefasst, unmittelbare Zeitgeschichte auf die Wände dieses in der politischen Repräsentation und Nutzung so bedeutenden Saals zu bringen – mit erheblichen Konsequenzen für die künstlerische Gestaltung. In der Tat war die Darstellung eines tagesaktuellen Geschehens im Bereich des Vatikanischen Palastes bisher nicht vorgekommen.6 Gemalte Zeitgeschichte, die viel eher als Dokumentation temporärer Sieghaftigkeit denn als Festschreibung überzeitlicher Macht gedeutet werden konnte, war bis zu diesem Zeitpunkt den Palästen von Stadtrepubliken und weltlichen Herrschern vorbehalten, und das aus gutem Grund. Denn im Unterschied zum Papsttum, das seinen Anspruch auf Suprematie gerade aus seiner Überzeitlichkeit und ununterbrochenen Nachfolge Petri bezog, war die fürstliche Sukzession im Gegensatz zur päpstlichen Unabwählbarkeit tatsächlich immer von genealogischen und politischen Unwägbarkeiten abhängig; und selbst im Bereich einer Stadtrepublik lagen kriegerische Erfolge und politisches Scheitern stets nah beieinander. In den großen Schlachtendarstellungen aus den Jahren 1504–1505 im Palazzo Vecchio in Florenz, in Michelangelos Schlacht von Cascina und Leonardos Anghiari-Schlacht, handelte es sich um bereits historische Ereignisse des 14. und 15. Jahrhunderts, die von Seiten der Künstler genaueste Recherchen und die Lektüre historischer Schriften voraussetzten. Der Sieg bei Lepanto hingegen stellte Vasari vor eine beträchtliche künstlerische und konzeptionelle Schwierigkeit: die Darstellung eines rezenten Geschehens im Rahmen von päpstlicher Repräsentation und in den Grenzen des decorum. Im Gegensatz zu den Sujets der übrigen Historiengemälde gab es von Lepanto keine historischen Abhandlungen, sondern zunächst nur Gedichtsammlungen, mündliche Berichte oder Flugblätter, dafür aber viele noch lebende Augenzeugen. Mit der Themenwahl war ein grundsätzlicher Wandel im Bildprogramm der Sala Regia vollzogen; eine Abkehr von der Kirchengeschichte mit herausragenden Ereignissen unter der Regentschaft eines bestimmten Papstes hin zu einer

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aktuellen »chronikalischen Siegesdarstellung«.7 Dies wird durch Vasaris 1572–1573 vorgenommene Freskierung der letzten noch offenen Wandflächen der Sala Regia unterstrichen, für die das Thema der zeitgenössischen Bartholomäusnacht gewählt wurde. Das Papsttum wird in Vasaris Bildern als ecclesia militans, als gegen die Häresie kämpfende Kirche präsentiert, deren Ziel die Vernichtung ihrer Glaubensfeinde ist, der Protestanten und Muslime.

DOKUMENTARISCHER ANSPRUCH UND ALLEGORISCHE ARGUMENTATION Auf welche Weise gelangte Vasari an Informationen über die Ereignisse in der Bucht von Lepanto? Welche künstlerische Form wählte er, um den erst historisch werdenden, gerade vom Papst als darstellungswürdig abgesegneten Stoff auf die Wand zu bringen? Die Flottenschau zeigt die Aufstellung der gegnerischen Verbände, auf der linken Seite die unter christlicher Fahne fahrenden Schiffe, auf der rechten Seite die türkische Armada. Jenseits der klar zu Tage tretenden Schlachtordnung fällt die sehr detailliert wiedergegebene Beflaggung der Schiffe auf: Zur besseren Unterscheidbarkeit wurden in der Schlacht von Lepanto erstmals Flaggen als Kennzeichen verschiedener Geschwader verwendet, da zuvor noch nie eine solch große Menge an Schiffen in einem Verband gefahren und an einem Gefecht beteiligt gewesen waren.8 Noch schweigen die Waffen, noch stehen die Ruder still, und die dicht nebeneinander aufgereihten Schiffe verharren in Gefechtsposition. In einer sich bis zum Horizont erstreckenden Überschaulandschaft, die an Bildlösungen wie Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht von 1529 (München, Alte Pinakothek) oder Vasaris eigene Belagerung von Pisa von 1568–1571 (Florenz, Palazzo Vecchio) denken lässt, wird mit größter Präzision die Bucht wiedergegeben, in der das Kampfgeschehen stattfinden sollte. Der Maler folgt hier ganz offensichtlich den zeitgenössischen graphischen Darstellungen militärischer Formationen.9 Beispielsweise sei auf Leonhardt Fronspergers bedeutendes Kriegsbuch von 1566 verwiesen, das von Jost Amman mit Kupferstichen ausgestattet wurde, sowie auf einen um 1571 entstandenen Einblattdruck Augustin Barberigos mit der Veröffentlichung der Schlachtordnung von Lepanto (Abb. 47). Wie in Vasaris Flottenschau ist auch in dieser Bildgattung eine idealtypische Situation jenseits des eigentlichen Kampfgeschehens wiedergegeben, wenn in vergleichbar symmetrischer Aufstellung die Kriegsschiffe gezeigt werden. Es handelt sich um eine Präsentation der Flottenstärke und der militärischen Macht, nicht um die Darstellung des tatsächlichen Schlachtverlaufs. Die im Zentrum der Flottenschau angebrachte, von Putten mit nautischem Gerät begleitete Seekarte Griechenlands bezeugt den Wahrheitsanspruch und -gehalt des Bildes. Beiden Darstellungsmitteln, der Seekarte und der Verwendung eines an der zeitgenössischen Druckgraphik angelehnten Aufstellungsstils der Flotte ist gemeinsam, dass sie Signalwirkung für die Glaubwürdigkeit und den dokumentarischen Anspruch des Bildes

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47 Augustin Barberigo: L’ultimo et vero ritrato di la vitoria de l’armata cristiana de la santissima liga contre a l’armata turcheschà, um 1571, Einblattdruck, Radierung, 40,5 × 28,5 cm, München, Bayerische Staatsbibliothek

besitzen. Vasaris Streben nach einer möglichst genauen Nachahmung der Wirklichkeit für eine verlässliche Darstellung der Schlacht formuliert er in einem Brief an Francesco de’ Medici, in dem er das genaue Bildprogramm beschreibt: Gezeigt werde in der Flottenschau, heißt es dort, »der Golf von Lepanto und Kephalonia, wo der ganze Apparat christlicher und türkischer Galeeren in Schlachtordnung aufgestellt ist«, verbunden mit einer »wirklichkeitsgetreu wiedergegebenen Landschaft«.10 Wie aus seinen schriftlichen Äußerungen hervorgeht, war dem Maler sehr an der Glaubhaftigkeit der künstlerischen Umsetzung gelegen: In seinem Zibaldone, einer undatierten Notizensammlung, notiert er unter der Standartenübergabe einen Verweis auf naturgetreu gezeichnete Porträts der Protagonisten (»Ritratti di naturale«).11 Besonders wichtig war Vasari die getreue Wiedergabe der Schiffe und des Schlachtgeschehens. Zu diesem Zwecke ließ er sich unter großen

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Mühen aus Venedig Galeeren-Zeichnungen kommen und zeichnete gemeinsam mit Marcantonio Colonna, einem der zentralen militärischen Befehlshaber, Details der Schlacht.12 In der Flottenschau wird zur Linken die Vereinigung der Heiligen Liga im Sinnbild der Umarmung gezeigt: Die Personifikationen des spanischen Königreiches, des Papsttums und des venezianischen Dogats halten sich an Händen und verweisen so auf die unverbrüchliche Treue in ihrer gemeinsamen Unternehmung. Über ihnen schweben Putti, die sie mit goldenen Reifen krönen und Märtyrerpalmen zum Zeichen ihres kompromisslosen Einsatzes für den christlichen Glauben über sie halten. Während zu Füßen Venedigs und Spaniens die Wappentiere sitzen, nähert sich der Tiara des Papsttums eine Taube, welche die göttliche Eingebung der päpstlichen Unternehmung unterstreicht. Zugleich wird damit die Personifikation des Heiligen Stuhls visuell mit Gregor dem Großen überblendet, dem die Geisttaube ikonographisch zugeordnet ist. Dieser Papst darf als historische Bezugsgröße beziehungsweise als Namenspatron und subtiler Verweis auf Gregor XIII. gelesen werden, den zur Zeit der Ausführung des Freskos regierenden Papst, da Pius V., verantwortlich für den Sieg von Lepanto, bereits verstorben war. Der Heiligen Liga wird auf der rechten Bildseite als Gegenpol eine Gruppe von schlechten Eigenschaften und Lastern, die der Tod begleitet, gegenübergestellt.13 Furcht, Schwäche und gestürzter Hochmut in heilloser Unordnung charakterisieren – antithetisch zur formalen Harmonie der Liga – die gegnerische Partei der Türken. Über ihren Häuptern entleeren diavoletti einen Kübel mit Ungeziefer. Das Fresko der Schlacht von Lepanto wirkt zunächst kalkuliert unübersichtlich, allein die Beflaggung erlaubt eine Zuordnung der Parteien: Deutlich erkennbar ist die HalbmondFlagge des türkischen Admirals Ali Pascha, deren Aussehen Vasari aus Rom selbst – einem zentralen Umschlagplatz für militärische Informationen – gekannt haben dürfte.14 Auf Seiten der Heiligen Liga werden die Schiffe von einer Engelserscheinung dominiert sowie von einem Banner mit Kruzifix und der Devise »In hoc signo vinces«, das der päpstliche Admiral Marcantonio Colonna vom Papst erhalten hatte. Die Devise und der gekreuzigte Christus sind Zeichen der mittelalterlichen Kreuzzüge und spielen in der päpstlichen Ikonographie eine wichtige Rolle, da sie sich auf Konstantins Kreuzesvision vor dem Sieg über den Heiden Maxentius und mithin auf den mit göttlichem Beistand erfochtenen Sieg des Christentums über den Unglauben beziehen. Vasaris Fresko zeigt, dass diese Schlacht für den Glauben und ganz explizit als Kreuzzug geführt wird.15 Eine ordnende Struktur erhält Vasaris Schlachtenfresko durch seine die Bildillusion durchbrechenden Elemente. In der Himmelszone und damit auf einer den Menschen unzugänglichen höheren Ebene wird die Schlacht zwischen Christen und Osmanen entschieden, wo Christus gemeinsam mit den Patronen der Heiligen Liga das Böse vertreibt, das der osmanischen Partei zugeordnet ist. Die obere Bildebene betont, dass ohne göttliches Einwirken ein Sieg auf Seiten der Christen nicht möglich gewesen wäre. In frühneuzeitlicher, letztlich kartographischer Darstellungstradition erstreckt sich vom Vorder- über den Mittel- bis in den Hintergrund das Schlachtgeschehen in einer Überschaulandschaft. Vasari

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48 Jost Amman: Die Schlacht von Lepanto, 1571, kolorierter Holzschnitt, 36 × 56,9 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett

leistet jedoch mehr als die Dokumentation der Mannesstärke, Schiffsanzahl und kriegerischen Ausrüstung: Wie ein moralischer Kommentar liest sich die vordere Bildebene, wenn gezeigt wird, wie Krieger der Heiligen Liga unversehrt dem Wasser entsteigen oder sich in Ausübung christlicher pietas gegenseitig heraushelfen, während sämtliche über Bord gegangene Osmanen elend ertrinken.16 Diese Motive entstammen dem Repertoire der konventionalisierten Darstellung von Seeschlachten im Medium der Druckgraphik: Ein Vergleich mit Jost Ammans Holzschnitt der Schlacht von Lepanto von 1571 weist vergleichbare Einzelmotive auf, denn auch hier sind ertrinkende und gerettete Menschen, die aus dem Wasser gezogen werden, zu erkennen (Abb. 48). Das konzeptionelle Zentrum von Vasaris Fresko findet sich am linken Bildrand, wo der Bildinhalt zu einer klaren Aussage verdichtet ist: Der erhobene Kelch mit der Hostie als Symbol für die Eucharistie, das geschulterte Kreuz als Zeichen der für die sündige Menschheit erlittenen Passion Christi werden als Voraussetzungen dafür angeführt, dass Gott selbst das Schlachtgeschehen zugunsten der Christenheit entscheidet. Die Niederlage der Osmanen zeigt sich auch in dem überwundenen Herrschaftszeichen, einem orientalischen Turban, der mit seiner dreistufigen Form einen visuellen Bezug zur dreikronigen päpstlichen Tiara in der Flottenschau herstellt. Das Knien in Siegerpose auf gefesselten dunkelhäutigen Kriegern und der am Boden liegende Krummsäbel sind zeichenhafte Abbreviaturen, die aus der Personifikation des Glaubens eine Allegorie der siegreichen christlichen Kirche machen.17

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DIE VISUELLE ÜBERZEUGUNGSKRAFT EINER NEUEN GATTUNG Für die Darstellung von Zeitgeschichte im Bereich des päpstlichen Palastes stand Vasari keine vorgängige bildliche Tradition zur Verfügung. Während die anderen in der Sala Regia tätigen Maler die Unbekanntheit ihrer Bildsujets über Inschriften und interpikturale Verweise kompensieren konnten, lag der Fall bei der Visualisierung der Schlacht von Lepanto anders.18 Die Defizienz der neuen Gattung »Historienbild der Zeitgeschichte« suchte Vasari durch unterschiedliche innerbildliche Strategien der Wahrheitserzeugung zu überwinden und zu ihrem Vorteil auszubauen. Er kompensiert dabei das Unvermögen des zeitgenössischen Betrachters, aufgrund des Mangels einer bekannten Ikonographie das Bildthema unmittelbar verstehen zu können, und wählt eine Bildform, in der die Historiendarstellung durch verschiedene Erklärungsebenen – etwa durch Allegorien – bildintern und visuell kommentiert wird. Dies steht im Gegensatz zu seiner kurz zuvor entstandenen Ausmalung der Sala dei Cento Giorni im Palazzo della Cancelleria mit Darstellungen aus dem Leben Pauls III., die Taten und Erfolge des amtierenden und porträthaft dargestellten Papstes zeigt. Dort bedient sich Vasari eines reichen Verweisapparates: Die eigentlichen Hauptbilder werden gerahmt von Personifikationen in Grisaille, welche die Motivation des Papstes und die Zuordnung in den Tugendkanon gleich mitliefern: Die Geschichte spiegelt sich hier in Allegorien und symbolischen Darstellungen. Dazu gesellen sich antike Herrscherbüsten und eine Fülle erklärender Inschriften, die auf die edlen Charakterzüge des Papstes anspielen.19 Vasari räumt in der Schlacht von Lepanto der Überzeugungskraft des Bildes aus sich selbst heraus und seinem Wert als historischer Quelle eine exzeptionelle Stellung ein.20 Die wenig aussagefähige Schlachtendarstellung, die tatsächlich jede beliebige Seeschlacht hätte meinen können, wird zum einen durch Inschriften konkretisiert, zum anderen mit dem vorgeschalteten Fresko der Flottenschau.21 Die Seekarte wird durch die Beschriftung »Graecia« eindeutig als Golf von Patras bezeichnet, der einzigartige Zusammenschluss der Heiligen Liga mit seinen konkurrierenden Parteien zeigt eindeutig die drei Mächte Spanien, Venedig und den Kirchenstaat, die gegnerische Flotte fährt eindeutig unter türkischer Flagge. Die soeben historisch gewordene Tatsache des Sieges der christlichen Schiffe über die Osmanen synthetisiert der Maler auf eine ebenfalls eindeutige Aussage hin: Ohne ein starkes, auch politische Konkurrenten vereinendes Papsttum und ohne Gottes Hilfe wäre ein Sieg über den anderen Glauben nicht möglich gewesen. Durch die Zusammenschau dieser beiden Bilder erreicht Vasari eine Kombination von historisch-geographischer Dokumentation des Ortes, Schilderung der dramatischen Ereignisse und allegorischer Überhöhung, die in der Darstellung von Zeitgeschichte beispielhaft ist und eine angemessene Erinnerungsvorgabe für die Schlacht von Lepanto abgibt. Ausschlaggebend für die detailgetreue und auf Autopsie beruhende Wiedergabe von Protagonisten und Schlachtgeschehen war der Anspruch an die zeitgenössische Historienmalerei, historische Wahrheit zu vermitteln. Im Zuge der intensiven Rezeption von

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Aristoteles’ Poetik in der Mitte des 16. Jahrhunderts wurde in der Literatur- und Kunsttheorie verstärkt das Problem von Wahrheit (vero) und Wahrscheinlichkeit (verisimile) in Geschichtsdarstellung und Dichtung verhandelt.22 Geschichte (historia) galt als Erzählung von Einzelheiten, während der Fiktion die Kraft der Verallgemeinerung zugeschrieben wurde, die nicht das Wahre, sondern das Wahrscheinliche darstellte. Beim Bestreben nach Wiedergabe von historischer Wahrheit gewann das historische Detail nun an Bedeutung, diente es doch der Stiftung von Glaubwürdigkeit in der künstlerischen Darstellung: In diesem Sinne sind sowohl die Flottenschau als auch die Schlacht von Lepanto Zeugnisse für den Wahrheitsanspruch der gegenreformatorischen Historienmalerei, wenn in ihnen detailreich Form und Ausrüstung der Schiffe, Farbe der Flaggen und geographische Gegebenheiten zur Anschauung gebracht werden. Damit gewann die Rolle des Künstlers als Historiker an Bedeutung, als der sich Vasari mit seinen Recherchen und Informanden auch geriert. Vasari betätigt sich als Geschichtsmaler, der die veritas historica auf die Wände bringt, die jedoch weit über das eigentliche Ereignis, die res factae, hinausdeutet. Unterstützt wurde das Streben nach unbedingter Historizität zudem durch ein spezifisches Instrumentarium der päpstlichen Bildpolitik – drei Medaillen, die 1571–1572 entstanden –, das für die weitere, über den konkreten Ort der Sala Regia hinausgehende Verbreitung von Vasaris vorbildlicher Formulierung des Lepanto-Sieges genutzt wurde.23 Eine Medaille Gian Federigo Bonzagnas zeigt Pius V. in Camauro und Mozzetta auf dem Avers und das Schlachtgeschehen des Jahres 1571 auf dem Revers (Abb. 49); eine Medaille Gian Antonio Rossis zeigt den segnenden Pius V. im Chormantel und die Seeschlacht (Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett). Die enge Verknüpfung des Siegs bei Lepanto mit der Erinnerung an Pius V., die durch die Bilder auf Vorder- und Rückseite bereits intendiert ist, vertiefen die beiden Inschriften: Die göttliche Lenkung des Geschehens betonend lautet sie auf Rossis Medaille »A. Domino factum est istud. 1571 (»Jenes [der Sieg] ist für Gott gemacht. 1571«), wobei das deiktische »istud« die Medaille zu einem explizit historischen Bild werden lässt. Bei Bonzagna heißt es »Dextra tva Dom. percvssit inimicvm. 1571« (»Deine Rechte, Herr, hat den Feind geschlagen 1571«). Bei Rossi sind die Schiffe wie in der Flottenschau in einer Überschaulandschaft angeordnet, bei Bonzagna gibt es die gleiche Engelserscheinung über der christlichen Flotte und den vom Himmel in das Geschehen eingreifenden Christus wie bei Vasari. Die dritte Medaille, ebenfalls geschaffen von Rossi, zeigt auf dem Revers die drei Personifikationen von Spanien, dem Kirchenstaat und Venedig mit den zugehörigen Wappentieren aus Vasaris Flottenschau, die Inschrift beschreibt den Zusammenschluss der Heiligen Liga gegen die Türken: »Foederis in Turcas sanctio« (Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett). Die Medaillen mit ihren synthetisierenden Inschriften bestärken die Bildpolitik des Papstes, indem sie die einmal von Vasari gefundene Ikonographie verbindlich machen und geradezu publizistisch verbreiten. Der Maler der Gegenreformation ist nicht nur Historiker, er ist zugleich Votiv-Stifter: Neben Vasari sei Jacopo Tintoretto genannt, der für die Sala dello Scrutinio im Dogenpalast

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49 Gian Federigo Bonzagna: Medaille auf die Schlacht von Lepanto (Avers und Revers), 1572, Silber, Ø 36 mm, Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett

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50 Cy Twombly: Lepanto, Tafel 10, 2001, Acryl, Wachskreide und Graphit auf Leinwand, 215,9 × 334 cm, München, Museum Brandhorst

1572–1574 die Schlacht von Lepanto als den größten Sieg in der Geschichte Venedigs malte.24 Die Darstellung der battaglia navale, die bereits 1577 verbrannte, wird von dem venezianischen Historiographen Francesco Sansovino in seiner Venetia città nobilissima et singulare (Venedig 1581) ausführlich beschrieben: »In diesem Bild stellte er mit unsagbarer Meisterschaft und in wunderbaren Intrigen und einem Gewirr an Dingen und einem fantastischen Knoten von Leibern, zu denen es in Schlägereien kommt, diesen einst errungenen Sieg dar, dessen man sich immer entsinnen wird.«25 Beide Maler, Vasari und Tintoretto, stellen ihre Bilder der Schlacht von Lepanto in einen größeren historischen und heilsgeschichtlichen Kontext, in dem der Künstler seinen Beitrag zum Sieg über die Ungläubigen auf dem Bildträger ausficht. Tintoretto stiftete das höchst kunstvolle Bild der Heimatstadt Venedig als seinen kämpferischen Beitrag, da er »aufgrund seiner körperlichen Schwäche nicht an der Schlacht habe teilnehmen und sein eigenes Blut vergießen können«.26 Vasari geht noch einen Schritt weiter, wenn er die Hoffnung auf das Gelingen seines Werkes in Analogie zur siegreichen Heiligen Liga als »vittoria coj pennegli«, als »Sieg mit den Pinseln« beschreibt.27 Seine außergewöhnliche Leistung, die Schlacht von Lepanto dem zeitgeschichtlichen Ereignis, dem Auftraggeber und dem Ort angemessen wiedergegeben zu haben, sowie sein Überwinden der künstlerischen Schwierigkeit bei der Schaffung einer neuen, verständlichen Bildsprache waren dem Maler durchaus bewusst. In einem Brief an Vincenzo Borghini beschreibt er seine Tätigkeit in der Sala Regia als von

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Gott gelenkt und anhand einer magischen Zahlenmystik: Er habe, von Gott erleuchtet, unter Gregor XIII. als dreizehnter Maler nach drei mal dreizehn Jahren Arbeit in der Sala Regia 1573 die Ausmalung abgeschlossen.28 Wie Monsignore Sangaletti zu Beginn der Planungen seines Lepanto-Freskos an Vasari schrieb, ist der Sieg von Lepanto »eine solche neue Gnade Gottes, von der, wie Ihr sagt, die Erinnerung bewahrt werden muß, und ich sehe keinen anderen Ort, wo dies besser geleistet werden kann, als in der Sala Regia.«29 Die Schlacht von Lepanto blieb über die Jahrhunderte ein wesentliches Sujet künstlerischer Auseinandersetzungen. Das Thema, das bei Vasari und Tintoretto ein Stück Zeitgeschichte spiegelt und als Herausforderung an die historischen Bildgattungen verstanden wurde, verlor auch für spätere Generationen nicht seine Faszination, da wir es hier mit einer aufwendigen Seeschlacht zu tun haben, bei der es um nichts geringeres als um den Glaubenskampf zwischen Ost und West, um die Dominanzbestrebungen zweier unterschiedlicher Werte- und Machtsysteme ging. Der amerikanische Künstler Cy Twombly brachte das Ereignis in seinem Zyklus Lepanto von 2001 immerhin auf eine epische Breite von zwölf Tafeln (Abb. 50).30 Die Farbe, tropfend auf die Leinwand gebracht, scheint in ihrem getrockneten Flüssigsein das Verlaufen der Geschichte selbst zu thematisieren, das nur der Maler bannen kann.31 Gott scheint fern, die Aufreihung der Schiffe seriell wie bei Vasari.

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DIE GÖTTLICHE ORDNUNG DER GESCHICHTE MASSAKER UND MARTYRIUM IM GEMÄLDE »DIE BARTHOLOMÄUSNACHT« VON FRANÇOIS DUBOIS Martin Schieder

Es gehört zu den Sonderheiten der Filmgeschichte, dass der Stummfilm Intolerance, den David Wark Griffith zwei Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs drehte, in den amerikanischen Kinos floppte, wohingegen ihn Lenin bald darauf in der Sowjetunion vorführen ließ. Heute zählt Intolerance wegen seiner pazifistisch-humanistischen Aussage und avantgardistischen Parallel- und Kontrastmontagen zu den Hauptwerken seines Genres.1 Der Film beschreibt in vier ineinander verwobenen Handlungssträngen die Intoleranz als eine historisch immer wiederkehrende Konstante des menschlichen Handelns. Die Babylonian Story schildert im bis dahin größten outdoor set – Griffith dirigierte 16.000 Komparsen von einem Ballon aus – den Fall Babylons, die Judean Story erzählt die Passionsgeschichte Christi, und die French Story spielt im Frankreich der Religionskriege, die sich in der sogenannten Bartholomäusnacht vom 24. August 1572 in einer blutigen Katastrophe entluden (Abb. 51). Mit der Modern Story begibt sich Griffith schließlich in die USA der Gegenwart und inszeniert ein soziales Rührstück, das rücksichtslosen Kapitalismus und moralischen Puritanismus aufeinanderprallen lässt. Die einzelnen Sequenzen werden durch die Gestalt der »Ewigen Mutter« verknüpft, die immerfort eine Wiege schaukelt. Am Ende sieht der Kinobesucher Kriegsszenen, die keiner der historischen Episoden zugehören, sondern das Andauern des Krieges symbolisieren. Griffiths leidenschaftliches Plädoyer für Toleranz und humanes Handeln wird in drastischen Gewaltdarstellungen evident, die in den Sequenzen der Bartholomäusnacht kulminieren. Kaum ist das Bild der schaukelnden Wiege mit dem Motto »Intolerance, burning and slaying« verblasst, erlebt der Zuschauer das schreckliche Gemetzel in den Straßen von Paris, wo königliche Soldaten erbarmungslos die Hugenotten verfolgen und massakrieren. Für die Vorbereitung der

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51 David Wark Griffith: Intolerance, USA 1916, Filmstill (mit Josephine Crowell in der Rolle der Katharina von Medici)

French Story hat Griffith keine systematische Recherche betrieben, gleichwohl war ihm historische Genauigkeit zur Vermittlung seiner Botschaft wichtig. Überliefert ist, dass er eine Übersetzung von François Guizots Histoire de France konsultierte, um Persönlichkeit und politische Verantwortung der geschichtlichen Figuren möglichst präzise charakterisieren zu können. Außerdem sollen ihm Abbildungen aus Büchern sowie Illustrationen des 16. Jahrhunderts als Vorlage für Kostüme und Kulissen gedient haben, die Schauspieler ließ er nach Porträts der historischen Protagonisten schminken. Wenig spricht dafür, dass sich unter den Abbildungen auch eine des Gemäldes Die Bartholomäusnacht (»La Saint-Barthélemy«) aus der Hand des französischen Malers François Dubois befunden hat (Abb. 52). Aber auch wenn Bild und Film auf den ersten Blick außer dem Thema nichts miteinander zu verbinden scheint und über dreihundert Jahre zwischen ihnen liegen, weisen die zwei Medien nicht nur in ihrer Aussage, sondern auch in der Wahl der Stilmittel unerwartete Übereinstimmungen auf. Obgleich sie den Eindruck der Authentizität erwecken, sind beide keine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der historischen Realität. Vielmehr sind Maler wie Regisseur darum bemüht, eine Bewertung vorzunehmen, die den blutigen Ereignissen von 1572 übergeordnetet ist. Um die Wirkung zu steigern, konfrontieren sie den Betrachter mit einem kalten réalisme du sang. Zugleich benennen sie in einem Ausschnitt, auf den alles zuläuft, die politisch Verantwortlichen des

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François Dubois: Die Bartholomäusnacht, Öl auf Holz, 94 × 164 cm, Lausanne, Musée cantonal des Beaux-Arts

Pogroms. Vom Fluchtpunkt leicht nach links versetzt, zeigt das Gemälde von Dubois in überproportionaler Bedeutungsgröße die schwarz gekleidete Katharina von Medici, die sich als eine diabolische Verkehrung der Schutzmantelmadonna triumphierend über einen vor dem Louvre aufgetürmten Haufen nackter Leichen beugt; eine Szene, über die sich heute Bilder aus dem Gefängnis von Abu Ghraib schieben. Griffith wiederum lässt seine Sequenz damit beginnen, dass die Königinmutter mit dem Hofstaat aus dem Palast tritt, um mit einem perfiden Lächeln die niedergemetzelten Hugenotten in Augenschein zu nehmen. Ferner fällt auf, dass beide Künstler mittels einer Montagetechnik Episoden und Handlungsstränge zusammenführen, die realiter auf verschiedenen Zeitebenen verliefen. Und indem Dubois alle Figuren in ihrer Bewegung einfriert und sie gleichmäßig auf der Bildfläche verteilt, erscheinen sie gleichsam als stills eines Films. Ursprünglich soll das Bild – ähnlich einem Stummfilm, in dem zum leichteren Verständnis Überschriften und Dialoge eingeblendet sind – mit Legenden versehen gewesen sein. Und noch eine Gemeinsamkeit lässt sich feststellen: Im Gemälde des 16. Jahrhunderts leistet keines der Opfer Widerstand, kein Hugenotte zieht ein Schwert, nur wenige versuchen, zu flüchten oder sich zu verbergen. Es findet kein Kampf statt, sondern – ebenfalls wie im Stummfilm – ein lautloses Abschlachten.

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FICTA ET FACTA Griffiths Film ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein zentrales Ereignis der Geschichte – die Bluthochzeit vom 24. August 1572 stellt für das Selbstverständnis der Franzosen eine ähnliche Zäsur dar wie die Französische Revolution oder die Grande Guerre – von der Kunst immer wieder inszeniert und auf die Gegenwart projiziert wird. Schon im 19. Jahrhundert, als die französische Historiographie die nationale Geschichte entdeckte, wählten Maler und Dichter die Bartholomäusnacht zu ihrem Gegenstand.2 Ganz am Anfang dieser Tradition steht das Werk von Dubois. Es ist ein frühes Exempel einer Malerei, die Zeitgeschichte abbildet und dabei gänzlich auf eine allegorisch-mythologische Rhetorik verzichtet. Ungeachtet der eher naiven Bildsprache muss seine Detailgenauigkeit jedem Betrachter des 16. Jahrhunderts den Eindruck des historisch Faktischen vermittelt haben. Inwieweit kann das Gemälde aber noch heute, mehr als vierhundert Jahre nach seiner Vollendung, als Bildquelle dienen? Was sagt es über das historische Ereignis aus, und was verrät es über das Geschichtsverständnis des Künstlers? Bekanntlich führte die Erfindung der Druckgraphik, in der sich Schrift und Bild kombinieren ließen, zur Medialisierung der Religionskriege und machte aus dem Krieg der Konfessionen auch einen der Bilder. Die Malerei konnte davon nicht unberührt bleiben. Für die Hugenotten, den katholischen Hof und den Papst wurde sie zum wichtigen Instrument einer politisch-religiösen Bildpropaganda. Deren tendenziöse Deutung der blutigen Gegenwart speiste sich nicht nur aus den unterschiedlichen Positionen der politischen Historiographie, die alle Parteien betrieben, sondern auch aus einem Gewaltverständnis, dem theologisch-juristische Argumentationsmuster zugrunde lagen. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes von Dubois befand sich Frankreich in einer fundamentalen Krise. Konfessionell in zwei Lager gespalten, außenpolitisch geschwächt, von dynastischen Nachfolgeproblemen und Machtkämpfen zwischen Adel und Krone heimgesucht, drohte das Land im Chaos zu versinken. Die Prophezeiungen eines Nostradamus, die Menschheit stehe vor einem blutigen Inferno, sind Dokument der allgemeinen Verunsicherung. Die apokalyptische Endzeitstimmung wurde von der katholischen Kirche noch geschürt. Mit aller Vehemenz geißelten ihre Prediger die Hugenotten als Gesandte des Antichristen, als malédiction de Dieu. Die calvinistischen Reformer, die in Frankreich immer mehr Anhänger fanden, setzten dem Vorwurf der Häresie eine Lehre entgegen, nach der nicht das Ende der Welt, sondern die Errichtung des Reiches Christi bevorstand; ein unlösbarer Glaubenskonflikt, der das politische und gesellschaftliche Gefüge erschütterte und sich 1559, als mit dem Tod von Heinrich II. ein Machtvakuum entstand, in einem blutigen Religionskrieg entlud. In dieses Vakuum drängten die hugenottische Partei um Admiral Coligny und die ultra-katholischen Herzöge von Guise, um Einfluss auf König Karl IX. und dessen Mutter Katharina de’ Medici zu nehmen. Als diese im Januar 1562 auf Anraten ihres Kanzlers Michel de l’Hôpital das Edikt von Saint-Germain erließ, das den Hugenotten die eingeschränkte Ausübung ihres Kultus gewährte, rissen François

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de Guise, Anne de Montmorency sowie Jacques d’Albon de Saint-André, die sich kurz zuvor zu einem Triumvirat zusammengeschlossen hatten, die eigentliche Regierungsgewalt an sich. In einer Erklärung forderten sie den König ultimativ auf, das Edikt zu widerrufen und die Glaubenseinheit wiederherzustellen. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, richteten Gefolgsleute der Guise im März 1562 ein Blutbad in der hugenottischen Gemeinde von Vassy an. Es war der Auftakt zu einem erbitterten Bürgerkrieg, in dem annähernd vierzig Jahre lang Totschlag, Bildersturm, Aufruhr und Gesetzlosigkeit das Land regierten. Hass und Gewalt sollten in der Bartholomäusnacht ihren traumatischen Höhepunkt erleben. Mit dem Ziel, den Krieg gegen Spanien wiederaufzunehmen, hatte Coligny gemeinsam mit den gemäßigten Kräften am Hof, den politiques, nach einer Aussöhnung zwischen den verfeindeten Parteien gesucht. Aus diesem Grund wurden der protestantische Henri de Navarre und Marguerite de Valois, die Schwester des Königs, miteinander verheiratet. Kurz nach dem Hochzeitsfest, das vom 18. bis 21. August 1572 dauerte, der gesamte hugenottische Adel weilte noch in der Hauptstadt, wurden auf Coligny zwei Attentate verübt. Nachdem er dem ersten verwundet entkommen war, schürte die Königinmutter das Gerücht, die Hugenotten hätten sich gegen die Krone verschworen, und plante die Eliminierung sämtlicher reformierter Anführer. Gefolgsleute der Guise stürzten in der Nacht vom 23. auf den 24. August Coligny aus dem Fenster seines Hauses, und der politische Mord artete in ein Massaker aus, dem Tausende Hugenotten in Paris und in der Provinz zum Opfer fielen. Um politisch zu überleben, sah sich Karl IX. zwei Tage später gezwungen, das parlement einzuberufen, das Coligny nachträglich wegen Hochverrats zum Tode verurteilte. Bis heute lassen sich Verlauf und Urheber des Blutbads nicht eindeutig bestimmen, an die Stelle des historischen Ereignisses ist sein Mythos getreten. Entstanden ist er nicht zuletzt durch die tendenziöse Rezeption der zeitgenössischen Quellen, selbst die moderne Geschichtsschreibung ist lange Opfer der politisch-konfessionellen Apologetik des 16. Jahrhunderts gewesen. Eine Flut von Traktaten, Flugschriften und Chroniken, mit denen die verfeindeten Parteien ihre jeweilige Ideologie und ihr Handeln rechtfertigten, überschwemmte während der Religionskriege die gespaltene französische Nation. Verfolgte die katholische Liga die Hugenotten als Häretiker und beschuldigte sie des versuchten Staatsumsturzes, klagten die hugenottischen Publizisten die Krone des Mordes an und stilisierten die ermordeten Glaubensbrüder zu Märtyrern. Wie etwa im Fall von JacquesAuguste de Thous Historia sui temporis von 1614, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als präzise Quelle galt, handelte es sich bei allen zeitgenössischen Überlieferungen also nicht um historiographische, sondern um tendenziös-propagandistische Schriften. Tatsächlich stand die Eskalation vom 24. August 1572 im eklatanten Widerspruch zur Innen- und Außenpolitik von Katharina de’ Medici und Karl IX., deren Staatsraison bis dahin auf Allianz und nicht auf Konfrontation ausgerichtet war. Im Kampf gegen die spanischen Hegemonieansprüche und im Bestreben um die gallikanische

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Unabhängigkeit gegenüber dem Vatikan war man auf eine konfessionelle Ausgleichs- und Koexistenzpolitik mit den Hugenotten bedacht. Am Anfang der Bartholomäusnacht stand also nicht eine violence royale, wie es Jules Michelet in seiner Histoire de France au seizième siècle postulierte und einige Historiker noch immer glauben, sondern Karl IX. wurde von den Guise und dem hinter ihnen stehenden Philipp II. zur Billigung der Gewalt gezwungen. Seine Entscheidung mündete in einen Bürgerkrieg, der von den Guise forciert und von der katholischen Bürgermiliz getragen wurde.3

AUTOPSIE Vor diesem medienhistorischen Hintergrund muss das Gemälde Die Bartholomäusnacht von Dubois gelesen werden.4 Gleichsam in Weitwinkel und Zeitraffer hat der Maler Raum und Zeit in seinem Überschaubild zusammengezogen, stellt er die Ereignisse mittels einer collagenhaften Akkumulation einzelner Episoden dar. Insgesamt bevölkern über einhundertfünfzig Figuren die Szenerie, der ein eindeutiger Handlungsablauf und -mittelpunkt fehlen. Historische Bauten des mittelalterlichen Paris dienen als Kulisse. Am Seineufer ist die Église des Grands-Augustins zu erkennen, ebenfalls rive gauche, jedoch in der Ferne, steht der Tour de Nesle, der Hintergrund wird von den Mauern des Louvre dominiert, rechts erscheint die Porte Saint-Honoré. Im Mittelgrund sieht man die Herberge in der Rue de Béthisy, aus deren Fenster Coligny gestürzt wird. Dem Bemühen, die Topographie wiederzugeben, entspricht die Kennzeichnung der historischen Protagonisten – Täter und Opfer – durch porträthafte Gesichtszüge: Neben der übergroßen Katharina de’ Medici erkennt man Karl IX., aus einem Fenster des Louvre mit der Arkebuse auf die Hugenotten schießend. Auch die Mörder Colignys lassen sich identifizieren: Fenstersturz und Ermordung ereignen sich unter den Augen der drei Herzöge de Guise. Der Maler wollte keinen Zweifel an der geschichtlichen Authentizität seines Werkes aufkommen lassen. Es hat den Anschein, als ob es auf seiner persönlichen Erfahrung beruhe. Doch haben wir den Bericht eines Augenzeugens, eines embedded reporter, vor uns? Überliefert ist, dass der Hugenotte Dubois während des 24. August in Paris weilte und tags darauf nach Genf flüchtete. Unmöglich kann er daher Beobachter aller Greueltaten gewesen sein, musste er doch um sein Leben fürchten. Vielmehr bediente er sich verschiedener Quellen, insbesondere der Mémoires de l’estat de France sous Charles neufiesme, einer Kompilation von Pamphleten und Dokumenten, die der reformierte Dichter Simon Goulart 1576 und zwei Jahre darauf in einer erweiterten Auflage ediert hat. Um die Quellentreue von Dubois zu veranschaulichen, sei aus der Passage zitiert, die Colignys Ermordung schildert. Dort heißt es: »Der Herzog von Guise, der mit den anderen katholischen Herren unten im Hof geblieben war, vernahm die Schläge und begann mit lauter Stimme zu rufen: ›Böhme, hast du es geschafft?‹ ›Es ist vollbracht‹«, antwortete dieser. Und der Herzog rief zurück: »Monsieur le Chevalier kann es nicht glauben, wenn er es nicht mit eigenen Augen sieht«. Da warfen

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Yanowitz und Sarlaboux die Leiche aus dem Fenster: »Durch den Schlag, den er auf den Kopf erhalten hatte, lief ihm das Blut übers Gesicht, so daß man ihn nicht erkennen konnte. Der Herzog de Guise beugte sich über ihn und wischte ihm mit einem Taschentuch über das Gesicht«. Im Bild hält die mittlere Figur unter dem Fenster ein solches in ihrer Rechten, und laut Quelle bestätigt der Herzog: »Er ist es selbst«. Etwas weiter wird sodann Colignys Zerstückelung und, so zeigt es auch das Gemälde, anschließende Schändung beschrieben: »Ein Italiener aus der Garde des Herzogs von Nevers schnitt den Kopf, die Hände und schimpflichsten Teile vom Leichnam des Admirals, der auf diese Weise verstümmelt und blutig vom Pöbel durch die ganze Stadt zum Galgen nach Montfaucon geschleift wurde, wo sie ihn schließlich hängten.«5 Es ließen sich weitere Passagen aus Goularts Mémoires anführen, die belegen, dass Dubois sich auf diese Quelle stützte, etwa von der glücklosen Flucht eines Begleiters Colignys auf das benachbarte Haus, von der geglückten Flucht des Comte de Montgomery zu Pferde aus der Stadt, von der Ermordung des Baron de Pardaillan und seines Gefolges durch die königliche Garde vor den Toren des Louvre, von Jugendlichen, die an einem Strick einen toten Säugling hinter sich herziehen oder von den Karren, auf denen die Leichen aus der Stadt geschafft werden. In der auf Quellen fußenden Darstellung, im Bemühen um historische Korrektheit sowie in der schematischen Bildanlage verweist das Gemälde von Dubois auf ein Hauptwerk der hugenottischen Bildpropaganda, auf ein Kompendium von Holzschnitten, das Jacques Perrissin und Jean Tortorel, zwei hugenottische Exilanten in Genf, um 1569–1570 unter dem sprechenden Titel Quarante tableaux ou histoires diverses qui sont mémorables, touchant les guerres, massacres et troubles advenus en France ces dernières années ediert haben. Auf vierzig Blättern werden die Ereignisse der Religionskriege bis zum Jahr 1563 dokumentiert, darunter das Massaker von Vassy und die Exekution von Amboise (Abb. 53). Im Vorwort ist der chronistische Anspruch formuliert: Zukünftigen Generationen sollten »die bemerkenswerten Vorkommnisse, die sich in den letzten Jahren in Frankreich ereignet haben«, vermittelt werden, »da sie nicht dem Vergessen anheimfallen dürfen«. Und anhand einer Serie von »wahrhaftigen Bildnissen« solle eine Geschichte entstehen, die »mit allen Umständen und Weiterungen ausgestattet ist«.6 Obgleich eine gewisse künstlerische Unbedarftheit nicht zu leugnen ist, evozieren die Blätter – ähnlich dem Gemälde von Dubois – den Eindruck einer auf eigener Beobachtung beruhenden historischen Wirklichkeitstreue, der durch die ausführlichen Legenden gesteigert wird. Wie bei Dubois stellt sich die Frage, auf welche Weise sich Perrissin und Tortorel über die Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit informiert haben. Wie wichtig ihnen Wirklichkeitstreue gewesen ist, verrät das Vorwort, das sich explizit auf »témoins oculairs« beruft, auf Berichte von den nach Genf geflüchteten Hugenotten und von Soldaten der Reformierten.7 Was hingegen die politischen Führer und großen Ereignisse betraf, so stützten sie sich auf die calvinistischen Martyrologen. Vor allem die Histoire des Martyrs, die seit 1554 in mehreren Auflagen von Jean Crespin und später von Goulart in Genf publiziert wurde, diente als Vorlage. Sie dokumentierte nicht nur die Exekutionen der richterlich verurteilten

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53 Jean Perrissin und Jacques Tortorel: Die Exekution von Amboise am 15. März 1560, Holzschnitt, 32,1 × 48,8 cm, aus: Quarante tableaux ou histoires diverses qui sont mémorables […], um 1569–1570

Hugenotten, der martyrs du Seigneur, sondern auch den Tod der fidèles persécutés, die ihres Glaubens wegen in Massakern umgebracht worden waren. Nur Zeitzeugen, betont Crespin, kämen zu Wort: »Es handelt sich nicht um Fabeln der Legenda aurea, die dazu dienen, sie [die Märtyrer] zu empfehlen und in die Reliquienschreine zu bringen, […] vielmehr sprechen sie selbst in ihren Schriften, um jene zu trösten und zu unterrichten, die ihren Weg noch nicht vollendet haben«.8 Und so schaffen auch die Illustrationen von Perrissin und Tortorel weniger eine ars memoriae, sondern sind in erster Linie ein fiktionaler Bericht, der Blatt für Blatt ein historisches Bewusstsein widerspiegelt, das der calvinistischen Martyrologie entlehnt ist.

GESCHICHTE ALS RAUM MENSCHLICHEN SELBSTVERSTÄNDNISSES Fragt man nach den Vorbildern von Dubois, müssen neben den Holzschnitten von Perrissin und Tortorel auch die Darstellungen vom Massaker des römischen Triumvirats genannt werden, die während der fünfziger und sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts in

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54 Anonym: Das Massaker des römischen Triumvirats, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, Öl auf Holz, 80 × 150 cm, Lausanne, Musée cantonal des Beaux-Arts

annähernd zwanzig Varianten kursierten (Abb. 54).9 Die von anonymen Künstlern angefertigten Gemälde zeigen vor einer imaginären Renaissancekulisse Roms die Pogrome im Jahre 43 v. Chr. Das Gemetzel vollzieht sich auf Befehl der triumviri Antonius, Octavian und Lepidus, die – unter einem Baldachin thronend – überwachen, dass die abgeschlagenen Köpfe der Proskribierten auf der Rostra zur Schau gestellt werden. Die Bilder lassen sich als Anspielung auf das katholische Triumvirat, als politische Mahnung lesen: sei es in katholischer Sicht als Legitimation der aktuellen Massaker durch das historische Beispiel, sei es in hugenottischer Sicht als Warnung vor der Tyrannei, sei es als Sinnbild des Humanismus für eine gute Regierung. Falls Dubois auf keines der römischen Massakerbilder zurückgreifen konnte, wird er zumindest den Stich gekannt haben, der ihnen als graphischer Prototyp vorausging und an den sein Gemälde Die Bartholomäusnacht unverkennbar angelehnt ist.10 Statt des antiken Rom ist hier der Schauplatz allerdings das zeitgenössische Paris, statt einer imaginierten Vergangenheit geht es um die erlebte, sich auf Augenzeugen stützende Gegenwart. In dem vollzogenen Zeitenwechsel manifestiert sich ein grundlegender Konzeptwandel, denn die in den Werken von Dubois, Perrissin und Tortorel sowie in den römischen Massakerbildern sichtbar werdende Auffassung von Geschichte könnte gegensätzlicher nicht sein. Als der Historiograph Nicolas Houel 1562 Katharina de’ Medici seine Histoire d’Artémise überreichte, betonte er die Erneuerung antiker Tugenden in der Gegenwart: »Sie werden hier die Taten der guten Königin Artemisia versammelt finden und all das, was in unserer Zeit auf eine Weise erneuert wurde, daß man sagen könnte, unser Jahrhundert ist die Wiederkunft (›la revolution‹) dieses antiken und besten Jahrhunderts.«11 Antoine Caron, der dieses Buch illustriert hat und aus dessen Hand das einzig

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55 Antoine Caron: Das Massaker des römischen Triumvirats, 1566, Öl auf Leinwand, 116 × 195 cm, Paris, Musée du Louvre

signierte Massaker des römischen Triumvirats stammt, suchte für die Ereignisse der Gegenwart Erklärungsmodelle in der Vergangenheit, da sich seiner Auffassung nach die Geschichte zyklisch wiederhole (Abb. 55). Im Sinne der Maxime Ciceros »plena exemplorum est historia« (»Voller Beispiele ist die Geschichte«) war für ihn Historie eine Sammlung vorbildhafter Begebenheiten, in der die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart fließend sind. Auf dieser Geschichtsauffassung beruht auch das ästhetische Prinzip der imitatio, dem Carons Hofkunst à l’antique verpflichtet war. Bei Dubois, Perrissin und Tortorel hingegen begegnen wir einem Geschichtsverständnis, das den Ansprüchen der aktuellen politischen Historiographie folgt. Dem Betrachter wird nicht mehr eine imaginierte Vergangenheit vor Augen geführt, sondern die vermeintlich exakte Beschreibung von Ereignissen und Personen der Gegenwart. Die Augenzeugenschaft wird zum Kriterium von Künstler und Historiker, wie Théodore Agrippa d’Aubigné in seinem Versepos Les tragiques von 1616 betont, der sich kritisch mit den Religionskriegen auseinandersetzt: »Denn meine Augen sind die Zeugen dessen, wovon meine Verse handeln.«12 Indem sich Dubois, Perrissin und Tortorel auf zeitgenössische Quellen beriefen, postulierten sie die Authentizität ihrer Darstellungen. Damit lösten sie sich nicht nur von antiken Erklärungsmodellen, sondern vollzogen die »Freilegung einer historia humana«, die Emanzipation von einer eschatologischen Heilsgeschichte.13 Denn um der Nachwelt den Massenmord an den Hugenotten zu überliefern, bedurfte es einer histoire

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autre. 1566 erschien Jean Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem, ein Werk, in dem dessen Autor die Lehre vom Ende der Welt, von der Gegenwart als der letzten Zeit verwarf. Der dem Calvinismus nahestehende Geschichtsphilosoph bezweifelte das biblisch-augustinische Geschichtsbild und unterschied zwischen der heiligen Geschichte, der Naturgeschichte und der Geschichte der Menschen, also der rein diesseitigen Zusammenhänge. Genau dieser Paradigmenwechsel findet sich bei Perrissin und Tortorel sowie bei Dubois wieder. Auch wenn bei ihnen weiterhin christliche Bildikonographien anklingen, in denen konfessionelle Deutungsmuster zum Tragen kommen, wird das dargestellte Ereignis nicht mehr apokalyptisch überhöht, sondern als eine von Menschen verantwortete Geschichte kenntlich gemacht. Der Mensch erscheint nicht mehr nur als Objekt eines von Gott bestimmten geschichtlichen Verlaufs, sondern Geschichte wird für den Betrachter zum Raum des eigenen Selbstverständnisses. Wie fortschrittlich der Ansatz war, wird im Vergleich mit der wohl prominentesten Darstellung der Bartholomäusnacht deutlich. In seinem Epos Les tragiques kommt d’Aubigné auch auf Fresken zu sprechen, die im Vatikan zu sehen seien, »wo der Antichrist, trunken vor Rache und Leid, / Über die Wirkung seines Tuns sich triumphierend freut«.14 Die Rede ist von drei Szenen zur Bartholomäusnacht, die Giorgio Vasari 1573 vollendete: das gescheiterte erste Attentat auf Coligny, dessen Fenstersturz (Abb. 56) sowie die Billigung der Massaker durch Karl IX. im parlement. Keine zwei Monate nach den Ereignissen hatte Papst Gregor XIII. den Auftrag für die Fresken erteilt, auszuführen an einem prominenten Ort, der Thronwand in der Sala Regia, in welcher der Papst die ausländischen Botschafter empfing. Die Bilder sollten zusammen mit der Darstellung des Seesiegs bei Lepanto 1571 gegen die Türken, die Vasari noch unter Pius V. gemalt hatte, die plenitudo potestatis der Kirche und die Verpflichtung der weltlichen Macht zu ihrem Schutz veranschaulichen. Dies bedeutete eine im Vatikan bis dahin unbekannte Instrumentalisierung von Zeitgeschichte durch die Kunst, eine Abkehr von der traditionellen Kirchengeschichte hin zur Chronik der Ecclesia triumphans in der Gegenwart. Dass ein solcher Wandel nicht unwidersprochen blieb, geht aus einem Brief hervor, den Vasari von seinem Berater Vincenzo Borghini bekam. Anders als Gregor XIII., dem an einem Ereignisbericht des Triumphes gelegen war, hielt Borghini an der Tradition des geschichtlichen Sinnbilds fest. Deshalb empfahl er, auf die Szene mit dem verletzten Coligny zu verzichten, da ihm diese in Anbetracht ihrer Bedeutung und ihres decorum »ein wenig zu klein« erschien. Denn nur »was gut ist, hat von der Wirklichkeit und der Sache das, was dafür nötig ist, […] die ganze Angelegenheit vollkommen zu begreifen«.15 Hier lässt sich eine Parallele zur zeithistorischen Darstellung von Dubois ziehen; hinsichtlich des Modus tut sich freilich ein elementarer Unterschied auf, denn bei Vasari mischen sich Fiktion und historischer Fakt, narrativer Report und Allegorie. Ein Beispiel: Über dem verwundeten Coligny erscheint der Erzengel, und indem dieser auf Bramantes Tempietto weist, die angebliche Martyriumsstätte Petri, wird Colignys Verwundung zur himmlischen Bestrafung umgedeutet. Und noch etwas ist anders: Vasari dämonisiert die Hugenotten als hässliche Kreaturen. Sein Kunstgriff besteht folglich darin, dass er seinen propagandisti-

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56 Giorigio Vasari und Werkstatt: Die Bartholomäusnacht, 1573, Fresko, Vatikan, Sala Regia

schen Ereignisbericht unter Verwendung klassischer christlicher Bildtraditionen vorträgt. Während Dubois den Anspruch der historischen Authentizität in den Vordergrund rückt, ist bei ihm Geschichte weniger zeithistorisches Ereignis denn apokalyptisches Strafgericht.

THEOLOGIE DES MARTYRIUMS Die Religionskriege im Allgemeinen und die Bartholomäusnacht im Besonderen haben das Bewusstsein der Zeitgenossen verändert. Die Exzesse von Gewalt steigerten die eschatologischen Ängste und stellten die humanistischen Werte von Religion und Moralphilo-

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sophie in Frage. Michel de Montaigne etwa, der selbst in die Strudel der Gewalt geriet, beklagte 1580 in seinem Essai De la cruauté die geschichtliche Singularität der aktuellen Barbarei: »Bevor ich es nicht selbst gesehen hatte, wollte ich kaum glauben, dass es derart monströse Seelen geben könne, die allein um das Vergnügen des Tötens willen solche Taten begehen: Anderen die Gliedmaßen abhacken vom Rumpf schneiden, ihren Geist dazu anstrengen, unbekannte Martern und neue Todesarten zu ersinnen […], und das allein zu dem Behufe, sich am freudigen Schauspiel zu ergötzen.«16 Montaignes Beobachtungen scheinen geradezu exemplarisch durch das Bild von Dubois illustriert zu werden, wird doch der Betrachter nicht nur Augenzeuge des Mordes und der Verstümmelung Colignys, sondern sieht sich mit zahlreichen schockierenden Szenen konfrontiert, die an die Genozide des 20. Jahrhunderts erinnern: Männer, Frauen, Kinder, sie werden geköpft, erschlagen, ertränkt, von Hellebarden durchbohrt, Schwangeren wird das Ungeborene aus dem Leib geschnitten, die Straßen sind übersät mit entblößten Leichen in ihren Blutlachen. Doch Dubois nimmt keineswegs die kritisch-aufgeklärte Position Montaignes ein. Vielmehr kommt in seinem Bild – wie auch in den anonymen Massakerbildern und Illustrationen von Perrissin und Tortorel – eine Gewaltauffassung zum Tragen, die im 16. Jahrhundert juristisch-theologisch kodiert war. Sowohl für die Katholiken als auch für die Hugenotten unterlag die Exekution beziehungsweise das Martyrium rituellen Mustern und besaß eine religiöse Funktion. Öffentliche Hinrichtungen waren streng formalisiert, ja, sakralisiert. Sie galten als Manifestation der staatlichen Obrigkeit und waren keineswegs Ausdruck primitiver Mordlust. Da die Hugenotten die Einheit des Glaubens und damit des Staates gefährdeten, verfolgte man sie wie Staatsverbrecher, und die an ihnen verübten Massaker ließen sich juristisch als eine Form der Massenexekution begründen. Mit dem Ziel, Gottes Gnade wiederzuerlangen und die Menschheit vor der Vernichtung zu bewahren, wurde die Auslöschung der Häretiker, etwa in Pierre de Ronsards Discours des misères de ce temps von 1562, als religiöse Pflicht, als eine Geste der »re-conversion spirituelle de collectif« verstanden.17 So deutete die katholische Apologie die Bartholomäusnacht als violence de Dieu, welche die Menschheit vor einem neuen Babylon bewahrt habe. Doch warum werden auf dem Bild von Dubois die Leichen der Hugenotten überdies verstümmelt und geschändet? Nach katholischer Lehre hatte der Häretiker mit dem Verrat am Glauben seine Seele verloren. Für ihn sollte es daher keinen Platz mehr geben, weder in der menschlichen Gesellschaft noch im Reich Gottes. Durch die totale Zerstörung seines Körpers, in dem der Kampf zwischen Geistigem und Fleischlichem, zwischen Reinem und Unreinem gewütet hatte, wurde seine physische Existenz, jede Erinnerung an den Häretiker ausgelöscht. In einem gleichsam exorzistischen Akt der Defiguration offenbarte sich die Monstrosität des Ketzers, der »seine ganze menschliche Gestalt verloren« habe, wie es in Théodore de Bèzes Histoire ecclesiastique von 1580 heißt.18 Eben diesem Ritual der Enthumanisierung begegnen wir in den Bildern der Religionskriege. Durch das Enthaupten wurde der ungläubige Geist vom Körper abgetrennt, das Herausreißen der Zunge hinderte die Hugenotten am Verkünden ihrer Häre-

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sien, mit dem Abhacken der Hände wurden sie für ihre ikonoklastischen Frevel bestraft. Die Schändung der Körper und deren »Entsorgung« in Flüssen oder Brunnen versinnbildlichten die Vorhölle, deren Existenz die Calvinisten leugneten; drastisch beschreibt d’Aubigné, wie die Leichen nach der Bartholomäusnacht in der Seine trieben, »die mehr Blut als Wasser enthielt«.19 Der öffentlichen Exekution und dem ritualisierten Massaker entsprach im hugenottischen Selbstverständnis das théâtre du martyr. Es wurde schon auf das passive, geradezu stoische Verhalten der Hugenotten verwiesen, die sich nicht heroisch, sondern gefasst ihrem Schicksal ergeben. Wenn die Todgeweihten mit gefalteten Händen niederknien, flehen sie nicht um Gnade, sondern erwarten betend den Todesstoß, denn den gewaltsamen Tod verstanden die Gläubigen als von Gott erfahrene Gnade: »Es tut nicht not gegen seine Waffen / Unseren Widerstand zu rüsten, Was mich betrifft, ich kann nicht leben / Mit dem, was er verbietet, Auch liefere ich meinen Körper / Den Schmerzen aus, die er verordnet; Mag er mich zum Exil verurteilen, / Mag er meine Knochen verbrennen, Mag er mich mit dem Henkerseil erwürgen / Ich will es und bin einverstanden.«20 Die gefasste Haltung der Hugenotten gegenüber dem Tod begründete sich in ihrem Glauben an die göttliche Prädestination und in einer Theologie der Negation der Angst, die Calvin der apokalyptischen Eschatologie der katholischen Kirche entgegensetzte. Erst nach dem Holocaust der Bartholomäusnacht forderten calvinistische Monarchomachien zum bewaffneten Widerstand gegen die Staatsgewalt als einem Kampf gegen die Tyrannei auf. Was der Betrachter im Gemälde von François Dubois also sieht, ist kein makabres Schauspiel, sondern Sinnbild der göttlichen Ordnung. Dem entsprechen die Verwendung einer archetypischen Bildsprache mit ikonographischen Verweisen auf die Gefangennahme Christi, Golgatha und den Bethlehemitischen Kindermord sowie die klare Komposition, die das Chaos des realen Geschehens in eine feste Bildordnung fügt. Damit überführt Dubois die Flüchtigkeit des historischen Augenblicks in eine übergeordnete theologische Botschaft.

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GESCHICHTSKONSTRUKTIONEN IM WIDERSTREIT DER MEDICI- UND DER KONSTANTINZYKLUS VON PETER PAUL RUBENS Wolfgang Brassat

Im Frühsommer 1625 blickte das politisch interessierte Europa nach Paris, wo am 11. Mai Henrietta Maria von Frankreich, die Tochter Maria de’ Medicis und Schwester König Ludwigs XIII., mit dem englischen König Karl I. verheiratet wurde. Mit dieser neuen Allianz veränderten sich die ohnehin höchst instabilen Kräfteverhältnisse auf dem vom Dreißigjährigen Krieg heimgesuchten Kontinent. Hatte der Vater Karls I., der keine zwei Monate zuvor verstorbene Jakob I., 1613 seine einzige Tochter Elisabeth dem Kürfürsten von der Pfalz zur Frau gegeben, Friedrich V., dem Führer der protestantischen Kräfte im Reich, so verband sich Karl I. nun mit dem katholischen Frankreich. Und ungeachtet aller Glaubensfragen knüpfte der französische König Ludwig XIII., nachdem er selbst im Zuge der habsburgfreundlichen Politik seiner Mutter 1615 mit Anna von Österreich, der Tochter Philipps III. von Spanien, liiert worden war, nun mit der Verheiratung seiner Schwester Bande, die vielerorts Argwohn erregen mussten, vor allem in Madrid und in Rom. Unter den Teilnehmern der feierlichen Hochzeitszeremonie war auch Peter Paul Rubens, der damals siebenundvierzigjährige Hofmaler der in Brüssel regierenden spanischen Statthalterin Isabella Clara Eugenia, der seit September 1623 von ihr auch ein monatliches Salär für seine diplomatischen Dienste erhielt und am 5. Juni 1624 von König Philipp IV. in den Adelsstand erhoben worden war. Diese Auszeichnung ebnete den Weg für Rubens’ bemerkenswerte Karriere als Diplomat, die ihm zahlreiche Ehrungen und Geschenke einbringen sollte, weitere Adelstitel, bedeutende künstlerische Aufträge und – bis er sich nach unerfreulichen Vorkommnissen im Jahre 1633 aus dem diplomatischen Dienst zurückzog – ein rastloses Leben mit fortwährenden Reisen unter anderem nach Brüssel, Paris, Den Haag, London und Madrid.1 Auch bei seinen wiederholten Aufenthalten in Paris

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in den Jahren 1622 bis 1627 verknüpfte Rubens seine diplomatische Tätigkeit mit seiner Arbeit als Künstler, so traf er zum Beispiel bei der Hochzeit Henrietta Marias mit dem Herzog von Buckingham zusammen, dem englischen Premierminister. Seit dem 11. Januar 1622 erstmalig in der Stadt, hatte er sich am 26. Februar in einem Vertrag mit der Königinmutter Maria de’ Medici verpflichtet, für zwei Galerien im Palais du Luxembourg Gemäldezyklen mit Darstellungen ihres Lebens und dem ihres verstorbenen Gemahls König Heinrichs IV. auszuführen.2 Zu diesem Zeitpunkt wird Rubens bereits mit einer weiteren großen Bildfolge befasst gewesen sein, dem Konstantin-Zyklus. Es ist weder dokumentarisch belegt, wer ihm den Auftrag erteilte, die Kartons für eine zwölf Stücke umfassende Bildteppichfolge mit Szenen aus dem Leben Konstantins des Großen anzufertigen, noch wann dieser an ihn erging. Außer Zweifel steht jedoch, dass Ludwig XIII. der erste Käufer dieser Tapisserien war. Umstritten ist, ob der junge König selbst der Auftraggeber war oder ob Rubens die Entwürfe für Marc de Comans (Coemans) und François de la Planche (van der Plancken) anfertigte, die Leiter der Tapisseriemanufaktur im Faubourg St. Marcel.3 Auf jeden Fall wird der Künstler bei seinem Paris-Aufenthalt im Frühjahr 1622 bereits Skizzen für die Tapisserien vorgelegt und die Manufaktur kontaktiert haben. Denn schon in Briefen vom 24. November und 1. Dezember 1622 berichtete der Humanist Nicolas-Claude Fabri de Peiresc, der an der Konzeption des Medici-Zyklus beteiligt war und mit dem Maler einen regen Briefwechsel pflegte, von der Ankunft der ersten vier Kartons in der Manufaktur und ihrer Begutachtung durch eine große Schar von Hofbeamten und Neugierigen.4 Im folgenden Jahr kam Rubens im Mai nach Paris mit den ersten neun Gemälden des MediciZyklus, den er bei seinem nächsten Aufenthalt an der Seine, in der Zeit vom 4. Februar bis zum 9. Juni 1625, noch während der Feiern zur Hochzeit Henrietta Marias mit Karl I. vollendete. Wenige Monate später waren auch die ersten acht Tapisserien des KonstantinZyklus fertig. Am 23. September schenkte Ludwig XIII. sie dem Kardinallegaten Francesco Barberini, den Papst Urban VIII., besorgt über Streitigkeiten um das Veltlin und die neue französisch-englische Verbindung, nach Paris entsandt hatte, um Frankreich auf eine den Belangen des Katholizismus dienende Außenpolitik zu verpflichten.5 Der Medici-Zyklus wird in der Rubens-Literatur in der Regel nicht zusammen mit den Konstantin-Teppichen behandelt.6 Dies dürfte auch daran liegen, dass die im Louvre bewahrte Gemäldefolge, zu der sechzehn Ölskizzen in der Alten Pinakothek in München zu sehen sind, als der bedeutendste der zahlreichen Bildzyklen des Malers gilt, während Die Taten Konstantins des Großen, von denen Tapisserien verschiedener Editionen in Philadelphia, Paris, Wien und St. Petersburg bewahrt werden, deren Kartons aber im 17. Jahrhundert verloren gingen und deren erhaltene Skizzen in alle Welt zerstreut sind, deutlich geringer bewertet und in den Künstlermonographien oft nicht berücksichtigt werden. Beide Zyklen aber sind nicht nur zur selben Zeit entstanden – sieht man einmal davon ab, dass sich die Ausführung der Konstantin-Tapisserien noch länger hinzog –, sondern sie thematisieren mit der umkämpften Thronfolge nach dem Tod König Heinrichs IV. auch denselben historischen Sachverhalt.

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PANEGYRIK EINES UNRÜHMLICHEN LEBENS Rekapitulieren wir kurz die Ereignisse, die der Entstehung der Geschichte der Maria de Medici und der Taten Konstantins des Großen vorangingen. Nachdem 1589 nach der Ermordung Heinrichs III. der Bourbone Heinrich von Navarra den französischen Thron bestiegen hatte, wuchs die Hoffnung auf ein Ende der Glaubenskriege in Frankreich. 1593 konvertierte der ehemalige Hugenottenführer aus Gründen der Staatsräson zum Katholizismus. Indem er 1598 den Krieg mit Spanien beendete und das Toleranzedikt von Nantes erließ, leitete er eine lange Periode des äußeren und inneren Friedens ein. 1610 wollte Heinrich IV. im Jülisch-Cleveschen Erbfolgestreit gegen die Habsburger zu Felde ziehen. Zumal ihm mehrfach sein Tod vorausgesagt worden war, ließ er in Hinsicht auf seine Abwesenheit Maria de’ Medici am 13. Mai in Saint Denis krönen. Am folgenden Tag wurde er in Paris von François Ravaillac, einem katholischen Fanatiker, erstochen. Unmittelbar nach diesem Ereignis ließ sich die Königinwitwe vom Parlament und ihrem knapp neunjährigen Sohn die Regentschaft übertragen. Sie vernachlässigte seine Erziehung und überließ die Regierungsgeschäfte weitgehend ihrem Landsmann Concino Concini. Nachdem Ludwig XIII., erst dreizehnjährig, 1614 bereits für volljährig erklärt worden war, gleichwohl weiterhin von den Regierungsgeschäften ferngehalten wurde, ließ er 1617, unterstützt vom Herzog Charles d’Albert de Luynes, Concini ermorden und verbannte seine Mutter nach Blois. In der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 1619 floh sie nach Loches und später nach Angoulême, wo sie am 30. April 1619 eine Übereinkunft unterzeichnete. Die Streitigkeiten brachen jedoch erneut aus und es kam zur offenen Feldschlacht bei Pont-de-Cé, in der Ludwig XIII. Anfang August 1620 ihre Truppen besiegte. Am 10. August musste Maria de’ Medici in den Frieden von Angers einwilligen. Nach dem Tod des Herzogs von Luynes, ihres Widersachers, führten weitere Verhandlungen zu einer am 15. Dezember 1621 offiziell besiegelten Versöhnung, die es ihr gestattete, Anfang 1622 nach Paris zurückzukehren, wo die Arbeiten am Palais du Luxembourg, ihrem Witwensitz, wieder aufgenommen wurden. Bereits am 26. Februar schloss die Königinmutter den Vertrag mit Rubens, in dem dieser sich verpflichtete, im Medici-Zyklus diese höchst konfliktreichen Ereignisse darzustellen, deren letztes nur zwei volle Monate zurücklag und deren weiterer Verlauf kaum absehbar war.7 Man hat immer wieder betont, dass das Leben der Maria de’ Medici nicht eben rühmlich verlaufen und daher für ein großes panegyrisches Werk wenig geeignet war. Aus diesem Stoff hat Rubens dennoch ein Hauptwerk des Kunstgeschichte geschöpft, indem er sich in seinen Gemälden einer metaphorischen Bildsprache bediente, zahlreiche Beispiele der Bildtradition verarbeitete und zudem uralte Maßgaben der epideiktischen Rede beziehungsweise der Panegyrik befolgte.8 Der Zyklus behandelt zunächst die Herkunft der Protagonistin: Ihm vorangestellt sind Porträts der Königinwitwe als Kriegsgöttin Bellona und ihrer Eltern, Francesco de’ Medici und Johanna von Österreich.9 Die Folge der Historienbilder wird eröffnet und beschlossen durch zwei Schmalformate, Die Parzen weben das

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Schicksal der Maria de’ Medici und Der Triumph der Wahrheit, die als Pro- und Epilog fungieren. Die Reihe der großformatigen Historien setzt ein mit den obligatorischen Darstellungen der Geburt und der Erziehung, dann folgen die Bilderzählungen ihrer Taten und Erlebnisse (res gestae): die Hochzeit mit Heinrich IV. und Reise nach Paris, die Geburt des Dauphins in Fontainebleau, die Ermordung Heinrichs IV. und die Proklamation ihrer Regentschaft, die Einnahme von Jülich am 1. September 1610 – ein Ereignis, das Rubens nutzte, um die Königin begleitet von der Siegesgöttin und der Großherzigkeit hoch zu Ross darzustellen –, die Doppelhochzeit mit dem spanischen Königshaus, die Volljährigkeit des Dauphin sowie der Krieg und die Versöhnung mit Ludwig XIII. Diese Ereignisse hat Rubens allegorisch dargestellt und ihnen in seinen Gemälden eine den Betrachter einnehmende opulente sinnliche Präsenz verliehen. Ganz im Sinne des humanistischen Konzepts einer pragmatischen Geschichtsschreibung und ihrer Maxime »historia magistra vitae« bediente er sich der Form der gemischten Allegorie ( permixta allegoria) und ließ in seinen Historienbildern neben den historischen Personen mythische Gottheiten, Personifikationen und Putten agieren.10 So zeigt zum Beispiel die Darstellung der am 3. November des Jahres 1600 erfolgten Landung der Maria de’ Medici in Marseille, wie die zukünftige Königin, angekündigt von den Posaunenfanfaren der Fama, freundlich von der Personifikation Frankreichs empfangen wird, während sich im Wasser ein freudiger Reigen von Tritonen und Nereiden tummelt (Abb. 57). Während hier das historische und allegorische Personal in ausgeglichener Zahl auftritt, ist Maria de’ Medici in den Darstellungen ihrer Geburt, ihrer Erziehung, des olympischen Götterrates, dem die Königin ihre Pläne darlegt, der glücklichen Regentschaft und des Friedensschlusses von Angers die einzige historische Person inmitten mythischer Figuren. Die Synchronisierung von historischem Geschehen und mythologisch-allegorischen Zutaten, zu denen Jonathan Richardson 1715 in seinem Essay on the Theory of Painting erklärte, »they vary, enliven, and enrich the work«,11 hat Rubens höchst abwechslungsreich gestaltet. So vergegenwärtigte er die Erste Begegnung von Heinrich IV. und Maria de’ Medici in Lyon, indem er das Brautpaar, das am 17. Dezember 1600 in der Lyoner Kathedrale vor den Altar getreten war, im oberen Register in Gestalt von Jupiter und Juno darstellte (Abb. 58). Auf Wolken thronend, reichen sie sich in Anwesenheit des Hochzeitgottes Hymen zärtlich die Hände, während am Boden die in einem Triumphwagen fahrende Personifikation der im Hintergrund dargestellten Stadt Lyon glücklich zu ihnen empor blickt. Man hat oft betont, dass die historischen Tatsachen weit prosaischer gewesen waren, hatte doch die Braut nach langer beschwerlicher Reise tagelang auf ihren zukünftigen Gemahl warten müssen.12 Gleichwohl dürfte die Darstellung der Zusammenkunft in Lyon bei manchem zeitgenössischen Betrachter, der um die dargestellten Vorgänge wusste, ein Schmunzeln ausgelöst haben, konnte man sich angesichts des Gemäldes doch daran erinnert fühlen, dass der charismatische Heinrich IV., der mehr als fünfzig Mätressen gehabt haben soll, es mit der ehelichen Treue nicht anders hielt als Jupiter, und dass Maria de’ Medici Juno in Sachen Eifersucht nicht nachstand. Wenn man es so bedenkt, hat Rubens in diesem Fall mit

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57 Peter Paul Rubens: Die Landung der Maria de’ Medici in Marseille, 3. November 1600, 1622–1625, Öl auf Leinwand, 394 × 295 cm, Paris, Musée du Louvre

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58 Peter Paul Rubens: Die erste Begegnung von Maria de’ Medici und Heinrich IV. in Lyon, 9. Dezember 1600, 1622–1625, Öl auf Leinwand, 394 × 295 cm, Paris, Musée du Louvre

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seinem mythologischen Rollenspiel nicht reale Defizite verdeckt, die in einem Zeremonienbild gar nicht angeklungen wären, sondern mit feinfühligem, entlastendem Humor auf sie angespielt.13 Dass der Künstler im Medici-Zyklus die Allegorie, die Quintilian als hohe Form geistreicher Darstellungskunst gewürdigt hat, für die Universalisierung des historisch Besonderen, die poetische Überhöhung der Tatsachen und auch die Beschönigung unerfreulicher Einzelheiten nutzte, ist evident.14 So wurde in den Gemälden zum Beispiel die Erinnerung an die der jeweiligen Gegenpartei verhassten Minister Concini und Luynes vermieden. Die Darstellung der am 20. Oktober 1614 verkündeten Volljährigkeit Ludwigs XIII. zeigt, wie Maria de’ Medici huldvoll ihrem Sohn das Steuer des auslaufenden Staatsschiffes überlässt, vor dessen Mast die Personifikation Frankreichs, den Globus in der Linken und das Flammenschwert in der erhobenen Rechten, zuversichtlich in die Zukunft blickt.15 Tatsächlich aber war, wie schon erwähnt, der Thronanwärter weiterhin von den Regierungsgeschäften ferngehalten worden. Obwohl das Bildprogramm von mehreren Verantwortlichen ausgearbeitet und wahrscheinlich im Sommer 1622 auch schriftlich fixiert worden war, behielt sich die Königinmutter ein Widerspruchsrecht vor.16 Noch 1625 lehnte sie die Darstellung ihrer Flucht aus Paris ab, bei der sie nur knapp der Verhaftung durch ihren Sohn entgangen war, lediglich eine Ölskizze mit diesem Motiv ist erhalten (München, Alte Pinakothek). Rubens ersetzte es durch eine Allegorie ihrer glücklichen Regentschaft, zu der er in einem Brief vom 13. Mai 1625 erklärte, sie berühre keine besondere Staatsräson und beziehe sich auf kein Individuum (»ne s’applica ad alcun individuo«).17 Von ihrem Veto-Recht machte seine Auftraggeberin offenbar auch bei der Darstellung der Krönung der Maria de’ Medici in der Kathedrale von Saint Denis Gebrauch. In der Münchener Ölskizze hatte Rubens den Dauphin und seine älteste Schwester Elisabeth dargestellt, wie sie beim Akt der Krönung gemeinsam mit dem Kardinal Erzbischof JeanFrançois de Joyeuse die Krone über dem Haupt ihrer Mutter halten. Doch in der finalen Darstellung wird diese allein von dem Geistlichen getragen (Abb. 59). Damit entfiel in diesem Gemälde, zweifellos auf Verlangen Maria de’ Medicis, ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass sie die Regentschaft nur stellvertretend für den Dauphin ausüben sollte.18 Das figurenreiche Krönungsbild zählt zu jenen Gemälden der Folge, in denen Rubens sparsam mit dem Einsatz mythologisch-allegorischer Figuren war. Hier beschränken sich diese auf zwei Goldstücke streuende Genien, welche die gütige Freigebigkeit (liberalitas) der Königin symbolisieren. Auch in der Darstellung der am 5. Oktober 1600 in Florenz vollzogenen Hochzeit per procurationem, bei der Marias Onkel, der Großherzog Ferdinando de’ Medici, Heinrich IV. vertreten hatte, gesellt sich zu den historischen Personen lediglich der kleine Hochzeitsgott Hymen, der am linken Bildrand eine Fackel, sein Attribut, und den Saum des Brautkleides trägt. Die in diesen Gemälden repräsentierten Zeremonien waren als juristisch bindende symbolische Handlungen selbst so aussagefähig, dass

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59 Peter Paul Rubens: Die Krönung der Maria de’ Medici, 13. Mai 1610, 1622–1625, Öl auf Leinwand, 394 × 727 cm, Paris, Musée du Louvre

ihre Darstellung keiner allegorischen Erläuterungen bedurfte, ja, dass solche Zutaten eher an ihrem Wahrheitsgehalt hätten zweifeln lassen.19 Innerhalb der Folge lassen sich also unterschiedliche Mischungsverhältnisse von chronistischem Bericht und mythologischallegorischer Begleitung feststellen, und dem zeitgenössischen höfischen Publikum wird der faktentreue Darstellungsmodus der zuletzt genannten Gemälde ebenso wenig entgangen sein wie das schmeichelhafte Bemühen panegyrischer Topoi zum Beispiel in der Allegorie Die glückliche Regentschaft. Auch die historisch verbürgten Tatsachen der am 15. Dezember 1621 besiegelten Versöhnung hat Rubens allegorisch verallgemeinert. Auch in diesem Fall wählte er kein Zeremonienbild, sondern stellte den diplomatischen Akt als Apotheose dar: Er ließ Mutter und Sohn mit der ihre Kinder herzenden Caritas in himmlische Gefilde aufsteigen, in denen ein apokalyptischer, Blitze werfender Genius die hydraköpfige Verleumdung besiegt und die dunklen Wolken vertreibt. Das Thema eines Aufstiegs zum Licht ist im Epilog Der Triumph der Wahrheit noch verdichtet: Oberhalb von Chronos, der Veritas emporträgt, schweben Mutter und Sohn vor einem erleuchteten Abendhimmel, blicken einander an und halten gemeinsam als Zeichen ihrer Liebe eine lorbeerumkränzte, von Händen umschlossene brennende Kerze (Abb. 60). Auf leicht nachvollziehbare Weise hat der Künstler, indem er das Geschehen in den Himmel verlagerte, in den beiden letzten Bildern das faktische Ereignis der Versöhnung in verpflichtende Sinnbilder seines Inhalts transzendiert und so eine wünschenswerte Wirklichkeit evoziert.

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60 Peter Paul Rubens: Der Triumph der Wahrheit, 1622–1625, Öl auf Leinwand, 394 × 160 cm, Musée du Paris, Louvre

RUBENS’ BILD-RHETORIK Schon bei der öffentlichen Präsentation der Medici-Galerie, bei der sich Mutter und Sohn zufrieden zeigten, soll es im Publikum argwöhnische und ironische Kommentare gegeben haben.20 An Rubens’ Vermischung von Fabel und Wahrheit nahm später der Abbé Du Bos in seinen 1719 erschienenen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture Anstoß. Er kritisierte »allegorische Mysterien«, wie die Präsenz von Nereiden und Tritonen in der Darstellung der Ankunft der Maria de’ Medici in Marseille, die gegen das Gebot der »vraisemblance« verstießen.21 Im Anschluss an diese frühaufklärerische Kritik wurde die Allegorie, der sich nach Roger de Piles kein Künstler so gelehrt und verständlich zu bedienen verstand wie Rubens, immer wieder der mangelnden Glaubwürdigkeit und Verständlichkeit geziehen und in der Moderne als willkürliche, obsolete Denkform ver-

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61 Peter Paul Rubens: Die Apotheose Heinrichs IV. und Proklamation der Regentschaft, 14.–15. Mai 1610, 1622–1625, Öl auf Leinwand, 394 × 727 cm, Paris, Musée du Louvre

worfen.22 Auch in der Literatur zum Medici-Zyklus klingen zuweilen solche Vorbehalte nach, wenn hier die Allegorie als bloß affirmative Form und der Zyklus »in erster Hinsicht als groß angelegte Propaganda für eine sich auf göttliches Recht stützende Monarchie« gedeutet wird.23 Dagegen hat unlängst noch einmal Martin Warnke betont, dass Rubens den allegorisch-mythologischen Apparat und auch zahlreiche mariologische Allusionen »als Medien universaler, göttlicher und natürlicher Wertvorstellungen« eingesetzt hat, »die den besonderen Ereignissen und Personen der geschichtlichen Wirklichkeit postulativ gegenübertreten«.24 Es ging im Medici-Zyklus, der allein an ein höfisches Publikum adressiert war, nicht vorrangig darum, eine sich auf ihr Gottesgnadentum berufende Monarchie zu verherrlichen. Dahingehend zu interpretierende Motive, wie der mit den Herrschaftsinsignien herbeifliegende Genius in der Geburtsdarstellung und die Aufnahme des ermordeten Königs in den Götterhimmel in der Apotheose Heinrichs IV. und Proklamation der Regentschaft, sind als panegyrische Topoi wenig aussagefähig. Bemerkenswert ist hingegen die sorgfältige Inszenierung des Volkes im Mittelbild der Folge als eben jener Instanz, von der die Regierungsmacht ausgeht (Abb. 61). Während im ersten Entwurf, der Ölskizze in der Eremitage, noch die »Providence de Dieu« alle Herrschaftszeichen – Globus, Ruder und wohl auch das Szepter – herbeibringt, geht in der endgültigen Fassung die Initiative von der Personifikation Frankreichs aus, die, von beiden Seiten von akklamierendem Volk umgeben, der Reyne gouvernante den Globus reicht.25 Einiges spricht dafür, dass Rubens sich bei dieser Darstellung von modernen staatstheoretischen Auffassungen leiten ließ, zum Beispiel von der Position des katholisch-päpstlichen Lagers, das im Gegensatz zur gallika-

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nischen Partei das Amt des Königs nicht als von Gott verliehenes, sondern als »zeitliches und vom Volk übertragenes« verstand.26 Vor allem aber entspricht die finale Bildlösung der Tatsache, dass Maria de’ Medici am 15. Mai, am Tag nach der Ermordung Heinrichs IV., vom Parlament in Paris zur Regentin mit für die Dauer ihrer Herrschaft uneingeschränkter Macht ernannt worden war, während Heinrich IV. ihr für die Zeit seiner Abwesenheit nur den Vorsitz in einem mehrheitlich entscheidenden Rat aus Ministern, Kardinälen und Herzögen zugestanden hatte.27 Im Oktober 1600 hatte Rubens selbst als Mitglied der Mantuaner Gesandtschaft an der Hochzeit per procurationem in Florenz teilgenommen. Mit dem Auftrag der MediciGalerie hat er sich zweifellos in hohem Maße identifiziert und in die weiteren politischen Aktivitäten der Italienerin die Hoffnung gesetzt, dass sich ihr für die französische Außenpolitik ungewöhnliches Bestreben einer Versöhnung mit Spanien positiv auf die spanischen Niederlande auswirken würde. Der Künstler, der zugleich die rechtmäßige Regentschaft Ludwigs als unumstößlich ansah, wie aus Darstellungen wie der der Volljährigkeit Ludwigs XIII. hervorgeht, hat also den Medici-Zyklus als politisch involvierter Künstler-Diplomat ausgeführt. Die ihm verbliebenen Spielräume nutzte er, um die Friedensbotschaft der Bilder zu stärken und zum Beispiel durch subtile Rückgriffe auf die Marien-Ikonographie, die für die weiteren Verantwortlichen wohl kaum alle transparent waren, die Regentin auf die Rolle der liebenden Mutter zu verpflichten.28 Doch sein diplomatisches Geschick hat Rubens auch ganz offen in diesen versöhnlich stimmenden Gemälden bewiesen, indem er im genus demonstrativum der Lobrede der Wendung trauriger Tatsachen zum denkbar Besseren hin ästhetische Evidenz verlieh. Sucht man nach theoretischen Vorgaben für den Medici-Zyklus, so wird man in der frühneuzeitlichen Kunstliteratur viele grundsätzliche Äußerungen zur moralisch unterweisenden Funktion der Malerei finden und beispielsweise bei Andrea Gilio auch den passenden Gattungsbegriff der »pittura mista«, einer Synthese der »pittura storica« und der »pittura poetica«.29 Weitere mögliche Anregungen wird man in der Theorie der pragmatischen Geschichtsschreibung und vor allem der Panegyrik finden, in der immer wieder die erzieherische und verpflichtende Funktion des Herrscherlobes betont wurde.30 Ein erstaunlich kongruentes Konzept für die spezifische Aufgabe, der sich Rubens annahm, aber bot die antike Rhetorik. Der Medici-Zyklus entspricht in hohem Maße der »beratenden Lobrede« der aristotelischen Rhetorik, die Cicero zum Konzept eines »optimum genus dicendi« erweitert hat.31 Die »beratende Lobrede« ist eine Verbindung der politischen Rede und der Lobrede, die sich zudem der Dichtung und der Philosophie öffnet. Sie weitet den Blick über eine bestimmte Person oder Handlung hinaus, indem sie sich den »questiones infinitae« zuwendet und die Frage nach dem richtigen Verständnis von Glück und Tugend stellt. Sich auf die höchsten Normen des menschlichen Handelns beziehend, verlangt sie vom Redner die vollständige Entfaltung seiner Kunst. Durch die Pracht seiner Ausdrucksmittel und die Schönheit der Metaphern und Gleichnisse soll er das Publikum affizieren und ihm den verdeutlichten Inhalt als begehrenswert vor Augen stellen: »Als ein vorzüg-

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liches Ausdrucksmittel vollkommener ›urbanitas‹ vereinigt die beratende Lobrede in sich die Eigenschaften des wissenschaftlichen Logos, der rhetorischen Deutlichkeit und der poetischen, insbesondere der dramatischen und der epischen Vergegenwärtigung. Sie kann deshalb in einer ganz besonders intensiven Weise einen gedanklich konzipierten Inhalt zu ästhetischer und damit für Aristoteles auch ethischer Wirksamkeit bringen.«32 Im Zuge seiner Ethisierung der Rhetorik angesichts der Alleinherrschaft Caesars hatte Cicero dem »orator perfectus« geradezu messianische Züge verliehen und vom »genus optimum dicendi« erwartet, dass das Publikum durch die begeisternde Schönheit der Rede, die den Blick auch zu den Gestirnen lenkt und von der caelestischen, nicht sinnenfälligen Wirklichkeit spricht, sich über seine pragmatisch-egoistischen Denkweisen erhebe und angesichts der Fülle des sozialen Lebens und der Schönheit der Schöpfung das moralische Gesetz in sich vernehme. Von einem solchen, ganz außerordentlichem künstlerischen und ethischen Anspruch hat sich Rubens im Medici-Zyklus, einer Summe seiner Historienmalerei, offenbar leiten lassen.33

DER KONSTANTIN-ZYKLUS Wie schon sein Vater, der zum Katholizismus konvertierte Heinrich IV., wurde auch Ludwig XIII. mit Konstantin dem Großen verglichen. Flugblätter rühmten ihn als »protecteur et défenseur de la Foy et religion romaine«, und als solche pries ihn und seinen Vater auch Jean Morin in seiner 1630 in Paris publizierten Schrift Histoire de la déliverance de l’église chrétienne par l’empereur Constantin et de la grandeur et souveraineté temporelle donnée à l’église Romaine par le roys de France.34 In Anbetracht der katholischen Restauration, die in Frankreich eine Epoche der Glaubens- und Bürgerkriege beendete, war die Analogisierung des Königs mit dem ersten christlichen Kaiser nahe liegend, und es fällt schwer zu glauben, dass die von Rubens entworfenen zwölf Teppiche der Konstantin-Folge nichts mit diesen historischen Hintergründen zu tun haben. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, beginnend mit Mantz, Guiffrey und Rooses, ist die Forschung daher überwiegend davon ausgegangen, dass Ludwig XIII. den Zyklus in Auftrag gegeben hat. Schließlich waren, wie Peiresc am 1. Dezember 1622 Rubens in einem Brief mitteilte, die ersten vier Kartons nach ihrer Ankunft in Paris von sechs Hofbeamten in Augenschein genommen worden, die für die Inspektion öffentlicher Werke zuständig waren.35 Und am 26. Februar 1626 schrieb Rubens in Zusammenhang mit noch ausstehenden Zahlungen von den »cartoni di tapessaria fatti per servicio di Sua Maestà«.36 Doch 1964 weckte David DuBon Zweifel an der Auftraggeberschaft Ludwigs XIII. Er machte darauf aufmerksam, dass François de la Planche, einer der Leiter der Pariser Teppichmanufaktur, wie aus Briefen Peirescs hervorgeht, Rubens im August 1622 die Summe von 500 livres schuldete, und dass in seinem 1627 aufgenommenen Nachlassinventar die Ölskizzen und Kartons der Konstantin-Folge aufgeführt und mit 1 200 und 500 livres taxiert wurden.37 In seiner

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Peter Paul Rubens: Der Triumph Roms, um 1622, Öl auf Holz, 54 × 69 cm, Den Haag, Mauritshuis

jüngst erschienenen Monographie hat Koenraad Brosens daher die These vertreten, dass die Leiter der Pariser Manufaktur die Entwürfe und Kartons bei Rubens in Auftrag gaben.38 Die Konstantin-Teppiche wären demnach das Produkt einer kunstunternehmerischen Initiative, was einige Autoren auch bei Rubens’ Decius-Mus-Folge annehmen.39 Auf der Grundlage dieser Prämisse meint Brosens, dass die Konstantin-Teppiche keinerlei Bezüge zu den Ereignissen der katholischen Restauration und zum Leben Ludwigs XIII. aufweisen, obwohl auch er annimmt, dass de la Planche und Comans darauf hofften, dem König, ihrem Patron und ersten Abnehmer, eine oder mehrere Folgen verkaufen zu können.40 Ein Werk, das traditionell dem Konstantin-Zyklus zugerechnet wird, ist die Ölskizze mit dem Triumph Roms, die Ludwig XIII. als siegreichen, ein Blitzbündel tragenden Feldherrn neben der triumphierenden Roma zeigt (Abb. 62). Brosens hat diese aus dem Corpus der Werke der Konstantin-Folge aussortiert. Der Triumph Roms ist geringfügig größer als die übrigen Ölskizzen, mit denen er, wie Brosens darlegt, erst in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht und als vermeintlicher Bestandteil der Folge zusammen mit weiteren elf Skizzen in den Jahren 1742–1746 von Nicolas-Henri

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Tardieu nachgestochen wurde.41 Ist der Zusammenhang dieser Skizze mit dem KonstantinZyklus somit zweifelhaft, so spricht doch einiges für die These von Julius Held, dass ihre allegorische Konzeption ein erster Entwurf war, der verworfen wurde, als man sich für einen historischen Darstellungsmodus der Konstantin-Teppiche entschied.42 Auf jeden Fall belegt die Skizze im Mauritshuis, dass Rubens in den frühen 1620er Jahren an einer monumentalen Verherrlichung Ludwigs XIII. gearbeitet hat. Die These, dass die Konstantin-Teppiche von den Leitern der Tapisseriemanufaktur im Faubourg St. Marcel konzipiert wurden, die hofften, Ludwig XIII., aber auch anderen Abnehmern Editionen dieser Folge verkaufen zu können, spricht nicht a priori gegen eine politische Dimension derselben.43 Schon die Wahl des Themas war offenbar in Hinblick auf den König getroffen worden, und wenn man ihn als Käufer gewinnen wollte, musste man darauf bedacht sein, das Thema, die Vita Konstantins, in einer Weise zu behandeln, die seinen Repräsentationsbedürfnissen entgegenkam. Wie jüngere Forschungen belegt haben, zog Rubens als Leitfaden für seine Entwürfe vornehmlich den dritten Band der zwölfteiligen Annales Ecclesiastici des Frankreich wohl gesonnenen römischen Oratorianerpräfekten Cesare Baronio heran, den er 1620 erworben hatte.44 Der Zyklus setzt ein mit der Darstellung Konstantius bestimmt Konstantin zu seinem Nachfolger (Abb. 63).45 Die Providentia-Ikonographie römischer Münzen aufgreifend, hat Rubens Konstantin und seinen Vater vergegenwärtigt, der, wie Baronio berichtet, kurz vor seinem Tod im Jahre 306 im Exil in England seinem dort geborenen Sohn die rechtmäßige Herrschaft übertrug.46 In Rubens’ Darstellung nimmt dieser den Globus und das Steuer des Staatsschiffes in Empfang. Die Anwesenheit Neptuns unterstreicht, dass dieses Ereignis an fremden Gestaden stattfand, und weist hin auf sein Datum, den 23. Juli, den römischen Festtag der Neptunalia.47 In der von Brosens angenommenen Reihenfolge folgen den weiteren Tapisserien mit der Vision Konstantins und dem Labarum die beiden größten Stücke mit Schlachtendarstellungen. Während eine von diesen seit DuBon als Darstellung des Sieges Konstantins über Licinius gedeutet wurde, geht Brosens davon aus, dass beide Schlachtenteppiche Konstantins Sieg über Maxentius zeigen, der auf der Flucht unweit der Milvischen Brücke im Tiber ertrank.48 Gerade diese Schlacht aber, die demnach als einziger der militärischen Erfolge Konstantins in den Teppichen Berücksichtigung fand, wurde damals mit dem Sieg Ludwigs XIII. in einer Schlacht in Verbindung gebracht, die ebenfalls nach einer Brücke benannt worden war. So wie Konstantin 312 Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke besiegt hatte, war es Ludwig XIII. 1620 gelungen, die Truppen seiner Mutter in der entscheidenden Schlacht an der Brücke von Cé zu bezwingen.49 Einen evidenten Bezug zu den politischen Ereignissen der Zeit stellt die Tapisserie mit den Hochzeiten von Konstantin und Licinius her, die Rubens in einem Tempel vor einer Jupiter und Juno darstellenden Skulpturengruppe vergegenwärtigt hat (Abb. 64). Neben Faustas Vater, Maximian, stehend, ergreift Konstantin die Rechte seiner Braut, während er zugleich den Ehebund zwischen seiner Halbschwester Konstantia und Licinius stiftet. Die Heirat von Konstantin und Fausta fand 307 in Rom statt, die von Licinius und Konstantia

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63 Manufaktur im Faubourg St. Marcel (nach Peter Paul Rubens): Konstantius bestimmt Konstantin zu seinem Nachfolger, vor 1627, Tapisserie, 458 × 397 cm, Paris, Mobilier National

313 in Mailand. Es stellt sich daher die Frage, warum Rubens sie in einer Darstellung vereint hat? Die Forschung zum Konstantin-Zyklus hat dafür nur eine schlüssige Antwort gefunden, nämlich dass die Darstellung auf die französisch-habsburgische Doppelhochzeit anspielt, bei der im November 1615 der Dauphin mit Anna von Österreich und seine Schwester Elisabeth mit dem späteren Philipp IV. verehelicht worden waren.50 Die Bedeutung dieses Kernstücks der Außenpolitik Maria de’ Medicis wurde durch ihre Analogisierung mit der Heiratspolitik Konstantins polemisch relativiert, hatten doch beide dargestellten Hochzeiten ihren diplomatischen Zweck verfehlt. Die Heirat mit Fausta verhinderte nicht, dass schon bald danach der Konflikt mit Maximian und seinem Sohn Maxentius wieder ausbrach, und trotz der Familienbande mit Licinius kam es zwischen ihm

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64 Manufaktur im Faubourg St. Marcel (nach Peter Paul Rubens): Die Hochzeiten von Konstantin und Licinius, 1622–1625, Tapisserie, 485 × 608 cm, Philadelphia Museum of Art

und Konstantin 324 zum Kampf, aus dem Konstantin, der seinen Schwager nach seinem Sieg hinrichten ließ, als Alleinherrscher hervorging. Für Rubens’ merkwürdige, allen historischen Tatsachen und Überlieferungen widersprechende Verknüpfung dieser beider Hochzeiten, die jeweils ein schlimmes Ende nahmen, muss es einen triftigen Grund gegeben haben. Die einzige bisher vorgebrachte plausible Erklärung ist, wie gesagt, dass seine Darstellung auf die Doppelhochzeit von 1615 anspielt.51 Neben seiner Hinwendung zum christlichen Glauben, der Gründung Konstantinopels und der Pilgerfahrt seiner Mutter Helena ins Heilige Land thematisieren die KonstantinTeppiche auch den Tod Konstantins (Abb. 65). Die den Zyklus beschließende Tapisserie zeigt den auf dem Totenbett liegenden Kaiser, der den Globus an Konstantin II. übergibt, den ältesten seiner drei verbliebenen Söhne. Während ein Kardinal der Machtübergabe seinen Segen spendet, sitzt die Hinterbliebene des Kaisers weinend abseits, neben einem schlafenden Hund hinter dem Bett. Auch diese Darstellung ist eine völlig fiktive, da bei Konstantins Tod im Jahre 337, wie Baronio wahrheitsgemäß berichtet, keiner seiner Söhne zugegen war.52 Und Fausta war zu diesem Zeitpunkt bereits lange verstorben. Auch in diesem Fall

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65 Manufaktur im Faubourg St. Marcel (nach Peter Paul Rubens): Der Tod Konstantins, 1622–1625, Tapisserie, 491 × 498 cm, Philadelphia Museum of Art

muss es für Rubens’ Abweichung von den historischen Tatsachen und Baronios Überlieferung eine triftige Erklärung geben.53 Selbst wenn man davon ausgeht, dass er das Ende Konstantins idealisieren und den Zyklus in einem feierlichen Schlussbild ausklingen lassen wollte, erklärt dies nicht die Zurücksetzung der weiblichen Angehörigen. John Coolidge hat darauf hingewiesen, dass die Physiognomie der Trauernden eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Porträt der Maria de’ Medici in der Apotheose Heinrichs IV. und Proklamation der Regentschaft aufweist, in der die Königinwitwe ebenfalls am Bildrand im Profil erscheint.54 Dies lässt den Tod Konstantins wie eine polemische Gegendarstellung zum Mittelbild der Medici-Galerie erscheinen.55 Man muss der Identifikation dieser Figur als einem

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Porträt Maria de’ Medicis freilich nicht zustimmen, um im Tod Konstantins eine Entgegnung auf den Medici-Zyklus zu erkennen. Denn ganz im Sinne des salischen Gesetzes, das die weibliche Thronfolge untersagte, führt seine Darstellung mit der abseitigen Stellung der Frau demonstrativ das männliche Erbrecht vor Augen.56 Wie schon die Darstellung Konstantius bestimmt Konstantin zu seinem Nachfolger thematisiert auch die finale Darstellung der Konstantin-Folge den rechtmäßigen Anspruch des ältesten Sohnes auf die Thronfolge. Es zeigt sich somit, dass nicht nur der Medici-, sondern auch der Konstantin-Zyklus auf die Vorgänge der umkämpften Thronfolge nach dem Tod Heinrichs IV. Bezug nimmt. In dem nach wie vor schwelenden Konflikt wollte die Königinwitwe durch den MediciZyklus auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken und »Geschichte machen«, nämlich ihre Sicht der Ereignisse in den Rang einer verbindlichen Geschichtsdarstellung erheben. Unabhängig davon, wer ihn konzipiert und in Auftrag gegeben hat, zeigt der KonstantinZyklus, dass der König dem tunlichst etwas entgegensetzen musste.

158 | Wolfgang Brassat

AUF DER BÜHNE DER GESCHICHTE DIE »ÜBERGABE VON BREDA« DES DIEGO VELÁZQUEZ Martin Warnke

Vor einer weiten, von Rauchschwaden durchwehten Landschaft treten aus zwei einander gegenüberstehenden Soldatengruppen zwei Männer aufeinander zu. Der von links herankommende Militär überreicht dem vor ihm stehenden Offizier, der ihm den Arm auf die Schulter legt, einen Schlüssel. So schildert Diego Velázquez, der Hofmaler des spanischen Königs, in einem großformatigen Gemälde die Übergabe der Schlüssel der holländischen Stadt Breda durch den unterlegenen Stadtkommandanten Justinus von Nassau an den siegreichen General der spanischen Truppen Ambrogio Spinola (Abb. 66).1 Die Begegnung fand am 5. Juni 1625 ohne förmliche Zeremonie statt, das Gemälde entstand etwa zehn Jahre später. Die als gewaltige Festung ausgebaute Stadt an der Grenze zum verfeindeten, dem spanischen Königreich zugehörigen Brabant, war neun Monate lang von den Truppen Spinolas belagert worden. Die Holländer hatten sich mutig und zäh verteidigt, doch kurz bevor ihre Lage aussichtslos wurde, starb der wichtigste Stratege auf holländischer Seite, Mauritius von Nassau, so dass jetzt der Stadtkommandant Justinus von Nassau, ein illegitimer Sohn Wilhelms von Oranien, dem Belagerer die Kapitulation anbieten musste. Die kostspielige Eroberung, der heute in spanischen Geschichtsbüchern allenfalls wegen des Bildes von Velázquez einige Zeilen gewidmet werden, war damals nicht nur von symbolischer Bedeutung, weil Breda der Stammsitz der aufständischen Oranier war, sondern besaß auch machtpolitische Brisanz, da mit Breda die Spanier gleichsam ein Einfallstor nach Holland hin gewonnen hatten.2 Deshalb haben die Einnahme der Stadt 1625 und deren nachfolgende Rekatholisierung eine große Resonanz gefunden. Der spanische Hofdichter Calderón hat am Madrider Hof sogleich ein Theaterstück über den Sieg verfasst und zur Aufführung gebracht. Velázquez

159 | Auf der Bühne der Geschichte

66 Diego Velázquez: Die Übergabe von Breda, um 1635, Öl auf Leinwand, 307 × 367 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado

hat auch einen Bericht Hermann Hugos, des Jesuiten und Beichtvaters Spinolas, zur Hand gehabt. In beiden Texten spielt die Szene der Stadtübergabe eine zentrale Rolle.3 Auch muss Velázquez, der nie in den Niederlanden gewesen ist, ein Stich von Jacques Callot vorgelegen haben, der die Belagerung, durch welche die Stadt weiträumig umzingelt worden war, in einem Landschaftspanorama darstellt (Abb. 67).4

EIN BILD MILITÄRISCHER UND KULTURELLER ÜBERLEGENHEIT Das größte Bild, das Velázquez je gemalt hat – es ist 367 Zentimeter breit und 307 Zentimeter hoch –, hing mit elf anderen Bildern ruhmreicher Kriegsereignisse aus der Amtszeit des regierenden Königs Philipp IV. im Thronsaal eines neu erbauten Palastes vor den Mauern der Hauptstadt Madrid.5 Auswärtige Gesandte hatten den Eindruck, das weitläufige Schloss mit dem großen Park, der sich Buen Retiro nannte, sei von dem Günstling

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67 Jacques Callot: Die Belagerung von Breda (Tabula Obsidionis Bredana), 1625, Kupferstich, 149,5 × 128,5 cm, London, British Museum

des Königs, dem Grafen von Olivares, ins Werk gesetzt worden, um den König von dem prekären Zustand des spanischen Reiches abzulenken. Die Serie triumphaler Schlachten hätten den König manche kürzlich erfolgte Niederlage des schlecht subventionierten spanischen Heeres vergessen lassen sollen. Wie alle anderen Sieges- und Schlachtenbilder im Saal verzichtet dasjenige von Velázquez auf jegliche allegorische Verbrämung des darzustellenden Ereignisses. Allerdings gab ein Zyklus mit kleineren Herkulesbildern von Francisco de Zurbarán über den Fenstern des Saales einen eher diskreten Hinweis auf die mythischen Überhöhungen, die gewöhnlich für solche Ruhmessäle zu erwarten waren. Sie konnten hier auch eher auf die Leistungen der Feldherren als auf die spanischen Habsburger, die ihren Stamm auf Herkules zurückführten, bezogen werden.6 Reiterbilder des herrschenden Königs, seiner Gemahlin und des Thronfolgers Balthasar Carlos an der einen Schmalwand, ebensolche der Eltern über der gegenüberliegenden Eingangstür konnten den Eindruck erwecken, dass die spanischen Habsburger die Anführer einer ruhmreichen Kampagne waren. Doch der Zyklus insgesamt ist mit guten Gründen auch als eine »Feldherrengalerie« bezeichnet worden.7 Tatsächlich wurde aus den Bataillen an den Hauptwänden deutlich, dass auf den Schlachtfeldern nicht mehr die Könige selbst, sondern die professionellen Feldherren das Sagen hatten. Die politischen Traktate der Zeit reflektierten die Tatsache, dass Könige auf den modernen Schlachtfeldern nicht mehr nötig und allenfalls psychologisch nützlich waren. Zum Entsetzen seiner Umgebung hatte aber König Philipp IV. in einer heroischen Anwandlung erklärt, er wolle, wie einst sein großer Vorfahre Kaiser Karl V., persönlich in Flandern den Krieg entscheiden. Angesichts der zwölf

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Schlachtenbilder musste der König erfahren, dass seine Feldherren die eigentlichen Helden auf den Schlachtfeldern im Norden Europas waren.8 Anders als die meisten weiteren in dem Saal gezeigten Bilder schildert dasjenige mit der Übergabe von Breda von Velázquez den Sieg nicht als eine Unterwerfung, sondern als eine Übergabe, bei welcher der Verlierer seine Würde bewahren konnte, denn der Sieger legte ihm freundlich den Arm auf die Schulter. Diese humane Brechung eines Siegesverhaltens nach einer harten und grausamen Belagerungsschlacht gilt heute als die entscheidende Botschaft des Bildes. Es ist aber nicht sicher, ob diese Kernaussage des Bildes von vornherein und von jedermann so wahrgenommen worden ist. Der Siegesrausch aus den benachbarten Bildern scheint Velázquez veranlasst zu haben, den irenischen Gehalt seiner Bildaussage abzumildern. Unter der jetzigen Malschicht sind durch Röntgen- und Infrarotaufnahmen zahlreiche, nicht leicht zu deutende Anzeichen einer lebhaften konzeptionellen Vorgeschichte zu beobachten.9 Es kann neuerlichen Untersuchungen zufolge nicht mehr als sicher angenommen werden, dass in einem ersten Entwurf des Bildes der General Spinola dem Kontrahenten zuerst beide Arme auf die Schulter gelegt hatte.10 Wenn aber eine Umarmung mit beiden Armen weiterhin angenommen werden kann, dann hätte Velázquez während der Arbeit diese Geste revidiert. Indem jedenfalls der linke Arm jetzt herabgenommen ist, den Hut und den Feldherrenstab haltend, gerät vor der lichten Zone des Mittelgrundes der Stadtschlüssel, den Justinus von Nassau überreichen will, deutlicher in den Blick. Das markante Zeichen der Niederlage, das dem Feind die Tore öffnet, wäre demonstrativ herausgestellt. Keine der zeitgenössischen Schrift- und Bildquellen, welche die wirkliche Begegnung schildern, erwähnen indes eine Übergabe von Stadtschlüsseln.11 Doch der Hofdichter Calderón hatte bereits in der Schlussszene seines Schauspieles zur Kapitulation von Breda auch die Aushändigung des Schlüssels ins Spiel gebracht. Es handelt sich hier um einen archaischer Unterwerfungsakt, den auch Velázquez effektvoll im kompositorischen Zentrum seines Gemäldes zur Geltung bringt. Wohl die wichtigste gesicherte Änderung einer ersten Anlage des Bildes bestätigt diese Tendenz. Velázquez hat die Lanzen, die zunächst kürzer und vielleicht von Fahnen verdeckt waren, in der Endfassung verlängert und zu dem charakteristischen Gitterwerk im Hintergrund erweitert, das dem Gemälde auch den Namen »Las Lanzas« eingebracht hat.12 Diese Lanzen waren der Schrecken aller europäischen Schlachtfelder. Ihre Träger traten als »tercios«, als Blöcke von bis zu 3.000 Soldaten auf und wurden dadurch zusammengehalten und diszipliniert, dass Offiziere in sie integriert waren. In geometrischen Formationen und von Reiterei begleitet, walzten diese Waffenwände alles nieder, was sich ihnen entgegenstellte.13 Im Bild des Velázquez werden die aufgepflanzten Lanzen von Soldaten präsentiert, die als einzige auf spanischer Seite ihre Hüte nicht abgenommen haben. Den formierten Lanzen der Spanier stehen auf holländischer Seite vereinzelte Piken und Hellebarden mit hängenden Wimpeln gegenüber. Lediglich vier der spanischen Lanzen weichen von der allgemeinen Linie ab, eine visuelle »Störung«, die aber zugleich den Eindruck eines Eigen-

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willens in die Formation der Eskorte bringt.14 Die Lanzenreihe setzt sich im Mittelgrund fort und unterlegt so optisch die Schlüsselübergabe der beiden Männer mit einem aktiven Auftritt der spanischen Militärmacht. Dabei ragen die Lanzen der Soldaten hinter Spinola diszipliniert senkrecht hoch und treiben die Truppen des Oraniers so vor sich her, dass deren Fahne sich zum Nacken des Justinus von Nassau niedersenkt. Auch aus der ferneren Bildtiefe weht eine Siegerfahne von einer eingenommenen Bastion her genau über dem Haupt des Besiegten. Ein weiteres Indiz für eine durchaus rigorose Auffassung der Szene ergibt sich aus dem Bericht, Justinus von Nassau sei mit seiner Familie, mit Frau und Söhnen, vor den spanischen Sieger getreten.15 Eine Frau tritt im Gemälde allerdings nicht auf, doch der sinnierende, weiß gekleidete junge Mann unter den Holländern könnte einer der Prinzen sein.16 Auf die familiäre Komponente hat Velázquez vielleicht deshalb verzichtet, weil sie dem bellikosen Charakter des Saales widersprochen hätte. Es ist üblich, den humanitären Gehalt des »abrazo«, der freundlichen Umarmung, im Gemälde von Velázquez aus dem Gegensatz zu dessen Nebenbild zu deuten, in dem Jusepe Leonardo die Übergabe der Schlüssel der Stadt Jülich an den gleichen Ambrogio Spinola schildert: Der Sieger sitzt auf dem Pferd, vor ihm kniet der gedemütigte Gegner auf dem Boden (Abb. 68).17 Kaum eine Würdigung des Bildes von Velázquez verzichtet darauf, diesen gnadenlosen Unterwerfungsakt dem noblen Gestus des Großmuts vor Breda gegenüberzustellen. Der Vergleich verliert jedoch etwas an Überzeugungskraft durch die Tatsache, dass im Hintergrund des Gemäldes von Leonardo gezeigt wird, wie die spanischen Truppen den aus der Festung herauskommenden besiegten holländischen Truppen zu Ehren in gestaffelten Formationen antreten.18 Was bei Velázquez den Anführern vorbehalten ist, die Respektbezeugung des Gegners, wird im Bild Leonardos als kollektives Verhalten der Truppen vorgeführt und damit gleichsam eine spanische Nationaleigenschaft. Es war also durchaus möglich, dass eine zeitgenössische, spanische Rezeptionshaltung in dem Bild zuerst die Macht und Unüberwindlichkeit der »Lanzas«, das Vorführen einer Art spanischer Wunderwaffe, wahrgenommen hat; eine Machtkulisse, vor der sich ihr Anführer einigen Edelmut leisten konnte. Die holländischen Soldaten mit ihren Hellebarden, die von düsteren Rauchwolken aus der Landschaft hinterfangen werden, diskutieren den Vorgang, wirken aber wie eine Ansammlung von Einzelkämpfern. Wer das Bild mit diesen Augen sieht, wird bemerken, wie bäurisch die Stiefel der Holländer gegen die schmiegsamen Lederstiefel der Spanier aussehen und wie dieser kulturelle Kontrast in dem Unterschied zwischen den Stiefeln der beiden Anführer zugespitzt ist.19 Der Gegensatz zeigt sich auch darin, dass Spinola Handschuhe trägt, während Justinus von Nassau den Schlüssel mit bloßen Händen überreicht. Dabei steht Spinola auf einem Rasenstück wie auf einem Teppich, den der aus dem Staub herantretende Gegner gerade einmal berühren darf. Die Besucher des Salón de Reinos, die in den übrigen Bildern eine ruppig behauptete Überlegenheit der spanischen Feldherren in aller Welt vorgeführt bekamen, konnten sich mit dem Bild des Velázquez nicht nur durch die kompakte Disziplin, welche die Lanzen und

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68 Jusepe Leonardo: Die Übergabe von Jülich, 1634, Öl auf Leinwand, 307 × 381 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado

ihre Träger signalisieren, sondern auch durch die lässige Vornehmheit, die ihre Militärs im fernen Flandern an den Tag legen, auf eine militärische und kulturelle Überlegenheit der Spanier gegenüber den holländischen »Rebellen« und »Ketzern« hingewiesen sehen. Es mussten wohl Generationen kommen, die ganz andere Siege und Niederlagen erlebt hatten, um den einen Griff des Armes, den Spinola gegenüber Justinus von Nassau vollzieht, als Hauptsinn dieses Bildes und als »eine der menschlichsten Gefühlsregungen« in der Kunst des Velázquez zu empfinden.20

VOM POLITISCHEN ZUM ÄSTHETISCHEN KONTEXT Seit 1772 wurde das Bild des Velázquez im neu erbauten Königsschloss präsentiert, war also seinem ursprünglichen zyklischen Kontext entzogen, und gelangte von dort 1819 in den Prado, wo es sich noch heute befindet. Damit konnte das Gemälde »die Wellenkreise der Gedanken, die es anregt« in eine ganz andere Richtung bewegen.21 Es sollte nun, am

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Ende des 18. Jahrhunderts, zum Hauptwerk eines Malers werden, der neu entdeckt wurde. Längst hatte man in Spanien keinen Grund mehr, auf Schlachtenruhm stolz zu sein. Besonders deutlich wird dies in einer Bemerkung von Anton Raphael Mengs, der nach seiner Übersiedlung an den Madrider Hof viel für die Wiederentdeckung der spanischen Malerei geleistet hat: Für ihn zeigte 1777 die Übergabe von Breda durchgehend die hohe Meisterschaft ihres Malers, »nur den Schaft der Lanzen ausgenommen«.22 Dieses Urteil vermag den Symbolwert der Lanzen für den spanischen Nationalstolz nicht mehr nachzuvollziehen. Die Schriftsteller und Inventare des 18. Jahrhunderts wussten gar nicht, um welches Ereignis es sich in dem Bild handelt.23 Die Übergabe von Breda stand nicht länger für das Selbstbewusstsein einer siegesgewissen Monarchie, welche im Dreißigjährigen Krieg das spanische Weltimperium zu erhalten versucht hatte. Mit der Überführung in das Museum geriet das Bild in einen Bezug zur stillen Welt der Meninas, zu den bedauernswerten Zwergen und Narren, zum Werkraum der Spinnerinnen oder zu den stolzen Reiter- und Ganzfigurenbildnissen der Prinzen, Prinzessinnen, Minister und Könige. Es war jetzt möglich, »Las Lanzas« in die Stilentwicklung des Künstlers einzuordnen, man konnte nachvollziehen, wie Velázquez von einer realistischen Vergegenwärtigung der Alltagswelt, die er in Sevilla gelernt hatte, nach seinem Übertritt an den Hof zu Madrid 1625 und nach zwei Italienreisen, zu einem bunteren und helleren Stil fortschritt, der die Farben flüssiger und flockiger aufgetragen zeigt; wie er am Hof des Königs von den Bildern Tizians eine feierliche Farbstimmung, dann von den Bildern Rubens’, der ihn im Jahre 1628 auch persönlich besuchte, eine bewegte und lebendige Figurenwelt nahegelegt bekam. Die Isolation oder Umwidmung der Übergabe von Breda hat allmählich die koloristischen Abstufungen, von handfesten Lokalfarben im Vordergrund bis zur luziden Leichtigkeit der panoramatischen Landschaft im Hintergrund, dem Auge zugänglich gemacht. Nachdem die Impressionisten Velázquez zu ihrem Ahnen erklärt hatten, offenbarte das Bild für eine formal argumentierende Kunstwissenschaft seine ästhetischen Qualitäten, die in Deutschland von Heinrich Wölfflin prägnant aufgezeigt wurden.24 Wie in Stein gehauen wirken die Worte Carl Justis, nachdem er in seiner unübertroffenen Monographie von 1888 die historischen Umstände der Entstehung des Bildes aufgearbeitet hatte: »Wenige Historienbilder enthalten so wenig Geistloses (d.h. Phrase und Schablone); an wenige ist soviel Geist (künstlerisch und menschlich) gewandt worden; wenige geben soviel zu denken, und noch wenigere lassen wie dieses einen Künstler von wahrem Geistesadel erkennen.«25 Je mehr man vom Kunstwerk auch expressive Leistungen erwartete, die es in eine Sphäre letztgültiger Wahrheiten heben sollten, umso mehr konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf ein einziges Motiv. Die Mittelzone des Bildes, in der sich Justinus von Nassau und Ambrogio Spinola begegnen, wurde fast zu einer Chiffre isoliert. Man leitete aus der Tatsache, dass Velázquez auf seiner ersten Italienreise 1629 im gleichen Schiff wie Spinola gefahren war, die sympathetische Nähe von dessen Erscheinung und Physiognomie ab. Der Gestus, den Spinola mit dem rechten Arm zu seinem Gegner hin vollzieht, wird

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69 Unbekannter Graphiker: Concordia, aus Andrea Alciatus: Emblematum libellus, Paris 1542, Nr. XXVII

zum Symbol eines humanen Ethos. Die Forschung versuchte diesem Gehalt über Embleme historisch auf die Spur zu kommen.26 Velázquez selbst besaß eine Ausgabe der Emblemata des Alciato, die seit 1521 zahllose Neuauflagen und Übersetzungen erlebt hatte. Unter dem Motto »Concordia« zeigt die Pictura des Emblems zwei Heerführer aus dem Bürgerkrieg, die eine iunctio dextrarum vollziehen, einander also zur Versöhnung die Hand reichen; in der Pariser Ausgabe von 1542 nimmt sich einer auch den Hut vom Kopf (Abb. 69). Bei allen profanen Vorprägungen, die man bisher namhaft gemacht hat, fehlte der »abrazo« jene freundschaftlich auf die Schulter gelegte Hand, die General Spinola zur Bekräftigung seiner

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Hochachtung für den Gegner gebärdensprachlich einsetzt. Da man diesen Gestus jedoch in religiösen Szenen nachweisen konnte, lud er sich der Forschung zu einer sakralen Handlung auf.27 Je weniger die Bildtradition die Begegnungsszene entschlüsseln konnte, umso mehr blieb deren humaner Gehalt ein persönlicher Charakterzug des Künstlers allein: »Die eigene Ritterlichkeit des Künstlers schafft ein malerisches Denkmal des stolzen und noblen Geistes der spanischen Armee.«28 Das Bild geriet damit nachgerade zu einer »Lehre der Menschlichkeit« des Künstlers.29 Doch der Gestus der Achtung vor dem Gegner ist weniger der moralischen Einstellung eines friedliebenden Hofmalers zu verdanken als einer ritterlichen Haltung, die von einem jeden souveränen Sieger erwartet wurde. Kurz vor dem Fall der Festung Breda verstarb Mauritius von Nassau, der eigentliche spiritus rector der holländischen Verteidigung. Auf ihn verfasste der deutsche Dichter in englischen Diensten Georg Rudolf Weckherlin ein Trauergedicht, in dem es heißt, Mauritius sei »gütig gleich nach dem Streit« und es sei »sigen verzeihen und bewahren seiner arbeit süße Frucht«.30 Demnach war die Haltung, die Spinola im Bild von Velázquez für Spanien an den Tag legt, in der Vorstellungswelt des gegnerischen Lagers ebenfalls üblich. Der für Spanien maßgebliche politische Theoretiker Saavedra Fajardo, dessen Emblemwerk Velázquez in seiner Bibliothek hatte, widmet ein ganzes Kapitel der Strategie, dem Krieg durch Schonung des Gegners den Segen des Friedens abzugewinnen. Er weiß zahlreiche Zitate, vor allem aus Tacitus, dafür beizubringen, dass »glücklich derjenige Krieg verlaufen ist, den man mit Gnade (misericordia) und Vergebung (perdón) beendet hat«, denn »dem Feind begegnet man mit Tapferkeit (valor) und mit Güte (benignidad)«.31 Velázquez hat den chevalleresken Gedanken, wonach dem tugendhaften Feind Achtung und Ehre gebührt, mit seinem Historienbild angemessen ins Bild gesetzt und jener ethischen Norm eine anschaulich und ästhetisch so überzeugende Form gegeben, dass sie als eine selbstverständliche und spontane Handlungsweise vor Augen steht. Er greift jedoch damit eine durchaus geläufige Geste auf: In einem Bild von Hans Vredeman de Vries beispielsweise, das die Einnahme Antwerpens durch die Spanier 1585 allegorisch als Friedenstat auslegte und im Sinne jener ritterlichen Tradition eines großherzigen und gnädigen Entgegenkommens der Sieger feierte, werden solche Versöhnungsakte in Form von Begrüßungen, Händeschütteln und Umarmungen über das ganze Bild hin zelebriert: »Versöhnung überall« (Abb. 70).32 Die scheinbar isolierte Chiffre der anerkannten gegnerischen Tugend im unteren Bildbereich der Übergabe von Breda lässt sich als eine Sinnfigur des Gesamtbildes verstehen. Marc Fumaroli begreift den vorderen Handlungssektor als die prosaische, von der Gegenwart und deren Ereignissen bestimmte Bildregion, über die eine obere Sphäre angelegt ist, die einen allgemeinen Sinnhorizont eröffnet.33 Tatsächlich hat Velázquez weder vorher noch nachher die Welt der Realien vor einem so großen und weiten landschaftlichen Panorama ausgebreitet. Durch diese Erweiterung erhält das Alltagsgeschehen einen farblich und räumlich vermittelten Weltbezug. Denn die Ereignisebene des Vordergrundes ist mit der Landschaft des Hintergrundes strukturell verbunden: Durchgezogene horizontale

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70 Hans Vredeman de Vries: Allegorie auf die Übergabe von Antwerpen durch Alessandro Farnese an Philipp II. im Jahre 1585, 1586, Öl auf Leinwand, 155 × 216 cm, Antwerpen, Stadsarchief

Streifen weisen der Haupthandlung und dem durchgestalteten Kriegsschauplatz im Mittelgrund etwa zwei Drittel und den Bergzügen sowie dem Himmelsstreifen ein letztes Drittel der Bildfläche zu. Den miteinander verhandelnden, kompakt gegeneinandergestellten, durch Lokalfarben und feste Umrisse dem Betrachter nahegerückten und greifbar gemachten Männergruppen ist eine vom Horizont aufsteigende, in bläulicher Luftperspektive erstrahlende Ferne hinterlegt; dem geschäftigen Alltagsgeschehen in der Gegenwart wird eine verklärte Überblickslandschaft beigeordnet. Durch die Landschaft treiben Winde die Wolken am Himmel sowie die Rauchwolken, die aus Siegesfeuern oder Salven aufsteigen, dergestalt über die Gegenden hin, dass sie mit Figuren im Vordergrund, mit der Beugung des Justinus von Nassau etwa, mit der spanischen Feldfahne rechts oder mit dem Pferdeleib vorn rechts zusammenstimmen.

PROBLEME DES EREIGNISBILDES Es ist immer wieder festgestellt worden, dass die Übergabe von Breda in der Geschichte des Historienbildes eine besondere Stellung innehat: Kurt Gerstenberg hat 1957 geäußert,

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es handle sich um »das erste reine Geschichtsbild der neueren Malerei Europas«.34 Werner Hager hatte das Bild 1939 als »das größte Geschichtsbild des christlichen Zeitalters« bezeichnet, mit dem das realistische, von allen Glaubensbindungen emanzipierte Ereignisbild begründet war.35 Ein Werk dieser Gattung wird dabei als ein auf einen Moment der Zeitgeschichte verkürztes Historienbild aufgefasst. Wenn aber die Übergabe von Breda mit Rücksicht auf die Nachbarbilder eine rigidere Revision erfahren hat, wenn die Gegenwart von Frau und Kind gegen die historische Wahrheit »verschwiegen« wird, wenn die wechselseitige Ehrerbietung unter den Protagonisten, die so nie stattgefunden hat, einem ritterlichen Normencodex entspricht, wenn der Komposition emblematische oder gestische Vorprägungen zugrundegelegt werden können, dann ist in gleichem Maße das historische Ereignis selbst neutralisiert, ja, verfremdet, und das Bild in seinem Dokumentationswert entleert. Wir stehen vor einem gattungstheoretischen Problem. Ivan Nagel hat die kunstwissenschaftlichen Operationen, die der Historie selbstverständlich mit dem Modus der Erzählung begegnen, überzeugend in Frage gestellt. Der Erzählmodus verwandelt seine Themen in vergangene, distanzierte, bewältigte Abläufe: Ihr Grundtenor ist das »Es war einmal«, doch Nagel erkennt in der neuzeitlichen Historienmalerei eine Struktur, die dem präsenten, dramatisierenden Anspruch »Es ist« entspricht.36 Die dramatische Kunst gibt das historische Ereignis als ein reales, jetziges Geschehen wieder; die Erschließung perspektivischer Handlungsräume in der neuzeitlichen Malerei stellt »Bühnen« bereit, auf der historische Figuren eine Vergegenwärtigung realisieren können. Dieser paradigmatische Blickwechsel von der erzählenden zur dramatischen Darbietung liegt im Falle der Übergabe von Breda nahe: Das Bild bringt ja die Schlussszene von Calderóns Stück El sitio de Breda ins Bild. Dies ist in der kunstwissenschaftlichen Literatur gelegentlich zum Ausdruck gebracht worden, so wenn es bei Victor I. Stoichita heißt: »Alles Geschehen ist dramatisch auf einen Punkt konzentriert«.37 Diese dramatische Zuspitzung, die nicht zuletzt durch den »abrazo« geschieht, wird gleichsam von einem Bühnenbild hinterlegt und zu allgemeiner Aussage gesteigert. Kaum eine Deutung des Bildes, die nicht den Satz zitiert, mit dem bei Calderón der Sieger den Besiegten begrüßt: »Justino, yo las reçibo, / y conozco que baliente / sois; que el balor del benzido / haze famoso el que benze« (Justinus, ich nehme die Schlüssel entgegen, und ich weiß wie tapfer Ihr seid; die Tapferkeit des Besiegten macht den Ruhm des Siegers aus). Seltener wird bemerkt, dass Spinola mit dieser Rede vornehm übergeht, was zuvor Justinus bei der Schlüsselübergabe gesagt hatte: »Que no ay temor que me fuerze / a entregarla, pues tubiera / por menos dolor la muerte. / Aquesto no ha sido trato, / sino fortuna, que buelve / en polbo las monarquias más altibas y exçelentes« (Es ist nicht Furcht, die mich zwingt, den Schlüssel zu übergeben, denn weniger Schmerz hätte ich vom Tod. Dieses war nicht ein Verrat, sondern es war Fortuna, welche die größten und hervorragenden Königreiche zu Staub verwandelt).38 Damit legt Calderón dem Gegner in den Mund, was viele seiner spanischen Zeitgenossen empfanden: Das Königreich Spanien steht am Rande des Abgrundes. Und der nach Breda bald enttäuschte und gedemütigte General mag

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es dem Maler während der gemeinsamen Überfahrt nach Italien bestätigt haben. Indem Spinola in Calderóns Drama die harte Prophezeiung des Holländers überhört und sogar mit einem Kompliment beantwortet, bestätigt er dessen Aussage.39 Es ist wahrscheinlich, dass dem Hofmaler dieser Schlussdialog des Hofdichters über das Schicksal der Weltreiche noch im Ohr klang, als er die beiden Feldherren sich vor einem Weltpanorama in die Augen sehen ließ. Er hat die Reaktion Spinolas noch dadurch bekräftigt, dass er ihn dem Gegner mit versöhnender Geste gegenübertreten ließ.

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DER AUGENZEUGE GERARD TER BORCH UND »DER SCHWUR AUF DIE RATIFIKATION DES FRIEDENS VON MÜNSTER« Karin Gludovatz

Die konfessionelle Spaltung, die seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts die religiöse Ordnung Europas erschütterte, zeitigte zwangsläufig auch Auswirkungen auf die politischen Verhältnisse. In besonderem Maß waren davon die Niederlande betroffen, ging dort der Glaubenskonflikt doch mit einer generellen Unzufriedenheit einher, die sich gegen den in Madrid residierenden und nicht nur räumlich denkbar fernen Herrscher richtete: Philipp II. hatte 1555 von seinem Vater Karl V. das spanische Erbe der Habsburger übertragen bekommen, das auch die siebzehn niederländischen Provinzen umfasste. Fortan war der König aufgrund seiner zentralistischen Politik, seiner Unvertrautheit mit der niederländischen Kultur und seiner rigiden Ablehnung des Protestantismus auf den zunehmenden Widerstand der Bevölkerung gestoßen. Ab 1560 kam es in den Provinzen zu bewaffneten Aufständen, und Philipp II. reagierte darauf mit der Entsendung des Herzogs von Alba. Dieser schlug die Rebellion mit kaum zu überbietender Härte nieder und errichtete, gestützt auf seine Soldaten, ein repressives Regime, in dem der »Raad van beroerte« (»Rat der Unruhen«) über jeden noch so geringen Verstoß gegen das Hoheitsrecht des Königs befand und drakonische Strafen verhängte. Die wenigen Jahre von Albas Statthalterschaft (1567–1573) führten unweigerlich in einen schließlich Jahrzehnte währenden Konflikt zwischen Spanien und den niederländischen Provinzen, der als Achtzigjähriger Krieg in die Geschichtsschreibung einging und in dessen Verlauf es endgültig zur Teilung der Niederlande kam. Nachdem sie sich bereits 1579 als »Unie van Utrecht« (»Utrechter Union«) konsolidiert hatten, sagten sich die nördlich gelegenen Länder 1581 von Philipp los, um 1588 die Republik der Vereinigten Niederlande zu gründen, der ab 1595 die sieben Provinzen Holland,

171 | Der Augenzeuge

Seeland, Utrecht, Gelderland, Overijssel (inklusive Drenthe), Friesland und Groningen angehörten. Mit Ausnahme eines zwölfjährigen Waffenstillstands (1609–1621) kam es im Verlauf dieser acht Jahrzehnte immer wieder zu Kampfhandlungen, denn weder war Spanien bereit, die wirtschaftlich prosperierenden und strategisch günstig gelegenen Besitzungen aufzugeben, noch wollte die Republik sich länger einer Fremdherrschaft und deren politischer, religiöser und ökonomischer Kontrolle fügen. Eine berechtigte Hoffnung auf Frieden zeichnete sich erst ab, als Kaiser Ferdinand III. 1641 Verhandlungen mit Frankreich und Schweden aufnahm, um seinerseits die seit 1618 andauernden Kämpfe innerhalb des Heiligen Römischen Reichs zu beenden. In dem so genannten Dreißigjährigen Krieg, der vornehmlich auf deutschen Gebieten ausgetragen wurde, ging es um die hegemoniale Stellung des Reichs und mithin des Kaisers innerhalb Europas sowie um den Vorrang der katholischen Religion gegenüber den Kirchen der Reformation. Als Orte der Friedenskonferenz wurden die westfälischen Bischofsstädte Münster und Osnabrück gewählt und für neutral erklärt. Die Republik der Vereinigten Niederlande erhielt die Einladung, an den Verhandlungen teilzunehmen, ohne direkt an dem Konflikt mit dem Kaiser beteiligt gewesen zu sein, doch agierte sie als Verbündete Frankreichs sowie als Gegnerin Spaniens, das wiederum mit dem Kaiser alliiert war. Die niederländischen Generalstaaten willigten in die Teilnahme ein, formulierten jedoch klare Bedingungen: So sollten der spanische König, der Kaiser und alle anderen Staatsoberhäupter die Souveränität jeder der sieben Provinzen anerkennen, sie verlangten ferner einen angemessenen Stand in der Rangfolge der Staaten, analog dem der Republik Venedig, sowie eigenes Sprachrecht, um Einmischungen des Bündnispartners Frankreich vorzubeugen.1 Unter diesen Voraussetzungen und auf der Grundlage jener Punkte, die bereits im Waffenstillstand von 1609 genannt worden waren, konnte ein Vertrag zwischen Spanien und den Niederlanden ausgehandelt werden, der schließlich am 30. Januar 1648 von den jeweiligen Delegierten unterzeichnet wurde. Der Frieden war damit allerdings noch nicht letztgültig besiegelt; zunächst mussten die Gesandten das Papier dem König in Madrid beziehungsweise den Generalstaaten in Den Haag vorlegen und von diesen ratifizieren lassen. Danach kehrten sie mit den Urkunden nach Westfalen zurück, wo am 15. Mai 1648 im Ratssaal von Münster die Ratifikationen von den Gesandten beeidet wurden: der finale Akt eines langwierigen Verhandlungsprozesses und einer noch viel längeren Auseinandersetzung.

DOPPELTE AUGENZEUGENSCHAFT Angesichts der Vorgeschichte lässt sich ermessen, welche Bedeutung diesem Ereignis zugebilligt wurde: Aus Sicht der niederländischen Republik war damit endlich die mit allen Mitteln angestrebte Unabhängigkeit durchgesetzt, für die spanische Seite fand ein zermürbender Konflikt sein Ende, und gesamteuropäisch konnte der spanisch-niederländische Separatfrieden als positives Vorzeichen für den baldigen erfolgreichen Abschluss der gene-

172 | Karin Gludovatz

71 Gerard Ter Borch: Der Schwur auf die Ratifikation des Friedens von Münster, 1648, Öl auf Kupfer, 45,4 × 58,5 cm, Amsterdam, Rijksmuseum

rellen Verhandlungen gewertet werden, der für die übrigen Parteien erst im Oktober 1648 erreicht war. Der Schwur auf die Ratifikation des spanisch-niederländischen Friedens fand Darstellung in einem kleinen, auf Kupfer gemalten Ölbild (Abb. 71).2 Dies ist zwar angesichts seiner historischen Bedeutung nicht verwunderlich, aber dennoch bemerkenswert, da – gemessen an der immensen künstlerischen Produktion – nur wenige holländische Gemälde des 17. Jahrhunderts sich zeitgeschichtlichen Geschehnissen widmen. 75 Personen sind in dem Ratssaal gruppiert, unter ihnen auch der Maler des Bildes: Auf der linken Seite, vom Bildrand überschnitten, blickt Gerard Ter Borch dem Betrachter entgegen. Ter Borch war Niederländer, aus der Provinz Overijssel gebürtig, und hatte in den dreißiger Jahren Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien bereist, wie Arnold Houbraken überliefert.3 Nach seiner Rückkehr war er vermutlich in Amsterdam ansässig. Mit seinen frühen Arbeiten machte sich Ter Borch vor allem als Porträtmaler einen Namen, während er in seinen späteren Jahren auch als Maler von Genrebildern reüssierte. Ende des Jahres 1645 war er im Gefolge des holländischen Gesandten Adriaen Pauw nach Münster gekommen,

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konnte er doch darauf hoffen, unter den dort zahlreich versammelten Diplomaten und Aristokraten potentielle Auftraggeber für Bildnisse zu finden, weshalb ihm die Stadt nicht nur als politisch interessanter, sondern auch als lukrativer Ort erschienen sein wird.4 Seine Erwartungen dürften sich erfüllt haben, denn er blieb beinahe drei Jahre, während der er Porträts sowohl von Niederländern als auch von Spaniern anfertigte und schließlich als fulminanten Abschluss seines Aufenthalts das besagte Gruppenbildnis malte. Allerdings wandte sich Ter Borch 1647 dem Grafen von Peñaranda zu, dem Prinzipialgesandten Spaniens, und trat in dessen Dienst.5 Dieser »Seitenwechsel« mag zunächst irritieren, spricht jedoch dafür, dass die Situation in Münster wohl weniger durch klar definierte Fronten bestimmt war, als vielmehr durch vielseitige Beziehungsgeflechte, innerhalb derer sich zu bewegen diplomatisches Geschick erforderte. In der Literatur wird sogar vermutet, Adriaen Pauw, der den Friedensschluss mit vollem Einsatz vorantrieb, hätte den Maler dem zur Melancholie neigenden Grafen gewissermaßen »überlassen«, um den wichtigsten Verhandlungspartner dergestalt zu erfreuen und ihm gewogen zu halten.6 Nun mag die Vorstellung solch »heilsamer« und vermittelnder Wirkung von Kunst zwar mythisch aufgeladen sein, doch ähnliche strategische Missionen, in denen Künstler zum Gegenstand politischer Verhandlungen gerieten, sind für die Frühe Neuzeit durchaus belegt, man denke – als vielleicht bekanntesten Fall – an Gentile Bellini, der auf Ersuchen des osmanischen Sultans von der venezianischen Signoria 1479 nach Konstantinopel geschickt wurde.7 Die Wertschätzung des Grafen für Ter Borch zeigt sich jedenfalls schon an dem Umstand, dass er ihn als einen von insgesamt nur zwölf »gentiles-hombres« seines Gefolges führte.8 Der Maler könnte indes auch selbst Interesse an einer Aufnahme in die spanische Delegation gehabt haben, hatte er doch, wie erwähnt, in den dreißiger Jahren Spanien bereist und bei dieser Gelegenheit möglicherweise sogar ein – nicht mehr erhaltenes – Gemälde Philipps IV. angefertigt, wie die ältere Literatur vermutet.9 Sein Interesse an Spanien wird freilich primär künstlerisch motiviert gewesen sein, die Auseinandersetzung mit der Porträtmalerei von Velázquez zeigt sich jedenfalls in jenen Bildnissen deutlich, die nach seiner Rückkehr entstanden. Evident ist der Rekurs auf den spanischen Künstler vor allem in der Positionierung der Figuren in undefinierten, allein aus wenigen farblichen Abschattierungen gewonnenen Bildräumen. In Münster entstanden im Verlauf von Ter Borchs Aufenthalt Brustbildnisse einiger zentraler Protagonisten der Friedensverhandlungen, etwa seiner Dienstherren Adriaen Pauw und des Grafen von Peñaranda (Abb. 72), aber auch von Godard van Reede van Nederhorst (Repräsentant Utrechts), Eleazer Lootius (Prediger der niederländischen Gesandtschaft) oder des Juristen Caspar van Kinschot, dem jüngsten Mitglied der niederländischen Delegation. Die meisten dieser Herren finden sich auch in dem Gruppenporträt wieder und konnten anhand von Ter Borchs Bildnissen und einer Stichserie von Anselm van Hulles identifiziert werden.10 Die Gesandten bilden das Zentrum der Gruppe, das durch den runden Tisch im Vordergrund betont wird: Exakt in der Mittelachse des Bildes ist Barthold van Gent platziert, der Vertreter Gelderlands, die niederländische Ausführung des Vertrags in

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72 Gerard Ter Borch: Don Caspar de Bracamonte y Guzmán, Graf von Peñaranda, 1647–1648, Öl auf Kupfer, 10,5 × 9 cm, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen

seiner Linken, die Rechte zum Schwur erhoben. An ihn schließen sich, gleichfalls mit Schwurgestus, die übrigen Niederländer an: Jan Mathenesse (Holland und Westfriesland), Adriaen Pauw (Holland), Adriaen Clant van Stedum (Groningen), Frans van Donia (Friesland) und Willem van Ripperda (Overijssel). Die Gruppe der spanischen Delegierten ist leicht aus der Mitte nach rechts verschoben; Johannes Cuyermans, Vertreter der burgundischen Erblande hält dem Grafen von Peñaranda den spanischen Vertrag vor, der Graf und Antoine Brun, der zweite Bevollmächtigte Spaniens, haben jeweils ihre Rechte auf die geöffnete Bibel gelegt, die ihnen von Don Miguel Lopez de Barnuevo, dem ersten Kaplan der spanischen Gesandtschaft, gereicht wird. Ter Borch scheint sich in der Darstellung der Schwurzeremonie sehr genau an deren Einzelheiten gehalten zu haben, zumindest überliefert der 1650 publizierte, auf der Basis

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73 Gerard Ter Borch: Selbstbildnis, um 1667–1670, Öl auf Leinwand, 61 × 42,5 (beschnitten), Den Haag, Mauritshuis

von Tagebuchnotizen, Briefen und Pamphleten verfasste Bericht des Historikers Lieuwe van Aitzema ein ganz ähnliches Szenario: »[Dann] wurde durch den Priester des Grafen Peñaranda vor diesem und dem Herrn Brun ein großes Buch mit samtenen Einband, das Evangelium, hochgehalten, auf dem ein silbernes Kreuz lag. Beide spanischen Verhandlungsführer standen nebeneinander und hatten die rechte Hand auf das silberne Kreuz gelegt. Dann verlas der Graf Peñaranda die Eidesformel in spanischer Sprache, und als er zu der Passage kam, in der Gott als Richter angerufen wurde etc. hoben die beiden Herren die rechte Hand und küßten das Kreuz. Dies war die feierlichste Stelle des Eides, der der Ordnung entsprechend geleistet wurde. Darauf wurde durch den Grafen Peñaranda gefragt, ob die Herren Verhandlungsführer in Vertretung der Hochmögenden Herren in Überein-

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stimmung mit ihren Vollmachten den Vertrag beschwören würden. Diese antworten ›Ja‹, alle standen auf und erhoben die Schwurfinger. Dann verlas der Herr van Loenen die Eidesformel auf Französisch, und alle gemeinsam sagten ›Ainsi m’aude [m’aide] Dieu‹.«11 Aitzema beschreibt auch den Tisch mit der grünen Samtdecke und die Schatullen, in denen die Verträge verwahrt wurden: die flache, mit rotem Samt bezogene Schachtel der Niederländer und das mit Silberbeschlägen versehene Kästchen der Spanier, die prominent ausgestellt sind. Weiterhin hielt sich der Maler auch in der Wiedergabe des Interieurs akribisch an die Ausstattung des Ratssaals, die Holzvertäfelung, das Gestühl und der Leuchter mit einer Madonna im Strahlenkranz waren tatsächlich Bestandteile der zum überwiegenden Teil aus dem 16. Jahrhundert stammenden Einrichtung.12 Die durch Porträtvergleiche gewährleistete Wiedererkennbarkeit der Personen, die Originalnähe des dargestellten Raums und die Übereinstimmung mit den Beschreibungen in schriftlichen Quellen galten in der Literatur stets als Argumente, das Gemälde nicht nur als »Bild des Zeitgeschehens«, sondern spezifischer als »Augenzeugenbericht« zu deuten, wie es zudem die Anwesenheit des Malers nahe lege.13 Ter Borchs Augenzeugenschaft ist aber nicht nur ein historiographischer Mehrwert, sondern auch ein produktionsästhetisches Kriterium und wirft insofern allererst die Frage auf, wie der Künstler das, was er sah, wiederum den Betrachtern zu sehen gab, und wie er solcherart aus dem historischen Ereignis (eine) Geschichte machte. Die Augenzeugenschaft ist mithin in doppelter Weise angelegt: Der Maler setzt sich in seinem Selbstbildnis leibhaftig als Protagonist des Geschehens in Szene, und er figuriert – gleichsam entkörperlicht – in seiner Signatur als Produzent des Bildes. Auf der linken Wand, über dem Gefolgsmann Ter Borch, steht auf einer längsrechteckigen Tafel, die nur zu diesem Zweck angebracht ist, die Zeile »GT Borch F[ecit]. Monasterij [Münster, lat.] A 1648« zu lesen. Während Ter Borch im Bild in seiner Rolle als Zeitgenosse aufgeht und nur in Kenntnis seiner autonomen Selbstbildnisse, die allesamt aus späteren Jahren datieren (Abb. 73), überhaupt zu benennen ist, bleibt er in der Inschrift als Maler des Bildes greifbar, wobei er seine Autorschaft dezidiert an seine ehemalige Anwesenheit rückbindet, für die Ort und Jahr der Produktion ausdrücklich einstehen.14

DIE MEDIALISIERUNG DES HISTORISCHEN Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ter Borch mit diesem Gemälde die auktoriale Selbstinszenierung eines wesentlich älteren niederländischen Werks paraphrasiert: Jan van Eycks Doppelbildnis der Arnolfini von 1434 befand sich seit 1556 in Madrid, genauer im Alcázar, und sollte Ter Borch in seiner spanischen Zeit tatsächlich am Hof tätig gewesen sein, wird er dieses Bild eines damals bereits hochberühmten Malers gewiss gesehen haben (Abb. 74). Während van Eyck die schriftliche Bekräftigung seiner nun vergangenen Anwesenheit an die Rückwand des Raumes setzte (»Johannes de eyck fuit hic«), hielt er seine ehemals physische Präsenz durch ein Spiegelbild fest, das sich unmittelbar unter der Signa-

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74 Jan van Eyck: Doppelbildnis der Arnolfini, 1434, Öl auf Holz, 82 × 60 cm, London, National Gallery

turzeile befindet und ohne diese kaum als die Figur des Künstlers erkennbar wäre. In dieser Spannung von Nähe und Distanz, von Präsenz und Absenz in der medialen Differenz von Schrift und Bild lotete van Eyck das Vermögen künstlerischer Augenzeugenschaft aus, die nicht als Tatsachenbericht missverstanden werden sollte, sondern immer auch und vor allem ästhetischen Prinzipien folgt. Diese organisieren das Dargestellte und konstituieren über das Motiv hinausgehend Inhalte, was der »Wirklichkeit« der Darstellung keinen Abbruch tut. Im Gegenteil: In der Ästhetik des Bildgefüges wird die Medialisierung des Historischen mitreflektiert und in der Semantisierung des Ästhetischen entfaltet das Bild sein kommunikatives Potential.

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Ter Borch konkretisierte durch seine unmittelbare Anwesenheit im Bildraum van Eycks virtuelle Insertion in die Bildstruktur, die Funktion des »Spiegelauges« übernimmt nunmehr das Auge des Malers: Ostentativ wendet sich der dargestellte Ter Borch von dem Geschehen ab und einem nicht sichtbaren Gegenüber zu. Der Blick aus dem Bild galt den Kunsthistoriographen des 16. und 17. Jahrhunderts, etwa Karel van Mander, formelhaft als verlässliches Indiz für die Identifizierung integrierter Künstlerselbstbildnisse, was freilich auch in die Irre führen konnte. Dieses imaginäre Außen, das Ter Borch fokussiert, markiert jene Position, die der Maler eingenommen haben muss, um das Bildpersonal – vermutlich nur in seiner Vorstellung – entsprechend zu arrangieren, eine Position, die nunmehr der Betrachter besetzt. Ter Borch ist sich also selbst Modell, das als Augenzeuge des Ereignisses im Bild positioniert wird, um diese Augenzeugenschaft letztlich an den Betrachter zu delegieren, der sich wiederum – versichert durch die Signatur – an der Stelle des Malers weiß, womit eine nachvollziehende Schau suggeriert wird. Diese (Rück-)Bezüglichkeit versichert in ihrer Wechselseitigkeit die »Wirklichkeit« des Gesehenen, das heißt die Wirklichkeit sowohl des Ereignisses als auch des Bildes des Ereignisses, was in der Anschauung nicht voneinander zu trennen ist. Mit der Frage nach historischer Authentifizierung setzt das Konzept der Augenzeugenschaft gemeinhin aber zunächst auf der Ebene des Motivischen an. Die dargestellte Szene soll das Geschehen vergegenwärtigen, den entscheidenden Moment fixieren, bei dem es gilt, dabei gewesen zu sein, mit eigenen Augen gesehen zu haben und ihn demgemäß veranschaulichen zu können. Diesem Gemälde aber eignet weniger etwas Momenthaftes an, als es vielmehr von einer seltsamen Nachträglichkeit geprägt ist, die sich über ästhetische Inszenierung vermittelt: Der Erzähllogik des Bildes gemäß, die auf ein zentrales Ereignis fokussiert, musste Ter Borch die zeitlich nachgeordneten Eidesablegungen in seiner Komposition synchronisieren. Der verbürgte zeitliche Ablauf wird zugunsten einer Totalität der Darstellung aufgehoben; eine Entscheidung, die den Eindruck verstärkt, das Ereignis sei nachgestellt. Als Inszenierung erweist sich auch das raumgreifende Arrangement der Personen im flachen Bogen, wodurch die Gruppe deutlich nach vorn hin geöffnet und eben gleichfalls auf dieses nicht sichtbare Gegenüber ausgerichtet ist, für das offenbar das Ereignis ins Bild gesetzt wurde. Diese Form der Figurenkonstellation ermöglicht auch eine auf den ersten Blick egalitäre Ordnung der Personen im Mittelgrund, die in isokephaler Reihe, leicht versetzt stehen. Der innere Kreis der Gesandten richtet sich an dem runden Tisch aus und wird zudem durch den darüber hängenden Leuchter betont, den Ter Borch – wie Pentimenti anzeigen – zu diesem Zweck ein wenig nach links versetzte. Weiterhin betonen die im Hintergrund erhöht platzierten Bürgermilizen die Achsialität der Komposition. Die links und rechts vor der Vertäfelung aufgestellten Büsche und die auch an den Seiten erhöht stehenden Personen sind in ihrer Symmetrie ebenfalls an dieser Mitte ausgerichtet. Um die strenge Form aufzubrechen, durchsetzte Ter Borch die im Wesentlichen dunkel gewandete Gruppe mit hellen Farbwerten, etwa dem leuchtenden Rot, das den Sekretär von Antoine Brun kleidet und eine farbliche Entsprechung in dem unbekann-

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ten Mann am linken Rand findet, oder in der prachtvollen Uniform eines Mitglieds der Münsteraner Stadtwache, das die Stuhllehne umfasst und die auch am Leuchter wiederkehrenden Wappenfarben der Stadt trägt. Die ästhetische Ordnung der Gruppe zielt auf Einheit, die Personen fügen sich zu einer Formation, in der keiner der Protagonisten letztlich herausgehoben wird. Ter Borch stand dabei vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur eine große Anzahl von Männern auf relativ engem Raum zu vereinen, was als kompositorisches Mittel den Effekt der Einheit nur unterstützt. Er musste überdies in diesem Friedensbild Differenzen harmonisieren, die im Lauf der Verhandlungen immer wieder aufgebrochen waren. Das betrifft nicht nur solche zwischen den gegnerischen Parteien, sondern vor allem auch die internen Konflikte der Niederländer, die hier schon gekennzeichnet durch ihre einheitliche Kleidung als geschlossene Fraktion auftreten. Allein die Tatsache, dass zwei der Delegierten – wenn auch für den Betrachter nicht offensichtlich – fehlen, verweist auf die bis zuletzt währenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Republik.15 Der Delegierte Seelands, Johan van Knuyt, hatte sich auf Anweisung seiner Provinz gegen den Vertragsabschluss ausgesprochen, nachdem Seeland überhaupt erst als letztes der Länder einer Aufnahme der Verhandlungen zugestimmt hatte. Der Vertreter Utrechts, Godard van Reede, war als Parteigänger Frankreichs erklärter Gegner Spaniens und damit auch Adriaen Pauws, der maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Abkommens hatte. Subtil verweist Ter Borch auf dessen Engagement, indem Pauw, leicht aus dem Bild gewandt, seinen Blick ergriffen auf den spanischen Kaplan lenkt. Insgesamt ist die niederländische Delegation viel stärker durch eine Vielfalt der Haltungen und des Ausdrucks geprägt als die drei Vertreter Spaniens, die sich um die Bibel und das Kreuz gruppieren und mit dem Priester im feierlichen Ernst zu einer abgeschlossenen Einheit fügen. Diese vorsichtig formulierte Disparität der Niederländer veranschaulicht die individuelle Autonomie der Provinzen, auf deren Anerkennung die Generalstaaten bestanden hatten. Verbunden werden Spanier und Niederländer durch die Gleichzeitigkeit ihres Handelns, pointiert in der parallelen Anordnung der Verträge. Ter Borch bemüht sich formalästhetisch durchgängig um Ausgleich: Wenn er Barthold van Gent exakt in die Achse des mittig so stark betonten Bildes setzt, was diesen als zentrale Stütze des Unternehmens ausweisen und mithin einen Vorrang der niederländischen Delegation meinen könnte, so situiert er ihn zugleich unter der Madonna und über der Schatulle der spanischen Delegation, womit das Papier, das er in Händen hält, in ein »hispanisiertes« Bezugsfeld gesetzt ist. Die Marienstatue rekurriert auf die Verehrung der Gottesmutter und lässt sich damit für die Katholische Kirche reklamieren, doch just diese Figur ist ein Produkt nordalpiner gotischer Schnitzkunst und weist insofern zurück auf eine Zeit vor der Glaubensspaltung: Sie steht gleichsam für einen alle Personen einschließenden marianischen Segen, zumal Ter Borch die Figur massiv vergrößerte und so besonders augenfällig darstellte. Die Gruppe fügt sich nach außen zu einer Einheit, die im Inneren dennoch durch subtile Differenzierungen gekennzeichnet bleibt. Dies zeugt von des Malers guter Kenntnis der

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Verhältnisse, die wohl seinem langjährigen Aufenthalt in Münster sowie seiner doppelten Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gefolgschaften geschuldet war; in diesem Sinne abwägender Betrachtung darf man in ihm wohl tatsächlich einen verlässlichen Erzähler sehen.

GATTUNG UND FUNKTION Ter Borchs Gemälde vereint nicht nur diverse Parteien, sondern auch zwei Bildgattungen: Das Gruppenporträt, das in der holländischen Malerei einen hohen Grad an Elaboriertheit erlangte, und das Ereignisbild, das gemessen etwa an der Kunst der südlichen Niederlande im Norden weniger Resonanz erfuhr. Alois Riegl widmete ersterem eine umfassende Studie, in der er die Gattungsspezifika herausarbeitete, die sich auch in dem vorliegenden, an Personen so reichen Beispiel aufzeigen lassen.16 Obwohl auf ein zentrales Ereignis hin orientiert und als »Gemeinschaftskörper« formiert, bleiben die Protagonisten auf motivischer Ebene untereinander erstaunlich beziehungslos. Neben dem Maler wenden sich einige andere Männer aufmerksam nach außen und also an den Betrachter, der schon in der Ausrichtung der Szene deutlich adressiert, gewissermaßen demonstrativ in sein Recht gesetzt ist und im Prozess seiner Anschauung erst die »äußere Einheit« der Gruppe herstellt. Die ästhetischen Prinzipien, denen das Gruppenporträt folgt, wirken in diesem Fall auch auf die Konzeption des Historienbilds ein, welches das gemeinschaftliche Erleben eines denkwürdigen Ereignisses dem heroischen Akt einer historischen Tat vorzieht, der eben auch einen oder mehrere klar erkennbare »Helden« verlangt hätte. In diese Richtung deutet weiterhin das Format des Gemäldes, das mit 45,4 mal 58,5 Zentimetern sowohl für ein Gruppenporträt als auch für ein Ereignisbild denkbar klein ausfällt. So misst etwa Ter Borchs 1667 entstandene Darstellung der Stadträte von Deventer 186,2 mal 248 Zentimeter, obwohl es nur zwanzig Herren versammelt. Im Gegensatz zu den autonomen Bildnissen, die Ter Borch während seiner Zeit in Münster malte, war Der Schwur auf die Ratifikation des Friedens von Münster vermutlich kein Auftragswerk, zumindest gibt es keine Hinweise in diese Richtung.17 Doch dürfte das Gemälde innerhalb kurzer Zeit fertiggestellt gewesen sein, denn bereits am 9. Juli 1648, also knapp zwei Monate nach der Eidleistung, notierte der päpstliche Gesandte Fabio Chigi in seinem Tagebuch, er habe es vollendet gesehen.18 Ter Borch scheint zudem an einer raschen Verbreitung seiner Bilderfindung gelegen zu haben, da er bei dem Haarlemer Graphiker Jonas Suyderhoef einen Kupferstich in Auftrag gab, der spätestens 1650 vollendet war und in nahezu denselben Maßen ausgeführt wurde wie die Vorlage (Abb. 75).19 Der Stich erhielt eine ergänzende Bildunterschrift, die das Ereignis ausweist, lokalisiert und datiert sowie die Detailgenauigkeit und Lebensnähe der Darstellung garantiert.20 Ter Borchs Signatur wurde durch den Sinnspruch Pax optima rerum (Der Friede ist das Beste aller Dinge) ersetzt, der solcherart aus dem Bild gefallene Künstler tritt uns nunmehr nur als einer von vielen entgegen.

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75 Jonas Suyderhoef (nach Gerard Ter Borch): Der Schwur auf die Ratifikation des Friedens von Münster, 1650, Kupferstich, 43,9 × 57,7 cm

Alison McNeil Kettering nahm an, das Ölbild sei primär zum Zwecke seiner graphischen Reproduktion entstanden. Dafür würde die Wahl eines so kleinen Formats sprechen, und Ter Borchs Entscheidung, auf eine Kupferplatte zu malen, hätte in Maß und Materialität bereits das spätere druckgraphische Verfahren antizipiert. Dagegen aber steht der hohe Grad präziser Ausarbeitung, der ungewöhnlich wäre, wenn das Gemälde bloß als Vorlage hätte dienen sollen. Vielleicht war dies der ursprüngliche Plan, der im Produktionsprozess allerdings überholt wurde: Die Arbeit am Bild geriet zur Arbeit an der Geschichte. Die Wahl der unterschiedlichen Medien markiert vielmehr differente Konzepte von visualisierter Historizität. Das Gemälde bestimmt in seiner vieldimensionalen, zur Reflexion anleitenden ästhetischen Struktur den Anteil des Betrachters als wesentlichen Faktor der historischen Narration. Der in vielen Details, etwa den Gegenständen auf dem Tisch, artikulierter ausgefallene Stich mit seiner Insistenz auf Wirklichkeitstreue und Lebensnähe hingegen weist die didaktisch-anschauliche Darstellung als essentiell aus. Entsprechend verhielt es sich mit der Rezeption der Werke: Das kleine Gemälde war auf individuelle

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Anschauung angelegt und verblieb in Ter Borchs Atelier, angesichts seiner vermutlich absichtlich überzogenen Preisvorstellungen war es faktisch unverkäuflich.21 Dies spricht für eine besondere Wertschätzung, die der Künstler seinem gemalten Historienbild vielleicht aufgrund der Seltenheit vergleichbarer Werke zugestand und einmal mehr gegen eine ausschließliche Funktion als Vorlage. Der im selben Format allerdings groß ausgefallene Stich jedoch war im adäquaten Medium des holländischen Ereignisbildes auf weitreichende Distribution angelegt und fand regen Absatz. Diese öffentliche Version des Schwurs auf die Ratifikation des Friedens von Münster sollte mit allem Nachdruck die Faktizität jenes Ereignisses verbürgen, das einer der bis dahin verheerendsten Verwüstungen in der Geschichte Europas ein Ende gesetzt hatte.

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DIE PERSONALISIERUNG DER GESCHICHTE CHARLES LE BRUNS »PASSAGE DU RHIN« IN DER SPIEGELGALERIE VON VERSAILLES ZWISCHEN EREIGNIS UND MYTHOS Hendrik Ziegler

Der Rheinübergang der französischen Truppen am 12. Juni 1672 bei Tolhuys unter Führung Ludwigs XIV. ist schon von den Zeitgenossen des Sonnenkönigs als dessen spektakulärste militärische Aktion im sogenannten Holländischen Krieg gefeiert worden. Den Höhepunkt in der bildkünstlerischen Umsetzung dieses Ereignisses stellt eines der großformatigen Deckengemälde dar, die dessen premier peintre Charles Le Brun nach dem Ende des Krieges zwischen 1680 und 1684 für die gerade neu erbaute Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles ausführte (Abb. 76). Für den umfangreichen Bilderzyklus der Galerie, zu dem das durch eine Inschriftenkartusche mit Passage du Rhin en présence de l’ennemie, 1672 betitelte Gemälde gehört, entwickelte Le Brun eine neue Bildsprache: Ludwig XIV. steht – mit für jeden wiedererkennbaren porträthaften Zügen – als Protagonist stets im Mittelpunkt des dargestellten Geschehens, begleitet von einem umfangreichen allegorischen und mythologischen Personal, das ihm bei seinen Aktionen beisteht beziehungsweise diese für ihn ausführt. Diese Verbindung zwischen real wiedergegebenem Monarchen und fiktivem Bildpersonal ist das Produkt eines längeren Werkprozesses gewesen, in den der König selbst eingegriffen hat, um auf eine stärkere Berücksichtigung seiner Person zu drängen, ohne dass auf eine allegorische Überhöhung der historischen Ereignisse gänzlich verzichtet werden sollte. Die dadurch erzielte Allgegenwärtigkeit Ludwigs XIV. innerhalb des Gemäldezyklus ist bereits um 1700 von ausländischen Diplomaten und Reisenden als bildlicher Ausdruck eines aufdringlichen und aggressiven hegemonialen Herrschaftsanspruchs Frankreichs verstanden und kritisiert worden. Auch die französische Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts ging schnell auf Distanz zu dieser zwitterhaften Bildsprache Charles Le Bruns, die als unverständlich und anmaßend zugleich gebrandmarkt wurde.

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76 Charles Le Brun: Passage du Rhin en présence de l’ennemie, 1672, 1680–1684, Öl auf Leinwand (auf das Deckengewölbe appliziert), Versailles, Musée national des châteaux de Versailles et de Trianon, Zustand nach der Restaurierung von 2004–2007

Dennoch ist die politische Botschaft der Deckengemälde der Spiegelgalerie von Versailles im kollektiven Gedächtnis bis weit ins 19. und frühe 20. Jahrhundert präsent geblieben: von der Ausrufung des neuen deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 in der Spiegelgalerie des Schlosses bis hin zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919. Verbildlichungen des Passage du Rhin durch Anton von Werner für Kaiser Wilhelm I. sowie die Kopie der Galerie von Versailles für den bayerischen König Ludwig II. stellen die wichtigsten kunsthistorischen Spuren dieser beständigen Auseinandersetzung mit den einst von Charles Le Brun und seinem Atelier geschaffenen Bildern dar. Der heutige Betrachter, der zu der erst jüngst restaurierten Darstellung des Passage du Rhin hinaufschaut, wird sich kaum noch vergegenwärtigen können, welche politische Tragweite diese Darstellung für beinahe drei Jahrhunderte gehabt hat.

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LOGISTISCHE LEISTUNG STATT SOLDATISCHE HELDENTAT Am Abend des 11. Juni 1672 erreichte Ludwig XIV. mit nur leichtem Gepäck und wenigen Begleitern das Militärlager des Prinzen von Condé in der Nähe der kurz zuvor eroberten rheinischen Festung Emmerich. Dort campierte ein bedeutender Teil der insgesamt 120.000 Mann umfassenden französischen Invasionsarmee. Erst am Nachmittag war der König aus dem unweit von Emmerich gelegenen Rees aufgebrochen, einer ebenfalls vor kurzem eroberten Grenzfestung, bei der er den zweiten französischen Truppenteil unter Führung des Marschalls von Turenne zurückgelassen hatte. Seit dem 3. Juni marschierte die seit langem auf den Feldzug vorbereitete und bestens ausgerüstete französische Armee an Mosel und Rhein auf die Kerngebiete der Vereinigten Provinzen der Niederlande zu, ohne dass sie auf nennenswerten Widerstand gestoßen war. Neben Emmerich und Rees waren bereits die nur mäßig verteidigten und kaum auf den Angriff vorbereiteten Festungen Orsoy, Rheinberg, Büderich und Wesel in französische Hände gefallen. In Absprache mit Condé fasste Ludwig XIV. noch am Abend des 11. Juni den schon seit dem Vortag von ihm erwogenen Entschluss, mit beiden Truppenteilen den Rhein zu überqueren und weiter nach Nordwesten an die Issel vorzustoßen, wo die niederländische Verteidigungslinie durch Umzingelung endgültig durchbrochen und aufgerieben werden sollte. Die ganze Nacht hindurch beteiligte sich der französische König an der Suche nach einer möglichen Stelle, an der der Rhein hätte überquert werden können. Schließlich wurde in den frühen Morgenstunden durch den Comte de Guiche, Generalleutnant der Armee Condés, eine Furt nahe einem alten Zollturm – auf Niederländisch Tolhuys genannt – ausfindig gemacht, die ein alter Mann aus der Gegend dem Grafen gezeigt hatte. Die Stelle war bestens geeignet, da das gegenüberliegende Rheinufer nicht befestigt war und die Besatzung des Zollhauses nur aus wenigen Männern bestand. Traf man beim Durchritt die Furt, dann waren nur einige Meter schwimmend zu überwinden, so dass ein Brückenkopf gebildet und eine Pontonbrücke gebaut werden konnte, über welche die Infanterie übersetzen würde. Damit konnte am Sonntag, den 12. Juni 1672, jener legendär gewordene Passage du Rhin beginnen, der sogleich von den Zeitgenossen zu der sowohl literarisch als auch bildkünstlerisch am häufigsten gefeierten militärischen Leistung Ludwigs XIV. erhoben werden sollte.1 Ludwig XIV. hegte schon seit längerem einen tiefen Groll gegen die sieben nördlichen Provinzen der Niederlande. In der offiziellen französischen Kriegserklärung vom 6. April 1672 wurde den Niederländern Treuebruch gegenüber ihrem Verbündeten vorgeworfen.2 Den Generalstaaten konnte Ludwig XIV. nicht verzeihen, dass sie ihn 1668 durch die Bildung einer antifranzösischen Allianz zur Beendigung des seit 1667 von ihm geführten sogenannten Devolutionskriegs genötigt hatten. In diesem Jahr war Ludwig XIV. in die Spanischen Niederlande eingefallen, auf die er in weiten Teilen Erbansprüche im Namen seiner Frau erhoben hatte, einer Tochter des erst kurz zuvor verstorbenen spanischen Königs Philipp IV. Aufgrund des schnellen und erfolgreichen Eroberungszugs Lud-

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wigs XIV. war in den Generalstaaten die Befürchtung gewachsen, dass die Spanischen Niederlande bald gänzlich unter französische Hoheit gelangen würden und damit die von ihnen als existentiell erachtete Pufferzone zwischen ihrem Staatsgebiet und Frankreich wegfallen würde. Sie hatten daher im Januar 1668 die Großmächte Schweden und England zur Bildung der ersten sogenannten »Tripel-Allianz« bewegen können, wodurch Frankreich dazu gedrängt worden war, seine Militärkampagne einzustellen und Anfang Mai 1668 dem Frieden von Aachen zuzustimmen, der die Herausgabe weiter Teile der den Spaniern abgenommenen Gebiete vorsah. Die Niederländer konnten sich damals zugute halten, den französischen Waffen Einhalt geboten und zwischen den Großmächten Europas vermittelt zu haben.3 Eine offizielle niederländische Medaille auf den Friedensschluss pries mittels einer langen lateinischen Inschrift auf dem Revers die Generalstaaten als Schiedsrichter der Fürsten Europas, als Beschützer der Verträge, als Reformator des Glaubens und als Beherrscher der Meere (Abb. 77).4 Von Ludwig XIV. ist dieser von den Niederländern gefeierte Friedensschluss jedoch als Verrat gewertet worden. 1662 hatte Frankreich mit der Republik einen Beistandspakt für den Verteidigungsfall geschlossen und ihr daraufhin 1665 gegen den Bischof von Münster militärisch beigestanden, der die Niederlande angegriffen hatte. Der mit der Bildung der »Tripel-Allianz« vollzogene Treuebruch der Niederländer und deren Undankbarkeit ihrer einstigen Schutzmacht gegenüber wurde daher von französischer Seite zum Hauptgrund für den im Frühjahr 1672 ausgebrochenen Holländischen Krieg erklärt. Natürlich standen hinter diesem seit langem geplanten und gut vorbereiteten Krieg – der sich allerdings unvorhergesehenermaßen noch bis 1678/79 hinziehen sollte – auch massive wirtschaftliche Interessen: Die mächtige niederländische See- und Handelsmacht sollte entscheidend geschwächt, wenn nicht sogar vernichtet werden. Entsprechend hatte die französische Außenpolitik auf eine Isolierung der Niederlande hingearbeitet. Der englische König konnte 1670 im Geheimvertrag von Dover dazu bewegt werden, von den mit ihm seit 1668 verbündeten Generalstaaten abzufallen und parallel zur französischen Invasion den Seekrieg gegen Holland vorzubereiten; auch Karl XI. von Schweden wurde davon überzeugt, die Fronten zu wechseln und die alte schwedisch-französische Waffenbrüderschaft zu erneuern. Die Niederlande waren damit Anfang der siebziger Jahre aller ihrer einstigen Verbündeten beraubt und standen weitgehend isoliert da. Die Kriegserklärung Frankreichs vom 6. April 1672 und diejenige Englands nur einen Tag später trafen die Niederlande unvorbereitet: Die Republik, die ihren Wehretat in den letzten Jahrzehnten immer weiter verringert hatte, brachte mit ihren 24.000 Mann nur ein Fünftel der Truppenstärke der französischen Invasionsarmee auf; zudem hatten die Amsterdamer Schießpulverhändler noch im März 1672 – nachdem der letzte aktiv geführte Krieg schon lange zurücklag – ihre gesamten Vorräte verkauft.5 Die zügigen Anfangserfolge Ludwigs XIV. zu Lande verwundern daher nicht, obwohl Spanien sogar kurzfristig seinem einstigen Erzrivalen Truppenkontingente aus den Spanischen Niederlanden zur Verfügung stellen sollte. Anfang Juni fiel eine Grenzfestung

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77 Unbekannter Graphiker: Niederländische Gedenkmedaille auf den Frieden von Aachen, 1668, aus: Gerard van Loon: Histoire métallique des XVII provinces des Pays-Bas, Den Haag 1732–1737

nach der anderen, und auch der Übergang über den Rhein bei Tolhuys erfolgte ohne größere Gegenwehr. Auf niederländischer Seite war lediglich General Wurtz – der noch in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni von einem möglichen Übersetzen der Franzosen gehört hatte – mit einem Spähtrupp von mehreren hundert Reitern und einigen hundert Infanteriesoldaten, jedoch ohne Kanonen, vom nahe gelegenen Arnheim nach Tolhuys aufgebrochen. Mutig hatte er sich an der Spitze seiner Reiterei den ersten die Furt passierenden französischen Kavalleriesoldaten entgegengestellt, doch hatten ihn bald die Kanonade der französischen Artillerie und das massive Vordrängen der französischen Truppen zum Rückzug gezwungen. Insgesamt beliefen sich die Verluste auf französischer Seite auf zweihundert Mann. Auf niederländischer Seite fielen lediglich dreißig bis vierzig Männer, und zweihundert Soldaten wurden von den Franzosen gefangenengenommen. Schon am Nachmittag konnte die geplante Pontonbrücke errichtet werden, über die Ludwig XIV. mit dem Rest der Armee übersetzte. Die Aktion stellte in logistischer Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung dar; von einer kriegerischen Heldentat konnte allerdings nicht die Rede sein. Zwar gelang der französischen Armee mit dem Rheinübergang ein schnelles Vordringen auf niederländisches Territorium, doch versäumte es Ludwig XIV., aus diesem Anfangserfolg strategisches Kapital zu schlagen. Zu lange zögerte er, direkt auf Amsterdam zu marschieren, wodurch die Niederländer Zeit erhielten, durch die Öffnung der Schleusen bei Meuyden am 20. Juni 1672 das Umland drei Tage lang kontrolliert zu fluten und die Hauptstadt in eine uneinnehmbare Insel inmitten der Zuiderzee zu verwandeln. Bereits am 7. Juni hatte Admiral Ruyter in der Seeschlacht von Solebay eine Landung der vereinten englisch-französischen Flotte erfolgreich abgewehrt, wodurch sich die anfangs geplante Umzingelung nicht mehr durchführen ließ. Auch schlugen der französische König und sein Minister Louvois das ihnen von den

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Generalstaaten am 29. Juni unterbreitete äußerst vorteilhafte Friedensangebot aus, indem sie derart demütigende Forderungen an dessen Annahme knüpften, dass keine Einigung zustande kam: Die erlittene Schmach stärkte jedoch den nationalen Widerstandswillen der Niederländer. Unter dem Eindruck der nationalen Katastrophe, die der Einfall der französischen Truppen darstellte, wurde Wilhelm III., der Sohn Wilhelms II. von Oranien, des letzten, 1650 verstorbenen Generalstatthalters, erneut als Statthalter von Zeeland und Holland sowie als Generalkapitän der Land- und Seestreitkräfte der Niederlande auf Lebenszeiten eingesetzt. Mit dem Oranier erwuchs Ludwig XIV. ein militärisch unnachgiebiger und diplomatisch versierter Rivale, der ihn in den kommenden Jahrzehnten mit tiefem persönlichem Hass verfolgen sollte. Während der auf den Rheinübergang folgenden Wochen musste sich Ludwig XIV., abgeschnitten vom Zugang nach Amsterdam, damit begnügen, in den südlichen Landesteilen eine Stadt nach der anderen einzunehmen, unter anderem Arnheim, ohne jedoch dadurch die Niederlande gänzlich in die Knie zwingen zu können. Am 1. August 1672 kehrte Ludwig XIV. schließlich von der Front zurück, wohl noch in der Hoffnung, die Generalstaaten vor Jahresende gänzlich besiegen zu können; eine trügerische Hoffnung, wie sich bald herausstellen sollte. Denn der Krieg sollte sich – das sei nur angedeutet – noch über viele Jahre hinziehen. Zwischen 1673 und 1674 kam es zu einer allmählichen Auflösung des von Frankreich aufgebauten Bündnissystems und zu einer zunehmenden Isolierung des Königs. Es wurden jedoch, ohne dass eine der Kriegsparteien einen entscheidenden militärischen Sieg herbeiführen konnte, die zermürbenden Stadtbelagerungen vor allem in den Spanischen Niederlanden sowie die verlustreichen Feldzüge im Elsaß und in den rechtsrheinischen Gebieten fortgesetzt. Erst 1676 wurden Friedensverhandlungen aufgenommen, die schließlich zwei Jahre später zum Abschluss der Friedensverträge von Nimwegen zwischen Frankreich und den verschiedenen Kriegsparteien führten. Ludwig XIV., der dem Druck einer gegen ihn gerichteten europäischen Koalition standgehalten und in den Friedenverhandlungen territoriale Zugewinne für Frankreich hatte sichern können, wurde von seinen Panegyrikern endgültig als »Louis le Grand« gefeiert.

HISTORISIERUNGEN DES EREIGNISSES IN KUNST UND LITERATUR Drei Phasen der literarischen und bildkünstlerischen Auseinandersetzung mit dem Rheinübergang der französischen Truppen vom 12. Juni 1672 lassen sich unterscheiden. Zum einen brachte das euphorische Klima der ersten Kriegsmonate, in denen die Anfangserfolge noch über die versäumten Chancen und verfehlten strategischen Grundsatzentscheidungen hinwegzutäuschen vermochten, eine erste Welle von panegyrischen Schriften und Gedichten auf die Rheinüberquerung sowie bildkünstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Thema hervor. Zum anderen bedingte der sich immer länger hinziehende Krieg, an dessen Ende ein zäh errungener Friede stand, der allerdings die

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78 Charles Le Brun: Überquerung des Granikus durch Alexander den Großen, 1664–1665, Öl auf Leinwand, 470 × 1209 cm, Paris, Musée du Louvre

Hegemonialstellung Frankreichs in Europa deutlich hervortreten ließ, dass der Passage du Rhin um so mehr zu einer der glorreichsten Heldentaten des Königs stilisiert wurde. Die Flussdurchquerung durfte nun in keiner hagiographischen Kriegsschilderung und in keinem enkomiastischen Bildprogramm mehr fehlen: Kulminationspunkt war die großformatige Darstellung an der Decke der Galerie des Schlosses von Versailles zu Beginn der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts. Eine dritte Phase setzte nach dem Tod des Königs 1715 ein, als im historischen Rückblick vereinzelt nochmals der Rheinübergang von französischen Literaten und Künstlern thematisiert wurde, um an die einstige Größe Frankreichs und den Heldenmut Ludwigs XIV. zu gemahnen. Schon 1672, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse, nahmen sich über zwanzig Schriftsteller, Historiker und Gelegenheitsschreiber – die teilweise bereits von der königlichen Administration bestallt waren, teilweise aber auch um eine solche Gunst buhlten – dem Thema der Rheinüberschreitung der französischen Truppen unter Führung Ludwigs XIV. an. Die einen verglichen das Ereignis mit dem Durchzug Alexanders des Großen durch den Granikus im Angesicht des persischen Feindes und erinnerten daran, dass selbst Caesar nie den Rhein überschritten habe. Andere gingen sogar soweit zu behaupten, dass Ludwig alle Helden der Antike überträfe und seine Tat durch den Vergleich mit der Antike nur geschmälert würde: Der Passage du Rhin wurde in der damals unter den Akademikern und Hofkünstlern leidenschaftlich geführten Debatte, inwieweit die Gegenwart nicht eigentlich der Antike überlegen sei, ein Argument, mit dem sich die Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit der eigenen, mit Ludwig XIV. angebrochenen Epoche herausstellen ließ.6 Einmal durch das panegyrische Schrifttum sanktioniert, fand die Episode des Rheinübergangs seit den frühen siebziger Jahren auch schnell Eingang in die unterschiedlichsten bildkünstlerischen Medien. Die Académie royale de peinture et de sculpture gab 1672 den

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79 Adam-Frans van der Meulen: Die Überquerung des Rheins, 1672–1673, Öl auf Leinwand, 83 × 156 cm, Caen, Musée des Beaux-Arts

Studenten der Bildhauerklasse für den Wettbewerb um das Rom-Stipendium die Darstellung des Rheinübergangs als Aufgabe vor.7 Gérard Audran fertigte einen Stich nach dem von Charles Le Brun bereits 1664–1665 ausgeführten großformatigen Gemälde der Durchquerung des Granikus durch Alexander den Großen, das im Lichte der gegenwärtigen Ereignisse neuen Sinn erhielt (Abb. 78).8 Im Herbst wurde der in königlichen Diensten stehende Landschafts- und Historienmaler Adam-Frans van der Meulen an die einstige Frontlinie geschickt, um genaue topographische Aufnahmen der ehemaligen Schlachtplätze anzufertigen; dabei zeichnete er auch Tolhuys am Rhein.9 Fußend auf diesen Vorarbeiten entstand ein mehrfach variiertes, kopiertes und schließlich graphisch reproduziertes Gemälde, das Faktentreue und Realitätsnähe suggerierte (Abb. 79).10 Es bildete die Grundlage für drei unterschiedliche Wandteppichentwürfe, von denen schließlich nur der letzte zwischen 1682 und 1684 durch François Bonnemer in der Manufacture des Gobelins als bemalter seidener Wandbehang ausgeführt wurde.11 Die Liste der Werke, die in den kommenden Jahren den Durchzug der französischen Truppen durch den Rhein zum Gegenstand wählten, ließe sich beliebig fortführen. Nirgends durfte die Szene fehlen: Ob auf Medaillen oder Kalenderblättern (sogenannten Almanachen), ob als Detail auf einer Vase in der Thetis-Grotte in Versailles oder – in monumentaler Form – als Relief auf dem Triumphbogen der Porte Saint-Denis oder als Bronzerelief am Sockel des Königsmonuments auf der Place des Victoires, ob als Staffelei-

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gemälde oder als Grisaillemalerei an der Decke der Gesandtentreppe im Versailler Schloss sowie an Festaufbauten, überall spielten Kunstwerke in der unmittelbaren Umgebung des Königs auf das Ereignis an.12 Sporadisch wurde sogar noch im 18. Jahrhundert der Rheinübergang Ludwigs XIV. in Skulptur und Malerei dargestellt.13 Und Voltaire kam in seiner 1751 erschienen Schrift Le siècle de Louis XIV, einer umfangreichen Darstellung der militärischen und kulturellen Leistungen jener Epoche, ausführlich auf den Rheinübergang zu sprechen: Nüchternabwägend versuchte er zu ergründen, wie die allgemeine Euphorie zu Beginn des Holländischen Krieges dazu geführt habe, dass der Flussüberquerung rasch eine Bedeutung beigemessen wurde, die ihr militärisch eigentlich gar nicht zukam.14

REALER HELD IN MYTHISCHER SPHÄRE Zu den monumentalsten Darstellungen des Rheinübergangs der französischen Armee zu Beginn des Holländischen Krieges gehört Charles Le Bruns großformatiges Gemälde am Tonnengewölbe der Versailler Galerie. Die über siebzig Meter lange Spiegelgalerie nimmt, mitsamt dem Salon de la Guerre an ihrem nördlichen Eingang und dem Salon de la Paix am südlichen Ende, die gesamte Gartenfront des Schlosses von Versailles ein. Die Raumfolge, unmittelbar im Anschluss an den gewonnenen Krieg verwirklicht, entsprang der engen Zusammenarbeit zwischen dem königlichen Architekten Jules Hardouin-Mansart und dem ersten Maler des Königs Charles Le Brun, der für das ikonographische Programm und zahlreiche ornamentale Details verantwortlich zeichnete (Abb. 80). Die Deckenmalerei der Galerie wurde nach intensiven, bereits Ende 1678 einsetzenden Vorüberlegungen 1680 bis 1684 durch Le Brun und sein Atelier ausgeführt. Die weitere Ausschmückung der Raumfolge und die Ausmalung der beiden Salons wurden bis 1686 fertiggestellt. Die großformatigen Deckengemälde entstanden als Leinwandbilder in Le Bruns Pariser Atelier in der Manufacture des Gobelins und wurden anschließend auf die Deckenwölbung geklebt; lediglich ein Teil der umrahmenden Malereien wurde vor Ort in Öl ausgeführt. Das ikonographische Programm der Raumfolge kreist um die Siegestaten des Königs im zurückliegenden Holländischen Krieg. Die großen Bildkompartimente der Galerie zeichnen die wichtigsten Etappen des Konflikts von der Bildung der zweiten, Frankreich feindlich gegenüberstehenden Tripel-Allianz im Sommer 1672 bis zu den Friedensverträgen von Nimwegen 1678/79 nach. Das mittlere Bildfeld auf der den Fenstern gegenüberliegenden Seite fällt jedoch aus dieser losen chronologischen Folge heraus: Es stellt den Entschluss des zweiundzwanzigjährigen Monarchen dar, nach dem Tod des ersten Ministers Kardinal Mazarin im Mai 1661 allein die Regierung des Landes zu übernehmen; eine Entscheidung, die Ludwig XIV. offensichtlich als den eigentlichen Auftakt seines persönlichen Regnums auffasste. Kleinere Bildfelder und Medaillons an der Decke der Galerie

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80 Ansicht der Spiegelgalerie von Versailles nach Norden, Zustand nach der jüngsten Restaurierung 2007

sind dem Devolutionskrieg von 1667–1668 und einzelnen innerstaatlichen Reformen des Königs seit seiner persönlichen Regierungsübernahme gewidmet.15 Die Darstellung des Passage du Rhin en présence de l’ennemie, 1672 befindet sich am nördlichen Eingang der Galerie, auf der den Fenstern gegenüberliegenden Seite. In der chronologischen Abfolge der dargestellten Kriegsereignisse steht die Episode allerdings nicht an erster Stelle, da ihr drei große Bildkompartimente an anderer Stelle der Decke vorausgehen, die der Vorbereitung des Krieges und den ersten militärischen Erfolgen des Königs während des Feldzuges gewidmet sind.16 In didaktischer Absicht ist jedes der großen Bildfelder – so auch der Passage du Rhin – mit einer entsprechenden Inschriftenkartusche versehen, die das dargestellte Ereignis prägnant bezeichnet. Lange hatten die für die Formulierung der Inschriften verantwortlichen Akademiemitglieder gerungen, bis die Frage geklärt war, ob die Inschriften auf Latein oder auf Französisch abgefasst werden sollten; erst im dritten Anlauf war der endgültige Wortlaut gefunden worden, wobei sich die Fraktion der modernes durchsetzen konnte: Das Französische obsiegte.17 Auf den großen Bildkompartimenten ist Ludwig XIV. stets als der Hauptakteur an herausgehobener Stelle dargestellt. Beim Passage du Rhin sitzt er in einem von zwei Pferden gezogenen, thronartigen Streitwagen; mit der Linken führt er die Zügel der vorpreschen-

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den Pferde; in der erhobenen Rechten hält er dräuend ein Blitzbündel, das Attribut des Göttervaters Jupiter.18 Gekleidet ist der König mit einem antiken Feldharnisch, doch trägt er zugleich seine üppige Allongeperücke, die im Fahrtwind weht. Herkules schiebt zusätzlich den Wagen an und schlägt mit seiner Keule auf die Personifikation des Rheins ein, einen alten, sich auf seinem Quellgefäß abstützenden Mann, dem vor Schreck sein Steuerruder entglitten ist. Darüber schwebt eine geflügelte Viktoria, die eine Fahne mit der Aufschrift »Tolvys« trägt. Die ersten vier in Form von weiblichen Personifikationen wiedergegebenen Festungen, die am Beginn des Feldzugs eingenommen wurden, werden allesamt vom Streitwagen überrollt. Sie halten Stadtschlüssel und teilweise Namensschilder in ihren Händen: Nahe dem Rad des Streitwagens sitzt, mit zerrissenem Kleid, »Wesel« am Boden; unter den Pferden erkennt man, mit offenem Haar, den Kopf der Personifikation von »Burich« und, erschreckt aufblickend, »Rhimber[g]«; vor den Pferden, mit hochgerissenen Armen, liegt offensichtlich Orsoy am Boden. Zwei Männer am linken Bildrand präsentieren auf Prunktellern dem Sieger Stadtschlüssel, wahrscheinlich die von Emmerich und Rees. Zwischen den beiden flehenden Figuren und der letzten der überrannten weiblichen Stadtpersonifikationen ist die behelmte und mit einem Schwert bewaffnete Hollandia zu sehen. Noch versucht sie sich auf ihrem niedergeworfenen Wappentier, dem holländischen Löwen, abzustützen, der eine Pranke drohend erhoben hat, während er mit der anderen sieben Pfeile als das heraldische Zeichen der Vereinigten Provinzen umklammert hält. Hollandia trägt einen Schild mit der verkürzt wiedergegebenen lateinischen Aufschrift jener Medaille, welche die Generalstaaten 1668 auf den Frieden von Aachen ausgegeben haben: »Assertis legis. emendat. sacr. ad. iut. defens. concil regibus«.19 Die mit dem Gemäldezyklus verfolgte Absicht wird gerade an diesem Detail offensichtlich: Nicht nur die Kriegstaten des Königs sollten gefeiert, sondern auch der von Ludwig XIV. begonnene Krieg sollte als gerechtfertigt hingestellt werden. Die weibliche Personifikation Spaniens, rechts neben Hollandia platziert, versucht vergebens, den Siegeszug des französischen Königs aufzuhalten, indem sie ins Geschirr des Wagens greift. Doch wird sie durch ihre unbedachte Tat nur selbst von den vordrängenden Pferden des königlichen Streitwagens fortgerissen. In ihrer erhobenen Linken hält sie eine Maske, um anzudeuten, dass sich Spanien zunächst nicht offen gegen Frankreich erklärte, sondern durch die Entsendung von Hilfstruppen an die Niederländer im Geheimen gegen Frankreich vorging. Unterhalb des Kampfgeschehens, in einer halbovalen Ausbuchtung, sind drei weitere männliche Personifikationen zu erkennen. Links krümmt sich der mit gestutzten Flügeln wiedergegebene Ehrgeiz der Niederlande am Boden. Zwei Zepter ragen unter dem Bauch der Personifikation hervor und ihrer Hand sind zwei Kronen entglitten, die sie nicht länger zu halten vermag; die Figur ist über einen – heute kaum mehr sichtbaren – Pfau gestrauchelt, das Attribut des Stolzes. Neben ihr ist die Unordnung des Handels als ein rücklings zu Boden stürzender Mann dargestellt. Er ist über Handelsware gestolpert und hält ein zerfleddertes Kontobuch in Händen; vor ihm liegt eine offene Geldbörse. Rechts ist schließlich der

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Niedergang der Marine durch einen niedergefallenen Matrosen dargestellt, der sich vergeblich an einem Anker festzuhalten sucht. Die Kampfszene bekrönt, in der Himmelszone, eine ganze Schar weiblicher, größtenteils geflügelter Gestalten. Rechts, dem Zug voran, ist eine personifzierte Renommée zu sehen, die gleich in zwei Trompeten bläst, sowie eine Viktoria mit vier Siegeskränzen, die für die zuerst eroberten Rheinfestungen stehen. Es folgen zwei weitere geflügelte Frauengestalten, von denen eine Palmzweige trägt; dahinter erscheint Minerva mit Lanze und Schild. Oberhalb des Königs schwebt, in Begleitung von zwei weiteren Renommées, die weibliche Personifikation des Ruhmes mit einem Goldreif und einer Armillarsphäre in Händen als Verweise auf die Ewigkeit des hier erlangten ehrenvollen Rufs. Versucht man die Bildsprache, die Charles Le Brun für die Deckengemälde der Versailler Galerie entwickelt hat, anhand des Passage du Rhin näher zu charakterisieren, so fällt auf, dass er das Schlachtengeschehen weder als reale Szenerie gestaltet hat, wie beispielsweise auf dem von Adam-Frans van der Meulen in verschiedenen Varianten ausgeführten Staffeleigemälde, noch als eine Heldentat aus der antiken Geschichte oder Mythologie, die gleichnishaft für das zeitgeschichtliche Ereignis stehen könnte, wie etwa die Durchquerung des Granikus durch Alexander den Großen. Vielmehr erarbeitete Le Brun, als sich ihm Ende 1678 die Aufgabe stellte, die neu zu errichtende Galerie des Schlosses von Versailles auszugestalten, eine Bildsprache, die dem König unmittelbare Bildpräsenz einräumt, zugleich aber auf eine mythologische und allegorische Einkleidung des Zeitgeschehens nicht verzichtet.20 Beim Passage du Rhin ist der König daher zwar als reale Person mit porträthaften Zügen wiedergegeben, zugleich aber in der Tracht eines antiken Imperators dargestellt und mit dem Blitzbündel als dem Attribut Jupiters ausgestattet. Auch hat Le Brun den Monarchen mit einem umfangreichen allegorischen und mythologischen Personal umgeben, das ihm helfend zur Seite steht oder sich seinem Willen unterwirft. Dadurch ist Ludwig XIV., für jeden Betrachter sofort erkennbar, als der Protagonist des geschilderten Geschehens charakterisiert und zugleich zu einem gottgleichen, in der Nachfolge der römischen Kaiser stehenden Herrscher erhoben.21 Darüber hinaus ist er als handelnder Kriegsheld in den Mittelpunkt des Geschehens gestellt, obwohl er eigentlich gar nicht kämpfend in das Schlachtgeschehen eingegriffen hatte. Während des Jahreswechsels 1678–1679 hatte der Künstler zunächst noch an einen Apollo-Zyklus zur Ausschmückung der Decke gedacht sowie an eine Bildfolge, bei welcher der antike Halbgott Herkules im Mittelpunkt stehen sollte.22 Doch wurden diese Deckenentwürfe im obersten Beratergremium des Königs, dem conseil d’en haut, verworfen.23 Eine völlige mythologische Verbrämung der Heldentaten des Königs schien offensichtlich nach dem endlich gewonnenen langen Krieg nicht deutlich genug das Verdienst Ludwigs XIV. herauszustellen. Durch die schließlich von Le Brun im dritten Anlauf entwickelte kombinierte Darstellung der realen Person des Königs in historisch-mythologischer Einkleidung und eines ihn umgebenden reichen fiktionalen Bildpersonals gelang schließlich zweierlei: Ludwig XIV. als handelnden Helden prominent herauszuheben, zugleich aber das dargstellte Geschehen – das aufgrund des mangelnden zeitlichen Abstands noch

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keinen Anspruch auf weltgeschichtliche Bedeutung und allgemeine Vorbildlichkeit geltend machen konnte – bereits in die Sphäre des Mythischen, Überzeitlich-Exemplarischen zu heben. Diese innovative Leistung Charles Le Bruns sollte ihre Wirkung auf die Zeitgenossen nicht verfehlen, wie neue Quellenfunde belegen.

DEMÜTIGUNG UND REVANCHE Der englische Gesandtschaftssekretär Matthew Prior, der später vor allem als Dichter Berühmtheit erlangen sollte, kam Anfang 1698 erstmals in das Schloss von Versailles. Für Ludwig XIV. hatte er als treuer Anhänger seines Herrn Wilhelm III. von Oranien, der seit 1689 in Personalunion die Niederlande und Großbritannien regierte, zunächst nur Verachtung übrig. Bereits im Anschluss an seine erste Unterredung mit dem französischen König mokiert sich Prior in einem Brief an den englischen Finanzminister Charles Montagu, den ersten Grafen von Halifax, über die narzisstische Selbstdarstellungssucht Ludwigs XIV. Dabei spielt er auch auf die Darstellung des Passage du Rhin an der Decke der Spiegelgalerie an: »His house at Versailles is something the foolishest in the world; he is strutting in every panel and galloping over one’s head in every ceiling, and if he turns to spit he must see himself in person of his Vicegerent the Sun with sufficit orbi, or nec pluribus impar. I verily believe that there are of him statues, busts, basreliefs and pictures above two hundred in the house and gardens.«24 Doch nicht nur Prior bemerkte, dass durch den an der Decke der Versailler Galerie über die Köpfe der Besucher hinwegsprengenden Ludwig XIV. der hegemoniale Herrschaftsanspruch Frankreichs einen aggressiven bildlichen Ausdruck gefunden hatte. Auch für den im Dienst des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel stehenden Architekturtheoretiker Leonhard Christoph Sturm, der 1699 Versailles während einer privaten Reise besuchte, war die Darstellung des Passage du Rhin Ausdruck einer Überheblichkeit Ludwigs XIV., der damit – politisch durchaus unklug – seine Feinde unnötig zu demütigen suchte. In Sturms 1716 erschienenen Architektonischen Reise-Anmerkungen heißt es: »So sind nun fünf grosse Felder in dieser Gallerie zwischen den Ribben eingetheilet, und in allen denselbigen ist der König in den Wolcken als ein Jupiter vorgestellet, und recht schimpflich vor die jenige Nationen mit denen er Krieg geführet hat, daß man sich kaum genug verwundern kan, wie dieser weise König solche gar zu enorme Vergötterung und Flatterie hat täglich vor den Augen sehen können. […] In dem ersten Feld an der Decke ist der König auf einem Sonnen-Wagen mit dem Blitz in der Hand dagegen zu fahrend gemahlet. […] Das siehet ungemein schön aus, aber ist gewißlich allzu hochmüthig an der Invention, und that der König wohl, daß er sie niemahl hat abzeichnen, und in fremde Hände kommen lassen, sonst möchte leicht ein plumper Holländer empfindliche Auslegungen darüber gemachet haben.«25 Die absichtliche und von Ludwig XIV. gewollte Fokussierung auf seine Person ließ die politische Botschaft des Gemäldezyklus für die zeitgenössischen Betrachter provo-

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81 Anton von Werner: Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1877, Öl auf Leinwand, 434 × 732 cm, Kriegsverlust (ehemals Berlin, Stadtschloss, Weißer Saal)

kant und auftrumpfend erscheinen. Wie die Aussagen von Prior und Sturm belegen, verstörte gerade die zu geringe mythologische oder allegorische Verklausulierung der dargestellten Szenen. Das 18. Jahrhundert hingegen sollte gerade das Konstruierte und nur schwer Entzifferbare an der Bildsprache von Charles Le Brun kritisieren. Der Abbé Du Bos monierte 1719, dass die Deckenbilder des Malers nur mit Hilfe von in der Galerie aufliegenden gedruckten Führern zu verstehen seien, welche die Bedeutung einer jeden Figur erläuterten.26 Aber auch das Servile an der Kunst Le Bruns, die sich ganz in die Dienst des Herrscherlobs stellte, wurde beanstandet. Verachtend äußert sich Louis-Sébastien Mercier in seinem 1768 erschienenen utopischen Roman L’an deux mille quatre cent quarante über die Gleichsetzung Ludwigs XIV. mit Jupiter an der Decke der Spiegelgalerie: »Wenn ich Ludwig XIV. in der Galerie von Versailles sehe, wie er mit dem Blitzbündel in der Hand auf einer himmelblauen Wolke ruhend als donnernder Gott gemalt wurde, dann überkommt mich ein geringschätziges Mitleid mit dem Pinsel Le Bruns, das beinahe auf die gesamte Kunst zurückfällt; aber die Malerei überlebt den blitzeschleudernden Gott wie auch den Künstler, der ihn mit diesem Donnergrollen beschenkt hat: Diese Überlegung beruhigt mich, und ich lächle.«27 Das Deckenprogramm und speziell die Darstellung des Passage du Rhin sollte für die Nachbarn Frankreichs ihren herabsetzenden, demütigenden Charakter auch über die kommenden zwei Jahrhunderte hinweg nicht verlieren. Bewusst integrierte Anton von Werner die Inschriftenkartusche des Passage du Rhin en présence de l’ennemie, 1672 am oberen

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82 Anton von Werner: Skizze zum Velarium »Kampf und Sieg«, 1871, Öl auf Leinwand, 80 × 106 cm, Berlin, Stadtmuseum

Bildrand seiner 1877 fertiggestellten ersten Gemäldefassung der Ausrufung des neuen deutschen Kaiserreichs, die sich am 18. Januar 1871 in der Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles abgespielt hatte (Abb. 81).28 Die Schmach der während der ludovizianischen Kriege erfolgten Besetzungen, Verwüstungen und Annexionen von Reichsterritorien schien durch die neuerliche Reichsgründung im Herzen der ehemaligen Residenz Ludwigs XIV. getilgt. Durch den Verweis auf die einst erlittene Demütigung sollte somit die neuerlich erzielte Reichseinigung im Anschluss an die militärische Niederwerfung Frankreichs als ein umso größerer, lang ersehnter Triumph über den Erzrivalen erscheinen.29 Der preußische Maler verstieg sich sogar dazu, auf einem der Fahnensegel, die am 16. Juni 1871 beim feierlichen Einzug der heimkehrenden preußischen Truppen auf der Berliner Prachtstraße Unter den Linden aufgespannt wurden, die Komposition von Charles Le Bruns Passage du Rhin aufzugreifen, allerdings das Bildpersonal entsprechend umzubesetzen: Jetzt war es Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich III., der als wichtigster Heerführer der vereinten deutschen Truppen zu Seiten eines Streitwagens, der von den Personifikationen Preußens, Bayerns und Württembergs gelenkt wird, über den zu Boden gestürzten Kaiser Napoleon III. hinwegsprengt (Abb. 82).30 Auch Ludwig II. von Bayern ließ zwischen 1880 und 1885 in seinem, in Mitten des Chiemsees auf der Insel Herrenwörth gelegenen Neuen Schloss Herrenchiemsee die Grande Galerie von Versailles kopieren, darunter ebenfalls das Deckenkompartiment mit dem Passage du Rhin (Abb. 83). Allerdings ließ er durch seinen Architekten Georg von Dollmann behutsam die Maße der Galerie gegenüber dem französischen Vorbild vergrößern und durch den Bildhauer Philipp Perron zahlreiche der in Versailles lediglich

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83 Ferdinand von Piloty: Passage du Rhin en présence des ennemis, 1672, 1880–1885, Öl auf Leinwand (auf das Deckengewölbe appliziert), Insel Herrenwörth, Neues Schloss Herrenchiemsee, Spiegelgalerie

gemalten Deckenteile, die die Bildfelder umrahmen, plastisch als Hochreliefs ausführen. Mittels solch einer Überbietung des Erscheinungsbildes der Galerie im Neuen Schloss Herrenchiemsee, die nach Ansicht Ludwigs II. eine optische Verbesserung darstellte, sollte die Überlegenheit des Hauses Wittelsbach über die zwar verehrungswürdige, aber längst entthronte Bourbonen-Dynastie zum Ausdruck kommen: Die Kopie der Deckengemälde Charles Le Bruns stellte nicht nur eine Reverenz gegenüber dem Sonnenkönig dar, sondern war zugleich auch – was bisher von der Forschung übersehen wurde – als Hinweis auf die längere Beständigkeit der Wittelsbach-Dynastie gegenüber derjenigen der Bourbonen gedacht.31 In der bayerischen Kopie von Versailles kommt ein – durchaus von Bewunderung getragenes – Superioritätsgefühl zum Ausdruck, wie es im wilhelminischen Deutschland typisch für das Verhältnis zu Frankreich gewesen ist. Die französische Antwort auf die 1871 erfolgte Ausrufung des Deutschen Reiches in der Spiegelgalerie von Versailles, die ihren visuellen Niederschlag in den erwähnten Werken gefunden hatte, erfolgte am 28. Juni 1919, als die deutschen Vertreter der Reichsregierung genötigt wurden, ebendort den sogenannten Versailler Friedensvertrag zu unterzeichnen. Erst nach einem weiteren Weltkrieg und der anschließenden Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich hat die Versailler Galerie ihre anhaltend provokante Wirkmacht verloren: Charles Le Bruns Passage du Rhin macht nun keine Geschichte mehr, sondern stellt sie nur noch dar.

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DIE HANDELNDE MENGE JACQUES-LOUIS DAVIDS »DER SCHWUR IM BALLHAUS« ALS REVOLUTION DES HISTORIENBILDES Wolfgang Kemp

Jacques-Louis Davids Gemälde Der Schwur im Ballhaus, begonnen 1790, unvollendet abgebrochen 1792, markiert eine wichtige Innovation in der Geschichte des Historienbildes (Abb. 84). Zum ersten Mal sollte ein monumentales Gemälde (angelegt war es auf über elf Meter Breite) einer Menschenmenge gewidmet sein und zwar einer handelnden Menge. Zuschauende und akklamierende Mengen, Mengen als Instanzen der zeremoniellen und kritischen Öffentlichkeit hatte es auf Bildern immer gegeben. Mit Davids Bild dagegen wurde die Überzeugung der Aufklärung große Malerei, dass nicht wenige, herausragende Männer, sondern Kollektive Geschichte machen, männliche Kollektive freilich.1 Das Wort »Kollektiv« wird hier als Platzhalter gebraucht für eine ganze Reihe von Abstrakta, die alle bei diesem Ereignis und in diesem Bild eine Rolle spielten: Stand, Nation, Volk, Bürgertum, Menge, Masse. Am 5. Mai 1789 traten im Schloss von Versailles die Generalstände Frankreichs zusammen: 1139 Deputierte, von denen 291 dem Klerus, 270 dem Adel und 578 dem Dritten Stand angehörten. Die Aufteilung an sich, wenn auch nicht ihr zahlenmäßiges Verhältnis, transportiert das mittelalterliche Verständnis von Kollektiv in die revolutionäre Phase Europas: Was auch immer da repräsentiert wurde, es setzte sich aus der gottgegebenen Einteilung der Gesellschaft in die drei Stände, in Wehrstand, Lehrstand und Nährstand, zusammen. Stand heißt Privileg, und dass diese Klammer nicht mehr widerstandslos hingenommen wurde, zeigte gleich zu Beginn der Versammlung der Streit um die Kopfbedeckungen. Zwar folgten alle, auch die Mitglieder des Dritten Standes, der vorgegebenen Kleiderordnung, letztere protestierten aber dagegen, dass die Abgeordneten der beiden ersten Stände ihre Kopfbedeckungen aufbehalten durften und nur sie barhäuptig zu erschei-

201 | Die handelnde Menge

84 Jacques-Louis David: Der Schwur im Ballhaus, 1791, Federzeichnung, 66 × 101 cm, Versailles, Musée national du château de Versailles et du Trianon (Leihgabe aus Paris, Musée du Louvre, Cabinet des dessins)

nen hatten. Diese Auflage war allerdings bereits ein Fortschritt zu der letzten Beteiligung des Dritten Standes an einem Parlament im 17. Jahrhundert, zu dem seine Vertreter nur barhäuptig und nach einem Kniefall zugelassen wurden. Die Ereignisse des Sommers 1789 führten dann zu einer rasanten Auflösung dieses traditionellen Modells von politischer Repräsentation. Die beiden ersten Stände wollten, dass nach dem Prinzip „ein Stand – eine Stimme“ abgestimmt würde, was ihnen die Mehrheit gesichert hätte. Der Dritte Stand forderte eine Abstimmung nach Köpfen, also nach dem quantitativen Prinzip. Der Abbé Emmanuel-Joseph Sieyès hatte ausgerechnet, dass der Dritte Stand 96 Prozent der Nation verträte; daraus wurde von seinen Repräsentanten die Forderung abgeleitet, dass sie für den »Willen der Nation« einstünden und die Einsetzung eines neuen Typus von Versammlung, einer Assemblé nationale mit völlig veränderten Kompetenzen das Gebot der Stunde sei. So wurde also aus dem einen und in der Hierarchie letzten Stand das neue Ganze, die Nation, ein mit Willen begabtes Wesen. Dies geschah am 17. Juni. Als der König das Ansinnen ablehnte und den Versammlungsraum zusperren ließ, versammelten sich 577 Abgeordnete des Dritten Standes inklusive einiger Überläufer am 20. Juni 1789 im Ballhaus von Versailles, dem Jeu de Paume, in einer kahlen Sporthalle also. Unter Anleitung des Wissenschaftlers Jean-Sylvain Bailly, seit dem 17. Juni Präsident der selbsternannten Nationalversammlung, schworen sie in einem feierlichen Eid, nicht eher

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auseinander zu gehen, bis sie dem Königreich eine Verfassung gegeben hätten. Übersetzt lautet der Eid: »Die Nationalversammlung, eingedenk ihrer Aufgabe, dem Königreich eine Verfassung zu geben, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, die wahren Prinzipien der Monarchie zu bekräftigen, und versichernd, dass nichts sie von der Abhaltung ihrer Erörterungen abhalten kann, wo auch immer sie gezwungen ist, sich zu versammeln, dass vielmehr dort, wo sich ihre Mitglieder einfinden, die Nationalversammlung ist, erklärt, dass alle Mitglieder dieser Versammlung im folgenden feierlich schwören, nicht auseinander zu gehen und sich zu versammeln, wo auch immer die Umstände es gestatten, bis die Verfassung des Königsreichs erstellt und auf soliden Fundamenten gegründet ist, und dass nach besagtem Eid alle Mitglieder zusammen und jeder für sich diese unumstößliche Resolution mit ihrer Unterschrift bekräftigen.«2 Der Abgeordnete Jean-Baptiste-Pierre Bevière hatte diese Resolution in aller Eile und unter dem hohen Erwartungsdruck der Menge zu Papier gebracht. In ihrem zweiteiligen Aufbau aus Berufung auf Prinzipien und daraus abgeleitetem Beschluss entspricht sie den Usancen parlamentarischer und herrscherlicher Edikte und Gesetze. Die ungeschickten Wiederholungen des Textes weisen aber auf zwei fundamentale Unsicherheiten hin: Nicht auseinanderzugehen, sich nicht vertreiben und einschüchtern zu lassen, ist die eine Sorge, die Frage nach der Legitimität des Ortes die andere. Zur rechtmäßigen Abhaltung eines Parlaments gehörte selbstverständlich auch der vom König als oberstem Parlamentsherrn angewiesene und kontrollierte Ort. Jetzt sollte die Nationalversammlung dort sein, wo ihre Mitglieder sind; eine weitere Form der Emanzipation von der Macht der Krone, eine Selbstermächtigung und Aufwertung des personalem vor dem lokalen und zeremoniellen Prinzip.

EINE MASSE MIT GESICHT David folgt der früh einsetzenden Beurteilung des 20. Juni 1789 als des machtvollen Beginns der bürgerlichen Revolution. Es hatte zwar schon in den Wochen davor, als man noch in der Salle des Menus Plaisirs, im Saal der Hoflustbarkeiten, zusammen mit den anderen Ständen tagte, aufsehenerregende Momente bürgerlichen Aufbegehrens gegeben, aber das prunkvolle Ambiente, der zeremonielle Charakter der Versammlungen und die gemischten Verhältnisse waren dann doch nicht der geeignete Hintergrund, vor dem sich der Anfang der großen Umwälzungen in voller Schärfe abzeichnen konnte. Zu dieser Initialzündung passte aber vortrefflich der makeshift-Charakter, das Provisorische und Kontingente des Zusammenkommens im Ballhaus von Versailles, denn so wie der Heiland in einem Stall zur Welt kam, so wurde die neue Ära der Weltgeschichte in einer Sportstätte eingeläutet. In seinem berühmt-berüchtigten Geschichts-Rap in Ange Pitou hat Alexandre Dumas diese Phase der Revolutionsgeschichte in folgende freie Verse gebracht:

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»Ce Jeu de Paume nu, délabré, ouvert aux quatre vents. C’est la crèche de la sœur du Christ! C’est le berceau de la Révolution! Seulement, le Christ était fils d’une femme vierge. La Révolution était fille d’une nation violée.«3 David war am 20. Juni 1789 nicht in Versailles. Er verlagert das Prinzip der Augenzeugenschaft, das im 19. Jahrhundert so wichtig wird, in Realpersonifikationen derselben: in den Abgeordneten Bertrand Barère, der am linken Rand des Bildes dabei ist, für seine Zeitung Le point du Jour die Vorgänge festzuhalten, und in Jean-Paul Marat, der am Abschluss der Fensterreihe oben rechts für sein Blatt L’ami du peuple Aufzeichnungen macht, eine anachronistische Fiktion, die aber offenbar nötig war, um den fundamentalen Wechsel anzudeuten, der nun eingetreten war. War vorher die Menge der Zeuge der Handlungen anderer, so ist jetzt ihre Aktion das Ereignis, das sorgfältig registriert werden will. Diesen Vorgaben konnte der Maler ohne große Schwierigkeiten gerecht werden. Andere Voraussetzungen bereiteten sehr viel größere Probleme, erwiesen sich letztlich als gattungssprengende Herausforderungen. Drei Prinzipien, drei hohe Grundsätze galt es zu berücksichtigen: das demokratische Prinzip der großen Zahl, die damit seit der Aufklärung verbundene Vorstellung einer historischen Kraft und das bürgerliche Prinzip der Individuation. Die Anerkennung des ersten und zweiten Gedankens macht die sonst gebräuchliche Einsetzung von Personifikationen und legitimierenden Mächten schwierig. Es gibt eine Graphik des Ballhausschwurs von Charles Monnet, in der sich eine Wolke mit Allegorien über die locker gruppierten Abgeordneten herabsenkt (Abb. 85). In einer späteren Version wurde diese Sanktion von oben und das personifizierende Prinzip jedoch aus der Platte entfernt. Ein Restbestand einer solchen Ikonographie transzendenter »Mächte« ist bei David in den vom Sturmwind bewegten Vorhängen sowie in den Anzeichen eines Unwetters erhalten, das draußen über Versailles niedergeht und eine dramaturgische Steigerung des Künstlers darstellt: Wir wissen nur, dass es an diesem Tag geregnet hat. Der Blitz, bald ein potentes Symbol der Revolutionsikonographie, ein Zeichen für produktive Zerstörung und Reinigung, trifft hier die Schlosskirche. Die Elemente spielen also mit, ihr Eklat betont den elektrisierenden Charakter des Ereignisses. Die Rhetorikforschung hat Belege dafür gesammelt, wie das neue Phänomen der Elektrizität ein Schlagwort stiftete, das in Berichten über die Atmosphäre in den verschiedenen Parlamenten der Revolution und über die Wirkung einzelner Redner immer wieder vorkommt.4 David könnte also mit dem Blitz und dem Gewitter zweierlei gemeint haben: den Wink von oben und die Aufund Entladung, die sich atmosphärisch und im Akt der 577 Abgeordneten vollzieht. Womit wir wieder beim Bild der Menge in bürgerlicher Perspektive wären. So wie die neue Wertschätzung und Erfahrung der Macht der Vielen die Delegation der Aufgabe an eine oder mehrere Allegorien unmöglich machten, so untersagte die Anerkennung des principium individuationis einen distanzierenden Blick von oben oder eine anonymisierende Perspektive über die Schulter der Abgeordneten, wie ihn einige Versionen des Ereignisses

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85 Isidore-Stanislas-Henri Helman (nach Charles Monnet): Der Schwur im Ballhaus, 1792, Kupferstich, 35 × 46 cm

vorgaben. Keine Masse ohne, sondern eine Masse mit Gesicht also, um auf eine beliebte Formulierung der Kulturkritik des letzten Jahrhunderts anzuspielen. David lässt das kahle Gehäuse des Jeu de Paume orthogonal fluchten und hält im untermittelbaren Vordergrund einen Distanzstreifen frei und ordnet dahinter in paralleler Schicht einen Reliefstreifen aus gewissermaßen repräsentativen Repräsentanten an. Diese sind als Porträts wiedergegegeben, sie unterscheiden sich nicht nur durch ihre Physiognomie, sondern durchaus auch durch ihre Gestik und Haltung, die zwar den einen Nenner des Schwörens und damit der Zustimmung kennt, gleichwohl aber ganz verschiedene Reaktionen zulässt, angefangen ganz rechts bei der Darstellung des einzigen Abgeordneten, der sich nicht am Schwur beteiligte. David begründete so die Tradition des Mengenporträts, die im 19. Jahrhundert ein langes Nachleben hatte.5 Das Mengenporträt will beides geben: die große Zahl und das Bild des einzelnen. Es bricht so mit den älteren Darstellungskonventionen, die entweder eine große Volksmenge zu einem ununterscheidbaren und inerten Ganzen verschmelzen oder aber sie in kleine Gruppen auflösen, die sich aus typischen Vertretern der Stände, der Berufe, der Altersgruppen und Geschlechter zusammensetzen.6 Gleichwohl sind auch in Davids Schwur im

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Ballhaus Residuen der alten Schemata zu entdecken, so etwa bei den drei Vertretern der Religionen links von der Bildmitte. Zum einen sollen sie den integrativen Charakter der neuen Institution Nationalversammlung symbolisieren, welche auch die Vertreter der anderen Stände willkommen heißt, zum anderen erinnert ihre Dreizahl und die bildliche Chiffre der Vereinigung an eben die alte Ikonographie der drei Stände, welche in der Revolutionsgraphik dieser Zeit neu belebt wird und dieselbe Formel benutzt.7 In Wirklichkeit sind es aber der Karteuser Antoine-Christophe Gerle (links), der Abbé Gregoire (Mitte) und der Protestant Jean-Paul Rabaut de Saint-Étienne (rechts), die in ihrer freundschaftlichen Vereinigung den durch die Revolution ermöglichten Religionsfrieden repräsentieren. Niemand kann übersehen, dass hier der Dritte Stand die Revolution probt, aber die Darstellung ist durchsetzt von solchen Topoi einer das Ganze meinenden »Einheitssemantik«, wie sie auch im Auftreten eines Mannes aus dem menu peuple ganz links gegeben ist, der seine Einbeziehung seinem Amt als Träger des behinderten Abgeordneten Maupetit de la Mayenne verdankt, oder in der pathetischen Geste, mit der ein Deputierter die Zuschauer auf der Galerie, die Vertreter des Volkes gewissermaßen, zum Mitmachen auffordert.8

DER WILLE DES VOLKES Das Festhalten an der großen Zahl, der Verzicht auf Allegorien und das Prinzip der Individuation, all diese Entscheidungen erfassen aber noch nicht das ganze Repertoire dieser wahrhaft revolutionären Darstellung. Noch nicht gesprochen wurde über die Einsetzung der Menge als handelnde Größe. Wir haben ja in der Erklärung Baillys vernommen, dass der Schwur im Kollektiv und einzeln zu leisten war, durch mündliche Erklärung und durch Unterschrift. David kann natürlich nur den Moment des kollektiven Schwörens ins Bild setzen. Die frühe parlamentarische Theorie der bürgerlichen Revolution musste sich in Fragen der politischen Mengenlehre erst selbst orientieren. Im Grunde bewegte sie dasselbe Problem wie den Maler des Ballhausschwurs: Nachdem man den Brauch der Abstimmung nach Ständen abgeschafft hatte, galt es, das Gewicht der Mehrheit vis-à-vis der Entscheidung der Einzelnen zu bestimmen. Das scheint eine einfache Aufgabe zu sein, war es aber nicht, da die frühe bürgerliche Revolution viele mutige Handlungen und Worte von Individuen erlebt hatte und sich diese tagtäglich fortsetzten. Bailly bestand darauf, dass auch dann, wenn die Signaturen der Abgeordneten einer Resolution der Versammlung beigefügt wurden, dies nicht automatisch einen legitimen Beschluss zur Folge hätte, dieser musste durch den Willen der Versammlung als ganzer bekräftigt werden. Bailly war hier auf dem Weg zu einer politischen Gestalttheorie, welche dem Axion huldigt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Das hat er von Rousseau, der bekanntlich im Contrat social (1758) sowie in seinem Roman Émile (1762) zwischen dem Willen aller (volonté de tous) oder dem Willen der Mehrheit auf der einen Seite und dem Gemeinwillen

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(volonté générale) auf der anderen unterschieden hatte, wodurch den Individuen über ihre privaten Interessen hinaus eine neue kollektive Identität zuwächst. Für die Revolutionäre ist dieses Kollektiv zunächst mit der Nation identisch, Rousseau aber spricht an dieser Stelle von Volk (peuple). Daraus ergab sich 1789 keine wirkliche Übersetzungsproblematik, zwei Jahre später aber schon. In einem Punkt mussten sich Bailly und die ersten Theoretiker des Parlamentarismus von ihrem großen Vordenker verabschieden: Rousseau sah den Gemeinwillen als eine nichtrepräsentierbare Substanz an (»La volonté ne se représente point«). Im dritten Buch des Contrat social konstatiert er dementsprechend: »Die Abgeordneten des Volkes sind nicht die Repräsentanten des Gemeinwillens noch können sie es sein, sie sind nur seine Kommissare; sie können auch nichts definitiv beschließen. Ein Gesetz, welches das Volk nicht en personne ratifiziert, ist nichtig, es ist kein Gesetz […].«9 Die Formulierung „das Volk en personne“, ganz unabhängig von der Frage, wie man sich das praktisch vorzustellen hat, lässt erahnen, wie solche voraussetzungslosen Hypostasen, nimmt man sie ernst, den Boden für einen neuen Allegorismus vorbereiten, wie aber auch in den bald anbrechenden Zeiten der Volksherrschaft die Bemühungen Davids um individuelle Wiedergabe der Repräsentanten obsolet werden.10

BÜHNENBILD IM PARLAMENTARISCHEN THEATER Das Sujet einer parlamentarischen Zusammenkunft machte es dem Künstler aber auch 1790 nicht gerade leicht. David kompensiert die Schwierigkeit durch den extrem gesteigerten körperlichen Ausdruck des Willens der Vielen, so als wollte er Rousseau in eben dem Punkt widerlegen, dass der Wille sich nicht repräsentiert. Aber das ist nicht alles. Hinter dem reliefhaft ausgearbeiteten Streifen im Vordergrund erscheint die Menge der 577 Abgeordneten als ein Flimmern aus Körpern, Bewegungen, Atmosphäre, als ein wahres Kollektiv, das aber nicht so zeichenhaft summarisch behandelt wird wie in den alten Mengendarstellungen, sondern durchaus als Kraft spürbar wird. Wieder darf man an Elektrizität denken. Völlig unwahrscheinlich und auch nie wieder auf Darstellungen des 20. Juni 1789 angewendet ist der Aufbau einer ungebrochenen Frontlinie und die frontale Ausrichtung des Sitzungspräsidenten Bailly, der nicht die Menge adressiert, sondern seine Eidesformel ins Leere davor richtet. Eine Erklärung findet dieses Arrangement in der Bestimmung des Gemäldes: Der Auftrag für die riesige Leinwand ging vom Parlament aus, das dieses Bild in seinem Plenarsaal hinter dem Präsidenten und Rednerpult sehen wollte, »um die Gesetzgeber an den Mut zu erinnern, der für ihre Tätigkeit notwendig ist«.11 Dies wurde im November 1791 auf der Basis der von David ausgearbeiteten und im Salon ausgestellten großen Modellzeichnung beschlossen. Damals tagte die Nationalversammlung in provisorischen Lokalitäten, aber es waren zahlreiche Architekten und Dilettanten damit beschäftigt, dem Parlament ein würdiges

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86 Jacques-Louis David: Der Schwur im Ballhaus, 1791, Federzeichnung, 65 × 98 cm, Cambridge, Mass., Fogg Art Museum

Haus zu schaffen. Wir wissen, auf welchen Entwurf sich David bei der Konzeption seines Historienbildes einstellte.12 Es war der ebenfalls 1791 vorgelegte Plan der Architekten Jaques Legrand und Jaques Molinos, die Kirche der Madeleine zu einem »Palais National« umzubauen. Wir dürfen annehmen, dass der Künstler mit diesen Männern eng zusammenarbeitete, oder dass umgekehrt die Architekten das im Entstehen begriffene Gemälde so geschickt und sinnreich in ihre Pläne integrierten, dass es als zusätzliche Attraktion ihren Wettbewerbsbeitrag fördern konnte. David jedenfalls war als Mitglied der mit dem Neubau beauftragten Parlamentskommission bestens mit allen Modellen und Überlegungen vertraut. Es ist auch auffällig, dass die Erläuterung der Pläne und die Begründung, warum ein Parlament auch in einer Kirche eingerichtet werden darf, sich sehr eng an den Gedanken hält, den der Schwur im Ballhaus zuerst ausgesprochen hatte: »Jeder Ort, wo die Abgeordneten sich zusammenfinden, verwandelt sich in ein Heiligtum, selbst jene obskure Sportstätte, jenes Ballhaus, wo die Nationalversammlung zum ersten Mal den Schwur tat, in Freiheit zu leben oder zu sterben, […] wurde sofort ein geweihter Ort und wird es für immer bleiben.«13 Der Entwurf der Schauwand des hemizyklischen Plenarsaals zeigt, dass die Leinwand dort sehr hoch angebracht werden sollte, die Unterkante des Bildes auf der Höhe der obers-

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87 Jacques-Louis David: Der Schwur im Ballhaus, 1790–1792, unvollendet, Öl auf Leinwand, 3,58 × 6,48 m, Versailles, Musée national du château de Versailles et du Trianon

ten Sitzreihe der Abgeordneten, daneben die Marmortafeln mit dem Text der neuen Verfassung. Das Plenum der Abgeordneten als Auditorium, die Öffentlichkeit als Galerie, die Tribüne samt Rednerpult und Präsidentensitz als Proszenium oder Vorbühne und der Schwur im Ballhaus als Bühnenbild, das waren die Elemente des geplanten parlamentarischen Theaters. Setzen wir sie zusammen, so ergibt sich eine mehr als funktionale, eine ideologisch geformte Figur: der Kreis, das Zeichen der natürlichen Einheit. Wenn man nämlich auf die von David arrangierte Menge von oben einen Blick werfen könnte, dann würde sich ein Halbkreis ergeben, der in Bailly sein Zentrum und parallel zum Bildrand seine gerade Seite hätte. Das wäre ein forcierter, geschehenslogisch unmotivierter Halbkreis, der nach einer Fortsetzung im Raum davor, im Halbkreis des Saales und im Plenum der Abgeordneten verlangt. So kommt die Ergänzung des gemalten Halbkreises durch das reale Amphitheater des Parlaments einer Erfüllung der Appellstruktur der Malerei Davids gleich. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, auf eine Planänderung aufmerksam zu machen. Als David sich von einem perspektivkundigen Vorarbeiter den Raum einrichten ließ und in ihn seine Hauptfiguren im Umriss eintrug, da zeigten alle Fluchtlinien auf das Papier in der Hand Baillys (Abb. 86). In der endgültigen Fassung ist dieser Punkt nach oben gerückt und liegt jetzt zwischen den Augen Baillys. Der erste Hauptpunkt ist das Resultat geschehenslogischer Überlegungen: Das Bild konzentriert sich im symbolischen Konzentrat des Vorgangs, im dokumentarischen Niederschlag des Eids, in der Urkunde, die das Versprechen auf die größere Urkunde, auf die Verfassung des bürgerlichen Staats enthält. Der Übergang vom ersten zum zweiten Fluchtpunkt markiert den Wechsel von einer

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geschehenslogischen zu einer rezeptionslogischen Zentrierung der Komposition. Die Wahl des endgültigen Fluchtpunkts spitzt das Werk auf den Punkt zu, in welchem die Systeme der Kommunikation mit dem Bilde und der innerbildlichen Kommunikation verschmelzen und ihre Energien zusammenlegen, um ein Zentrum von besonders aktiver Ausstrahlung zu schaffen. Dieses Parlament in der Madeleine wurde nicht gebaut und Davids riesige Leinwand, die als Fragment im Nationalmuseum in Versailles ausgestellt wird, nie vollendet (Abb. 87). Nicht zuletzt deswegen, weil viele Abgeordnete der ersten Stunde den Kopf unter der Guillotine lassen mussten, unter ihnen Bailly. Es war übrigens deren »Erfinder«, der Abgeordnete Joseph-Ignace Guillotin, der seinen Kollegen am 20. Juni den Vorschlag machte, die Sitzung im Ballhaus fortzusetzen. Baillys Tod unter der Maschine des Dr. Guillotin am 12. November 1793 war eine bitter-ironische Verkehrung der Umstände, die im Provisorium des Ballhauses den frisch ernannten Präsidenten dazu zwangen, von einem rasch herbeigeholten Tisch die Versammlung zu leiten und den Schwur zu zelebrieren. Bailly sollte auf der Esplanade des Champ-de-Mars hingerichtet werden. Alles war vorbereitet, aber dann empfand man plötzlich die Nähe des Hinrichtungsorts zum Altar des Vaterlandes als Sakrileg. Um dieses neue »Heiligtum« der Republik pflegte David seine Revolutionsfeste herum zu inszenieren. An einer abgelegenen Stelle nahe der Seine wurde notdürftig ein zweites Schafott errichtet. Nach stundenlangem Warten fiel Baillys Kopf unter der Guillotine; jener Kopf, ohne den die Konzeption des Schwurs im Ballhaus nichts ist, blind ist. Der zeitweilige Sieg der Massen, des peuple, hatte das damit größte Gruppenbild der bürgerlichen Revolution verhindert. Aber die zahlreichen Reproduktionen der großen Vorzeichnung, die David im Salon von 1791 ausgestellt hatte, dominieren noch heute unsere Vorstellung von diesem Ereignis.

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DER TAG DANACH »NAPOLEON AUF DEM SCHLACHTFELD VON EYLAU« VON ANTOINE-JEAN GROS Gerrit Walczak

Obwohl 1792 bei Valmy der Vorstoß der gegenrevolutionären Koalition zum Halt gebracht worden war, stand Frankreich für mehr als zwei Jahrzehnte gegen wechselnde europäische Allianzen. Der Krieg überdauerte die Französische Revolution, ermöglichte den Aufstieg des Generals Napoleon Bonaparte zum Kaiser und wurde erst 1815 durch dessen Niederlage bei Waterloo beendet. Mit der monumentalen, im Salon von 1808 der Öffentlichkeit präsentierten Darstellung Napoleons auf dem winterlichen Schlachtfeld von Eylau entstand durch Antoine-Jean Gros die wohl brutalste Schilderung dieses Krieges, die zugleich am geschicktesten die historischen Tatsachen verdrehte (Abb. 88).1 Der frühere Schüler Jacques-Louis Davids schuf ein Stück napoleonischer Propaganda, dessen disparates Bildgefüge ein verlustreiches militärisches Debakel in einen Sieg umdeutete und auf die präzisen Anweisungen der kaiserlichen Kunstadministration selbst zurückging. In der mehr als fünf Meter hohen und fast acht Meter langen Darstellung ist die am 7. und 8. Februar 1807 zwischen den Franzosen auf der einen und den verbündeten Russen und Preußen auf der anderen Seite ausgefochtene Schlacht im winterlichen Ostpreußen vorüber, der Schrecken des Krieges aber wird vom Künstler erbarmungslos an den Betrachter herangeschoben und in zahllosen Details variiert: Die Mitte des Vordergrundes nehmen drei tote, vom ersten Neuschnee bedeckte russische Soldaten ein; am Bajonett des rücklings niedergesunkenen, steifgefrorenen Russen haftet gefrorenes Blut. Links von ihnen liegt ein Verwundeter; rechts der drei Toten streckt ein anderer Verletzter den Arm aus. Neben ihm versucht ein französischer Sanitäter einen Preußen festzuhalten, unter dem das Blut den Schnee verfärbt und dessen irrer Blick den Augenzeugen jenes Gemetzels verrät, das dem Betrachter vorenthalten wird. Auf seinem Tornister liegend versucht sich

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88 Antoine-Jean Gros: Napoleon auf dem Schlachtfeld bei Eylau am 9. Februar 1807, 1808, Öl auf Leinwand, 521 × 784 cm, Paris, Musée du Louvre

vor ihm ein weiterer Verwundeter emporzustemmen, während hinter ihm ein bärtiger russischer Soldat mit entsetzt erhobenen Händen die Operation erduldet, die ein anderer Sanitäter an seinem entblößten Bein vornimmt. Der Kaiser und Befehlshaber tritt erst in der Bildebene hinter diesen Opfern der Schlacht in Erscheinung. Napoleon, eingehüllt in einen wenig militärisch wirkenden, pelzgefütterten Seidenmantel, reitet auf einem Falben über das Schlachtfeld. Direkt vor ihm hat General Murat sein Pferd gewendet und scheint auf Anweisungen zu warten; im Schnee zwischen ihnen liegt ein toter Russe. Napoleon blickt mit einer segnenden Geste zurück in Richtung eines besiegten litauischen Husaren, der die Rechte auf sein Herz gelegt hat und den linken Arm ausstreckt, um dem Kaiser Gefolgschaft zu schwören. Ein französischer Sanitäter legt ihm einen Verband an, direkt neben ihm steht Pierre-François Percy, der chirurgien en chef der Armee. Zwischen dem Litauer und Napoleon knien vier Russen um Gnade flehend vor dem Feldherrn. Ein exotisch bezopfter Offizier mit bandagiertem Arm umfasst den Reitstiefel Napoleons und scheint die Packtasche mit dem goldenen kaiserlichen Adler küssen zu wollen. Zu beiden Seiten Napoleons gruppiert sich der französische Stab. Hinter der havarierten Kanone, die rechts den Bildvordergrund abschließt, wird ein verwundeter Preuße auf ein Pferd gehoben und blickt ungläubig über diesen Beweis von Menschlichkeit auf die be-

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rittenen Stabsoffiziere um den Kaiser zurück. In der Weite der schneebedeckten Felder jenseits dieser Gruppen sind links entfernte Szenen der Bergung verletzter Soldaten inmitten von langen Reihen gefallener Russen erkennbar, während sich rechts eine Kolonne Gefangener quer durch die neu aufgestellten französischen Regimenter zieht. An der hohen Horizontlinie verfinstern Rauchsäulen über dem brennenden Eylau den Himmel am Tag nach der Schlacht, in der Mittagsstunde des 9. Februar 1807. Der Aufeinanderprall der Grande Armée und der verbündeten russischen, preußischen und baltischen Truppen bei Eylau im hintersten Ostpreußen brachte Napoleon an den Rand einer desaströsen Niederlage. Fast fünf Monate lang hatte er die Reste der bei Jena und Auerstedt so rasch geschlagenen preußischen Armee nach Osten verfolgt, ohne sie stellen oder ihre Vereinigung mit den wartenden russischen Verbänden verhindern zu können. An der Weichsel ließ Napoleon Winterquartier beziehen, doch eine russische Offensive erzwang die Fortsetzung der Verfolgung unter extremen Witterungsbedingungen. Die Kämpfe begannen am Abend des 7. Februar 1807 am Rande von Eylau, als eine französische Versorgungseinheit irrtümlich in die von russischen Truppen gehaltene Ortschaft einzog.2 Dieses Vorgefecht entwickelte sich zu einer Schlacht im Dunkeln, in deren Verlauf die Franzosen Eylau erobern konnten, beide Seiten aber bereits mehrere tausend Soldaten verloren. Bei Schneesturm und Temperaturen von minus zwanzig Grad wurden die Kämpfe am nächsten Morgen wieder aufgenommen. Der Angriff unter General Augereau geriet zunächst unter das massierte Feuer eigener Artillerie; die russische Gegenattacke schlug die französischen Hauptverbände zurück bis nach Eylau hinein. Unkoordiniert und unentschieden tobten die Kämpfe vierzehn Stunden lang bis in die nächste Nacht. Selbst die Ankunft neuer Truppen unter Feldmarschall Ney am frühen Abend konnte keine Entscheidung erzwingen. Am Morgen des 9. Februar 1807 erwog Napoleon einen Rückzug, doch die russischen Verbände räumten bereits das Feld. Das an sich völlig unbedeutende Eylau war um den Preis einer der bis dahin blutigsten Schlachten der europäischen Militärgeschichte genommen und gehalten worden. Erst bei Friedland konnte der Kaiser vier Monate später den russisch-preußischen Truppen jene vernichtende Niederlage zufügen, die zum Friedensschluss von Tilsit führte.

EIN MASSAKER UND SEINE PROPAGANDISTISCHE KASCHIERUNG Die Schlacht von Eylau markierte ein Debakel nach ungewöhnlich langem Feldzug, weil der Hauptzweck, die Vernichtung des Gegners und ein anschließender Diktatfrieden, verfehlt wurden. Zugleich mussten die enormen Verluste das Vertrauen der Franzosen in den Kaiser beschädigen, dem doch allein der Ruhm als Feldherr seinen Aufstieg ermöglicht hatte. Nur Stunden nach Ende der Kämpfe begann Napoleon eine Kampagne zu orchestrieren, in der die Schlacht als ein französischer Sieg ausgegeben wurde. In den ersten Briefdiktaten an die Statthalter des Kaisers in Paris ergingen Anweisungen, die Kunde von einem

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Triumph über die Russen in die Zeitungen setzen zu lassen und die französischen Verluste mit nur 1.500 Toten und 3.000 Verletzten anzugeben. Die tatsächlichen Opferzahlen sind kaum zu ermitteln, weil sie im Rahmen dieser propagandistischen Verdrehung systematisch heruntergespielt wurden. Über das Bulletin de la Grande Armée ließ Napoleon dann die amtlichen Zahlen von nunmehr 1.900 französischen Toten und 5.700 Verwundeten verbreiten; zudem hieß es, gegenüber diesen vergleichsweise geringen Verlusten wären allein 7.000 russische Tote und ein Mehrfaches an Verletzten gezählt worden.3 Die französischen Verluste bei Eylau waren indessen so wenig geheimzuhalten, dass in Paris bald Gerüchte über eine Niederlage des Kaisers kursierten. Nahezu jede Familie in Frankreich war vom Geschehen an den Fronten direkt oder indirekt betroffen, denn das Heer Napoleons setzte sich wie schon die Armeen der Revolution weitgehend aus Wehrpflichtigen zusammen. Mit welcher Mischung aus Spannung, Bewunderung und Sorge daher die Frontberichte des Bulletin de la Grande Armée in Frankreich studiert wurden, ist Gegenstand eines ebenfalls im Salon von 1808 ausgestellten Genrebildes von Louis-Léopold Boilly, in dem eine Familie den Kriegsverlauf mit Hilfe des eben eingetroffenen Nachrichtenblattes und einer Landkarte zu verfolgen sucht (Abb. 89).4 Angesichts des unersättlichen Bedarfs nach Soldaten barg die Wehrpflicht, durch die Frankreichs Bevölkerung so eng an das Militär gebunden wurde, zugleich das größte Konfliktpotential zwischen Bürgern und Regierung. Das Kaiserreich war kaum drei Jahre alt und hatte Frankreich Siege, aber keinen Frieden gebracht; Kriegsmüdigkeit machte sich breit und selbst militärische Triumphe begannen wenig Enthusiasmus auszulösen. Das Genrebild Boillys unterschlägt das Misstrauen, das der amtlichen Propaganda entgegengebracht wurde. Bereits im Vorjahr musste Napoleon 80.000 junge Männer vorzeitig einberufen lassen, nichts war deshalb gefährlicher als die nach Paris und in die Provinz dringenden Nachrichten über das massenhafte Sterben in den Weiten Ostpreußens. Tatsächlich hatten die französischen Opferzahlen mindestens das Doppelte des amtlich Zugegebenen betragen, möglicherweise hatte der Kaiser binnen anderthalb Tagen mit bis zu 30.000 Mann sogar das Vierfache an Soldaten verloren. Percy als oberster Militärarzt der Armee beschrieb Eylau als eine »gräßliche Metzelei«.5 Die steifgefrorenen Toten im Schnee hatten ebenso oft französische wie russische oder preußische Uniformen getragen: »Ich habe noch nie so viele Tote auf einem so kleinen Areal zusammenliegen gesehen«, heißt es in den Erinnerungen eines Offiziers, »ganze Divisionen, russische und französische, waren zerhackt worden auf dem Boden, auf dem sie kämpften, und über mehr als eine Viertelmeile sah man nur Leichenberge.« 6 »Was für ein Massaker!«, so angeblich Feldmarschall Ney, »und ohne jedes Ergebnis.« 7 Kein Wunder also, wenn die offizielle Propaganda allein die Verluste unter den gegnerischen Truppen herausstrich und in allen Farben ausmalte. Drei Wochen nach der Schlacht ließ Napoleon eine Schilderung in das Bulletin de la Grande Armée einrücken, die glaubhaft zu machen suchte, im Schnee hätten nur russische Opfer gelegen: »Stelle dir, auf dem Gebiet einer Quadratmeile, neun- oder zehntausend Leichen, vier- oder fünftausend tote Pferde vor, Reihen russischer Tornister, verstreute Gewehre

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89 Louis-Léopold Boilly: Die Lektüre des »Bulletin de la Grande Armée«, 1807, Öl auf Leinwand, 44,5 × 58,5 cm, Saint Louis Art Museum

und Säbel, den Boden bedeckt mit Kugeln, Kartuschen und Munition, vierundzwanzig Kanonen, bei denen du die Leichen ihrer Mannschaften sahst, gestorben in dem Moment, in dem sie versuchten, die Flucht zu ergreifen. All dies vor dem Hintergrund des Schnees; der Anblick war geeignet, selbst in Fürsten die Liebe zum Frieden und den Abscheu vor dem Kriege zu erregen.« 8 Das napoleonische Regime beließ es nicht bei manipulierten Darstellungen der Schlacht, die offiziell oder unter der Hand in verschiedene publizistische Kanäle eingespeist wurden, sondern Wort und Bild sollten einander ergänzen. Das Gemälde von Gros verdankte dieser Strategie seine Entstehung und schloss die Propagandakampagne mit der Ausstellung im Salon des folgenden Jahres ab. Der Leiter der kaiserlichen Kunstadministration Dominique-Vivant Denon hatte zuletzt im März 1806 einen Wettbewerb ausgeschrieben und würde im nächsten der alle zwei Jahre veranstalteten Salons zahlreiche Gemälde ausstellen können, in denen die militärischen Erfolge bildnerisch verwertet würden.9 Schon während der Revolution hatte sich der französische Staat solcher concours bedient, um eine auf zeitgenössische Themen ausgerichtete Historienmalerei den eigenen

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Zwecken dienbar zu machen. Der fortgesetzte Krieg prägte diese Historienbilder; die darstellungswürdigen Heldentaten wurden allein auf dem Schlachtfeld vollbracht. In einer Epoche der Massenheere und der Wehrpflicht agierten hier allerdings nicht einzelne Helden, sondern zehntausende von Soldaten, deren Wiedergabe die konventionelle Schlachtenmalerei noch am ehesten gewährleisten konnte, ohne aber in ihrer Deskriptivität den propagandistischen Anforderungen der Idealisierung von Mut und Opferbereitschaft, Patriotismus und moralischer Überlegenheit genügen zu können. Als Mischform entstand daher eine Historienmalerei, in der die Schlachten anhand einzelner Episoden und Hauptfiguren vor dem Hintergrund des sonstigen Geschehens idealisierend und doch Authentizität beanspruchend zur Darstellung gebracht wurden.10

DER PROPAGANDAWETTBEWERB DENONS In der Verbannung von Sankt Helena erläuterte Napoleon, wie es zur Entstehung des Gemäldes kam: »Weil nach der Schlacht von Eylau Lärm geschlagen wurde, daß man den Ausgang als zweifelhaft betrachten konnte oder wollte, verlangte ich, daß man ein Gemälde mit einer Darstellung dieser Schlacht anfertigte, und daß man es sofort in Auftrag gab.« 11 So unscharf der Kaiser und Feldherr die Bedingungen der Auftragsvergabe erinnerte, so treffend benannte er die Motivation hinter dieser Bestellung. Ein Schlachtengemälde wird vom Sieger in Auftrag gegeben, nicht vom Verlierer, und wenn die Geschichte in den Zeitungen umgeschrieben wurde, so musste die Überredungskunst eines Historienmalers solcher Manipulation der öffentlichen Meinung ihre letzte und dauerhafteste Bestätigung geben. Fünf Wochen nach der Schlacht wurde das detaillierte Programm der Ausschreibung durch Denon paraphiert und bald in den Pariser Gazetten veröffentlicht. Ölskizzen sollten eingereicht werden, die Ausführung des Siegerentwurfes würde mit 16.000 Francs bezahlt. Ausgelobt wurde eine großformatige Darstellung der Schlacht bei Eylau, die in der Geschichte einen »herausragenden Platz« einnehme, doch sollte gar nicht der Kampf selbst geschildert werden, »weil alle Schlachten einen ähnlichen Charakter aufweisen«, so die bemerkenswerte Begründung.12 Angeblich aus dieser gattungsästhetischen Überlegung heraus war der Moment am Folgetag zu schildern, »als der Kaiser, das Schlachtfeld aufsuchend, den ehrbaren Opfern der Kämpfe unterschiedslos Hilfe und Trost bringt«. Natürlich konnte sich nur die Siegerseite in den Besitz des umkämpften Terrains gebracht haben, für dessen exakte Wiedergabe Denon die potentiellen Teilnehmer des Wettbewerbs auf eine in der Direktion des Musée Napoleon einsehbare und vermutlich von ihm selbst angefertigte Zeichnung verwies, die sich leider nicht erhalten hat. In ihr waren nicht nur die topographischen Parameter vorgegeben, sondern auch die geforderten Personengruppen. Das vorgeschriebene Bildthema postulierte den angeblichen militärischen Triumph Napoleons nur indirekt und verlagerte den Fokus stattdessen auf die behauptete Humanität

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des Kaisers, die im gewünschten Gemälde anhand zahlreicher, den Künstlern zur Auswahl gestellter und in der gezeichneten Vorgabe veranschaulichter Details und Episoden vorgeführt werden sollte, die Denon in dreizehn Punkten erläuterte: »Nach jedem Schritt hält der Kaiser vor den Verletzten, läßt sie in ihrer Sprache befragen und unter seinen Augen trösten und versorgen.«13 Denons Ausschreibungstext spricht explizit von einer »scène de carnage«, doch handelt es sich bei den Betroffenen nicht um französische Verwundete, wie schon der Hinweis darauf zeigt, dass der fürsorgliche Feldherr die Hilfe von Dolmetschern benötigt. Die Wahrheit, dass sich bei Eylau ein furchtbares Blutbad ereignet hatte, ließ sich nicht unterdrücken, doch sollte allein der Gegner als Opfer vorgeführt werden. Je schlimmer dessen Leid, desto größer der vorangehende Kampf; je widriger die winterlichen Umstände, desto heldenhafter der Sieg. An den »unglücklichen Opfern der Schlacht«, die nun – von der eigenen Gräuelpropaganda getäuscht – den Tod erwarteten und stattdessen verblüfft ihre Wunden von französischen Sanitätern und Ärzten versorgt finden, sollte sich zugleich die Menschlichkeit und zivilisatorische Größe Napoleons erweisen, sie sollte das eigentliche Bildthema darstellen.14 Die von Denon erfundene Episode des verletzten litauischen Husaren, der sich beim Anblick des Hilfe bringenden Kaisers aufrichtet, krönt schließlich das Bildprogramm durch ein Bekehrungserlebnis. Der junge Balte, dessen Gesicht und Uniform genau beschrieben werden, spricht Napoleon an: »Caesar […], du willst, daß ich lebe, und gut! Wenn man mich heilt, werde ich dir so treu dienen, wie ich Alexander gedient habe.«15 Die Anweisungen der Kunstadministration verraten in der Genauigkeit, mit der den Künstlern Vorschriften gemacht wurden, die ungewöhnlich klaren Vorstellungen, die Napoleon und Denon von der Funktion des gewünschten Werks entwickelt hatten. Die Intention des Wettbewerbs verbot es, den Künstlern allzu viel Freiheit zu lassen, denn als lediglich ausführende Hände sollten sie die längst amtlich betriebene Geschichtsverfälschung mit den Mitteln zeitgenössischer Historienmalerei legitimieren. Der zu prämierende Entwurf hätte das Geschehen nicht nur einer beschönigenden Selektion zu unterwerfen, wodurch ein französischer Sieg ohne sichtbare eigene Opfer suggeriert werden sollte, sondern selbst die so detailliert in den Vordergrund gerückte Sorge des Kaisers um die verwundeten Gegner und ihre so effiziente Versorgung widersprach der historischen Wirklichkeit in höchstem Grade. Die Mehrzahl der französischen Sanitätseinheiten hatte den Kampftruppen gar nicht bis Eylau folgen können. Einzelne, sie begleitende Detachements waren in der Schlacht selbst aufgerieben worden, und die wenigen verbleibenden Sanitäter und Ärzte sahen sich bereits durch die enorme Zahl französischer Verwundeter völlig überfordert. Von einer nennenswerten Versorgung gegnerischer Verletzter konnte keine Rede sein, vielmehr wurden erst zwei Tage nach der Schlacht einige Hundert überlebende Russen eingesammelt. Tausende andere erfroren auf dem Schlachtfeld oder empfingen von den Franzosen den Gnadenstich mit dem Bajonett. An den präzisen Vorgaben der Ausschreibung arbeiteten sich insgesamt sechsundzwanzig Historienmaler ab. Ihre Entwürfe wurden im Mai 1807 im Musée Napoléon

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öffentlich ausgestellt und Mitte des nächsten Monats von einer Jury begutachtet, die sich aus etablierten Künstlern des Institut National zusammensetzte. Gros musste als der Favorit des Wettbewerbes gelten, denn weder beteiligte sich ein einziger Künstler aus der Generation seines Lehrers David, noch reagierten die erfolgreichsten unter seinen Konkurrenten, so seine einstigen Mitschüler Girodet oder Gérard, auf die Ausschreibung. Die Ölskizze von Gros, die dieser als letzter eingereicht hatte, galt sowohl bei den über die Exposition berichtenden Kunstkritikern als auch beim Publikum und der Jury als der überlegene Anwärter auf den Preis.16 Im Juni 1807 wurde Gros zum Gewinner erklärt und mit der Ausführung des monumentalen Gemäldes beauftragt. Die Kunstadministration hatte durch die Ausschreibung des Wettbewerbs, durch die Ausstellung der Beiträge und die Preisverleihung kaum vier Monate nach der Schlacht dafür gesorgt, dass das für den Salon des nächsten Jahres zu erwartende Gemälde bereits vor der Ausführung seine propagandistische Wirkung entfaltete. Schon die Wettbewerbsbeiträge und die ihnen gewidmeten publizistischen Kommentare wirkten den Gerüchten über ein militärisches Debakel in Ostpreußen entgegen.

HEIL UND HEROISMUS Der Auftrag über die Darstellung Napoleons auf dem Schlachtfeld von Eylau stellte nicht die erste Glorifizierung des Feldherrn durch ein Historienbild aus der Hand von Antoine-Jean Gros dar. Der Künstler war vor Beginn der jakobinischen Schreckensherrschaft nach Italien gegangen und dem damaligen General Bonaparte schon 1796 in Mailand begegnet, wo er dessen Porträt als Anführer des Handstreichs zur Einnahme der Brücke von Arcole malte (Versailles, Musée national du château). Gros kehrte erst nach Paris zurück, als Bonaparte sich durch den Staatsstreich vom November 1799 an die Macht geputscht hatte. Ein Thema aus dem Ägyptenfeldzug des Generals, die Schlacht bei Nazareth, bildete den Gegenstand des ersten Wettbewerbs, den das neue Regime im April 1801 in die Wege leitete. Gros konnte bereits diesen concours für sich entscheiden, doch blieb es bei der Ölskizze (Nantes, Musée des Beaux-Arts). Stattdessen wurde Gros mit der Darstellung einer anderen Episode aus der Ägyptenexpedition beauftragt, mit der Schilderung von Bonapartes Visite bei pestkranken französischen Soldaten und türkischen Gefangenen im März 1799 in Jaffa (Abb. 90). Das Gemälde, dass den Feldherrn als einen von der Gefahr der Ansteckung unerschrockenen Mildtäter inmitten Kranker und Sterbender zeigt, konnte Gros 1804 im Salon präsentieren; es begeisterte das Publikum wie die Auftraggeber, verschaffte dem Künstler eine erstrangige Reputation und wirkte noch auf die Ausschreibung nach der Schlacht von Eylau ein. Hatte Jaffa den Endpunkt des letztlich vergeblichen Ägyptenfeldzugs markiert, so bot dieses Gemälde ein Muster, wie ein verlustreicher Fehlschlag in einen Triumph verwandelt werden konnte. In den präzisen Vorgaben, die im März 1807 für die neue Ausschreibung entwickelt wurden, ist das Bemühen offenkundig, Napoleon

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90 Antoine-Jean Gros: Bonaparte im Pesthaus von Jaffa am 11. März 1799, 1804, Öl auf Leinwand, 532 × 720 cm, Paris, Musée du Louvre

in einem Moment nach Ende der Kampfhandlungen ein zweites Mal als mildtätigen Heilsbringer darzustellen, dessen Sorge um die Besiegten als Ausweis der französischen mission civilisatrice gegenüber vermeintlichen Halbbarbaren wie Mamelucken und Türken oder Russen zu verstehen ist. Bereits den sterbenden Pestkranken im Gemälde von 1804 hatte Gros den unmittelbaren Bildvordergrund angewiesen; erst hinter dieser Anhäufung siecher Figurationen des Leides trat der Feldherr auf. In der Ausschreibung für die Schlacht von Eylau und mutmaßlich auch in der Vorzeichnung Denons war vorgeschrieben gewesen, den Vordergrund mit einer ähnlichen Ansammlung Toter und Verletzter zu füllen, doch hier war den Teilnehmern des Wettbewerbs jene künstlerische Freiheit zugesagt worden, die ihnen in allen anderen Punkten verwehrt blieb: »Alles, was im Vordergrund beweglich ist«, so hatte Denon in der sonst so peniblen Vorgabe versichert, »bleibt gänzlich der Diskretion der Künstler überlassen«.17 Gros war derjenige, der innerhalb dieser einzigen Zone gestalterischer Autonomie, die ganz der Verbildlichung der Schrecken des Krieges zu widmen war, die maximale Wirkung erreichte. Seine Vordergrundfiguren besaßen im fertigen Gemälde nicht nur fast doppelte Lebensgröße, sondern sie und ihr Leid waren dadurch individualisiert – und zugleich monumentalisiert – worden, dass es Gros bei einer vergleichsweise

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kleinen Zahl einzeln erfassbarer, Grauen und Mitleid erregender Toter und Verwundeter im Schnee beließ. An den Wänden des Salons im August und September 1808 verlangte die großformatige Darstellung eine Hängung über den Köpfen der Betrachter, weshalb die Ausstellungsbesucher auf fast acht Metern Länge von den sterbenden oder erfrorenen Schreckgestalten an der vorderen Bildkante, direkt über sich, bedrängt wurden. Noch Eugène Delacroix sollte Jahrzehnte später die »Poesie der Details« bewundern, die Gros »in den Dienst des Schrecklichen und des Erhabenen« gestellt hatte.18 Erst weit darüber wurden die Besucher des Salons der berittenen Gestalt Napoleons ansichtig, dessen Segensgeste in Richtung des litauischen Husaren aus der Untersicht auch dem vom Schock der ersten Wahrnehmung gezeichneten Betrachter gelten musste. Gelang dem Maler das noch während der Ausstellung mit dem Kreuz der Ehrenlegion belohnte Kunststück, das Grauen des nachrevolutionären Massenkrieges der propagandistischen Umdeutung eines Debakels dienbar zu machen, so sollte erst Stendhal diesem Schrecken drei Jahrzehnte später in der Chartreuse de Parme eine literarische, jeden Versuch einer Sinngebung verweigernde Form geben: Der surreale Irrgang seines Protagonisten über das Schlachtfeld von Waterloo überzeugt deshalb, anders als das Gemälde von Gros, noch heute.

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DAS PATHOS DER SINNLOSIGKEIT MODERNE GESCHICHTSERFAHRUNG IN FRANCISCO GOYAS »ERSCHIESSUNG DER AUFSTÄNDISCHEN« Werner Busch

Man kann über Goyas berühmtes Gemälde Die Erschießung der Aufständischen (3. Mai 1808) nicht handeln, ohne nicht auch auf dessen Pendant einzugehen, den Kampf mit den Mamelucken an der Puerta del Sol (2. Mai 1808).1 Beide Bilder sind 1814 entstanden und beschäftigen sich mit Ursache und Wirkung eines politischen Ereignisses, das in der spanischen Nationalgeschichte eine entscheidende Rolle spielt (Abb. 91–92). Es spricht manches dafür, dass die Auftragserteilung durch den Regentschaftsrat im Zusammenhang mit der Rückkehr König Ferdinands VII. aus dem französischen Exil nach dem endgültigen Sieg Wellingtons und Blüchers über Napoleon zu sehen ist. Goya hatte selbst um den Auftrag nachgesucht und am 24. Februar 1814 an den Rat geschrieben, er habe »den glühenden Wunsch, mittels des Pinsels die bemerkenswertesten und heroischsten Taten oder Szenen unserer ruhmreichen Erhebung gegen den Tyrannen Europas zu verewigen«.2 Das ist ein höchlichst paradoxer Text, in dem sich bereits Goyas gänzlich ambivalente Rolle und indirekt das nicht wieder aufzuhebende Problem neuzeitlicher Historienmalerei spiegelt. Goya war königlicher Hofmaler und als solcher wollte er mit seinem Bild eine Loyalitätsadresse abgeben und seine Einkünfte sichern. Dies mag noch verständlich erscheinen, doch politisch war das Vorhaben kaum zu rechtfertigen, sondern Ausdruck eines irritierenden Opportunismus. Die politischen Verhältnisse waren kompliziert. Manuel Godoy, der Günstling von Königin Maria Luisa, regierte Spanien über den Kopf des schwachen Königs Karl IV. hinweg mit harter Hand. Er war ein Machtmensch, aber auch ein begnadeter Politiker, der versuchte, liberale Reformen, durchaus nach französisch-aufklärerischem Vorbild durchzusetzen. Ein Großteil der Bevölkerung aber sah nur seine uneingeschränkte Macht und

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91 Francisco de Goya: Die Erschießung der Aufständischen (3. Mai 1808), 1814, Öl auf Leinwand, 2,66 × 3,45 cm, Madrid, Museo del Prado

seinen grenzenlosen Einfluss auf die Königin. Als die französischen Truppen unter General Murat Ende 1807 in Spanien einmarschierten, wurden sie zuerst allenthalben begrüßt. Weite Bevölkerungskreise hofften, er werde mit der ungeliebten Regierung Godoys ein Ende machen und den Thronfolger Ferdinand VII. installieren. Die aufgeklärten afrancesados, die Franzosenfreunde, dagegen sahen die Chance, die liberalen Reformen gegen Hof und Kirche fortführen zu können.3 Und Goya gehörte entschieden zu diesen Franzosenfreunden, setzte auf aufgeklärte Zirkel und Minister, empfing von dort Aufträge, vor allem aber wurde er von Godoy protegiert. Die Nackte Maja und die Bekleidete Maja hatte Goya um 1800 für dessen sogenanntes »Venuskabinett« gemalt, er hatte ihn als siegreichen Feldherrn verewigt und war ihm auch in persönlichen Dingen zu Diensten. Der Politiker besaß am Ende seiner Karriere 1808 immerhin sechzehn Gemälde des Künstlers. Im März 1808 besetzte Murat gegen den ausdrücklichen Befehl Napoleons die Stadt Madrid, Karl IV. erklärte seinen Rücktritt zugunsten seines Sohnes, der als Ferdinand VII. triumphal in Madrid einzog. Goya bekam den Auftrag, ein Reiterporträt Ferdinands zu malen, der zuvor einen Aufstand gegen Godoy angezettelt hatte, bei dem dieser fast ge-

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92 Francisco de Goya: Kampf mit den Mamelucken an der Puerta del Sol (2. Mai 1808), 2,66 × 3,45 cm, Madrid, Museo del Prado

lyncht wurde. Godoy dagegen hatte versucht, Ferdinand mit Hilfe Napoleons loszuwerden. Der Kaiser der Franzosen ließ die Protagonisten nach Bayonne kommen und setzte sie dort fest, erst Karl IV., Maria Luisa und Godoy, dann auch Ferdinand VII., den Napoleon zwang, die Krone an Karl IV. zurückzugeben, der daraufhin abdanken musste. Als auch noch die letzten Mitglieder der königlichen Familie aus Madrid nach Bayonne abreisten und der Eindruck entstehen musste, Napoleon wolle Spanien gänzlich der königlichen Familie berauben, brach am 2. Mai 1808 mit dem Aufstand der Madrider Bevölkerung der spanische Unabhängigkeitskrieg aus. Der Madrider Aufstand wurde von Murats Truppen blutig niedergeschlagen, was zu den Massenerschießungen am 3. Mai führte. Beides hat Goya in seinen Bildern dargestellt. Die Franzosen hatten sich durch brutales Vorgehen schnell in Spanien unbeliebt gemacht. In den nächsten Jahren wurden die regulären spanischen Truppen von Guerillagruppen aus der Bevölkerung unterstützt, zugleich formierte sich eine politische Opposition, erst in Sevilla, dann in Cadiz. Napoleon, der seinen Bruder Joseph Bonaparte zum König gemacht hatte, musste erkennen, dass sich die Verhältnisse schrittweise zu seinen Ungunsten verschoben, besonders durch das Eingreifen der engli-

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schen Armee unter Wellington von Portugal aus. Juni 1813 wurden die Franzosen endgültig von Wellington geschlagen, nachdem er schon ein Jahr zuvor einen ersten großen Sieg errungen hatte und in Madrid einmarschiert war.

VERWEIGERUNG ÄSTHETISCHER BEFRIEDUNG Goya war für die jeweiligen Machthaber in Madrid tätig, für Ferdinand, für die Franzosen, für Wellington. Gelegentlich konnte kaum die Farbe trocknen, und das Reiterporträt des einen Herrschers musste mit dem Porträt des nächsten übermalt werden. Dabei fand Goya seinen politischen Ort durchaus und zwar in der oppositionellen liberalen Verfassung von Cadiz aus dem Jahre 1812 mit der Einschränkung der königlichen und adligen Rechte, mit der Regelung über die frei gewählten Stadträte und andere Reformen mehr. Zwar wurde die römisch-katholische Kirche als alleinige Staatskirche anerkannt, doch der Inquisition sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Nach Wellingtons Sieg über Napoleon ging eine Welle des Nationalismus durch Spanien, es kam zu einer Massenabwanderung liberaler Franzosenfreunde. An Ferdinands Rückkehr knüpften sich in der Bevölkerung wahre Heilserwartungen, vor allem von der Kirche geschürt. Am 7. Mai 1814 zog Ferdinand feierlich in Madrid ein, und es ist immer vermutet worden, dass Goyas Bilder zum 2. und 3. Mai 1808 die Triumphbögen zu diesem Anlass geschmückt haben. Doch nun setzte eine wahre Liberalenhatz ein, es kam zu Säuberungen und der sofortigen Wiedereinführung der Inquisition. Goya überstand beides, obwohl er vor das Inquisitionstribunal geladen wurde und sich unter anderem für seine als unzüchtig angesehenen Maja-Bilder verantworten musste. Man sagte zu seinen Gunsten aus, er habe nach alten Studien Porträts von Ferdinand gemalt, doch das Vertrauen des Hofes konnte er nicht zurückgewinnen, die Zweifel an seiner politischen Zuverlässigkeit konnten nicht vollständig ausgeräumt werden, da half aller Opportunismus nicht. So sind die Bilder von Aufstand und Erschießung im Mai 1808 einerseits Ergebenheitsadressen, doch andererseits hebt ihre spezifische Erscheinung die beabsichtigte Funktion der Gemälde, die heroischen Taten Spaniens zu verherrlichen, gleich wieder auf. Und so ist es kein Wunder, dass die Bilder unmittelbar nach der Rückkehr Ferdinands für lange Zeit in den Kellern des Prado verschwanden. Nur eine genaue Betrachtung der beiden Bilder kann klären, warum sie zur Apotheose nicht mehr taugten, warum Parteinahme als positive Aussage für eine Fraktion für alle Zukunft nicht mehr funktionieren konnte und als Propaganda oder Ideologie durchschaubar wurde: Was blieb, ist die Anklage im Namen der Menschheit. Der Kampf mit den Mamelucken an der Puerta del Sol (2. Mai 1808) zeigt den blutigen Widerstand der Madrider Bevölkerung gegen General Murats berittene Soldaten, einen Ausbruch hemmungsloser Gewalt auf beiden Seiten. Da wird geschossen, geschlagen, gestochen nach allem, was sich bewegt. So gut wie keiner der bewaffnet Kämpfenden, der nicht zugleich wieder von einer fremden Waffe bedroht würde. Eine Ordnung ist schwer auszumachen, von überleg-

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tem, kontrolliertem Angriff zeigt das Bild nichts. Sofern sie es noch vermögen, scheinen die Mamelucken nach rechts aus dem Bilde zu sprengen. Die Aufständischen drängen von links aus der Tiefe des Platzes nach vorn. Im eigentlichen Kampfstreifen, im Bildvordergrund, versucht man die Reiter von ihren Pferden zu zerren. Selbst wenn an zentraler Stelle ein Mameluck hingeschlachtet und zugleich sein Pferd abgestochen wird, selbst wenn die berittenen Krieger sich eher zur Flucht wenden – schließlich blicken sie alle zurück –, ein Siegesbild der Spanier ist dies nicht. Der Wahn leuchtet gleichermaßen aus den Gesichtern der spanischen Widerstandskämpfer im Zentrum des Bildvordergrundes wie aus den Gesichtern der Mamelucken. Leichen gibt es auf beiden Seiten, Hierarchien existieren nicht mehr; und deswegen gibt es auch keinen eigentlichen Helden, auf den das Geschehen ausgerichtet wäre. Im absoluten Bildzentrum befindet sich die leuchtend rote Hose eines kopfüber vom Pferde gestürzten Mamelucken, dessen herabhängender Oberkörper blutig zerstochen ist. So zieht das Zentrum durch das leuchtende Rot das Auge zwar auf sich, wirkt aber in seiner ungewöhnlichen Form auch auf seltsame Art und Weise leer. Säße der Mameluck noch im Sattel, so wäre er die bildbeherrschende Figur. Sein riesiges Pferd, ein Falbe oder Apfelschimmel, steht auf den Hinterbeinen, in der klassischen Pose der Levade, die dem Reiterporträt des Herrschers zukommt. Goya hat sie oft verwendet, zuletzt 1812 für Wellington (London, Apsley House).4 Hier aber ist die Bedeutung der Pose ins Gegenteil verkehrt: Der Reiter stürzt ins Nichts, das Pferd wird abgestochen. Ungeordnet wie die Menge links erscheint die Ansammlung der Pferdeleiber rechts, allenfalls ein Bewegungsschub aus der Tiefe links nach vorn rechts ist auszumachen. Sein Beginn wird durch das dramatische Motiv des Spaniers, der einen Mamelucken auf seinem Pferd anspringt, markiert, sein Verlauf durch die sich stark verkürzenden Gebäude der Platzbebauung, die sich nach vorn hin über den Reitern in Nebel aufzulösen scheinen. Wie man weiß, entsprechen sie nicht der realen Bebauung.5 Die Architektur dient so nicht pimär der exakten Bezeichnung der Örtlichkeit, sondern soll vor allem den Bewegungsimpuls fortsetzen. Das Bild verweigert damit den Dokumentcharakter, es ist allein Ausdruck der kämpfenden Kräfte. Letztlich ist dies ein abstraktes Moment. Das Zentrum wird nicht gegenständlich besetzt, der Raum ist nicht wirklich messbar, die Örtlichkeit nicht genau festgehalten; Über- und Unterordnung, selbst Zuordnung werden nicht recht erkennbar, die kämpfenden und stürzenden Leiber sind auch anatomisch nicht korrekt wiedergegeben. Da dies alles bewusst verweigert wird, sehen wir Kämpfen, Stürzen, Stechen als das eigentliche Bildthema. Das zweite Gemälde, Die Erschießung der Aufständischen (3. Mai 1808), ist sicher das künstlerisch komplexere, konzentriertere; es ist Ausdruck dramatischer, nicht zu überbietender Zuspitzung. Ein Erschießungskommando französischer Infanteristen hat auf eine Gruppe kniender spanischer Aufständischer angelegt. In ihrem Zentrum, hervorstechend mit leuchtend weißem Hemd und gelber Hose, mit weit ausgebreiteten Armen und panisch aufgerissenen Augen auf die Schergen starrend, kniet ein derber Kerl, vor ihm ein grellroter Strom von Blut, davor und darin Leichen. Dicht gedrängt neben der

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Hauptfigur ein gebeugter, zu Boden blickender Mönch mit verkrampft betenden Händen, über ihm erstarrt mit geballten Fäusten, den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen ebenfalls weit aufgerissen, ein schwarz gekleideter Mann, hinter dem noch drei weitere Opfer auftauchen. Ganz im Schatten, etwas abgesetzt, links am Bildrand, nur schemenhaft zu erkennen, scheint eine Mutter mit ihrem Kind zu hocken. Aus dem Bildhintergrund, von einem Konvent, trotten Scharen weiterer Opfer heran. Die vordersten sind zu erkennen, sofern nicht die Spitzen der Bajonette ihre Gesichter »zerschneiden«. Am eindringlichsten ist der Ausdruck des Mannes links: Er steht zusammengekrampft, hat beide Hände vor dem Mund geballt, er mag den Kopf nicht wenden, nur die Augen starren panisch zur Seite, den Gewehren entgegen. Vor den aufgereihten Schergen, deren Gesichter nicht zu sehen sind, erleuchtet eine riesige würfelförmige Lampe die nächtliche Hinrichtungsszene. Im Rücken der Opfer fällt ein lehmfarbener Hügel zum fernen Konvent hin ab, dessen Turm Henker- und Opfergruppe optisch scheidet. Die aufsteigende Schattenlinie der Lampe antwortet einerseits dem abfallenden Hügel und setzt sich andererseits in der Fluchtlinie der anonymen Soldaten bis zum Bildrand fort, deren Staffelung nicht den Regeln der Perspektive folgt. Über dem Hügelrücken und dem Konvent breitet sich ein schmutziger, grünbrauner Nachthimmel aus. Die extreme Wirkung des Bildes beruht unter anderem darauf, dass der Betrachter sich unausweichlich auf Seiten der Henker befindet. Die Opfer sind samt und sonders verdammt zu sterben, die Überlebenden sind notwendigerweise schuldig, Ausführungsgehilfen des Entsetzlichen. Sie befinden sich mit den anonymen Schergen diesseits der Schattenlinie. Jedes klassische Bilddrama legt es darauf an, das Grausige in der Darstellung künstlerisch aufzuheben, Goyas Bild dagegen verweigert sich ästhetischer Befriedung. Es ist in diesem Sinne kunstlos; es stellt nicht nur Brutales da, es ist auch brutal gemalt. Wenn man einmal im Prado angesichts des übergroßen Formats das Gesicht der vorderen, in einer Blutlache liegenden Leiche gesehen hat, weiß man, was gemeint ist. Es ist ein zerfetztes, zerrissenes Gesicht, aus dem sich die menschlichen Züge verloren haben, und es ist dementsprechend mit groben, ungeordneten, ungeglätteten Pinselhieben gemalt, die das Rot des Blutes, das fahle Gelb der Haut und das tiefe Schwarz der Schatten unvermittelt nebeneinander stehenlassen. Aber auch die übrigen Körper und Gegenstände sind nicht eigentlich geformt, sie haben kein Volumen, keine Rundung, keine Fülle, ja, sie scheinen sich – wie die hockende Frau mit ihrem Kind – gelegentlich aufzulösen, ihre Körperhaftigkeit zu verlieren. Der kahle Hügel ist eine bloße Folie, es nimmt nicht wunder, dass mancher Betrachter in ihm eine Mauer gesehen hat. Die Gegenstände haben keinen Eigenwert mehr, sie stiften nicht die Beziehungen im Raum. Die Malmaterie bleibt sichtbar, die Faktur, der einzelne Pinselstrich sind in ihrer Erscheinung selten gelöscht; einmal hat eine Form zur Abgrenzung einen groben Umriss, ein andermal geht sie unartikuliert in eine andere Form über. Die Kategorien »skizzenhaft« und »vollendet« haben vor einem solchen Bild keine Gültigkeit mehr. Die Malmaterie ist jeweils so weit entwickelt wie für die Aussageabsicht erforderlich. Der Hügelverlauf etwa zählt nur in seiner Entsprechung zur Schattenlinie.

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Beide Linien weisen auf die Mitte der Schergen, bilden so einen Lichtkeil, in den die Gewehre um so unausweichlicher hineinragen. Wie beim ersten Bild ist der Raum nicht wirklich messbar, die Örtlichkeit nicht wirklich identifizierbar: Auch hier scheint die Architektur nicht der Realität zu entsprechen; sie hat primär Bildfunktion. Der Eindruck von Authentizität wird nicht durch die Wiedergabe des objektiv Gegebenen bewirkt, sondern durch die mit Kunstmitteln gesteigerte Eindringlichkeit.

DAS ENDE TRADITIONELLER BILDFUNKTIONEN Es trifft sicher zu, dass Goya als Hofmaler zu den Privilegierten gehörte, dass er sich diese Privilegien bis hin zur Selbstverleugnung zu erhalten suchte und sich durch die Zeitläufe lavierte. Aber ebenso richtig ist es, dass Goya in den nicht veröffentlichten Radierungen Desastres de la guerra (1810–1814) einen Ort fand, sich die Erfahrungen des unvorstellbar grausamen Krieges von der Seele zu schreiben. Bei ihm wäre also eine zeittypische Spaltung in angepasst-offizielle und aufklärerisch-private Kunst festzustellen. Doch reicht diese Klassifizierung als Erklärung nicht aus. Es ist vielmehr zu fragen, ob nicht die Erfahrung des Krieges, der eigenen hochgradig verunsicherten Existenz, der völligen politischen Relativität, der Aufhebung aller Werte, der Verkehrung aller Ordnungen, des überhaupt nicht mehr greifbaren Sinns politischen, religiösen und sozialen Handelns, ob nicht alle diese Erfahrungen einschneidende Konsequenzen für Goyas Art und Weise der künstlerischen Darstellung gehabt haben. Wenn die Welt aus den Fugen ist, wie ist da noch die geläufige Ordnung im Bild aufrechtzuerhalten? Wenn die Bezüge unter den Menschen unklar geworden sind, wie soll da Handlung im Bild noch anschaulich werden? Wenn die Begriffe keine Eindeutigkeit mehr haben, weil ihr Sinn pervertiert wurde und die sinnbestimmenden Institutionen selbst höchst fragwürdig wurden, wenn die überlieferten Erklärungsbilder also nicht mehr taugen, wie soll da noch Sinn im Bild gestiftet werden können? Können Bilder überhaupt noch traditionelle Funktionen übernehmen? Lügen sie dann, wenn sie es versuchen, nicht zwangsläufig? Und schließlich: Wenn sie nicht mehr positiv Sinn stiften, was tun sie dann? Um das in der doppelten Bedeutung des Wortes Traditionsaufhebende von Goyas Erschießungsbild wirklich bestimmen zu können, gilt es aus dem Blickwinkel der tradierten Kunstauffassung zwei Fragen zu beantworten. Welcher Gattung gehört Goyas Werk an? Wie verarbeitet der Maler die klassische Kunst- und Thementradition? Die Gattungsfrage ist nicht leicht zu klären. Goyas Bilder waren keine direkten Auftragsarbeiten; er hatte beim Regentschaftsrat um Unterstützung für Gemälde nachgesucht, die, wie er schrieb, die ruhmreiche Erhebung gegen Napoleon, den Tyrannen Europas, verewigen sollten. Nach nur eineinhalb Monaten, am 7. Mai 1814, zu Ferdinands Einzug in Madrid, waren die beiden immerhin 2,66 mal 3,45 Meter großen Bilder fertig. Waren die Historien wirklich, wie die Tradition es will, an einem der Triumphbögen zum Einzug des Königs befestigt, dann

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93 Theodor van Thulden (nach Peter Paul Rubens): Arcus Ferdinandini Pars Anterior, Radierung und Kupferstich, 53,1 × 38,5 cm, aus: Pompa Introitus honori Ferdinandi […], Antwerpen 1641, fol. 99

hatten sie damit allerdings eine klassische Funktion. Wenn Rubens etwa einem anderen Ferdinand, dem Kardinal-Infanten Ferdinand von Spanien, bei dessen Einzug in Antwerpen 1 635 Triumphbögen mit großen Bildern schmückte, dann hatten diese Bilder ein genaues Programm zur Verherrlichung des Siegers in der Schlacht von Nördlingen (Abb. 93).6 Sie stellten die Schlacht selbst dar, allerdings als bloßen Hintergrund für den zu

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Pferd in der Levade posierenden Feldherrn und zeigen Ferdinand in einem antikischen Triumphzug oder in allegorischer Einkleidung als Herkules am Scheideweg, der sich für die Kriegstugend entscheidet. Das heißt: Es wurde der komplette Apparat klassischer Kunst benutzt, um in traditionellen Verständigungsbildern dem Herrscherruhm Ausdruck zu verleihen. Es wäre Rubens und seiner Zeit nicht in den Sinn gekommen, diese auf universalen Anspruch und göttliche Rechtfertigung zielende Darstellung eines historischen Ereignisses für unangemessen zu halten oder die Schlacht gar aus der Perspektive der Opfer zu sehen. Die hohe Form mit ihrer Funktion, auf übergeordnete Rechtfertigungszusammenhänge zu verweisen, blendete individuelles Schicksal und existentielle Erfahrung aus, etwa die von Angst und Schrecken. Wenn Goya dagegen die Schlacht als Entfesselung wahnwitziger Triebe und das Resultat der Schlacht als brutale Vernichtung menschlicher Existenz begreift, dann können derartige Bilder ihre konventionelle Funktion im Dienste der Verherrlichung des Herrschers nicht mehr erfüllen. Für das Erschießungsbild wäre allerdings auch eine andere gattungsmäßige Zuordnung denkbar, ja, naheliegend, nämlich die Zuordnung zum Märtyrerbild, das – besonders seit der Gegenreformation – grausig genug sein konnte.7 Ein solches Gemälde zeigt Blut, Leichen, Verstümmelung. Das Martyrium wird aus Gründen religiöser Überzeugungskraft bewusst eindringlich vorgeführt, aber es ist immer auch zugleich Erlösung, unmittelbarer Weg zu Gott. Entweder spiegelt sich die Verklärung bereits im Gesicht des Opfers, oder ein Heilszeichen erscheint, die Märtyrerpalme wird gereicht; die Heilsgewissheit kann auch in der höchsten Pein nicht ausbleiben, nur so bekommt der Tod seinen Sinn, kann der Märtyrer Vorbild sein. Gleichsam in Gewissheit eines zukünftigen Lebens bleibt auch der verstümmelte oder tote Märtyrer in schöner Körperlichkeit erhalten. Sein Körper löst sich nicht wie bei Goya in formlose Farbmaterie auf. Angesichts der mechanischen Tötung will sich im Erschießungsbild der Gedanke an Erlösung nicht mehr einstellen. Das für die religiös-didaktische Funktion Entscheidende eines Märtyrerbildes scheint zu fehlen. Kann nach dieser Feststellung die Frage nach Goyas Verarbeitung der Kunst- und Thementradition überhaupt noch sinnvoll sein? Kann eine solche Verarbeitung, wenn sie denn vorliegt, für die Bedeutung des Bildes noch relevant sein, wo wir doch zugleich zu konstatieren haben, dass es sich einer klassischen Gattungszuordnung nicht mehr fügt? Das ist ein entscheidendes Problem, und die Tatsache, dass es bisher nicht aufgeworfen wurde, hat in der Forschung zu einander diametral entgegengesetzten Deutungen des Bildes geführt. Schon vor längerer Zeit hat man gesehen, dass das zentrale, hell erleuchtete Opfer mit den weit ausgebreiteten Armen Wundmale an den Händen trägt.8 Seine Pose hat man entweder verstanden als die des sterbenden Christus am Kreuz oder auch als die des zu Gott flehenden Christus am Ölberg im Garten Gethsemane. Mit dieser entscheidenden christlichen Würdeformel wäre das hervorgehobene Opfer in der Tat zum göttlich ausgezeichneten Märtyrer geworden. Politisch interpretiert wäre sein Opfertod für die Freiheit Spaniens geleistet, das Bild würde damit eine Art von pathetischer Freiheitsikone. Dem gegenüber steht die Deutung des Bildes als Ausdruck unausweichlichen Ausgeliefertseins und völliger

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Hoffnungslosigkeit. Festzuhalten ist: Das Opfer trägt die Wundmale und seine Pose ist eine Pathosformel. Zu fragen bleibt, ob ihre Herkunft nicht noch genauer zu klären ist, und wie sie im Zusammenhang der ebenfalls zu Recht bemerkten Ausdrucksdimension der hoffnungslosen Unausweichlichkeit zu verstehen wäre.

ÄSTHETIK DER WIDERSPRÜCHE Wir haben bei Goya ein zusammengesetztes Motiv vor uns, das sich aus verschiedenen Herkunftsbereichen nährt; und erstaunlicherweise kommen sie gleichermaßen zur Wirkung. Das Grundmotiv ist das Gethsemanemotiv, das für Klage, Opfer und Empfangen steht: Zu ihm gehören das Knien und das Ausbreiten der Arme. Es verbindet sich mit dem Kreuzigungsmotiv, das für den Opfertod eines Unschuldigen steht: Zu ihm gehören wiederum das Ausbreiten der Arme, dann aber vor allem die Wundmale und das im Leiden leicht zur Seite gesunkene Haupt. Aus der Passions-Ikonographie dürfte im übrigen auch das Motiv der großen würfelförmigen Lampe stammen, von der die nächtliche Szene grell beleuchtet wird. Passionszyklen beginnen in der Regel mit der Gethsemaneszene und enden mit der Auferstehung Christi. Auf die erste Szene folgt unmittelbar die Gefangennahme Christi im Garten Gethsemane, und dabei erleuchtet grundsätzlich eine große Tragelampe im Bildvordergrund das nächtliche Geschehen, in dem, wie es in der Bibel heißt, Christus von den Schergen wie ein Mörder behandelt wird. Man könnte also argumentieren, dass Goya die jedem Spanier vertrauten christlichen Verständigungsbilder in seinem Sinne nutzt. Er kombiniert die Gethsemane-Ikonographie mit dem Motiv der eigentlichen Passion, bietet aber keine Auferstehung, keine Erlösung an. Diese Kombination von Gethsemane und Kreuzigung ist durchaus nicht willkürlich, weder ikonographisch noch theologisch: Der heilige Franziskus etwa empfängt in der Pose des Christus in Gethsemane die Stigmata. Die Passion wird in der Passionsankündigung bereits anschaulich. Auch dieses Bild war jedem Spanier geläufig. Ungewöhnlich ist allerdings die Verweigerung der Erlösung, und um dies zu veranschaulichen, greift Goya auf einen weiteren Herkunftsbereich zurück, auf die populäre tagespolitische Graphik. Denn nur hier konnte er unmittelbar verständliche Bildprägungen finden und damit Ausdrucksbereiche eröffnen, die gehobener, klassisch-akademischer Kunstsprache, aber auch christlicher Ikonographie verschlossen waren. Man ist leicht geneigt, einen solchen Bereich realistisch zu nennen; das ist richtig und falsch zugleich. Die populäre Graphik findet in der Tat überzeugende Chiffren, Zeichen, Ausdrucksformen für Panik, Angst, für Verstümmelung oder brutale Gewalt. In ihrer unter die Haut gehenden Direktheit machen sie die Schlagkraft solcher Darstellungen aus. Erreicht wird dies allerdings nicht durch genaue Wiedergabe, sondern durch zuspitzende Verkürzung oder Übertreibung. Man weiß, dass neben der eigenen volkstümlichen Tradition vor allem in Wellingtons Gefolge englische populäre Graphik mit anti-napoleonischer Ausrichtung in

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Spanien verbreitet wurde, und man hat mit gutem Grund darauf hingewiesen, dass Goya für Die Erschießung der Aufständischen Anregungen von der Propaganda-Graphik eines englischen Künstlers namens Robert K. Porter empfangen hat.9 Dieser war 1808 mit dem englischen Heer in Spanien, um die Kriegsereignisse im Bilde festzuhalten, und es ist gut möglich, dass seine Graphik in Goyas Hände gekommen ist. Eines von Porters Blättern, 1803 datiert, zeigt unter dem Titel Bonaparte massakriert 3800 Mann in Jaffa, in äußerst grobschlächtiger Manier wie in Reih und Glied aufmarschierte Franzosen wehrlose, gefesselte Orientalen auf Napoleons Befehl erschießen (Abb. 94). Außerdem findet sich im nahen Vordergrund eine Gruppe von Turbanträgern mit schreckensweit aufgerissenen Augen, verkrampften Leibern und geballten Fäusten, vor ihnen kopfübergestürzte, in ihrem Blut liegende Leichen. Die Köpfe, vor allem die Augen, und die Hände sind übergroß gezeichnet, die Verkrampfung ist durch anatomisch gänzlich unmögliche Verdrehung der Gliedmaßen, die Unausweichlichkeit des Massakers durch überspitzte Nähe von Henkern und Opfern verdeutlicht. Das heißt, gerade die Abweichung vom anatomisch, perspektivisch oder räumlich Möglichen, die im Wortsinne extreme Konzentration oder Verdichtung macht die Dimension des Entsetzlichen erst anschaulich. Auch Goyas namenloses zentrales Opfer hat zu kurze Arme, zu große Hände, riesige Augen, seine Begleiter zeigen ihre völlige Verkrampfung gerade in physisch nicht denkbarer leiblicher Verdrehung, Opfer und Henker sind auch hier zu nah aneinandergerückt. Das Außerordentliche an Goyas Bild ist, dass es ihm gelingt, diese Dimension der populären Gebrauchskunst mit dem Anspruch und der Tradition der hohen Kunst zu vermitteln und in einer neuen Kunstsprache zusammenzuführen. Goyas Erschießung der Aufständischen ist widersprüchlich. Wir realisieren die christliche Figuration und ihre zugehörigen Bedeutungsgehalte von Gethsemane und Kreuzigung, wir sehen sie aber eingefügt in einen Zusammenhang, der die christliche Konsequenz der Erlösung verweigert. Dieser neue Kontext ist Ergebnis von Goyas Gegenwartserfahrung, künstlerisch erobert er ihn mit Hilfe der Möglichkeiten populärer Graphik. Für deren Darstellungsweise allerdings findet er in der Malerei eine völlig neuartige Entsprechung, er argumentiert mit der Farbbehandlung, der Art der Faktur. Die Konfrontation von neuem Kontext in neuer Behandlungsweise und alter Bedeutung bleibt als Spannung im Bild bestehen. Erst das erklärt die diametral entgegengesetzten Deutungsangebote der Forschung. Denn die Entscheidung darüber, was als dominant erfahren wird, ist dem Betrachter überantwortet. Liest er das Bild im Sinne des christlichen Zeichens, so kann er vom Opfertod für die Freiheit Spaniens sprechen und das Bild letztlich als Triumphbild begreifen; dann muss er allerdings die Ausdrucksdimension der Hoffnungslosigkeit unterdrücken. Erfährt er aber diese als vorherrschend – und der Maler unternimmt alles, um sie zu steigern –, so muss er die Sinnlosigkeit der christlichen Zeichen feststellen. Es ist möglich, dass er hinund hergerissen ist, weil traditionelle Ikonographie und neue Wirkungsform miteinander konkurrieren. Der Betrachter hat sich nach Maßgabe seiner Gegenwarts- und Welterfahrung zu entscheiden.

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94 Robert K. Porter: Bonaparte massakriert 3.800 Mann in Jaffa, 1803, Radierung, 44,1 × 28,8 cm, Berlin, Privatbesitz

Die neue Wirkungsform ist ausgezeichnet durch ein Abweichen von traditioneller Anatomie-, Perspektiv- und Malauffassung, durch gegenständliche Verrückung, Verdrehung, Verzeichnung, durch Zuspitzung, Übertreibung, Verkürzung, die jeweils dazu eingesetzt werden, um die Eindringlichkeit zu steigern. Dies sind nicht beliebig zur Verfügung stehende künstlerische Mittel, sondern Resultanten historischer Erfahrung, und sie haben weitreichende Folgen für das, was ein Bild ist und in Zukunft sein kann. Wenn die Hauptfigur in ihrer Pose aus einer Spiegelung der vor ihr liegenden Leiche mit dem zerfetzten Gesicht gewonnen erscheint, wenn man geradezu von einem Vorher und Nachher sprechen kann, dann ist die Frage nach dem Sinn des Todes mit Unausweichlichkeit gestellt. Die Vorstellung, dass der Tod der Übergang zu einem anderen höheren Seinszustand ist,

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scheint angesichts der Deformation dieses Gesichtes nicht mehr möglich, der Tod erscheint als bloßes Ende, als Auslöschung. Damit scheitert auch die Vorstellung, dass ein Bild Exemplum sein kann, im Namen einer höheren Moral spricht, auf etwas Sinngebendes verweist. Es kann nur in einer pathetischen Geste die Sinnlosigkeit als das große Problem der Gegenwart vorführen. Es kann uns die Unausweichlichkeit vorführen, die Gewalt und Brutalität, den Angriff auf die Würde des Menschen, aber nicht die Würde selbst. Sie zu verteidigen, ist der Betrachter aufgefordert. Er ist Zeuge der von Menschen verantworteten Grausamkeit. Das ist in der Tat die Erfahrung der Moderne, und Goya scheint der erste, der die künstlerischen Mittel fand, ihr vollständig Ausdruck zu geben.

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SCHIFFBRUCH DES ZUSCHAUERS THÉODORE GÉRICAULTS »FLOSS DER MEDUSA« ALS DEKONSTRUKTION DES HISTORIENBILDES Gregor Wedekind

Das Ereignis, welches dem französischen Maler Théodore Géricault Anlass für ein großes Gemälde wurde, war nichts weiter als ein banales Unglück: eine hässliche Bagatelle in der Geschichte der Seefahrt. Eine in Paris erscheinende Zeitung teilte am 8. September 1816 in einer entsprechend knappen Notiz mit: »Die Fregatte Medusa ist am 2. Juli um 3 Uhr nachmittags auf der Sandbank von Arguin gescheitert, zwanzig Meilen vom Kap Blanc. Sechs Schaluppen und Beiboote der Medusa haben einen großen Teil ihrer Mannschaft und ihrer Passagiere gerettet. Von 150 Männern, die sich auf ein Floß gerettet hatten, sind 135 umgekommen.« 1 Ihrem Charakter nach ist diese Mitteilung den faits divers, den Vermischten Nachrichten zugehörig, gewalttätigen, bizarren, anekdotischen Themen des Tagesgeschehens. Tatsächlich war der Schiffbruch der Fregatte Medusa nicht nur einer unter unzähligen anderen Schiffbrüchen in der Geschichte der Seefahrt, er war darüber hinaus von provozierender Unnötigkeit. Keine Naturgewalt, kein das einzelne Menschendasein übersteigendes Schicksal, noch sonst eine höhere Macht waren als seine Ursache zu veranschlagen. Verschuldet war er allein durch die Inkompetenz des Kapitäns Hugues de Chaumareys und die mancher seiner Offiziere. Sehenden Auges war man unvorsichtig und ignorant vor der Westküste Afrikas bei schönem Wetter und ruhiger See mit sanftem Knirschen auf Grund gelaufen und in einer in allen Seekarten eingezeichneten Sandbank steckengeblieben. Mangelnde Sorgfalt bei der Navigation und hastige Eile in dem Willen, möglichst schnell an den Bestimmungsort Saint-Louis zu gelangen, wo das Expeditionskorps die zwischenzeitlich an England gefallene, aber mit dem Abkommen von Paris 1814 Frankreich wieder zugesprochene Kolonie Senegal erneut in seinen Besitz nehmen sollte, addierten sich zu einer folgenschweren Fehleinschätzung der eigenen Position. Mensch-

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liches Versagen, aus Überheblichkeit resultierende Lässlichkeiten waren so die Ursache des Ereignisses, das seiner Natur nach nicht einer Überhöhung durch Kunst würdig war.

AUS DER PERSPEKTIVE EINES AUGENZEUGEN Obgleich das Sujet gemäß der traditionellen Gattungshierarchie allein das mittlere Format des Genres zugelassen hätte, machte Géricault es zum Gegenstand eines großformatigen Historienbildes (Abb. 95). Eines Bildes, das dazu bestimmt war, im Salon von 1819 an seine frühreifen Erfolge von 1812 und 1814 anzuschließen und sich nach seinem über ein Jahr dauernden Aufenthalt in Italien dem Pariser Publikum erneut vorzustellen; eines Bildes auch, das mit einem Paukenschlag seine Meisterschaft und seinen Anspruch auf Ruhm ein für allemal begründen sollte. Für die Wahl des Stoffes sprachen zwei gewichtige Gründe. Zum einen seine politischen Implikationen, zum andern seine humanitärmoralische Dimension. Brisant war der Schiffbruch der Medusa, da er das Resultat der politischen Linie des Marineministers der Restaurationsregierung François Joseph Dubouchage darstellte, adelige Rückkehrer aus dem Exil in Ämter zurückzubringen, aus denen sie vor langer Zeit vertrieben worden waren oder die sie aufgrund der Revolution gar nicht erst eingenommen hatten.2 Der Kapitän der Medusa war dafür ein typisches Beispiel. Obwohl de Chaumareys nie das Kommando über einen größeren Flottenverband geführt hatte und seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr zur See gefahren war, wurde dieser vollständig unerfahrene Mann lediglich aufgrund seiner Zugehörigkeit zum royalistischen Lager mit einer Aufgabe betraut, der er nicht gewachsen war. Diese Praxis des zuständigen Ministers wurde nun durch seine politischen Gegenspieler aus dem gemäßigten Regierungslager angeprangert. Der Polizeipräfekt Elie Décazes lancierte in der Presse einen Bericht des Unglücks mit dem Ziel, die extreme royalistische Rechte zu diskreditieren. Er konnte bei seinem Vorhaben auf die Sympathie von Ludwig XVIII. rechnen. Dubouchage kam aufgrund der Öffentlichkeit, der sich die Affäre nun ausgeliefert sah, nicht mehr umhin, de Chaumareys vor ein Marinegericht stellen zu lassen, wobei er versuchte, die Angelegenheit klein zu halten, und ein mildes Urteil in Form einer Haftstrafe erreichte, das die Todesstrafe umging. Als im Sommer 1817 die Ultras bei den Wahlen eine Niederlage erlitten, wurde Dubouchage schließlich zum Rücktritt gezwungen. Seine Nachfolger gingen eilends daran, die Marine neu zu organisieren und vor allem das Offizierskorps von denjenigen zu befreien, die als Rückkehrer vielleicht Königstreue, aber keinerlei Verdienst noch Erfahrung in der Seefahrt vorweisen konnten. Der Schiffbruch der Medusa hatte damit zu gravierenden Veränderungen der politischen Lage in Frankreich beigetragen. Zwei der Verantwortlichen, Dubouchage und de Chaumareys, waren ihrer Ämter verlustig gegangen oder sogar bestraft und degradiert worden. Die politische Krise im engeren Sinne war damit im Sommer 1817 ausgestanden, zu einer Zeit als Géricault noch in Rom in Bewunderung der alten Meister weilte.

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Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1819, Öl auf Leinwand, 491 × 716 cm, Paris, Musée du Louvre

Nicht ausgestanden war jedoch die moralische Legitimationskrise, in die das Unglück die Restaurationsregierung stürzte, zumal erst nach und nach dessen humanitäre Dimension deutlich wurde. In seiner sensationellen Wirkung auf das Publikum war es vor allem durch die Schilderungen der Ereignisse bestimmt, die sich auf jenem unglückseligen Floß abgespielt hatten, das auch Géricault zum Gegenstand seines Bildes machen sollte. Da die Beiboote nur für etwa 250 Passagiere ausreichten, die Medusa aber insgesamt etwa 400 Personen an Bord hatte, wurden nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen, das Schiff wieder flott zu machen, am 5. Juli die restlichen 150 Personen, größtenteils Soldaten der französischen Kolonialtruppen, auf einem hastig aus Mast- und Takelwerk zusammengezimmerten Floß eingeschifft. Die ordentlichen Beiboote, auf denen sich der Kapitän der Medusa, seine Offiziere, der zukünftige Gouverneur des Senegal mit seinem Stab und seiner Familie, sowie alle anderen Mitreisenden in Sicherheit gebracht hatten, sollten das Floß an die nahe Küste schleppen. Sie ließen es jedoch im Stich, indem sie, kaum hatte der Konvoi sich formiert und Fahrt aufgenommen, das Schlepptau kappten. Ein Ruf ertönte: »Nous les abandonnons!« (»Wir lassen sie zurück!«) Der offene Verrat der auf dem Floß zusammengepferchten Mannschaften durch Vorgesetzte und Kameraden konnte eklatanter nicht sein. Alleingelassen, ohne Navigationsgeräte und ohne Ruder, ohne ausreichende Vorräte sollte dieses steuerlos auf dem Ozean treibende Floß in den folgenden dreizehn

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Tagen Schauplatz unvorstellbarer Leiden und grauenerregender Gewaltszenen werden. Auf engstem Raum und auf schwankendem Grund wurde eine unvorbereitete Menschengesellschaft in eine Situation gestoßen, in der nur noch das nackte Überleben galt und alle Errungenschaften der Zivilisation im Eiltempo verloren gingen. Ausgesetzt waren die 150 Schiffbrüchigen dem Hunger und Durst, der Kälte der Nächte sowie der Sonnenglut des Äquators am Tage, den Stürmen und dem in großen Brechern über das Floß schlagenden Salzwasser, das die Haut zerfraß und höllische, nämlich brennende Schmerzen zur Folge hatte. Der Grund, auf dem die Männer standen, war tückisch, da zwischen den mit Tauen zusammengebundenen Holzstämmen und Planken des Floßes zahlreiche Löcher klafften, so dass es einiger Anstrengung bedurfte, um nicht dazwischen zu geraten und seine Gliedmaßen zerquetscht zu bekommen oder den darunter im Wasser lauernden Haien und Seenesseln zum Opfer zu fallen. Ausgesetzt waren sie aber auch ihren Mitmenschen, den Leidesgenossen, unter denen schon bald ein erbarmungsloser Kampf um die sichersten Plätze, die wenigen Lebensmittel und die Macht auf dem Floß ausbrechen sollte. In verschiedenen Meutereien wurden die Körper der Kämpfenden teilweise übel zugerichtet. Einige der Meuterer gingen mangels Bewaffnung sogar dazu über, ihre Gegner, die zahlenmäßig kleine Gruppe der Offiziere und Zivilisten, mit bloßen Zähnen anzugreifen und zu beißen. Ab dem vierten Tag waren Akte von Kannibalismus zu verzeichnen, dem sich im Kampf gegen den Hunger schließlich alle Überlebenden anschlossen, indem sie Fleischstücke aus Leichnamen herausschnitten, zum Trocknen aufhängten und schließlich verschlangen. 135 von 150 Schiffbrüchigen fielen diesen Umständen in den folgenden dreizehn Tagen zum Opfer, bevor am 17. Juli fünfzehn Überlebende von der Brick Argus zufällig gerettet wurden. Es waren diese besonders grauenhaften Vorfälle, die zudem das Resultat des empörenden Versagens der verantwortlichen Autoritäten waren, die dem Stoff seine besondere Dimension verliehen. Für die Überlebenden war die Geschichte mit ihrer Rettung nicht ausgestanden. Der Wundarzt Henri Savigny, der den ersten Bericht über die Vorkommnisse geschrieben hatte, wurde auf Betreiben der Verantwortlichen, insbesondere des Gouverneurs im Senegal Julien Schmaltz als Lügner abgestempelt und im Gegenzug selbst für die Greultaten auf dem Floß verantwortlich gemacht. Angesichts dieser teils verleumderischen, teils abwieglerischen, teils indifferenten Haltung von Seiten der Verantwortlichen und Vorgesetzten, die ihnen Entschädigung und Anerkennung für das erlittene Unbill versagten, beschlossen Savigny und ein weiterer Überlebender, der Ingenieur Alexandre Corréard, ihre Sache nun zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen und ihre Erlebnisse in Form eines Buches zu publizieren. Sein Erscheinen Anfang November 1817 fiel zusammen mit der Rückkehr Géricaults aus Italien nach Paris. Von Anfang an schlug der Bericht der beiden Überlebenden in ganz Europa hohe Wellen. Er verkaufte sich in großen Stückzahlen und wurde umgehend ins Englische und Deutsche übersetzt und in beiden Ländern verlegt.3 Offenbar war der Umstand, dass der Bericht vom Unglück tiefste Emotionen ausgelöst hatte, für den Künstler ausschlaggebend, sich dem Thema zuzuwenden.

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Géricault las nicht nur das Buch von Savigny und Corréard, das in aller Munde war, er bemühte sich darüber hinaus darum, die beiden Autoren und andere Überlebende kennenzulernen, um sich ein möglichst umfassendes Bild von dem Unglücksfall machen zu können. Charles Clément, der Autor der ersten Monographie über den Künstler, hat dieses Vorgehen mit der Beharrlichkeit und peinlichen Genauigkeit der Arbeit eines Untersuchungsrichters verglichen.4 Laut Clément legte sich Géricault ein regelrechtes Dossier an, in dem er Informationen und Dokumente versammelte, die das Unglück betrafen. Von Corréard und Savigny habe er sich die Geschichte in allen Einzelheiten wiedergeben lassen und daraufhin verschiedene Skizzen angefertigt, die ihm später bei der Ausarbeitung des Gemäldes dienten. Darüber hinaus habe er auch den Zimmermann der Medusa aufgetrieben, der ebenfalls die Floßfahrt überlebt hatte, und sich von ihm ein kleines Modell des Floßes anfertigen lassen, das in skrupulöser Exaktheit alle Details des Fahrzeugs wiedergegeben habe. Der Künstler habe darauf Wachsfiguren platziert, um das Ereignis nachzustellen und Skizzen anzufertigen.5 Bereits Savigny und Corréard hatten ihrem Buch, um der konkreten Anschauung aufzuhelfen, einen Stich mit einem Plan des Floßes beigefügt, der seinerseits eine minutiöse Rekonstruktion des Gebildes darstellt (Abb. 96). Im fertigen Gemälde sind einige Details davon wiederzuerkennen: so einer der Mastbäume, die das Grundgerüst des Floßes bildeten und von denen zwei in einer U-förmigen Gabel enden. Eines dieser charakteristischen Enden ist direkt über dem ganz rechts außen im Vordergrund ins Meer rutschenden Toten zu sehen. Hat man sich so vergegenwärtigt, dass man im Gemälde auf das hintere linke Eck des Floßes blickt, fällt es auch leichter, den in starker Verkürzung gegebenen, im Schatten liegenden vorderen Teil des Floßes auszumachen, der sich unterhalb der riesigen heranrollenden dunklen Welle befindet. Es lassen sich dort die beiden Stangen der Brahmsegel erkennen, die man zu einem spitzen Winkel zusammengebunden hatte und die das Vorderteil des Floßes bildeten, wie es sowohl auf dem Plan Corréards zu sehen als auch im Bericht nachzulesen ist. Indem der Künstler die Augenzeugen befragte, sich von ihnen Informationen geben ließ und sie selbst als Anschauungsmaterial für Porträtstudien nutzte, versuchte er für sich selbst die Perspektive eines Augenzeugen zu konstruieren. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Géricault zur Vorbereitung seines Bildes in ungewöhnlichem Maße auf die dokumentierten Einzelheiten zurückgriff, wie er auch in ungewöhnlichem Maße an einer realistischen Wiedergabe dieser Materialien interessiert war. Wo sie ihm nicht zur Verfügung standen, wusste er sich adäquaten Ersatz zu verschaffen. Seien es die Köpfe, die Körper oder das Floß, seien es das Leiden und Sterben der Opfer, alles sollte den »Stempel der Wahrheit« tragen.6 So besorgte der Maler sich als Vorlagen für eine realistische Anschauung Leichenteile aus einem Krankenhaus, wie er auch keinen Aufwand für die Darstellung des Meeres und des Himmels scheute, für deren genaues Studium er sich eigens nach Le Havre begab. Bei der Ausarbeitung seines Bildes konnte er sich jedoch keineswegs mit einer einfachen Rekonstruktion begnügen, sondern war – Augenzeugen hin oder her – als Maler gezwungen, die Komposition auszuarbeiten, festzulegen, kurz gesagt,

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96 Alexandre Corréard: Planzeichnung des Floßes, 1817, Kupferstich, Frontispiz aus Jean-Baptiste Henri Savigny u. Alexandre Corréard: Naufrage de la Frégate La Méduse […], Paris 1817

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zu erfinden. Mehr noch: Die überlieferten und auch die von Géricault mühevoll rekonstruierten Einzelheiten wurden seinem Gestaltungswillen unterworfen und notfalls geopfert. Die zahlreichen Skizzenblätter und Studien, die im Laufe der Ausarbeitung des Bildthemas entstanden, zeugen hiervon. Viele dieser Zeichnungen entstanden dabei nicht nach der Natur, sondern nach Figuren aus den Werken großer Meister. Neben den Künstlern, für die er eine Präferenz hatte, wie Rubens, aber auch Michelangelo, Caravaggio oder Raffael, waren es vor allem Sujets wie Erlösung und Auferstehung, das Jüngste Gericht und der Höllensturz, die dabei Pate standen.7 Die Transformation des Tagesereignisses zum Historienbild geht mit höchster Konzentration vor sich, mit einer Reduzierung der Details und einer sorgfältigen Auswahl des darzustellenden Moments, der maximale Offenheit und maximales imaginatives Potential aufweist. Dabei ging es Géricault nicht darum, seinen Ausgangspunkt, den kruden Stoff des Schiffsunglückes, den er gleichsam als »Untersuchungsrichter« rekonstruiert hatte, im Laufe der Ausarbeitung hinter sich zu lassen und ihn der Dignität der Historienmalerei samt ihrer ikonographischen und kompositorischen Tradition zu opfern, um Realität durch Kunst abzulösen. Im Gegenteil war es vielmehr so, dass in dem Ereignis etwas lag, was sein Ansinnen, daraus Historienmalerei zu machen, erheblich stärkte. Die stilisierenden Überhöhungen nahm er nicht deswegen vor, um den realistischen Gehalt des Stoffes zurückzudrängen, sondern um ihn hervorzuheben. Sein Problem bestand weniger darin, wie er seinen Stoff nobilitieren und vom Genre – wo er eigentlich hingehörte – zur Historie übersetzen konnte, sondern vielmehr darin, die rücksichtslose Mischung von niedriger und hoher Stillage so vorzunehmen, dass jene Erfahrung von Wirklichkeit dabei möglich wurde, um die es ihm offenbar zu tun war. Dokumentarische Recherche und pikturale Konstruktion stehen bei dem Versuch, eine dem Ereignis adäquate Anschauungsform zu finden, nicht im Gegensatz zueinander, sie gehen vielmehr Hand in Hand.

ERNEUERUNG DER HISTORIENMALEREI Was dabei herauskam, war ein Bild, das die herkömmlichen Anforderungen an die Gattung radikal transformierte. Es zeigt inmitten eines stürmisch bewegten Ozeans das Floß mit der sich auf ihm befindlichen Gruppe von Männern, die sich mit letzter Kraft ihrem Untergang entgegenstemmen. In ihrer nach rechts oben weisenden keilförmigen Hinordnung zum Horizont, an dem ein winziges Segelschiff sichtbar ist, hält das Bild auf den ersten Blick eine strukturierende Erzählung im Sinne klassischer Historienmalerei bereit, die es anekdotenhaft auf den Moment der Hoffnung hin ordnet. Dementsprechend weist es klassische Kompositionsprinzipen wie die pyramidale Form und das Herausheben einer Hauptfigur durch die Lichtführung beziehungsweise durch ihre Freistellung über der Horizontlinie auf, sind der Ausdruck und die Affekte der dargestellten Personen abgestuft und differenziert. Das Ensemble der Schiffbrüchigen ist in Untergruppen aufgeteilt, die je

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verschieden auf das Ereignis des am Horizont auftauchenden Schiffes reagieren. Die Darstellung handelt von praktischen Taten, wie dem Erklimmen eines Fasses, das Schwenken von Tüchern, dem Abstützen des Kameraden oder von kommunikativen Gesten, wie die des Zeigenden, bis hin zu reaktivem Ausdruck von Leidenschaften, von ungläubigem Staunen, flehendem Hoffen, verhaltener Skepsis. Andere dagegen bleiben von dem Ereignis unberührt, sei es, weil sie in abgrundtiefe Verzweiflung oder Resignation gefallen sind, sei es, weil sie Sterbende oder Tote sind. Greifen manche Hände nach der letzten Hoffnung, sind andere längst kraftlos hingesunken. Stehen manche Münder offen und äußern Rufe der Hoffnung und der Freude, sind andere von Seufzern geöffnet und vom Stöhnen, das ihnen vor ihrem Ableben noch entwichen sein mag. An der Spitze derer, die nach dem Schiff am Horizont winken, hat sich ein farbiger Mann geschoben, der mit Hilfe seiner Kameraden ein Fass erklommen hat. Seine Gestalt wurde von Géricault mit der Studie eines Rückenaktes vorbereitet, der seine Inspiration dem Torso des Belvedere verdanken mag. Aus der Anordnung des Farbigen an der Spitze der Menschenpyramide haben einzelne Betrachter des Bildes den Schluss gezogen, dass Géricault damit dem Geist seiner Epoche zum Ausdruck verholfen habe und ein Manifest des Aufbruchs und der Emanzipation der unterdrückten Klassen und Rassen gemalt habe.8 Diese Interpretation wird seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts insbesondere von der amerikanischen Forschung vertreten, die in dem Bild die politisch korrekte, radikal demokratische Vision eines kollektiven Körpers sieht, der sich in seinem Martyrium aufschwingt, um die marginalisierten Mitglieder der Gesellschaft zu stützen und an seine Spitze zu heben.9 Eine Lesart, die an einen Deutungsstrang anknüpft, der bereits im Bericht von Corréard und Savigny anklingt und demzufolge, wie ein Dichter namens Louis Brault es 1818 in einer Ode auf das Unglück ausdrückte, sich hier einige couragierte Franzosen als moderne Argonauten ihrem Untergang widersetzt hätten.10 Der Historiker Jules Michelet explizierte ähnliches in einer revolutionär gestimmten Vorlesung von 1848, wonach das Floß das Unglück Frankreichs darstelle, den Untergang der Nation unter der schlechten Herrschaft der Bourbonen, wogegen sich der Körper des unterdrückten Volkes revolutionär auflehne.11 Insofern hat man es mit einem modernen Historienbild zu tun, das, um den heldischen Körper der wahren Nation, die gloire des guten Frankreichs repräsentieren zu können, nicht länger den Körper des Königs, sondern den des zwar leidenden, aber sich aufbäumenden und einer besseren Zukunft zugewandten Volkes vorzeigt. Der Bezugspunkt für die Vergegenwärtigung des Historischen ist nicht mehr der absolutistische Monarch, sondern der Volkskörper. Doch einer solchen eindeutigen politisch-moralischen Lesart des Gemäldes steht die zeitgenössische Perspektive, wie sie zu rekonstruieren ist, entgegen. Indem ausgerechnet ein anonymer Farbiger, der zudem nur von hinten zu sehen ist, an eine kompositorische Heldenposition gesetzt worden ist, wurde dem Publikum, das gewöhnt war, in einem Historienbild nach einer Heldenfigur Ausschau zu halten, nichts geboten; die zahlreichen Salonkritiken sind auf die Figur tatsächlich auch so gut wie nicht zu sprechen gekommen. Die zweite, besonders auffällige Figur des Bildes, die des resignierten Patriar-

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chen im linken Vordergrund wird durch ihre Isolation und Inaktivität und die Unvermitteltheit ihrer Stellung unter den anderen Überlebenden ebenfalls aus der Sphäre des Helden herausgehalten. Und erst recht gilt dies für die ganz in den Hintergrund gedrängten, hinter dem Mast stehenden Autoren Corréard und Savigny. Damit bietet das Bild nirgends jene Hierarchien auf, die Unterschiede ordnet, wie sie sowohl für Liberale als auch Konservative bedeutsam waren. Demgemäß war auch die moralische Botschaft, die das Bild angeblich verkünden soll, bei den zeitgenössischen Kritikern keineswegs ausgemacht. Vielmehr sahen die meisten in »diesem monströsen Gemälde« vor allem eine Apologie des Niedrigen und Hässlichen und monierten das Fehlen einer moralischen Botschaft und einer heroischen Hauptfigur, eines positiven Helden.12 So fragte ein Kritiker: »Wo ist hier das Zentrum? Auf welche Figur muss man sich hauptsächlich konzentrieren und was ist der allgemeine Ausdruck des Sujets? Einige zur Hälfte überschwemmte Kadaver, einige Tote und einige Sterbende, einige der Hoffnungslosigkeit ausgelieferte Männer und einige andere, welche sich auf einen schwachen Strahl Hoffnung stützen, das sind die Elemente dieser Komposition, die der Künstler trotz seines hervorragenden Talents, das man ihm zugesteht, nicht in einer befriedigenden Weise anzuordnen wusste.«13 Ohne den normativen Anspruch dieser Kritik übernehmen zu müssen, kann sie den Blick darauf zu lenken helfen, was sich an Géricaults Gemälde, gemessen an den traditionellen Anforderungen des Historienbildes, als nicht konsistent erweist. So bricht Géricault, entgegen der narrativen Natur der Gattung, Linearität als das kompositionelle Rückgrat aller Handlungsabläufe auf. Das Bild ist auf einen Hiatus gebaut und hat eine Leere zum Zentrum. Die Bilderzählung wird stillgestellt, fragmentiert, statt Anekdoten bleiben Figuren. Und kein Held weit und breit. In Bezug auf Géricaults Gemälde von einem heldischen Protagonisten zu reden, ist schwierig bis unsinnig, ist es dem Bild doch kein Anliegen mehr, einen Handlungsablauf zu illustrieren. Noch in den Vorstudien hatte Géricault jenes Schiff, welches schließlich durch Zufall das Floß finden sollte, zunächst in einer gewissen Nähe zum Floß dargestellt und damit als ein konkret sichtbares Objekt. Die Entscheidung, das rettende Schiff zu minimalisieren und als einen winzigen Punkt an den Horizont zu entrücken, der, sobald man ihn ins Auge fasst, zu verschwinden scheint, wie dies in der endgültigen Bildfassung der Fall ist, bedeutet zwar eine Klärung des dargestellten Augenblicks. Er lässt sich im Bericht Corréards und Savignys exakt identifizieren, demzufolge die Floßfahrer am dreizehnten Tag ihrer Odyssee plötzlich ein Schiff am Horizont sichteten: »Der Anblick dieses Fahrzeuges verbreitete eine unbeschreibliche Freude. Jeder von uns hielt sich nun für gerettet und wir dankten Gott mit Inbrunst. Indes mischte sich doch Furcht in unsere Hoffnungen: Wir bogen einige Fassreifen gerade und banden Taschentücher von verschiedenen Farben an die Enden, dann halfen wir einem Manne auf den Mast, wo er die kleinen Flaggen hin und her bewegte. Über eine halbe Stunde schwebten wir zwischen Bangen und Hoffnung; einige glaubten, das Schiff sich allmählich nähern zu sehen; andere versicherten, sein Kurs entferne es von uns; nur diese letzteren hatten ihre Augen nicht von der Hoffnung blenden lassen, denn die

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Brigg verschwand. Aus dem Taumel der Freude versanken wir in die tiefste Niedergeschlagenheit.«14 Die Rettung erfolgte erst einige Stunden später, als die Brigg Argus nach einem Kurswechsel zufällig doch wieder in Richtung des Floßes steuerte und zunächst unbemerkt von den Schiffbrüchigen, die sich unter einem Art Zeltdach zum Sterben niedergelegt hatten, plötzlich in dessen Nähe auftauchte. Mit der Minimalisierung und Entrückung des Schiffes legte Géricault allerdings die Szene daraufhin fest, dass sie nicht die bevorstehende Errettung zeigt, sondern die vergebliche Hoffnung. Dies bedeutete zugleich eine Absage an den narrativen Gehalt des Bildes. Die Forderung, wie sie von akademischer Seite an die Historienmalerei herangetragen wurde, den Höhepunkt der Handlung zu zeigen, wurde damit nicht erfüllt. Bei näherem Hinsehen verstößt auch die Komposition mit ihrem zentrifugalen Schema gegen die Konvention und ist angesichts der klassischen Tradition als einzigartig aufzufassen. Das wie ein Andreaskreuz verspannte Bildgefüge wurde denn auch als »konfus« wahrgenommen. Dabei ist sein Aufbau von einem grundsätzlichen Antagonismus geprägt: Der sich gegen das Schicksal aufbäumenden Gruppe der Hoffenden rechts wird links eine Gruppe von Trauernden entgegengesetzt, die aus dem sogenannten Vater und dem toten Jüngling auf seinen Beinen besteht, über den er in völlige Resignation versunken ist.15 Im Rückgriff auf den klassizistischen Typus des Aristokraten, wie er beispielhaft in PierreNarcisse Guérins Rückkehr des Marcus Sextus von 1799 zu sehen ist (Abb. 97), ruft Géricault eine von Jacques-Louis David und seinen Schülern geprägte Reflexionsfigur auf, welche die Wirkung des emotionalen Gehalts des Themas in einer für den Betrachter anschaulich anleitenden Weise mediatisiert. Doch spitzen auch die in dieser Verzweiflungsgruppe aufgehobenen anderen, weiblichen Modelle wie die einer Melancholie oder einer Pietà den Ausdruck noch zu. Einer melancholischen, das Grauen versammelnden Seite links, die auf eine allesverschlingende finale Wellenwand zuzufahren scheint, steht rechts ohne jede Vermittlung und Korrespondenz eine in barockem Pathos aufgebäumte phallisch geformte Hoffnungsseite gegenüber.16 Eine solche künstlerische Verfahrensweise löste bei den Kritikern Irritationen aus, die sich im Bezug auf die bedrückende Einheitlichkeit des Inkarnats, der Gesten und des Ausdrucks, die alle von einem einzigen und gleichen Leiden seien, bis hin zum Abscheu steigern konnten. Angesprochen war damit nicht nur die monotone und übergreifend monochrome Farbigkeit – die aus dem Bild ein »fricassée« mache17 –, angesprochen war damit auch der Verstoß gegen die Darstellungslehre von der Abstufung der vielfältigen Affekte und Emotionen in der Tradition Le Bruns. Die Anordnung der Figuren folgt keiner kompositorisch durchgestalteten Bildrhetorik, die durch Abstufung des emotionalen Ausdrucks auf eine lesbare moralische Botschaft vorbereitet. Stattdessen herrscht ein Gefühlschaos ohne moralische Anweisung. Dazu ist das Durcheinander der Körper zugleich ein anstößiges Neben- und Miteinander von Toten und Lebenden. Für den Betrachter ist in manchen Fällen gar nicht zu entscheiden, wer tot und wer lebendig ist, bewusst wird er mit Zuständen konfrontiert, die seine Eindrücke changieren

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97 Pierre-Narcisse Guérin: Die Rückkehr des Marcus Sextus, 1799, Öl auf Leinwand, 217 × 243 cm, Paris, Musée du Louvre

lassen. Moralische Erhebung lässt sich der Darstellung dieser Leichen, die keine für eine gute Sache Gefallenen sind, sondern elendig verreckte Kadaver, nicht abgewinnen. Die Überlebenden sind buchstäblich in ein Ringen mit diesen toten Körpern verstrickt. Das Vermischen von Tod und Leben führt zur Verstörung des Betrachters; ein visueller Zwiespalt, wie er auch in den beiden hingesunkenen Körpern der Jünglinge im Vordergrund akzentuiert wird. Der in den Armen des alten Mannes liegende Leichnam ist leicht nach vorn gekippt, sein linker Arm liegt ausgestreckt mit geöffneter, kraftlos dahingesunkener Hand auf den Planken. Der Unterkörper kommt auf einen quer liegenden Balken zu ruhen, über dem sich seine Beine spreizen. Sein Geschlecht wird so den Blicken dargeboten, während im Kontrast dazu seine beiden Füße von weißen Tüchern umwickelt sind. Der ins Obszöne spielende Bezug von Entblößung und Bekleidung unterstreicht mit dem Verweis auf die Schönheit des jungen Körpers die Grausamkeit des Todes und führt den Betrachter in die Ambivalenz von Eros und Thanatos.

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Das kompositorische Gegenstück dazu stellt der in nächster Nähe zum Betrachter befindliche, auf dem Rücken liegende Mann ganz am unteren rechten Bildrand dar. Auch er ist in ganzer Figur gezeigt, mit ebenso gespreizten Beinen, zwischen denen diesmal ein Tuch notdürftig seine Blöße verdeckt. Während sein Oberkörper bereits halb im Wasser hängt und vom unteren Bildrand überschnitten ist, versucht er sich mit der rechten Hand an dem Rundholz festzuhalten, über das sein Unterkörper gebogen ist. Durch die Wölbung des Oberkörpers und die helle Beleuchtung der gespreizten kräftigen Männerschenkel ist sein Körper in besonderem Maße für den Betrachter exponiert. Dies kontrastiert mit dem ganz im Schatten liegenden, im Wasser hängenden Kopf und seinem nach hinten ausgestreckten Arm. Beide sind von einem weißen Tuch verschleiert, das sich mit seinen feinen Falten modellierend um den Oberkörper legt und dabei so durchsichtig ist, dass der Brustkorb mit seinen Rippen und die jenseits der Schattengrenze liegende Brustwarze des Toten unter dem Stoff sichtbar werden. Die erotische Ver- und Enthüllung des toten Körpers wird so noch deutlicher inszeniert als bei dem Jüngling in den Armen des alten Mannes. Das Bild verletzt oder negiert daher alle der Historienmalerei unabdingbar zugehörigen ästhetischen Kategorien, die ihr durch verallgemeinernde oder universale Konnotationen garantiert werden: Geschlossenheit (ensemble), gestaltete Anordnung (ordonnance), Ausdruck (expression) und Einheitlichkeit (unité). Die strukturierenden Relationen, welche die Welt zusammenhalten, sind damit aufgegeben. Das Bild widmet sich nicht der gloire der französischen Nation, was die Aufgabe der Historienmalerei wäre, sondern deren Schande. Es bringt ein ordinäres Verbrechen, eine Tragödie ohne Helden, eine Szene physischen Leidens ohne Erlösung zur Anschauung. Die traditionelle Forderung an die Historienmalerei nach Einheitlichkeit und Zentrierung ist weder räumlich, noch narrativ, noch psychologisch eingelöst. Stattdessen zerfällt das Bild in zwei Hälften, die sich inhaltlich und kompositionell nicht verbinden, zwischen denen ein Schnitt liegt. Selbst wenn man zugesteht, dass das Bild auf der Ebene der Komposition einen Rückgriff auf Formeln der traditionellen Salonmalerei vornimmt, dann ist festzuhalten, dass auf derselben Ebene, also auf der Ebene der Komposition und nicht erst derjenigen des Stoffes, der Künstler gegen die Erfordernisse der Historienmalerei nach Einheit verstößt. Die linke Seite, mit ihren Motiven abgrundtiefer Resignation, Melancholie, Trauer und Tod, fügt sich kompositionell nicht der Hoffnungspyramide ein. Diese wird kompositionell und emotionell wieder zurückgenommen, ihr wird nicht die Bildaussage überlassen, sie wird vielmehr in ihrer unbestimmten Grundlosigkeit gelassen. Interpretationen also, die dieses Bild als eine Art Leidens-Apotheose auffassen, die am Horizont die bessere Zukunft aufdämmern sehen und in allem Leid und in aller Vernichtung dennoch Géricaults Apologie der Hoffnung wahrnehmen wollen, verfehlen so die grundlegende ästhetische Struktur des Bildes. Denn das Bild bietet keine Lösung an, welche die Hoffnung der einen auf Kosten der anderen Seite verkündete. Das doch traditionell dem Helden vorbehaltene Zentrum des Bildes bietet nichts als Leere, und das Bild wird so zu einer Metapher des Stillstands.

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REALISMUS DURCH STILMISCHUNG Nimmt man diesen Befund ernst, dann lassen sich damit auch jene Interpretationen abweisen, die das Bild als Ausdruck eines Kompromisses bewertet wissen wollen; als einen stilistischen Kompromiss zwischen Klassizismus und Romantik, als einen Kompromiss zwischen den Gattungen der Genre- und der Historienmalerei, als einen Kompromiss zwischen dem noch um Heroisierung bemühten Frühwerk und dem jedwede heroisierende Imago abstreifenden Spätwerk Géricaults oder, wie ein weiterer Vorschlag lautet, als ein Kompromiss zwischen kritischem Inhalt und konventioneller Form.18 Allen diesen Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie in Hinblick auf Géricaults Gemälde einen Widerspruch konstatieren, der gegen das Bild ausgespielt wird, insofern es schon etwas aufweise, das es nicht vollständig einlöse oder noch etwas aufweise, dessen Überwindung sich andeute. Versucht man sich dagegen klar zu machen, warum Géricault seine künstlerische Verfahrensweise so wählte, wie er sie wählte, kommt man zu einem anderen Schluss. Das Bild wird dann nicht zum Ausdruck einer letztlich noch unbewältigten Zwischenstellung, sondern seine Widersprüche werden als produktive ästhetische Strategien erkennbar. Beispielhaft lässt sich dies an der Darstellung der Körper nachvollziehen. Durch den Bericht Corréards und Savignys wusste der Maler um den körperlichen Zustand der Schiffbrüchigen: »Man denke sich fünfzehn Unglückliche fast ohne alle Bekleidung, am ganzen Leibe und im Gesicht von der Sonne fürchterlich verbrannt; zehn davon konnten sich kaum rühren; die Haut von allen unsern Gliedern abgeschunden; alle unsere Züge zum Entsetzen verzerrt! Unsere hohlen und fast wilden Augen, unsere langen Bärte gaben uns ein noch scheußlicheres Aussehen; wir waren nur noch Schatten von Menschen.«19 Die Schiffbrüchigen waren so geschwächt, dass nach der Rettung durch die Argus und dem Transport in das englische Krankenhaus in Saint-Louis weitere fünf von ihnen starben. Als Corréard nach anderthalb Monaten Behandlung im Marinekrankenhaus von Rochefort entlassen wurde und er mittellos zu Fuß nach Paris zurückkehrte, gab er in der ersten Anfrage um Entschädigung an das Marineministerium im Januar 1817 an, dass sein Körper von über fünfundzwanzig Wunden bedeckt sei.20 Géricault folgte in seinem Bild zwar mancherlei Einzelheiten des Berichts – etwa bei den zum Schutz vor dem Salzwasser umwickelten Füßen des Leichnams in den Armen des sogenannten Vaters in der linken Bildhälfte, oder auch bei dessen blutender, von einem Biss oder Axthieb herrührender Armwunde, die notdürftig mit einem Lappen verbunden ist –, doch auffällig und bemerkenswert ist vor allem das, was der Maler nicht wiedergab. Entgegen Savignys und Corréards Schilderung von körperlichen Gebrechen und Verwundungen zeigt das Bild tendenziell intakte Körper, deren Epidermis unberührt ist: Körper ohne Verletzungen, ohne Biss- und Hiebwunden, ohne Kratzer, ohne offene Geschwüre, ohne in Fetzen herabhängende Haut. Manche der Dargestellten tragen Bärte, aber diese sind weder langgewachsen noch zottelig, sondern gehorchen noch den Anforderungen an eine frisierte Barttracht, während andere Männer unwahrscheinlicherweise sogar rasiert beziehungs-

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weise völlig bartlos sind. Während heutzutage dieser Befund zumeist als Rückfall in die Konventionen des grand style bewertet wird, setzt der Blick auf die Stimmen der Zeitgenossen die hier von Géricault vorgenommene ästhetische Grenzziehung in ein ganz anderes Licht. So betrachtete etwa Jean-Auguste-Dominique Ingres die Körperdarstellung als non-konform mit Anforderungen der Historienmalerei. Angesichts des Gemäldes von Géricault, das nach dessen frühem Tod 1824 in den Louvre kam, soll der Meister geäußert haben: »Ich bin nicht einverstanden mit dieser Medusa und diesen anderen Gemälden aus dem Amphitheater, die uns vom Menschen nichts als den Leichnam zeigen, die bloß das Hässliche, Abscheuliche zeigen: Nein, damit bin ich nicht einverstanden, das weise ich zurück! Die Kunst sollte nur das Schöne sein und uns nichts als das Schöne lehren!«21 Von einer klassizistischen Warte mit ihren normativen Vorstellungen über das beau ideal aus gesehen, erschien Géricaults Bild offensichtlich als indiskutabel. Polemisch als ein Gemälde des »amphithéâtre« abgetan, also eines, das seinen Ursprung nicht im Atelier des Künstlers, sondern im anatomischen Hörsaal habe, entdeckte Ingres in der Körperlichkeit bei Géricault weniger griechisches Ebenmaß und Respekt des klassischen decorum als vielmehr Kadaver und anatomischen Realismus in seiner ganzen Scheußlichkeit. Dass Géricault dem goût classique mit seinem Floß der Medusa empfindlich die Suppe versalzen hatte, bezeugen bereits vor Ingres die Salonkritiken von 1819. Man kann anhand dieser negativen Stimmen im Umkehrschluss auf eine Bildintention des Künstlers schließen, die dem Kalkül ihrer Wirkung folgt. Die Stilisierung der ringenden Körper in Form anatomisch meisterhaft modellierter Aktfiguren ist dem Verlangen geschuldet, die Schiffbrüchigen als leidende Menschen auszuweisen, denen unsere Anteilnahme und Sympathie gehört, ja, deren Leid besonders groß war und deren Leidensfähigkeit damit heroische Züge annimmt. Wenn die Körper in der Realität noch viel schrecklicher zugerichtet gewesen waren und insofern der Künstler hier eine Abmilderung der kruden Tatsächlichkeit vornahm, dann deshalb, weil er einen Weg finden musste, den Betrachter zu erreichen und ihm die schaurige Wahrheit dieses Überlebenskampfes vor Augen zu führen, ihn zu packen, ohne ihn jedoch vollständig abzustoßen. Dabei wird die Heroisierung der Körper zugleich durch ein Inkarnat zurückgewiesen, das von den Kritikern als dunkelfarbige Eintönigkeit oder auch als leichenhafte Blässe wahrgenommen wurde. Den Blick auf Tod und Verwesung transportierte Géricault insbesondere durch das einheitlich fahle, grau-grüne wie gelbliche Kolorit kranken, absterbenden Fleisches. Als das Bild 1820 in London ausgestellt wurde, lobte ein englischer Kritiker in der Litterary Gazette diese Gratwanderung als geglückt: »Das Leichenhaus, die morgue, scheint hier so weitgehend wie möglich studiert worden zu sein, ohne ins Entsetzliche umzukippen.«22 Aus dieser Perspektive gesehen erscheint das Bild dann nicht mehr als Widerspruch zwischen »idealization« und »abjection«, wie etwa Norman Bryson dies gefasst hatte, sondern im Gegenteil als eine Verschmelzung beider Kategorien, die im Gemälde aufeinander bezogen sind.23 Die ästhetischen Lizenzen werden gedehnt und zu neuen Mischungen zusammengeführt. Während die Kritiker über die politischen Implikationen einzelner Ausdrücke von Leidenschaft

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spekulierten, bestand der Künstler darauf, dass selbst der leidenschaftlichste Ausdruck nur ein schwacher Abklatsch des tatsächlich Erlebten sei, »dass weder die Dichtkunst noch die Malerei fähig sind, mit ausreichendem Entsetzen all die Ängste wiederzugeben, in welche die Leute auf dem Floß gestoßen waren«.24 Indigniert von den weltanschaulichen Zänkereien setzte er damit die gefühlsmäßige Wirkung als wichtigste Aussage seines Bildes ein, zu dessen einzigem Maßstab er die tatsächlich erlittenen Ängste der Schiffbrüchigen erklärte. Diese sah er als jenseits der Politik liegend an. Das Gefühl scheint die Moral zu ersetzen und den Zusammenhang des Bildes zu gewähren, es transzendiert damit nicht nur die Tagesaktualität, sondern setzt sich auch an die Stelle des fehlenden Helden, der fehlenden Narration sowie der fehlenden moralischen Botschaft.

DIE SEENOT DER ANDEREN Dem Maler war es gelungen, einen ähnlich großen Eindruck zu machen, ähnlich große Gefühle zu wecken wie Corréard und Savigny mit ihrem Bericht. Der Appell an das Mitgefühl, welchen Géricault malerisch vortrug, nimmt die moralische Gemengelage des Unglücks in den Blick. Dies gründet auf einer eudaimonistischen Perspektive, ohne die das Mitleid nicht empfunden werden kann, nämlich der Möglichkeit, sich vorzustellen, man könne selbst in die Lage gebracht worden sein.25 Aristoteles spricht in seiner Poetik vom Schauer, der hervorgerufen werde durch das, was für den Zuschauer Ähnlichkeit habe.26 Das Bild brachte den Überlebenskampf der Schiffbrüchigen zur Darstellung und machte damit nachfühlbar anschaulich, was aufgrund der entsetzlichen Einzelheiten des Unglücks sich tendenziell jeder Anschauung entzog. Erst damit konnte es zur Vorlage einer eigenen Vorstellung des Betrachters werden, erst damit seiner Empathie zugänglich sein. Transportiert wird dieses Mitgefühl durch die Darstellung der mit dem Tode ringenden Schiffbrüchigen. Der heroische Kampf der Überlebenden wird als ein physischer Kampf anschaulich gemacht, die Moral in die Sprache des Körpers übersetzt: das Aufbäumen einer letzten Hoffnung, das resignierte In-sich-Zusammensacken, das Niedersinken. Doch wie die Körper in ihrer Beschaffenheit den Zeitgenossen eine nur schwer erträgliche Ambivalenz zumuteten, so ist bei näherer Betrachtung auch der mit ihnen übersetzte Appell an das Mitgefühl von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt. Die Nähe, welche das Gefühl herstellen sollte, konnte nämlich unversehens auch als eine Distanz gedeutet werden; als die Distanz dessen, der angesichts der Qualen seiner Mitmenschen sich der Unbedrohtheit seines eigenen Standpunktes versichert. Géricault sah sich mit einem Problem konfrontiert, das die Aufklärer des 18. Jahrhunderts immer wieder beschäftigt hatte: Was bedeutet es, Mitgefühl mit Unglücklichen in weiter Ferne zu haben und inwiefern ist ein solches Mitleid mit einem fernen Unglück überhaupt möglich? Die Aufklärung griff bei der Diskussion dieser Fragen auf eine Konfiguration zurück, die bereits Lukrez geprägte hatte und im Bild eines Schiffbruchs mit Zuschauer das Verhältnis des Philosophen zur Wirk-

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lichkeit thematisierte. Die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer vom festen Ufer aus zu betrachten, beschert eine Annehmlichkeit, die freilich nicht darin besteht, dass ein Anderer Qual erleidet, sondern im Genuss des eigenen unbetroffenen Standortes.27 Die kulturkritischen Implikationen des römischen Dichters, dass nämlich die Seefahrt des Menschen eine Überschreitung seiner natürlichen Bedürfnisse darstellt und so das Scheitern letztlich einen Frevel bestraft, hatte die Aufklärung vollständig umgewendet. Einer ihrer Elementargedanken war, dass Schiffbrüche der notwendige Preis für jeden Weltverkehr seien. Hans Blumenberg hat herausgearbeitet, dass hier der Windstille der reinen Vernunft als die Bewegungslosigkeit des Menschen im Vollbesitz aller Besonnenheit nun die Rechtfertigung der bislang philosophisch diskriminierten passiones entgegengesetzt wird.28 Montaignes Rat, nicht aus dem Hafen zu gehen, lässt sich nun nicht mehr erneuern. Nicht nur für Voltaire galt: »Alles hiernieden ist gefährlich und alles tut not.« 29 Dafür ist der Schiffbruch Symptom; der Zuschauer ist nun selbst Exponent einer jener Leidenschaften geworden, die das Leben ebenso bewegen wie gefährden. Zwar ist er nicht unmittelbar in das Abenteuer verstrickt, wohl aber der Anziehung von Untergängen und Sensationen hilflos ausgeliefert. Doch suchen die ruhigen Zuschauer und unerschrockenen Geister von einem sicheren und friedlichen Standpunkt aus rationale Ursachen für die Katastrophe und erweisen sich damit zuletzt auch nur als jene empörend selbstbezogenen Zuschauer der Lukrezschen Konstellation. Erst wenn man die Schläge des feindlichen Schicksals selbst spürte, würde man jene philosophische Distanz aufgeben und im Weinen jenes Mehr an Menschlichkeit aufbringen, das dem unbetroffenen Beobachter fehle. Voltaires Versuch, die Vernunft durch die Leidenschaften zu läutern, war in gewisser Weise durch Jean-Jacques Rousseau vorbereitet.30 Die nahe Ferne sollte bei Rousseau zu einer expérience vécu werden. Der Philosoph unterscheidet im zweiten seiner Discours, dem Discours sur l’origine, et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, das Mitleid, welches im Gefühl eine Nähe zu den Dingen erreiche, von der Ferne der Reflexion.31 Das Mitleid als spontane und angeborene Gefühlsregung geht damit jeder aus der Vernunft geborenen Moral voraus. Rousseau begründete seine Annahme, dass der Mensch an sich gut sei, mit dem Grundgefühl des Mitleides, welches das einzige angeborene Moralgefühl sei und dementsprechend höher zu werten als jede aus der Vernunft geborene Moral. Im Hinblick auf die Kunst führte Rousseau zur Unterstützung seines Modells an, dass der Maler sich sein Modell aus dem eigenen Herzen ziehe und es beschreibe, wie er es fühle.32 Géricaults künstlerische Arbeit lässt sich ohne Umstände auf solche Diskurse beziehen. Im Floß der Medusa setzte er die Wirksamkeit seiner malerischen Mittel so wuchtig ein, dass sie unmittelbar auf das Gefühl wirken und genau darin eine Moral nähren. Welcher Art die Rührung sei, die ein Werk der Kunst auslösen könne, war dabei freilich schon vor Géricault thematisiert worden. So hatte sein Lehrer Guérin im Salon von 1799 das Gemälde Die Rückkehr des Marcus Sextus ausgestellt, das den fiktiven Helden vor der sterblichen Hülle seiner Ehefrau zeigt, und der – wie oben ausgeführt – als Typus eines der

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Vorbilder für die Figur des sogenannten Vaters in Géricaults Floß der Medusa abgegeben hat. Gegen das stoische Ideal des unerschütterlichen Erduldens wird hier schon an das Mitgefühl appelliert. In einer Beschreibung des Bildes, die in dem 1802 erschienene Briefroman Delphine der Madame de Staël enthalten ist, heißt es: »Der Exzess des seelischen Aufruhrs scheint ihm [Marcus] die Inaktivität des Körpers zu befehlen. Die Lampe erlischt, der Dreifuß, der sie hält, stürzt um; nichts Lebendes ist hier außer dem Schmerz. Es ansehend, wurde ich von jenem tiefen Mitleid ergriffen, das die Fiktionen niemals in unserem Herzen ohne eine Rückwendung auf uns selbst auslösen; und ich betrachtete aufmerksam dieses Bild des Unglücks, als ob gefährlich bedroht inmitten des Meeres ich von Ferne auf den Wellen die Trümmer eines Schiffbruchs gesehen hätte.«33 Das tiefe Gefühl des Mitleids, welches das Bild auslöst, ist von der Art des Lukrez: Die Empfindung des Herzens bewirkt eine Rückwendung des Betrachters auf sich selbst. Ohne den Autor selbst zu nennen, parallelisiert Delphine als gebildete Frau die von Lukrez beschriebene Konstellation des Schiffbruchs mit Zuschauer mit ihrem ästhetischen Erlebnis vor dem Bild Guérins. Einiges deutet darauf hin, dass Géricault mit seinem Bild eine Konstellation schaffen wollte, die über eine solche ästhetische Selbstvergewisserung des Betrachters hinausgehen sollte. Wie wichtig ihm eine darüber hinausgehende Beeindruckung des Zuschauers war, lässt sich an jener Begebenheit ablesen, wie sie für die Ausstellung von Géricaults Bild im Salon von 1819 überliefert ist. Dort war es vom Direktor des Louvre, dem Grafen Forbin, durchaus in bester Absicht an einem zentralen Ort, nämlich im Salon Carré, hoch auf einer Wand, wie man meinte seiner Größe und seinem Anspruch gemäß, aufgehängt worden. Nach seinem ersten Besuch musste der Künstler zu seinem Leidwesen feststellen, dass der ihm so schmeichelhaft zugedachte Ort dem Eindruck und damit der Wirkung seines Bildes massiven Abbruch tat. Seinem Freund Pierre-Joseph Dedreux-Dorcy gelang es, die Administration davon zu überzeugen, das Bild umzuhängen. In einem Brief vom 2. November 1819 berichtete der junge Eugène Delacroix von dem Ergebnis: »Man hat das Bild der Schiffbrüchigen herabgenommen und man sieht es sozusagen in voller Höhe. Derart, dass man glaubt, schon einen Fuß im Wasser zu haben. Man muss es ganz aus der Nähe gesehen haben, um all sein Verdienst zu fühlen.«34 Die intendierte Nähe der Darstellung zum fernen Unglück vor Senegals Küste setzte so die faktische Nähe des Betrachters zur Leinwand voraus. Eine Nähe, die erst die von Aristoteles als fundamental bezeichnete Wahrnehmung der Ähnlichkeit hervorbringt, die konstitutiv für das schaudernde Mitleid ist. Erst diese rezeptive Konstellation aktiviert das wirkungsästhetische Potential des Bildes. Und erst so beantwortet sich die Frage, was dieses Bild für eine Moral darstellen solle, wo es doch die der Historienmalerei unabdingbar zugehörigen Regeln nicht respektiert: Géricaults Bild, mit dem er nach Auskunft seines Kollegen Ary Scheffer »einen neuartigen Weg« beschreiten wollte, erreicht über den Umweg des Gefühls seine vorher fragliche Moral und ist eben darin ein Historienbild.35 Einer solchen neuartigen ästhetischen Konzeption gegenüber erscheint die Regelhaftigkeit der Tradition von einer ähnlich Distanz schaffenden Kaltherzigkeit wie die Reflexion angesichts des Unglücks

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anderer. Gegen die stimmige Lesbarkeit nach den Regeln der Kunst setzt Géricault die Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Théodore Géricault erarbeitet im Floß der Medusa eine künstlerische Lösung, die gemäß seiner Intention das entsetzliche und unrechtmäßige Leiden seiner Landsleute, der Schiffbrüchigen der Medusa, als heroisches Leiden dem Mitleiden des Betrachters nicht nur zugänglich macht, sondern ihm geradezu aufzwingt: Wir stehen mit einem Fuß bereits im Wasser, wie es Delacroix ausdrückte. Mittels dieser durch das Ästhetischwerden des Abstoßenden gesteigerten Nähe erzwingt der Künstler mit bildnerischen Mitteln eine Form der Empathie, die zur Grundlage von Moral werden kann; einer Moral, die eine christliche Moral ist, die in ihrer Begründung jedoch ohne jede weltanschauliche Abkunft auskommen kann und sich direkt aus dem körperhaft empfundenen Schicksal des Menschen speist. Historie konstituiert sich damit nicht länger über die Angemessenheit eines Sujets in einem vorgegebenen normativen Rahmen, sondern vielmehr über die Darstellung des leidenden schönen Körpers in all seiner ekelhaften Unmittelbarkeit. Eine solche Kunst zielt wie die traditionelle Historie auf Ethos, erweitert aber durch Anleihen bei einer christlichen Leidensethik den Bereich des Darstellbaren auf Gebiete des unhintergehbaren Wirklichen, des Abjekten und Niedrigen, aus denen heraus sich erst Höchstes konstituiert. Die darin intendierte grundlegende Humanisierung der Kunst ist damit nur vorgeblich bar jeder metaphysischen Begründungen, sondern wird vielmehr als Fortsetzung einer abendländischen, christlich fundierten Moral (und ihrer Metaphysik) erkennbar. Gerade dort, wo das summum des eigentlich geschichtlichen Ereignisses, das Menschliche, in seiner höchsten Ausdrucksfähigkeit hervortritt, Kreatürlichkeit an die Stelle der Sinnfälligkeit der Historie tritt, schlägt das geschichtliche Ereignisbild wieder um in Metaphysik.36

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VOM EREIGNISBILD ZUM BILD-EREIGNIS »DIE FREIHEIT FÜHRT DAS VOLK AUF DIE BARRIKADEN« VON EUGÈNE DELACROIX Sabine Slanina

Das Gemälde Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden von Eugène Delacroix ist ein Ereignisbild im mehrfachen Sinn (Abb. 98). Zum einen hat es mit der Juli-Revolution des Jahres 1830 ein geschichtliches Ereignis zu seinem Gegenstand: die Barrikadenkämpfe des 28. Juli, des zweiten Tags der »Trois Glorieuses«, der »Drei ruhmreichen Tage«. Entfacht worden war der Aufstand durch die von Charles X. staatsstreichartig verfügten Ordonnanzen zur Auflösung der Deputiertenkammer und zur Aufhebung der Pressefreiheit, mit denen der König seine restaurative Politik zu sichern hoffte, die seinen Sturz jedoch lediglich beschleunigen sollten. Zum anderen aber gehört das Gemälde zu jenen Werken der Kunstgeschichte, die sich kraft ihres ikonischen Ranges in der Rezeption immer wieder neu zu ereignen vermochten. So trat das konkrete geschichtliche Ereignis der Juli-Revolution sehr bald hinter der Eindrücklichkeit seiner Darstellung zurück. Man könnte zugespitzt formuliert sogar davon sprechen, dass der historische Anlass, dem sich das Gemälde verdankte, in dem Maß, in dem es binnen kürzester Zeit zum Revolutionsbild schlechthin avancierte, in den verschiedenen Zitationen, Anverwandlungen und Vereinnahmungen, die es erfuhr, im nachhinein geradezu zum Verschwinden gebracht worden war. Nicos Hadjinicolaou hat diese Tendenz in einer umfassenden Untersuchung zur Rezeptionsgeschichte des Werks als Prozess einer schleichenden Enthistorisierung des Gemäldes beschrieben, im Zuge derer sich auch dessen politische Lektüre stetig verschob.1 In der Tat trieb das Eigenleben, das Delacroix’ Revolutionsbild entfaltete, kuriose Blüten hervor. Einem Tapetenhersteller diente das Gemälde zu Werbezwecken einmal sogar als Prototypus impressionistischer Abstraktion, und die Figur der Freiheit kehrte nicht nur in zahllosen politischen Manifesten unterschiedlichster Tendenz wieder, sondern sie zierte

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98 Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden, 1830, Öl auf Leinwand, 259 × 325 cm, Paris, Musée du Louvre

ebenso Speisekarten wie auch Jeans-Reklame.2 Seit 1978 schmückte die Figur der Freiheit zudem die 100-Francs-Note, bis das Motiv Mitte der neunziger Jahre – ganz so, als gelte es zukünftig das nationale Symbol der Republik vom monetären Wirkungsbereich freizuhalten – durch das politisch wesentlich unverfänglichere Sujet der Äpfel und Kartenspieler von Cézanne ersetzt wurde. Nun sind solche Spielarten der Popularisierung gewiss nur ein Symptom der quasimythischen Dimension, die das Werk schließlich zu einem Ereignis sui generis werden ließen und die vielleicht am deutlichsten in der jüngeren Ausstellungsgeschichte des Gemäldes zutage getreten ist. Als der Louvre die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden im Februar 1999 anlässlich des »Französischen Jahres« für vier Wochen an das Nationalmuseum von Tokio verlieh, wurde das 2,60 Meter mal 3,25 Meter messende Monumentalbild – einem Staatsgast gleich – in einem eigens zu diesem Zweck gecharterten GroßraumFlugzeug transportiert, dessen voluminösen Rumpf man wiederum mit einer riesigen Reproduktion seines kostbaren Inhaltes geschmückt hatte. Am Ende der Ausstellung vermerkte man stolz über 120.000 Besucher, die gekommen waren, um das aus Sicherheits-

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99 Thomas Struth: National Museum of Art, Tokyo, 1999, Cibachrome Print, 179,4 × 276,9 cm, New York, Metropolitan Museum of Art

gründen vorsorglich durch eine dicke Glaswand geschützte Bild zu betrachten. Dem Kultwert des Ausstellungsstücks entsprechend, hatte man vor dem Gemälde lange Sitzreihen aufgebaut, die es dem Betrachter auferlegten, aus starker Untersicht zu dem französischen Idol emporzublicken (Abb. 99). Von japanischen Journalisten zur »Goddess of Liberty« deklariert, verkörperte das Gemälde nun auch ausstellungsinszenatorisch ein der Zeitlichkeit enthobenes Universalkonzept, das der Kunst eben jenen absoluten Anspruch aufbürdete, der von der Wirklichkeit, für die sie einst einzustehen hatte, kaum einzuholen war.3 Und so galt auch der im Februar 2013 in der gerade neu eröffneten LouvreDependance Lens von einer geistig verwirrten Frau mit einem Textmarker auf das Bild verübte Anschlag weniger dem darauf dargestellten Ereignis der Juli-Revolution, sondern war vor allem seinem ikonengleichen Sonderstatus geschuldet.

DER MEHRWERT DER UNSICHTBARKEIT Als Delacroix die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden im Salon von 1831 erstmals öffentlich präsentierte, musste das Gemälde noch mit einer ganzen Flut von Bildern zum selben Thema konkurrieren. Bereits unmittelbar nach der Juli-Revolution kursierten unzählige Drucke und Lithographien mit Szenen aus den »Trois Glorieuses«, und im Salon des Jahres 1831 zählte Heinrich Heine immerhin über vierzig Gemälde, die dem blutigen Ereignis gewidmet waren. Louis-Philippe, der Charles X. nach dessen erzwungener Abdan-

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kung als Kompromisskandidat des liberalen Lagers auf den Thron gefolgt war, hatte selbst ausdrücklich empfohlen, alle eingereichten Bilder zur Revolution im Salon aufzunehmen. Doch nicht eines darunter hat später eine auch nur annähernd ähnlich weitreichende Popularität erlangt wie Delacroix’ Freiheit auf den Barrikaden.4 Die Aufmerksamkeit, die das Gemälde schon in den ersten Jahren auf sich zog, schützte es allerdings nicht davor, bereits kurze Zeit nachdem es vom Innenminister für die damals recht klägliche Summe von nur 3.000 Francs für den Staat erworben worden war, aus den Ausstellungsräumen des Palais Luxembourg, der nationalen Galerie zeitgenössischer Kunst, entfernt und ins Depot des Museums verbannt zu werden. In das Sammlungskonzept der noch unter Charles X. als Legitimationsinstrument bourbonischer Herrschaft gegründeten Galerie fügte es sich nur schwerlich ein. Denn obschon Louis-Philippe, der selbst einem jüngeren Zweig der Bourbonenfamilie entstammte, seinen Aufstieg zum »König der Franzosen« der Juli-Revolution schuldete, zielte seine Bilderpolitik doch vor allem auf die Erinnerung an die diplomatischen Anstrengungen zur Befriedung der »Trois Glorieuses«. Angesichts der noch immer schwelenden Gefahr neuer Aufstände versuchte er einer offiziellen Anerkennung der Juli-Revolution damit zugleich entgegenzuwirken.5 Zumindest aber gelang es Delacroix, das Gemälde nach seiner Entfernung wieder zurückzuerlangen. Der Legende nach soll er es aus Platzgründen für einige Jahre nach Frépillon gebracht haben, einem kleinen Dorf nördlich von Paris, um es dort im Landhaus der Familie seines Künstlerfreundes und Cousins Léon Riesener zu lagern. Erst im Zuge der Revolution des Jahres 1848 und der daraus folgenden Herrschaft Louis-Philippes wurde das Bild auf Initiative eines Lyoneser Privatmannes nochmals für kurze Zeit ausgestellt. Vom Louvre schließlich von Delacroix zurückgefordert, gelangte es wenig später wieder in die nationale Sammlung, um recht bald ein weiteres Mal im Depot zu verschwinden. Als Delacroix 1855 um Erlaubnis bat, das Revolutionsbild doch wenigstens in seiner Retrospektive auf der Weltausstellung zeigen zu dürfen, sah er sich gezwungen, für sein Anliegen mit einem Bittbrief an Napoleon III. zu werben. Das Bild habe seine politische Aktualität schließlich längst eingebüßt und könne deshalb unter einer »mächtigen Regierung« nun endlich bedenkenlos der Vergessenheit entrissen werden.6 Wie wenig dies zutraf und wie groß die Furcht vor der agitatorischen Sprengkraft des Gemäldes noch immer war, zeigte die zunächst abschlägige Antwort, die Delacroix von Seiten des damaligen Directeur des Beaux-Arts, des Comte de Nieuwerkerke, beschieden wurde. Ein Gemälde auszustellen, das die Freiheit in der »bonnet rouge«, der Freiheitsmütze der Jakobiner, »auf den Barrikaden zeigt und in dem die französischen Soldaten vom Aufstand in den Staub getreten werden«, sei schlichtweg nicht vertretbar. Im zunächst noch schärfer abgefassten Manuskript des Briefes ist bezeichnenderweise unter dem Wort »Aufstand« (»emeute«) das Wort »Pöbel« (»populace«) zu entziffern.7 Zwar lenkte der Kaiser schließlich ein und ließ Delacroix sein Einverständnis im letzten Moment per Express übermitteln, an eine dauerhafte Präsentation des Werkes war gleichwohl noch immer nicht zu denken. Unmittelbar nach Ende der Weltausstellung wurde es wieder ins Depot zurück verfrachtet,

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Gustave Courbet: Die Welle, 1869–1870, Öl auf Leinwand, 112 × 144 cm, Berlin, Alte Nationalgalerie

um erst 1863, im Todesjahr von Delacroix, einen festen Platz in den Ausstellungssälen des Palais Luxembourg zu erhalten, bis es 1874 endlich ins Musée du Louvre kam. Interessanterweise hat die zeitweilige Verbannung der Prominenz des Bildes kaum geschadet. Vielmehr war die Wirkungsgeschichte des Gemäldes mit der Geschichte seiner damnatio memoriae von Anfang an erstaunlich eng verknüpft. In gewisser Hinsicht dürfte sie die Popularität des Gemäldes sogar befördert haben, vermochte es doch in einer Vielzahl von Kommentaren und Adaptionen, die gerade durch seine erzwungene Nicht-Sichtbarkeit motiviert waren, umso nachhaltiger wieder zu erstehen. Bereits 1841 hatte der Historiker Louis Blanc eine Graphik nach dem Gemälde als Titelbild für seine kritisch gegen LouisPhilippe gerichtete Histoire des Dix ans verwendet. Die wohl berühmtesten Paraphrasen der Freiheit auf den Barrikaden aber gehen auf Gustave Courbet zurück, der sich nicht nur in seiner Vignette für die anlässlich der Februar-Revolution von 1848 erschienene Ausgabe der Zeitschrift Le Salut Public explizit auf das Gemälde bezog, sondern der dieses implizit auch in seiner seit Ende der sechziger Jahre entstandenen Serie der »Wogenbilder« aufscheinen lässt, in denen die Meereswellen den Betrachter in ähnlich radikaler Frontalität niederzustrecken drohen wie Delacroix’ Freiheit auf den Barrikaden dies tut (Abb. 100).8

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UNSICHERE PERSPEKTIVEN UND SEMANTISCHES VAKUUM Nun interessierte sich die zeitgenössische Kritik, als sie Delacroix’ Revolutionsbild im Salon von 1831 erstmals zu sehen bekam, zunächst vor allem für jene Eigenschaften, die sie daran als besonders störende Mängel empfand: allen voran das Schmutzige und vermeintlich Vulgäre der allegorischen Frauenfigur, deren zu monumentaler Größe gesteigerte derbe Körperlichkeit ebenso wenig ins Bild der hehren Revolution passen wollte wie das Unheroische und allzu Hässliche der kämpfenden Revolutionäre. Dabei war es neben der realistischen Auffassung vor allem die Direktheit, in der die Allegorie der Freiheit in das Geschehen einbezogen ist, die die Kritiker frappierte. Ausgestattet mit der Trikolore, der Fahne der Französischen Republik, und einem Gewehr samt aufgepflanztem Bajonett führt die Figur der Freiheit eine Gruppe von Revolutionären an. Kraftvoll vorausschreitend stürmt sie über eine Barrikade hinweg; ihren Kopf hat sie dabei halb über die Schulter nach hinten gewendet, so dass ihr klassisches Profil in der Art einer griechischen Medaille hervortritt. Ihr zur Seite beigegeben ist ein halbwüchsiger Knabe, der in jeder seiner Fäuste eine Offizierspistole schwingt. Das gesamte untere Drittel des Bildes wird von der mit Leichen der königlichen Garde gesäumten Barrikade eingenommen, auf der ein Sterbender hoffnungsvoll zur Figur der Freiheit emporblickt. Wie diese mit der roten Kopfbedeckung der Jakobiner versehen und zudem in den Farben der Trikolore gekleidet, dient er als Gegengewicht zur vorwärtsstürmenden Frau, in der die Darstellung ihr inhaltliches und formales Zentrum findet, und deren rechte, die Fahnenstange umfassende Hand exakt auf der Bildmittelachse liegt. Es ist in der Literatur mehrfach bemerkt worden, dass Delacroix’ pyramidal komponiertes Figurenarrangement auf die barocke Bildtradition rekurriert, das überlieferte Schema aber zugleich aufbricht.9 Dabei folgt die Bildanlage weniger dem Zweck einer eindeutig lesbaren dramatischen Handlungsverschränkung, wie es die barocke Verwendung der Pyramidalkonstruktion nahe legen würde, als dass sie diesem vielmehr entgegensteht. Denn die Hauptfiguren sind zwar formal, aber nur teilweise auch syntagmatisch miteinander verknüpft. Genau besehen nämlich interagieren sie nicht, sondern bleiben unverbunden. Mehr noch: Verschiedentlich gewinnt der Betrachter sogar den Eindruck, die Protagonisten behinderten sich gegenseitig, anstatt sich in ihrem Tun jeweils zu bestätigen, zu unterstützen oder herzuleiten. So hoffnungsvoll etwa der auf den Barrikaden halb aufgerichtete Arbeiter zur Figur der Freiheit auch emporblicken mag, ihrem energischen Vorwärtsstreben hat er sich doch zugleich in den Weg gestellt. In vergleichbarer Weise konterkariert auch der am Bildrand links positionierte kriechende Knabe, der eine Mütze der Reiter der königlichen Nationalgarde auf dem Kopf trägt, die Vorwärtsbewegung der Revolutionäre. Besonders aber die eigentümliche Selbstvergessenheit des mit einem Gewehr bewaffneten Bürgers, der inmitten der Kampfeshandlung innezuhalten scheint und nicht einmal von der drohenden Gebärde des hinter ihm auftauchenden, seinen Säbel schwingenden Aufständischen Notiz nimmt, steht in sichtbarem Kontrast zur Dynamik

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der Figur der Freiheit. Das additiv Nebengeordnete, das dem Bildensemble anhaftet, lässt die einzelnen Protagonisten so wirken, als seien sie aus verschiedenen Szenen zunächst »herausgeschnitten« und auf der Bildfläche anschließend neu zusammenmontiert worden. Eben dieser parataktischen Eigenart des Gemäldes ist es wohl auch geschuldet, dass es immer wieder problemlos möglich schien, einzelne Figuren daraus zu isolieren und in einem anderen Bildzusammenhang – sei dieser nun politischer oder kommerzieller Natur – zu verwenden. Dass sich für den Betrachter zunächst dennoch der Eindruck eines optisch Ganzen herstellt, resultiert nicht nur aus der erwähnten pyramidalen Konstruktion, die dem Bildarrangement unterlegt ist, sondern insbesondere auch aus der homogenisierenden Wirkung von Farb- und Lichtrhetorik. So hat Delacroix die Darstellung zum einen in ein staubig-sandfarbenes Flimmerlicht getaucht und lässt zum anderen das Rot-Weiß-Blau der Trikolore in verschiedenen Abstufungen im Bild wiederkehren. Solche vereinheitlichenden Effekte dienen jedoch weniger der Lesbarkeit, sondern helfen vielmehr dazu, gerade das Auseinanderfallen der einzelnen Bildkompartimente zu verdecken. Dabei dürfte das bildparallele Kompositionsschema, das die Figurengruppe des Mittelgrundes in der Art eines flächigen Reliefbandes organisiert, letztlich der neoklassizistischen Historienmalerei Davids und seiner Schule entlehnt sein, wie sie beispielsweise in den monumentalen Bildgefügen des von Delacroix bewunderten Antoine-Jean Gros fortdauert. Der zeitgenössischen Kritik ist die parataktische Eigenart des Gemäldes, die eine Raumillusion im strengen Sinne nicht zulässt, jedenfalls nicht entgangen. Gustave Planche etwa, der das Revolutionsbild wegen der, wie er befand, überaus überzeugenden »allliance de l’allegorie et de la réalité« in den höchsten Tönen lobte, bemängelte im selben Zug, dass die Perspektive des Gemäldes den Betrachter bedauerlicherweise darüber im Unklaren lasse, welchen Zustand der Kampf soeben erreicht habe.10 Planches Vorwurf wog umso schwerer als gerade der 28. Juli 1830, der zweite Tag der »Trois Glorieuses«, in den späten Nachtstunden die entscheidende Wende des Aufstandes zugunsten der Revolutionäre brachte und deshalb später als der blutigste Tag der Juli-Revolution in die Geschichte eingehen sollte.11 Nun mag Planches Einwand streng genommen zwar nicht ganz zutreffend sein – denn tatsächlich ist die Figur der »Liberté« ja gerade dabei, die Barrikaden zu durchbrechen, um die feindliche Seite zu erobern –, dennoch zeigt sein Kommentar beispielhaft, inwieweit Delacroix’ Barrikadenbild der noch im 19. Jahrhundert gültigen akademischen Auffassung zuwiderläuft, wonach die Darstellung eines historischen Ereignisses seinen Betrachter nur dann überzeuge, wenn sie szenisch schlüssig aufgefasst sei. Denn obschon Delacroix in der Figur der Freiheit, die im Begriff ist, die Barrikaden zu überschreiten, zwar einen prägnanten Moment des Umschwungs vor Augen führt, so unterlässt er es doch zugleich, diesen in die verschiedenen Phasen und Parteien der Kampfeshandlungen einzubinden. So unterstreicht das bildparallele Kompositionsschema zugleich die Tatsache, dass die räumliche Disposition der Figuren letztlich keine szenische Relevanz im Sinne einer ereignislogisch sinnvollen und sukzessiven Entfaltung des Bildgeschehens erlangt. Die Darstellung führt

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101 Jean-Victor Schnetz: Kampf um das Hôtel de Ville, 28. Juli 1830, 1830, Öl auf Leinwand, 48,5 × 50 cm, Paris, Musée du Petit Palais

auf diese Weise zwar eine szenische Wende vor, versäumt es aber zugleich, das Vorher, das in den Leichen des Vordergrundes angedeutet ist, mit einem Nachher zu verbinden, in dem sich der Ausgang der Kampfeshandlungen bereits erahnen ließe. So droht das semantische Vakuum, das aus diesem Versäumnis entsteht, mit der Bilderzählung auch den didaktischen Mehrwert der Darstellung aufzuzehren. Ein Vergleich mit dem Kampf um das Hôtel de Ville, 28. Juli 1830 des David-Schülers und damaligen Direktors der Academie de France in Rom Jean-Victor Schnetz soll das Problem veranschaulichen (Abb. 101). Erstmals im Salon von 1834 ausgestellt, bezog sich das Gemälde in wesentlichen Kompositionsmerkmalen sichtbar auf Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden, »korrigierte« diese aber zugleich, indem es die Einzelszenen als Facetten eines Gesamtgeschehens aufeinander bezog und die verschiedenen

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Kampfeshandlungen konsequent als Verlaufsform schilderte. Mit der anekdotischen Auffassung der Szenerie korrespondiert, dass die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung gewahrt bleibt. So ist bei Schnetz an die Stelle der Allegorie der Freiheit ein elegant gekleideter Aufständischer gerückt, der sein Gewehr den von rechts nachkommenden Revolutionären siegesgewiss entgegenstreckt, während seine Rechte den Körper eines jungen Verwundeten umfasst, der mit letzter Kraft die Trikolore in die Höhe stemmt. Der mit einer Trommel ausgerüstete Junge nimmt bei Schnetz den Part des bei Delacroix mit zwei Pistolen bewaffneten Knaben an der Seite der Freiheit ein. Im Bildvordergrund links liefert sich eine weitere Gruppe von Kämpfenden, dem Betrachter mit dem Rücken zugewandt, ein Feuergefecht mit den vor dem Hôtel de Ville postierten königlichen Garden. Topographische Präzision und konturlinearistische Manier verbinden sich zu einem Detailrealismus, der die politische Fiktion als Wahrheit ausgibt und am Gelingen des Aufstandes ebenso wenig zweifeln lässt wie am mutigen Heldentum der Protagonisten. Dabei hat Schnetz mit der Barrikade auch die Blickbewegung des Betrachters in die Schräge gerückt: nämlich als Verlaufsform, die von links nach rechts, beziehungsweise von außen nach innen in die Tiefe des Bildraumes führt. Wird dem Betrachter bei Schnetz ein Standort in der Reihe der Aufständischen zugewiesen, so ist er bei Delacroix hingegen gerade auf der falschen, da feindlichen Seite der Barrikade situiert, wobei ihm durch die tendenziell bildparallele Anlage des Mittelgrundes der Blick in das Innere des Gemäldes buchstäblich verstellt ist, so dass, worauf Wolfgang Kemp hingewiesen hat, dem Betrachter die »optische Verfügungsgewalt« gleichsam verwehrt wird.12

DIE BARRIKADE DES SPAZIERGÄNGERS Nicht nur aufgrund des unsicheren Betrachterstandortes und der perspektivischen, mithin formalen Ambivalenzen der Freiheit auf den Barrikaden ist es der Forschung bis heute nicht gelungen, die Position von Delacroix angesichts der Unruhen der »Trois Glorieuses« mit Gewissheit näher zu bestimmen. Auch die Niederschriften des Malers, aus denen sein großes Unbehagen angesichts der entfesselten Volksmassen auf den Barrikaden ebenso deutlich spricht, wie die Hoffnungen, die er zunächst mit der Neuformation einer konstitutionellen Monarchie unter Louis-Philippe verband, sind nicht hinreichend aussagekräftig. Nun galt Delacroix zwar bereits seit dem Salon von 1824, in dem er das Massaker von Chios ausstellte (Paris, Musée du Louvre), als kühner Parteigänger der zeitgenössischen Historie, dennoch markiert die Freiheit auf den Barrikaden eine Art Sonderfall innerhalb seines Œuvres. Denn im Gegensatz zu dem frühen Monumentalgemälde, das der von den Türken im griechischen Unabhängigkeitskrieg niedergeworfenen Bevölkerung der Insel Chios ein Denkmal setzt, bezieht sich die Freiheit auf den Barrikaden auf ein Ereignis, das Delacroix aus nächster Nähe erfahren hatte. Doch nur die wenigsten seiner Zeitgenossen wollten ihm, dessen dandyhafter Habitus berüchtigt war, eine ehrliche Sym-

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pathie für die Revolutionäre der »Trois Glorieuses« zutrauen. Noch Daumier sprach dem Künstler jede demokratische Gesinnung ab. Charles Blanc behauptete sogar, die Freiheit auf den Barrikaden sei weniger ein Hymnus auf die Juli-Revolution als vielmehr auf die Freiheit der Kunst, die die allegorische Frauenfigur verkörpere.13 Folgt man einer von Alexandre Dumas überlieferten Anekdote, so soll Delacroix die Straßenkämpfe am ersten der »Trois Glorieuses« zunächst ängstlich zitternd und aus sicherer Distanz verfolgt haben. Erst unter dem Eindruck der auf der Notre Dame flackernden Trikolore sei seine Furcht allmählich der Begeisterung gewichen, bis er, ein »Fanatiker des Kaiserreichs« und Sprössling einer unter Napoleon zu Wohlstand und Ansehen gelangten Familie, schließlich eben jenes Volk rühmte, »das ihn anfangs in Schrecken versetzt habe«.14 Doch Delacroix’ zögerliche Begeisterung für die Barrikadenkämpfer reichte nicht soweit, sich selbst unter die Revolutionäre zu mischen. Die »Trois Glorieuses« erlebte er lediglich aus der Perspektive eines »harmlosen Spaziergängers«, als der er jedoch, wie er in einem Brief an seinen Neffen Charles de Verninac mit leisem Stolz berichtete, den Gewehrkugeln nicht weniger ausgesetzt gewesen sei als die Aufständischen auf den Barrikaden: »Während der drei Tage waren wir mittendrin im Kartätschen- und Gewehrfeuer, denn überall wurde gekämpft. Ein harmloser Spaziergänger wie ich hatte die gleiche Chance von einer Kugel erwischt zu werden, wie die selbsternannten Helden des Tages, die gegen den Feind mit Besenstielen marschierten, an die Eisenstücke gebunden waren«.15 Angesichts der Ironie, die aus diesen Zeilen spricht, mag die Nachdrücklichkeit zunächst erstaunen, mit der Delacroix seine Absicht, den Aufstand zum Gegenstand eines Gemäldes zu machen, wenig später gerade aus seiner Zurückhaltung während der Barrikadenkämpfe begründete: »Ich habe ein modernes Sujet gewählt, eine Barrikade«, so schreibt er in einem heute berühmten Brief an seinen Bruder, »und wenn ich schon nicht für das Vaterland gekämpft habe, so möchte ich doch wenigstens ein Bild malen. Das hat mich in eine gute Stimmung versetzt.«16 Die »gute Stimmung« entsprang indes der Logik eines ästhetischen Ablasshandels, bot das Vorhaben Delacroix doch die Möglichkeit, sich zumindest post festum noch in das Ereignis der Juli-Revolution einzutragen. Diese nachträgliche Parteinahme sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Delacroix sich auch als Künstler wohl weniger auf der Seite der bekennenden Anhänger der Revolution sah als vielmehr auf jener des Beobachters, der das Geschehene nicht nur mit überaus gemischten Gefühlen bezeugte, sondern der die eigene Verunsicherung zugleich als zwiespältige Betrachtererfahrung gewissermaßen seinem Publikum überantwortete. Es dürfte folglich auch nicht allein am bürgerlichen Kostüm gelegen haben, dass man den Mann mit Zylinder schon sehr früh mit Delacroix selbst zu identifizieren versuchte.17 Denn in der nachdenklichen Selbstvergessenheit, die ihm eigen ist, scheint er für die handelnde Tat ebenso verloren wie der »harmlose Spaziergänger« Delacroix, dem es nicht gelingen will, sich in die Front der »selbsternannten Helden des Tages« einzureihen. Sein melancholisches Zaudern distanziert ihn vom historischen Ereignis, dessen Zeuge er ist. Der Vorstellung eines untadeligen, moralisch integren Kämpfers, der sich mit Leib und Seele der gerechten

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Sache verschrieben hätte, wie er etwa bei Schnetz vielfach die Szenerie beherrscht, wird diese Figur sicher kaum gerecht. Heinrich Heine glaubte in ihm sogar einen Verbrecher zu erkennen, der »in seinem häßlichen Rock gewiß noch den Duft des Assissenhofes« und in seinem »Gesicht die Galeere trug« und damit wohl am einprägsamsten jene Verschlagenheit der »gemeinen Leute« repräsentierte, die Heine in den Akteuren des Gemäldes insgesamt erkannt haben wollte.18 Der propagandistischen Vereinnahmung stand Delacroix’ Revolutionsbild damit umso mehr entgegen, als seine Protoganisten gerade nicht mehr Träger einer heroischen Zukunft sind, wie sie die allegorische Figur der Freiheit noch verspricht. So bezieht das Revolutionsszenario seine Spannung insbesondere auch aus der Diskrepanz zwischen idealem Anspruch einerseits und realistischer Niederung des Heroischen andererseits; eine Diskrepanz, von der man auch die allegorische Figur selbst infiziert sah, deren behaarte Achselhöhlen man ebenso zur Kenntnis nahm wie die leichenblasse Farbe ihres Inkarnats, das sie der Sphäre der »Aussätzigen« und »Galeerensträflinge« auf gefährliche Weise annäherte. Heine beschrieb sie deshalb als »Gassenvenus«, den »Schnellläuferinnen der Liebe« ähnlich, wie sie des Abends die Pariser Boulevards bevölkerten. Vielfach auch ist der Bezug zu Auguste Barbiers Revolutionsgedicht La Curée hergestellt worden, in dem die Freiheit als ein »kraftvolles Weib mit mächtigen Brüsten, / mit rauher Stimme und derben Reizen« erscheint.19 In ihrer rustikalen Schönheit stand die Freiheit auf den Barrikaden dem seit der Französischen Revolution etablierten Genre der Darstellungen des vierten Standes jedenfalls wesentlich näher als dem klassischen Modell weiblicher Allegorien, wie man sie gemeinhin die Tugenden großer Männer und – obschon seltener – auch bedeutender Frauen vergegenwärtigen sah.20 Dieser Widerspruch der Höhenlagen ist nicht nur ihrer äußeren Gestalt, sondern ebenso ihrem Tun eingeschrieben, schreitet sie, die eigentlich Hoffnung einflößen sollte, doch tatsächlich über Leichen, und ruft, wie es Mario Praz einmal formuliert hat, »zum Mord auf«.21 Nicht allein in dieser Ambivalenz unterscheidet sich die Freiheit auf den Barrikaden von der 1826 gemalten Griechenland-Allegorie auf den Trümmern von Missolonghi (Bordeaux, Musée des Beaux-Arts), die zu Recht als ihr Vorbild gilt. Denn anders als diese erleidet sie ihr Schicksal nicht, sondern treibt es vielmehr aktiv voran und übernimmt dabei genau die Rolle, die in der traditionellen Historie bislang dem Helden im Zentrum des Geschehens vorbehalten war. Ausgestattet mit den Insignien der Französischen Revolution repräsentiert die Figur der Freiheit eben jenen Kollektivsingular, den die parataktische Bildordnung des Gemäldes gerade in Zweifel zieht. Erst durch sie nämlich wird das Ereignis mit einem geschichtlichen Sinn versehen, in dem sich – im Verweis auf die Französische Revolution – Vergangenheit und Zukunft verbinden. So entlastet ihr Erscheinen die »realen« Protagonisten zugleich davon, mit dem geschichtlichen Sinn, für den die personifizierte Freiheit bürgt, identisch sein zu müssen. Damit tritt gerade in der Zentrierung der Bilderzählung auf die fiktive Identifikationsfigur der Freiheit auf den Barrikaden die moderne Erfahrung zutage, dass der einzelne nicht mehr Träger der Geschichte ist, sondern

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vielmehr die Geschichte selbst es ist, die sich ihm aufzwingt. Hegel hat diese Erfahrung in seinem ersten Band der Ästhetik als Folge des modernen Verfassungsstaates beschrieben, der nicht mehr durch die »konkrete Handlung eines Individuums« oder durch eine in sich »konkrete Spitze des Ganzen« bestimmt werde, sondern der vielmehr durch das abstrakte Gesetz gestiftet sei, das das »vielseitige Zusammenwirken in festgestellter Ordnung« erfordere.22 Hatte Hegel damit den klassischen Helden aus der modernen Gesellschaft verabschiedet, so musste deshalb dort, wo das »vielseitige Zusammenwirken« aus der Balance gerät, die Lücke durch etwas Anderes gefüllt werden. Delacroix besetzt sie in der personifizierten Freiheit durch eine mythische Idealgestalt, die nun – anstelle des heroischen Individuums – das »Ganze einer Handlung« auf sich nimmt.23 Als Spaziergänger, der sich unter die Kämpfenden der Juli-Revolution verirrt hat, mag Delacroix die Vergeblichkeit modernen Heldentums gewissermaßen am eigenen Leib verspürt haben. Er nötigt sie als ästhetische Erfahrung auch seinem Publikum auf, indem er den Betrachter durch die Unmittelbarkeit der Darstellung zwar direkt adressierte, ihn geschehenslogisch aber ignorierte, indem er die Figur der Freiheit nicht nur über die Barrikaden, sondern auch über den Betrachter hinwegstürmen ließ. Dabei war Delacroix in der Art, das Gemälde als lebendiges Schauspiel zu inszenieren, seinem Freund und Mentor Géricault gefolgt, dessen Floß der Medusa im Salon von 1819 großes Aufsehen erregt hatte. In der Anverwandlung des Vorbildes hatte Delacroix den Augenpunkt so gewählt, dass der Betrachter sich auf gleicher Höhe mit dem Fuß der Freiheit befand, wodurch ihm ein Platz inmitten der Toten zugewiesen wird. Der Kritiker Fabien Pillet sprach deshalb sogar davon, dass man den Eindruck gewinnen könne, die Barrikade und die Toten bildeten das ganze Sujet des Gemäldes.24 In seiner Adaption kehrt Delacroix das Vorbild jedoch buchstäblich um: Zum einen – formal – lässt er die Bewegungsrichtung der anstürmenden Freiheit im Gegensinn zu Géricaults Bild verlaufen; zum anderen – inhaltlich – macht Delacroix’ Revolutionsbild anders als das Floß der Medusa keine eindeutige Scheidung zwischen Opfern und Tätern, Gut und Böse mehr möglich. So steht mit der moralischen Integrität des Geschehens zugleich auch jene des Betrachters auf dem Spiel, der von Delacroix nicht nur – wie gesagt wurde – auf der falschen, weil feindlichen Seite der Barrikade situiert worden ist, sondern der zudem so unmittelbar in das Geschehen einbezogen ist, dass es sich in der Figur der Freiheit gleichsam gegen ihn zu wenden droht. Vom Ereignisbild solchermaßen zum Bild-Ereignis transformiert, das dem Betrachter widerfährt, führt Die Freiheit auf den Barrikaden weniger die absolute Idee der Freiheit vor Augen, als vielmehr die Kluft zwischen der Idee der Freiheit und einer Wirklichkeit, in der sie sich zu realisieren hat. So tritt in der Diskrepanz zwischen dokumentarischer Suggestion und allegorischer Überhöhung nicht nur die zögerliche und ambivalente Parteinahme des Künstlers für die Sache der JuliRevolution zutage, sie nimmt auch die Resignation vorweg, mit der Delacroix schließlich Jahre später im Tagebuch die ideelle Leere der postrevolutionären französischen Gesellschaft beschreiben wird: »Die Revolution hat es zustande gebracht, unser Denken und Handeln auf materiellen Besitz und leiblichen Genuss zu fixieren. Sie hat jede Art von

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Glauben zerstört: anstelle des Haltes, den ein so schwaches Wesen wie der Mensch in einer übernatürlichen Macht sucht, hat sie ihm abstrakte Begriffe gesetzt: die Vernunft, die Gerechtigkeit, die Gleichheit, das Recht. Eine Vereinigung von Räubern regiert sich ebensogut mit diesen Begriffen wie eine moralisch organisierte Gesellschaft.«25 Es sind wohl nicht zuletzt gerade diese kulturpessimistischen Einschlüsse, die Delacroix’ Bild der Juli-Revolution weit über das dargestellte Ereignis hinaus zu einer revolutionären visuellen Botschaft werden ließen, die ein mehrdeutiges und vielfach aktualisierbares, mithin modernes Bild der Geschichte bietet.

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DAS UNFERTIGE BILD UND SEIN FEHLENDES PUBLIKUM ADOLPH MENZELS »AUFBAHRUNG DER MÄRZGEFALLENEN« ALS VISUELLE VERDICHTUNG POLITISCHEN WANDELS Franc¸ oise Forster-Hahn

»Einen großen Augenblick hat das Jahrhundert geboren, aber der große Augenblick fand nur ein kleines Geschlecht.«1 Mit diesem adaptierten Zitat von Friedrich Schiller charakterisiert eine zeitgenössische Publikation die dramatischen Ereignisse des Jahres 1848 in der preußischen Hauptstadt. Das Urteil könnte fast ebenso der Maler der Aufbahrung der Märzgefallenen ausgesprochen haben, denn nach allem, was wir darüber wissen, schlug Adolph Menzels erste aufgeregte Begeisterung später in tiefe Enttäuschung um. Das intensive und unmittelbare Erlebnis der Märztage inspirierte ihn zuerst zu diesem Bild, das für die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts einmalig ist, das dann später aber unfertig über Jahrzehnte im Atelier verblieb.2 In seinem Bild Aufbahrung der Märzgefallenen stellt Menzel noch im Jahr der Ereignisse nicht die Barrikadenkämpfe der Revolutionstage dar, sondern er wählte als Sujet das feierliche Staatsbegräbnis der gefallenen Kämpfer am 22. März 1848, genauer: die gespannten, erwartungsvollen und verworrenen Stunden am Morgen, bevor das feierliche Ritual begann (Abb. 102).3 Der Maler führt den Blick des Zuschauers über die sich auf dem Gendarmenmarkt ansammelnde Menschenmenge zu den auf den Stufen der Neuen Kirche aufgebauten schwarzen Särge. Das Staatsbegräbnis signalisierte an diesem Tag für die Berliner Bevölkerung den Sieg der Revolution. Für Menzel bedeutete das Unterfangen den Versuch, für ein bewegendes politisches Ereignis der Gegenwart, das einen Wendepunkt der Staatsorganisation versprach, eine adäquate Bildformel zu finden, das heißt, ein zeitgenössisches Geschehen in ein modernes Historienbild zu übersetzen.4 Die politische Entwicklung im Sommer und Herbst 1848 bewegte sich jedoch schneller voran als die Arbeit an dem Bild, und in Menzels Erfahrung hatte der Verlauf der Geschichte sein Bildthema und dessen

267 | Das unfertige Bild und sein fehlendes Publikum

102 Adolph Menzel: Aufbahrung der Märzgefallenen, 1848, Öl auf Leinwand, 45 × 63 cm, Hamburger Kunsthalle

Bedeutung negiert: Die Aufbahrung der gefallenen Barrikadenkämpfer am 22. März 1848 schien zunächst den Sieg der Revolution anzukündigen, aber im Herbst war die Hoffnung auf eine Konstitution und eine neue politische Ordnung geschwunden. Nach der reaktionären Wende wäre es wohl ein schwieriges künstlerisches Unternehmen gewesen, das noch unfertige Bild zu Ende zu bringen, und vielleicht unmöglich, das Gemälde mit Erfolg öffentlich auszustellen.5 Es mögen persönliche Enttäuschung und vorsichtige Kalkulation zusammengewirkt haben, die Menzel bewogen, die Arbeit an dem Gemälde aufzugeben. Und so blieb der einzige Versuch, die deutsche Revolution von 1848 mit Hilfe eines Gemäldes dem kollektiven historischen Gedächtnis einzuschreiben, ein unvollendetes Vorhaben. Während Eugène Delacroix mit seinem monumentalen Gemälde Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden von 1830 und Ernest Meissonier mit seiner Erinnerung aus dem Bürgerkrieg von 1849 in den öffentlichen Diskurs über Kunst und Revolution eingriffen (beide Paris, Musée du Louvre), verblieb Menzels Aufbahrung der Märzgefallenen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der privaten Sphäre seines Ateliers und war nur wenigen Besuchern bekannt.6 Als Alfred Lichtwark, der progressive Direktor der Hamburger Kunsthalle, das Werk 1902 für das Museum erwarb und Hugo von Tschudi, der umstrit-

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tene Direktor der Berliner Nationalgalerie, das Gemälde 1905, kurz nach Menzels Tod, in dessen umfassender Retrospektive und ein Jahr später im Menzel-Raum der Jahrhundertausstellung in der Nationalgalerie präsentierte, hatten sich die politischen Umstände und die künstlerische Atmosphäre radikal geändert.7 Die deutschen Staaten waren seit 1871 zur vereinten Nation im Kaiserreich zusammengefügt und der intensive Diskurs über die Moderne verschob lange Zeit festgeschriebene Wertvorstellungen von Kunst und ihrer Rolle in der Öffentlichkeit. Konnte Menzels so lange verborgene Aufbahrung in dieser veränderten Umwelt je die ikonische Bedeutung erreichen, die sein Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci von 1852 (Berlin, Alte Nationalgalerie) zumindest seit den Gründerjahren für die Nation angenommen hatte?8

DER ABWESENDE HISTORISCHE AUGENBLICK Der imaginäre Zuschauer der Aufbahrung der Märzgefallenen – sowie der Standort des Künstlers – befindet sich auf den Stufen der Französischen Kirche, der Neuen Kirche gegenüber und außerhalb des Bildfeldes. Von diesem erhöhten Blickpunkt schaut der Betrachter über die auf dem Gendarmenmarkt befindliche Menschenmenge auf die schwarz dekorierten Nordkolonnaden des Kirchenbaus, auf dessen Stufen die dunkle Pyramide der Särge aufgebaut ist, etwas nach links aus der Mittelachse verschoben. Diese makabre »Architektur« ist das einzige stabile Element in einer asymmetrischen Bildstruktur, die sich in einzelne Fragmente aufzulösen scheint. Die hohe Kuppel der Neuen Kirche ist vom Bildrahmen ausgegrenzt, so dass die Masse der schwarzen Särge das Bauwerk dominiert. Rechts, ebenfalls vom Bildrahmen beschnitten, haben sich die Zuschauer auf dem Treppenpodest des Schauspielhauses angesammelt, während links der Blick in einen besonnten Straßenzug und über die beflaggten Häuser in den Hintergrund führt. Getrennt von der Sargpyramide und der leeren Bildmitte gestikulieren die sich auf dem Platz bewegenden Menschen, die in verschiedene Richtungen streben und keinesfalls auf die Särge konzentriert sind.9 Diese Volksmenge, aus allen Generationen und Klassen bestehend, nimmt die größte Fläche des Bildes ein und ist der Hauptakteur der Szene. Einige der Figuren sind scharf und plastisch charakterisiert. Von links wird ein hellbrauner Sarg auf einer mit einem leuchtend weißen Tuch bedeckten Bahre herangetragen; ein Motiv, das die dunkel bewegte Menge teilt und sofort den Blick des Betrachters einfängt und in die Bildszene führt. Während sich links von dieser Sargprozession die Bürgerwehr versammelt hat, bewegt sich im Vordergrund die erregte und auseinanderstrebende Menge: Einzelne Figuren wenden sich vom Geschehen ab und aus dem Bild heraus dem Betrachter zu, wiederum andere kehren dem Zuchauer den Rücken und bewegen sich zur Bildmitte, das Publikum auf diese Weise einladend, am Bildgeschehen – und also am feierlichen Ritual – teilzunehmen. Im Kontrast zu dieser dichten, konfusen Volksmenge ist im linken Vordergrund eine grau-braune, mit

269 | Das unfertige Bild und sein fehlendes Publikum

lockerer Hand gepinselte Fläche sichtbar, eine Leerstelle, die Konzeption und Komposition gleichermaßen in Frage zu stellen scheint. Über dem belebten Platz und den monumentalen Architekturen mit dem schwarzen Katafalk der Särge wölbt sich ein bewölkter, kühler blau-grauer Himmel. Die Bildinszenierung signalisiert nervöse Erregung, Dissonanz und die dynamische Energie der Menge. Die asymmetrische Bildstruktur betont das Gegensätzliche: Das steinerne Treppenpodest von Schinkels Schauspielhaus rechts findet kein Äquivalent in der linken Bildhälfte, der gestikulierenden Menge antwortet die starre schwarze Pyramide der Särge auf den Treppenstufen des klassizistischen Portikus, die Bildmitte ist leer. Der fehlenden Bildkohärenz entspricht der abwesende historische Augenblick, der die auseinanderstrebende Menge zusammenführen könnte. Wer nicht den historischen Verlauf der Berliner März-Revolution kennt, wird vergeblich raten, welchen Moment der dramatischen Ereignisse Menzel zum Thema seines Bildes gemacht hat. Am 18. März 1848 begann der Bau der Barrikaden als Reaktion auf die Schüsse, die fielen, als das Militär die auf dem Schlossplatz zusammengeströmte Menge nicht zurückdrängen konnte. Die Kämpfe zwischen den Aufständischen und der Armee dauerten bis in die Morgenstunden des folgenden Tages. Am 19. März wurde die Berliner Bürgerwehr gegründet, der König erließ seinen Aufruf »An meine lieben Berliner« und musste den auf den Schlosshof gebrachten Leichnamen der gefallenen Barrikadenkämpfer vom Balkon aus seine Ehrerbietung erweisen. Am 21. März, an dem Menzel abends nach Berlin von einem längeren Aufenthalt in Kassel zurückkehrte, waren die Straßenkämpfe vorüber, und es wurde die auf Versöhnung bedachte gemeinsame Bestattung von gefallenen Revolutionären und Soldaten aufgegeben. Schon auf dem Weg vom Anhalter Bahnhof zu seiner Wohnung sah Menzel die »Spuren von 4 Barrikaden« und war vom ersten Augenblick seiner Ankunft an ruhelos und unermüdlich auf Beobachtungswanderungen durch die Stadt unterwegs.10 Dabei muss er wahrscheinlich auch an der Barrikade in der Breiten Straße, die Eduard Gaertner in ihrem zerstörten Zustand in einem Aquarell dargestellt hat, vorübergegangen sein (Berlin, Stiftung Stadtmuseum).11 Am 22. März fand das von der Stadt finanzierte feierliche Begräbnis statt, das am Morgen mit der Aufbahrung der Särge und der Ansammlung der Trauergäste sowie der Zuschauer auf dem Gendarmenmarkt begann und erst am späten Nachmittag auf dem Friedhof Friedrichshain endete. Menzel selbst verpasste also die Barrikadenkämpfe, erlebte aber eindringlich die gespannte und erregte Atmosphäre in der Stadt und beobachtete mit scharfem Auge die Ereignisse der Tage, die den Kämpfen unmittelbar folgten. In seinem berühmten und oft zitierten »Revolutionsbrief« vom 23. März 1848 an seinen Freund Carl Heinrich Arnold in Kassel beschreibt er den Tag ausführlich und beendet das Schreiben mit einer Skizze der Gräber auf dem Friedhof von Friedrichshain. Die Intensität des Erlebnisses gibt dem Brief eine bei Menzel sonst ungewohnte emotionale und bewegte Sprache: »Das war ein traurig feierlicher Tag, dergleichen in Berlin zu erleben, man nicht gedacht hätte. Am Morgen waren die Särge an der Freitreppe der Neuen Kirche auf dem Gens d’Armes-Markte […] auf einem grossen Trauergerüste ausgestellt.« Und er kommentiert die Szene am Schloss, von

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wo der König und seine Entourage der feierlichen Prozession beiwohnen mussten: »So oft nun ein neuer Zug Särge vorbeikamen, trat der König baarhaupt heraus, und blieb stehen, bis die Särge vorüber waren. Sein Kopf leuchtete von ferne wie ein weisser Flecken. Es mag wohl der fürchterlichste Tag seines Lebens gewesen sein.«12 Die Ambivalenz des beobachtenden und skizzierenden Menzel schwingt zwischen Begeisterung für das zeichensetzende Begräbnis und Mitgefühl mit dem König, der an diesem Tag auch die alte Staatsform zu beerdigen schien.

MOTIVISCHE UND POLITISCHE AMBIVALENZ Menzel war nicht der einzige Berliner Künstler, der die aufgeregten Revolutionstage und die Bestattung beschrieb. Auch Johann Gottfried Schadow, der in seinen Aufzeichnungen ebenfalls einen Sarg skizzierte, und Christian Daniel Rauch hielten den tief bewegenden Eindruck des Begräbnisrituals in ihren Tagebüchern fest: »[…] am anderen Morgen früh sah man den Anfang eines festlichsten, [höchst schmerzlichen] Tages, die Bewegung bei schönem Wetter war ausserordentlich. Die Stunde des Ziels des Festes nähert sich, um 2 Uhr setzte sich der Trauerzug der 204 Särge der gebliebenen Bürger in der Nacht des 18ten ruhig feierlichsten Zuges in Bewegung nach dem Friedrichs Haine, […] und es dauerte das Vorüberziehen etwas über 3 Stunden […].«13 Adolph Menzel, der sich an diesem Tag »fast wie ein Zeitungsreporter« von einem Standort zum anderen bewegte, war sich wohl bewusst, was dieser Tag für den König und seine Autorität bedeutete, wie schon die dramatische Präsentierung der Leichname auf Bahren und Holzbrettern im Schlosshof am 19. März signalisiert hatte, »daß der alte Staat mit jenen Leichen zu begraben sey, und daß das neue Staatsleben mit allen seinen Konsequenzen aufrichtig und unzweideutig angefangen werden müsse«.14 Es muss in dieser Stimmung der erregten und gespannten Hoffung gewesen sein, dass der zweiunddreißigjährige Menzel beschloss, ein Bild zu malen, das diesen historischen Moment festhielt. Wie intensiv die symbolische Bedeutung dieses Begräbnistages erfahren wurde, und wie schnell sich dessen Bilder in das kollektive Bewusstsein einschrieben, weisen die zahlreichen Berichte in der Presse und vor allem die vielen veröffentlichten Illustrationen auf. Oft ist in der Literatur auf die Diskrepanz zwischen Text und Bild hingewiesen worden.15 In Menzels eigenen Worten und in denen anderer Autoren dominiert der dunkle Ton, die bedrückt feierliche Stimmung des Tages. Der von getragener Musik begleitete und endlos scheinende Zug der Prozession schuf eine kollektive Empfindung der Trauer. Der Augenblick, den Menzel für sein Bild wählte, war jedoch nicht ein Ausschnitt aus der feierlichen Zeremonie mit ihrem wohlgeordneten Ritual, sondern eine Szene der angespannten und konfusen Morgenstunden, bevor die eigentlichen Feierlichkeiten begannen. Vergleicht man die Aufbahrung der Märzgefallenen mit den Holzschnitt-Illustrationen in der Presse, zum Beispiel in der Illustrirten Zeitung vom April 1848, dann fällt sofort eine ganz ent-

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103 Johann Jakob Kirchhoff: Leichenbegängniss der in den Märztagen Gefallenen am 22. März, aus: Illustrirte Zeitung, 15. April 1848

gegengesetzte Themenwahl und Bildkonzeption auf: Statt einer verworrenen Szene, in der die Menschenmenge sich in verschiedene Richtungen verläuft, bestimmt in diesen Graphiken das kontrollierte Ritual die Inszenierung der Bilder (Abb. 103). Die Menschenmenge bewegt sich in geordneter Reihenfolge, vollkommen auf die Begräbnisfeier konzentriert, und fügt sich in eine symmetrisch angelegte Bildkonstruktion. Identifizierung mit dem historisch so einmaligen Ereignis, dem Staatsbegräbnis der Barrikadenkämpfer, und das durchdringende Gefühl gemeinsamer Trauer vermitteln dem Betrachter die ernste Be-

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deutung der Begräbnisfeier, denn die Märzgefallenen, so ein zeitgenössicher Autor, symbolisierten, »dass der alte Staat mit jenen Leichen zu begraben sey«.16 Menzels Entscheidung, nicht das kollektive Zusammenfinden in der Trauerfeier, sondern die chaotischen Stunden davor zu malen, kann daher womöglich als Zeichen seiner eigenen Ambivalenz gedeutet werden. Viel ist über Menzels eigene Haltung zur Revolution spekuliert worden, und soweit wir aus zeitgenössischen Quellen und Dokumenten wissen, lässt sich seine politische Haltung kaum eindeutig fixieren.17 Sie war wohl eher schwankend und bewegte sich von erster Begeisterung im Frühjahr 1848, als er sich halb ironisch als »durchaus plebejisch gesinnt« bezeichnete, hin zur Enttäuschung über den »Schwung von einer Schulbank auf eine Andere«, wie der Maler im Herbst des Jahres den Wechsel von der »(gerechten) Indignation über Oben« zur »Indignation über Unten« launig bezeichnet.18 Am Ende seines Lebens neigte er zur zynischen Abwertung der Ereignisse, so zum Beispiel als er zu Lichtwark 1902 bemerkte, »daß alles Lüge oder dummes Zeug gewesen wäre.«19 Schon 1898, nachdem das Bild drei Jahre zuvor zum ersten Mal ausgestellt und einem breiteren Publikum bekannt wurde und in eine Privatsammlung nach Zürich verkauft war, erklärte Menzel in einem Interview vor einer Fotografie des Bildes: »Heute (21. März) sind es gerade fünfzig Jahre […] als ich nach Berlin zurückkehrte und diese erschütternde Scene vor Augen hatte. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen, fast wie ein Zeitungsreporter, um zu skizzieren. Das Ereignis erfüllte meine Seele mit Grauen und mein Herz mit Hoffnung; aber – aber. Was ich dann später sah und erlebte, hat mir die Lust benommen, noch einmal die Hand zu heben, um das Bild zu vollenden.«20 Lesen wir Menzels Illustrationen zu Franz Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen von 1840 unter dem Blickwinkel des liberalen Vormärz und seine wenigen überlieferten Aussagen zur Zeit der Märztage als – zumindest zeitweise gültige – Zustimmung, dann kann man seine Wahl, ein Bild der revolutionären Ereignisse zu malen, vielleicht als eine radikale künstlerische Entscheidung mit ambivalentem Ausgang bezeichnen.21 Die in Berlin schnell voranschreitende Geschichte der 48er-Bewegung, die Menzels Arbeit an der Aufbahrung der Märzgefallenen überholte, endete im November 1848, als die Soldaten des Generals Graf von Wrangel in die Stadt einrückten, die Bürgerwehr aufgelöst und der Belagerungszustand über die preußische Hauptstadt verhängt wurde. Militär besetzte den Gendarmenmarkt; die Nationalversammlung des Landes, die im Schauspielhaus an einer Verfassung arbeitete, wurde vom König entlassen, und so wurde der Gendarmenmarkt, der so zentral in Menzels Bild figuriert, am Ende des Jahres zum Ort der Reaktion. War es vielleicht dieser historische Zeitpunkt, der Menzel die »Lust benahm«, das Gemälde zu Ende zu führen?

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EINE MONTAGE VON ERINNERUNGSFRAGMENTEN Das fragmentarisch-auseinanderstrebende Element in der Kompositionsstruktur der Aufbahrung der Märzgefallenen ist eng mit der Konzeption und ihrer Übersetzung ins Bild verbunden. Zwei Doppelseiten aus seinem Skizzenbuch in der Hamburger Kunsthalle und eine detaillierter aufgefasste größere Bleistiftzeichnung für die Gesamtkomposition in Berlin sind die sichtbaren Spuren von Menzels Arbeitsprozess (Abb. 104).22 Die schnell festgehaltenen Skizzen des »Zeitungsreporters« vor Ort wurden später im Atelier der Komposition eingefügt, die Topographie des Schauplatzes auf der größeren, ebenfalls im Atelier gefertigten Studie festgelegt. Menzels Bild ist nicht die fotografische Bannung eines bestimmten Augenblickes, nicht das realistische Abbild einer historisch genauen Szene, sondern die Montage verschiedener Erinnerungsfragmente auf der Leinwand. Der unmittelbar-spontane Eindruck des historischen Ereignisses, den der Maler dem Betrachter vermittelt, ist das Produkt eines komplizierten »Procédé«, wie Max Liebermann das Vorgehen Menzels charakterisierte.23 Der versuchten Synthese dieser memorialen Bruchstücke im Bild entspricht die Wahl des historischen Ereignisses, entsprechen die chaotischen Morgenstunden, bevor die Menge sich in das kollektive Trauerritual einordnete. Bevor die Arbeit jedoch beendet war, gab Menzel das Projekt auf.

104 Adolph Menzel: Aufbahrung der Märzgefallenen (Studie), 1848, Bleistift auf Papier, 12,9 × 20,5 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett

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105 Unbekannter Fotograf: Adolph Menzel im Schreibzimmer seiner Wohnung in der Sigismundstraße, um 1890–1900, Fotografie, Berlin, Staatliche Museen, Zentralarchiv

Und so hing das unfertige Bild jahrelang in der privaten Sphäre von Menzels Wohnung, wie es eine Fotografie vom Ende des Jahrhunderts zeigt (Abb. 105). Menzel sitzt im Schreibzimmer seiner Wohnung in der Sigismundstraße, vom Schreibtisch abgekehrt und ernsthaft den Betrachter fixierend. An der Wand, schräg über seinem kahlen Kopf, hängt die Aufbahrung der Märzgefallenen, links darüber die Ölstudie vom Kopf eines toten Pferdes. Wie Menzel in den ersten Maitagen 1848 schrieb, malte er diese Studien nach Pferdeköpfen, die er sich »aus einer Schlachterei kommen ließ«, zur selben Zeit, als er an einer »Farbenskizze« arbeitete, womit nur das unvollendete Revolutionsbild gemeint sein kann.24 Nicht nur auf dieser Fotografie und in seinem Brief sind das Gemälde der Aufbahrung der Märzgefallenen und die eindrucksvollen, lebensgroßen Studien der toten

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106 Adolph Menzel: Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci, 1852, Öl auf Leinwand, 142 × 205 cm, Berlin, Staatliche Museen, Alte Nationalgalerie

Pferdeköpfe verbunden, sondern auch in der Literatur bestimmt die Lesart des einen Sujets häufig diejenige des anderen. Nachdem der Maler die Aufbahrung der Märzgefallenen unvollendet aufgab, begann er seine Reihe der Bilder aus der Geschichte Friedrichs des Großen. Die Ölskizzen für die Tafelrunde in Sanssouci von 1850 und das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci von 1852 sind auf das Jahr 1848 datiert, fallen in ihrer Konzeption also in die turbulente Revolutionszeit (Abb. 106). Obwohl beide Szenen als Historienbilder scharf kritisiert wurden, als sie zu Beginn der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Berlin erstmals ausgestellt wurden – Menzel habe, so hieß es, den König nicht in »welthistorischen« Momenten dargestellt und deshalb das Genre eines Historienbildes verfehlt –, sind es gerade diese beiden Werke, die nach der Gründung des Kaiserreiches ikonenhaften Status annahmen. Von ihrer Konzeption her ursprünglich in der liberalen Vorstellung Friedrichs als König aufklärerischer Ideen verankert, wurde ihre Lesart in der jungen Nation radikal revidiert: Nach 1871 wurde Friedrich II. nun als Vorbereiter des vereinten Reiches gesehen, und Menzels Bilder, in Berlins neuer Nationalgalerie prominent ausgestellt, waren einprägsame visuelle Kapitel dieser neuen nationalen Geschichtsscheibung.25 Vor allem das Flötenkonzert Friedrichs des Großen, in unzähligen populären Reproduktionen verbreitet,

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nahm fast legendären Status ein; und das zu einer Zeit als die Märzrevolution von 1848 in weite Ferne gerückt war und die Aufbahrung der Märzgefallenen vor dem Publikum verborgen in Menzels Wohnung hing. Adolph Menzel, nun häufig als »Maler Friedrichs des Großen« bezeichnet, war hoch dekoriert, verkehrte bei Hofe und zögerte vielleicht trotz seiner kritischen Haltung zum neuen Reich, auch als Maler der Märzrevolution vor sein bewunderndes Publikum der Gründerjahre zu treten. Jedenfalls verschwand sein ambivalentes Gemälde nach der ersten Ausstellung und seinem Verkauf in einer Privatsammlung in der Schweiz. Als das Bild für die Hamburger Kunsthalle erworben und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Berlin ausgestellt wurde, nahm die kritische Rezeption Menzels, dem man 1905 ein Staatsbegräbnis ausgerichtet hatte, noch einmal eine Wende. Nun trat der »junge Menzel«, der bereits vor dem Impressionismus mit den Bildstrategien der Moderne experimentiert habe, neben den »Maler Friedrichs des Großen«, das Balkonzimmer von 1845 (Berlin, Alte Nationalgalerie) trat neben das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci.26 Der Diskurs der Moderne und Menzels Position in der Geschichte der Gegenwartskunst bestimmte nun die Betrachtungsweise. Die Aufbahrung der Märzgefallenen nahm in dieser Konstruktion allerdings nur eine bescheidene Stelle ein. Es sollte noch über ein halbes Jahrhundert dauern, bis das Bild der Berliner Märzrevolution durch die Diskussionen um den – auch politisch motivierten – Realismus der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und trotz aller umstrittenen Interpretationen mehr ins Zentrum rückte. Mit der Revision des Themas von Kunst und Revolution, mit der Revision auch der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung bot Adolph Menzels Aufbahrung der Märzgefallenen einem neuen Publikum nun die visuelle Verdichtung dieses historischen Ereignisses.

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DIE UNVERFÜGBARKEIT DER GESCHICHTE EDOUARD MANET INSZENIERT DIE »ERSCHIESSUNG KAISER MAXIMILIANS VON MEXIKO« Barbara Wittmann

Jedes Kind sieht, dass es so nicht gewesen sein kann (Abb. 107). Damals am 19. Juni 1867 als der einstige Erzherzog Maximilian von Österreich, Bruder Kaiser Franz-Josephs und Herrscher über Mexiko, in Querétaro, 250 Kilometer nordwestlich von Mexiko-Stadt erschossen wurde. Das Exekutionskommando steht viel zu nah am Kaiser und seinen beiden Generälen; die Soldaten drängen sich so eng aneinander, dass es schwer fällt, die Füße, Beine und Köpfe einander zuzuordnen. Es fehlt jede Andeutung auf die Waffen der drei hinteren Soldaten, und kaum ließe sich erklären, wie sie – hätten sie Gewehre – an den anderen Schützen vorbeizuzielen vermöchten. Zudem fehlt der Kommandant des Erschießungspelotons, niemand scheint den Befehl zur Hinrichtung gegeben zu haben. Die Zuschauer der Exekution recken ihre Köpfe über eine – viel zu hohe – Mauer, als ob sie einem Stierkampf oder einem ähnlichen Spektakel beiwohnten. Abgesehen von den narrativen Inkonsequenzen irritieren die expressiv unbestimmten Gesichter Maximilians und der Zuschauer, das eigentümliche Geschmiere und Gepinsel des pastos aufsteigenden Rauchs, welches das Kontinuum der Pinselschrift bricht und die Gemachtheit des Bildes ausstellt, und schließlich diese Schatten, die sich fast unabhängig von den Figuren, auf die sie verweisen, und gegen jede physikalische Logik als spindelige Silhouetten in den Sand zu graben scheinen. Und dennoch: Das Gemälde vermeidet die Fiktion. Die Figuren, ihre Uniformen und der Schauplatz berichten von einem Vorgang, der so spröde und frei von Pathos ist wie ein Polizeiprotokoll. Manets Gemälde ist gänzlich gebastelt und erschreckend faktisch zugleich. Bereits als junger Maler soll Edouard Manet auf die Anregung eines Freundes, eine glückliche Bildfindung seines Skizzenbuches »auszuführen«, geantwortet haben: »Du

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107 Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians, 1868–1869, Öl auf Leinwand, 252 × 302 cm, Mannheim, Städtische Kunsthalle.

hältst mich wohl gar für einen Historienmaler!«1 Historienmaler ist laut Manet also ein Maler, in dessen Werken die Ausführung, die detaillierte Ausarbeitung der Motive und ihre glatte Faktur, die (re)konstruktive Anstrengung des Künstlers verschattet. Genau dies ist in der Erschießung Maximilians nicht der Fall; denn obwohl Manet ein durch die Tagespresse vermitteltes und innerhalb weniger Monate immer wieder neu berichtetes und gedeutetes Geschehen »nach dem Jagdschein malt« – wie er selbst von den Historienmalern behauptet haben soll –, opfert er die Interessen des Malers nicht jenen des Historikers. Auf die Flut der sich nach den Ereignissen in Mexiko täglich mehrenden Nachrichten, Lithographien und Fotografien vom Geschehen, seinem Ort, seinen Protagonisten antwortet Manet, indem er dem Vorgang der Rekonstruktion, dem Gemachten und Vermittelten des historischen Augenblicks zur Evidenz verhilft (Abb. 108–110).2 Die Erschießung Maximilians gehört zu jenen späten Beispielen der Gattung Historienbild, die im vollen Bewusstsein einer neuen medienhistorischen Konstellation gemalt wurden; in dem Be-

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108 Unbekannter Graphiker: Die Erschießung des Kaisers Maximilian – Querétaro, 19. Juni 1867, 1867–1868, 26,9 × 38,9 cm, Lithographie (erschienen im Verlag Gangel-Didion, Metz), Paris, Bibliothèque Nationale de France

wusstsein, dass das alte Bündnis zwischen Malerei und Geschichtsschreibung durch die moderne Interdependenz von Historiographie und Massenmedien nahezu vollständig ersetzt worden war. Als Manet im Frühjahr 1869 an der letzten Fassung der Erschießung Maximilians arbeitete, galt das Geschichtsbild bei progressiven wie konservativen Kunstkritikern als unwiederbringlich verlorene Gattung. Schon in seiner Rezension der künstlerischen Beiträge zur Weltausstellung von 1855 hatte der Dichter und Kunsttheoretiker Maxime Du Camp bemerkt: »Die Kunst, ein historisches Geschehen auf der Leinwand wiederzugeben, besteht in Wirklichkeit nicht mehr.«3 Auf der Weltausstellung von 1867, kurz nach dem fast gleichzeitigen Tod der beiden führenden Historienmaler Europas, Ingres und Cornelius, dürfte schließlich selbst die konservative Jury, die für die Vergabe der prestigereichen Ehrenmedaillen verantwortlich war, nicht mehr an die Zukunft der Gattung geglaubt haben: Von acht verliehenen Preisen ging nur eine Medaille an einen Historienmaler, wobei die Preisrichter diese Entscheidung mit dem Hinweis auf die allgemeine Abkehr von der grande peinture legitimierten.4 Der republikanisch gesinnte Kunstkritiker Jules-Antoine Castagnary hatte bereits einige Jahre zuvor mit einer These zum Ende der Historienmalerei aufgewartet, die das Verschwinden der Gattung als unmittelbare Folge des Machtverlusts absolutistischer Herrschaftsformen erklärte.5

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109 François Aubert: Das Exekutionskommando, 1867, Albuminpapierabzug, New York, Metropolitan Museum of Art, Gilman Collection

110 François Aubert: Das Hemd des Kaisers, 1867, Fotografie, Albuminpapierabzug, Brüssel, Musée Royal de l’Armée

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111 Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians, 1868–1869, 34 × 43,8 cm, Lithographie, New York, Metropolitan Museum of Art

Manet wendet sich mit der Erschießung Maximilians also genau in dem Moment der Gattung Geschichtsbild zu, als sie nicht mehr selbstverständlich auf eine etablierte Machtstruktur bezogen werden konnte, welche die Lektüre des gemalten Geschehens sinnfällig gemacht hätte. Dieser Verlust des Referenzrahmens zeigt seine Wirkung in der ungewöhnlichen rezeptionsästhetischen Struktur des Werkes; eine Struktur, die der Maler in Auseinandersetzung mit einem Thema entwickelt, das geradezu emblematisch für den Verlust des Referenzrahmens einstehen konnte: mit dem Tod eines katholischen Kaisers. Wären die Ausstellung des Gemäldes und der Vertrieb einer Lithographie desselben Themas nicht durch die Zensur verboten worden (Abb. 111), hätte Manets Bild das Publikum von 1869 daran erinnern können, dass das Leben europäischer Monarchen und die Macht der Monarchie nach der Französischen Revolution erstaunlich fragil geworden waren und sich ihr Sturz – im Unterschied zur Frühen Neuzeit – nur mehr bedingt an der Frage des guten oder schlechten Regiments entschied, sondern an der prinzipielleren Frage nach der richtigen Regierungsform.6 Manets Erschießung Maximilians lässt sich ganz in diesem Sinne nicht nur als Bericht vom Scheitern eines europäischen Monarchen in der

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neuen Welt lesen, sondern darüber hinaus als Gründungsbild einer Republik – der República Mexicana – und als Neubegründung einer Gattung – des Historienbildes –, die sich zur Machtstruktur der Republik ins Verhältnis setzen muss.

DAS EREIGNIS UND SEINE BILDNERISCHEN FASSUNGEN Im Folgenden seien die Vorgänge kurz zusammengefasst, die in den Augen der französischen Zeitgenossen den spezifischen politischen »Sinn« der Exekution eines österreichischen Erzherzogs im fernen Lateinamerika stiften mussten. Nach dem Umsturz des diktatorisch herrschenden Generals Antonio López de Santa Ana hatte sich Mexiko 1857 zur konstitutionellen Republik erklärt und eine liberale Verfassung installiert.7 Die Beschneidung der Macht der Kirche und ihrer Privilegien löste kurz darauf einen Bürgerkrieg aus, der gewählte Präsident wurde durch den konservativen General Zuloaga gestürzt und Benito Juárez, ein Anwalt indianischer Herkunft zog als interimistischer Präsident seine Minister aus Mexiko-Stadt ab, wo sich nun eine Gegenregierung konstituierte. Der Bürgerkrieg zwang beide Parteien zur Aufnahme von Anleihen bei europäischen und amerikanischen Geldgebern. Nachdem die Liberalen Anfang 1861 die Hauptstadt zurückgewinnen konnten, internationalisierte sich der Konflikt, weil Juárez aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten die Rückzahlung der zum Teil exorbitanten Zinsen an das Ausland verweigerte. Die europäischen Gläubiger Großbritannien, Frankreich und Spanien reagierten im Oktober 1861 mit der Unterzeichnung eines Dreimächteabkommens, um Mexiko durch die Besetzung seiner Küstengebiete zum Begleichen der Schulden zu zwingen. Die über die Rückforderung der ausstehenden Summen hinausgehenden Expansionspläne Napoleons III. führten schließlich zur Aufkündigung dieses Abkommens und einem Alleingang Frankreichs: In den nächsten beiden Jahren rückten französische Soldaten von der Hafenstadt Vera Cruz bis nach Mexiko-Stadt vor, wo die Besatzungsmacht eine hauptsächlich aus Konservativen und Klerikalen bestehende Übergangsregierung bilden ließ. Auf Wunsch von Napoleon III. beschloss eine im Juni 1863 eilig einberufene Notablenversammlung, Erzherzog Ferdinand Maximilian die Krone anzubieten. Nach anfänglichem Zögern und Napoleons Zusage, dass 25.000 französische Soldaten in Mexiko den Aufbau der Monarchie unterstützen sollten, akzeptierte Maximilian und hielt schließlich im Juni 1864 feierlichen Einzug in Mexiko-Stadt. Während der habsburgische Kaiser am Aufbau einer neo-absolutistischen Monarchie arbeitete, ornithologische Studien betrieb und an der Etikette seines Hofes feilte, wurden Juárez und die Minister der republikanischen Regierung weiter in den Norden an die Grenze zu den Vereinigten Staaten vertrieben. Als der Widerstand der Juaristas zu wachsen begann, der amerikanische Bürgerkrieg beendet war und die amerikanischen Waffenlieferungen an die Republikaner zunahmen, ließ der französische Kaiser seine Truppen abziehen. Nachdem die letzten französischen Soldaten Vera Cruz im März 1867 verlassen hatten, konnte Juárez das Land

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schrittweise wieder unter seine Kontrolle bringen. In Querétaro, einem Bollwerk der Monarchisten, wurden die Anhänger des Kaisers belagert, und Maximilian wurde nach dem spektakulären Verrat durch einen seiner Generäle gefangengenommen. Am 13. und 14. Juni 1867 stellte man »Maximiliano Fernando de Hapsburgo, der sich Kaiser von Mexiko genannt hat« und seine beiden Generäle Miguel Miramón und Tomás Mejía vor ein Militärgericht und verurteilte die Angeklagten auf der Basis eines Gesetzes zum Tode, das Juárez im Januar 1862 zum Schutz der fragilen liberalen Regierung vor möglichen ausländischen Interventionen und der neuerlichen Einsetzung einer Gegenregierung erlassen hatte.8 Der König von Preußen, die Vereinigten Staaten von Amerika, ja, selbst Victor Hugo und Guiseppe Garibaldi, der die mexikanische Nation zum glänzend geführten Freiheitskampf beglückwünschte, hatten erfolglos um die Schonung Maximilians gebeten.9 Als die Nachricht von der Hinrichtung Maximilians Ende Juni 1867 mit einiger Verzögerung in Paris eintraf, wurde dort gerade die zweite Weltausstellung durch Napoleon III. auf dem Champs de Mars eröffnet. Manet hatte zu diesem Anlass eine kleine Einzelausstellung organisiert und zeigte bis Ende Oktober seine Bilder in einem eigenen Pavillon in unmittelbarer Nähe der megalomanen Exposition Universelle. Er muss unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Geschehnisse in Mexiko mit der Arbeit an seiner Komposition begonnen haben. Möglicherweise sollte das spektakuläre Thema die Aufmerksamkeit auf seine nicht eben erfolgreiche Präsentation richten, vermutlich wollte der Maler den Ort am Rande der größten kulturellen Leistungsschau des napoleonischen Imperialismus für eine gezielte Polemik nutzen. Am Ende aber entwickelte sich die Erschießung Maximilians zum umfangreichsten und längsten Projekt seines Œuvres: Bis Anfang 1869 entstanden insgesamt fünf Fassungen des Themas, drei großformatige Ölgemälde, eine kleine Ölskizze sowie eine Lithographie, wobei Manet von Bild zu Bild am Ausgleich von widersprüchlichen Informationen und bildimmanenten Problemen ihrer Darstellung rang (Abb. 112–114).10 So kleidete er die Soldaten des Exekutionskommandos in der ersten, heute in Boston befindlichen Version noch in mexikanische Guerillakostüme, die in Berichten in den ersten Monaten nach der Erschießung beschrieben und in populären Drucken dargestellt worden waren, bevor Fotografien des Pelotons auf den Markt kamen, in denen die recht prosaische Uniformierung der republikanischen Schützen gezeigt wurde. Manet hielt sich im Folgenden zwar weitgehend an diese visuellen Quellen, stattete die Soldaten aber mit Standardgewehren der französischen Infanterie und mit Krummsäbeln aus, die an die Bewaffnung der französischen Gendarmerie erinnerten. Als Reaktion auf die veränderte Nachrichtenlage lässt sich auch der Wechsel des Schauplatzes verstehen: Während die beiden frühen Fassungen in Boston und London die Erschießung auf einem nur vage bestimmten Feld stattfinden lassen, fügt Manet in der dritten und letzten Version hinter den Figuren eine Mauer ein, die erst in jenen ausführlicheren Berichten über die Hinrichtung Erwähnung fand, die Ende 1868 erschienen und auf Augenzeugenaussagen beruhten. Die Anwesenheit von Zuschauern in der Mannheimer Fassung entspricht zwar dem historischen Tatbestand, wohl kaum aber ihre Positionierung hinter der Mauer.

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112 Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians (erste Fassung), 1867, Boston, Museum of Fine Arts

Nicht alle Veränderungen, die der Maler im Laufe der fünf Versionen vornahm, dienten also der Präzisierung von Handlung, Ort und Ausstattung. In der Mannheimer Fassung der Erschießung Maximilians übermalte Manet sogar die Figur des Kommandanten – sein rotes Kepi und ein streifenförmiger Rest seiner Hose leuchten noch zwischen den Soldaten in der hinteren Reihe hervor –, dessen Befehl durch ein Senken des Säbels historisch verbürgt ist, und der in allen früheren Versionen rechts hinter dem Peloton zu sehen war. Die meisten der Verstöße gegen die historische Überlieferung lassen sich durch bildnerische Entscheidungen erklären: Sie befördern insgesamt eine Zurücknahme des Betrachterbezugs und der räumlichen Dynamik des Gemäldes.11 In der Mannheimer Fassung reiht Manet die Figuren schließlich bildparallel, in exakt gleicher Kopfhöhe entlang der Bildfläche auf. Das kühle Kolorit und das Hinzufügen von Augenzeugen, die zum Rezipienten des Gemäldes keinen Blickkontakt aufnehmen, haben eine Distanzierung des Bildgeschehens zur Folge. Dem realen Betrachter vor der Leinwand wird nun die Rolle eines sekundären Zuschauers zugewiesen. Diese Zurücknahme des Betrachterbezugs mündet in einer eigentümlichen Indifferenz, auf die schon Georges Bataille hingewiesen hat: »Es scheint als habe Manet den Tod des Kaisers mit der selben Unbeteiligtheit malen wollen wie eine Blume oder einen Fisch.«12

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113 Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians (zweite Fassung), 1867–1868, London, National Gallery

DER (UN)GEMALTE SCHOCK Die stumme Präsenz der Malerei schützt den Betrachter vor dem ohrenbetäubenden Lärm der Gewehrsalven. Was nicht heißt, dass sich der Einbruch des Todes, als Inbegriff des gestaltlos Realen schlechthin, deshalb kommunizieren ließe. Man kann Lärm genauso wenig mitteilen, wie man eine Erschießung malen kann.13 Manet zeigt den Bruchteil einer Sekunde: Die Soldaten haben bereits gefeuert, die Todeskandidaten leben noch, aber der zur Rechten Maximilians stehende General Mejía wirft bereits, durch eine Kugel getroffen, Kopf und Arm zurück. Der Moment des Schusses liegt jenseits des Auffassungsvermögens des menschlichen Sinnesapparats, er kann noch nicht einmal als »Ereignis« angesprochen werden, denn es fehlt ihm jener sinnstiftende Überschuss, der ein Ereignis im wahrnehmungsphysiologischen wie im historischen Sinn konstituiert.14 Manets Gemälde erzählt – wie Peter Geimer treffend bemerkt hat – in der »Zeit von Projektilen«.15 Zwar gibt es Details in Manets Gemälde, die über den infinitesimal kurzen Moment hinausweisen, aber ihre Aussagekraft erschöpft sich in der Vorhersage eines Todes, der mit Sicherheit in den nächsten Minuten eintreten wird: die krude hingepinselten Hände Maxi-

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114 Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians (dritte Fassung), 1868–1869, Copenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek

milians und Miramóns, die jene Wunden vorwegnehmen, die sich gleich in den Körpern des Kaisers und seiner Generäle öffnen werden, der Unteroffizier am rechten Bildrand, der den Hahn seines Gewehrs spannt, um Maximilian und Mejía mit dem »Gnadenschuss« zu töten, nachdem die Gewehrsalve des Pelotons sie schwer verwundet haben wird, und schließlich jener Ausblick auf die Zypressen, Marmorkreuze und Vasen eines Friedhofs hinter der hohen Mauer direkt über den Köpfen Maximilians, Miramóns und Mejías. Alle diese Details verraten das Naheliegende; verrraten, dass der Kaiser und seine beiden Generäle, die Schüsse, die im Moment fallen, nicht überlebt haben werden. Manet deutet also genau so viel vom »Nachher« der Begebenheit in Mexiko an, dass sich der Tod als prosaischer Akt erfahren lässt, der sich zwischen einem Moment entfaltet, der vor dem Schock liegt – denn noch haben die Projektile Maximilians Körper nicht durchschlagen – und dem coup de grâce sowie der anschließenden Versorgung des Leichnams. Schon Bataille hat die eigentümliche Betäubung beschrieben, die diese Fragmentierung der Erzählzeit zur Folge hat: »Manet aber scheint es unempfindlich gemalt zu haben, und

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unempfindlich, ungerührt, bleibt auch der Betrachter. Dieses Bild erinnert auffallend an die Abtötung eines Nerves beim Zahnarzt: Man kann sich des Eindruckes von Schläfrigkeit, der von ihm ausgeht, nicht erwehren. Man weiß, daß der Schmerz da ist, aber man fühlt ihn nicht, man soll ihn nicht fühlen.«16 Mit Bataille gesprochen, inszeniert die Mannheimer Erschießung Maximilians die Unmöglichkeit, das Geschehen als Schock wahrzunehmen. Allerdings artikuliert das Gemälde gleichzeitig ein Bewusstsein für den Schmerz, den Knall und den Tod, die anästhesiert, gedämpft oder zeitlich verfehlt werden mussten, um die Exekution als regelhaften, kontrollierten Vorgang zu malen. Manets Malerei verbirgt den Schock, wobei die vom Bild nicht gezeigte Erschütterung symptomatisch an zwei Stellen hervorbricht: in der – schon erwähnten – offenen Faktur, die Maximilians und Miramóns Hände bersten lässt, und in jener anderen Hand des Korporals, die den Hahn spannt und in ihrer monströsen Vergrößerung die Gewalt des Aktes sichtbar macht.

DIE LOGIK DER INVERSION Die Erschießung Maximilians wurde in der kunsthistorischen Forschung zumeist als politischer Kommentar Manets ausgelegt, ja, mehr noch als Anklage, die sich gegen den französischen Kaiser und seine Rolle als Initiator des mexikanischen Abenteuers richte. Schon im Februar 1869 äußerte Emile Zola in einer Notiz in La Tribune die Vermutung, dass Manets Gemälde deshalb der Zensur zum Opfer gefallen sei, weil die Ähnlichkeit zwischen den Uniformen des Exekutionskommandos und französischen Uniformen »mit grausamer Ironie« auf Frankreichs Verantwortung für die mexikanische Katastrophe hinweisen würde.17 Das Bild hätte also die Instrumentalisierung Maximilians durch die imperialistische Politik Napoleons III. sichtbar gemacht, indem es einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Kaisers und dem Abzug der französischen Truppen stiftet. Der Historiker Volker Sellin hat kürzlich eine Revision dieser Lesart vorgeschlagen, die auf Manets eigene politische Überzeugungen rekurriert, denn die Ereignisse in Mexiko mussten unter dem Pinsel eines nachweislich radikalen Republikaners ihre ganz besondere Signifikanz entfalten.18 Schon Anfang 1864 hatte die republikanische Opposition im Corps législatif, der Volksvertretung des Zweiten Kaiserreichs, der Regierung vorgeworfen, mit der Unterstützung des Kampfes gegen die mexikanischen Liberalen nicht nur die republikanischen Traditionen der Französischen Revolution, sondern auch das Vermächtnis des Ersten Kaiserreichs – auf das sich Napoleon III. zur Legitimation der eigenen Herrschaft mit Vorliebe bezog – verraten zu haben. Die Polemik, die Manets Erschießung Maximilians hätte entfalten können, falls sie vor dem Ende des zweiten Kaiserreichs ausgestellt worden wäre, hätte also kaum auf den frühzeitigen Abzug der französischen Truppen aus Mexiko und die damit einhergehende Auslieferung des Kaisers an die liberalen Kräfte abgezielt, sondern auf den Verrat am Recht auf nationale Selbstbestimmung und an den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaats, gegen die Napoleon III. freilich schon mit seinem

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coup d’état von 1851 verstoßen hatte. Der Vergleich mit Francisco de Goyas Erschießung der Aufständischen (Der 3. Mai 1808) von 1814 (Madrid, Museo del Prado), auf die sich die Komposition der Erschießung Maximilians unmittelbar bezieht, ist in dieser Hinsicht bezeichnend: Goyas Gemälde zeigt die Hinrichtung von Freiheitskämpfern, die sich gegen die französischen Besatzungstruppen erhoben hatten, um die erzwungene Abreise der spanischen Königsfamilie nach Bayonne zu verhindern, und entstand aus Anlass der Rückkehr König Ferdinands nach dem endgültigen Sieg Wellingtons über Napoleon im Juni 1813.19 Beide Gemälde berichten von den verheerenden Folgen bonapartistischer Expansionspolitik, beide Gemälde verstehen sich als recht ungewöhnliche »Unabhängigkeitserklärungen«, wobei Goyas Aufständische ihre Rolle mit Manets Exekutierenden getauscht haben. Ironischerweise soll selbst Maximilian seine Erschießung als eine solche Deklaration verstanden haben. Sein Diener József Tüdös, ein Augenzeuge der Exekution, überliefert folgende letzte Worte des Kaisers: »Ich bete, daß mein Blut, das nunmehr vergossen werden soll, diesem Lande zum Wohl gereichen möge. Es lebe Mexiko! Es lebe die Unabhängigkeit!«20 Es ist dieser Logik der Inversion geschuldet, dass Manets Maximilian seinen Patriotismus mit einem der Situation komisch unangemessenen Sombrero bekennt, während jene Männer, welche die nationale Selbstbestimmung verteidigen, mexikanisch-französische Mischuniformen tragen. Und es gehört ebenfalls zur Logik der Inversion, dass nun die Parteigänger der Republik zu Mitteln der Gewaltanwendung greifen, deren Recht- und Verhältnismäßigkeit zumindest verhandelbar war. Denn das Erschießungskommando agiert genau genommen nicht im Namen des Volkes, das im Hintergrund seine Köpfe über die Friedhofsmauer reckt und recht unterschiedliche Reaktionen auf das Geschehen zeigt, sondern auf Befehl eines Militärgerichts. Genau dessen Zuständigkeit im Fall Maximilians bestritten zumindest die Verteidiger des Kaisers vehement. Die Gewalt in Manets Gemälde ähnelt einer Maschine, die so trefflich funktioniert, dass sie keines Befehls, keiner personifizierten Führung bedarf. Im Unterschied zu berühmten Bildern der Revolution wie Goyas Der Kampf mit den Mamelucken an der Puerta del Sol (Der 2. Mai 1808) von 1814 oder Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden von 1830 zeigt die Erschießung Maximilians nicht das Volk als Subjekt des (versuchten) Machtwechsels. Die Gewalt der Republik vollzieht sich hier nicht spontan, provisorisch und ungeordnet, sondern als eine äußerst geregelte, selbsttätige und vom Volk abgespaltene Macht. Manets Gemälde weist darauf hin, dass im Moment des Wechsels der Regierungsform eine Unterscheidung zwischen rechtlich monopolisierter Gewalt und willkürlicher Gewalt, wie sie die Stiftung oder – im Fall Mexikos – die Wiedereinsetzung einer politischen Ordnung ermöglicht, nicht getroffen werden kann.21 Diese Ambivalenz des Geschehens findet auch darin ihren Ausdruck, dass Manet seine Erschießung Maximilians in einem Brief an den befreundeten Kunstkritiker Théodore Duret als »Massaker« bezeichnet und diesen Titel schließlich ausstreicht.22 Eine analoge Bewegung der Selbstzensur bestimmt auch die

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Genealogie der fünf Fassungen des Gemäldes: Die Erschießung Maximilians verwandelt sich von einer Guerillaoperation, die unmittelbar vor den Augen des Rezipienten stattfindet, zum Vollzug eines militärgerichtlichen Urteils, von dem die Betrachter im und vor dem Bild räumlich getrennt werden. Doch Manets Kalkül schießt über das Ziel hinaus, denn gerade die Kontrolliertheit des Vorgangs bringt eine Gewalt – im doppelten Sinne von Gewalttätigkeit und Macht – zum Bewusstsein, auf der die neue mexikanische Republik beruht, deren Subjekt aber niemals das Volk selbst werden kann. Im Ausnahmezustand des Schusses handelt eine Maschine, die das Volk aus dem politischen Handlungsraum ausgrenzt. Die Erschießung Maximilians lässt sich also nicht nur als Sympathiebekundung des Republikaners Manet für die »Unabhängigkeitserklärung« der Republik Mexiko verstehen und nicht nur als unmissverständliche Kritik an Napoleon III. Unmittelbar nach den Geschehnissen in Mexiko stand ohnehin jede beliebige Darstellung der Hinrichtung des Habsburgers im Verdacht der Regimekritik; sie verhilft darüber hinaus der Frage zur Sichtbarkeit, wie im Zuge des gewaltsamen Wechsels eines Herrschaftssystems das Volk zum Souverän ermächtigt werden kann, obwohl es jene Gewalt, die die Republik begründet, nur mittelbar ausgeübt hat. Es gehört zur besonderen List von Manets Gemälde, dass es die Unmöglichkeit der Teilhabe des Volks am revolutionären Geschehen und die Unverfügbarkeit des historischen Ereignisses, die der Betrachter erlebt, direkt auf einander bezieht. Denn die rezeptionsästhetische »Betäubung« des Betrachters nimmt sich wie ein Sekundäreffekt des passiven Gaffens der bildimmanenten Augenzeugen aus: Für das Publikum auf der Mauer entzieht sich die Exekution der zeitlichen Ordnung des Wahrnehmbaren und damit der Möglichkeit zur emotionalen Anteilnahme, weil der Moment des Schusses aus dem zeitlichen Aufnahmevermögen der Sinnesorgane herausfällt. Die Rezipienten von Manets Gemälde erfahren dieselbe Wirkung mit dem Unterschied, dass die Schwierigkeit des Erfassens darauf zurückzuführen ist, dass das Ereignis schon medial vermittelt, aber noch nicht »gemacht« worden ist, weil eine Aufhebung der Kontingenz des Geschehens in der narrativen Sinnstiftung noch nicht stattgefunden hat. Manets Versuch einer Neubegründung des Historienbildes aus dem Geist des Republikanismus mündet also in einer – typisch modernen – Erfahrung der Unverfügbarkeit der Geschichte, die sich hier aus zwei sehr unterschiedlichen Quellen speist: zum einen aus der Unmöglichkeit des Volkes zum Subjekt der Geschichte zu werden, zum anderen aus der Unmöglichkeit des Betrachters, am historischen Geschehen durch die vielfältigen Spuren der medialen Vermittlung und Rekonstruktion teilzuhaben. In beiden Fällen gibt die Freistellung des Moments einem leeren, einem objektlosen Sehen Raum, das nichts beobachtet, weil es das, was passiert, nicht fassen kann. Dieser vom Gemälde dargestellte und erzeugte Schautrieb bewirkt ein Entwerten der Spannung zwischen Nähe und Ferne, zwischen Zeugenschaft und massenmedialer Aufbereitung, aber er bringt diese Spannungen nicht zum verschwinden. Um es forciert auszudrücken: Edouard Manets Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko ist kein Historienbild mehr, aber auch noch kein Fernseher.

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AUFRUHR DER MALEREI DAS EREIGNIS ALS SYNÄSTHETISCHER SCHOCK IN CARLO CARRÀS »BEGRÄBNIS DES ANARCHISTEN GALLI« Kerstin Thomas

Carlo Carràs Gemälde Das Begräbnis des Anarchisten Galli von 1910–1911 zeigt alles, was ein Historienbild ausdrücken kann, bei gleichzeitig völliger Unklarheit der Schilderung (Abb. 115). Es ist eine Kampfszene zu sehen, die jedoch in kaleidoskopartige Bildsplitter in Spektralfarben aufgerissen wird, was die Rekonstruktion der Szene erschwert. Aus der schwer differenzierbaren dunklen Masse des Mittelgrundes, die von kreuz und quer gesetzten Parallelschraffuren und Rotulisegmenten durchzogen ist, können erst nach und nach verschiedene plastische Körper unterschieden werden. Die farbig leuchtenden Felder des Himmels stehen in starkem Kontrast zur schwarz und glutrot pulsierenden Mittelpartie, was den Charakter einer bedrohlichen Zusammenballung unterstützt. Stöcke und Banner stechen schräg in den hellen Himmel vor. Alles ist auf den Ausdruck von Dynamik und Brutalität zugespitzt, die Szene versinkt im Farbengetöse. Einzig dem Bildtitel kann das Ereignis unmittelbar entnommen werden. Demnach handelt es sich um eine Szene, die im Zusammenhang mit dem Mailänder Generalstreik des Jahres 1906 steht, als es anlässlich der Begräbnisfeier für den Anarchisten Galli zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Polizei kam.1 Wurde bereits der zu Grabe getragene Angelo Galli tragisches Opfer des Zusammenstoßes der anarchistischen Aktivisten mit den Ordnungskräften, so setzt sich diese Auseinandersetzung im dargestellten Kampf fort. Hintergrund des Ereignisses ist die Serie von Proteststreiks, die sich in ganz Italien als Reaktion auf die brutale Niederschlagung des protestierenden Proletariats in Turin am 6. März 1906 erhoben hatten. Auch in Mailand beschloss die Arbeiterversammlung, angetrieben von anarchistischen Aktivisten, am 9. März den Generalstreik. Angelo Galli hatte sich am folgenden Tag mit einigen Begleitern in die Fabrik Macchi e

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115 Carlo Carrà: Das Begräbnis des Anarchisten Galli, 1910–1911, Öl auf Leinwand, 198,7 × 259,1 cm, New York, Museum of Modern Art

Passoni begeben, um zu überprüfen, ob es dort Streikbrecher gäbe. Ein Wärter führte ihm bei dem Versuch, das Firmengelände zu betreten, einen tödlichen Messerstich zu.2 Wenn auch Angelo Galli zuvor nicht als bedeutender anarchistischer Kämpfer hervorgetreten war, führten die Umstände seines Todes schnell dazu, aus ihm einen Märtyrer für die Sache der Arbeiterbewegung zu machen, die wesentlich von den Anarchisten angetrieben wurde. Förderlich für diese tragische Berühmtheit war sicherlich die Tatsache, dass sein älterer Bruder Alessandro Galli seit den neunziger Jahren umtriebiger Anarchist in der Mailänder Szene war, und seit der Gründung der Textilgewerkschaft Federazione degli operai tessili 1901 für Jahrzehnte als ihr Sekretär aktiv tätig war. So wurde das Begräbnis Angelo Gallis von den Mailänder Anarchosyndikalisten demonstrativ für die eigene Agitation genutzt. Am 13. März 1906 wurde der Sarg des getöteten Aktivisten, angeführt durch fünfzehn Flaggenträger gleichgesinnter Widerstandsverbände, auf den Schultern nach Musocco getragen, wo er neben den Opfern des Mailänder Generalstreiks von 1898 bestattet werden sollte. In dieser Form eines Ehrenbegräbnisses kann eine symbolische Aneignung der Macht durch die anarchistischen Verbände gesehen werden sowie die demonstrative Zurschaustellung ihres Willens, den Arbeitskampf bis aufs Äußerste weiterzuführen.

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DIE DYNAMISCHE PRÄSENZ DES EREIGNISSES Dieser Logik der symbolischen Aufladung folgt auch Carlo Carrà mit seinem Gemälde. Indem er die Auseinandersetzungen während der Begräbnisfeier als Bildsujet wählt, hebt er ihre Bedeutung über einen momentanen Ereignischarakter heraus und verleiht ihr den Charakter eines Exemplums. Statt einer ordinären Straßenschlacht geht es hier um ein beispielhaftes Ereignis. Allein durch den Bildaufbau wird aus dem eher durchschnittlichen Gewaltopfer – im Gegensatz zu seinem älteren Bruder hat er es nicht einmal zu einem eigenen Eintrag in das Dizionario biografico degli anarchici italiani gebracht – ein veritabler Märtyrer gemacht. Entsprechend wählt Carrà eine zunächst traditionelle Bildkomposition, bei der die aufeinanderprallenden Gegner sich vor einem hellen Himmel abheben und ein Wald emporragender Lanzen das Kampfgeschehen orchestriert. Die symbolische Mitte des Geschehens, der Sarg des »grande signore dell’ideale«, dessen Tod erst die erbitterte Dimension des Kampfes anzeigt, markiert auch die kompositorische Mitte des Bildes und wird durch die leuchtend rote Farbe deutlich hervorgehoben.3 Auch die in der Vorskizze festgehaltenen architektonischen Details, die das Geschehen an seinen historischen Ort binden, tilgt Carrà im Gemälde zugunsten einer Zuspitzung auf die Bedeutung des Ereignisses (Abb. 116). All dies sind traditionelle Mittel der Historienmalerei. Dennoch geht die Darstellung nicht in einer solchen Perspektive auf. Offenkundig ist es dem Künstler vielmehr wichtig, dass er nicht als unbeteiligter Historiograph auftritt, sondern selbst Augenzeuge des Geschehens war. In seinem 1943 verfassten Lebensbericht schildert Carrà die Szene: »Die Beerdigungsfeier sollte auf Anordnung der Polizei auf dem Friedhofsvorplatz stattfinden und damit diese Regelung respektiert würde, riegelten Reitertruppen die Straßen ab, die zur Stadt führten. Aber die Anarchisten wollten sich dem widersetzen: Sie hatten in der oberen Viale Sempione einen Trauerzug gebildet, als sie plötzlich die Soldaten angriffen, die ihrerseits mit einer unerhörten Gewalt den Angriff erwiderten. Ich fand mich, ohne es zu wollen, in der Mitte des Chaos: Ich sah den mit roten Nelken bedeckten Sarg, der gefährlich auf den Schultern der Träger schlingerte; ich sah die sich aufbäumenden Pferde, die aufeinanderprallenden Stöcke und Lanzen, und es schien mir, als ob jeden Moment die Leiche zu Boden stürzen und von den Pferden zerstampft würde. Noch unter dem lebendigen Eindruck stehend fertigte ich, kaum war ich zuhause, eine Zeichnung an.«4 Betont Carrà, dass die Zeichnung unter dem »lebendigen Eindruck« des Geschehens entstanden sei, so ist doch insbesondere dem wenige Jahre später entstandenen Gemälde der Versuch abzulesen, diese Unmittelbarkeit des Erlebens bildlich wiederzugeben. Während die Zeichnung die Gruppe der Kämpfenden auf eher konventionelle Weise festhält und sie durch die genaue Angabe von Häuserzeilen und Telegraphenmasten topographisch verankert, versucht die gemalte Fassung, das Kampfgeschehen von solch narrativen Elementen zu befreien und seine unmittelbare Präsenz durch rein malerische Mittel zu vergegenwärtigen. Der biographische Verweis auf die rasch entstandene Zeichnung wirkt

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116 Carlo Carrà: Das Begräbnis des Anarchisten Galli (Entwurf), 1910, Pastell auf Pappe, 57 × 78 cm, Privatsammlung

demgegenüber wie eine nachträgliche Untermalung des Effekts, den der Künstler 1912 für das Gemälde angestrebt hat. Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks ist daher weniger als spontane Entäußerung des Malers zu verstehen, denn vielmehr als wohlkalkulierte Gestaltungsform, die im Zusammenhang mit der zwei Jahre zuvor erfolgten Gründung der Künstlergruppe der Futuristen programmatische Bedeutung besitzt.5 Carrà setzt in seinem Gemälde neue Bildmittel ein, die er nach der mit Umberto Boccioni unternommen Paris-Reise im Oktober 1911 in Auseinandersetzung mit dem Kubismus entwickelt hat.6 Hierzu gehören die zersplitterten und wieder zusammengesetzten Formen sowie die rhythmische Komposition der Bildelemente. Setzten die Kubisten jene Mittel ein, um ruhende Objekte in ihrer dreidimensionalen Beschaffenheit darzustellen, so sprengt Carrà mit den Bildkeilen seine Komposition und zwingt ihr eine zusätzliche Dynamik auf, mit deren Hilfe die Dramatik des Geschehens erhöht wird. Auch die von den Neo-Impressionisten übernommene divisionistische Farbtechnik, bei der kleine Punkte oder Striche in puren Farbtönen getrennt auf die Leinwand gesetzt werden und sich nicht stofflich sondern bloß optisch vermengen, führt bei Carrà nicht zu den ruhigen und festgefügten Szenen eines Georges Seurat oder Paul Signac. Statt wie diese Maler komplementäre Farben nebeneinanderzusetzen, um einen harmonischen Ausgleich zu erzielen, kombiniert Carrà kleine Farbpartikel in allen Spektralfarben, die vor allem der oberen Bildpartie das

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Funkeln eines Brillanten verleihen, der das Licht in zahlreiche Facetten zergliedert. Auf diese Weise steigert er den Eindruck unruhig zuckender Bewegung. Um der Statuarik der Bildfiguren entgegenzuwirken, simuliert Carrà ihre Bewegung im Raum, indem er die Silhouetten der Körper und Dinge mehrfach nebeneinander gleichsam als Stakkato reproduziert; ein futuristisches Verfahren, das sich an die Bewegungsfotografie von Eadweard Muybridge anlehnt und vor allem von Giacomo Balla eingesetzt wurde. Die Malerei sollte damit in Stand gesetzt werden, die Dinge statt in ihrer künstlich herbeigeführten Stillstellung so zeigen zu können, wie sie der menschlichen Wahrnehmung gegeben sind: als Konstellationen innerhalb eines Netzes von raum-zeitlichen Bezügen.7 Die Futuristen verstehen Bewegung, im Anschluss an Henri Bergsons Theorien des dynamischen Lebensprinzips, als Wesensmerkmal der Dinge selbst, nicht als physische Manipulation von außen. Einen Gegenstand in seiner wahrgenommenen Wirklichkeit abzubilden, bedeutete demnach, ihn in seiner ihm eigenen Dynamik zu zeigen. Auch wenn somit prinzipiell jedes Objekt als bewegter Gegenstand darzustellen ist, finden sich in der futuristischen Kunst auffällig viele Sujets, die Dynamik zum Ausdruck bringen. Und auch Carlo Carrà nutzt die Mittel seiner Kunst in diesem Sinne. Am Ausgeprägtesten wirkt der malerische Effekt bei den Fahnenstangen und dem Spazierstock des Bürgers am linken vorderen Bildrand, da er den Eindruck einer gewaltsamen und heftigen Schlagbewegung vermittelt. Carràs eigene Erfindung sind die Rotatoren, die sich nicht direkt als Bewegungsreflex von Bildgegenständen verstehen lassen, aber in ihrer Form als indexikalisches Zeichen für Bewegung eingesetzt werden.8 Über dieses Programm der Dynamisierung von Bildgegenständen hinaus gewinnen die von Carrà eingesetzten Bildmittel im Kontext des gewählten Sujets weiterreichende Bedeutung. Der Künstler versetzt den Bildraum in Bewegung und schafft es so, das Ereignis aus seiner rein geschichtlichen Faktizität herauszuheben und seine Erlebnisqualität zu betonen. Wie in der retrospektiven Schilderung des Ereignisses werden auch im Bild Gewalt und Heftigkeit der Kämpfe unmittelbar anschaulich. Neben der Darstellung der Unmittelbarkeit des Erlebens ging es Carrà auch um die Steigerung der Bildwirkung. Das Bild sollte den Betrachter aufpeitschen, die Gewalt der Aktion unmittelbar auf ihn übertragen. Anlässlich der konstituierenden Ausstellung der Futuristen im Februar 1912, die in der Galerie Bernheim-Jeune in Paris stattfand und bei der das Gemälde erstmals gezeigt wurde, richteten sich die Künstler in ihrem Katalogvorwort wie folgt an das Publikum: »Der Wunsch, die ästhetische Emotion zu intensivieren, die das gemalte Bild in gewisser Weise mit dem Gefühl des Betrachters verschmelzt, hat uns zu der Erklärung geführt, dass dieser ›von nun an ins Zentrum des Bildes gerückt werden soll‹. Er wird nicht abseits stehen, sondern wird an der Handlung teilnehmen. Wenn wir die verschiedenen Stadien eines Aufruhrs malen, werden die wütend die Fäuste ballende Masse und der tobende Ansturm der Kavallerie auf dem Gemälde durch Linienstrahlen vermittelt, die den widerstreitenden Kräften entsprechen, indem wir dem Gesetz der allgemeinen Gewalt des Gemäldes folgen. Diese Kraftlinien sollen den Betrachter einhüllen und mitreißen, so dass

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er in gewisser Weise gezwungen wird, selbst mit den Bildfiguren zu kämpfen.« 9 Die Passage bezieht sich eindeutig auf Carràs Gemälde und entsprechend zitiert der Maler später auch in seiner Autobiographie den Satz über die zentrale Stellung des Zuschauers mit dem Hinweis, er habe ihn in den Text eingebracht und auf sein Bild bezogen.10 Anstelle einer historiographischen Perspektive vermittelt der Künstler die gefühlte Bedeutung eines Geschehens: Aus dem Chaos der Ereignisse heraus wird der Betrachter ebenso agitiert wie die Teilnehmer der Demonstration. Die historische und rezeptive Distanz mit malerischen Mitteln überbrückend, will Carrà auf diese Weise eine unmittelbar erlebte Präsenz des Ereignisses schaffen.

SYNÄSTHESIE, SIMULTANEITÄT UND STIMMUNG Um den Betrachter ins Geschehen einzubinden, versucht Carrà, an seine Sinne zu appellieren. Das Gemälde soll nicht nur gesehen, sondern mit allen Sinnen wahrgenommen werden. Hier spricht der Künstler in seinem Manifest La pittura di suoni, rumori, odori von 1913 von einer polyphonischen, polyrhythmischen und abstrakten Malerei.11 Vor Statik und Harmonie stünde das Schrille und Schreiende, das Disharmonische und damit die Sinne Strapazierende im Vordergrund. Mit dieser neuen Kunst versuchten die Futuristen dem modernen Leben zu begegnen, das geprägt ist von den Erfahrungen der Großstadt, ihrem Lärm, ihrer Geschwindigkeit und ihren grellen Lichtern, der Welt der Reklame, des Verkehrs und der Technik.12 Der Betrachter soll aufgerüttelt werden, in einen Schock versetzt werden, um die Erfahrung des modernen Lebens nachzuvollziehen. Hierfür sollten, so führt Carrà aus, spitze und gegenläufige Winkel, vibrierende Formen und schreiende Farben eingesetzt werden. Es sollte Unausgeglichenheit herrschen statt Harmonie, dynamische Formen wie Arabeske, Spirale und Zickzack den Vorrang vor horizontalen und statischen Kompositionen erhalten. Mittels der Ausdruckskraft der Linien, Formen und Farben solle die Malerei die unmittelbare Wirkung von Tönen, Lärm und Gerüchen auf den Betrachter entfalten. Grenzt sich Carrà auch explizit von den Impressionisten und Neo-Impressionisten ab, um im programmatischen Sinne die Innovation seiner und der gesamten futuristischen Malerei zu betonen, so geht dieses Konzept doch eindeutig auf Seurats und Signacs Experimente zur Steigerung des Bildausdrucks durch malerische Mittel zurück.13 Denn Carràs Hinweis auf die unmittelbare Ausdruckskraft der Linien zeigt, dass er wie seine Vorläufer von der suggestiven physischen und psychischen Wirksamkeit von Linien, Volumina und Farben überzeugt war. Bereits im Vorwort zum Katalog der FuturistenSchau 1912 in Paris erklärten die Künstler, dass jedes Objekt in seinen Linien »Ruhe oder Wahnsinn, Traurigkeit oder Fröhlichkeit« zum Ausdruck brächte; eine Charakterisierung, die bereits Georges Seurat in seinen Ausführungen zur Malerei an Maurice Beaubourg formuliert hatte.14 Durch die Schriften des Universalgelehrten Charles Henry, der eng

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befreundet war mit den Neo-Impressionisten, ist die Theorie der suggestiven Expressivität von Linien im Bild und ihrer unmittelbaren emotionalen Eindrücklichkeit auf den Betrachter auch für die Künstler der frühen Avantgarde des 20. Jahrhunderts greifbar gewesen.15 Vermittelt wurden diese Vorstellungen gewiss durch den Kunstkritiker Félix Fénéon, einem Verteidiger des Neo-Impressionismus und Freund Charles Henrys, auf den auch die Einladung der Futuristen in die Galerie Bernheim-Jeune zurückgeht, deren künstlerischer Leiter Fénéon war. Der in Carràs Bild durch die Steigerung der expressiven Mittel der Malerei erzielte unmittelbare Effekt auf den Betrachter ist durch zeitgenössische Kritiken überliefert. So berichtet d’Aoust von albtraumhaften Visionen, die dem Betrachter den Boden unter den Füßen zu entziehen scheinen und an den Blick eines Betrunkenen durch sein Glas erinnern.16 Und André Salmon fühlt sich in die Mitte des Geschehens katapultiert: »Man wurde zermalmt vor den Erinnerungen an eine Nacht von Russolo; man trampelte vor dem Begräbnis des Anarchisten Galli von Carrà, man grölte vor dem Pan-Pan-Tanz im Monico von Severini.«17 Die Kritiker bestätigen auf diese Weise den Übergang vom Historienbild zum Ereignisbild, bei dem der Betrachter unmittelbar ins Geschehen einbezogen wird. Doch geht es Carrà nicht allein um die Vermittlung eines bildnerischen Gedankens. Vielmehr soll die suggestive Darstellung auch den Prozess der ursprünglichen Wahrnehmung des Ereignisses selbst widerspiegeln. Von zentraler Bedeutung für die Kakophonie von Sinneseindrücken, wie sie Carrà beschreibt, ist hier der Begriff der Simultaneität, der in wesentlichen Punkten das postimpressionistische Konzept der »synthèse« aufgreift. Wie bei diesem geht es den Futuristen darum, anstelle die Dinge von einer außenstehenden Perspektive zu beschreiben, ihre Essenz zu erfassen, und das heißt, sie in ihrer spezifischen Qualität darzustellen, so wie sie dem Bewusstsein ausgeliefert sind. Eine grundlegende Variante einer solchen Synthese bietet Gino Severini mit dem Ineinanderschmelzen sukzessiver Bewegungsmomente. Indem er auf diese Weise das künstliche Arretieren des Objekts in einem konstruierten, idealen Moment aufhebt zugunsten seiner dem Fluss des Bewusstseins entsprechenden Dauer, kennzeichnet Severini die Objekte in ihrem Wahrgenommen-Sein. Simultaneität kann aber auch aus einer gedanklichen Synthese auseinanderliegender Objekte bestehen, die konsequenterweise zusammen ins Bild gesetzt werden; eine Technik, die Luigi Russolo anwendet. Carrà betont in seinem Begräbnis des Anarchisten Galli demgegenüber die Simultaneität von Sinneseindrücken, welche die Wahrnehmung orchestrieren, und weist damit die Konzentration der Malerei auf den Augensinn zurück. In seinem Manifest von 1913 fordert er eine pittura totale, in der alle Sinne vereint sind, und schließt, dass man malen müsse »wie die Besoffenen singen und kotzen: Töne, Lärm und Gerüche!«18 Simultaneität ist demnach mehr als die maltechnische Forderung nach einer angemessenen Umsetzung optischer Phänomene. Ihr liegt die Überzeugung zugrunde, dass in der Wahrnehmung ein Zusammenspiel aller Sinne stattfindet; eine Überzeugung, die jenen synästhetischen Theorien folgt, die zum Jahrhundertende eine wahre Explosion erlebten.19 Bereits die Post-

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impressionisten hatten versucht, mit ihrer Malerei im Anschluss an Erkenntnisse über das Farbensehen und auditive Phänomene von Wissenschaftlern wie dem Chemiker Chevreul, dem Physiker Maxwell oder dem Physiologen Helmholtz ein System zu entwickeln, das die Korrespondenz verschiedener Sinneseindrücke widerzuspiegeln vermochte. Nun profitierten die Futuristen vom Fortgang moderner Wissenschaft, indem sie auf die wachsende, durch Zeitschriften leicht zugängliche Forschungsliteratur zu Fragen der Wahrnehmung und des Bewusstseins zurückgriffen.20 In ihrer Weiterentwicklung der postimpressionistischen Wahrnehmungsmodelle bezogen sich die Futuristen mit dem Begriff der Simultaneität auf den in Paris um 1910 virulenten Diskurs um Zeit und Dauer des Bewusstseins. Zentral für ihr Konzept waren die Schriften Henri Bergsons, der mit seinem Essai sur les données immédiates de la conscience von 1889, mit Matière et mémoire von 1896 sowie mit der 1903 erschienenen Introduction à la métaphysique sein Konzept des Bewusstseins als unteilbarer Strom simultaner Eindrücke und Gedächtnisleistungen darlegte.21 Demnach ist die Wahrnehmung eine Gedächtnisleistung, bei der anstelle einer punktuellen Abfolge von Reizen vielmehr ein komplexes Ineinanderwirken der verschiedenen Sinnesreize mit der synthetisierten Erinnerung an vorherige Eindrücke und Bewusstseinsinhalte stattfindet. Die spezifische zeitliche Dimension des Bewusstseins ist nach Bergson nicht durch eine sukzessive Folge einzelner Momente, sondern durch Dauer bestimmt. Ausschlaggebend bei einem solchen Verständnis von Wahrnehmung und Bewusstsein ist nicht allein die Simultaneität verschiedener Sinnes- und Bewusstseinsdaten, sondern vor allem die Überzeugung, dass das Objekt der Wahrnehmung nicht vom Subjekt der Wahrnehmung zu trennen ist; das heißt, Vorstellungen, Bewertungen und Emotionen des Wahrnehmenden werden untrennbare Bestandteile des Erlebnisses selbst. Für die Frage nach dem Ereignisbild stellt dies eine wesentliche Entwicklung dar, gibt der Künstler doch nicht mehr vor, ein Ereignis als außenstehender Chronist zu schildern. Er weist vielmehr aus, dass die Teilhabe an einem Geschehen stets seine subjektive Sicht impliziert. Die äußeren Geschehnisse werden erst dadurch real, dass sie auf ein wahrnehmendes Subjekt treffen. Dieses Zusammentreten von äußeren Geschehnissen und ihrer stets in einer bestimmten Art und Weise gefärbten Wahrnehmung brachten die Futuristen in dem Begriff der Stimmung, oder des Bewusstseinszustands, des état d’âme, zum Ausdruck. In den Manifesten rückte diese Vorstellung zum Leitbegriff auf.22 So etwa mit der programmatischen Erklärung von 1912: »Die Simultaneität der Stimmungen im Kunstwerk: Das ist das berauschende Ziel unserer Kunst.«23 Die Futuristen wollten damit verdeutlichen, dass sie von einer »illustrativen« Wirklichkeitsschilderung ebenso weit entfernt sind wie von der symbolistischen Innenschau. Mit ihrer »pittura-stato animo dell’universale«, wie es Carrà in seinem Manifest von 1913 bezeichnete, treten neben die Empfindungen auch Erinnerungen und Emotionen. Bereits Boccioni hatte in seiner in der Futuristen-Ausstellung 1912 gezeigten Serie der Stati d’animo, ein Ereignis in drei unterschiedliche psychologische Perspektiven aufgeteilt und damit die konstitutive Rolle der Stimmungen für die Wahrnehmung von Begebenheiten unterstrichen: Gli addii (Der Abschied), Quelli che

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vanno (Diejenigen, die gehen) und Quelli que restano (Diejenigen, die bleiben). Carràs Einsatz von suggestiven Bildmitteln ist nicht allein als Verfahren zu verstehen, dem Betrachter ein Erlebnis plastisch vor Augen zu führen. Es ist vielmehr die logische Ausformulierung des Geschehens in seiner emotionalen Bedeutung, eine Art »ambiance émotive«, wie es die Futuristen in ihrem Text von 1912 ausdrücken.24 Eng verbunden mit dem Konzept der Simultaneität betont der état d’âme damit die Unmöglichkeit einer neutralen Beobachterposition, die Unmöglichkeit, innerlich unbeteiligt zu sein gegenüber einem Ereignis, an dem man selbst teilhat.

POLITISCHE UND ÄSTHETISCHE ANARCHIE Das futuristische Historienbild, wie es in Carlo Carràs Begräbnis des Anarchisten Galli gegeben ist, zeigt, dass die zwangsläufige innere Teilhabe am Ereignis nicht allein ein Phänomen der Sinne ist, sondern dass sie notwendigerweise eine Anteilnahme ist, mithin in der Erfahrung eines Ereignisses dessen Bewertung bereits aufgehoben ist. Aus diesem Grunde kann letztlich nicht unterschieden werden, ob die suggestiven Bildmittel die Erlebnisdimension des Ereignisses wiedergeben sollen, oder ob sie den Betrachter aufrühren sollen. Aus der Beschreibung wurde deutlich, dass Carrà den Anarchisten, in Gestalt des zu Grabe getragenen Galli, eine gewisse Heldenrolle zugesteht. Hierauf weisen auch die in der undeutlich verschlungenen Masse schwer auszumachenden, in solidarischem Gleichschritt nach rechts gerichteten Proletarier mit Schiebermütze. Auch der massive Einsatz der Farben Schwarz und Rot vermittelt neben ihrer Eigenschaft als Steigerungsmittel des dramatischen Geschehens die Sympathie mit der politischen Gesinnung der Arbeiterbewegung, die durch das Rot – die Farbe der Marxisten – und das Schwarz – die Farbe der Anarchisten – ihr koloristisches Abzeichen erhält. Carràs Lebenserinnerungen zeugen von dieser politischen Ausrichtung bereits in seiner Jugend. So hatte er anlässlich seines Paris-Aufenthaltes 1900 Kontakt zur anarchistischen Szene, war in London befreundet mit dem Anarchisten Mario Tedeschi und debattierte in der Trattoria Lazzari in Mailand die Theorien von Stirner und Nietzsche, Marx, und Kropotkin. Für die anarchistische Zeitschrift Sciarpa Nera des Verlegers Giuseppe Monnanni, den er in Mailand kennengelernt hatte, steuerte Carrà zahlreiche Illustrationen bei.25 In seiner Autobiographie hebt Carrà vor allem zwei Personen hervor, deren Schriften ihn in seiner Mailänder Zeit beeinflusst hätten: Georges Sorel und Arturo Labriola.26 Das geschilderte Ereignis steht ganz in der Logik dieser Ausrichtung, galten doch Sorel und Labriola um 1907 als die Hauptvertreter eines gemäßigten Anarcho-Syndikalismus, das heißt, jener Ausprägung des Anarchismus, die in der gewerkschaftlich organisierten proletarischen Macht eine legitime Naturgewalt sah, im Gegensatz zur systemerhaltenden bürgerlichen Staatsgewalt oder der sozialistisch-revolutionären Parteiengewalt, welche als rein auf die Verteidigung ihres Gewaltzustandes gerichtet angesehen wurden.27

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Bei dem Ereignis, das Carrà für sein Gemälde ausgewählt hat, standen sich eben diese antagonistischen Parteien gegenüber: die anarchistisch ausgerichteten Gewerkschafter und die Staatsgewalt. Und auch Labriola war einer der treibenden Kräfte des Geschehens, wie Carrà selbst in seiner Schilderung der Ereignisse unterstreicht. So hätten die engagierten Kundgebungen Labriolas im Stadion von Mailand die unzufriedenen Arbeiter zum Generalstreik geführt, der seine dramatische Folge in der Tötung Angelo Gallis fand. Auch dem Prinzip der Agitation der Masse, wie es der Anarcho-Syndikalismus im Gegensatz zum Prinzip anarchistischer Einzelaktionen vertritt, folgte Carrà in der Komposition des Bildes, indem er eine unentwirrbare, gewaltvolle Massenszene anstelle einer Konzentration auf die Darstellung einzelner Handlungsträger bevorzugt. Diese Präferenz spiegelt die Forderung der Futuristen nach Destabilisierung vorhandener Zustände durch Chaos, die schließlich in ihrer Kriegsbegeisterung mündete. Krieg ist demnach als äußerste Form der gewaltsamen Zerstörung an sich gutzuheißen. Carrà zeigt die Kämpfe anlässlich der Beerdigungsfeiern des Anarchisten Galli nicht als Auseinandersetzung zwischen revolutionären Kräften und Staatsmacht, die dem Erreichen einer politischen Forderung dienen soll, er feiert vielmehr Schock und Destabilisierung als Beweggründe eines sich unablässig ereignenden Wandels. Trotz allem ideologischen Synkretismus ist der Einfluss des Anarchismus auch auf die ästhetische Haltung der Futuristen von Bedeutung. So bilden das Prinzip des radikalen Bruchs mit den Traditionen und die Ideologie der stetigen Erneuerung den Kern der ästhetischen Theorien von Kropotkin, Bakunin und Sorel. In den futuristischen Manifesten und soirées wurden eben jene Forderungen proklamiert.28 Der Kunst kommt in diesem Verständnis eine unmittelbar politische Rolle zu. Carràs Malerei von »Tönen, Lärm, Gerüchen«, sein Einsatz lauter Farben, unharmonischer, spitzer Formen, seine Bevorzugung des tosenden Durcheinanders können damit noch über den Versuch hinaus, ein geschichtliches Ereignis in seiner komplexen Wahrnehmung und Bedeutung zu vermitteln, als Versuch gewertet werden, durch Kunst das Erlebnis des Schocks zu produzieren, also unmittelbar jenes Prinzip von Verstörung und Bruch zu erzeugen, das ein ebenso ästhetisches wie politisches Programm ist. Demgemäß erklären auch die Futuristen in ihrem Vorwort für die Ausstellung in der Galerie Bernheim-Jeune: »Bei uns herrscht nicht bloß Vielfalt, sondern Chaos und das Aufeinanderprallen gegenläufiger Rhythmen, die wir zu einer neuen Harmonie führen.« 29 Carrà stellt nicht nur die politische Bedeutung des Ereignisses durch ikonographische oder symbolische Mittel aus, sondern führt mit seiner ästhetischen Strategie das in diesem Ereignis sich kristallisierende politische Prinzip des Bruchs durch radikale Aktion vor. Der Futurismus kann in diesem Sinne der Verschmelzung von politischer und ästhetischer Programmatik als erste echte Avantgardebewegung verstanden werden.30 Kunst und Leben fallen in dieser Perspektive notwendigerweise zusammen. Anstatt das Ereignis darzustellen, soll Malerei gerade in ihrer absoluten Autonomie die Totalität des Ereignisses selbst verkörpern. Vor diesem Hintergrund muss auch Carràs Interesse, in der

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Schilderung des geschichtlichen Vorgangs seine komplexe sinnliche Erfahrungsqualität ästhetisch umzusetzen, neu betrachtet werden. Nicht um Didaktik oder Propaganda geht es dem Künstler, sondern darum, mit »totaler Malerei« einen totalen Moment unter aktiver Beteiligung aller Sinne auszudrücken, die Symphonie eines intensiven, in sich abgeschlossenen Erlebnisses.31 Diesem Moment uneingeschränkter Präsenz kommt gleichermaßen universelle Bedeutung zu; »Malerei, état d’âme, plastische Form des Universellen«, wie Carrà es in seinem Manifest bezeichnet.32 Das Kunstwerk spiegelt auf diese Weise nicht allein den Menschen in seinem vielschichtigen Erleben wider, es will auch selbst das Universum verkörpern, will »Welt sein«. Trotz dieses überhistorischen Anspruchs bedient sich Carrà – wie auch die anderen Futuristen – immer wieder der geschichtlichen Kategorie des Modernen, um seine Position zu kennzeichnen. Dabei gehen moderne Kunst und moderne Empfindung Hand in Hand. Die Malerei des Seelenzustands, welche die simultane Empfindung innerer und äußerer Gegebenheiten widerspiegelt, soll zugleich eine »sensation moderne« kennzeichnen, ja, »Malerei und Empfindung sind zwei untrennbare Begriffe«, führen die Futuristen in ihrem Vorwort der Ausstellung von 1912 aus.33 Nur der moderne, durch großstädtische Erfahrungen geprägte Mensch, der durch die moderne, die futuristische Kunst herausgefordert und geformt werden soll, ist nach dieser Auffassung in der Lage, durch die Ästhetik des Schocks, mit der die sinnesverwirrenden Phänomene der Großstadt simuliert werden, bereit zu sein für das moderne, das futuristische Geschichtsbild. In dieser Verbindung wird die auf Bergson gründende Erkenntnis des Zusammenspiels der Sinnes- und Geistesvermögen in der Wahrnehmung als Distinktionsmerkmal für einen neuen Menschentypus eingesetzt. Carrà folgt in diesem Sinne mit seiner Forderung nach einer Malerei der Töne, des Lärms und der Gerüche einem Verständnis von Synästhesie, wie sie etwa durch den Arzt Victor Segalen vertreten wurde. Nach Segalen sind die Phänomene der Synästhesie nicht, wie Max Nordau behauptet hatte, Zeichen der »Entartung«, sondern im Gegenteil Zeichen evolutionären und kulturellen Fortschritts. Auch Segalen verband diese Feststellung mit einem künstlerischen Programm, dem des Symbolismus: Demnach gehören der neue Mensch und die neue Kunst zusammen.34 Das somit in jeder Hinsicht als modern verstandene, »totale« Kunstwerk soll nach Carrà Kunst, Geschichte und Leben verschränken. Mit dem Begräbnis des Anarchisten Galli hat sich die Frage nach der Darstellbarkeit von Geschichte über die Frage nach der Darstellbarkeit eines Ereignisses längst hinaus entwickelt. Carràs Anspruch war es vielmehr, an einem konkreten Ereignis geschichtliche Prozesse, ihre Wahrnehmung und ihre Steuerung zu exemplifizieren, verbunden mit der Utopie, einen neuen Menschentyp zu prägen: Aus dem Ereignisbild wird ein Geschichtsbild, wird ein Menschheitsbild. Dabei zielt jene »totale Malerei« darauf, den einzelnen Moment aus der Erfahrungskontinuität herauszusprengen. Die Wirklichkeit, wenn auch als Totalität des Erlebens gegeben, ist somit nur noch als Fragment erfahrbar, losgelöst von einem geschichtlichen Kontinuum. In Konsequenz zielen die Futuristen damit auf die Aufhebung einer teleologisch konzipierten Geschichte, ja, von Geschichte überhaupt.35 Anstelle des Konzepts

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eines logischen Fortschreitens der Geschichte propagieren die Futuristen einen diskontinuierlichen, katastrophischen Fortschritt. In das Verständnis, die Vorhut der gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklung zu bilden, neue Kunst und neue Menschen zu schaffen, mengt sich daher das Konzept eines überhistorischen Zustandes. In seinem Gründungsmanifest des Futurismus erklärt Filippo Tommaso Marinetti 1909: »Wir stehen auf dem Kap der Jahrhunderte! … Wozu soll es gut sein, rückwärts zu schauen […]. Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, weil wir schon die ewige, allumfassende Geschwindigkeit geschaffen haben.«36 Die Malerei von Stimmung und Wahrnehmung verkörpert hierbei jene Unmittelbarkeit des Ereignisses, die letzten Endes nicht auf die Vertiefung eines geschichtlichen Kristallisationspunktes, sondern auf eine Loslösung des »totalen Momentes« aus geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zielt. Statt durch den Augenblick gesteigerter subjektiver Präsenz auf intersubjektive Zusammenhänge zu schließen, feiert Carrà den sich selbst genügenden Moment des absoluten Individualismus. In dem auf das reine Ereignis reduzierten Bild wird jede tiefergehende Bedeutung des Ereignisses vernichtet, und in dieser Dispension von Geschichte liegt zugleich der Keim der Affirmation eines irrationalen Aktionismus. Die Gefahr einer solchen Praktik von Kunst, die in der Geste des stetigen Bruchs leerläuft, liegt auf der Hand und erfüllt sich auf fatale Weise mit dem Anschluss der Futuristen an Mussolinis faschistische Bewegung und Carràs Teilnahme am Marsch auf Rom.

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DIE EWIGE WIEDERKEHR DES GLEICHEN ZUR GESCHICHTSAUFFASSUNG DES GEMÄLDES »DER KRIEG« VON OTTO DIX Olaf Peters

Das berühmte Dresdner Triptychon Der Krieg von Otto Dix entstand in den letzten Jahren der Weimarer Republik zwischen 1929 und 1932.1 Das Gemälde markiert den Höhepunkt der Auseinandersetzung des Malers mit seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und ist doch zugleich das Dokument eines künstlerischen Scheiterns, da die im Werk gefundene Bildaussage der nachträglich kolportierten Intention des Künstlers unversöhnlich entgegensteht (Abb. 117). Diese grundlegende Ambivalenz und intentionale Spannung des Bildes, das formalästhetisch zwischen fotografischer Genauigkeit und altmeisterlicher Stilisierung sowie inhaltlich zwischen gemaltem Pazifismus und fatalistischer Schicksalsergebenheit oszilliert, soll im folgenden an der Bildstruktur des Werkes selbst verdeutlicht werden. Vorausgegangen war dem Triptychon eine kaum zu überschauende Anzahl von Kriegsdarstellungen, die Dix zunächst noch während der Kämpfe des Ersten Weltkriegs als Frontsoldat und nach der deutschen Niederlage in den frühen zwanziger Jahren als Skandalkünstler der noch jungen Weimarer Republik schuf.2 Vor allem zwei seiner Werke verdienen es angesichts ihrer Schlüsselstellung für die Verwirklichung des Triptychons, an dieser Stelle kurz hervorgehoben zu werden: Das Gemälde Schützengraben und die Graphikmappe Der Krieg. Es gibt kaum Kunstwerke, in denen die Erfahrung und Begleitumstände des Krieges genauer eingefangen wurden als die fünfzig Blätter umfassende Serie von Radierungen, die der Kunsthändler Karl Nierendorf 1924 unter dem Titel Der Krieg verlegte. Otto Dix selbst hatte über vier Jahre in den Schützengräben zugebracht und das furchtbare Geschehen aus nächster Nähe erlitten. Vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit den Meistern graphischer Kunst – vor allem Urs Graf, Jacques Callot und

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117 Otto Dix: Der Krieg, 1929–1932, Mischtechnik auf Sperrholz, 204 × 204 cm (Mitteltafel), 204 × 102 cm (Flügel), 60 × 204 cm (Predella), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister

Francisco de Goya – kondensierte er seine Erfahrungen in einer ästhetisch und motivisch reichen Folge, die zwischen unterschiedlichen Stillagen und verschiedenen inhaltlichen Ebenen wechselt. Dix hatte die Reihenfolge der Blätter der in einer Auflage von siebzig Exemplaren erschienenen Mappe selbst festgelegt. Die Folge wurde dabei in fünf, jeweils aus zehn Blättern bestehenden Mappen unterteilt, die keiner erkennbaren Logik gehorchen. Sie zeigen sämtliche Aspekte des Stellungskrieges und des soldatischen Frontalltags: Zerstörte, von Granaten zerwühlte Landschaften und zerschossene, aufgerissene Soldatenkörper begegnen einem dabei ebenso wie Sturmangriffe oder Bombardements, Bordellbesuche oder Saufgelage. Der alltägliche Irrsinn des enthumanisierenden Krieges, der den menschlichen Leichnam einem Tierkadaver oder einer geschändeten Landschaft anverwandelt, leuchtet in diesen Blättern grell und blendend wie in bengalischem Licht. So versinkt das Geschehen entweder in tiefer Schwärze oder strahlt vor den Augen des Betrachters in schmerzender Deutlichkeit. Zustande gebracht werden diese Effekte durch die virtuose Handhabung unterschiedlicher graphischer Verfahren und Techniken, die Dix in spannungsvollem Kontrast nebeneinander stellt. Tief in die Platte eindringende Ätzungen produzieren eine körnige Schwärze, während nervöse Ritzungen mit der Kaltnadel ein dürres Gespinst von Fäden auf die Platte bannen: Man kann von einem gezielten Pluralismus der graphischen

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Ausdruckmittel sprechen, der jedem einzelnen Blatt seine ästhetische Besonderheit verleiht. Was an der Folge insgesamt auffällt, ist neben dem akribisch geschilderten Horror auch der sardonische Humor des Künstlers: Otto Dix deutet den Krieg ohne moralischen Zeigefinger als grotesk-brutales Schauspiel. Kann man bei Goyas Kriegsdarstellungen eine Art aufgeklärten, agnostischen Fatalismus wahrnehmen, so bei Dix einen zynischen, lebensphilosophischen Verismus: Skelette grinsen einen höhnisch an, während unheimliche, agile Würmer sich durch leere Augenhöhlen und Nasenöffnungen bohren. Man kann dies als die ironische Interpretation von Nietzsches Diktum »Stirb und werde!« werten: Die Blätter der Folge stehen damit in scharfem Kontrast zu der in der Weimarer Zeit häufig vorkommenden Verherrlichung des »stählenden« Fronterlebnisses, wie es etwa von Ernst Jünger als Geburtsstunde eines neuen, kriegerischen Nationalismus propagiert wurde. Dix dementierte demgegenüber ein propagandistisches Bild der Realität des Krieges, da dieser zu keiner Zeit ohne Leid und Tod zu denken ist.

BILDFORMEL DER KRIEGSERFAHRUNG Noch wichtiger für die Genese des Triptychons Der Krieg ist das berühmt-berüchtigte Gemälde Schützengraben, mit dem Otto Dix 1920–1923 den Schrecken des Krieges unmittelbar zu bannen versuchte (Abb. 118). Die Widersprüchlichkeit seiner Rezeption spricht für die herausfordernde Radikalität, die das heute verlorene Werk auszeichnete. Der seinerzeit wortführende Kunstkritiker Julius Meier-Graefe befand, dass das Bild »infam gemalt sei«; er hielt es für »Schmutz«, der unverständlicherweise von einem Museum sanktioniert werde und fand es zuletzt schlichtweg »zum Kotzen«.3 Willi Wolfradt reagierte auf diese Invektiven bereits 1924 in seiner kleinen Monographie zu Dix: »Das fehlte auch noch, daß den Herren beim Anblick dieser grässlich zerfetzt und halb verwest in Pfählen und zerrissenen Drähten hängenden Kadaver, angesichts dieses stinkenden Morasts aus Gehirn, Eingeweide und Pfützen blutiger Jauche ›das Wasser im Munde zusammenliefe‹, statt daß ihnen nun endlich einmal das Entsetzen in die Kaldaunen schlägt. Wahrlich zum Kotzen und nicht zum Komfort ist das gemalt […]. Dix ist eine einzige Obstruktion gegen das subtile Bildchen, das so tut, als ob nichts gewesen sei.« 4 Der Kritiker Ernst Kállai erkannte demgegenüber die fundamentale Ambivalenz des Bildes im Schwanken des Betrachters zwischen Bewunderung und Entsetzen angesichts des in ihm verwirklichten detailbesessenen Verismus. Aber er stellte in seiner empathischen Beschreibung auch einen zentralen, bei der Diskussion der veristischen Kunst häufig vergessenen Aspekt heraus, der dann auch für das Triptychon Der Krieg von zentraler Bedeutung sein sollte; die Tatsache, dass auch die veristische Schilderung der Wirklichkeit im gemalten Bild auf Vorlagen angewiesen ist: »Stellt man das Schützengrabenbild neben eine Hochgebirgslandschaft von Caspar David Friedrich oder Blechen, so ist die geistige

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Otto Dix: Schützengraben, 1920–1923, Öl auf Leinwand, 249 × 226 cm, Verbleib unbekannt

Verwandtschaft der stofflich so verschiedenen Visionen geradezu frappierend. Was Dix aus dem Schützengrabenvorwurf herausgeholt hat, ist ein Gebirge, ein Leichen- und Verwesungsgebirge, bei aller krassen Stofflichkeit in genau so phantastisch-unnahbare Bezirke des Gefühls entrückt, genau so abgrundtief-durchschauert und großartig-düster gesehen, wie die ewigen Eisregionen bei den Romantikern.«5 Das Gemälde Schützengraben erscheint hiernach als monumental-erhabenes Landschaftsbild, die Erfahrung des Krieges wird gleichsam in eine Bildformel transponiert, die sie zugleich entrückt und verewigt, so dass der Kritiker schließlich selbst nicht mehr die Frage beantworten konnte, ob es sich bei dem Bild »um eine Ablehnung oder um einen Kult handelt«.6 Diese Zusammenhänge sind als Voraussetzungen für die Entstehung des KriegsTriptychons zu bedenken. Mit ihm wollte der Künstler die von Kállai aufgeworfene Frage wenn auch verspätet so doch eindeutig beantworten, denn er reagierte mit dem Bild nach

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eigener Aussage auf einen neu erstarkenden militanten Nationalismus in der letzten Phase der Weimarer Republik. Rückblickend teilte er mit: »1928 fühlte ich mich reif, das große Thema anzupacken, dessen Gestaltung mich mehrere Jahre beschäftigt hat. In dieser Zeit übrigens propagierten viele Bücher ungehindert in der Weimarer Republik erneut ein Heldentum und einen Heldenbegriff, die in den Schützengräben des ersten Weltkriegs längst ad absurdum geführt worden waren. Die Menschen begannen schon zu vergessen, was für entsetzliches Leid der Krieg ihnen gebracht hatte. Aus dieser Situation heraus entstand das Triptychon. Ich wollte ganz einfach – fast reportagemäßig – meine Erlebnisse der der Jahre 1914 bis 1918 zusammenfassend sachlich schildern und zeigen, daß echtes menschliches Heldentum in der Überwindung des sinnlosen Sterbens besteht. Ich wollte also nicht Angst und Panik auslösen, sondern Wissen um die Furchtbarkeit eines Krieges vermitteln und damit Kräfte der Abwehr wecken.«7 Mit dem Triptychon Der Krieg malte Dix also gegen diesen neuen Militarismus an und strebte deshalb nach einer bewussten Steigerung des berühmten Schützengraben, den man in den zwanziger Jahren vergeblich für das Wallraf-Richartz-Museum erwerben wollte. Noch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts gelangte das Gemälde nach Dresden, wurde aber mit Rücksicht auf die Reaktionen des Publikums nicht ausgestellt, und stand seit 1933 im Zentrum der nationalsozialistischen Polemik und schließlich Zerstörung der modernen Kunst, so dass es seit 1940 als verschollen gelten muss.

»STIRB UND WERDE!« In der Mitteltafel seines Triptychons greift Otto Dix den Schützengraben erneut auf. Das zentrale Bildgeviert wird gerahmt von Seitentafeln, die links den Zug der bewaffneten Krieger in die Schlacht und rechts das Entkommen einiger weniger Männer aus der Hölle des Krieges verbildlichen. Die Predella zeigt schlafende, wie tot erscheinende Soldaten, die sich ausruhen, um von neuem in die Schlacht ziehen zu müssen. Zwischen den Tafeln gibt es keinen übergreifenden räumlichen Zusammenhang im Sinne eines Raumkontinuums, das trotz der Trennung durch die Rahmenleisten bestehen würde. Dix evoziert vielmehr in unterschiedlichen Räumen einen zeitlichen Ablauf – ein vor, während und nach der Schlacht – dem auch unterschiedliche Tageszeiten zugeordnet werden. Er entwickelt ein zyklisches Zeitkontinuum: Im Morgengrauen erfolgt der Aufbruch der mit Karabinern bewaffneten und mit Tornistern versehenen Soldaten. Nebelschwaden kriechen noch über den Boden, und nur langsam erkennt man den endlosen Zug der Kolonne, die geisterhaft aus der Tiefe des Bildes nach vorn drängt, um in einer scharfen Wendung nach links den weiteren Anstieg zu meistern. Es sind zum Teil ältere, kampferprobte Soldaten die Dix zeigt, wie das Gesicht des schnauzbärtigen Mannes, der die linke Reihe anführt, zu erkennen gibt. Die beiden Soldaten unmittelbar vor dem Betrachter scheinen sich anzuschauen, in ihren Blicken liegt etwas Vorahnungsvolles und Ängstliches, so als denke man über

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Ausweichmöglichkeiten nach, die sich freilich nicht ergeben. Die Soldaten sind hier bereits Teil der Landschaft; die endlose Linie der Stahlhelme, die das frühe Sonnenlicht reflektieren, geht farblich in einen bläulich-grauen Nebel über, Tornister und Uniform zeigen die Farbe des lehmigen brauen Bodens. Die Mitteltafel ist wie schon beim Schützengraben ein Ort des Todes: Eine Wüste aus Schlamm, verkohltem Holz, zerrissenen Körpern und zerstörten Häusern. Vielleicht ist der Soldat mit der Gasmaske, der in der linken Bildhälfte aufrecht sitzend mit einem schmutzigen Überzieher inmitten der Zerstörung hockt, der einzige Überlebende, vielleicht aber ist auch er bereits tot, von einem Splitter durchbohrt plötzlich erstarrt. Über ihm ragt ein auf Stahlstreben aufgespießter, stark verwester Leichnam; ein Motiv, das Dix von seinem Bild Schützengraben übernommen und auf bezeichnende Weise uminterpretiert hat. Der Leichnam wird jetzt weniger wie ein unheiliges Opfer dargeboten, sondern verlängert formal die beiden Stahlträger und endet in einem spitz ausgestreckten Zeigefinger. Er weist auf eine auf dem Kopf stehende, völlig durchlöcherte Leiche, die selbst wieder die Spitze eines Leichenberges bildet. Von hier aus ergießt sich ein Strom aus Blut und Gedärm, der sich mit dem Schlamm vermengt und erst von einem schwarz verkohlten Holzpflock aufgehalten wird. Dieser wird von einem jungendlichen Toten verlängert, dessen Kopf die Basis für einen der beiden oben beschriebenen Stahlträger bildet. Hier schließt sich gewissermaßen der Kreis, welcher der Mitteltafel eingeschrieben ist und dessen Leserichtung von dem grotesk über der Landschaft schwebenden Skelett vorgegeben wird. Die rechte Seitentafel zeigt den Abend der Schlacht als Inferno. Der Himmel ist von der Glut der Feuer am Horizont blutrot gefärbt und entwickelt einen orkanartigen, trichterförmigen Sog. Vor einem weiteren verkohlten Baumstamm, der den Horizont diagonal versperrt, erscheint eine aschfahle Gruppe zweier Männer, die sich aus der Feuerhölle schleppt. Die Figur mit blütenweißem, aber blutbeflecktem Kopfverband ist zu schwach, um sich selbstständig auf den Beinen zu halten, oder bereits tot, und wird von einem Kameraden getragen. Der Retter lehnt ebenfalls diagonal im Bild, nun aber in entgegengesetzter Richtung, und blickt wirr auf den Betrachter. In dieser Figur ist unschwer Otto Dix wiederzuerkennen, der das gemalte Grauen über vier Jahre lang an der Front selbst erlebt hatte, bevor er sich zu einer Fliegerausbildung meldete, die ihm vielleicht das Leben rettete. Der in den Untergang marschierenden Masse auf der linken Seite steht rechts die schwankende Figurengruppe gegenüber, die über einem im Morast versinkenden Mann hinweggeht, weiß verglüht im Glutofen der Schlacht. Abgeschlossen wird die Komposition von einer Predella, die einen engen Holzverschlag zeigt, in dem Soldaten liegen. Sie sind wohl nicht tot, denn man sieht kein Blut, sondern sie scheinen sich vielmehr auszuruhen, erschöpft vom Krieg in einen tiefen Schlaf gesunken, so dass sie die Ratten an ihren Füßen gar nicht wahrnehmen. Ein rotes Leinentuch schwebt in kurzem Abstand über ihnen zum Schutz vor herabrieselnder Erde nach nahen Granateneinschlägen; es nimmt formal die kreisende Bewegungsrichtung der Mitteltafel wieder auf. Dix versieht die Szene an dieser Stelle mit seinem sarkastischen Humor, wenn er den im

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Vordergrund liegenden Soldaten mit einer Erektion darstellt, die sich unter den auf die Schwellung zulaufenden Falten der Uniform abzeichnet. Selbst im großen Sterben ist der Trieb anwesend, der das Menschengeschlecht fortzeugen will: ein bitteres „Stirb und werde!“

DAS ERLITTENE WIRD GEBANNT Nach dieser ersten beschreibenden Bestandsaufnahme des Bildes ist kurz dessen Bildgenese zu rekapitulieren, denn es haben sich einige Vorzeichnungen und ein Karton in Originalgröße erhalten, die den endgültig formulierten Bildgedanken verständlicher machen. Auf das Jahr 1929 werden zwei Zeichnungen datiert, die sich im Kupferstichkabinett in Dresden sowie in der Galerie Albstadt befinden (Abb. 119).8 Die Bleistiftzeichnung in Albstadt skizziert den Entwurf eines Triptychons ohne Predella mit diagonal von links nach rechts marschierenden Soldaten, die an einem zerborstenen Wagen vorbeikommen und brutal vom Bildrand abgeschnitten werden. Die Mitteltafel zeigt vor dem Hintergrund einer Ruinenlandschaft einen verschalten Schützengraben über einer aufgebahrten Leiche; die Entsprechungen zum ausgeführten Gemälde sind hier bereits relativ groß. Die rechte Tafel gibt versprengte Soldaten, die verwundete Kameraden geschultert haben und von links nach rechts durch das Bild irren und damit den Bewegungsimpuls der

119 Otto Dix: Erster Entwurf zum Triptychon »Der Krieg«, 1929, Bleistift auf Papier, 44,7 × 70 cm, Albstadt, Städtische Galerie

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120 Otto Dix: Karton zum Triptychon »Der Krieg«, 1929–1932, Bleistift, Kohle und Gouache auf Papier, 204 × 204 cm (Mitteltafel), 204 × 102 cm (Flügel), 60 × 204 cm (Predella), Hamburg, Hamburger Kunsthalle

linken Tafel wieder aufgreifen. Die aquarellierte Studie in Dresden weist eine Predella und als wesentlichsten Unterschied zur Albstädter Zeichnung den Ansatz einer Kreisfigur in ihrer Mitteltafel auf, die Dix anschließend weiter ausgearbeitet hat und zuletzt nicht nur der Haupttafel, sondern dem ganzen Triptychon eingeschrieben hat. Der mit dem Triptychon in Dresden formatgleiche Karton in der Hamburger Kunsthalle weicht nur noch in kleineren, aber wichtigen Details vom Gemälde ab (Abb. 120). Die Marschierenden, hier eher als einfache und fast gesetzte Landser mit Pfeife gekennzeichnet, kommen jetzt aus der Tiefe des Bildraums. Sie werden aber von einem hyänenartigen Hund begleitet, der auf der Gemäldefassung wieder durch ein Speichenrad ersetzt ist, wie es bereits auf der Vorzeichnung in Albstadt im mittleren Bildvordergrund notiert war. In der Mitteltafel fehlt noch der auf dem Kopf stehende Leichnam rechts; die Ruinenlandschaft und der bewaldete Höhenzug der rechten Seitentafel sind aber bereits einander angenähert und schaffen in der Endfassung einen Übergang, der den zeitlichen und örtlichen Bruch zwischen den beiden Tafeln etwas überspielt. Die Predella des Kartons gibt noch den Blick zum angrenzenden Erdreich des Verschlages frei, in dem Leichenteile verstreut sind, so dass dieser deutlichgemachte Kontrast von Toten und Lebenden berechtigt, in der Gemäldefassung von schlafenden Soldaten in eingegrabener Stellung zu sprechen. Die rechte Seitentafel des Kartons ist mit der Gemäldefassung identisch, bis auf das Gesicht des

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121 Otto Dix: Die sieben Todsünden, 1933, Mischtechnik auf Holz, 179 × 120,5 cm, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Retters, das noch nicht die Züge des Künstlers trägt, sondern ein maskenhaft-ovales und schnauzbärtiges Gesicht zeigt. Dieses Gesicht kann mit einem zeitgleichen NSDAP-Plakat zur Reichskanzlerwahl von 1932 in Verbindung gebracht werden, das Dix ein Jahr später in seinem Gemälde Die sieben Todsünden (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle) zitiert, wenn er das Konterfei Adolf Hitlers als ovale Gesichtsmaske des personifizierten Neides vorstellt (Abb. 121–122).9 Im Zusammenhang mit dem erneut aufkommenden aggressiven Nationalismus und der vermeintlichen »Retterfigur« des österreichischen Weltkriegsgefreiten und späteren »Führers« formuliert ein solcher Bezug, vor allem angesichts der zeitlichen Struktur des Bildes, eine direkte Warnung, wie sie der ursprünglichen Intention des Künstlers entsprochen haben dürfte. Wenn Dix sich auf dem rechten Seitenflügel seines Kriegsbildes schließlich selbst in die

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122 Unbekannter Graphiker: Plakat der NSDAP zur Reichskanzlerwahl, 1932, Offsetdruck (unter Verwendung einer Fotografie von Heinrich Hoffmann), Halle-Wittenberg, Martin-LutherUniversität, Institut für Kunstgeschichte, Archiv

gleichermaßen kunsthistorische wie mythologische Rollenfigur des Menelaos (griechisch »Volksführer«) versetzt, der den Leichnam des Patroklos trägt – die nur in Repliken erhaltene sogenannte antike »Pasquino-Gruppe« diente ihm dabei als Vorbild –, dann erfolgte diese Korrektur des Kartons sicher auch, um dem Betrachter Authentizität zu vermitteln: Der Maler ist dabei gewesen, er kann das Kriegsgeschehen aus eigener Anschauung beurteilen; darüber hinaus verringert der Antikenbezug den bloß tagespolitischen Aspekt seines Gemäldes, das schließlich den Krieg umfassend deuten sollte. Dix bringt damit eine Art Augenzeugenprinzip in Anschlag, mit dem er das Bild der primär politisch motivierten Tendenzkunst und damit dem politischen Tageskampf entzieht, der durch die Adaption des Hitler-Plakats aufgenommen worden wäre. Der Maler teilt durch sein Bild keine politische Meinung mit, sondern schildert zunächst vielmehr die Realität, wie er sie empfunden hat. Der Schützengraben und die Blätter der Graphikmappe Der Krieg wurden nicht zuletzt geschaffen, um den Gesichten des Krieges zu entkommen. Dix litt angesichts seiner Erlebnisse über Jahre unter Alpträumen und malte sich die Erleidnisse von der Seele, um sie zu bannen. Er evozierte die Schrecken, um sie hinter sich lassen zu können. Der »romantische« Verismus des Schützengrabens und die von Goya beeinflusste, häufig ins Groteske umschlagende Graphik spielen die körperlichen und seelischen

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Zustände und Folgen des Krieges durch; ein Aspekt, den Jeff Wall mit seinen Dead Troops Talk von 1992 (Privatsammlung) wieder aufnehmen und weiter führen sollte.10 Dabei überwiegt trotz der kunsthistorischen Anleihen ein deskriptiver und sachlich-veristischer Aspekt. Von ihm zehrt noch das Triptychon, doch es liefert eine ganz andere, bildmäßig deutende Interpretation des Geschehens, die in den Arbeiten der frühen zwanziger Jahre so nicht vorhanden war. Wurde der Betrachter zuvor ungefiltert mit dem Grauen konfrontiert, so entwirft Der Krieg – ganz im Gegenteil dazu – eine weltanschauliche Umdeutung der schrecklichen Ereignisse.

FRIEDRICH NIETZSCHE UND DAS EWIG ROLLENDE »RAD DES SEINS« Der Tod ist dem Triptychon, wie bereits gesagt, förmlich inkorporiert und wird nicht nur blutrünstig geschildert. Der verwesende Soldat bildet mit den Stahlträgern buchstäblich ein Sensenblatt des Todes, das über der gesamten Szenerie schwebt und sie symbolisch unter das morbide Zeichen stellt. Diese Figur besitzt eine zentrale Bedeutung für die Bildaussage und ist inhaltlich-formal polyfunktional: Wie im berühmten Beispiel des Armschattens in Form einer Sense auf dem Inschriftenstein von Nicolas Poussins Gemälde Et in arcadia ego von etwa 1634–1640 (Paris, Musée du Louvre), beherrscht der Tod symbolisch die Darstellung. Bei Dix handelt es sich freilich von vornherein um eine Landschaft der Vernichtung und des Todes und damit um ein Gegenbild zu Arkadien. Das menschliche Sensenblatt gibt hier eine Leserichtung vor und ist Teil einer Kreisfigur, die dem Bild strukturell eingeschrieben ist. Das Rad am äußeren linken Bildrand ist nicht nur eine wahrscheinliche Anspielung auf Lucas Cranachs berühmten Katharinen-Altar von 1506 in Dresden – der Stadt, in der Dix als Professor an der Akademie lehrte –, die das Bild zur Darstellung eines Martyriums macht. Vielmehr evoziert es die Kreisstruktur, die sich im Uhrzeigersinn entwickelt, und bietet damit eine Interpretationshilfe für das Gesehene. Mit dem ausgestreckten Finger seiner zentralen Figur könnte Dix auf die berühmte Kreuzigungstafel von Matthias Grünewalds Isenheimer Altar von 1513–1515 (Colmar, Musée d’Unterlinden) anspielen, auf der Johannes mit spitzem Zeigefinger auf den gestorbenen Christus zeigt, wobei der Finger bei Dix nun auf die starre, auf dem Kopf stehende durchlöcherte Figur gerichtet ist, die wie ein umgestürztes Kruzifix erscheint und dessen Körper auch vergleichbare Wunden aufweist wie der Gekreuzigte bei Grünewald. Das Bild wird hinsichtlich seiner inhaltlichen Aussage so zu einer fundamentalen Umwertung, ja, Verkehrung der christlichen Heilslehre; es invertiert sie und verschließt die Möglichkeit einer Erlösung. Es handelt sich bei Dix also nicht mehr um die Passion des christlichen Messias, sondern höchstens um die alltägliche, säkularisierte Passion des »Frontschweins«, des namenlosen, unbekannten Soldaten. Auch die Predella mit ihrer offenkundigen Anspielung auf Hans Holbeins Der tote Christus im Grabe von 1521–1522 (Basel, Kunstmuseum) unterstreicht diesen Aspekt. Der Maler zeigt zudem in seinem Triptychon statt

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einer Erlösung einen prästabilierten, ewigen Kreislauf, wenn er im Rückgriff auf Albrecht Altdorfers dramatische Alexanderschlacht von 1529 (München, Alte Pinakothek) das Kriegsgeschehen naturalisiert, indem er es mit dem Ablauf der Tageszeiten verschränkt.11 So richtig also die von der Forschung immer wieder betonte Adaption und Umwertung bis hin zur Verkehrung christlicher Bildformulierungen bei Otto Dix ist, der entscheidende Schlüssel für die Interpretation liegt woanders, nämlich in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Sie bildet die wesentliche Grundlage für die Kunst von Dix: »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. / Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. / In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.«12 Mit Nietzsche Bild der ewigen Wiederkehr ist die Zeitstruktur vorgegeben, mit der Dix das erlebte Geschehen am Ende der zwanziger Jahre angesichts der Gefahr einer realen Wiederkehr des Krieges und vor dem Hintergrund eines anwachsenden Nationalismus deutet. Dabei wird die teleologische, lineare Zeitvorstellung des Christentums – wie dessen Deutungshorizont überhaupt – aufgegeben, ja, negiert, und hat einer zyklischen Zeitvorstellung des Seins als beständiges Werden und Vergehen im Sinne Nietzsches zu weichen. Erkauft wurde der Zuwachs an interpretatorischer Überzeugungskraft im Sinne der Warnung vor einer Wiederkehr des Gleichen gegenüber dem Schützengraben, der eine bloße Schilderung lieferte und eben keine darüber hinausweisende Erzählung, mit einem eklatanten Widerspruch zwischen Werk und Absicht. Dix wollte warnen und interpretierte den Krieg doch als kosmisches Geschehen, dem man nicht ausweichen könne, da es sich gleichsam naturhaft wiederholt. Anders gesagt: Intention und Interpretation, veristischer Stilmodus und Modalität der Zeit geraten anschaulich in einen Widerstreit. Das wird auch durch den Sachverhalt deutlich, dass Dix sich bereits 1934 genötigt sah, nach dem Triptychon, das ja immerhin als eine Summe der Kriegsdarstellungen formuliert war, ein weiteres Kriegsbild zu malen. Sein Gemälde Flandern entstand als Korrektur des Triptychons und im Kontrast auch zu den großen allegorischen Werken der frühen dreißiger Jahre (Abb. 123). Bereits im Triumph des Todes von 1934 hatte der Maler sein Triptychon als Allegorie des Todes konsequent weiterentwickelt, indem er es nun als eine wirkliche Allegorie schafft, in welcher ein Weltkriegssoldat, ein Liebespaar und ein Säugling bereits im Leben vom hereinbrechenden Tode umfangen sind (Stuttgart, Kunstmuseum).13 Das Gemälde Flandern dagegen modifiziert die Zeitvorstellung des Triptychons auf bezeichnende Weise, denn nun steht nicht mehr die ewige Wiederkehr des Gleichen im Zentrum des Bildes, sondern Nietzsches Vision des »großen Mittags«. Zwar sieht man immer noch eine Weltlandschaft im Sinne Altdorfers, erkennt Sonnenaufgang und Mond, doch taucht eine, noch hinter sich auflösenden Wolken verborgene Mittagsonne die Grabenlandschaft mit erwachenden, in Erdhöhlen hausenden Soldaten insgesamt in ein gleichmäßiges Licht. Die Drohung der Wiederkehr des Krieges ist auch in die-

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123 Otto Dix: Flandern, 1934–1936, Mischtechnik auf Leinwand, 200 × 250 cm, Berlin, Staatliche Museen, Neue Nationalgalerie

sem Bild präsent, aber der zeitliche Modus der Zäsur, des Erwachens, legt die Möglichkeit nahe, aus dem tödlichen Kreislauf des Krieges auszubrechen. Der Mittag verschafft die Möglichkeit der Bewusstwerdung, der Einkehr und Besinnung. In Nietzsches Bild vom »großen Mittag« – und das ist der entscheidende Aspekt gegenüber dem Kriegs-Triptychon – treffen der Stillstand der Zeit und die Ewigkeit der Wiederkehr des Gleichen zusammen. Es entsteht für einen kurzen Moment der fruchtbare Augenblick höchster Erkenntnis.14 Zugleich aber bedeutet er einen prekären Moment angesichts der Entscheidung, ob der Mensch »sich künftig noch selber will«.15 Widersprüchlich verschränkt sich im Gemälde Flandern Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr mit der des Übermenschen. Letztere eröffnet die Möglichkeit einer Selbsterlösung des Menschen, die man sich in dem konkreten Fall als Erlösung vom Kriege vorzustellen hat. Zwar bleibt auch diese Bilderfindung von Otto Dix im Ansatz und vor dem Hintergrund der Philosophie Nietzsches wohl zwangsläufig widersprüchlich, denn man muss offen lassen, ob die Soldaten sich erheben, um erneut in den Kampf zu ziehen, oder aber dem sinnlosen Sterben ihre Entscheidung für den Frieden entgegenstellen, wie dies von zeitgleichen

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Autoren wie Henri Barbusse eingefordert wurde. Weil dieses Gemälde aber im Unterschied zum Triptychon Der Krieg nicht ausschließlich den unabänderlichen Kreislauf, sondern die Wahlmöglichkeit persönlicher Entscheidung darstellt, ist hier die Utopie des Friedens als eines Zustands gegeben, in dem »wir unsere Unsterblichkeit ertragen könnten.«16

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DIE WAHRHEIT DER MALEREI PABLO PICASSOS »GUERNICA« ZWISCHEN ATELIERUND EREIGNISBILD Uwe Fleckner

1937 ist weltweit ein Jahr der Kämpfe, Krisen und Katastrophen. Vier Jahre nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ist in Deutschland die diktatorische Zerschlagung demokratischer Strukturen, die Liquidierung der politischen Gegner weitgehend vollzogen. Kulturpolitisch markieren die Große Deutsche Kunstausstellung sowie die Ausstellung Entartete Kunst in München einen tiefen Einschnitt; die Kunst der Moderne ist verfemt, Künstler und Intellektuelle werden ins Exil gezwungen. In Spanien herrscht Bürgerkrieg zwischen Verteidigern der Republik und den nationalistischen Aufständischen unter Führung General Francos, das Italien Mussolinis treibt seine Hegemonialansprüche im Mittelmeerraum voran, die stalinistische UdSSR erlebt den Terror der »Großen Säuberung« mit ihren Schauprozessen und Hinrichtungen. In Frankreich versuchen wechselnde Volksfront-Regierungen unüberwindbare innenpolitische und wirtschaftliche Probleme zu meistern; dort hatte sich im selben Jahr die Pariser Weltausstellung – wenn auch vergeblich – zum Ziel gesetzt, als kulturelle wie technische Leistungsschau der Nationen eine »Kundgebung der Eintracht und des Friedens« zu inszenieren, die dem »Austausch der Ideen und der Freundschaft« (Léon Blum) verpflichtet sein sollte.1 Wie in einem Brennspiegel bündeln sich die politischen Konfrontationen dieser Zeit in einem Ereignis, dem als solches wohl kaum welthistorische Bedeutung zukommt: Am 26. April 1937 wird Guernica, die heilige Stadt der Basken, durch Bombenangriffe deutscher und italienischer Luftstreitkräfte zerstört, die im Dienst der frankistischen Rebellion gegen das demokratische Spanien operieren. Dass sich in diesem völkerrechtswidrigen Akt dennoch das blutige Signum der Epoche geradezu symbolhaft verdichten sollte, ja, dass sich die Bombardierung der Stadt überhaupt ins kollektive Gedächtnis der Menscheit ein-

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124 Pablo Picasso: Guernica, 1937, Öl auf Leinwand, 349,3 × 776,6 cm, Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía

gravieren konnte und die Erinnerung an das Geschehene bis heute als Mahnung gegen Faschismus und Diktatur, gegen Krieg und Gewalt fortwirkt, ist der Tatsache geschuldet, dass der spanische Maler Pablo Picasso im fernen Paris die Zerstörung Guernicas kurze Zeit nach der Tat zum Thema eines Gemäldes gemacht hat, des bedeutendsten Kunstwerks des 20. Jahrhunderts (Abb. 124).2 Doch zunächst zur Vorgeschichte: Bereits im April 1931 war nach knappem Wahlsieg der Republikaner inmitten der Weltwirtschaftskrise die Zweite Spanische Republik ausgerufen und ein Regierungsbündnis aus demokratischen Parteien und Sozialisten eingesetzt worden. Gegen den Widerstand der traditionellen Eliten, gegen Großgrundbesitzer, Klerus

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und Militär, sollte es bis 1933 zu einer ganzen Reihe sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Reformen kommen; ein erster Putschversuch konnte im Sommer 1932 nur durch einen Generalstreik der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) vereitelt werden. Aufgrund tiefgreifender ideologischer Konflikte auf Seiten der linken Gruppierungen sowie eines Wahlboykotts der starken Anarchisten gelangte im November 1933 ein Bündnis rechter Parteien an die Macht, was zwangsläufig zu einer Radikalisierung der Opposition, zu Streiks und lokalen Revolten führte. Die restaurative Politik der neuen Regierung provozierte schließlich im Oktober 1934 einen landesweiten Aufstand, der rasch gewaltsam unterdrückt wurde. Nach einer Reihe von Krisen und

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Skandalen scheiterte die nationalkonservative Koalition jedoch bereits Ende 1935, und die angesetzten Wahlen konnte von einer Volksfront aus Sozialisten, Republikanern, Liberalen, Marxisten und Stalinisten am 16. Februar 1936 gewonnen werden. Doch dieses ideologisch prekäre Bündnis sah sich nun einerseits den starken anarchistischen Gewerkschaften gegenüber, die auf eine umfassende »Soziale Revolution« drängten, andererseits den Parteien der Rechten, insbesondere der faschistischen Falange, die mit Mord und Terror antwortete. Ausgelöst durch eine Militärrevolte in Spanisch-Marokko griff der nationalistische Putschversuch im Juli 1936 auf das iberische Festland über, doch trotz anfänglicher Erfolge sollte es den Gegnern der Republik zunächst nicht gelingen, wichtige wirtschaftliche und politische Zentren wie Madrid, Barcelona und Valencia zu unterwerfen: Ein mörderischer Bürgerkrieg war die Folge und endete erst im Frühjahr 1939 mit dem Einzug der von Deutschland und Italien unterstützten Truppen General Francos in Madrid. Im März 1937 konnte der Marsch auf Madrid in der Schlacht von Guadalajara noch verhindert werden. Die aufständischen Truppen eröffneten daraufhin eine Nordoffensive und griffen mit Luftstreitkräften unter deutschem Oberbefehl rücksichtslos auch zivile Ziele an. Am Nachmittag des 26. April erreichte die sogenannte »Legion Kondor« die Kleinstadt Guernica (baskischer Orstname: Gernika). Wie viele Flugzeuge an dem Angriff beteiligt waren, wie viele Tote die Stadt zu beklagen hatte, ist bis heute nicht mit letzter Sicherheit zu beziffern. Die Zahl der Opfer, die Zerstörungen waren jedoch immens; zeitgenössische Aufnahmen zeigen Guernica als brennende, verwüstete Stadt, zeitgenössische Presseberichte versuchten, die Greuel in Worte zu fassen. Unter der Schlagzeile The Tragedy of Guernica veröffentlichte die Londoner Tageszeitung The Times bereits am 28. April 1937 einen auf den Vortag datierten ausführlichen Korrespondentenbericht, der eine Vorstellung von Art und Heftigkeit der Attacke vermitteln wollte: »Guernica, die älteste Stadt der Basken und das Zentrum ihrer kulturellen Tradition, wurde gestern Nachmittag von aufständischen Luftstreitkräften vollständig zerstört. Das Bombardement der ungeschützten Stadt weit hinter den Frontlinien dauerte genau dreieinviertel Stunden, in denen eine machtvolle Fliegerstaffel aus drei deutschen Typen, Junker- und Heinkel-Bombern sowie Heinkel-Jagdflugzeugen, unablässig ihre Bomben über der Stadt abwarfen, die bis zu 1.000 Pfund wogen, sowie schätzungsweise mehr als 3.000 zweipfündige AluminiumBrandgeschosse. Die Jagdflieger stießen während dessen aus der Höhe über der Stadt herab, um die Zivilbevölkerung, die sich in die umliegenden Felder geflüchtet hatte, mit Maschinengewehren zu beschießen.« 3

HIEROGLYPHEN DES ENTSETZENS Das wahre Grauen von Bombardierung und Massaker zum Ausdruck zu bringen, sollte trotz weltweiter Berichterstattung durch Zeitungsartikel und Pressefotografien indes einem Kunstwerk vorbehalten sein. Picasso hatte schon im Januar 1937 den Auftrag der republi-

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kanischen Regierung zu einem großes Wandbild für den Spanischen Pavillon der Weltausstellung erhalten. Wenige Tage vor dem Angriff auf Guernica hatte der Künstler damit begonnen, erste Entwürfe für das geplante Gemälde anzufertigen, als er Anfang Mai unter dem Eindruck der Presseberichterstattung über das Ereignis das Thema seines Bildes umwandelte. In nur fünf Wochen malte er dann sein nahezu acht Meter breites und dreieinhalb Meter hohes Werk, das schließlich den Titel Guernica tragen sollte und seit dem 12. Juli 1937 in Paris der Öffentlichkeit zugänglich war, mithin sieben Wochen nach der feierlichen Inauguration der Weltausstellung. Gezeigt wurde das Gemälde in der weitgehend transparenten Stahl-und-GlasArchitektur des Spanischen Pavillons, die unmittelbar neben der auftrumpfenden nationalsozialistischen Machtdemonstration des »Deutschen Hauses« von Albert Speer und gegenüber der nicht minder monumentalen Sowjetischen Ausstellungshalle errichtet worden war. Das von Josep Lluís Sert entworfene funktionalistisch-neusachliche Bauwerk war mit Skulpturen von Alberto Sánchez, Julio González und Picasso umgeben, in seinem Inneren wurde eine umfangreiche Ausstellung von Kunstwerken, Kunstgewerbe und Volkskunst veranstaltet. Im Treppenhaus war Joan Mirós später zerstörtes Wandbild El Payés catalán en revolución zu sehen, die über zwei Stockwerke reichende Figur eines Bauern, dessen Sichel auch in Anspielung auf die Hymne des autonomen Katalonien (»Nun ist es Zeit, Ihr Schnitter / Nun ist es Zeit zur Wachsamkeit«) offenkundig nicht nur als ständisches Attribut, sondern vor allem als Emblem entschlossenen Widerstandes gemeint war. Auf seiner Fassade, aber auch in den Ausstellungsräumen selbst, zeigte das Bauwerk darüber hinaus eine ganze Reihe von didaktischen Foto-Text-Montagen, deren avantgardistisches Idiom dem Publikum die sozialen wie kulturellen Errungenschaften, die Ziele des demokratischen Spanien, aber auch die Bedrohung der Republik durch den frankistischen Aufstand vor Augen führen sollte.4 In der Eingangshalle, die sich zu einem weiten Auditorium für Vortrags-, Film-, Theater- und Musikvorführungen öffnete, nahm Picassos Gemälde einen ganzen Wandabschnitt ein. Vor ihm war mit Alexander Calders La Fuente de Mercurio (Barcelona, Fundacío Joan Miró) eine kinetische Brunnenplastik mit fließendem Quecksilber aufgestellt, die an die Belagerung der spanischen Stadt Almadén erinnern sollte und mit abstrakten Formen den élan vital republikanischer Kräfte demonstrierte (Abb. 125). Die gegenüberliegende Wand wies eine großformatige Fotografie Federico García Lorcas auf, deren Inschrift den Betrachter darauf aufmerksam machte, dass der Dichter, ein Märtyrer der europäischen Linken, in den ersten Tagen des Bürgerkriegs von spanischen Nationalisten ermordet worden war. Nicht allein aufgrund der verspäteten Fertigstellung des Spanischen Pavillons, wohl auch aus politischen Rücksichten und Aversionen war in der zeitgenössischen Presse kaum etwas über Guernica und seine Aufnahme durch die Betrachter zu lesen.5 Die wenigen Zeugnisse, meist in der linken Presse publiziert, die von der Eröffnung des Pavillons berichteten und dessen künstlerische Ausstattung erwähnten, schildern allerdings eine durchaus beunruhigende Wirkung des Bildes. So wurde im September 1937 im Prager Exilorgan

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125 Unbekannter Fotograf: Pablo Picassos »Guernica« und Alexander Calders »La Fuente de Mercurio« im Spanischen Pavillon, 1937

Die neue Weltbühne darüber berichtet, dass die zahlreichen Besucher das Gebäude mit schweigendem Ernst durchschritten hätten: »Nicht viele werden auf den ersten flüchtigen Blick das grosse, an die rechte Hallenwand gemalte Bild Picassos künstlerisch begreifen können; trotzdem brauchte nicht das Wort ›Guernica‹ darunter zu stehen, um den Sinn dieser Fratzen, dieser schreienden Masken, Pferdeleiber, wimmernden Kreaturen, dieser speienden Höllenhunde zu erfassen. Wohin ist man geraten?« 6 Rückblickend beschrieb auch Josep Lluís Sert, der Architekt des Gebäudes, die stumme, irritierte Rezeption der Besucher: »Die Leute trafen ein, betrachteten dieses Ding und verstanden es nicht. Aber sie spürten, dass etwas in ihm steckte. Sie lachten nicht über Guernica, sie betrachteten es bloß

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schweigend.« 7 Und selbst in einer offiziösen deutschen Publikation lässt sich aus der Diffamierung des Gemäldes als »Traum eines Verrückten« noch immer der motivische wie formale Schock des Gemäldes herauslesen: »Es ist ein Durcheinander von unverständlichen Symbolen und menschlichen Körperteilen – und es scheint, als hätte ein vierjähriges Kind all dies gezeichnet.« 8 Betrat ein Besucher das Erdgeschoss des Gebäudes, dann fiel sein Blick, obwohl er durch die propagandistische Inszenierung des Außenbaus mit seinen Skulpturen, Fotografien und Texten darauf vorbereitet wurde, auf ein in der Tat verstörendes Kunstwerk. Dessen übergroßes, nicht von ungefähr an eine Kinoleinwand erinnerndes Querformat entwirft einen zunächst recht einfachen, dann immer komplexer entfalteten Bildraum, den der Maler mit menschlichen und animalischen Gestalten bevölkert hat. Perspektivische Flächensegmente schieben sich links und rechts in die Szene, am unteren Bildrand zieht sich über etwa ein Viertel der Bildhöhe ein Raster quadratischer Bodenplatten durch das Gemälde, ein ums andere Mal von den Figuren verdeckt. Links schließt eine Wand den Blick in den hier noch eindeutig kastenartigen Bühnenraum; rechts von der Mitte ist ihm allerdings eine architektonische Formation eingestülpt, von der kaum mehr als eine Tür und zwei Fenster auszumachen sind sowie eine leicht gekippte Fläche mit Dachziegeln, so dass an dieser Stelle – nach kubistischem Vorbild – unterschiedliche Ansichten eines Hauses ineinandergeschachtelt sind und dergestalt in den Binnenraum eingefügt wurden. Auf der rechten Seite der Komposition führt eine geöffnete Tür aus der Leinwand, ohne dass der Betrachter in Erfahrung zu bringen wüsste, ob dahinter ein zweites Zimmer oder die Außenwelt zu vermuten ist. Insgesamt hat der Maler durch die räumlichen Verschränkungen seiner Bildarchitektur ein »intérieur-extérieur« entstehen lassen, das die Orientierung des Betrachters im Gemälde nicht einfach macht.9 Ausgestattet ist der ansonsten überaus karge Raum mit einer hell aufleuchtenden Deckenlampe, deren gezackter Lichtschein von anderen Bildpartien aufgenommen wird, wodurch sich eine latente dreieckige Binnenstruktur entwickelt, die deutlich Erinnerungen an tradierte Kompositionsmuster der Historienmalerei wachruft. Auf der so gewonnenen Bühne spielte sich ein schreckliches Schauspiel ab: In der Mitte der Komposition, unmittelbar unter dem Lampenschirm, wirft ein offenbar verwundetes Pferd den Kopf in jäh verzerrter Gebärde nach links zurück; es zertritt die Fragmente einer Figur, wohl einer hohlen Kriegerstatue, die ein zerbrochenes Schwert sowie eine kleine Blume in der rechten, mitsamt ihrem Arm vom Rumpf abgetrennten Hand hält, während der Kopf dieser Figur sowie ihr linker Arm, ebenfalls zu Boden gefallen, bis an die linke Formatbegrenzung reichen.10 Dort muss der Betrachter den Anblick einer Frau mit entsetzt aufgerissenem Mund ertragen, die ihren anklagenden Schrei de profundis zur Zimmerdecke richtet, wohl gegen den Himmel. In ihren Armen hält die verzweifelte Frau ein augenscheinlich getötetes Kind; eine säkularisierte Pietà-Gruppe ist hier entstanden, eine Bildchiffre menschlichen Leidens, die zu den erschütterndsten Darstellungen der Weltkunstgeschichte zu zählen ist. Über Mutter und Kind steht ein Stier, sein Schwanz ist erregt auf-

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geworfen, sein zurückgedrehter Kopf nach Art kubistischer Bildnisse aus Profil- und Frontalansicht zusammengesetzt. Rechts hinter ihm, vielleicht auf einem mit wenigen Linien allerdings nur angedeuteten Tisch, wirft ein Vogel seinen Kopf mit aufgerissenem Schnabel in die Höhe, ein animalisches Form- und Klang-Echo der schreienden Frau. Die rechte Seite der Komposition wird durch eine weibliche Figur mit nackten Brüsten dominiert, die ihren Kopf dem Licht der Glühbirne entgegenstreckt und sich gebeugt, ja, gebrochen durch das Bild schleppt, ein überdimensionales Bein – wie ein Schicksal – hinter sich herziehend. Über ihr dringt die schemenhafte Silhouette eines weiteren Kopfes durch eines der Fenster des kleinen Hauses in den Innenraum, der demnach, und das bleibt noch immer rätselhaft, an dieser Stelle eigentlich Außenraum sein müsste; ihr ebenfalls gespenstisch anmutender überlanger Arm hält zudem eine brennende Petroleumlampe mit Glassturz ins Zimmer, so als wolle die Figur das Geschehene aufklären. Ganz rechts wird die Komposition durch das Fragment einer Frau geschlossen, womöglich eine herabstürzende Figur, deren Ort im Raumgefüge des Bildes jedenfalls nicht zweifelsfrei deutlich wird. Arme und wiederum klagendes Profil sind hoch aufgereckt, Flammen züngeln an ihrem Körper, sie ist offenbar ebenso in Brand geraten wie das Bauwerk, vor dem sie zu sehen ist. Unmissverständlich hat der Künstler mit seinem Gemälde ein Bild des Entsetzens hervorgebracht. Dissonante Formen, scharfkantige Konturen, harte Hell-Dunkel-Kontraste, eine auf unterschiedliche Grautöne reduzierte Palette sowie ein matter Farbauftrag, der nicht ohne Flüchtigkeiten und sichtbare Pentimenti blieb, entwerfen eine düstere Szenerie, erhellt allein durch das schmutzige Weiß des elektrischen Lichts: »Unter den Fingern Picassos«, so Michel Leiris 1937 in einer poetischen Evokation des Bildes, »kristallisieren die schwarzen und die weißen Dämpfe und werden zu Diamant, der Atem einer Welt in Agonie, die von den grässlichsten Meteoren – den Dolchen unserer Liebe – bald bis aufs Gerippe durchstoßen sein wird.« 11 Perspektivische und motivische Ungewissheiten unterstreichen die beunruhigende Wirkung auf einen gebannten Betrachter, ikonographische Ungewissheiten steigern dessen Verstörung. Vergeblich haben Mit- und Nachwelt versucht, einzelne Bildelemente aus der Komposition herauszulösen und als Zeichen, Symbole, Personifikationen oder Embleme mit präziser, vokabelhafter Bedeutung – einander oft genug widersprechend – aufzuschlüsseln; wohl auch, um begrifflich-sprachliche Sicherheit in ein Gemälde zu tragen, dessen visuelle Irritation anders kaum auszuhalten wäre: Mal wurde etwa der Stier als Symbol des frankistischen Terrors, ein anderes Mal als Symbol spanischer Widerstandskraft aufgefasst.12 Doch nichts im Bilde spricht davon, in den dargestellten Menschen und Kreaturen etwas anderes als die exemplarisch leidenden Opfer eines Gewaltaktes zu sehen, der nur durch den Titel des Werkes und seine 1937 im Spanischen Pavillon beigefügte Inschrift mit der Bombardierung Guernicas in Zusammenhang gebracht wird. Form und Inhalt des Gemäldes, Form und Inhalt jeder seiner Figuren schließen sich zu ausdrucksstarken Hieroglyphen des Entsetzens zusammen, in denen das Pathos und die Klage der Opfer ohne jede akademisch-konventionelle Nachahmung natürlicher Vorbilder zum Ausdruck kommt.13 Die expressiven Konturen der Figuren, eine

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bewegte – und bewegende – Binnenzeichnung bilden psychographische Diagramme der Trauer, der Wut und der Verzweiflung. Doch nicht allein der schockierende Sachverhalt und seine eindringliche Bildgestalt beanspruchen das Rezeptionsvermögen des Betrachters, nein, das Gemälde selbst fordert darüber hinaus zur Reflexion über seine eigene Leistungsfähigkeit, über die Möglichkeiten und Grenzen dessen heraus, was im Medium der Bildenden Kunst dargestellt und bewirkt werden kann. Ist ein formal auch noch so widerständig angelegtes, letztlich doch immer bloß ästhetisch argumentierendes Kunstwerk dazu berechtigt, das unsagbare Leiden von Mensch und Tier zu seinem Thema zu machen? Was eigentlich kann ein solches Bild zeigen? Was zeigt es tatsächlich, zumal dann, wenn der Betrachter die Differenz des Gemalten zu den wirklichen Ereignissen des 26. April 1937 bedenkt? Und was wird nicht gezeigt? Und wo spielt das Bildgeschehen, dessen Szenerie in der bisherigen Forschung ohne weiteres Zögern mit der Stadt Guernica identifiziert wurde? Und mit welcher Absicht wurde es so – und nicht anders – von Picasso gemalt und von der Spanischen Republik als politisches Manifest instrumentalisiert? Die visuelle Überzeugungskraft des Bildes hat vorderhand solche Fragen eher überlagert; doch auch wenn es dem Betrachter schwerfällt, erst eine nüchterne Analyse des bildnerischen Befundes wird vielleicht zu einem tieferen Verstehen des Werkes führen können. Unbestreitbar hat der Künstler weder die Täter noch ihre tödliche Maschinerie ins Werk gesetzt. Auch das Ziel des Angriffs, die baskische Stadt mit ihren Straßen und Plätzen, wird nicht im Bild festgehalten, das gesamte Geschehen ist mehr oder weniger eindeutig in einen Innenraum verlegt worden, über den wir jedoch kaum etwas erfahren. Und das Ereignis selbst? Was geschieht in der dargestellten Figurenkonstellation? Eine bildliche Narration, ein Schildern von Handlungsabläufen, so wie es bereits von Alberti als Bedingung der Historienmalerei festgelegt wurde, ist jedenfalls nicht angestrebt worden, und dies trotz der »epischen Breite« eines Leinwandformates, das sich gerade dazu anbieten würde, die Sukzession einer Bilderzählung über seine gesamte Länge hinweg zu entwickeln. Aktion und Reaktion werden nicht gezeigt, die Figuren handeln nicht, sie leiden, sie liefern sich dem unsichtbaren Aggressor in passiver Zuständlichkeit aus, keine narrative Blick- und Bewegungsführung hilft ihnen oder dem Betrachter durch das Bild. Auch liefert der gezeigte Lichtkegel zwar eine Dreieckskomposition klassischen Zuschnitts, aber der historische Held, der mit einer solchen Hoheits- und Würdeformel in Szene gesetzt werden könnte, fehlt vollständig. Haupt- und Nebenfiguren sind gleichermaßen nicht auszumachen; allenfalls eine vage, an ein Triptychon erinnernde Dreiteilung rhythmisiert die anders kaum in den Griff zu bekommende, friesartig angelegte Parataxe des Bildpersonals, doch auch dies ohne einzelne Figuren oder Figurenkonstellationen einer innerbildlichen Handlungshierarchie zu unterwerfen.

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EINE UNLÖSBARE AUFGABE Kaum ein anderes Werk der Kunstgeschichte ist in seiner Entstehung von den ersten Skizzen bis zum abgeschlossenen Gemälde so gut dokumentiert wie Picassos Guernica. Dutzende Skizzen, Kompositionsentwürfe und Figurenstudien aus allen Phasen des Bildes sind erhalten, und die Arbeit des Malers an seinem Werk wurde durch Fotografien seiner damaligen Gefährtin Dora Maar Schritt für Schritt protokolliert, so dass Ideenfindung, Konzeptionswechsel und handwerkliche Konkretisierungen bestens nachvollzogen werden können.14 Die Genese des Gemäldes gerade in seinen Anfängen zu betrachten, soll im Folgenden bei der Suche nach Antworten auf die hermeneutischen Fragen des Bildes und seiner irritierenden kompositorischen Anlage helfen. Anfang Januar 1937 hatte Picasso den Besuch einer Delegation von Politikern und Künstlern erhalten, die ihn darum bat, mit einem Wandbild für den geplanten Weltausstellungspavillon die Sache der Republik zu unterstützen. Der spanische Staat erwarb daraufhin ein geschichtsträchtiges Gebäude in der Rue des Grands-Augustins, unter dessen Dach dem Maler ein Atelier zur Verfügung gestellt wurde, das groß genug für die gewaltige Aufgabe war.15 Zuvor hatte die oberste Etage des Hauses Jean-Louis Barraults Theatergruppe Octobre als Bühne und Probenraum gedient, und Georges Bataille versammelte in dem lichten und weitläufigen Saal die Mitglieder seiner antifaschistischen Gruppe ContreAttaque.16 Doch vor allem war das Gebäude als einer der Schauplätze von Honoré de Balzacs Novelle Le Chef-d’œuvre inconnu bekannt geworden, für die Picasso von 1927 bis 1931 im Auftrag Vollards Radierungen angefertigt hatte. Obwohl der Maler bereits die architektonischen Planzeichnungen kannte und die Baustelle des Pavillons besucht hatte, dessen Grundstein am 27. Februar 1937 gelegt wurde, demnach über die Maß- und Proportionsangaben der für sein Bild vorgesehenen Wandfläche rechtzeitig unterrichtet war, ist sein Arbeitsbeginn doch erst verhältnismäßig spät durch bildnerische Zeugnisse dokumentiert.17 Zwölf erhaltene Skizzen, datiert auf den 18. und 19. April, belegen zweifelsfrei, dass Picasso in diesen Tagen zunächst eine ganz andere Vorstellung davon entwickelt hatte, wie er seine heikle Aufgabe zu lösen gedachte. Diese erst zu Beginn der achtziger Jahre bekannt gewordenen Entwürfe, sie kreisen allesamt um das Thema von Künstler und Modell, mussten bislang einigermaßen verunsichern, denn in ihnen ist auf den ersten wie auf den zweiten Blick nichts zu entdecken, was eine wie auch immer geartete Stellungnahme zu den Bürgerkriegsereignissen formuliert.18 Sollte Picasso zunächst eine selbstbezügliche, auch erotisch konnotierte Metapher künstlerischen Daseins oder ästhetischer Erkenntnis entworfen haben? Hatte er womöglich versucht, sich der bitteren politischen Realität durch Flucht in eine unverfängliche Künstlerikonographie zu entziehen? Oder hoffte er, um es positiv zu wenden, dieser Realität ein Manifest künstlerischer Freiheit und Selbstbestimmung demonstrativ entgegenzuhalten? Die erste der erhaltenen Skizzen zeigt einen Maler vor der Staffelei, offensichtlich damit beschäftigt, ein liegendes weibliches Aktmodell auf die Leinwand zu brin-

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126 Pablo Picasso: Studie zum Wandbild im Spanischen Pavillon (I), 18. April 1937, Bleistift auf Papier, 18 × 28 cm, Paris, Musée Picasso

gen; rechts sehen wir eine orthogonale Freifläche, die sich beim Studium der folgenden Blätter als Fenster herausstellen wird, unten sind einige Detailentwürfe der Figuren sowie eines Canapé angefügt (Abb. 126). Der unmittelbare Bezug zum Wandbild des Spanischen Pavillons ist durch das extreme Querformat sowie durch die zeitliche Nähe zum drängenden Auftrag kaum von der Hand zu weisen. In anderen Zeichnungen des kleinen Konvoluts entwickelt Picasso den figürlichen Bestand des Bildes, teils bis in intimste anatomische Einzelheiten, wiederum andere Blätter treiben die Gesamtanlage der Komposition voran. Die siebte Studie führt schließlich elektrisches Licht in die demzufolge nächtliche Szenerie ein, die elfte und vorläufig letzte Zeichnung rückt den Maler in den auf diese Weise entstandenen Lichtkegel und damit eng an sein Modell heran, so dass die Fensteröffnung rechts im projektierten Gemälde eine wichtige kompositorische wie inhaltliche Funktion erhalten hätte (Abb. 127–128). Es ist darüber spekuliert worden, ob nicht gerade durch den hier anzunehmenden Ausblick auf die äußere Welt, vielleicht also auf die Schrecken des Bürgerkrieges, der politische Anspruch des Bildes zum Ziel kommen sollte; allein, es finden sich keine Entwürfe, mit denen Picasso diese Fläche hätte füllen wollen.19 Aufschluss über Sinn und Thema des schließlich verworfenen Vorhabens, und das hat die Forschung bislang übersehen, bietet das zwölfte, nicht nummerierte Blatt, das Picasso einen Tag später skizziert und auf den 19. April 1937 datiert hat (Abb. 129). Es handelt sich bei dieser Zeichnung um ein komplexes, palimpsesthaftes Studienblatt, das nicht nur den

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127 Pablo Picasso: Studie zum Wandbild im Spanischen Pavillon (VII), 18. April 1937, Bleistift auf Papier, 18 × 28 cm, Paris, Musée Picasso

geplanten Ort und die Proportionen des Gemäldes durch Frontal-, Seiten- und Aufblick angibt, auch einige flüchtige croquis zu Plastiken, die das Bild begleiten sollten, überdies eine Figurine mit erhobener Faust, die – politisch Partei ergreifend – Hammer und Sichel hält und zweifellos ebenfalls im Pavillon aufgestellt werden sollte, sowie einige motivische Präzisierungen der Gestalt des Malers sind auf ihm zu erkennen. Ist dessen Aussehen auf den Blättern des Vortags für den Betrachter noch missverständlich gewesen, so entwirft Picasso nun mit aller Sorgfalt einen Künstler mit Pinsel und Palette, der durch seine barocke Kostümierung, durch Hut und Schleife, durch ein ausladendes Gewand und hohe Schuhe sowie durch die altertümlich lange Haartracht eindeutig als historische Figur charakterisiert wird.20 In der Tat hatte sich Picasso in den Jahren zuvor intensiv mit einem – allerdings fiktiven – barocken Maler beschäftigt und war, um seinen Auftrag für die spanische Regierung erfüllen zu können, mit seinem Atelier sogar in ein Haus gezogen, das mit der literarischen Figur dieses Malers eng verbunden ist: Es scheint kaum anders denkbar, als dass es wir es hier mit Frenhofer zu tun haben, mit dem Maler aus Balzacs berühmter Künstlernovelle vom unbekannten Meisterwerk. Erstmals 1831 veröffentlicht, einhundert Jahre später mit Radierungen Picassos noch einmal in einer aufwendigen Edition erschienen, reflektiert Balzacs Erzählung anhand der Gespräche dreier Maler vom Beginn des 17. Jahrhunderts die kunsttheoretischen Debatten

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128 Pablo Picasso: Studie zum Wandbild im Spanischen Pavillon (XI), 18. April 1937, Bleistift auf Papier, 18 × 28 cm, Paris, Musée Picasso

der eigenen Zeit.21 Der alternde Frenhofer, die Hauptfigur der Novelle, arbeitet seit nicht weniger als zehn Jahren unablässig am Bildnis einer Kurtisane, der »belle Noiseuse«, die – wie auch in Picassos Skizzen vom April 1937 – als liegende Figur dargestellt werden sollte. Mit seinem vor den Augen der Mitwelt eifersüchtig verborgenen Gemälde will der Künstler nicht nur sein Meisterwerk sondern auch eine gleichsam lebendige, durch die Malerei beseelte Schöpfung hervorbringen; ein unmögliches Unterfangen, das in Wahnsinn, Bilderverbrennung und Selbstmord endet, nachdem Frenhofer erkennen muss, was sein Werk eigentlich zeigt: »[…] wirr angehäufte Farben, umrissen von einer Fülle wunderlicher Linien, die eine Mauer von Malerei auftürmen«.22 Das Thema von Maler und Modell, das Picasso ursprünglich für sein Wandbild vorgesehen hatte, wäre demnach keineswegs als eine bloß biographisch-erotische Reminiszenz, als allgemeine Evokation eines Künstlerlebens entworfen worden. Vielmehr sollte es am literarischen Beispiel die unlösbare Aufgabe vor Augen führen, im Kunstwerk ein wahrhaftiges Menschenbild zu formen, sollte zeigen, dass tiefgreifende ästhetische Probleme »trotz der unglücklichen Zeiten« (Balzac) ihre Brisanz nicht verloren hätten.23 Und mehr noch: Picasso sah sich angesichts seiner noch immer leeren Leinwand im Atelier der Rue des Grands-Augustins einer Herausforderung gegenüber, die ihm zunächst gleichermaßen unlösbar erschien und ihn lange Zeit zögern ließ, mit Entwurf und Ausführung des Bildes

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129 Pablo Picasso: Studie zum Wandbild im Spanischen Pavillon, 19. April 1937, Feder auf Papier, 18 × 28 cm, Paris, Musée Picasso

zu beginnen. Das Gemälde auf der Staffelei aller im Hinblick auf das Wandbild entstandenen frühen Skizzen ist ebenfalls leer, die hybride geometrische Form, aus der die Leinwand in der ersten Zeichnung hervorgeht, mag sogar auf die Quadratur des Kreises anspielen, die sich der Künstler hier abverlangt. Im übrigen hat Picasso in seinen meist frei assoziierenden Radierungen zu Le Chef-d’œuvre inconnu auf zwei Blättern sogar schon die Motive von Stier und Pferd verwendet, die später in Guernica zu entscheidenden Ausdrucksträgern werden sollten. Besonders glücklich aber kann Picasso mit seiner Themenwahl nicht gewesen sein, denn die aufgereckte Faust mit ihrer überdeutlichen kommunistischen Ikonographie auf dem Skizzenblatt vom 19. April 1937 zeigt fraglos, dass dem Künstler die politische Unzulänglichkeit des ins Auge gefassten Sujets bewusst geworden war. Wenige Tage später sollte Picasso das Vorhaben einer gründlichen Revision unterziehen.

DIE BILDNERISCHE ANTWORT AUF EINE PROPAGANDALÜGE Die Zerstörung Guernicas wurde rasch in ganz Europa und Übersee bekannt. Erste Radio- und Zeitungsmeldungen verkündeten das Ereignis bereits am 27. April 1937, nur wenige Stunden nach dem Terrorangriff auf die baskische Stadt. Selbst in Frankreich, wo

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die Presse aufgrund der Nichteinmischungspolitik der Regierung Léon Blum zögernder und knapper als andernorts über die Greuel berichtete, veröffentlichte die linke Tageszeitung Ce Soir, herausgegeben von Aragon, einem Freund des Künstlers, schon am Nachmittag nach der Tat eine Depesche mit der Schlagzeile L’Aviation rebelle bombarde de paisibles villages und sprach von achthundert Toten; und das kommunistische Blatt L’Humanité brachte die Nachricht am folgenden Tag, begleitet von einer schockierenden Nahaufnahme einiger Opfer: »Das schrecklichste Bombardement seit Beginn des Spanischen Bürgerkriegs. Eintausend Brandbomben, abgeworfen von Flugzeugen Hitlers und Mussolinis, legen die Stadt Guernica in Schutt und Asche«.24 Picasso verfolgte von Paris aus aufmerksam die Konflikte in seiner spanischen Heimat, und dennoch reagierte er nicht etwa unmittelbar auf diese Zeitungsberichte, wie landläufig zu lesen ist, sondern ließ vielmehr einige Tage verstreichen, bevor er mit seinen Mitteln, mit den Mitteln eines Künstlers, eine Antwort auf das entsetzliche Geschehen zu finden versuchte und eine Reihe von Zeichnungen entstehen ließ, die er anschließend ebenfalls mit exaktem Datum und durchlaufender Zählung versah. Die erste Skizze, die Picasso am 1. Mai 1937 in wenigen Sekunden auf das Papier warf, und deren offenkundig spontane Idee er schließlich zu seinem Gemälde Guernica ausarbeiten sollte, ist nun aber keineswegs als überlegter, kühl berechnender Bildentwurf aufzufassen; ihre gesamte Anlage, besonders ihr zeichnerischer Duktus sprechen eine gänzlich andere Sprache (Abb.130). Der Bleistift umreißt einige Figurinen, die nur unter Kenntnis des weiteren Gestaltungsverlaufs verständlich sind: Stier und Pegasus sind auf der linken Blattseite auszumachen, unten erahnt der Betrachter einen gestürzten Krieger, in der Mitte ein Pferd mit emporgerissenem Kopf, und rechts oben blickt eine Frau mit Lampe aus einem Gebäude. Gezeichnet wurde all dies sichtlich in einem Augenblick höchster Erregung, sämtliche Motive sind gerade einmal angedeutet, einige bogige Formen bringen zudem gegenständlich unbestimmte Richtungs-, Raum- oder Energiewerte auf das Papier. Die »heilige Wut« (Christian Zervos), die hier ausbricht und einige graphische Kürzel auf das Blatt zwingt, ist mit gestalterischen Mitteln kaum bewältigt; es ist keine souveräne, gar schöne Zeichnung entstanden, spröde und unansehnlich ist das Blatt, ein seismographisches Psychogramm eher als ein Zeugnis bildnerisch kalkulierender Meisterschaft.25 Dass diese Skizze der Vorbereitung seines Wandbildes für den Spanischen Pavillon galt, belegt erst eine zweite Zeichnung, die im unmittelbaren Anschluss an das erste Blatt entstanden sein muss. Picasso hat sich hier nicht einmal der Mühe unterzogen, ein Papierformat zu wählen, das den Proportionen des geplanten Gemäldes entsprach: Hastig wurde der Zeichengrund im Hinblick auf das überlange Wandstück mit zwei Waagerechten geteilt, die obere Partie streckt nun das soeben erfundene Sujet in die Breite, und in seinem figürlichen Bestand ist dieser Bildstreifen sogar noch flüchtiger angelegt als auf dem Blatt zuvor (Abb. 131). Erst nach diesen Abbreviaturen fand der Künstler zu bildnerischer Selbstbeherrschung zurück. Es ist, als habe er sich die Last des Entwurfs von der Seele zeichnen müssen, bevor er nun mit sicherem Strich einige figürliche Einzelheiten seiner neuen

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130 Pablo Picasso: Skizze zu »Guernica« (I), 1. Mai 1937, Bleistift auf Papier, 21 × 26,9 cm, Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía

Bildidee in der unteren Blatthälfte etwas sorgfältiger in Anschlag zu bringen vermochte. Dass solche Zeichnungen, Dokumente eines augenblicklichen Betroffen- und Ergriffenseins, nicht aus der Distanz mehrerer Tage bildnerischen Konzipierens hervorbrechen konnten, versteht sich von selbst. Doch was musste geschehen, damit Picasso in nur wenigen Sekunden lösen konnte, wonach er die vergangenen Monate vergeblich gesucht hatte? Die blutigen Kämpfe des Bürgerkriegs waren dem Künstler ja schon seit längerer Zeit bekannt, in den Wochen zuvor waren andere spanische Städte durch Bombardements aufständischer Luftstreitkräfte in Mitleidenschaft gezogen worden, und mit seinem Radierzyklus Traum und Lüge Francos hatte Picasso bereits zu Beginn des Jahres politisch eindeutig Stellung bezogen. Thematische Anlässe für ein Ereignisbild waren also in trauriger Fülle vorhanden. Dass allein die aktuelle Zerstörung des fernen baskischen Städtchens eine so heftige momentane Affektion auslösen sollte, scheint daher nicht sehr wahrscheinlich und muss insbesondere durch die Tatsache, dass zwischen den Nachrichten aus Guernica und dem Zeichnen des neuen Skizzenkonvoluts eine geraume Zeit verging, wohl bezweifelt werden.

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131 Pablo Picasso: Skizze zu »Guernica« (II), 1. Mai 1937, Bleistift auf Papier, 21 × 26,9 cm, Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía

In den Tagen nach dem Angriff aber begann das frankistische Pressebüro in Salamanca damit, erfolgreich eine Reihe von Deklarationen zu lancieren, in denen die Schuld an der Zerstörung der Stadt den »roten Horden« selbst angelastet wurde. Republikanische Milizen, so hieß es, hätten Guernica in Brand gesteckt und daraufhin aufständische Truppen beschuldigt, um die Bevölkerung gegen ihre nationalistischen Widersacher aufzubringen: »Guernica ist durch Feuer und Benzin zerstört worden. Die Brände, welche die Stadt in Ruinen verwandelten, wurden durch die roten Horden im verbrecherischen Dienste [des Präsidenten des Baskenlandes] Aguirre gelegt. […] Das Feuer wurde gestern entfacht, und Aguirre, der das Recht mit Füßen tritt, hat eine infame Lüge in die Welt gesetzt und das Verbrechen der edlen und heldenhaften Luftwaffe unserer nationalen Armee zugeschoben. Wir können jederzeit nachweisen, dass die nationale Luftwaffe aufgrund des Nebels gestern nicht geflogen ist, weder über Guernica noch über einem anderen Ort der baskischen Front.« 26 Ein regelrechter, international geführter Propagandakrieg brach daraufhin los, die Falschmeldungen erreichten Frankreich am 30. April 1937 – einen Tag

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also, bevor Picasso zum Bleistift griff – und wurden auch in Zeitungen wie Le Journal und Le Figaro, die der Künstler regelmäßig las, in voller Länge abgedruckt.27 Freilich: Picasso war kein Augenzeuge der zeitgeschichtlichen Ereignisse, wohl aber des Presse- und Meinungskampfes, der über die Zerstörung von Guernica entbrannte und noch bis weit über das Ende des Bürgerkrieges hinaus immer wieder auflodern sollte. Nicht das Bombardement selbst, vielmehr die Empörung des Künstlers über die Propagandalüge der Frankisten löste aller Wahrscheinlichkeit nach dessen unmittelbare bildnerische Reaktion aus. Betrachten wir daraufhin die erste Skizze vom 1. Mai 1937 noch einmal, dann fällt auf, dass ein in diesem Zusammenhang maßgebliches Motiv offenbar den initialen Gestaltungsimpuls lieferte und von diesem flüchtigen croquis bis zum ausgeführten Gemälde nahezu unverändert in alle Werkphasen übernommen wurde. Die weibliche Figur, die mit ausgestrecktem Arm eine Petroleumlampe wie eine Fackel über das Bildgeschehen hält, ist schon auf dem ersten Blatt mit unverrückbarer Entschiedenheit angelegt und kann durch ihren Ort in der Zeichnung wie auch im dann vollendeten Werk als formales und inhaltliches Zentrum der Komposition bestimmt werden: Faust und Lampe sind auf die Mittelsenkrechte von Papier und Leinwand gesetzt worden, im Gemälde markieren sie darüber hinaus die Spitze des dreieckigen Lichtkegels. Der von Beginn an maßlos gelängte und dadurch extrem betonte Arm stößt von oben aus dem Fenster, die dynamische Kopfform sowie die wehenden Haarsträhnen der lichtbringenden Gestalt unterstreichen den Eindruck, dass wir es hier mit einer herabfliegenden Figur zu tun haben. Viele, allzu viele Werke der Kunstgeschichte sind als Vorbilder und Anreger für Guernica im Allgemeinen und für dieses Motiv im Besonderen angeführt worden; doch es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass die Frau mit Lampe an eine Figur aus Pierre Paul Prud’hons Gemälde La Justice et la Vengeance divine poursuivant le Crime erinnert, das Picasso aus dem Musée du Louvre bekannt gewesen sein dürfte.28 Entstanden 1808 für den Palais de Justice in Paris, zeigt Prud’hons Bild die Allegorien der Gerechtigkeit, ausgestattet mit Schwert und Waage, sowie der fackelbewehrten Göttlichen Rache, die das Verbrechen in Gestalt eines Mörders verfolgen, der von Opfer und Tatort zu fliehen versucht. Sollte sich Picasso tatsächlich im Augenblick seines Entwurfs an diese Figur erinnert haben, um seiner Empörung, seiner Hoffnung auf Vergeltung bildliche Gestalt zu verleihen – gemeinsam mit Pegasus und dem antikisierenden Krieger –, dann hieße es, dass der Maler seinen Kampf gegen die Pressemaschinerie Francos zunächst mit den Mitteln allegorischer und mythologischer Ikonographie aufnehmen wollte.29 Doch jede historisch kodifizierte Bildsprache – sei sie klassischer, sei sie politischer Provenienz – wird der Komposition in den späteren Arbeitsschritten nach und nach ausgetrieben. Ergebnis der Werkgenese ist zuletzt eine bildnerische Mitteilung, die zu ihrem Verständnis nicht auf bildungsbürgerliche Reminiszenzen oder das Wiedererkennen kommunistischer Embleme angewiesen ist, sondern eine unmittelbare Ausdrucksdimension anstrebt.30 Bis auf eine Ausnahme führen alle dargestellten Menschen und Tiere das unsagbare Leid der Opfer unmissverständlich vor Augen: Das Bild »schreit«, wie Peter Weiss es in den siebziger Jahren in seinem Roman Die Ästhe-

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tik des Widerstands formuliert hat.31 Lediglich in der Figur der Frau mit Lampe, unterstützt durch das Motiv der Deckenleuchte, wird zeichenhaft argumentiert und auf diese Weise ein aufklärerisches Moment eingeführt; es wird demonstriert, dass Picassos Gemälde das Licht der Erkenntnis in ein Geschehen bringen will, das durch massenmediale Desinformation verdunkelt werden sollte.32 Die Zeitgenossen haben diese Bildabsicht durchaus verstanden. So schreibt eine unbekannte Rezensentin am 24. Juli 1937: »Dieses Meisterwerk, das, aus der abstraktesten Kultur hervorgegangen, in den Dienst der absoluten Empörung gestellt wurde, redet jeden, der sich nicht davor das Gesicht verhüllt, Schwarz auf Weiß, Weiß auf Schwarz mit der entsetzlichsten Sprache der Wahrheit an.« 33

MALEN ALS POLITISCHER AKT Doch wie sieht diese Wahrheit aus? Die Täter werden durch Picassos Wandbild nicht entlarvt, ja, sie werden auf ihm nicht einmal dargestellt, geschweige denn als die faschistischen Söldner im Dienste Francos identifiziert. Noch sind nicht alle hermeneutischen Aspekte des Gemäldes hinreichend beleuchtet worden, und vor allem die entscheidende Frage, wo denn das Bildgeschehen seinen Ort gefunden hat, muss – und kann – beantwortet werden. Das Gemälde ist letztlich nur dann angemessen zu würdigen, wenn der Betrachter seinen Augen traut und den hier gezeigten Innenraum als Innenraum wahrnimmt, der dann auch nicht länger mit dem historischen Ort des Kriegsverbrechens verwechselt werden darf. Um welchen Raum es sich dabei handelt, zeigt einmal mehr die zwar vielschichtige, letztlich aber durchaus zielgerichtete Ideenfindung des Gemäldes. Die architektonische Disposition von Guernica stimmt auch in ihren kleinsten Einzelheiten mit jener Darstellung überein, die Picasso in seinen frühen Skizzen zum Thema von Maler und Modell entworfen hat: Kurze, perspektivisch fluchtende Seitenstücke führen links und rechts in den Raum, Fußboden und Decke sind entsprechend angelegt; ein langgestreckter, kaum möblierter Saal ist auf diese Weise gebildet worden, der im linken Hintergrund geschlossen, rechts hingegen geöffnet wird, ganz am rechten Bildrand ist in beiden Fassungen eine Tür auszumachen. In den Entwurfszeichnungen war auf dieser Seite der Komposition außerdem ein Fenster vorgesehen, dieses ist im ausgeführten Gemälde durch die eingestülpte Architektur ersetzt worden. Möglicherweise war die am 1. Mai 1937 über den Künstler hereinbrechende Bildidee der »aufklärerischen« Frau mit den geschundenen Kreaturen einen Augenblick lang lediglich dazu ausersehen, die leere Fensterfläche mit einem Hinweis darauf zu füllen, dass Licht in die frankistische Kriegspropaganda gebracht werden müsse, um so auch das Problem politisch eindeutiger Stellungnahme zu lösen, doch dies muss reine Spekulation bleiben. Als gewiss kann jedoch gelten, dass Picasso im Zuge seiner neuen Skizzen das ursprüngliche Vorhaben einer Atelierdarstellung keineswegs verwarf, wie bislang einhellig angenommen wurde, sondern vielmehr die beiden nacheinander entwickelten Sujets mitein-

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ander verband. Der zuvor entworfene Raum, der nicht von ungefähr an Picassos Arbeitsstätte in der Rue des Grands-Augustins erinnert, bleibt unverändert bestehen und wird um architektonische Fragmente als Evokation eines sich außerhalb des Gebäudes vollziehenden Geschehens ergänzt; selbst die Ausstattung des kargen Saals mit elektrischem Licht wurde aus der Atelierszene in die endgültigen Entwürfe übernommen und die neu ersonnene Figurenkonstellation lediglich in die bereits bestehende Raumsituation eingesetzt. Der in Guernica dargestellte Ort ist demnach noch immer als Atelier aufzufassen, es wird in ihm vor Augen geführt, wie die Nachrichten über das Verbrechen in die Lebensund Arbeitswelt des Künstlers eindringen und ihn unmittelbar in die politischen wie publizistischen Konflikte des Frühjahrs 1937 verstricken, und selbst das anti-mimetische Axiom der Novelle vom unbekannten Meisterwerk bleibt – wie wir noch sehen werden – als Kern der Werkaussage in seiner ganzen ästhetischen Brisanz bestehen. Haben Text- und Bildberichterstattung in den Tagen und Wochen nach der Bombardierung Guernicas deren Umstände dokumentiert oder verleugnet, so fällt auf, dass Picasso in seinem Gemälde auf die Schilderung der zeitgeschichtlichen Vorgänge bewusst verzichtet hat. Der Künstler setzt dem Sachverhalt, dass selbst die schockierendsten Pressemeldungen und -fotografien offenbar nicht ausreichend waren, um die Wahrheit über das Ereignis zweifelsfrei zu bezeugen, seine Wahrheit entgegen: die Wahrheit der Malerei. Als Kunstwerk ist Guernica dabei nicht jenen Fakten verpflichtet, die für eine journalistische oder historiographische Aufarbeitung der Geschehnisse gelten müssen. Anders als Théodore Géricaults Floß der Medusa von 1819 oder Edouard Manets Erschießung Kaiser Maximilians von 1867–1869, die sich bei aller medialen Differenz dennoch – jedenfalls zunächst – um eine tagesaktuelle Rekonstruktion der Tatsachen bemüht hatten, formuliert Picassos Gemälde von Beginn an eine entschiedene Kritik an den zeitgenössischen Massenmedien. Durch die Komplexität seiner Anlage und die visuelle Verunsicherung eines Publikums, das angesichts des Wandbildes im Spanischen Pavillon ein wie auch immer gestaltetes Simulakrum der Zerstörung Guernicas erwarten musste, wird der Betrachter mit der Tatsache konfrontiert, dass hier Ereignis und Visualisierung auseinandertreten.34 Die Kluft festzustellen – und zu ertragen –, die zwischen der bildnerischen Evidenz des Leidens und einer Verweigerung dokumentarischer Schilderung besteht, appelliert an eine aktive Erkenntnisleistung: Der zeitgenössische Betrachter musste sein bisheriges, journalistisch vermitteltes Wissen über das Geschehen unwillkürlich mit Picassos Ateliervision vergleichen und sich – so die unterstellte Intention des Gemäldes – zwischen der trügerischen Authentizität der Presse und der ästhetischen Interpretation der Bildenden Kunst entscheiden. Dabei veranstaltet Picasso mit seinem Werk alles andere als ein Bilderrätsel: Seine figürlichen Bedeutungsträger bedürfen keiner ikonographischen Analyse, symbolische, emblematische, mythologische oder allegorische Elemente sind im vollendeten Gemälde fast vollständig verschwunden; lediglich das Bild der Lampenträgerin rechnet mit einer allerdings allgemein verständlichen Konnotation aufklärerischer Provenienz, lediglich das Motiv der Pietà greift auf eine herkömmliche Figurenkonstellation zurück, die aller-

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dings im Bildgedächtnis der westlichen Welt zweifelsfrei verankert ist. Picassos Gemälde richtet sich daher nicht allein an ein gebildetes, an ein intellektuelles Publikum, es richtet sich – jedenfalls seiner Absicht nach – auch und gerade an das Volk, dessen politischer Kampf und dessen soziale wie kulturelle Vitalität das Thema der gesamten Inszenierung des Spanischen Pavillons bilden: Das Massenmedium des Wandbildes wird gegen das Massenmedium der Presse aufgeboten. Eine parteipolitische Stellungnahme zugunsten der Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten zu manifestieren, musste dem Künstler im Hinblick auf die blutigen Konflikte auch innerhalb der spanischen Linken schwerfallen. Und doch ist Guernica keineswegs als unpolitisches Kunstwerk aufzufassen. Die »ikonische Differenz« (Gottfried Boehm) zwischen Mensch und Bild, zwischen Gegenstand und Artefakt, das zentrale Thema von Balzacs Novelle, wird in Picassos Gemälde auf die Gattung des Historienbildes übertragen und erhält dadurch seine aufklärerische Dimension.35 Das geschichtliche Ereignis kann im Bild nicht geschildert werden, nein, Picassos Komposition liefert nicht einmal eine konsistente narrative Szene, es unterlegt der sinnlosen Tat weder ein religiöses noch ein politisch-historisches Heilsversprechen. Das Kunstwerk macht allerdings mit jedem Pinselstrich auf diese Darstellungs- und Sinnverweigerung aufmerksam, es stellt dem Betrachter anstatt naiver Abbildlichkeit ausdrucksstarke Chiffren von Leid und Anklage vor Augen und fordert ihn dazu auf, nicht den Aussagen einer Presse zu verfallen, die ihrerseits durchaus beansprucht hatte, die Ereignisse zu objektivieren: Wirkung wird gegen Wirklichkeit gestellt, Komposition gegen Agitation, die Wahrheit der Malerei gegen die Demagogie der Propaganda. Erst jetzt wird deutlich, warum Picasso seine Figuren in den Kontext eines Ateliers setzen wollte, denn auf diese Weise konnte er hervorheben, dass es der Betrachter in seinem Gemälde keineswegs mit einem unmittelbaren Verbildlichungsversuch der tatsächlichen Ereignisse zu tun hat, sondern mit eben jenen subjektiv verzerrten Visionen, die den Künstler – geschult an den eigenen surrealistischen Tendenzen der späten zwanziger Jahre – bei der Arbeit an seinem Wandbild überfielen. Frenhofer war an seinem Vorhaben gescheitert, das lebendige Bildnis eines individuellen Menschen zu erschaffen, sein Blick auf das Modell wurde zu einer Halluzination, die für jeden anderen Betrachter unter den Schichten verzweifelter peinture verborgen blieb. Picasso hingegen erkennt die Gefahren eines solchen hybriden Unterfangens und strebt daher gar nicht erst an, das Geschehen des Kriegsverbrechens in die Gattung eines traditionellen Historienoder Ereignisbildes zu überführen; in seiner Version der Geschichte gehen die ästhetischen Reflexionen über das heikle Gestaltungsproblem einer authentischen Visualisierung historischer Vorgänge folgerichtig in das Gemälde selbst ein und liefern so dessen einzig mögliche zeitgemäße Lösung: das Bild als Meta-Historie. Gewiss: Viele Künstler und Intellektuelle seiner Generation sind zur Verteidigung der Republik aus aller Welt nach Spanien aufgebrochen, doch Picasso zog es vor, mit den Mitteln seiner Kunst auf die Ereignisse zu antworten und gegen die Zerstörungen des Bürgerkrieges ein konstruktives, vitales Gegenbild aufzubieten. Der Schriftsteller und

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Kunsthistoriker Carl Einstein, der selbst bereits im Sommer 1936 unter Einsatz von Leib und Leben in den Kampf um die Freiheit eingegriffen hatte und vielleicht nicht an den Möglichkeiten von Kunst und Literatur verzweifelt wäre, hätte er nur Picassos Guernica im Original sehen können, schrieb am 6. Januar 1939 aus Barcelona an den befreundeten Maler, dass die spanischen Arbeiter dessen Kunst sehr genau verfolgen würden und wüssten, »dass Sie fest an der Seite Ihres Landes marschieren«.36 In der Tat marschiert der Künstler mit seinem Gemälde fest an der Seite der Spanischen Republik und ihrer Verteidiger, er ergreift die Partei der Opfer des Bürgerkrieges, für die er seine Vision von Schmerz und Leid erlitten hat und ruft zu internationaler Solidarität auf. Aber Picasso ergreift auch die Partei der Malerei und ihrer Leistungsfähigkeit: Malen ist für ihn, und das nicht nur im Fall von Guernica, ein politischer Akt.

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IM ANGESICHT DES HOLOCAUST FELIX NUSSBAUMS »TRIUMPH DES TODES« ALS ALLEGORIE DER ZEITGESCHICHTE Maike Steinkamp

Es ist kein fröhlicher Tanz, zu dem die von Felix Nussbaum im April 1944 gemalten Gerippe in seinem Bild Triumph des Todes aufspielen (Abb. 132). Das Gemälde scheint vielmehr eine prophetische Vorschau auf das bevorstehende Ende zu sein, auf den Nussbaum durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die nationalsozialistische Judenverfolgung schon lange drohenden Tod. Kein anderer Künstler hat dem Betrachter mit seinen Werken das Schicksal der während des nationalsozialistischen Regimes Verfolgten in einerseits so allegorischer und andererseits doch so unmittelbarer Eindringlichkeit vor Augen geführt. Nie stellte Nussbaum dabei konkrete historische Ereignisse oder Situationen dar oder dokumentierte die Schrecken des Zweiten Weltkrieges als gesamtgesellschaftliches Phänomen. Stattdessen setzte er sich in seinen Gemälden mit seiner persönlichen Situation als exilierter Jude im besetzten Belgien auseinander, was ihn jedoch automatisch zu einer Identifikation mit anderen europäischen Juden in dieser Zeit führte, deren Hoffnungen und deren Ängste vor Verfolgung und Tod er teilte. Doch ist es gerade die persönliche Offenbarung, die Nussbaums Bildern bis zuletzt innewohnt, die dem Betrachter über das Leid des Individuums hinaus zumindest in Ansätzen ein Begreifen der nationalsozialistischen Gräueltaten, den durch den NS-Staat forcierten Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben, ihre Isolation ebenso wie die zunehmende Angst vor Deportation und Tod ermöglichen. Der Triumph des Todes ist das letzte Bild, das Felix Nussbaum vor seinem Abtransport nach Auschwitz am 31. Juli 1944 malte, wo bis zur Befreiung des Lagers durch die sowjetische Armee im Januar 1945 über eine Million Juden einen qualvollen und sinnlosen Tod starben.1 Die Szenerie auf dem Gemälde gleicht einem Schlacht- und Trümmerfeld: Die

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132 Felix Nussbaum: Triumph des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz), 1944, Öl auf Leinwand, 100 × 150 cm, Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus

Ruine eines Hauses, Reste einer Mauer, hinter der verkrüppelte und blattlose Bäume hervorragen, Stufen zu einem Eingang, der nicht mehr existiert, ein Gesims, Säulenfragmente, ein zerbeultes Autowrack, eine Panzerabwehrkanone und Teile von Stacheldraht zeugen von Zerstörung und Verderbnis. Im Bildvordergrund türmen sich Relikte aus Wissenschaft und Technik, ein Globus, Messgeräte, eine Schneiderpuppe, eine Uhr sowie andere technische Gerätschaften wie Telefon, Schreibmaschine, Mikroskop oder Zirkel. Aber auch Zeichen der Bildenden Künste lassen sich finden, Noten eines populären englischen Schlagers der Zeit, Spielkarten, ein aufgeschlagenes Buch, eine abgespulte Filmrolle, ein Malkasten, eine Palette, eine Mappe mit Zeichnungen sowie Gemälde und Skulpturenfragmente. Doch vieles ist zerbrochen, nicht mehr funktionstüchtig oder ist seines ideellen Wertes beraubt. Es sind nur noch Relikte einer Zivilisation, die in Trümmern liegt. Viele der Gegenstände stammen aus Nussbaums Alltag oder Bilderwelt und sind mit Erinnerungen an Personen und Ereignisse in seinem Leben verknüpft.2 Doch gehen die Objekte über den persönlichen Bezug des Malers zu ihnen weit hinaus, vielmehr stehen sie in ihrem ruinierten Zustand für die Vergänglichkeit des Lebens und die von Nussbaum empfundene Verwüstung der Kultur allgemein. Auch Justitia, die Rechtsprechung, ist außer Kraft gesetzt. Ihr Kopf mit den traditionell verbundenen Augen im linken Bildvordergrund ist halb abgeschlagen, die Waagschale ist ihr aus der Hand gefallen und schwingt, aus dem Gleich-

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gewicht geraten, hin und her. An dem mit schwarz-braunen Wolken verhangenem Himmel fliegen Unheil verheißend und ihrer Halteleinen beraubt, Papierdrachen mit grimmigen, ängstlichen und regungslosen Gesichtern umher. Sie scheinen den Fortgang der unheimlichen und beängstigenden Szenerie am Boden zu beobachten. Inmitten dieses Trümmerfeldes spielen die Toten zum Tanz: Von links marschieren ein Skelett im schwarzen Kleid und drei in weiße Gewänder gekleidete Gerippe musizierend über den unebenen Grund und die zerstörten Relikte der Gesellschaft. Im rechten Bildvordergrund setzt ein mit zerfetztem schwarzem Hemd und rotem Überwurf bekleideter Toter auf den Fragmenten einer Säule zum Geigen an. Doch ein schöner Klang ist nicht zu erwarten, die Saiten des Bogens und des Instruments sind zerrissen. Aus dem Hauseingang des zerstörten, klassizistisch anmutenden Baus am rechten Bildrand bläst ein weiteres Skelett scheinbar zum Appell. Anders als seine Mitspieler ist dies ein richtiger Knochenmann. Seine Gebeine sind nicht mehr, wie bei den anderen Skeletten, mit Haut und vereinzelten Haarsträhnen überzogen, eine Eigenart die auf Bildern mittelalterlicher Totentänze durchaus üblich war. Auch bei der Wahl der Instrumente orientiert sich Nussbaum an den mediävalen Darstellungen: Flöten, Schalmeien, Trommeln, Pauken und Trompeten, sie alle wurden seit dem Mittelalter mit dem Tod in Verbindung gebracht.3 Hinter dem Gebäude steht, leicht versteckt, eine Gruppe von Toten in langen Gewändern, das Spektakel im Bildvordergrund scheinbar ignorierend oder dessen Ende abwartend. Am auffälligsten ist jedoch eine musizierende Dreiergruppe im Mittelpunkt des Gemäldes, die Nussbaum schon in seinen Vorstudien als solche angelegt hatte.4 Vorneweg lärmt ein in einen zerrissenen hellen Anzug gekleideter Totenmann auf einem Schlagzeug, ausgestattet mit Pauke, Becken und Triangel. Er unterscheidet sich von den übrigen bisher beschriebenen Skeletten durch sein bürgerliches Habit; noch scheint er sich auf der Schwelle zwischen Leben und Tod zu bewegen. Um so erstaunlicher ist es, dass er nicht nur durch seine zentrale Stellung in der Mitte des Bildes, sondern vor allem durch das von ihm gespielte Rhythmusinstrument den Ton des Endzeitkonzertes vorzugeben scheint. Ganz anders die schräg rechts hinter ihm befindliche Person, die in ihrer zerrissenen Jacke hinter einer Drehorgel sitzt; als einzige weist sie noch menschliche Gesichtszüge auf, doch auch ihr Antlitz zeigt schon Spuren des Verfalls: Der Blick ist ohne Regung, die Wangen sind eingefallen, das Haar schütter und der Körper ausgemergelt. Im Gegensatz zu den fröhlich musizierenden Skeletten bleibt ihr Instrument stumm. Die Kurbel der Orgel fehlt und die Räder, die schief auf dem unebenem Grund stehen, sind zerbrochen. Doch der Orgelspieler scheint das Interesse am Spiel ohnehin verloren zu haben. Resigniert stützt er seinen Kopf mit abgemagerter Hand auf dem Leierkasten ab. Der Physiognomie nach ist es der Künstler selbst, der sich hier porträtiert. Noch ist er nicht selbst zum Skelett geworden, doch ist der Tod nicht mehr weit. Als zusätzliches Indiz seines zu erwartenden Endes steht hinter der Selbstdarstellung des Künstlers ein schwarz gewandetes Skelett mit weißen Engelsflügeln: der Todesengel. Er hat in seinem Spiel innegehalten und sucht als einzige Figur im Bild den Blick des Betrachters. Doch überspannen seine weißen Flügel nicht nur

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die Gestalt des Künstlers, auch der Schlagzeuger wird von ihnen überfangen. Der Tod ereilt jeden, ganz gleich ob er im gesellschaftlich-politischen Todesspiel den Ton angibt oder sich resigniert aus diesem zurückgezogen hat. Die damit beschriebene Unausweichlichkeit des Todes wird mit der Fortführung des Motivs der Todesengel in der Mitte des Bildhintergrunds unterstrichen, wo zwei schwarz gekleidete Figuren am Himmel kreisen und Ausschau nach den nächsten Opfern halten, um diese in den Tod zu begleiten.

SELBSTBILDNIS ALS SPIEGEL DER HISTORISCHEN SITUATION Das Motiv des Leierkastenmanns hat Nussbaum bereits in früheren Gemälden als Verweis auf die von ihm als künstlerische Einschränkung empfundene Situation im Exil und die Unbeständigkeit des Künstlerdaseins verwandt.5 In einen eindeutigen Zusammenhang mit dem Tod stellte Nussbaum den Orgelmann erstmals auf dem gleichnamigen Gemälde von 1942–1943 (Abb. 133). Anders als im Triumph des Todes erscheint die Person dort jedoch noch nicht wie ein Toter, auch wenn die eingefallenen Wangen, der dem Betrachter zugewandte müde und gleichsam resignierte Blick und die einfache Kleidung auf die physischen und psychischen Anspannungen während des Krieges verweisen. Schon hier hat der Leierkastenmann aufgehört zu spielen: Er möchte nicht in die Todesmusik einstimmen, die durch die aus Knochen bestehenden Flöten seiner Orgel symbolisiert werden. Ein konstruktives künstlerisches Arbeiten scheint sowieso nicht mehr möglich, der Antrieb, die Kurbel seiner Orgel, fehlt schon hier. Um den Drehorgelmann häufen sich die Zeichen des Todes. Hinter ihm erstreckt sich eine enge Straßenflucht zerstörter Häuser, aus deren Fenstern zerfetzte schwarze Fahnen hängen, die Pestfahnen gleichen.6 Stücke von Stacheldraht, Fetzen einer Zeitung, Steine aber auch Teile von Skeletten liegen herum; rechts an einer Häuserwand lehnt ein nur noch aus Knochen bestehender Unterkörper, nicht weit davon entfernt ruht vor einer dorischen Säule ein Schädel. Weitere Gebeine liegen auf einem Steinhaufen; links im Bild reckt sich ein skelettierter Arm aus dem aufgebrochenen Pflaster empor, neben dem ein zweiter Schädel auf der Straße ruht. Die Zeichen des Zusammenbruchs, der Verrohung und Zerstörung sind allgegenwärtig, die »abendländische« Kultur steht vor ihrem Aus. Davon kündet nicht zuletzt die zerbrochene Säule am Hauseingang, wie der Totenkopf ein Vanitas-Motiv. Ein Verweis, der im Triumph des Todes mit der Vielzahl der zerstörten Relikte der Kultur und der ihnen inhärenten Symbolik auf die Spitze getrieben wird. Auch stellt sich Nussbaum dort, anders als im Orgelmann erstmals selbst als Musikant dar. Allerdings ist es nicht ungewöhnlich für Nussbaums Schaffen, dass er sich in Form eines Selbstporträts in seine Gemälde integriert. Sein gesamtes Œuvre ist geprägt von der künstlerischen Auseinandersetzung mit sich und dem Zustand, in dem er sich befindet. Vor allem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933, die sogleich gezielte Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung mit sich brachte, und der Nussbaum auf-

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133 Felix Nussbaum: Orgelmann, 1942–1943, Öl auf Leinwand, 102 × 83 cm, Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus

gezwungenen Exilsituation zunächst in Italien dann in Belgien, nahmen solche Selbstbeobachtungen einen immer größeren Stellenwert in seinem Schaffen ein.7 Zurückgeworfen auf sich selbst, musste er sich, seine Ängste und seine persönliche Lage immer wieder neu befragen, um dem von ihm empfundenen Identitätsverlust entgegenzuwirken. Doch unterscheiden sich diese früheren Selbstbildnisse insofern von seinen späteren Arbeiten, als dass Nussbaum sich darin in erster Linie um die Ergründung seiner Selbst, seiner Empfindungen und um die Verortung der eigenen Person bemühte. Insbesondere in der Porträtserie der Jahre 1935–1936 hält er seine unterschiedlichsten emotionalen Regungen

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fest und verleiht damit nicht zuletzt der von ihm empfundenen Vereinzelung, Maskerade und Verstellung im Exil Ausdruck.8 Dieser isolierte Blick auf sich selbst, auf seine innere Befindlichkeit und Rolle als Künstler ändert sich spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 und dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien weniger als ein Jahr später, am 10. Mai 1940. Hatten Felix Nussbaum und seine Lebensgefährtin Felka Platek zuvor in ihrem 1935 gewählten Exil in Brüssel ein relativ unbehelligtes Leben führen können, waren die Maßnahmen gegenüber der jüdischen Bevölkerung nach der Besatzung sehr restriktiv geworden. Ein erstes Anzeichen dieses Wandels waren die von der deutschen Militärverwaltung in Belgien am 28. Oktober 1940 erlassenen Verordnungen, die zum einen eine Registrierung aller Juden in Belgien vorsah, zum anderen deren Ausscheiden aus öffentlichen Ämtern und Stellungen regelte.9 Die Maßnahmen waren nur der Anfang einer ganzen Reihe von Gesetzen und Verordnungen, mit denen die nationalsozialistische Judenpolitik des Reichsgebiets auf die Verhältnisse in Belgien übertragen wurde und welche die Lebensmöglichkeiten der jüdischen Bevölkerung immer weiter einschränkten und schließlich nahezu bis zur Unmöglichkeit erschweren sollten. Mit der Einführung der nächtlichen Sperrstunde im August 1941, dem Verbot der Wohnsitzänderung, dem Ausschluss aus dem Wirtschaftsleben, den Enteignungen jüdischen Vermögens und der Einführung des Judensterns am 27. Mai 1942 wurde die jüdische Bevölkerung schließlich gänzlich aus dem öffentlichen Leben gedrängt, entrechtet, enteignet und stigmatisiert.10 Am öffentlichen Leben hatten Nussbaum und seine Frau zu diesem Zeitpunkt schon länger nicht mehr teilgenommen. Zwar besaßen sie noch ihre belgischen Fremdenpässe, doch waren diese mit der Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1941, die den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft von im Ausland lebenden deutschen Juden umfasste, ebenso ungültig wie ihre deutschen Ausweise.11 Und gerade für Juden ohne Staatsbürgerschaft eines westeuropäischen Staates verschlechterte sich die Situation in Belgien drastisch. Spätestens seit 1941–1942 lebten Nussbaum und seine Frau aus Angst vor Entdeckung versteckt in ständig wechselnden Unterkünften. Sowohl ihr gesellschaftlich-sozialer als auch ihr künstlerischer Handlungsspielraum hatte sich immer mehr verringert, was sich eindrücklich an Felix Nussbaums Bildern ablesen lässt, die seine beengende und beängstigende Lebenssituation dokumentieren. Vermutlich waren es nicht zuletzt seine Erfahrungen im Internierungslager im südfranzösischen St. Cyprien 1940, wohin die belgischen Behörden nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht und vor ihrer Kapitulation alle in Belgien lebenden Männer mit deutscher Staatsbürgerschaft brachten, egal ob Nationalsozialist oder Flüchtling, durch die Nussbaum sich und sein persönliches Schicksal als Teil des kriegerischen Weltgeschehens begriff und diese Erfahrungen in seinen Bildern zu verarbeiten begann. Hatten seine Gemälde vor der Emigration, während seiner Berliner Periode, noch keinen aktuellen gesellschaftskritischen Bezug, so entwickelten sich seine einem moderaten, sachlich-realistischen Modernismus verpflichteten Bilder über die zunehmende Beschäftigung mit sich und seiner ganz persönlichen Situation im Exil zu

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einem Spiegel der politischen und sozialen Gesamtlage und deren Konsequenzen für die jüdische Bevölkerung. Auch wenn Nussbaums Bilder ihren selbstreflexiven Charakter nie verloren, scheinen für ihn die dokumentarische Aussage und Lesbarkeit seiner Gemälde immer wichtiger geworden zu sein. In seiner gleichsam narrativen wie allegorischen Formensprache, die von der Pittura Metafisica eines Giorgio de Chirico und der Archaik eines James Ensor und Carl Hofer beeinflusst ist, zollt er damit sowohl der politischen Realität als auch seiner inneren Befindlichkeit Tribut. Das Selbstporträt bleibt dabei ein konstitutives Moment seiner Kunst, jedoch taucht es nach 1940 vor allem innerhalb von Gruppendarstellungen auf, in denen Nussbaum sich ausdrücklich als Teil der jüdischen Exilanten und Opfer der deutschen Judenpolitik definiert.

VORAHNUNG DES EIGENEN TODES Ausdrücklich ist dies zum ersten Mal im Gemälde Der Sturm (Die Vertriebenen) von 1941 der Fall (Abb. 134). Eine Gruppe von Menschen, alte und junge eng zusammengedrängt, haben sich auf einem Platz zwischen zwei leblosen Bäumen versammelt. Von einem der Äste baumelt ein Strick, der Hinweis auf die Gegenwärtigkeit des Todes. Aus verschiedenen Richtungen – so suggerieren die kurvigen Wege im Bildhintergrund – sind die auf dem Platz versammelten Menschen unter dem »Sturm« der Tyrannei des Nationalsozialismus zusammengekommen, der durch Blitz und Donner hervorgehoben wird. Einer von ihnen trägt ein Bündel mit seinen Habseligkeiten, ein anderer sitzt auf einer Kiste, die möglicherweise sein Gut enthält. Allen gemein ist die zerrissene und ärmliche Kleidung, die von dem beschwerlichen Weg zeugt, der hinter ihnen liegt. Um die Menschengruppe herum tobt das Gewitter. Die Gesten und die Mimik der Menschen verraten Verzweiflung, Angst und Resignation. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man Nussbaums Physiognomie inmitten der Menschen; er ist einer der Flüchtenden und Getriebenen. Der Verweis auf den Tod, die Ängste und Strapazen der Exilanten, die Nussbaum in seinem 1941 entstandenen Gemälde Der Sturm anklingen lässt, sollten sich in seinen Bildern der folgenden drei Jahre weiter verstärken – mit gutem Grund. Seit Beginn des Krieges hatte das nationalsozialistische Regime nicht nur mittels Entrechtungen und Enteignungen seine Judenpolitik massiv radikalisiert. Bereits 1939 fanden in Polen erste Morde an der polnischen und polnisch-jüdischen Bevölkerung statt. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 nahm die Situation aller im deutschen Machtgebiet lebenden Juden durch die Wendung der NS-Führung zum systematischen Völkermord eine neue Dimension an.12 Zwar war die Besatzungspolitik im Westen, anders als in den besetzten Gebieten im Osten, zunächst nicht mit Umsiedlung und Massenmord verbunden, dies änderte sich jedoch spätestens mit der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, auf der die systematisierte und verwaltungsmäßig organisierte »Endlösung der Judenfrage«, also die Deportation und Ermordung aller europäischen Juden, koordiniert wurde.13 Adolf Eich-

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134 Felix Nussbaum: Der Sturm (Die Vertriebenen), 1941, Öl auf Leinwand, 87 × 101 cm, Osnabrück, Privatbesitz

mann, Leiter des Referats für »Judenangelegenheiten« im Reichssicherheitshauptdienst und damit einer der Hauptverantwortlichen für die Deportation von über vier Millionen Juden in die Ghettos und Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges, informierte im Juni 1942 die verantwortlichen Stellen in Frankreich, den Niederlanden und Belgien über die »Evakuierung«. Bereits im darauf folgenden Monat ergingen in Belgien »Arbeitseinsatzbefehle« an 10.000 Juden, die sich in dem neu eröffneten Polizei- und Durchgangslager in Malines (Mechelen) zusammenfinden sollten. Betroffen waren zunächst staatenlose Juden, die jedoch neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung in Belgien ausmachten. Knapp einen Monat nach der Eröffnung des Lagers, am 4. August 1942, verließ der erste Judentransport das Land Richtung Auschwitz; siebenundzwanzig weitere Züge sollten folgen.14 Nussbaum konnten diese Entwicklungen und die mit dem »Arbeitseinsatz« verbundenen Hintergründe der NS-Judenpolitik nicht verborgen geblieben sein. Die im Sommer 1942 einsetzenden Razzien, mit denen die Juden aufgespürt werden sollten, die sich dem

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Felix Nussbaum: Die Verdammten, 1944, Öl auf Leinwand, 101 × 153 cm, Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus

Aufruf widersetzten, dürften ihn und seine Frau vielmehr in höchste Alarmbereitschaft versetzt haben.15 Die immer lebensbedrohlicher werdende Situation für die im Exil lebenden Juden ebenso wie die unmittelbaren Erfahrungen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik durch die Verhaftung seiner im Amsterdamer Exil lebenden Familie, ließen für Nussbaum ein Entrinnen aus dem rassenideologisch motivierten Völkermord immer unwahrscheinlicher werden.16 Die Vorahnung des eigenen Todes behandelte Nussbaum eindrücklich in seinem im Januar 1944 geschaffenen Gemälde Die Verdammten (Abb. 135). Im Vordergrund des Bildes hat sich eine Gruppe von zwölf Menschen versammelt, die durch ihre Anzahl auf die zwölf Stämme Israels verweisen könnten. Sie alle haben ausgemergelte Gesichter und Körper und tragen zerrissene Kleidung; ihre emotionsgeladenen Physiognomien reichen von Trauer über Angst bis hin zur Verzweiflung. Wie im Gemälde Der Sturm ist der Künstler auch hier Teil der Gruppe. Anders als die übrigen Menschen ist er nicht frontal, sondern im Profil dargestellt, wobei er sein Gesicht in Richtung des Betrachters dreht und diesen zu fokussieren scheint. Auch in Realismus und Detailgenauigkeit unterscheidet sich das Selbstporträt von den anderen Teilnehmern der Gruppe. Es erinnert an das im August 1943 vollendete Selbstbildnis mit Judenpass (Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus). Doch anders als dort sind der bürgerliche Hut und der Mantel zerrissen, und die ihm von außen durch Gesetzgebung und Propaganda auferlegte Stigmatisierung in Form des Judensterns und Judenpasses fehlen. Doch auch ohne diese Symbole

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der Diffamierung bleibt seine Zugehörigkeit zu den »Verdammten« offenkundig. Die Trümmer der Stadt, Bretterverschläge und hohe Mauern schließen ihn und die übrigen im Bild versammelten Personen ein. Aus den Fenstern der rechts im Hintergrund sichtbaren Straßenschlucht mit hohen Stadthäusern hängen zerfetzte schwarze Fahnen; ein Detail, welches Nussbaum schon in dem Gemälde des Orgelspielers nutzte. Die Straße ist verwaist, Sargträger marschieren, gebeugt von ihrer Last, von rechts kommend in das Bild hinein. Sie tragen offene, noch leere mit Nummern gekennzeichnete Holzsärge auf ihren Schultern. Es gibt kein Entrinnen vor dem Tod mehr, so die Aussage des Bildes. Diese Interpretation wird von zwei in kindlichem Strich gezeichneten Skeletten unterstrichen, die hinter der Menschengruppe auf der Häuserwand erscheinen.

GESCHICHTE ALS TOTENTANZ Als unumstößliche Tatsache manifestiert Nussbaum diesen Gedanken dann im Triumph des Todes, in dem er den Totentanz zum zentralen Motiv erhebt. Anders als im Bild Die Verdammten haben Tod und Zerstörung hier vollends die Herrschaft übernommen. Mit der Wahl des Themas stellt sich Nussbaum in die Tradition von Totentänzen, die vor allem in den großen abendländischen Krisenzeiten – während der Pest im Spätmittelalter oder in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges – Konjunktur hatten, jedoch auch in späteren Jahrhunderten immer wieder aufgegriffen und in Bezug zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage gesetzt wurden.17 Die mahnende und moralisierende Wirkung dieser Darstellungen beruhte nicht zuletzt auf ihrer kontrastiven Verknüpfung von Leben und Tod. Indem die Gerippe die intensivste Form des Lebens, den Tanz, nachahmten, wurde der Tod zu einer burlesken Imitation des Lebens.18 Nussbaum nimmt in seinem Gemälde das in den traditionellen Totentänzen genutzte Motiv der tanzenden und gleichzeitig musizierenden Skelette auf, das spätestens mit der um 1488 von Heinrich Knoblochtzer in Heidelberg herausgegebenen Holzschnittfolge, dem sogenannten »Heidelberger Totentanz«, eine immer größere Rolle spielte (Abb. 136). Wie auch in späteren Totentanz-Zyklen, beispielsweise in der 1538 publizierten Holzschnittfolge Hans Holbeins, macht eine Gruppe trompetender und trommelnder Gerippe in und vor einem Beinhaus den Auftakt zu einem wahren Reigen von einzelnen Skeletten, die verschiedene weltliche und geistliche Standesvertreter in den Tod begleiten.19 Im Tod sind alle gleich, so die moralischen Maximen, die jede Illustration im Heidelberger Totentanz kommentieren. Gleichgültig ob Papst oder Wucherer, ob junge Frau oder alter Mann, alle wird der Tod einholen, und deshalb sollte man sich schon zu Lebzeiten darum kümmern, so der Vers zum zweiten Blatt des Zyklus, ein besserer Mensch zu sein, von den Sünden abzulassen und Gottes Gnade zu erlangen. Um ein Erringen von Gottes Gnade geht es in Nussbaums Werk nicht mehr. Vielmehr ähnelt seine Interpretation jenen durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg veranlassten

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Heinrich Knoblochtzer (Verleger): Heidelberger Totentanz, Blatt 1 und 2, um 1488, Holzschnitte, Heidelberg

Darstellungen, die mit dem Rückgriff auf die Totentanzthematik dem vom Menschen verursachten, entindividualisierten und unkontrollierbaren Massensterben des technisierten Kriegsterrors Ausdruck zu verleihen suchten. Otto Dix ist nur einer von vielen Künstlern, die sich dieses Motivs bedienten. In seinem 1923–1924 erschienenen fünfteiligen Mappenwerk Der Krieg macht er es zum Gegenstand eines Blattes.20 Mit realistischer Brutalität zeigt er in der Radierung Totentanz anno 17 (Höhe Toter Mann) das Massensterben der Soldaten in den Schützengräben, die mit ihren verdrehten, in den Stacheldrahtverhauen hängenden Körpern den Figuren tanzender Menschen ähneln (Abb. 137). Eher im übertragenden Sinne zeigt diese Illustration einen Totentanz, tritt der personifizierte Tod doch gar nicht in Erscheinung. Aber das ist auch gar nicht nötig: Im Zusammenhang mit den anderen Blättern der Mappe, die in drastischer Realistik Sturmtruppen in Gasmasken, halbverweste Leichen, gespenstische Trichterfelder, dem Wahnsinn verfallene Soldaten und entstellte Überlebende zeigen, versinnbildlicht sie auch ohne das Motiv des tanzenden Gerippes den unausweichlichen Tanz mit dem Tod während des Krieges. Auch der flämische Künstler Frans Masereel versuchte das Massensterben, die Schrecken und Folgen des totalen Krieges in Form eines Totentanzes zu verarbeiten. In

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137 Otto Dix: Totentanz Anno 17 (Höhe Toter Mann), 1924, Radierung, 35,3 × 47,5 cm, aus: Der Krieg, Mappenwerk mit 50 Radierungen, Verlag Karl Nierendorf, Berlin 1924

seinem 1941 erschienen Graphikzyklus Danse Macabre kommentiert er mit allgemeingültigem Anspruch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft (Abb. 138). Durch alle Blätter geistert die Gestalt des Todes, sie gießt Feuer über die Städte, blickt aus der Luke eines Panzers, führt Armeen oder Flüchtlingskolonnen an, gesellt sich zu den Trauernden und Verzweifelten oder schreitet über Leichenfelder. Es werden alle Register der Zerstörung gezogen: Brennende Städte, Flüchtlinge, sterbende Soldaten auf den Schlachtfeldern, Trauernde und Verzweifelte sind zu sehen. Masereels Skelette tanzen nicht, seine Graphiken sind keine allegorischen Verschlüsselungen, vielmehr will der Künstler die Schrecken des Zweiten Weltkrieges mit seiner industriellen Vernichtung dem Betrachter in den unterschiedlichsten Varianten ungeschönt vor Augen führen.21 Weder bei Dix noch bei Masereel oder den vielen anderen Totentanzdarstellungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt es sich um klassische Totentänze, vielmehr wird die Bildidee zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt neuer, zeitaktueller Formulierungen, in denen die der Totentanzsymbolik inhärente Unumgänglichkeit des Sterbens und die Machtlosigkeit der Menschen ihm gegenüber mit konkreten Zeiterscheinungen verknüpft werden.22 Anders als Dix oder Masereel greift Felix Nussbaum in seinem Gemälde Triumph des Todes traditionelle Elemente der mittelalterlichen Totentanzikonographie auf. Er lehnt sich an die charakteristische und den Sterbezyklus einleitende Darstellung der Beinhausmusik

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Franz Masereel: ohne Titel, 1941, Strichätzung, Doppelseite aus: Danse Macabre, Bern 1941

an und skizziert gerade damit auf allegorisierende Weise die Universalität und Unausweichlichkeit des Todes. Denn der Karner ist der Ort, an dem sich alle treffen: die längst Gestorbenen, die gerade Angekommenen und schließlich auch diejenigen, die noch kommen werden. Die musizierenden Skelette, deren Instrumente zum Großteil denen der mittelalterlichen Illustrationen entsprechen, erscheinen in Nussbaums Gemälde als Beweis des Triumphs über alles Lebendige und suggerieren den Untergang nach vollbrachtem Vernichtungswerk.23 Möglicherweise haben Nussbaum auch historische Parallelen in der Wahl der Totentanzthematik bestärkt. Die vom nationalsozialistischen Regime beförderte Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das Zerbrechen von Familienbindungen und Freundschaften, die oftmals fehlende Solidarität und die schamlose Bereicherung an herrenlosem oder widerrechtlich enteignetem Gut ebenso wie die Denunziation und Verfolgung der Juden zeigen Parallelen zum Verfall und Niedergang der Gesellschaft zu Zeiten der im Spätmittelalter grassierenden Pest. Gleichermaßen fühlt man sich bei Nussbaums Todesvision an die allegorisierenden, moralisierend-grotesken Darstellungen in Pieter Brueghels Gemälde Triumph des Todes von etwa 1562 erinnert, auf dem hunderte Skelette die durch Brand und Krieg verheerte und verbrannte Landschaft durchstreifen und die gesamte Bevölkerung ohne Rücksicht auf die einzelnen Standesvertreter mit in den Tod nehmen (Abb. 139). Im Mittelpunkt des Gemäldes treibt ein senseschwingendes Gerippe auf einem ausgemergelten Pferd eine Menschenmenge in eine Art übergroßen Sarg. Auch die anderen Gerippe vollenden ihr Todeswerk: Sie morden, brandschatzen, randalieren, entweihen christliche Stätten und bereichern sich. Es ist ein opulentes Todespanorama, auf

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139 Pieter Brueghel d. Ä.: Triumph des Todes, 1562–1664, Öl auf Holz, 117 × 162 cm, Madrid, Museo del Prado

dem sich die mittelalterlichen Vorstellungen vom Sieg des Todes mit denen des Totentanzes auf einem Gemälde vereinen. Schon hier entspringt das Sterben in Abwandlung des apokalyptischen Motivs nicht mehr dem Willen Gottes, sondern den todbringenden Handlungen der Skelette. Wie in den Graphikzyklen von Otto Dix und Frans Masereel erscheint der von Menschenhand gebrachte Tod unaufhaltsam. Doch im Gegensatz zu all diesen Werken präsentiert Nussbaum in seinem Gemälde Triumph des Todes die Totalität und Brutalität kriegerischer Handlungen sowie den nationalsozialistischen Völkermord nicht als entindividualisiertes Massensterben. Vielmehr eröffnet er dem Betrachter seinen persönlichen Blick auf die Barbarei des NS-Regimes und die vom Künstler empfundene Ausweglosigkeit seiner Situation als exilierter Jude. Auffällig ist, dass ein direkter Verweis auf den Holocaust fehlt. Allein die gelblichen Farben, in denen das gesamte Bild gehalten ist, können als farbikonographischer Hinweis auf das Judentum gedeutet werden. Mit Hilfe einer analytischen und gleichsam allegorischen Bildsprache verknüpft der Künstler seine persönlichen Empfindungen und traumatischen Erfahrungen mit den ungeheuerlichen Geschehnissen der Weltpolitik, wodurch seine Bilder und insbesondere sein letztes Werk, der Triumph des Todes, zu einem Spiegel der Erfahrungen und Ängste der jüdischen Bevölkerung und damit zu einem Dokument dieser

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Zeit werden, in dem Krieg, Zerstörung, Elend und Tod über die Zivilisation triumphiert haben. Nussbaum scheint diese Tatsache und sein damit verbundenes Schicksal im Bild angenommen zu haben, sein Gemälde formuliert keine Anklage. Vielmehr weist der Künstler mit der Wahl der Totentanzthematik auf die Unausweichlichkeit des Todes für jeden Menschen hin, egal ob Opfer oder Rädelsführer. Nussbaums bildnerische Prophezeiung sollte sich bewahrheiten: Am 20. Juni 1944 wurden er und seine Frau Felka denunziert und verhaftet. Nur zehn Tage später, am 31. Juli, sind sie mit dem letzten Transport, der Belgien vor dem Einmarsch der Alliierten am 6. September 1944 von Brüssel aus verlassen sollte, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.

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EREIGNIS UND MEDIALITÄT ANDY WARHOLS »JACKIE (THE WEEK THAT WAS)« Michael Lüthy

»Als ich von meiner Operation heruntergebracht wurde, hörte ich irgendwo einen Fernseher laufen und immer wieder die Worte ›Kennedy‹ und ›Mörder‹ und ›erschossen‹. Robert Kennedy war erschossen worden, aber das unheimliche daran war mein Unverständnis, dass es sich um eine zweite Kennedy-Ermordung handelte – ich dachte einfach, sie würden dir die Dinge nach deinem Tod nochmals aufführen, wie eben Präsident Kennedys Ermordung. Einige Krankenschwestern weinten, und nach einer Weile hörte ich Dinge wie ›die Trauergemeinde in St. Patrick‹. Es war alles so seltsam für mich, dieser Hintergrund einer anderen Erschießung und einer Beerdigung – ich konnte sowieso noch nicht zwischen Leben und Tod unterscheiden, und hier war jemand, der im Fernsehen unmittelbar vor mir beerdigt wurde.« 1 Andy Warhols Erinnerungssequenz erzählt die Verschlingung der Realitäten, die ihm widerfährt, nachdem er am 3. Juni 1968, zwei Tage vor Robert Kennedy, selbst zum Opfer eines Attentats geworden war, das ihn beinahe das Leben gekostet hätte. In der Sequenz klingen entscheidende Aspekte der vier Jahre früher entstandenen Bilderserie der Jackies an, die dem »ersten« Kennedy-Mord gegolten hatte, demjenigen an John F. Kennedy (Abb.140). Der Erinnerungsbericht verdeutlicht das Verschwimmen der realen Ereignisse mit der praktisch synchron erfolgenden medialen Vermittlung, hier in Gestalt eines in Hörweite laufenden Fernsehers. Zugleich manifestiert sich jenes Wiederholungsmoment, das Warhols Ästhetik in so dominanter Weise prägt, auf unterschiedlichen Ebenen: zunächst in der Wirklichkeit als Verkettung zweier tödlicher Kennedy-Attentate und einem beinahe tödlichen Anschlag auf den Künstler selbst, sodann in der medialen Aufbereitung, welche dieselben Namen und Schlüsselwörter beständig wiederholt, und schließlich in Warhols

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140 Andy Warhol: Jackie (The Week That Was), 1964, Acryl, Sprühfarbe und Siebdrucktinte auf Leinwand, 203,2 × 162,6 cm, New York, Sammlung Samuel und Ronnie Heyman

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Phantasmagorie, das Vergangene werde einem, nachdem man gestorben sei, noch einmal aufgeführt. Des Weiteren verdeutlicht Warhols Erinnerung, wie sehr die dramatischen Vorgänge um Präsident Kennedys Ermordung eine ganze Nation traumatisierten. Sie gruben sich in einer Weise ins US-amerikanische Bewusstsein ein, die sie jederzeit reaktivierbar machte. Dass die Tat in entscheidenden Aspekten ungeklärt blieb, verstärkte die Traumatisierung, da auf die Ermordung des Hoffnungsträgers einer ganzen Generation die Unfähigkeit des Staates folgte, eine kohärente und glaubwürdige Aufklärung des Verbrechens zu gewährleisten. Den Vorgängen und ihren Protagonisten bescherte dies ein phantasmatisches Nachleben, das sich in immer neuen Recherchen und Verschwörungstheorien manifestiert. Einen zentralen Platz darin nahmen – und nehmen bis heute – die damals entstandenen Bilder ein. Ihre beständige Wiederholung verweist ebenso sehr auf das Unbewältigte der Ereignisse wie auf die Hoffnung, die Wahrheit habe sich irgendwo in sie eingeschrieben und könne ihnen zuletzt doch noch entrissen werden. Warhols Bilderserie der Jackies bearbeitet ein Stück Geschichte im Zeitalter der Medien, die auch hier ihr Janusgesicht offenbaren, die Ereignisse einerseits zu übermitteln und andererseits mitzuerzeugen. Zugleich ist Warhols Serie selbst ein Teil dieser Medien-Geschichte, indem sie wesentlich daran mitwirkt, das komplexe Geschehen zu einem wiederkehrenden Set einiger weniger Bilder gerinnen zu lassen. Die Durchdringung von Ereignis und Bild, welche die Gattung des Historienbildes auszeichnet, vollzieht sich in einer spezifischen Weise, die auf die neuartige mediale und psychologische Konstellation antwortet. Sie schafft weniger eine Fiktion des Geschehens, wie es im traditionellen Historienbild geschieht, vielmehr verfremdet sie bestehendes, von dritter Hand stammendes Bildmaterial. Auf diese Weise handelt sie genauso von den Ereignissen wie von deren medialer Spiegelung. Warhol gehört zu jenen nachmodernen Künstlern, welche die Welt nicht aus sich heraus gestalten, sondern ihre Konfrontation mit der Welt zum Thema machen. Entsprechend liegt seine künstlerische Leistung nicht in der Erzeugung neuer, sondern im pictorial design vorhandener Bilder.2 Im Verfremdungsprozess zeigt sich seine »Handschrift«, deren Eigenart hervortritt, wenn wir die Ereignisse jener vier Tage im November 1963 rekapitulieren und anschließend Warhols Umsetzung Schritt für Schritt nachverfolgen.

WARHOLS UMGANG MIT DEM DOKUMENTARISCHEN MATERIAL Am Freitag, den 22. November 1963 wird Präsident John F. Kennedy, der sich auf Vorwahlkampfreise durch Texas befindet, während der mittäglichen Paradefahrt durch Dallas im offenen Wagen erschossen. Die Ereignisse folgen darauf Schlag auf Schlag: Bereits drei Stunden nach dem Attentat wird Vizepräsident Lyndon B. Johnson an Bord des präsidialen Flugzeuges in Gegenwart der Witwe Jacqueline Kennedy vereidigt. Anschließend fliegt der neue Präsident unverzüglich nach Washington, um sich Kennedys Kabinett zu verpflich-

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141 Unbekannter Fotograf: John F. Kennedy und Jacqueline Kennedy auf dem Dallas Love Field Airport, 22. November 1963, Doppelseite aus: Life, 29. November 1963

ten und die Fortführung von dessen Politik anzukündigen. Kennedys Leiche, die in der Präsidentenmaschine mitflog, wird derweil einer Autopsie unterzogen, bei der bis heute umstritten bleibt, ob sie der Wahrheitsfindung oder aber -vertuschung über die Eigenart der Todesschüsse diente. Noch am Nachmittag dieses Freitags wird Lee Harvey Oswald als mutmaßlicher Täter verhaftet. Während des nachfolgenden Tages bleibt Kennedys Leiche im East Room des Weißen Hauses aufgebahrt, wo ihm Familienmitglieder und Vertraute sowie Vertreter der staatlichen Gewalten die letzte Ehre erweisen. Am Sonntag, den 24. November wird der Sarg in feierlicher Prozession zum Kapitol gebracht und in dessen Rotunde aufgestellt. Tausende nehmen dort bis in die Morgenstunden des nächsten Tages von ihrem Präsidenten Abschied. Während der Überführung vom Polizeihauptquartier ins Bezirksgefängnis von Dallas wird Lee Harvey Oswald, dessen Täterschaft keineswegs feststeht, vom Nachtklubbesitzer Jack Ruby erschossen. Am nächsten Tag, den Johnson zum nationalen Trauertag erklärt, wird Kennedys Sarg wieder zum Weißen Haus und weiter in die St. Matthew’s Cathedral zur Totenmesse gebracht. Zu Fuß folgen nicht nur die Familienmitglieder und die wichtigsten Repräsentanten des Staates, sondern auch eine große Zahl auswärtiger Staatsoberhäupter und Regierungschefs. Nach der Messe bricht eine lange Wagenkolonne zum letzten zeremoniellen Akt auf, dem Staatsbegräbnis auf dem Arlington National Cemetery.

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142 Unbekannter Fotograf: Lyndon B. Johnson mit Lady Bird Johnson und Jacqueline Kennedy bei der Vereidigung an Bord der »Air Force One«, 22. November 1963, Doppelseite aus: Life, 29. November 1963

Die Arbeit an der Serie der Jackies nimmt Warhol vermutlich unmittelbar nach den Ereignissen auf, und bereits Anfang Februar 1964, nur gut zwei Monate nach dem Attentat, entstehen die ersten Werke, unter ihnen als eines der frühesten Bilder Jackie (The Week That Was). Bis November desselben Jahres wächst die Serie auf über dreihundert Werke an, von Mehrtafelwerken wie dem hier besprochenen Bild über Triptychen und Diptychen bis hin zu Einzelbildern, von denen einige im Tondoformat gefertigt sind.3 Den ersten Schritt in Warhols pictorial design bildet die Entscheidung für bestimmte Vorlagenbilder, welche die Werke der Serie zu einer Mischung aus Historienbild und Porträt werden lassen. Warhol wählt acht Pressebilder, die jeweils auch die Gattin beziehungsweise Witwe des Präsidenten zeigen, schneidet jedoch um deren Kopf herum alles weg, was jeweils nicht nur den größten Teil des Bildes betrifft, sondern zuweilen auch dessen eigentlichen Fokus, beispielsweise Kennedy selbst oder den Nachfolger Johnson (Abb. 141–143).4 Der Künstler äußerte sich in einem Interview über dieses Verfahren: »In den […] Köpfen, die ich von Jacqueline Kennedy machte […], ging es darum, ihr Gesicht zu zeigen sowie den Ablauf der Zeit vom Augenblick, als die Kugel John Kennedy traf, bis zum Augenblick, als sie ihn bestattete.« 5 Die Ereignisse zeigen sich ausschließlich im Spiegel von Jacquelines Gesicht; das historische Narrativ verwandelt sich in eine Vier-Tage-Biografie. Durch das Herausreißen aus dem situativen Zusammenhang können die Bildreste dem

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143 Unbekannter Fotograf: Jacqueline Kennedy zwischen Justizminister Robert Kennedy und Senator Edward Kennedy beim Trauerzug zur St. Matthew’s Cathedral, 25. November 1963, Doppelseite aus: Life, 6. Dezember 1963

Geschehen nur noch vage zugeordnet werden. Es bleibt nicht viel mehr möglich, als die lachenden Gesichter der Zeit vor dem Attentat und die ernsten, teilweise verschleierten Gesichter der Zeit danach zuzuordnen. Seine Ausschnitte klebt Warhol ohne Rücksicht auf deren Chronologie in zwei Reihen untereinander, wobei das Ergebnis in Format und Aussehen jenen Fotokabinen-Streifen aus jeweils vier Bildern gleicht, die er kurz zuvor als Vorlagen für seine frühesten Auftragsporträts zu fertigen begann (Abb. 144).6 Dieser Bildblock wird fotomechanisch vergrößert und zu einem Drucksieb von zweihundert mal 160 Zentimetern verarbeitet, was bei den Einzelbildern ein Format von jeweils fünfzig mal vierzig Zentimetern erzeugt. Warhol lässt zudem ein weiteres Sieb fertigen, das die Bilder seitenverkehrt zeigt. In der Umwandlung der fotografischen Vorlagen zum Drucksieb wird die Bildqualität zielstrebig verschlechtert, der Kontrast übersteuert und die Körnigkeit erhöht; die entsprechende Anweisung an das Labor, die Bilder »very Black+White« zu verarbeiten, notiert Warhol auf der Vorlagencollage. Die zu bedruckenden einzelnen Leinwände werden in Gold, Blau oder Weiß grundiert und ebenfalls im Format von fünfzig mal vierzig Zentimetern gerahmt. Die verwendeten Farben verleihen der Serie einen feierlichen, beinahe heraldischen Klang, der sich innerhalb von Warhols Œuvre deutlich abhebt. Vielleicht stellt er einen Reflex auf die damals weit verbreitete Meinung dar, nie seien ein Präsident und seine First Lady dem so

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144 Andy Warhol: Bildvorlagen für die Serie »Jackie«, 1963–1964, Fotocollage und Bleistift auf Papier, 36,5 × 25,1 cm, Pittsburgh, The Andy Warhol Museum

nahe gekommen, was in Europa die Königshäuser seien. Beim Druckvorgang, den Warhol nur gemeinsam mit seinem Assistenten Gerard Malanga durchführen konnte, wurde das großformatige Sieb fixiert und bis auf das zu druckende Bild abgedeckt. Die gerahmten Leinwände wurden von unten herangedrückt, während die schwarze Drucktinte durch das Sieb gepresst wurde. Die hierbei zu beobachtende Nachlässigkeit, die Tinte ungleich zu verteilen, das Sieb kaum zu reinigen und schiefe Drucke hinzunehmen, steht in derselben ästhetischen Funktion wie die Entkontextualisierung der Bildschnipsel und deren fototechnische »Verschlechterung«: Die ursprünglichen Motive verlieren dadurch ihren journalistisch-dokumentarischen Wert, statt dessen erhalten die Bilder jene ambivalente Oberflächenerscheinung, wie sie Werke der Hochkunst auszeichnet.7

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Jackie (The Week That Was) ist nicht nur eines der frühesten Bilder der Serie, sondern das einzige Werk, das alle sechzehn (je acht seitenrichtige und seitenverkehrte) Bildvarianten und zugleich alle drei benutzten Farben aufweist. Indem es das vollständige Bildarsenal vorführt, aus dem sich alle weiteren Werke der Bilderfolge speisen, wird es gewissermaßen zum Referenzwerk der Serie. Dabei entfalten die sechzehn Tafeln ein intrikates Spiel von Identität und Differenz. So werden die Bilder in spiegelsymmetrische Varianten aufgespaltet, die teilweise auf die gleiche, teilweise auf andere Farben gedruckt wurden. Des Weiteren liegt dem Viererblock rechts unten dieselbe Fotografie zugrunde, die jedoch unterschiedlichen Presseveröffentlichungen entnommen wurde.8 Was wie ein Zoom auf Jacqueline Kennedys Gesicht wirkt, verdankt sich allein dem unterschiedlichen Format der Bildvorlagen, so dass die zwischen Ereignis und Wahrnehmung liegende mediale Zwischenschicht sich hier besonders deutlich manifestiert. Warhols Verfahren lässt aber nicht nur Identisches different erscheinen, sondern umgekehrt identisch werden, was als different zu erwarten wäre. Das betrifft insbesondere das Format der einzelnen Tafeln, das unberührt von dem jeweils Gezeigten stets gleich bleibt. Das arbiträre Moment in der Gestaltung der einzelnen Tafeln setzt sich in der Anordnung zum Gesamtbild fort.9 Vor allem missachtet sie, was für die sinnfällige Narration eines Historienbildes entscheidend ist: die chronologische Reihenfolge. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Anordnung der spiegelbildlichen Bildpaare Viererblöcke entstehen lässt, die jeweils einer Zeitstufe im Geschehensablauf entsprechen. Der Viererblock oben links zeigt die lachende Jackie, aufgenommen bei der Ankunft auf dem Dallas Love Field Airport sowie kurz danach bei der Fahrt durch Downtown Dallas. Die chronologisch anschließenden Tafeln, die Jackie noch am selben Tag bei der Vereidigung Johnsons an Bord der Air Force One zeigen, befinden sich nun aber nicht rechts daneben, sondern diagonal versetzt rechts unten. Damit werden beide möglichen Leseordnungen des Bildes hinfällig, sowohl eine im Uhrzeigersinn als auch eine nach »Textzeilen«. Die zeitlich nachfolgenden Tafeln platzierte Warhol in der rechten oberen Ecke; sie halten in zwei voneinander leicht abweichenden Kameraperspektiven den Augenblick fest, an dem sich die Präsidentenwitwe zum ersten Mal nach dem Attentat öffentlich zeigt, als sie den Portikus des Weißen Hauses betritt, um Kennedys Sarg zum Kapitol zu begleiten. Im Viererblock unten links schließlich sieht man auf der linken Seite die verschleierte Witwe, die den Trauerzug zur St. Matthew’s Cathedral anführt, und rechts, wie sie das Gotteshaus nach der Totenmesse wieder verlässt. Jackie (The Week That Was) weist also folgendes Datums-Schema auf: 22. 22. 24. 24. 22. 22. 24. 24. 25. 25. 22. 22. 25. 25. 22. 22.

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Das politisch und historisch höchst bedeutsame Geschehen der Ermordung des amerikanischen Präsidenten verkürzt Warhol folglich nicht nur auf die Wandlungen von Jaqueline Kennedys Gesichtsausdruck, auf ein biographical picture von Fröhlichkeit und Trauer. In einem zweiten Schritt nimmt der Künstler dieser bereits minimierten Geschichte auch noch ihre zeitliche Folgerichtigkeit.10

MEDIALE TRANSFORMATIONEN DER POLITIK Die vom Attentat ausgelöste Krise wird zumindest vom Fernsehen meisterlich bewältigt.11 Kurz nach Kennedys Tod beschließen die drei landesweit sendenden Kanäle ABC, CBS und NBC, alle laufenden und geplanten Programme auszusetzen und bis zum Begräbnis am Montag auf Direktsendung zu schalten. So entsteht die bis heute längste und aufwendigste Live-Sendung der Fernsehgeschichte: »Ich kenne nichts, was zuvor oder danach diese Spitzenleistung erreichte. […] Ich war für die gesamte Berichterstattung verantwortlich. Es war eine schwierige Aufgabe, aber jedermann kooperierte; wir hatten Kameras an allen Orten, wir hatten Leitungen von überall her – die Berichterstattung und die Zusammenarbeit des Fernsehens war einfach absolut großartig«, so beschreibt J. Leonard Reinsch, Kennedys Medienberater, die damalige Aufgabe.12 Die Vorfälle dieses Wochenendes transformieren sich bereits im Augenblick ihres Geschehens in ein Medienereignis, der historische Einschnitt der Ermordung Kennedys wird zum Höhepunkt der Fernsehgeschichte. Er schließt sogar einen sensationellen Live-Augenblick ein: Während ABC und CBS am Sonntag den eintönigen Vorbeizug der Trauernden am Sarg zeigen, schaltet NBC auf die Überführung Lee Harvey Oswalds ins Bezirksgefängnis. So können die Zuschauer dieses Senders dessen Erschießung in der Tiefgarage des Polizeihauptquartiers von Dallas unmittelbar mitverfolgen. Das Fernsehen dokumentiert das Geschehen nicht nur, sondern übernimmt zugleich eine bislang unbekannte Rolle im politischen und emotionalen Leben der Nation. Reinsch nennt sie die Herstellung einer »Gemeinschaft der Anteilnahme«, bei der zum Beispiel die Bilder von Kennedys Lieblingspferd Black Jack, das dem Sarg auf dem Weg zum Kapitol folgt, oder von seinem dreijährigem Sohn, der beim Wegfahren des Leichenwagens zum Friedhof salutiert, eine Schlüsselrolle spielen: »Alle – ob sie nun in Atlanta, Georgia, in New York City oder in Keokuk, Iowa, waren – empfanden und fühlten wie ein einziger Mensch. Sie fanden zusammen in ihrer Trauer um die ermordete Führerfigur, und sie spürten, dass sie an dieser tragischen Zeremonie beteiligt waren. […] Das Fernsehen brachte sie an Ort und Stelle. Der Anblick dieses reiterlosen Pferdes auf der Pennsylvania Avenue musste einem das Herz zusammendrücken, und den kleinen John-John salutieren zu sehen war schlicht ein weltweiter Gefühlsappell.«13 Der kontinuierliche Bilderfluss sollte den Schock des plötzlichen politischen Vakuums regelrecht überspielen. Einerseits wird die unverzügliche und unbestrittene Übertragung

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der Macht auf den Vizepräsidenten für alle sichtbar vorgeführt, andererseits Jacqueline Kennedy in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit gerückt: als Garantin der Kontinuität sowie als emotionale Identifikationsfigur, in deren Trauer und Tapferkeit sich die Gefühle der Nation spiegeln können. Geschieht auf der Washingtoner Trauerbühne gerade nichts Neues, was in diesen vier Tagen häufig der Fall ist, werden die vergangenen Szenen des Wochenendes erneut gezeigt. Die unablässige Wiederholung der Bilder und Meldungen wird, wie Zeitgenossen bezeugen, zu einem wesentlichen Bestandteil der Erinnerung an diese Zeit. Auch mit dieser Redundanz hilft das Fernsehen bei der Bewältigung des Unfassbaren. Zur media coverage der Ereignisse, wie es im Englischen so passend heißt, tragen auch die Printmedien bei, an erster Stelle die damals weltgrößte Wochenzeitschrift Life mit ihrer Auflage von knapp zehn Millionen Exemplaren. Die Ausgaben vom 29. November und 6. Dezember 1963 bringen ausführliches Bildmaterial über den Mord und die Trauerfeierlichkeiten, dem Warhol fünf der acht Vorlagenbilder entnimmt.14 Doch schon die nächstfolgende Ausgabe vom 13. Dezember markiert den vollzogenen Übergang. Auf dem Titelbild zeigt sich Johnson im Oval Office hinter dem präsidialen Schreibtisch, der Leitartikel trägt die Schlagzeile »Johnson on the Job«. Wie weit die stillschweigende Allianz zwischen Massenmedien und Regierungsbemühungen ging, um Ruhe und Sicherheit im Land zu gewährleisten – was nicht zuletzt bedeutete, die offizielle Darstellung von Lee Harvey Oswalds Einzeltäterschaft ohne jeden Verschwörungshintergrund zu stützen –, offenbart sich im Coup der Zeitschrift Life, die sich am Tag nach dem Attentat für eine hohe Geldsumme jenen Super-8-Film sicherte, den der Kleiderfabrikant Abraham Zapruder aus nächster Nähe am Tatort aufgenommen hatte und der bis heute das Hauptdokument für den Attentatsverlauf darstellt. Während das FBI die Kopien beschlagnahmt, erwirbt Life den Originalfilm und druckt in seinen Ausgaben vom 29. November und 6. Dezember einige der Einzelbilder ab, allerdings ohne die Einzelbildnummern, welche deren Reihenfolge beglaubigt hätten, sowie unter Auslassung derjenigen frames, welche die These von Oswalds Einzeltäterschaft hätten unterlaufen können.15 Mit einer Formulierung Jacques Derridas kann man den Bezug zwischen Ereignis und Medialität, so wie er sich in jenen Tagen darstellt, vielleicht am bündigsten erfassen: »Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt als Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer ›nachträglich‹, im Nachhinein und zusätzlich rekonstituiert wird.«16 Was die Leistung der Medien anbelangt, kam Kennedys Präsidentschaft zu einem würdigen Abschluss. Er war der erste Präsident, der die Bedeutung und die Möglichkeiten des neuen Mediums Fernsehens erkannt und zielstrebig eingesetzt hat. Insbesondere im Wahlkampf 1960 wusste er es klug zu nutzen. Dass Kennedy das erste und entscheidende der neu geschaffenen Fernsehduelle zwischen den Spitzenkandidaten gewinnen konnte, lag vor allem an seiner außerordentlichen Telegenität, die seinem Kontrahenten Nixon abging. Dank zugespielter Informationen der Fernsehgesellschaft CBS vermochte er diesen Vorteil

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auszubauen. Er hatte davon Kenntnis erhalten, dass die Studiowand, vor der die Redner während der Debatte stehen sollten, weiß gestrichen und der Auftritt von starken Scheinwerfern beleuchtet sein würde. So erschien er im dunklen Anzug und von einer Wahltournee in Kalifornien frisch gebräunt. Während er sich den Zuschauern auf diese Weise als »profilierte« Gestalt präsentieren konnte, verschwamm Nixon in seinem hellen Jackett förmlich im Hintergrund. Das grelle und heiße Scheinwerferlicht ließ ihn, der gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter sich hatte, wächsern und unrasiert erscheinen, die auf die Stirn tretenden Schweißperlen erzeugten den Eindruck geringerer Standfestigkeit. Die besseren Argumente, die ihm die politischen Kommentatoren danach zubilligten, unterlagen dieser optisch eindeutigen Situation. Eine Blitzumfrage nach dem Rededuell ermittelte bei denjenigen, welche die Debatte am Radio verfolgt hatten, Nixon als Sieger, während die schätzungsweise 74 Millionen Fernsehzuschauer sich klar für Kennedy aussprachen. Der bis dahin national weit weniger bekannte Kennedy hatte nun erstmals einen Vorsprung auf seinen Konkurrenten gewonnen, den er nicht mehr verlieren sollte. Angesichts der Tatsache, dass Kennedy mit einer Mehrheit von lediglich rund einhunderttausend Stimmen gewählt wurde (34.221.463 gegen 34.108.582 Stimmen), wird die Bedeutung des Fernsehduell-Sieges evident.17 Ereignisse dieser Art markieren die umfassende Veränderung der politischen Kultur durch das Fernsehen, die nicht nur eine Medialisierung, sondern vor allem eine Personalisierung und Emotionalisierung der Politik bewirkt.

SICHTBARKEITSVERWEIGERUNG Jackie (The Week That Was) reflektiert diese Verquickung von Politik, Medien und Geschichte: »Es erregte mich«, schreibt Warhol in seinen Erinnerungen, »Kennedy zum Präsidenten zu haben; er war hübsch, jung und intelligent – aber es kümmerte mich nicht so sehr, dass er tot war. Was mich kümmerte, war die Art und Weise, in der das Fernsehen und das Radio alle auf Trauerstimmung programmierten.«18 Warhols Biograph Victor Bockris berichtet überdies, wie fasziniert der Künstler von der wiederholten Ausstrahlung von Zapruders Super-8-Film war, insbesondere von der Zeitlupenwiedergabe der Schlüsselpassagen.19 Unter dieser Perspektive wird nun auch der Bildtitel relevant. Ob Warhol selbst ihn fand, muss offen bleiben; zumindest aber belegt eine Etikette auf der Bildrückseite, dass er aus dem Entstehungsjahr 1964 stammt. Er spielt auf eine Fernsehproduktion der BBC an, die 1962–1963 wöchentlich unter dem Titel That Was The Week That Was das politische Geschehen und dessen Protagonisten satirisch begleitete. Die Sendung wurde kurz vor ihrem britischen Ende in die Vereinigten Staaten verkauft. Die Pilotsendung brachte NBC am 10. November 1963, die erste reguläre Ausstrahlung erfolgte im Januar 1964. Am Samstag, den 23. November 1963 wandelte die BBC das Wochenmagazin zu einem – keineswegs satirischen – Tribut an John F. Kennedy um; auch dieser wurde von

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NBC übernommen und bereits am Sonntagabend in den USA gezeigt.20 Jackie (The Week That Was) liefert, so suggeriert der Bildtitel, zwar einen Ereigniszusammenhang, ist jedoch auch immer schon ein Medienprodukt gewesen. Als ebenso bedeutsam erweisen sich die einzelnen Schritte in Warhols pictorial design: Die Fokussierung auf Jacqueline Kennedys Gesichtsausdruck, unter Auslassung aller übrigen fotografischen Information, spiegelt die Personalisierung und Emotionalisierung des Geschehens, die Verwischung der Grenzen von Politik und Hollywood, durch welche sich die Bilderserie im Grenzbereich zwischen den Starporträts von Marilyn Monroe oder Liz Taylor einerseits und den Death and Disaster Series – den unterschiedlichen Versionen von Car Crash, Race Riot oder Suicide – andererseits ansiedelt.21 Die Präsentation der verschiedenen Bildmotive im identischen Format von fünfzig mal vierzig Zentimetern wiederum erscheint vergleichbar zur Verwandlung des realen Geschehens im Fernsehbild, dessen Mattscheibe mit Warhols Tafeln gemeinsam hat, die Fülle des Sichtbaren in einem stets gleichbleibenden Raster zu zeigen. Signifikant ist aber vor allem die Anordnung der sechzehn Tafeln zum Gesamtbild. Denn obgleich die chronologische Ordnung missachtet wird, erweist sich das Werk keineswegs als strukturlos. Wie bereits beschrieben, ist jedes Motiv als seitenrichtiger und seitenverkehrter Druck doppelt vertreten. Die Ordnung dieser Tafelpaare gestaltet sich wie folgt:

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Dasselbe lässt sich auch als Zahlenprogression ausdrücken: Ein Motiv wurde jeweils zweimal spiegelsymmetrisch gedruckt; zwei solcher Bildpaare wurden jeweils zu einem Viererblock zusammengefügt; aus vier solchen Blöcken entstand schließlich das sechzehnteilige Gesamtbild. Diese Progression wird durch die im Diagramm veranschaulichte Anordnung in eine zyklische Form gebracht, die weder einen bestimmbaren Auftakt noch eine eindeutige Richtung besitzt. So treten in Jackie (The Week That Was) Inhalt und Form, das Gezeigte und seine Strukturierung, zueinander in Konkurrenz. Die fotografische Referenz auf die Vorgänge in Dallas und Washington im November 1963 trifft auf eine abstrakte, rein immanente Bildordnung, die an das non-relational der Minimal Art denken lässt, beispielsweise an die Reihungen identischer Kästen bei Donald Judd oder die Streifenfolgen in Frank Stellas Black Paintings, die beide in zeitlicher Nähe zu Warhols frühen Siebdrucken entstanden. In sich selbst kohärent strukturiert, verhält sich die Bildform zur Abfolge der historischen Ereignisse zugleich gänzlich indifferent. Lachende Jackie, trauernde Jackie, lachende Jackie, ad infinitum: Die Historie, die Warhol erzählt, ist die Transformation eines Geschehens in ein kreisendes Bilder-Stakkato, bei dem nicht die Inhalte die Form bestimmen, sondern die zyklische Rasterstruktur die Inhalte gleichsam vor sich her treibt. Das Fernsehen bestehe, so Warhol, »nur eben aus einer Menge von Bildern: Cowboys, Polizisten, Zigaretten, Kinder, Krieg, alles ein-, aus- und ineinandergeblendet ohne Ende. Wie die Bilder, die wir machen.« 22 Gleichwohl ist Jackie (The Week That Was) fern von simpler Medienkritik, deren Pointe darin bestünde, das Verschwinden des Realen hinter dem medialen Schirm zu verkünden. In dem Bild wirkt eine Kraft, die sich durch die Wiederholungen nicht abnutzt, sondern stets erneuert. Diese Kraft speist sich weniger aus dem Sichtbaren als vielmehr aus dem Nicht-Sichtbaren: aus den Fehlstellen und Lücken im Darstellungsgefüge, welche die Vorstellungskraft des Betrachters aktivieren und dennoch nicht geschlossen werden können. Zwei Aspekte scheinen hierbei besonders relevant. Für Warhol wird Jacqueline Kennedy nicht zuletzt durch die Ereignisse um die Ermordung ihres Präsidentengatten zum Star, das heißt zu einer jener mythischen Figuren des Medienzeitalters, auf die man sein Inneres projiziert, ohne von ihnen mehr als ihre öffentliche Schauseite zu kennen. In Warhols aufrasternder, den Kontrast verschärfender, die fotografische Information um der Prägnanz einiger weniger Züge willen minimierender Verfremdung wird Jackie zu einer auratischen Figur ohne Grund, zur »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (Walter Benjamin).23 Da Jackie als »Star« der Trauerfeierlichkeiten überdies immer schon image und ihr Leben während dieser vier Tage immer schon live war, verschwimmen Sein und mediales Erscheinen, mit der Folge, dass in jeder Wiederholung der Medienbilder das Sein des Gezeigten in voller Gültigkeit erneuert wird. Die Bilder öffnen sich für die Imagination einer Tiefe, die sie zugleich negieren. Der zweite Aspekt der Sichtbarkeitsverweigerung betrifft die eigentümlich indirekte Darstellung des Todes.24 Indem Warhol lediglich Jacqueline Kennedys Gesicht zeigt, spart er das eigentliche Ereignis aus, das dem Wechsel von lachenden und trauernden Gesichtern

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erst Sinn verleiht: Kennedys Ermordung. Die zirkuläre Bildstruktur und die quasi-filmische Montage zwingen uns zu einem beständigen re-enactment der Ereignisse. Im fortlaufenden Springen zwischen vorher und nachher wird jedoch der fatale Augenblick immer verfehlt, indem er entweder noch bevorsteht oder aber bereits geschehen ist. Man »wiederholt, anstatt zu erinnern«, schreibt Sigmund Freud und weist auf diese Weise darauf hin, dass die Wiederholung dasjenige maskiert, was nicht erinnert werden kann.25 In der Repetition kann das Ausgesparte indessen überraschend wiederkehren. So wird John F. Kennedy, dem eigentlichen Gravitationszentrum der Bildhandlung, ein einziger, durchaus gespenstischer Auftritt gewährt. Im Zwischenraum zweier Tafeln der lachenden Gattin erscheint sein ebenfalls lachendes Gesicht, mittig geteilt und durch die spiegelbildliche Verdoppelung wieder komplettiert, allerdings in grotesk verzerrter Form. Es handelt sich um einen jener »Vorfälle an der Oberfläche«, die von Warhol bewusst provoziert wurden, sich in der jeweiligen Form aber dennoch zufällig ergaben.26 Was den Oberflächenvorfall hier hervorrief, ist das Kernstück von Warhols Verfahren: die Wiederholung der Bilder.

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UNSER MANN AUF DEM MOND APOLLO 11 UND DER WEG VOM EREIGNISBILD ZUM GESCHICHTSBILD Hole Rößler

In den knapp zweieinhalb Stunden, in denen sich die amerikanischen Astronauten Neil Armstrong und Edwin »Buzz« Aldrin am 20. Juli 1969 außerhalb der Landefähre auf dem Mond aufhielten, sammelten sie im Blickfeld einer alsbald aufgestellten Fernsehkamera Gesteinsproben, führten drei wissenschaftliche Experimente durch und platzierten eine US-amerikanische Flagge. Vor allem aber machten sie rund 230 Fotografien von ihren Aktivitäten, vom Landeplatz und seiner näheren Umgebung sowie Panorama-Aufnahmen und stereoskopische Bilder vom Untergrund.1 Bereits die vor dem Start ausgegebene Pressemappe der NASA hatte angekündigt, dass beide Astronauten »ausgiebig« von ihrem Fotoapparat Gebrauch machen würden, und ein Blick auf den Einsatzplan sowie dessen Kurzfassung auf den am Ärmel ihrer Raumanzüge befestigten Checklisten bestätigt, dass das Fotografieren zu den zentralen Aufgaben gehörte, die Armstrong und Aldrin während ihres Außeneinsatzes zu absolvieren hatten.2 Ebenso zeugt auch die Anzahl von acht auf der Apollo 11-Mission mitgeführten Foto-, Film- und Videokameras von einem unbedingten Willen, die Mondlandung im Bild festzuhalten.3 Gegen 05:13 Uhr MEZ, etwa eineinviertel Stunden, nachdem er seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte, machte Armstrong eine Aufnahme von Aldrin, die als eine der Ikonen der Mondlandung gilt und zu einem der am häufigsten reproduzierten Bilder des 20. Jahrhunderts werden sollte (Abb.145).4 Armstrong benutzte für diese Aufnahme die speziell für das Fotografieren auf dem Mond entwickelte Hasselblad 500 EL Data Camera, die an einer Halterung vor seiner Brust montiert war. Erkennbar ist dies unter anderem an den charakteristischen Rasterkreuzen, die für eine spätere fotometrische Auswertung der Bilder mit Hilfe einer im Kameragehäuse montierten Glasplatte bei jeder Belichtung auf

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145 Neil Armstrong: Astronaut Edwin »Buzz« Aldrin auf dem Mond, 1969, Fotografie, Washington, NASA Headquarters, Office of Public Affairs

das jeweilige Negativ geschrieben wurden.5 Bereits zwei Wochen nach der Rückkehr der Astronauten erschien Armstrongs Fotografie als doppelseitige Abbildung im Life Magazine vom 8. August 1969. Zuvor war seitens der NASA zum einen der Helligkeitskontrast verstärkt und zum anderen der schwarze Hintergrund nachträglich um einiges nach oben verlängert worden, da die originale Aufnahme auf Höhe der Oberkante von Aldrins Rucksack endet.6 In dieser überarbeiteten Fassung wurde das Bild im selben Jahr in verschiedenen offiziellen und journalistischen Publikationen abgedruckt und darüber hinaus auch als eine von zwölf »repräsentativen« Farblithografien des »NASA Picture Set 4, First Manned Lunar Landing« im Format 11 mal 14 Zoll (etwa 28 mal 36 Zentimeter) in den Handel gebracht.7

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Eine einfache Antwort auf die Frage, was genau Aufnahmen wie diese eigentlich repräsentieren, lässt sich dort finden, wo die offizielle Rhetorik darauf bedacht war, einen offenbar naheliegenden Eindruck zu relativieren. Vor dem Hintergrund des amerikanisch-sowjetischen Wettlaufs zum Mond konnten die Bilder allzu deutlich als das wahrgenommen werden, was sie ja auch waren, nämlich als spektakuläre Zielfotos, so dass die NASAPublikation zu den Bildern von Apollo 11 die wissenschaftliche Bedeutung des Fotografierens eigens betonte: »Both the surface and orbital photography of the mission served not only to document man’s first lunar landing and the extravehicular activities of the astronauts, but also to identify scientific areas and experiments for study in future missions.«8 Der Verweis auf die dokumentarische und wissenschaftliche Dimension der Bilder unterschlägt freilich den angesichts von Motivwahl, Nachbearbeitung und Publikationsstrategie unbezweifelbaren ästhetischen Charakter. Behauptet wird stattdessen ein Primat des Ereignisses, das von den Bildern scheinbar umstandslos festgehalten wird. Mit demselben Ziel, die Objektivität der Fotografien durch einen betonten Mangel an institutionellem Interesse zu wahren, wurde die extraterrestrische Bildproduktion auch zum Steckenpferd raumfahrender Hobbyfotografen erklärt: »Die Astronauten sind begeisterte Fotografen und mittlerweile kaum noch als Amateure zu bezeichnen. Vor jedem Weltraumflug üben sie eifrig alle Handgriffe, um kein Bild zu verlieren. Nach der Landung warten sie ebenso ungeduldig auf die Bildresultate wie wir alle.« 9 Tatsächlich war von Anfang an vorgesehen, Bilder – Fernsehbilder und Fotografien – mit eingängiger und unmissverständlicher Symbolik zu produzieren.10 Dazu zählt etwa die berühmte Aufnahme von Aldrins Salutieren vor der amerikanischen Flagge oder vom Fußabdruck im Mondstaub (offiziell als Dokument der Bodenbeschaffenheit gedacht, ist er eben auch Spur der symbolischen Landnahme). Diese Appropriationsgestik ist in Armstrongs Fotografie weitaus weniger offensichtlich, was fraglos zu dessen Popularität weit über die Grenzen von Staat und politischem Block hinaus beigetragen hat. Unabhängig von ihrer mehr oder weniger subtilen Symbolik war mit den »repräsentativen« Fotografien von Apollo 11 ein spektakuläres Bildrepertoire etabliert, das von den folgenden Mondmissionen nur noch nachgeahmt aber kaum übertroffen wurde. Schon die Bilder der darauffolgenden Mondlandung von Apollo 12 am 19. November 1969 sind Beleg einer geradezu unüberbietbaren Vorbildlichkeit der Vorgänger. Charles Conrad und Alan Bean brachten nicht nur Fotografien von einer amerikanischen Flagge und eines Schuhabdrucks zurück, sondern ebenfalls eine Frontalaufnahme eines Astronauten bei heruntergelassenem Spiegelvisier.11 Es bedurfte schon einer bis an die Grenze der Selbstironisierung reichenden Anstrengung, um noch vergleichsweise originelle Motive zu finden, wozu sicherlich das Golfspiel Alan Shepards (Apollo 14) und die Fahrten im Mondauto während der letzten drei Apollo-Missionen zählen. Schon an der bloßen Quantität von Reproduktion und Adaption, die insbesondere im kommerziellen Bereich auf Nachfrage und Interesse hinweist, lässt sich der Grad der Konformität eines Bildes mit ästhetischen, symbolischen und informationellen Erwartungen

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der zeitgenössischen Betrachter ermessen. Für die Frage nach der Rolle des Bildes im historischen Gedächtnis einer Kultur muss darüber hinaus betrachtet werden, auf welche Diskurse das Bild Bezug nimmt und damit intensiv dazu beiträgt, aus einem Geschehen ein Ereignis zu machen. Die Fotografien sind nicht »mindestens so wichtig wie das Ereignis Mondlandung«, sondern sie haben wesentlich Teil an dessen Konstitution, insofern sie die individuelle und kollektive Vorstellung vom Ereignis grundlegend formieren.12 Des Weiteren ist zu untersuchen, welche Konnotationen sich mit den jeweiligen Reproduktionen oder Adaptionen des Bildes verbinden. Das Ereignisbild wird dort zum Geschichtsbild, wo es in Prozessen kultureller (Selbst-)Konstruktion instrumentalisiert wird, das heißt, als Projektionsfläche unterschiedlicher Zuschreibungen dient, mit denen letztlich soziale, politische oder ökonomische Institutionen der jeweiligen Gegenwart in Bedeutung und Wert näher bestimmt werden.

SPIEGELBILD Bis in die Frühe Neuzeit war in Europa die Ansicht verbreitet, dass der Mond ein riesiger Konvexspiegel sei, der nicht allein das Licht der Sonne reflektiere, sondern in dem sich auch die Erde selbst spiegele. Die dunklen Flecken auf seiner Oberfläche waren dieser Annahme zufolge nichts anderes als die verzerrten Abbilder irdischer Kontinente.13 Aber auch in einem weiter gefassten Sinne diente der Mond seit der Antike als Reflexionsinstanz für Irdisches, entweder weil von ihm aus die Wirklichkeit der menschlichen Komödien sichtbar wurde, so in Lukians Ikaromenippus, oder weil lunare Parallelgesellschaften die Makel der politischen Verhältnisse auf Erden hervortreten ließen, wie etwa in Cyrano de Bergeracs L’autre monde. Und auch der wissenschaftliche Blick auf den Mond wurde immer wieder zurückgeworfen, wenn etwa Galileo Galileis teleskopische Entdeckungen der Mondoberfläche zum Indiz für den kosmologischen Status der Erde als Trabant der Sonne geriet, und schließlich auch wenn die NASA als eigentliches Ergebnis der Apollo 11-Mission »a greater understanding of our planet« in Aussicht stellte.14 Dass sowohl im Zuge der ersten Mondlandung als auch von nachfolgenden amerikanischen Astronauten und sowjetischen Sonden Reflektoren aufgestellt wurden, die von der Erde gesendete Laser zum Zweck einer Entfernungsmessung und damit einer relativen Ortsbestimmung der Erde zurückwarfen, setzte diese Funktion des Mondes im Feld des Technischen fort. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund muss dem Erscheinen einer spiegelnden Oberfläche auf dem Mond eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Die anhaltende tiefe Wirkung von Armstrongs Fotografie hat dementsprechend ihre eigentliche Ursache weniger in der öden Landschaft oder im trostlos schwarzen Hintergrund, sondern im gewölbten Spiegel, der den Platz des Gesichts eingenommen hat. Das über den Glashelm gezogene Spiegelvisier (Lunar Extravehicular Visor Assembly) gehört zu den wenigen genuinen Motiven aus dem Bildrepertoire der Apollomissionen, die nicht bereits von den

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146 Unbekannter Graphiker (nach einer Fotografie von Edwin »Buzz« Aldrin): Astronaut bei der Durchführung eines Experiments, 1969, aus: National Aeronautics and Space Administration (Hrsg.): Apollo 11 Lunar Landing Mission. Press Kit, Washington 1969

Fiktionen in Bild und Film, Literatur, Comic und Werbung (mit bisweilen erstaunlicher Ähnlichkeit) vorweggenommen worden waren.15 Sogar die Zeichnungen des vor dem Start ausgegebenen Presseheftes zeigen die Astronauten überwiegend mit durchsichtigem Visier; wohl nicht zuletzt, weil diese offensichtlich nach Fotografien angefertigt wurden, die während des Trainings entstanden waren, bei dem der Sonnenschutz nicht verwendet wurde (Abb. 146).16 Die Spiegelungen von Armstrong und der Landefähre in der gewölbten Oberfläche des Visiers setzen in kunsthistorischer Perspektive unmittelbar eine Reihe motivischer Assoziationen frei, insbesondere zur langen Tradition der malerischen Darstellung von

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Konvexspiegeln, etwa zu Jan van Eycks berühmter Arnolfini-Hochzeit von 1434, aber auch zu niederländischen und deutschen Stillleben des 17. Jahrhunderts, in denen Gläser und Metallgeschirr verkleinerte Porträts der Maler aufweisen.17 Indem der Spiegel aber auf die Position des Kopfes gerückt ist und sich durch dessen en face direkt an den Betrachter wendet, findet eine wesentliche Verschiebung statt: Umgewendet und durch die Fotografie seiner Reflexionsfähigkeit beraubt, stellt der Spiegel Individualität nicht mehr her, sondern löst sie nachgerade in einer scheinbar beliebig zu besetzenden Leerstelle auf. Der Gesichtsverlust in Verbindung mit der Kaschierung des individuellen Körpers durch den Raumanzug reduziert die Person auf ein anthropomorphes Schema. Der Mangel an persönlichen Charakteristika hat immer wieder zu Verwechslungen geführt. Für die Rhetorik des Bildes ist die Frage, welcher der Astronauten auf diesem Bild zu sehen sei, jedoch ohne Belang. Vielmehr stellen die Allgemeinheit der Figur und die appellative Leerstelle des Gesichts das Bild in die ältere Tradition des speculum im Sinne eines Spiegels der Welt, so wie es ein Flugblatt aus dem frühen 17. Jahrhundert eindrücklich dargestellt hat (Abb. 147).18 Unter der Aufforderung »nosce te ipsum« (Erkenne Dich selbst) behauptet sich das Blatt als Spiegelbild beliebiger Betrachter, deren Gesamtheit in kartografischer Repräsentation erfasst ist. In der bildlichen Verdichtung von Narrenkappe und Welt kommt zum Ausdruck, dass der Narr, der den Menschen zum Zwecke der Selbsterkenntnis – der eigenen Narrheit – den Spiegel vors Gesicht hält, selbst der eigentliche Spiegel und Repräsentant der Menschheit ist. In diesem Sinne zeigt auch Armstrongs Foto ein speculum mundi, ein Universalporträt, das nicht einen Menschen sondern den Menschen auf dem Mond zeigt. Es ist daher von kaum überraschender Folgerichtigkeit, dass vor wenigen Jahren auch die Erde selbst in der Spiegelung von Aldrins Visiers entdeckt wurde, oder besser: mit Hilfe digitaler Filterung sichtbar gemacht wurde.19 Der unmittelbar einsetzende und anhaltende Status dieses Bildes als Inkunabel der Mondlandung beruht wohl nicht zuletzt darauf, dass es eine Rhetorik zur Anschauung brachte, der man sich im Zusammenhang mit Apollo 11 in umfassender Weise bediente, die aber auch schon zuvor immer wieder im Kontext der amerikanischen Raumfahrtprogramme aufgetaucht war. So berichtet der amerikanische Maler Mitchell Jamieson vom Astronauten Gordon Cooper, dass dieser nach seinem Ausstieg aus der Mercury-Kapsel, mit der er im Mai 1963 die Erde mehrfach umkreist hatte, »larger than life« erschienen sei, und fügt hinzu: »He seemed to represent not NASA or the United States, but all mankind.«20 Dass zudem die Repräsentation der Menschheit einhergeht mit einer Reduktion der körperlichen Merkmale des Repräsentanten, macht die 1971 am Landeplatz von Apollo 15 hinterlassene Kleinplastik Fallen Astronaut des belgischen Künstlers Paul Van Hoeydonck deutlich, die aller individuellen, geschlechtlichen und ethnischen Merkmale entkleidet ist.21 Die durch Raumanzug und Helm abstrahierte Gestalt des Astronauten auf Armstrongs Fotografie erwies sich im Nachhinein somit als geradezu ideale Verkörperung einer Rhetorik, die unablässig die technische Leistung der Mondmission als Fortschritt für die gesamte Menschheit deklarierte und sich am prominentesten wohl im Wort vom »giant leap for

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147 Unbekannter deutscher Künstler (nach Jean de Gourmont): Nosce te ipsum, frühes 17. Jahrhundert, Kupferstich (Flugblatt), 35,4 × 47,6 cm, Coburg, Kunstsammlung der Veste

mankind« sowie im Text der an einem Bein des Landemoduls enthüllten Plakette niederschlug. Geradezu folgerichtig brachte das populärwissenschaftliche Magazin National Geographic in seiner Dezember-Ausgabe des Jahres 1969 Armstrongs Fotografie auf dem Titelblatt und kommentierte es mit einem Zitat von eben jener Plakette: »… in peace for all mankind«.22 Da die Wahrnehmung des Bildes wesentlich von dieser Rhetorik bestimmt wurde, spielt der Umstand, dass offenbar nur eine – möglicherweise sogar keine – Fotografie von Armstrong als dem ersten Menschen auf dem Mond existiert, in den verschiedenen Abhandlungen zu den Bildern – von Missverständnissen einmal abgesehen – so gut wie keine Rolle.23 Kurz gesagt: Weil nicht die individuelle Person des Astronauten zu sehen ist, sondern ein »Gattungsexemplar«, ist dessen Identität gleichgültig.24 Das vollmundige Wort von der gesamtmenschheitlichen Repräsentation blieb freilich nicht ohne Widerspruch: Schon einen Tag nach der Mondlandung veröffentlichte die New York Times die Bemerkung des amerikanische Soziologen und Philosophen Lewis Mumford, dass die Behauptung, die Raumfahrt geschehe zum Wohle der Menschheit ebenso scheinheilig sei, wie das Motto der Air Force: »Our Profession is Peace«.25 Mumford weist weiterhin darauf hin, dass unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit technische Entwicklungen vorangetrieben würden, die allein politischen und militärischen, mit-

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hin primär nationalen Interessen verpflichtet seien. Mumfords ungetrübtem Blick für gesellschaftliche Dimensionen der Technik musste zu diesem frühen Zeitpunkt der Entwicklung jedoch entgehen, dass dieser Deckmantel selbst, der nicht unwesentlich aus Bildern gewebt wurde, ebenso zur Durchsetzung ideologischer Hegemonialansprüche beitragen sollte wie die Erprobung und Demonstration potenzieller Waffentechnik.

NACHBILD In einer seiner lakonischen Glossen zur Geschichte menschlicher Selbstverortung im Weltall bemerkt Hans Blumenberg, dass die USA das Apollo-Programm mit so viel Aufwand betrieben hätten, nicht weil sie mit der Mondlandung den unumstößlichen Beweis für die Überlegenheit der eigenen Ideologie gegenüber der UdSSR in einem einzigen Ereignis hätten erbringen können, sondern weil der Westen im umgekehrten Fall die geschichtsphilosophische Rhetorik der Sieger »nicht ertragen, wahrscheinlich nicht überleben« hätte können.26 Verglichen mit der ideologischen Bedeutung eines möglichen Erfolges für das Selbstverständnis des Ostblocks konnten die USA Blumenberg zufolge aufgrund der proklamierten Verpflichtung der Unternehmung auf die gesamte Menschheit indes keinen endgültigen und damit »historischen« Sieg erringen, sondern nur in einen prinzipiell infiniten Wettkampf eintreten, da stets andere Repräsentanten der Menschheit einen neuen astronautischen Rekord aufstellen könnten. Weil also der Westen nicht in der Lage gewesen sei, die eigene technische Leistung in ein definitives Ereignis zu transformieren, sei die erste Mondlandung »schnell und ohne tiefe Spuren im öffentlichen Bewusstsein vergessen« worden.27 So präzise Blumenbergs Beobachtungen in ideologiekritischer Perspektive sind, so wenig vermögen sie die enorme Verbreitung der Bilder von Apollo 11 und damit die Transformation des Ereignisses in ein historisches Datum zu erfassen; zumal Aussagen über das »öffentliche Bewusstsein« ohnehin stets Gefahr laufen, im Vakuum hinreichender und nachvollziehbarer Quellen zu implodieren. Wenn etwa für die Neuauflage des erstmals 1961 unter dem Titel Die Welt von heute erschienenen zehnten Bandes der von Golo Mann herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte aus dem Jahr 1986 die Fotografie von Aldrin als Rückenillustration gewählt wurde, ohne dass der Mondlandung selbst in der nachgetragenen »Universalgeschichte in Stichworten« mehr als ein Satz gewidmet worden ist, dann wird erkennbar, dass ihr der Status eines zugleich einmaligen wie für die Moderne repräsentativen Ereignisses zugeschrieben wird, der überdies offenkundig keiner Begründung bedarf.28 Vielmehr noch wird die These von der »Wirkungslosigkeit des bildhaft allgegenwärtig gewordenen Vorgangs«29 in Frage gestellt von dem Umstand, dass die Bilder der ersten Mondlandung beim ideologischen Kontrahenten Eingang fanden in ein Medium der politischen Ikonographie: Die mehrfache Verwendung von Armstrongs Aufnahme als Vorlage für Briefmarken ist Zeugnis einer gelungenen ikonischen Infiltration.

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In Zeiten des staatlichen Postmonopols ist jedes Briefmarkenmotiv immer auch politisches Motiv. Personen, Gegenstände und Ereignisse dienen auf Briefmarken als Elemente symbolischer Politik, weswegen manche Zustellbehörde auf bestimmte Markenmotive aus dem Ausland mit einer Beförderungsverweigerung reagierte.30 Aby Warburg hat bereits 1928 darauf hingewiesen, dass auch und gerade die Briefmarke Ausdruck der politischen Mentalität einer Nation ist, weswegen es das historiographische Interesse auf sich ziehen muss, wenn Bilder mit unübersehbaren politischen Konnotationen ideologische Grenzen scheinbar mühelos und unversehrt überwinden.31 Zwar verzichtete die Sowjetunion bis zu ihrer Auflösung auf die Darstellung amerikanischer Raumfahrtleistungen, doch eine Reihe ihrer Satellitenstaaten hatte bereits 1969 die Mondlandung auf Marken abgebildet, wobei man sich in der Gestaltung offenbar kaum an den von der NASA veröffentlichten Fotografien orientierte und auch mit der Darstellung von Hoheitszeichen sehr zurückhaltend war.32 Wie tief sich die offiziellen Bilder der ersten Mondlandung tatsächlich in das globale Bildgedächtnis eingeschrieben hatten, zeigt sich an ihrer Wiederkehr als Markenmotive in einer Reihe osteuropäischer Länder zwanzig Jahre nach dem Ereignis. Die Gestaltung dieser Marken und ihr historischer Kontext verraten, dass sich die Wahl des Motivs nicht allein dem runden Jahrestag verdankte, sondern auch innerhalb der politischen Umbruchsituation des Jahres 1989 Stellung bezog. So gab beispielsweise die polnische Staatspost im Juli 1989, einen knappen Monat nach den ersten freien Wahlen, einen Briefmarkenblock aus, der Armstrongs Aufnahme mit anderen berühmten Motiven kombinierte: die Landefähre »Eagle«, die Fußspuren der Astronauten sowie – offenbar vom offiziellen Logo der Apollo 11-Mission adaptiert – die über dem Mondhorizont stehende Erde (Abb. 148).33 Unübersehbar drückt sich hier der Wunsch nach einer Neuorientierung im Gefüge der Weltmächte aus. Nicht nur Philatelisten dürfte aufgefallen sein, dass bei herausgetrennter Marke die amerikanische Flagge auf der Schulter des Raumanzuges ins Zentrum des Bildes rückt. Wenige Monate später, im Oktober 1989, wurde in Rumänien ein ganz ähnlicher Markenblock ausgegeben (Abb. 149).34 Auch hier sind die topischen Motive im Bild zusammengeführt: Astronaut mit Spiegelvisier, Fußspuren, Landefähre und blauleuchtender Erdball. Dabei orientiert sich die Zusammenstellung von Astronaut und Flagge auf der eigentlichen Marke (durch einen Rahmen statt durch eine Perforation angezeigt) ganz offensichtlich an Andy Warhols Bildserie Moonwalk, die zwei Jahre zuvor als eines seiner letzten Werke produziert wurde. Anders als auf der vergleichsweise diskreten polnischen Marke ist die Nationalität des abgebildeten Ereignisses auf der rumänischen geradezu aufdringlich ins Bild gesetzt: Neben der Flagge mit dem charakteristischen Querstab, der den Stoff unter Bedingungen fehlender Atmosphäre in der Horizontalen halten sollte, findet sich das StarSpangled Banner an der linken Schulter des Raumanzuges und auf der Basis der Landefähre sowie zusätzlich noch ein Schild mit der Aufschrift »United States«. Offenbar war das Bedürfnis, die Mondlandung unmissverständlich national zuzuschreiben, so groß, dass auch die Figur des Astronauten namentlich festgestellt wurde. Ob die Benennung »Neil Arm-

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148 Zbigniew Stasik: Briefmarke der Polnischen Post zum zwanzigsten Jahrestag der Mondlandung, 1989, Privatsammlung

strong« auf einem Missverständnis beruht, oder ob die Wahl schlicht auf den berühmtesten amerikanischen Astronauten fiel, ist dabei gänzlich unerheblich. Entscheidend ist, dass das Bild aller Rhetorik der Repräsentation der Menschheit entkleidet ist und die Mondlandung demonstrativ als Leistung der amerikanischen Nation darstellt. Für ein genaueres Verständnis von Ikonographie und Zeitpunkt ihres Erscheinens ist zu bedenken, dass die rumänisch-amerikanischen Beziehungen selbst in Zeiten des Kalten Krieges vergleichsweise entspannt waren, was sich unter anderem darin äußerte, dass Rumänien 1969 als einziges sozialistisches Land neben Jugoslawien die Mondlandung von Apollo 11 live im Fernsehen ausstrahlte.35 Die für Rumänien aufgrund einer Meistbegünstigungsklausel recht profitable Handelsbeziehung zu den USA endete jedoch 1988

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149 Andrei Mihai: Briefmarke der Rumänischen Post zum zwanzigsten Jahrestag der Mondlandung, 1989, Privatsammlung

nicht zuletzt aufgrund des Bekannt- beziehungsweise Öffentlichwerdens der zahllosen Menschenrechtsverletzungen durch das Ceauc¸ escu-Regime.36 Dessen unbeirrbare Reformverweigerung führte vor dem Hintergrund des fortschreitenden Perestroika-Prozesses dazu, dass Rumänien nicht nur zunehmend vom Westen, sondern auch von der Sowjetunion und den meisten anderen Ostblockstaaten isoliert wurde. In dieser politisch und ökonomisch zugespitzten Situation kündet das Erscheinen der Briefmarke mit dem Motiv der amerikanischen Mondlandung vom dringenden Wunsch, die weitgehend zum Erliegen gekommenen diplomatischen Beziehungen zum einstigen Handelspartner und Devisenbringer wieder zu beleben, der das System so lange – und überwiegend kritiklos – unterstützt hatte. Auch wenn sich das genaue politische Kalkül, das sich mit der Motivwahl verband, angesichts des bisweilen kaum nachvollziehbaren Schlingerkurses der letzten Monate von Ceauc¸ escus Amtszeit hier nicht restlos klären lässt, so zeigt sich doch, dass die Bilder der Mondlandung und besonders Armstrongs Fotografie von Aldrin als Vehikel einer symbolischen Kommunikation genutzt wurden. Die vermeintliche Stellvertretung der Menschheit im Weltall durch die amerikanischen Astronauten eröffnete die Möglichkeit, das Ereignis

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mitsamt Hoheitszeichen ohne Gesichtsverlust in einem so nationalen Medium wie der Briefmarke darzustellen. Weil die Bilder Teil einer globalen Geschichtsvorstellung waren, oder besser: weil sie transnationale Geschichtsbilder geworden waren, konnte mit der Adaption der Mondbilder ganz offiziell die Bereitschaft zum Anschluss an das kulturelle Gedächtnis und die Geschichte des Westens signalisiert werden. Es mag sein, dass der Westen in seiner Selbstbehauptung keine vergleichsweise starke Geschichtsphilosophie aufweisen konnte, wie Blumenberg festgestellt hat. Die Bilder von Apollo 11 konnten diesen Mangel jedoch ausgleichen, weil sich ihnen auch die ideologischen Kontrahenten auf Dauer nicht verweigern konnten und damit die historische Leistung und Stellung der USA anerkennen mussten.

ZERRBILD Neben den zahllosen affirmativen Reproduktionen und Adaptionen, welche die Aufnahmen von Apollo 11 in der westlichen Populärkultur erfahren haben, von Warhols Moonwalk bis hin zum variantenreiche Spiel mit dem Motiv des spiegelnden Helmvisiers im US-amerikanischen Animationsfilm Planet 51 von 2009, sind nicht zuletzt Kritik und Widerstand, die den Bildern entgegengebracht wurden und werden, ein sicheres Zeichen für deren Status als kollektiv etablierte und memorierte Geschichtsbilder. Seit Bill Kasings genrebildender Publikation We Never Went to the Moon von 1976 sind immer wieder Zweifel an der Realität der Mondlandung(en) geäußert worden. Erwähnenswert ist diese Position vor allem aufgrund der zentralen Rolle, die den Fotografien der NASA in den Argumenten für eine Fälschung zukommt, da auf ihnen entweder Spuren einer Inszenierung des Ereignisses oder Spuren einer Manipulation des Bildes zu finden seien. Nicht zuletzt aufgrund seiner enormen Bekanntheit wurde häufig die Fotografie von Aldrin zum Beweisstück einer vermeintlichen Inszenierung erklärt, unter anderem weil die fehlenden Sterne und die scheinwerferartige Beleuchtung für eine Aufnahme in einem Studio sprächen.37 Wenn sich ein Großteil der Argumente der Anhänger einer Verschwörungstheorie allein an den Bildern festmacht, mag das durch mangelnde technische und wissenschaftliche Kompetenz begründet sein, wofür es in den formulierten Verdachtsmomenten immer wieder deutliche Hinweise gibt. Zugleich äußert sich darin auch eine naive Vorstellung vom authentischen Bild – das sich ex negativo anhand der Abwesenheit von Fehlern erkennen lassen müsste –; ein Bild, das in der Lage wäre, gleichsam im Sinne Rankes unverstellt zu zeigen, was sich wirklich zugetragen hat. Erheblich derber, aber dem konstruktiven und symbolischen Charakter der Bilder Rechnung tragend, erscheint dagegen Robert Gernhardts satirische Retusche einer anderen berühmten Fotografie von Aldrin aus den frühen siebziger Jahren (Abb. 150). Die Figur des Astronauten besitzt auch hier die Funktion eines Agenten, in diesem Fall vornehmlich für ein amerikakritisches Publikum. Was auf den ersten Blick wie plumper Antiamerikanis-

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150 Robert Gernhardt (nach Neil Armstrong): Aldrin vor der amerikanischen Flagge, um 1970–1975, aus: Robert Gernhardt, F. W. Bernstein und F. K. Waechter: Welt im Spiegel. WimS 1964–1976, Frankfurt am Main 1979

mus wirkt, ist letztlich jedoch humoristische Dekonstruktion: Mit wenigen Strichen ist hier die Geste der Ehrenbezeugung in ihr Gegenteil gewendet und macht in der fingierten Verletzung von Ritual und Symbol darauf aufmerksam, mit welcher meist unbemerkten Gewalt die Wahrnehmung von Bildern über Landesgrenzen hinaus geprägt werden kann.

GESCHICHTSBILD »Beruhen Geschichtsbilder auf Bildern?«, lautete eine der Fragen, die auf dem 46. Deutschen Historikertag 2006 gestellt wurden.38 Diese nur scheinbar schlichte Frage, die sich im Übrigen auch für andere Bild-Komposita wie Welt-, Menschen-, Feind- oder Leitbild stellen ließe, zielt auf den Status von Bildern in der Genese komplexer Vorstellungen; in diesem Fall von den Zusammenhängen relevanter Elemente eines bestimmten historischen Zeitabschnitts. Zugleich ist damit aber auch nach der grundsätzlichen Eignung von Bildern als historiographische Quellen gefragt, mit denen Schriftzeugnisse ergänzt, ersetzt, bestätigt oder problematisiert werden können, um ein – gemessen am Maßstab der historischen Wissenschaften – konsistentes und glaubwürdiges Geschichtsbild zu entwerfen.39 Auch wenn Armstrongs Fotografie von Aldrin ein derartiges historiographisches Potential nicht abzusprechen ist, wurde es bislang fast ausschließlich im Zusammenhang

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mit Verschwörungstheorien oder in ideologiekritischer Absicht zur Rekonstruktion beziehungsweise Dekonstruktion der Mondlandung herangezogen. Die weitgehende Nichtbeachtung von Seiten der historischen Wissenschaften ist vor allem auf die schiere Menge an schriftlichen Quellen zurückzuführen, die die Mondlandung zu einem der am besten dokumentierten Ereignisse in der Geschichte machen und eine Einbeziehung der Bilder bisher nicht notwendig erscheinen ließ. In den überwiegenden Fällen seiner Verwendung kommt dem Bild eine illustrierende, das heißt, die bloße Tatsache des Ereignisses bestätigende Aufgabe zu, ohne dass aus ihm dessen Verlauf abgeleitet würde. Die beispiellose Verbreitung des Bildes und die angedeuteten Weisen seiner Instrumentalisierung sprechen dafür, dass es selbst als Geschichtsbild verstanden werden kann, nämlich als eine visuelle Verdichtung von Vorstellungen und grundlegenden Kategorien, die die »historische Selbstwahrnehmung« einer Kultur bestimmen. Anders gesagt: Das Foto verkörpert mehr als es darstellt. Ab einem gewissen Zeitpunkt stand es weniger für das Ereignis der Mondlandung als vielmehr für eine Verortung der Gegenwart im historischen Raum. Seine Etablierung im kollektiven Bildgedächtnis beruht fraglos zu einem Großteil auf der forcierten Zirkulation, jedoch auch auf der besonderen ästhetischen Qualität des Bildes, die die Verdichtung eines Geschichtsbildes auf ein Bild überhaupt erst ermöglicht. Die Fotografie ist, wie das Beispiel der Propyläen-Weltgeschichte zeigte, gleichsam zum Emblem eines bestimmten Abschnittes der Moderne, ja, der Moderne als Ganze geworden, das in seiner Rolle eines universellen kulturellen Bezugspunktes jedoch unterdessen vom Bild des zusammenstürzenden World Trade Center als dem Sinnbild für das Scheitern des Projekts »Moderne« abgelöst worden zu sein scheint. Die Intentionen und Bedingungen der Produktion dieser beiden Bilder, das sei hier nur angedeutet, sind äußerst unterschiedlich; ihnen ist jedoch gemein, dass sich ihre erste Verbreitung einer aggressiven Besetzung der massenmedialen Kanäle verdankt. Auch wenn sich die Möglichkeit, Geschichtsbilder herzustellen, mit der Aneignung und Nutzung medientechnischer Ressourcen im frühen 21. Jahrhundert nicht mehr nur für die politisch-ökonomischen Eliten bietet, ist sie doch weder anstrengungslos noch mit Sicherheit zu haben. Der Wandel vom Ereignisbild zum Geschichtsbild, so ließe sich für das hier behandelte Beispiel festhalten, ist wesentlich ein Wandel der Vorstellungen, die sich mit der Fotografie Aldrins verbinden und die mit seiner Präsentation aufgerufen werden können. Während es als Ereignisbild seine Authentizität im Wesentlichen aus der Autorschaft und der Entstehung während des von ihm mitkonstituierten Ereignisses bezieht, besteht seine praktische Funktion als Geschichtsbild in der Veranschaulichung charakteristischer Eigenschaften, die einem historischen Zeitraum zugeschrieben werden, etwa die Überwindung der natürlichen Beschränkung des Menschen durch den technischen Fortschritt, die Entstehung eines »globalen« Bewusstseins durch den extraterrestrischen Blick oder die politische und kulturelle Hegemonie einer Nation. Anders gesagt: Es kann die verschiedenen Diskurse integrieren, in denen es zirkuliert, weil es eine Offenheit gegenüber einer ganzen Reihe von Assoziationen besitzt. In diesem Sinne gleichen Geschichtsbilder dem imagi-

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nären Blick vom Mond auf die Erde: Sie bieten dem Betrachter Raum und Rahmen einer von den Zumutungen der Einzelheiten, Unklarheiten und Widersprüche befreiten Gesamtschau. Das macht sie so aufdringlich, aber auch so unentbehrlich.

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ABSTRAKTE GESCHICHTE K. R. H. SONDERBORG MALT DIE »SPUR ANDREAS B.« ALS GESTISCHE CHIFFRE Sven Beckstette

»Die Geiseln frei – Selbstmorde in Stammheim«, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19. Oktober 1977. Damit fasste sie die Ereignisse der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober zusammen, als die Spezialeinheit GSG 9 die von Terroristen nach Mogadischu manövrierte Lufthansa-Maschine »Landshut« erfolgreich gestürmt hatte. Drei der vier Kidnapper kamen bei der Befreiungsaktion ums Leben, die Reisenden wurden in Sicherheit gebracht. Hintergrund der Flugzeugentführung war die seit mehreren Wochen andauernde Geiselnahme des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch ein Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF). Mit dieser Kampagne wollte die zweite Generation der linksextremen Terrorgruppe ihre im Stuttgarter Hochsicherheitsgefängnis Stammheim einsitzende Führungsriege freibekommen. Die Bundesregierung zeigte sich jedoch nicht erpressbar und zog zum Zeitgewinn die Verhandlungen in die Länge. Um in dieser Situation zusätzlichen Druck auf Kanzler Helmut Schmidt und seinen Krisenstab auszuüben, hatten mit der RAF kooperierende palästinensische Terroristen am 13. Oktober 1977 die »Landshut« mit Passagieren und Bordpersonal gekapert. Die Lage hatte sich durch den geglückten Sturm auf die Boeing im fernen Somalia jedoch nicht gebessert. Im Gegenteil: Die direkten Folgen der Befreiung ließen es aussichtslos erscheinen, dass Schleyer überhaupt lebend gerettet werden könnte. Denn als die Wächter in Stammheim am Morgen nach dem nächtlichen GSG 9-Einsatz die Zellentüren zu den prominenten RAF-Gründern öffneten, mussten sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass die Insassen kollektiven Selbstmord begangen hatten. Jan-Carl Raspe lebte zwar noch, wies aber schwere Verwundungen am Kopf auf und wurde sofort ins Krankenhaus gebracht. Dort starb er kurze Zeit später an seinen Verletzungen. Andreas Baader lag umgeben von einer

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Blutlache tot mitten auf dem Boden. Gudrun Ensslin fanden die Wärter mit einem Kabel erhängt am Fenster. Irmgard Möller schließlich hatte sich Stiche in den Brustkorb zugefügt, aber da die Messerklinge nicht den Herzbeutel erreicht hatte, überlebte sie als einzige. Bundeskanzler Schmidt erfuhr kurz nach 9 Uhr von den Todesfällen: »Ich war wie von einer Keule getroffen, empört, entsetzt. Jetzt hatten wir gerade einen großen Erfolg errungen, und nun dieser Tritt in den Unterleib. Wir waren völlig von den Socken. Nach Mitternacht war ja kein großer Jubel gewesen, mehr ein tiefes Durchatmen. Die Spannung hatte sich auf verschiedene Weise entladen, bei so manchen mit ein paar Tränen – und sieben Stunden später nun das.«1 Mit dem Ableben der Terroristen war auch Schleyers Schicksal endgültig besiegelt. Die Tageszeitung Bild fragte auf der ersten Seite zu den Ereignissen des 18. Oktober 1977 in einer vierzeiligen Überschrift: »Erhängt! / Erschossen! / Baader, Raspe, Ensslin / Und Schleyer?« Die Antwort folgte prompt. Noch am selben Tag, an dem die Schlagzeile veröffentlicht worden war, fand die Polizei seine Leiche im Kofferraum eines grünen Audi im oberelsässischen Mülhausen. Nach 43 Tagen in der Gewalt der RAF war Schleyer von einem der Terroristen ermordet worden. Der Entführungsfall endete in einem blutigen Fanal und lastet seitdem als »Deutscher Herbst« bleischwer auf der Bundesrepublik.

VOM MOTIV ZUR GESTE Von den zahlreichen Kunstwerken, die zur RAF und ihrer Geschichte entstanden sind, zählen die Arbeiten von K. R. H. Sonderborg zum Tod von Andreas Baader im Stammheimer Hochsicherheitsgefängnis zu den ungewöhnlichsten, wenngleich noch immer zu den eher unbekannten Werken. Bereits 1979, also zwei Jahre nach den Ereignissen des »Deutschen Herbstes« befasste sich der Künstler mit den Vorfällen vom 18. Oktober 1977. Sonderborg wurde 1923 als Kurt Rudolf Hoffmann im dänischen Sønderborg geboren. Die Familie siedelte jedoch bald nach Hamburg über. Während der NS-Diktatur saß er 1940– 1941 für vier Monate im Konzentrationslager Fuhlsbüttel ein, weil er ein »Swing-Boy«, ein Liebhaber der verbotenen US-amerikanischen Jazz-Musik war. Die Gestapo beschuldigte ihn der »Anglophilie« sowie »staatsabträglichen und zersetzenden Verhaltens«. Nach seiner Entlassung verließ Hoffmann Deutschland und ging für ein hanseatisches Handelsunternehmen in die Ukraine, wo er bis Kriegsende verblieb. In der »Stunde Null« kehrte er nach Hamburg zurück und entschied sich für eine künstlerische Laufbahn. Zu diesem Zweck besuchte Hoffmann von 1947 bis 1949 die Hamburger Landeskunstschule; 1951 legte er sich den Künstlernamen K. R. H. Sonderborg zu. Schnell fand er Anschluss an die nationale wie internationale Avantgarde, wurde Mitglied der Gruppe »ZEN 49« und zählte in den fünfziger Jahren schließlich mit Künstlern wie Fred Thieler oder K. O. Götz zu den wichtigsten Vertretern des deutschen Informel. In »automatischen Improvisationen« (Werner Haftmann), in denen sich Schwarz und Weiß, gerade und geschwungene Linien und Farbbahnen kontrastreich gegenüberstehen, fertigte Sonderborg Bilder voller Rhythmik und

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151 K. R. H. Sonderborg: Spur Andreas B., 1980, Acrylfarbe auf Leinwand, 130 × 162 cm, Berlin, Landesvertretung Saarland (Dauerleihgabe der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz/Saarbrücken, Saarlandmuseum)

Dynamik an, die nach dem damaligen Verständnis das Tempo und die Geschwindigkeit der Zeit zum Ausdruck brachten.2 Obwohl Sonderborg damit vorwiegend als ein abstrakter Maler gestischer Spontaneität angesehen wird, dessen Werk ohne jeden konkreten inhaltlichen Bezug auskommt, gibt es bei ihm durchaus Arbeiten, in denen die formale Dimension eng mit einem thematischen Aspekt verbunden ist. Während einige Bilder beispielsweise auf banalen Stadtansichten oder Aufnahmen unbedeutender Alltagsobjekte basieren, griff Sonderborg immer wieder auch politische und historische Gegenstände auf, zum Beispiel das Attentat auf John F. Kennedy, die Todesstrafe, Krieg und staatliche Enteignung.3 Zu den zentralen Bildern dieser Werkgruppe wie seines Œuvres überhaupt gehören dabei die Zeichnungen und das Gemälde der Reihe Spur Andreas B., in denen Sonderborg sich mit dem Tod von Andreas Baader befasst hat (Abb. 151). Kunsthistorisch von besonderem Interesse sind diese Arbeiten schon deshalb, weil sich an ihnen exemplarisch ablesen lässt, welche Möglichkeiten die Errungenschaften der gestischen Abstraktion zur Darstellung historischer Ereignisse bieten, beziehungsweise welche Grenzen ihr gesetzt sind.

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152 Unbekannter Fotograf: Zelle Andreas Baaders in Stammheim nach der Überprüfung durch Ermittler, aus: Der Spiegel, 6. Februar 1978

Sonderborgs Beweggrund, sich mit dem Tod von Andreas Baader künstlerisch zu beschäftigen, war zunächst nicht der Vorfall selbst. Im Jahre 1978 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel Auszüge aus dem Abschlussprotokoll des Sonderausschusses, der zur Klärung der Todesfälle von Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim eingesetzt worden war.4 Vor dieser Kommission legte ein internationales Ärztegremium seine gerichtsmedizinischen Ergebnisse vor. Illustriert war der Zeitschriftenartikel unter anderem mit einer Abbildung der Zelle von Andreas Baader, die laut Unterschrift »nach der Überprüfung der Ermittler« aufgenommen worden war (Abb. 152).5 In dem völlig demolierten Raum sind auf der rechten Bildseite die sanitären Anlagen zu sehen. Auf einer Bettdecke liegend befindet sich in der linken Raumecke eine Bodenleiste, die im Zuge der Durchsuchung aus der Wand gerissenen worden war. Diese Fotografie bildete für Sonderborg den Auslöser zu seiner RAF-Werkreihe. Der Künstler erklärte 1982 seine Motivation: »[…] vor zwei Jahren ging im ›Spiegel‹ ein Foto durch die Presse von der Zelle, von Andreas Baader. Ich habe das dann gesehen, denke ich, Gott, das ist ja entsetzlich da diese, so eine Form, da ist die Bettdecke von dem … der Baader war also schon tot, den haben sie rausgeholt, und da haben sie die ganze Zelle, da haben sie alles aufgerissen, die Deckleisten vom Teppich

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oder von der Wand war noch rausgerissen, weil man irgendwelche Sachen hinter vermutete, und dann hat die Bettdecke, die war wie so ein großes komisches verzogenes Dreieck, und dann diese Linien von diesen Teppichleisten da, die ragten da raus, und das war also ein … dies Phänomen, einfach diese Geschichte da, habe ich da herausgefiltert, rausgeholt und daraus vor zwei Jahren eine große Leinwand gemacht, auch etliche Zeichnungen gemacht […].«6 Diese heftige emotionale Reaktion Sonderborgs beim Anblick der Fotografie mag einen biographischen Grund besitzen. Denn nach seiner Inhaftierung durch die NS-Diktatur stellte der Künstler schwerwiegende charakterliche Veränderungen an sich fest: »Nach dieser Gefängnishaft war ich ein anderer Mensch«, beschrieb er seine Empfindungen und klagte über Konzentrationsmangel sowie über ein Gefühl innerer Unruhe und Rastlosigkeit. Die Erfahrung der Gestapo-Haft prägte auch seine Einstellung gegenüber jeglicher Form von Gefangenschaft: »Ich muß sagen, das war auch eine mit der grausigsten Geschichten, wenn man da im Gefängnis ist, daß man also – deshalb, wenn ich heute mal Gefangene, das ist egal welche das sind, ich habe für jeden Gefangenen Sympathie. Und wenn ich heute Gefangene auf der Straße sehe, manchmal beim Straßenbau oder irgendwo, dann halte ich immer an und spreche mit denen was und ist mir egal, ob die Wärter da kommen oder was weiß ich. Denn ich weiß, das ist ganz besonders wichtig, wenn man Gefangener ist, daß man Kontakt von draußen hat.«7 Der zufällige Anblick der Pressefotografie und das dadurch ausgelöste Entsetzen bildeten also für Sonderborg den Ausgangspunkt, »dies Phänomen, einfach diese Geschichte da« zu behandeln. Zunächst fertigte er 1979 eine neutral als »Zeichnung« betitelte Tuschearbeit an, von der aus er das einmal gewählte Motiv in mehreren Versionen bis 1984 immer wieder veränderte. Auffallend an den einzelnen Arbeiten ist dabei, dass Sonderborg durchgehend auf die einmal entwickelte Form zurückgegriffen hat. Das vom Format her größte dieser Bilder, die 1980 in Acryl auf Leinwand ausgeführte und mit Spur Andreas B. betitelte Gemäldefassung, bildet das Zentrum dieser Werkgruppe. Ausgehend von der Aufnahme der durchwühlten Zelle konzentrierte sich Sonderborg auf das nebensächliche Detail der Decke samt Bodenleiste. Der Maler nahm diese Gegenstände aus der Aufnahme heraus und übertrug sie in schwarzer Farbe auf den weißen Bildgrund. Die dreieckige Form der Bettdecke verband sich dabei mit der gebogenen Leiste, so dass die räumliche Anordnung der beiden Gegenstände nun in eine streng zweidimensionale Silhouette überführt wurde. Auf diese Weise entstand ein dreieckiges, abstraktes Gebilde, aus dem zwei dünne, abgewinkelte Linien hervortreten. Dem Gemälde Spur Andreas B. und den dazugehörigen Papierarbeiten liegt also eine Fotografie zugrunde, doch Sonderborg verwendete die dort gefundene Figur nicht unverändert. Im Vergleich zur Vorlage hat der Künstler das dunkle Dreieck sowohl vergrößert als auch gestaucht wiedergegeben. Damit erhält der Körper nicht nur mehr Gewicht, sondern die abgehenden Linien erscheinen im Verhältnis deutlich dünner und fragiler. Weil sie überdies bis an den Rand der Fläche reichen, wirken sie gedehnt und abgeschnitten. Sonder-

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borg hat die Form zudem nahezu zentriert auf die Leinwand gesetzt. Durch den Knick der Striche und den Freiraum über der Figur entsteht der Eindruck, als versuche sie sich aufzurichten. Der Körper besitzt wegen seines kompakten schwarzen Farbtons zwar eine geschlossene, feste Form, die sich in hartem Kontrast von dem weißen Grund absetzt; die unregelmäßigen Konturen und die schmalen, beschnittenen Linien sowie die Position der Figur im Bild vermitteln jedoch den Eindruck von Instabilität und Zerbrechlichkeit. Die Platzierung des dunklen Körpers auf einem ansonsten leeren, hellen Fond lässt ihn zudem isoliert wirken. Farbspritzer, die sich vor allem an der rechten oberen Ecke des Dreiecks befinden, aber auch in feinen Strahlen vom unteren Teil der Form ausgehen, bezeugen zum einen die heftige gestische Pinselführung und weisen das Bild als »gemalt« aus. Zum anderen erinnern sie an Blutspuren, die zusammen mit dem brüchigen Charakter des Körpers an eine äußere Gewalteinwirkung denken lassen.

FORENSISCHE UND KÜNSTLERISCHE SPURENSICHERUNG Die Vorgehensweise, Bildgegenstände aus Fotografien herauszutrennen und malerisch zu abstrahieren, ist typisch für den Arbeitsprozess Sonderborgs. In einem Gespräch begründete er sein Interesse dabei folgendermaßen: »Es sind neue Formen, ungesehene Formen. Weil diese Formen so überzeugend sind und ich sie selber nicht erfunden habe, deswegen hole ich sie mir raus, z. B über ein Foto und ich benutze sie dann. […] Ich hole nur das Image heraus über das Foto. Es ist oft das Zufällige, was einem begegnet und das einen so fasziniert, weil es einen überrascht.«8 Sonderborgs Hauptaugenmerk gilt also vorgefundenen, nicht primär von ihm selbst erfundenen Formen. Der Künstler betont hierbei das Zufällige sowie vor allem die Faszination und den Moment der Überraschung. Daher ist es immer nur ein bestimmter Teil der Vorlage, den der Künstler entnimmt und in ein zweidimensionales Zeichen überträgt. Das Bildgerüst der Fotografie samt seiner optischen und ästhetischen Charakteristika wie Tiefenschärfe, Unschärfe oder Perspektive haben für ihn dagegen keine Bedeutung. Am Schluss lässt sich deshalb auch nicht mehr erkennen, dass Sonderborg wie in Spur Andreas B. bei der Motivfindung überhaupt von einer Fotografie ausgegangen ist. Da den Maler primär solche gefundenen, abstrakten Formen interessieren, gibt es auf dem Gemälde Spur Andreas B. für sich betrachtet keine unmittelbaren Hinweise auf Baaders gewaltsames Ende in Stammheim. Erst der Titel schafft diese Verbindung und verleiht dem entwickelten Zeichen eine inhaltliche Bedeutung. Schon das Wort »Spur« muss hierbei besonders auffallen, denn es spielt eine zentrale Rolle in Sonderborgs Denken und Handeln. So beschrieb er im Jahre 1956 etwa in dem programmatischen Text Ruhe und Geschwindigkeit seine Malerei mit den Worten: »Oft sind es Zeichen, die nichts sind als Spur von Bewegung – Spur.«9 Doch auch darüber hinaus diente der Begriff »Spur« dem Künstler immer wieder dazu, das eigene Tun zu bestimmen, etwa wenn er seine Bilder als

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Spuren von Aktionen bezeichnet hat.10 Die Metapher der »Spur« liefert deshalb auch hier einen wichtigen Anhaltspunkt für die Deutungsrichtung des Bildes. Aufgrund von Sonderborgs eigenem Gefängnisaufenthalt kann weiterhin eine Identifikation mit dem inhaftieren Baader nicht ausgeschlossen werden.11 Sonderborg assoziiert also ein fragil und isoliert wirkendes Zeichen mit Andreas Baader. Dadurch, dass das lädierte Erscheinungsbild der Figur mit dem toten Terroristen verknüpft wird, lässt sich dessen Ableben als Folge einer Gewalttat auslegen. Diese erste Interpretation verschärft sich, ziehen wir die verwendete fotografische Vorlage und ihren Kontext in unsere Betrachtung mit ein. Denn es waren die Spurensicherer, die den ehemaligen Haftraum Baaders derart verwüsteten, um Anhaltspunkte für den Selbstmord des Terroristen zu finden. In diesem Zustand wurde der Tatort fotografisch dokumentiert. Mit dem Gebrauch eben dieser Aufnahme als Grundlage für sein Gemälde können wir einen direkten Bezug von den Taten der Ermittler zum Tode Baaders herstellen. Das Ergebnis ihrer forensischen Beweissicherung wird zur Spur, also zum Hinweis oder Zeichen auf oder für die Person des Terroristen. Dadurch kann eine Verbindung von der staatlich verübten Gewalt an der Zelle zu derjenigen gegenüber dem RAF-Mitglied gezogen werden. Aus einem abstrakten Zeichen, das den toten Andreas Baader repräsentiert, wird auf diese Weise ein Symbol, mit dem Sonderborg gegen die damalige Regierung und die staatlichen Haftpraktiken protestiert. Mit seinem Gemälde Spur Andreas B. ergriff der Maler damit Partei in der zum Glaubenskrieg gewordenen Debatte um die Todesursachen der RAF-Mitglieder, die bereits kurz nach dem Fund ihrer Leichname im Oktober 1977 entbrannte. Um diese Diskussion kreiste auch der Artikel des Spiegel, dem der Künstler die Vorlage für sein Gemälde entnommen hatte und in dem die Ergebnisse des internationalen Ärztegremiums zu den Todesfällen in Stammheim wiedergegeben wurden. Die Gerichtsmediziner kamen darin zu dem Schluss, dass es im Falle Baaders und der anderen Häftlinge Anhaltspunkte dafür gäbe, welche »die Annahme des Selbstmordes begründen« würden.12 Diese von offizieller Seite vertretene Ansicht zu den Vorkommnissen in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 führte aufgrund der teilweise nachlässigen Beweisaufnahme und Widersprüchlichkeiten in den Gutachten zu Spekulationen und wurde schnell in Zweifel gezogen. Vor allem aus den Kreisen von RAF-Sympathisanten wurde demgegenüber sofort nach dem Tod von Baader, Ensslin und Raspe die These vom Mord an den Terroristen entwickelt. In dieser, die Bundesrepublik in der Folgezeit stark prägenden, ideologischen Auseinandersetzung ergriff Sonderborg mit seinem Gemälde Partei. Obwohl nicht auf den ersten Blick ersichtlich, weisen der Bildtitel sowie der fragile und isoliert wirkende abstrakte Körper darauf hin, dass der Künstler den Staatsapparat am Tod von Andreas Baader beteiligt sah, gleichgültig ob es sich letztlich um Mord oder Selbstmord gehandelt hat. Dass dieser Vorwurf mit den Mitteln der gegenstandslosen Malerei erhoben wird, ist zugleich Stärke und Schwäche des Bildes, denn ohne den Titel und das Wissen um die fotografische Vorlage bleibt dem Betrachter die kritische Dimension der Arbeit verborgen. Andererseits

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153 K. R. H. Sonderborg: Spur Andreas B., Pulver an der Hand – Blut an der Wand, um 1983, Tusche auf Papier, 88 × 114 cm, Berlin, Galerie Georg Nothelfer

wendet Sonderborg sich eben durch diese Abstraktion gegen den neutral-nüchternen Kamerablick der Fotografie, denn sein Bild zeigt deutlich die individuellen Spuren des Künstlers und seiner handwerklichen Tätigkeit. Da Sonderborg wie üblich die Leinwand beim Malen auf den Boden gelegt hat, finden sich auf der Oberfläche die schwachen Abdrucke seiner Fußspuren. Sonderborg wird zum Zeugen der Vorgänge; in den Zeichen der physischen Anwesenheit des Künstlers drücken sich seine Bewegtheit und seine Anteilnahme aus.13 Insgesamt gelingt ihm also mit einem abstrakten, ausdrucksstarken Zeichen eine zunächst verborgene, dann aber deutliche politische Stellungnahme. Eine großformatige Tuschezeichnung der Werkgruppe, die Sonderborg nach 1983 beendet hat, unterstützt diese Deutung (Abb. 153). Das Bild unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von den anderen Arbeiten der Serie, denn es trägt auf der Vorderseite des Blattes eine Inschrift. Am unteren Rand hat Sonderborg mit Bleistift die Worte »Pulver an der Hand« und »Blut an der Wand« angebracht. Auch hierbei handelt es sich um Zitate, die Sonderborg – wie schon seine Bildvorlage – dem Spiegel entnommen hat. Über den Fundort und den Inhalt des Wortlauts können wir einen wesentlich deutlicheren Bezug zu den damals diskutierten, widersprüchlichen Todesumständen von Andreas Baader herstellen.

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So diente der erste Teil des Kommentars dem Magazin ursprünglich als Bildunterschrift für die Aufnahme der Zelle bei ihrer Veröffentlichung im bereits erwähnten sechsten Heft des Jahrgangs 1978. In einem weiteren Beitrag über die unzureichenden Ermittlungen der Untersuchungskommission im Jahre 1983 fand sich das gleiche Bild erneut, diesmal erläutert mit den Worten »Blut an der Wand«. Sonderborg fügte beide Bildunterschriften zusammen und erhielt damit einen gereimten Zweizeiler, der die gegensätzliche Beweislage deutlich zum Ausdruck bringt. Wenn die bei Baader an der Hand nachgewiesenen Schmauchspuren auf Selbstmord deuteten, so ließen Partikel, die sich auf der Zellenwand gefunden hatten, diese Schlussfolgerung zumindest fragwürdig erscheinen. Wie der Spiegel in diesem zweiten Artikel weiterhin berichtete, sind jedoch ausgerechnet die wichtigen, als »Spur Nr. 6« bezeichneten »Gewebeteile oder Blut von der Wand« aus der Asservatenkammer des Gerichtsmedizinischen Instituts der Stadt Stuttgart spurlos verschwunden.

DIE ÜBERZEITLICHKEIT DER ABSTRAKTION Die Rote Armee Fraktion löste sich nach 28 Jahren bewaffneten Kampfes im April 1998 auf. Die Reizwirkung dieses Themas der neuesten deutschen Geschichte war und ist damit aber noch lange nicht entschärft, was sich zuletzt anhand der kontrovers geführten und zum Teil polemischen Debatten zur Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und zum Gnadengesuch von Christian Klar im März 2007 gezeigt hat. Doch auch die künstlerischen Reflexionen zur RAF haben immer wieder Diskussionen ausgelöst: Als bekannt wurde, dass die Berliner Kunst-Werke eine Ausstellung zu diesem Thema planten, wurde das Projekt im Sommer 2003 bereits in seiner Vorbereitungsphase vehement attackiert.14 Ebenso haben einzelne Arbeiten allein, in denen sich Künstler mit dem deutschen Linksterrorismus der siebziger Jahre auseinandergesetzt haben, immer wieder für Kontroversen gesorgt. Seit seiner ersten Präsentation im Jahre 1989 war auch Gerhard Richters Bildzyklus 18. Oktober 1977 immer wieder heftigen Angriffen ausgesetzt. Sonderborgs Spur Andreas B. hingegen hat trotz seiner schon im Titel kaum verhohlenen Parteinahme für Andreas Baader nie ähnliche Debatten ausgelöst. Im Vergleich zu den Bildern des 18. Oktober 1977 dürften die Gründe hierfür zuallererst freilich am höheren Bekanntheitsgrad Richters liegen, doch lässt sich dieses Phänomen damit nicht vollständig erklären. Sonderborg hatte seit den achtziger Jahren kontinuierlich Einzelausstellungen in größeren Museen bundesweit, bei denen er immer auch Versionen von Spur Andreas B. gezeigt hat.15 Öffentlich präsent waren die Arbeiten also durchgängig. Im Gegensatz zu Richters Bilderfolge, die nach jahrelangen Verhandlungen schließlich 2000 im Museum of Modern Art in New York ihr Zuhause fand, wurde die Leinwandfassung von Spur Andreas B. außerdem recht bald von einem deutschen Museum angekauft. Seit 1983 gehört das Bild der Modernen Galerie des Saarlandmuseums in Saarbrücken, für das es vom damaligen

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154 K. R. H. Sonderborg: Spur Andreas B., 1980, Ansicht der Hängung, Berlin, Landesvertretung Saarland, Konferenzzimmer, Fotografie: Sven Beckstette, 2003

Direktor und Förderer des Informel Georg-W. Költzsch angekauft wurde.16 Zu sehen ist es dort jedoch momentan nicht, weil es in einem staatlich-föderalen Repräsentationsbau aufbewahrt wird: Das Bild kam 2002 in einem Konvolut mit anderen Kunstwerken zur Ausstattung der Landesvertretung des Saarlandes nach Berlin. Dort hängt es im Sicherheitsbereich des Gebäudes und schmückte zunächst an prominenter Stelle das Konferenzzimmer (Abb. 154).17 Nach Umbaumaßnahmen in der Etage befindet es sich nun direkt hinter dem Schreibtisch des Ministerpräsidenten. Dieser Platz wäre für keines der Bilder aus Richters Zyklus denkbar, obwohl der Künstler immer wieder betont hat, dass es ihm nicht konkret um die RAF und ihre Ziele, sondern um Ideologieanfälligkeit im Allgemeinen gehe. Und auch jedes andere Werk, das nur entfernt mit der RAF zu tun hat, ließe sich hier ohne größere Schwierigkeiten wohl nicht anbringen. Dass ausgerechnet Sonderborgs Spur Andreas B. mit seinem halb versteckten, halb offenkundigen Verweis auf den Terroristen in der offiziellen Einrichtung eines Bundeslandes eine repräsentative Rolle spielt, liegt aller Wahrscheinlichkeit nach an der äußeren Erscheinung des Bildes und dem von ihr provozierten Missverständnis. Auch wenn das Gemälde auf einer Fotografie beruht, so veränderte Sonderborg seine Vorlage

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dermaßen weitreichend, dass die Quelle und ihr Motiv in der abstrakten Chiffre nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind. Durch die Isolierung eines nebensächlichen Details entsteht ein abstraktes Zeichen, dessen Bedeutung erst durch den Titel und vor allem durch die Kenntnis des Vorbilds vollends deutlich wird. Aus einem konkreten, politischen Vorfall wie dem Tod Baaders destilliert Sonderborg ein einzelnes, abstraktes Zeichen, das sich sowohl rein ästhetisch als auch als Mittel des Protestes lesen lässt.18 Die Debatte um Mord oder Selbstmord durchzieht die gesamte RAF-Geschichte. Auch als sie das letzte Mal vor ihrer Auflösung in die Schlagzeilen geriet, war es diese Frage, die erneut für viel Diskussionsstoff sorgte. Im Jahre 1993 versuchte die GSG 9 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen in Mecklenburg, die RAF-Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld festzunehmen. Dabei starb Grams nach einem Schusswechsel auf den Gleisen, Hogefeld wurde bei dem Einsatz gefasst. Ob der Tod von Grams durch einen GSG 9-Schützen gezielt aus nächster Nähe erfolgte oder ob der Terrorist sich die tödliche Kugel selbst zugefügt hatte, führte wiederum zu heftigen Spekulationen und Meinungsverschiedenheiten. Auch wenn mehrere Gerichtsuntersuchungen und internationale Gutachten den Selbstmord von Grams immer wieder bestätigten, wurde vor allem in den Medien beharrlich an der Exekutions-Version festgehalten. Trotzdem mag der sogenannte »letzte Mythos der RAF« heute wohl nur noch bei wenigen Menschen wirkliches Interesse und Klärungsbedarf hervorrufen.19 Spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik hat sich außerdem die Theorie vom staatlich verübten Mord an Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim als wirkungsvolle Propagandalüge der zweiten und dritten RAF-Generation herausgestellt. Aktenfunde und Aussagen ehemaliger Mitglieder der terroristischen Vereinigung, die mit Unterstützung des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR Unterschlupf gefunden hatten, haben zu Tage treten lassen, dass innerhalb der RAF die Existenz der Waffen in den Zellen von Baader und Raspe bekannt, mehr noch, dass ihr Suizid im Falle des Scheiterns der Flugzeugentführung untereinander abgesprochen war. Nach außen diente die Behauptung vom Mord an den RAF-Kadern dagegen als letzter Legitimationsgrund für ein Weiterleben der Truppe über den »Deutschen Herbst« hinaus.20 Im öffentlichen Bewusstsein scheint der Deutsche Herbst auch dreißig Jahre später immer noch ein unabgeschlossenes Kapitel in der jüngsten deutschen Geschichte zu sein. Der Gnadengesuch des ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar, die Neuauflage des Prozesses gegen Verena Becker um ihre mögliche Beteiligung am Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback sowie die Meldung vom Abriss des RAF-Traktes der Justizvollzugsanstalt Stuttgart Stammheim haben in den letzten Jahren immer wieder für Diskussionen über den heutigen Umgang mit dem Linksterrorismus nach 1968, seinen Protagonisten und generell dem »Erbe« der RAF gesorgt. Losgelöst von seinem spezifischen historischen Kontext lässt sich K. R. H. Sonderborgs Spur Andreas B. als Mahnung für eine menschliche Behandlung auch gegenüber den ärgsten politischen Feinden auf der

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Grundlage eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates verstehen. Gerade aufgrund seiner abstrakten Erscheinungsform hat sich das Bild von einem Beispiel engagierter Tendenzkunst in eine überzeitliche künstlerische Stellungnahme verwandelt.

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DAS UNAUSLÖSCHLICHE GEDÄCHTNIS DER BILDER GERHARD RICHTERS ZYKLUS »18. OKTOBER 1977« Julia Gelshorn

Keines der Werke Gerhard Richters ist derart kontrovers diskutiert worden wie sein Zyklus 18. Oktober 1977.1 Dies verwundert nicht, da Richter bis dahin sowohl nach eigenen Aussagen, wie auch durch die Wahl seiner Bildsujets mit einem vermeintlichen Desinteresse an historisch relevanten Themen kokettiert hatte. In seinem eigenhändigen Werkverzeichnis konfrontierte er provokativ politisch anmutende Gemälde wie das Porträt Hitler oder die Fliegerstaffel der Phantom Abfangjäger mit banalen Sujets wie der Eisläuferin, der abgemalten Werbeanzeige eines Wäscheständers oder der verwischten Darstellung des Mailänder Doms und relativierte damit die Bedeutung einzelner Sujets.2 Dass Richter sich 1988 einem sehr brisanten und durch anhaltende Aktivitäten der RAF immer noch aktuellen – wenn auch verdrängten – Thema der deutschen Zeitgeschichte in einem umfangreichen Zyklus widmete, schien den Bildern einen Sonderstatus innerhalb seines Gesamtwerks zu verleihen. Entsprechend groß war das Befremden der Kunstkritik, sowohl über die Wahl des Sujets als auch über Richters ambivalente Darstellungsweise.3 Der Titel 18. Oktober 1977 bezieht sich auf ein Datum, an dem viele der Ereignisse des sogenannten »Deutschen Herbstes« kulminierten.4 Die 1971 gegründete, aus den Studentenrevolten und der außerparlamentarischen Opposition hervorgegangene Rote Armee Fraktion (RAF) arbeitete mit Guerillataktiken am revolutionären Umsturz der gesellschaftlichen und politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Nach Waffendiebstählen, Banküberfällen sowie Brand- und Bombenanschlägen auf Warenhäuser, Presse- und Polizeigebäude gipfelten die Aktivitäten schließlich in Entführungen und Geiselnahmen. Bereits 1972 waren die führenden Mitglieder der RAF inhaftiert worden, wodurch die Gewaltakte der Nachfolgegeneration und deren Sympathisanten jedoch

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nur noch zunahmen und schließlich 1977 in mehreren Geiselnahmen und der Forderung nach Freilassung der Inhaftierten eskalierten. Nachdem in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 ein Anti-Terror-Kommando die Geiseln des von palästinensischen RAFAnhängern entführten Flugzeugs »Landshut« in Mogadischu befreit hatte, wurden im Gefängnis Stuttgart-Stammheim, in dem sich die RAF-Häftlinge inzwischen in Isolierhaft befanden, die Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot aufgefunden. Auch Irmgard Möller und Jan-Karl Raspe hatten sich Stich- beziehungsweise Schusswunden zugefügt, denen Raspe noch am gleichen Morgen erlag. Die Forderung der palästinensischen Geiselnehmer sowie derjenigen, die bereits im September den Industriellen Hanns Martin Schleyer entführt hatten, die elf Mitglieder der RAF-Führungsriege aus der Haft freizulassen, war mit dem von vielen bezweifelten Selbstmord nun nicht mehr erfüllbar, woraufhin Hanns Martin Schleyer ermordet wurde. Seine Leiche wurde am 19. Oktober 1977 von der Polizei entdeckt.

DIE »VERUNDEUTLICHUNG« DER BILDER Richters Werktitel deutet an, der Zyklus stelle die Ereignisse jenes 18. Oktobers 1977 dar, tatsächlich trifft dies aber nur auf fünf der insgesamt fünfzehn Gemälde zu: Erschossener 1 und Erschossener 2 zeigen den toten Andreas Baader auf dem Boden seiner Zelle liegend, und Erhängte stellt Gudrun Ensslin dar, die mit einem Lautsprecherkabel am Fenster ihre Zelle hängt (Abb. 155–156). Die Gemälde Zelle und Plattenspieler gehen auf Fotografien der Polizei zurück, die nach der Auffindung der Toten in der Zelle Andreas Baaders aufgenommen wurden. Die weiteren zehn Gemälde beziehen sich auf Fotografien, die vor oder nach dem 18. Oktober entstanden sind. Das Jugendbildnis nimmt eine Porträtfotografie von Ulrike Meinhof vor der Gründung der RAF zum Vorbild, die drei Versionen von Tote zeigen sie, nachdem sie sich am 9. Mai 1976, also über ein Jahr vor dem Tod ihrer Mitstreiter, im Gefängnis Stuttgart-Stammheim erhängt hatte (Abb. 157–158). Eine ebensolche Dreierserie zeigt unter dem Titel Gegenüberstellung Aufnahmen von Gudrun Ensslin, und Festnahme 1 sowie Festnahme 2 lassen die Verhaftung von Holger Meins am 1. Juni 1972 in malerisch imitierter Unschärfe verschwimmen (Abb. 159–160). Das größte Gemälde des Zyklus ist die Beerdigung, auf der sich undeutlich in einer Menschenmenge die drei Särge von Baader, Ensslin und Raspe erkennen lassen, die am 27. Oktober 1977 in Stuttgart beigesetzt wurden (Abb. 161). In der kurzen Überschau wird deutlich, dass der Titel des Zyklus sich auf das Datum bezieht, an dem sämtliche Handlungsstränge zusammenlaufen, wobei sich die Motive jedoch weder auf diesen Tag, noch auf die Wiedergabe von Ereignissen beschränken. Die chronologische Reihenfolge der Bilder ist zudem vom Künstler offen gelassen und hängt von der jeweiligen Präsentation im Ausstellungsraum ab. Richters Nummerierung der Gemälde in seinem Werkverzeichnis läuft gar einer chronologischen Ordnung zuwider,

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Gerhard Richter: Erschossener 1, 1988, Öl auf Leinwand, 100 × 140 cm, New York, Museum of Modern Art

indem etwa Gudrun Ensslin als Erhängte, mit der Nr. 668 vor dem Triptychon ihrer Gegenüberstellung steht, ebenso wie die Darstellungen der toten Ulrike Meinhof und Andreas Baader eine niedrigere Nummer als das Jugendbildnis oder die Festnahme haben. Die Manipulation der historischen Reihenfolge, die demnach vielmehr auf die Chronologie der Werkentstehung verweist, lässt darauf schließen, dass Richter eine zielgerichtete, logische Abfolge des Dargestellten gerade zu hinterfragen suchte und auf die »Gemachtheit« der Bilder sowie seines gesamten Zyklus verwies. Wollte man die einzelnen Darstellungen den klassischen Bildgattungen zuordnen, so ließen sich vier Porträts, ein Stillleben, ein Interieur, und neun Historienbilder ausmachen, wenn auch die Gattungsbezeichnung bereits eine Grundproblematik des Zyklus darstellt. Die Werke zeichnen sich durch eine Heterogenität der Formate und Motive aus, die sich zwar stilistisch einheitlich auf ein geschichtliches Ereignis und seinen Kontext beziehen, dabei aber fragmentarisch und ambivalent bleiben.5 Die Titel der einzelnen Gemälde, in denen keine Namen genannt werden, wirken einer Identifizierung der Dargestellten entgegen und sind lediglich in der Erinnerung an die bekannten Vorbilder aus der Presse und durch den Obertitel des Zyklus auf die geschichtlichen Ereignisse zu beziehen. Der Unschärfe-Effekt der Gemälde erschwert zudem deren Lesbarkeit dergestalt, dass etwa die Erhängte oder die Beerdigung ohne ihre Titel kaum als solche erkennbar wären. Nur inner-

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156 Gerhard Richter: Erhängte, 1988, Öl auf Leinwand, 200 × 140 cm, New York, Museum of Modern Art

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157 Gerhard Richter: Jugendbildnis, 1988, Öl auf Leinwand, 67 × 62 cm, New York, Museum of Modern Art

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158 Gerhard Richter: Tote, 1988, Öl auf Leinwand, 62 × 73 cm, New York, Museum of Modern Art

halb des Zyklus sind die einzelnen Gemälde daher als historische Ereignisbilder semantisiert. Richter selbst erläuterte sein Verfahren in einem Interview, indem er die Bilder als »ins Allgemeine verundeutlicht und vermalt« beschrieb und kommentierte: »[…] weil ich ganz und gar nicht wollte, daß man da Gudrun oder Ulrike erkennt. – Kein Anschauungsunterricht in deutscher Geschichte.« 6 Dass die Bilder stattdessen auf eine übergeordnete Ebene der Kritik an jeglicher Ideologie gehoben werden sollen, ist nicht zuletzt aufgrund Richters eigener Aussagen inzwischen zu einem Allgemeinplatz in der Rezeption des Zyklus geworden. Nicht nur wird seine »Verweigerung eines Statements« so ausgelegt, dass die Betrachtenden auf sich selbst und ihre Erinnerungsarbeit zurückgeworfen werden, auch wird die Themenwahl generell im größeren Zusammenhang der Ideologiefeindlichkeit des Künstlers erklärt.7 Die RAF-Mitglieder würden dabei einerseits zu Repräsentanten wie andererseits auch zu Opfern einer dogmatischen Ideologie, deren Macht Richter in seinem Zyklus zum Thema mache, ohne Partei zu ergreifen.

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Gerade diese »Verundeutlichung« und fehlende Positionierung Richters war es jedoch, die dem Zyklus harsche Kritik einbrachte: »Aufklärung täte also not, nicht Trauer, nicht Zumalen von Ungeklärtheiten, sondern Aufreißen von Wunden«, schrieb Hansgünther Heyme in der populären Kunstzeitschrift Art und bezog sich damit auf die nach Meinung der Altlinken nie ganz geklärte Frage, ob die Inhaftierten tatsächlich Selbstmord begangen hatten.8 Kunst müsse sich den Verzerrungen der Wahrheit stellen, müsse freilegen und nicht verschleiern, forderte er und klagte damit Richters fehlende künstlerische Stellungnahme dazu ein, dass bereits zwei Monate nach dem 18. Oktober 1977 das Ermittlungsverfahren der Stuttgarter Staatsanwaltschaft trotz einiger Widersprüche und zahlreicher Unklarheiten mit der nüchternen Feststellung eingestellt worden war, beim Tod der Häftlinge habe keine Fremdeinwirkung vorgelegen. Von anderer Seite wurde wiederum kritisiert, Richter entwerfe ein einseitiges Geschichtsbild zugunsten der Terroristen, indem er keines der Opfer der RAF gemalt habe. Gemäß Walter Grasskamp verleiht die »Abwesenheit der Opfer« der Serie »eine kräftige Schlagseite«, und Richter begünstige den »historisch falschen Eindruck tragischer Singularität seiner Protagonisten«.9 Diesen Vorwurf erweiternd beschuldigte Hilton Kramer 1995 anlässlich des Ankaufs der Bilder durch das Museum of Modern Art in New York das Museum gar einer »Erhebung der Baader-Meinhof-Bande zu politischen Märtyrern«.10 Diese sehr negativen, aber auch die überwiegenden positiven, meist sehr betroffenen Reaktionen auf Richters Zyklus machen deutlich, dass es hier vorrangig um moralische und politische Positionierungen zur deutschen Geschichte von sowohl »rechten« wie auch »linken« Kritikern ging. Hubertus Butin hat in seiner Aufarbeitung der nationalen und internationalen Rezeption des Zyklus darauf hingewiesen, dass in den USA, im Gegensatz zu Deutschland, bezeichnenderweise mit viel größerer Selbstverständlichkeit auf die ästhetischen Qualitäten der Bilder eingegangen wurde, was er auf die Distanz der USA zu der für sie eher fremden RAF-Thematik zurückführte.11 Eines der wichtigsten Anliegen sämtlicher Kritiker und Kunsthistoriker war stets, den Bildern trotz ihrer »Verundeutlichung« – oder gerade deswegen – eine politische Position des Künstlers zu entnehmen und diese moralisch zu beurteilen. Vor allem die polarisierende Wirkung des »Mythos RAF« hat diese Diskussionen nicht abreißen lassen. Entsprechend wurde Richter die Wahl des Sujets sogar als geschickt eingesetzte, publikumswirksame Strategie unterstellt; ein Vorwurf, gegen den Richter sich sogar gezwungen sah, öffentlich Stellung zu beziehen.12 Bezeichnend scheint jedoch vor allem, dass das Befremden über die Wahl der Thematik und die durchgehend moralisch aufgeladene Diskussion um die Bilder auf ein anhaltendes Bedürfnis nach einer kritisch-moralischen Funktion der Kunst und insbesondere der Historienmalerei verweisen. Indem der Künstler erstmalig derart umfassend ein politisches Thema von nationaler Bedeutung aufgriff, setzte er sich einer Erwartungshaltung aus, welche die Gegenwartskunst an traditionellen Kriterien der Kunst maß. Mit den Forderungen nach einer »Lesbarkeit« der Bilder, nach »Angemessenheit« der Darstellung und vor allem mit der Identifizierung von »Helden« und Opfern bemühte die Diskussion

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159 Gerhard Richter, Gegenüberstellung 1, 2 und 3, 1988, Öl auf Leinwand, je 112 × 102 cm, New York, Museum of Modern Art

um Richters Zyklus klassische Gemeinplätze des akademischen Diskurses zur Historienmalerei und offenbarte, dass die Darstellung historischer Themen auch heute noch als exemplum virtutis gelesen wird. In genau diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Gregorio Magnani 1989 den Künstler in einem Interview darauf aufmerksam machte, die Schwierigkeit in seinem Zyklus sei, dass er weder eine ideologische noch politische Absicht äußere, wie es beispielsweise Jacques-Louis David noch gekonnt habe. Ungeachtet dessen, dass Richters Zyklus in einem völlig anderen ästhetischen wie politischen Kontext entstanden ist als die Historienbilder Davids, werden die gleichen Forderungen nach einem moralischen Exempel und einer erzieherischen Wirkung an ihn herangetragen. Richters Erwiderung darauf lässt sich jedoch ebenso wenig auf eine Stellungnahme ein wie sein gemalter Zyklus: »David malte Helden, ich malte Opfer. Nicht ein Opfer einer spezifischen Ideologie oder Macht, sondern einfach menschliche Opfer.«13

AUF DEM SCHLACHTFELD DER KUNSTGESCHICHTE Das Beispiel Davids ist neben demjenigen Edouard Manets das am häufigsten zitierte vermeintliche Vorbild für Richters Darstellung der RAF-Thematik. So beschreibt etwa Robert Storr den Tod des Marat von 1793 als exemplarischen Vorläufer für Richters Erschossener 1 und Erschossener 2, gesteht dabei jedoch ein, es handle sich eher um »indirekte Ähnlichkeiten« zwischen beiden Bildern als um eine strikt genealogische Verbindung.14 Während hier offenbar von formalen und ikonographischen Ähnlichkeiten

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ausgegangen wird, sieht Martin Henatsch in seiner Analyse des Zyklus eine Parallele zwischen Richter und Manet in der Tatsache, dass beide auf die massenmediale Verwertung politischer Ereignisse reagiert hätten: Das »einzige große Historienbild der Moderne«, Manets Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko von 1868–1869, bilde mit seinem analytischen Infragestellen der tradierten Gattung einen über hundert Jahre zurückliegenden Ausgangspunkt für Richters Geschichtskonzept im 18. Oktober 1977, ohne dass Richter sich jedoch ausdrücklich auf das französische Gemälde bezogen habe.15 Keiner derjenigen Autoren, die etwaige Vorläufer für Richters Bilder ausmachen, definiert jedoch konkret das Verhältnis zu den vermeintlichen Bildquellen. Storr etwa hält zwar die Beziehung zwischen der Montage von Fragmenten in Manets zweiter Version der Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko und Richters Wiederaufnahme von Fotografien in unterschiedlichen Größen für unübersehbar, möchte Richter aber nicht unterstellen, Manet oder David direkt zitiert zu haben.16 Dabei wäre zu fragen, inwiefern selbst eine indirekte Bezugnahme Richters auf die kunsthistorischen Vorbilder entsprechenden Einfluss auf die Interpretation der Gemälde haben müsste. Ein Vergleich von Richters Bild des toten Baader mit Davids Darstellung des ermordeten Marat müsste etwa nahelegen, in der formalen wie ikonographischen Anspielung Richters einen Verweis darauf zu sehen, dass beide Männer einem Mord zum Opfer gefallen wären; ein Schluss, den jedoch keiner der Interpreten ziehen mag. Eine Gegenüberstellung von Richters Gemälden mit Wolf Vostells Arbeiten über die RAF-Thematik lässt deutlich werden, warum Richters Zyklus immer wieder mit konkreten Vorbildern der Historienmalerei verglichen wird: Während Vostell in seiner Arbeit

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160 Gerhard Richter: Festnahme 1, 1988, Öl auf Leinwand, 92 × 126 cm, New York, Museum of Modern Art

Regina von 1980 die vergrößerte Aufnahme einer polizeilichen Gegenüberstellung von Ulrike Meinhoff grob übermalt und durch ein aufmontiertes Radio mit der titelgebenden Aufschrift »Regina« ergänzt hatte, sind bei Richters Versionen der Gegenüberstellung die Fotografien vergrößert mit Ölfarbe auf Leinwand übertragen und anschließend leicht verwischt worden (Abb. 162). Allein aufgrund der Materialien liegt in Bezug auf Vostell ein Vergleich mit der Gattung der Historienmalerei fern, während Richter sich technisch in eben jene traditionelle Bildform einfügt. Darüber hinaus unterscheidet die Künstler jedoch vor allem die Auswahl und Behandlung ihrer Vorlagen. Beide zeigen zwar eine polizeiliche Gegenüberstellung von Mitgliedern der RAF, Vostell wählt dafür jedoch eine sogar in der Vorlage der Zeitschrift Stern als »unwürdig« beschriebene Aufnahme der grimassierenden Ulrike Meinhof, auf der sie von Beamten mit körperlicher Gewalt dazu gezwungen wird, für die Identifizierung zu posieren, und verstärkt durch seine brutale Übermalung den Schockeffekt der massenmedialen Präsentation.17 Richter wählt hingegen für die Gegenüberstellung Gudrun Ensslins diejenigen Polizeifotos aus, die sie am wenigsten entstellt zeigen, und reduziert sein Gemälde auf den Ausschnitt eines Brustbildes, in dem die Gefängniskleidung der Inhaftierten ebenso ausgeblendet wird wie der sie umgebende Raum. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, Richter verleihe damit den RAF-

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Gerhard Richter: Beerdigung, 1988, Öl auf Leinwand, 200 × 320 cm, New York, Museum of Modern Art

Terroristen menschliche Würde und stelle sie möglichst neutral dar.18 Die Neutralisierung des räumlichen Kontextes, durch welche die Dargestellten der profanen Sphäre des jeweiligen Ereignisses enthoben werden, ließe sich gar mit dem auratisierenden Hintergrund von traditionellen Darstellungen Heiliger oder hochgestellter Persönlichkeiten vergleichen, was zu einer Lesart der Dargestellten als »Helden« beigetragen haben dürfte. Es fällt auf, dass Richter sich trotz des aktuellen Sujets und der oft spektakulären Vorlagen auf eher klassische Bildformen beschränkt hat, die sich zumindest grob den traditionellen Gattungen der Malerei zuordnen lassen. Damit scheint er malerisch zu untersuchen, inwiefern die längst totgesagten Bildgattungen auch heute noch die Grundlage für das Wahrnehmen von Bildern und historischer Erfahrung darstellen können. Die Erinnerung an Gemälde der Kunstgeschichte ist damit schlichtweg auf die Tatsache zurückzuführen, dass Richter aus dem Fundus der Pressebilder diejenigen Vorlagen gewählt hat, die noch entfernt an herkömmliche Bildmodelle erinnern. In seiner Wiederholung der aufgefundenen Modelle arbeitet er diese klassischen Bildinszenierungen entsprechend heraus und kommentiert sein Vorgehen in einem Interview damit, dass er anfangs eigentlich mehr »das ganze Problem, diese Wirklichkeit von damals« habe malen wollen: »Dann hat sich das aber ganz anders entwickelt, eben zu Tod hin. Und das ist eigentlich gar nicht so unmalbar, im Gegenteil, Tod und Leid waren ja immer ein Thema der Kunst.«19 Richter interessiert sich demnach nicht nur für die Singularität des historischen Ereignisses, sondern auch für die Tradition seiner bildlichen Darstellung. In diesem Zusammenhang wäre der These Hubertus Butins zuzustimmen, Richter habe keine jener

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162 Wolf Vostell: Regina, 1980, Collage, Acrylfarbe auf Emulsions-Leinwand, 55 × 40 cm, Sammlung Feelisch, Remscheid

»Schockfotos« ausgewählt, wie sie von Roland Barthes 1957 in einem Aufsatz beschrieben und als »überkonstruiert« kritisiert worden seien.20 Butins Feststellung, es handele sich im Zyklus Richters stattdessen größtenteils um »dokumentarische« Fotografien, die nicht auf einen Effekt hin inszeniert seien, muss jedoch insofern ergänzt werden, als Richters Akt des Abmalens gerade den dokumentarischen Aspekt der Bilder tilgt und sie mit einem Weichzeichnereffekt auf seine Weise inszeniert und auratisiert, was ihm von einigen Kritikern als illegitime Ästhetisierung vorgeworfen wurde. Die Übertragung der Fotografien in malerische Formen, die jedoch mit dem Unschärfe-Effekt auf ihr fotografisches Vorbild verweisen, überblendet demnach die Wirkungsweisen zweier differenter Medien, auf die auch Barthes mit seiner weiteren Unterscheidung von »Schockfotos« und Historienmalerei hingewiesen hat.21

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Die Diskussion, ob es sich nun bei Richters Zyklus um Historienmalerei, deren Erneuerung, deren Infragestellung oder gerade deren Verneinung handle, hält dementsprechend bis heute an. Während einerseits ausgeschlossen wird, es könne sich um Historienbilder handeln, da ihre Kommentarlosigkeit der traditionellen Gattung widerspreche, haben Benjamin Buchloh und Stefan Germer die Gemälde als Historienbilder beschrieben, welche »die Darstellbarkeit des Historischen problematisieren«.22 Germer erkennt in Richters Zyklus eine doppelte Struktur der Trauer, sowohl im dargestellten Gegenstand als auch im Verfahren der Malerei, die um den Verlust der klassischen Historienmalerei trauere. Auch Buchloh sieht in Richters Zyklus eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Grenzen der Malerei sowie ein grundlegendes Bewusstsein von der Unmalbarkeit der Geschichte im 20. Jahrhundert. Indem Richter aber – etwa im Gegensatz etwa zu Andy Warhols Unfallbildern – ein historisch spezifisches Projekt entwerfe, erzeuge er ein Gedächtnis und Geschichtsverständnis und leiste zugleich eine Revision der dominierenden zeitgenössischen Praktiken der Kunst.23

BILDPRODUKTION Abgesehen von dieser Revision zeitgenössischer künstlerischer Bezugnahmen auf die – deutsche – Geschichte lässt sich Richters Zyklus durch den malerischen Bezug auf die Pressefotografie aber auch allgemeiner als eine Untersuchung von aktuellen Bildformen der Erinnerung beschreiben. Germer deutet Richters Bezug auf die Fotografie als eine »subversive« Qualität der Bilder, die den fiktionalen Charakter der medial vermittelten Wirklichkeit bewusst mache und dadurch einen malerischen Zweifel gegenüber der Fotografie visualisiere, so dass der Zyklus »die scheinbar unerschütterliche Evidenz des Faktischen als Konstruktion denkbar werden lässt«.24 Dieser fiktionale Charakter der Wirklichkeit zeigt sich für Martin Henatsch auch in Richters Verwendung der grauen Farbe und ihrer Verwischung, die er als Ausdruck von Unsicherheit gegenüber dem Dargestellten deutet: Unschärfe sei für Richter eine Aussage über unser von Unsicherheit, Flüchtigkeit und Ausschnitthaftigkeit geprägtes Verhältnis zur Wirklichkeit.25 Von anderer Seite wurde das Grau hingegen ikonographisch als Bedeutungsträger und als Zeichen für Zweifel, Indifferenz, Tod, Trauer oder Verschwinden gelesen, wobei allerdings das jeweilige Verhältnis des Zyklus zu den zahlreichen weiteren grauen Gemälden mit banalen Sujets in Richters Œuvre nicht ganz überzeugend herausgearbeitet werden konnte.26 Anstelle einer ikonographischen Deutung der verwischten grauen Farbe kann Richters Verfahren aber auch als intermediale »Markierung« der Gemälde verstanden werden, die sie als Wiederholung und Reflexion bereits bestehender Bilder kennzeichnet. Durch die gemalte Unschärfe erinnern Richters Gemälde einerseits an Schwarz-Weiß-Fotografien und damit an ihr Vorbild, andererseits lenken die opaken Farbverwischungen die Aufmerksamkeit des Betrachtenden auf die Medialität der Malerei selbst. Das Bild legt

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damit offen, dass es – auch wenn es beispielsweise an ein traditionelles Porträt erinnern mag – keine authentische Darstellung liefert, sondern durch eine bildliche Vorlage vermittelt wurde, die zunächst einmal als unhinterfragtes Abbild der Realität dient. Im Gegensatz etwa zu den sogenannten »Fotorealisten« erweist sich Richters »Als-ob-Fotografie« jedoch als absichtlich mangelhaft. In der malerischen Übersteigerung der systemtypischen Unschärfe der Fotografie wird die Illusion des imitierten Mediums sogleich wieder gebrochen und auf die Pikturalität verwiesen. Erst der Verweis auf die künstlerische Gemachtheit, die im fertigen Gemälde noch als Spur erfahrbar bleibt, führt die Bilder jenem Prozess des Erinnerns zu, den Richter mit seiner Technik einer weitgehend »passiven« Aneignung von Fotografien als einen Effekt von Bildproduktion und Bildgebrauch reflektiert. Dabei geht es aber gerade nicht um eine Kritik an einem massenmedialen Spektakel, zu deren Zweck Richter andere Vorbilder hätte wählen können, oder um die These von Bildern als Simulakren einer nicht mehr erfahrbaren Wirklichkeit, sondern vielmehr um ein Interesse an der Produktivität der Bilder selbst – an dem, was ihnen in der möglichst automatisierten Herstellung durch Abmalen zu entlocken ist und auf was sie – quasi »selbsttätig« – verweisen.27 Richter macht zudem deutlich, dass gewisse Bildformeln unabhängig vom Medium wirksam bleiben: Auch wenn er die Vorlagen der Pressefotografie entnimmt, verweist er doch unwillkürlich immer wieder auf Bildkonzepte aus der Kunstgeschichte. Die Erinnerungen an bildmächtige Muster der Malerei werden dabei in zeitgenössischen Fotografien »wiedergefunden« und in der malerischen Umsetzung reflektiert, ohne konkrete kunsthistorische Vorbilder zu zitieren. Richters Vorgehen kann als künstlerische Auseinandersetzung mit einem visuellen Blickregime, den daraus resultierenden Bildformen und ihren gesellschaftlichen Konnotationen und Gebrauchsweisen verstanden werden. Insofern lässt sich auch die Wahl von Motiven, in denen eine ambivalente Lesart als Helden- und Opferdarstellung bereits angelegt ist, als gezielte malerische und damit auch politische Reflexion eben dieser Bildformeln, aber keineswegs als moralische Stellungnahme oder Provokation des Künstlers interpretieren. Denn auch wenn der Heldenstatus im Geschichts- und Ereignisbild – und dies erst recht im Kontext der RAF-Geschichte – problematisch geworden sein mag, deckt Richter auf, dass die Formel des Helden- beziehungsweise Opferbildes nach wie vor aktuell ist und der kollektiven medialen Zeugenschaft an historischen Ereignissen dient. Dabei lässt sich in Richters Wahl der Vorlagen einerseits eine Bloßlegung ihrer glorifizierenden oder sakralisierenden Bildsprache und andererseits eine zusätzliche Inszenierung der Gemälde in der malerischen Isolation einzelner Figuren vor »neutralisiertem« Hintergrund beobachten. Indem Richter die Bilder zudem in einem Zyklus zusammenfasst, der in einem separaten Ausstellungsraum präsentiert wird, referiert er gar auf die ursprünglich religiöse Form des Märtyrerzyklus. Wie die Rezeption der Bilder gezeigt hat, wurden diese Formeln auch entsprechend verstanden. Durch die malerisch imitierte Unschärfe verweist Richter jedoch darauf, dass es sich nicht um von ihm intendierte Heldendarstellungen handelt, sondern um die Wieder-

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holung und Reflexion bereits bestehender Bilder und ihre Konstruktion durch einen fotografischen Blick und gesellschaftlichen Gebrauch: Die Wahrnehmung des historischen Ereignisses wird demnach in ihrer Abhängigkeit von Darstellungskonventionen reflektiert. Statt eines Heldenmythos der RAF geht Richter einer Gattungs- und Medienreflexion nach und untersucht dabei auch das Allgemeine im Individuellen. So antwortete der Künstler auch auf die Frage von Jan Thorn-Prikker, ob er nie das Gefühl gehabt habe, dass es ein Bilderverbot geben könne: »Nein, das hatte ich nie. Schon deshalb, weil ich Photos immer als Bilder angesehen habe.«28

ÜBERSCHREIBEN, VERDECKEN, ERINNERN Betrachtet man allerdings die Gemälde Beerdigung, Festnahme oder Plattenspieler, so wird deutlich, dass hier von einer visuellen Referenz auf bekannte Bildformeln kaum noch die Rede sein kann. Indem Richter die Motive in der Unschärfe zudem einem gegenstandslosen Informel annähert, macht er das historische Ereignis nahezu unkenntlich und demonstriert damit gerade eine »Nicht-Darstellung«. Auch die fotografischen Vorlagen der Gemälde in seinem Atlas werden bis zur Unleserlichkeit manipuliert und noch unschärfer präsentiert als die Gemälde selbst – ein Verfahren, das Richter ansonsten nur für einige ebenfalls im Atlas aufgenommenen Fotografien aus Konzentrationslagern verwandt hat, die freilich nie in Gemälde übertragen wurden. Im Fall der Oktober-Bilder legt die Präsentation der Fotografien im Atlas ihre Verarbeitung in den Gemälden insofern offen, als auch die »Vorlagen« jenen vermeintlichen visuellen Entzug demonstrieren, der die Betrachtenden auf sich selbst zurückwirft. Diejenigen Bilder des Atlas, die als »Schockbilder« aus der Sammlung der Vorlagen und Projekte hervorstechen, werden demnach so manipuliert, dass sie weder als vermeintlich »dokumentarische« Zeugnisse eines Ereignisses, noch als lesbare Aussage des Künstlers verwertbar sind. Stattdessen markiert Richter auch hier in der Verundeutlichung seinen auktorialen Rückzug, um die Bilder in ihrer diffusen ReProduktion umso stärker »für sich« stehen zu lassen. In den Folgeprojekten Richters, die sich ebenfalls mit der Baader-Meinhof-Gruppe auseinandergesetzt und bezeichnenderweise kaum Echo ausgelöst haben, führt er diesen Entzug seiner Darstellung konsequent weiter: Sein »abstraktes« Bild Decke aus dem gleichen Jahr wie der Zyklus selbst, gibt kaum zu erkennen, dass sich unter den weißen Farbrakeln eine in 18. Oktober 1977 nicht verwandte Version des Gemäldes Erhängte verbirgt, die fast vollständig von abstrakten Farbspuren überdeckt wird. Dieses Verfahren trieb Richter in der späteren Serie Stammheim von 1995 auf die Spitze, indem er dreiundzwanzig Seiten der gleichnamigen Publikation von Pieter H. Bakker Schut von 1986 mit Farbe übermalte und damit nicht nur jede Illustration verweigerte, sondern auch zum Teil den Text selbst verdeckte (Abb. 163).29 Kai-Uwe Hemken deutet diese Übermalung als Widerspruch Richters gegen die von Bakker Schut verfochtene These des Mordes an den

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163 Gerhard Richter: Stammheim, 1994, Öl auf bedrucktem Papier, 19 × 11,6 cm, Privatbesitz

RAF-Mitgliedern.30 Dagegen zu halten ist allerdings, dass Richter gerade keine konkrete Stellungnahme liefert, sondern vielmehr seinen Rückzug aus der Darstellung des historischen Ereignisses demonstriert. Der Text des Buches wird durch einen »abstrakten Text« überschrieben und ersetzt.31 Diese Anlage von Bildern als Palimpsest kann mit Craig Owens auch als allegorische Struktur beschrieben werden: Die Allegorie stellt dabei nicht die ursprüngliche Bedeutung der Bilder wieder her, sondern fügt ihnen eine weitere Bedeutung hinzu. Während Richter in seinen markierten Wiederholungen der Medienbilder einerseits deren ideologische Codes und visuellen Traditionen aufdeckt, überschreibt er die Bilder andererseits in der opaken Unschärfe und der »Verdeckung« durch farbliche All-over-Effekte mit einer Anti-Repräsentation, die sich einer visuellen Ideologie gerade zu

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widersetzen sucht.32 Das geschichtliche Ereignis wird damit nicht rekonstruiert oder kommentiert, sondern ebenso durch Bilder geformt, wie es von diesen »überdeckt« wird. Charles Baudelaire hat in Der Opiumesser das Gedächtnis selbst als Palimpsest beschrieben, da sich dort unzählige Schichten von Gedanken, Bildern und Gefühlen ablagerten, wobei alle Schichten einander chaotisch überdeckten, aber jede erhalten bleibe.33 Entsprechend entledigt Richter, auch in den Übermalungen, die Bilder gerade nicht ihrer Gedächtnisfunktion, sondern demonstriert vielmehr, dass das Vermalen, »Verundeutlichen«, Verdecken und Verdrängen den »Inhalt« der Bilder nicht tilgen kann. Vielmehr schreiben sich die »Welt« und damit auch die Erinnerung in der Wiederholung der Bilder auf immer neue Art quasi selbsttätig in deren Oberfläche ein.34 Die gemalte Unschärfe ist demnach nicht nur als Markierung einer Referenz auf bildliche Vorlagen zu verstehen, sondern auch als produktionsästhetischer Indikator eines quasi »unfreiwilligen« bildlichen Zeigens. Hemken hat Richters Zyklus 18. Oktober 1977 mit Bezug auf Walter Benjamin als »allegorische Sinnbilder« gedeutet und darin eine Kritik an den Massenmedien gesehen, die Geschichte produzierten, anstatt Raum für Erinnerung zu lassen.35 Diese Deutung ließe sich insofern modifizieren, als Richters Werke als ausdrückliche Versuche gelesen werden können, Geschichtsschreibung und Erinnerung in ihrer Kontingenz erfahrbar zu machen. Sowohl die demonstrative Wiederholung von Bildern und damit auch von Bildformeln, als auch die Manipulation und Verunklärung einer chronologischen Abfolge widersetzen sich einer konsistenten oder gar teleologischen Vorstellung von Geschichte. Und die Überlagerung ästhetischer Medien und stilistischer Kategorien, die ihrem ursprünglichen Kontext entrissen werden sowie die Konfrontation unterschiedlicher Motive, Gattungen und Gemäldeformate führen das Fragmentarische und Unabgeschlossene der bildlichen Narration vor, das Owens als grundlegend für allegorische Verfahren der Postmoderne beschreibt.36 Insofern setzt Gerhard Richter den Ideologien des Terrorismus, des Rechtsstaats aber auch der Geschichtsschreibung seine Form der Wiederholung und Überschreibung entgegen und demonstriert eine melancholische Distanz zum geschichtlichen Ereignis sowie zur Definition deutscher Nachkriegsidentität. Der Zyklus legt in den Wiederholungen bloß, wie Bilder unwillkürlich Politik machen, auch wenn sie nicht auf das Subjekt ihres Autors verweisen, dafür aber immer auf andere Bilder und die Kontexte, denen sie entstammen. Politische Stellungnahme und Erinnerungsarbeit sind demnach Aufgabe des Rezipienten; eine Bildstrategie, die – wenn man die kontroverse Rezeption betrachtet – aufgegangen zu sein scheint.

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DAS INFORMELLE HISTORIENBILD KARL OTTO GÖTZ UND DIE GEMALTE WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS Christoph Zuschlag

Die Frage nach dem Historien- beziehungsweise Ereignisbild im 20. und 21. Jahrhundert, also in einer Epoche nach dem Ende der klassischen Bildgattungen, stellt sich in besonderer Schärfe im Hinblick auf die Kunst des Informel. Noch immer wird dieses zumeist als gänzlich a-mimetisch, inhaltsfrei, dezidiert unpolitisch, rein auf die Autonomie der Gestaltungsmittel und die spontane Äußerung der psychischen Gestimmtheit des Künstlers gerichtet interpretiert. Dass diese Sicht jedoch einseitig ist und der Ergänzung bedarf, rückte erst in jüngerer Zeit in das Blickfeld der Forschung. So ist deutlich geworden, dass bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Informel bislang eine ganze Reihe von Aspekten weitgehend vernachlässigt wurde: erstens die Werktitel, die vielfach semantische Verweise oder Allusionen enthalten, zweitens die mythologischen und religiösen, historischen und zeitgeschichtlichen Bezüge in vielen Werken, drittens die Illustrationen und Bearbeitungen literarischer und philosophischer Texte durch Künstler des Informel, viertens die enge Verbundenheit mit der kunstgeschichtlichen Tradition, die sich sowohl in zahlreichen Hommagen an Künstler der Vergangenheit oder Gegenwart als auch in Zitaten und Paraphrasen kunstgeschichtlicher Vorbilder äußert, und schließlich fünftens der fremdreferentielle, symbolische Gehalt vieler informeller Bilder.1 Im Folgenden sei den Spuren und Reflexen (zeit-)historischer Ereignisse im Werk von Karl Otto Götz nachgegangen, einem Hauptprotagonisten der informellen Malerei in Deutschland. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem »Wiedervereinigungs-Bild« Jonction von 1990 (Abb. 164). Am 3. Oktober 1990 verfolgte Götz in seinem Haus im Westerwald die Berliner Feierlichkeiten zur deutschen Wiedervereinigung am Fernsehapparat. Das Ereignis bewegte ihn tief und inspirierte ihn zugleich. Spontan ging er ins Atelier, um ein großformatiges Bild zu

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164 K. O. Götz: Jonction 3. 10. 90, 1990, Mischtechnik auf Leinwand, zweiteilig, 200 × 520 cm, Saarbrücken, Saarlandmuseum (Dauerleihgabe der K. O. Götz und Rissa-Stiftung)

malen: »in einem Zug«, schreibt er in seinen autobiographischen Aufzeichnungen, »ungestört, als Erinnerung an diesen Tag«.2 Er beendete die Arbeit noch selbigen Tages und signierte die Leinwand unten links. Auf der rechten Seite bezeichnete er sie mit Titel und Datum: »– Jonction – 3. 10. 90 –«. Das Bild besteht aus zwei Leinwänden, von denen jede 200 mal 260 Zentimeter misst. Die Gesamtbreite des zweiteiligen Bildes beträgt somit mehr als fünf Meter. Das Werk ist ausschließlich in Schwarzweiß gehalten, was der Vorliebe des Malers für diesen Kontrast entspricht, betont doch das strenge Schwarzweiß die formale Struktur eines Bildes, während Farben in aller Regel Assoziationen und Emotionen auslösen und so eher davon ablenken. In Jonction lassen sich vier Hauptbildelemente unterscheiden, von denen jeweils zwei ungefähr eine Bildhälfte einnehmen: Von links dringt eine breite schwarze Bahn horizontal in den Bildraum ein und trifft dort auf einen Wirbel – ein Motiv, das bei Götz erstmals 1955 vorkommt –, der sich über die ganze Bildhöhe

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erstreckt.3 Dieser Wirbel berührt eine von oben rechts diagonal in das Bild stürzende Spur, die sich allmählich verbreitert und zum unteren Bildrand hin in zwei schmalen Farbbahnen ausläuft, die an ausgestreckte Arme erinnern. Diese stürzende Form wird bedrängt von einem vom rechten Rand her in das Bild eintretenden grauen Schleier. Nach Ausführung des Bildes nahm Götz eine zeichnerische Analyse seiner Komposition in Form kleiner Skizzen vor. Außerdem verfasste er 1991 das Gedicht Jonction eins zwei drei mit dem Vermerk »Zum 3. Oktober 1990«.4 Es lautet: »Schwarze Rhythmen von links nach rechts Drängen – Befreiung und Sturz einer Dauerlüge Zwei Landschaften hassen und küssen sich

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Zurück bleiben graue Schleier träge In Erwartung blitzschneller Wunder Blaue Rhythmen von rechts nach links Das geht nicht Befreite Schleier drängen zum Sturz eines Wunders Verlogene Trägheit blitzt zwischen den Rhythmen Eine Landschaft erwartet den Kuß der andern Braune Rhythmen rechts und links Orange zwischen Sturz und Befreiung Schnelle Lügen drängen nach Wundern Träge Schleier erwarten Küsse Von zwei Landschaften Die nichts mehr trennt« Aus dem Titel des Gedichts ist zu schließen, dass sich der Künstler nach Vollendung seines Gemäldes Jonction mit dem Gedanken trug, weitere Fassungen des Bildes folgen zu lassen. Hierzu kam es Anfang des Jahres 1991, als Götz zwei Variatio-nen mit den Titeln Jonction II und Jonction III malte. Sie sind in identischen Maßen, aber unterschiedlichen Farbklängen ausgeführt, so wie sie im Gedicht beschrieben sind: Jonction II in Schwarzweiß, Türkis und Ultramarinblau, Jonction III in Schwarzweiß, Braun und Orange. Dies verdeutlicht ein Schaffensprinzip im Werk von K. O. Götz: die Variation selbst entwickelter Bildschemata.5 Diese Schemata, gedanklich oder in kleinen Skizzen und Gouachen erarbeitet, nehmen die Bildidee und das Gerüst des Bildes sowie Richtungsverläufe und Massenverteilungen auf. Hierzu der Künstler: »Ich lege keinen Wert darauf, meine Persönlichkeit in irgendeiner Form darzustellen. Mir kommt es darauf an, objektive Sachverhalte im Bild zu zeigen. […] ›Selbstdarstellung‹ liegt mir nicht. Ich liebe die Anonymität. Meine Bilder sollen eine visuelle Idee, eine Konzeption, die ich entwickelt habe, zeigen, aber möglichst nichts von meinen sonstigen persönlichen Eigenschaften.«6 Nicht nur im Hinblick auf die künstlerische Konzeption und das Variieren von Bildschemata, sondern auch hinsichtlich des Malprozesses und der Auflösung des klassischen Formprinzips erweisen sich die drei Versionen von Jonction als typisch für die Kunst von K. O. Götz seit seinem Durchbruch zum Informel im Dezember 1952. Andererseits machen einige Beobachtungen stutzig. So unterscheidet sich der Titel von den sonst üblichen Werktiteln bei Götz, der in der Regel nachträglich erfundene, lautmalerische Phantasieworte oder auch Verfremdungen von Wörtern und Namen verwendet. »Jonction« hingegen kommt aus dem Französischen und bedeutet Gleisanschluss, Angrenzung, Nahtstelle, Verbindung, hat also eindeutig einen denotativen Gehalt. Ebenso ungewöhnlich ist

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in dieser Werkphase die präzise Angabe des Tages der Bildentstehung.7 Hinzu kommt der Ort, an dem Götz in diesem Bild Titel und Datierung anbringt, nämlich die Vorderseite der Leinwand. Üblicherweise bezeichnet der Künstler die Vorderseite nämlich nur mit seiner Signatur und die Rückseite der Leinwand mit Bildtitel und Jahreszahl. Titel und Datierung verweisen unmissverständlich auf die deutsche Wiedervereinigung, und entsprechend bezeichnet der Künstler das Werk in seinen Lebenserinnerungen auch als sein »Wiedervereinigungs-Bild«, das »auf abstrakte Weise die Wiedervereinigung darstellen soll«.8 Bemerkenswerterweise wählte Götz als Titel jedoch nicht »Réunification«, sondern eben Jonction, und zwar weil er, nach eigener Aussage, nicht an eine Wiedervereinigung, sondern eher an eine Verbindung zweier unterschiedlicher Teile (BRD und DDR) glaubte. Das Bild vermag beim Betrachter durchaus gegenständliche Assoziationen auszulösen: So ließe sich schon seine äußere Form, die Zweiteiligkeit, als Allusion auf die beiden deutschen Teilstaaten verstehen. Die schwarze, diagonal in das Bild stürzende Farbspur könnte man als (fallende) Mauer lesen, gegen die von links, in Gestalt der horizontalen dunklen Farbbahn, eine Menschenmasse anrennt. Von einer ähnlichen Interpretation eines Betrachters berichtet Götz in seinen Erinnerungen: »Der Fahrer sah sich die schwarzen Rhythmen sehr genau an, trat weiter zurück und sagte: ›Ja klar, da links ist das Volk, es will sich befreien. Daneben der Wirbel, das ist die Befreiung. Ja, und diese schwarze stürzende Form in der Mitte, ja, das ist der Sturz des Kommunismus, klar‹. Dann schaute er auf den Teil ganz rechts im Bild und meinte etwas verlegen: ›Na ja, das ist das Durcheinander, was jetzt da drüben herrscht.‹«9 Neben dieser gegenständlichen Lesart ist auch eine andere, weniger konkrete Interpretation möglich: Demnach veranschaulicht das Bild die ungeheure Wucht und Dynamik des historischen Prozesses, der zur Wiedervereinigung führte, also das plötzliche Aufeinandertreffen von Kräften, die sich explosionsartig entladenden Energien. Handelt es sich also um ein informelles Historienbild? Bevor auf diese Frage eingegangen wird, sei Jonction im Kontext des malerischen Gesamtwerkes von K. O. Götz verankert.

ZEITHISTORISCHE REFLEXE IM WERK EINES ABSTRAKTEN MALERS Bereits 1958 hatte Götz seine Kunst auf ein konkretes zeitgeschichtliches Ereignis bezogen. In jenem Jahr zeigte der Künstler in seiner Einzelausstellung in Jean-Pierre Wilhelms Galerie 22 in Düsseldorf ein Triptychon, dessen drei Teile heute in verschiedenen Sammlungen aufbewahrt werden. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Götz hierzu: »Ich hatte u. a. ein Triptychon ausgestellt, das sich gegen den Atomkrieg wandte, d. h. gegen Raketen mit Atomsprengköpfen. Ich hatte das linke Bild nach der damaligen Rakete Jupiter genannt […] und das rechte Bild Matador […]. In der Mitte zwischen diesen beiden Bildern hing ein schlankes Hochformat mit dem Titel I. H. S. V., auf dem ich ein rotes Kreuz in meiner typischen Art gemalt hatte, das so aussah, als ob es aus blutigen Muskeln bestünde.

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165 K. O. Götz: U.D.Z., 1958, Mischtechnik auf Leinwand, 130,5 × 80,5 cm, Darmstadt, Sammlung Ströher

Ich erinnere mich nicht, daß dieses Triptychon damals einen besonderen Eindruck bei den Besuchern hinterlassen hätte, obwohl die Titel eindeutig waren. Selbst das Kreuz schockierte niemanden.«10 Wichtig ist die Feststellung des Künstlers, dass sich der Mittelteil mit seiner die gesamte Leinwand überspannenden Kreuzform in maltechnischer Hinsicht nicht von seinen übrigen Werken und somit auch nicht von den beiden Seitenteilen unterscheidet (Abb. 165). Zur symbolischen Bedeutung des Kreuzzeichens kommt hier die Farbe Rot mit den Konnotationen Fleisch/Blut und Feuer sowie die im Titel I. H. S. V. enthaltene Anspielung auf die Kreuzesvision Kaiser Konstantins: »In Hoc Signo Vinces« (»In diesem Zeichen wirst du siegen«). Doch während das Kreuz bei Konstantin Positives verheißt, erfährt es bei Götz eine Umwertung ins Negative. Es bedeutet, so der Künstler, »daß Atomwaffen unter christ-

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166 K. O. Götz: Moga I, 1977, Mischtechnik auf Leinwand, 150 × 120 cm, Privatbesitz

lichen Vorzeichen gebaut werden«.11 In der neueren Literatur firmiert der Mittelteil unter dem Titel U. D. Z. (Unter diesem Zeichen). Der Herbst 1977 ging als »Deutscher Herbst« in die Geschichte ein. Die Anschläge der Roten Armee Fraktion (RAF), die Entführung des Lufthansamaschine »Landshut«, die Selbstmorde der führenden Mitglieder der ersten Generation der RAF in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim sowie die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer führten zur bis dahin schwersten Krise in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Entführung der »Landshut« durch palästinensische Terroristen endete am 18. Oktober 1977 in Mogadischu mit der gewaltsamen Befreiung der Geiseln durch die Antiterroreinheit des Bundesgrenzschutzes GSG 9. Gemeinsam mit der Malerin Rissa, seiner zweiten Ehefrau, verfolgte Götz gebannt das Geschehen und verewigte es in zwei Bildern: »Die beiden Bilder Moga I und Moga II malte ich unter dem

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167 K. O. Götz: Millennium, 1999, Lithographie, 76 × 100 cm

Eindruck der Flugzeugentführung von Mogadishu in Somalia. Während das Fernsehen laufend Berichte über das Geschehen brachte, lief ich unruhig zwischen Atelier und Wohnzimmer hin und her. Ich hatte den Zeitpunkt des Malens nicht absichtlich so eingerichtet. Es war Zufall, daß ausgerechnet in dem Augenblick wichtige Meldungen von der bevorstehenden Befreiung der Geiseln bekanntgegeben wurden, als ich anfangen wollte zu malen. Die Leinwände waren vorbereitet und die Farben angemischt. Im Allgemeinen benötige ich beim Malen Ruhe und Konzentration; aber dieses Mal war es das Gegenteil, und ich befürchtete, daß aus den beiden Bildern nichts würde. Aber die vorausgegangenen Bilder gleichen Schemas halfen mir offensichtlich bei der Konzentration auf den Malakt von Moga I und II.«12 Beiden Gemälden liegt ein 1977 von K. O. Götz neu entwickeltes Bildschema zugrunde, dessen Form an die Ziffer »7« erinnert (Abb. 166). Eine im oberen Werkbereich horizontal von links nach rechts über die Bildfläche geführte Spur knickt diagonal nach links unten ab. Nicht nur die Form, auch das Kolorit variiert: Moga I ist in Schwarz und Gelb mit Spuren von Hellblau gemalt, Moga II in Schwarz, Braun und einem warmen Orangerot. Die informelle Malweise und die Konzeption der beiden Bilder entsprechen also – wie beim

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K. O. Götz: Dresden I 13./14. Febr. 1945, 2005, Acryl auf Leinwand, 200 × 260 cm, Privatbesitz

»Anti-Atom-Triptychon« von 1958 – den übrigen, nicht durch historische Ereignisse ausgelösten Bildern. Verfolgt man das weitere Werk von Götz unter dem Aspekt des Rekurses auf Zeitgeschichte, so nehmen das »Wiedervereinigungs-Bild« Jonction von 1990 und seine beiden Variationen von 1991 zweifellos eine zentrale Stellung ein; und dies nicht nur wegen des hohen Anspruches, der sich bereits in der Wahl des Großformates bekundet. Auch im umfangreichen lithographischen Werk des Künstlers stößt man auf entsprechende Themen. So schuf er 1999 die Schwarzweiß-Lithographie Millennium, die auch in einer handkolorierten Version sowie in vier unifarbigen Versionen verlegt wurde (Abb. 167).13 Zentrales Motiv ist eine dunkle Wirbelform vor hellem Fond, die an den Bildrändern links und rechts von zwei vertikalen Farbbahnen eingefasst wird. Bemerkenswert ist hier, dass Götz nicht auf ein zurückliegendes oder gegenwärtiges Ereignis reagiert, sondern sich auf ein kommendes Geschehen bezieht. Trotz seines hohen Alters und einer starken Sehbehinderung hat K. O. Götz seit Ende der neunziger Jahre ein umfangreiches furioses Alterswerk geschaffen, das ganz neue

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169 K. O. Götz: Tsunami I, 2005, Acryl auf Leinwand, 175 × 210 cm, Privatbesitz

Werkgruppen enthält; darunter keramische Arbeiten, Stahlreliefs nach Schnellzeichnungen, sowie Malereien auf Holzplatten, die nach seinen Entwürfen in verschiedenen biomorphen Formen hergestellt wurden. Außerdem entwickelte er eine neue, mehrschichtige Maltechnik, die bislang nicht gekannte, teilweise geometrische Bildelemente hervorbrachte.14 Es fällt auf, dass die Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Ereignissen sich dabei noch intensiviert hat. So malte Götz 2005 zwei großformatige Bilder, die sich explizit auf die Bombardierung und Zerstörung Dresdens vor sechzig Jahren beziehen, bei welcher der Künstler fast sein ganzes Frühwerk verloren hatte. Götz war 1939 zum Militär einberufen, seine Einheit Ende Dezember nach Dresden verlegt worden. Anfang 1941 zog seine spätere erste Ehefrau Anneli Brauckmeyer nach Dresden. Die Stadt wurde, abgesehen von kriegsbedingten Einsätzen in Norwegen, bis Kriegsende Lebensmittelpunkt des Künstlers. 1949 verfasste Götz die Gedichte Dresden 1945 und Dresden 13./14. Februar 1945.15 Das querformatige Bild Dresden I 13./14. Febr. 1945 ist eine in der typischen Technik des Künstlers gemalte und gerakelte informelle Komposition in Schwarzweiß und Grau auf rotem Fond (Abb. 168). Etwa in Bildmitte findet sich das Wort »Dresden«, darun-

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170 K. O. Götz: Menetekel II 2011, 2008, Acryl auf Leinwand, 330 × 220 cm, Privatbesitz

ter, deutlich kleiner, »Terror«; am unteren Rand stehen links die Signatur und rechts die Angabe »13./14. Febr. 1945«. Es sind diese Inschriften und der Bildtitel, die den Betrachter auf die semantische Ebene und zu einer inhaltlichen Lesart des Bildes führen und bei dessen Gestaltungsmitteln vielleicht an Feuer, Asche und Blut denken lassen. Während Götz mit seinen »Dresden-Bildern« an ein sechs Jahrzehnte zurückliegendes Kriegsereignis erinnerte, reagierte er mit den ebenfalls 2005 entstandenen großformatigen Bildern Tsunami I und Tsunami II sowie einem entsprechend betitelten Gedicht auf eine aktuelle Naturkatastrophe, nämlich das verheerende Seebeben im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004 (Abb. 169).16 Beide Bilder sind in Blau, Grün und Schwarz auf weißem Fond gemalt und mit der Inschrift »26 12 2004« versehen, wobei die großen Ziffern im Falle von Tsunami I über die ganze Bildfläche verteilt und durcheinandergeraten sind, im

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Falle von Tsunami II dagegen in der richtigen Reihenfolge und in einer Bildebene liegen. Farbwahl und malerische Faktur im Verein mit der Datumsinschrift lassen den Betrachter die enorme Dynamik und Wucht der Naturkatastrophe assoziieren.17 Genau fünfzig Jahre nach dem »Anti-Atom-Triptychon« schuf K. O. Götz 2008 zwei große, hochformatige Bilder mit den Titeln Menetekel I 2011 und Menetekel II 2011, die sich auf die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und den zehnten Jahrestag dieses Ereignisses im Jahre 2011 beziehen (Abb. 170).18 Der Künstler malte die beiden Bilder bereits drei Jahre vor dem zehnten Jahrestag, weil er befürchtete, diesen möglicherweise nicht mehr zu erleben. Beide Werke sind ganz in Weiß und verschiedenen Grauabstufungen bis hin zu Schwarz gehalten. Von dem hellen Fond mit seinen informellen Fakturen heben sich deutlich zwei dunkle, fast über die ganze Höhe der Leinwand reichende, hochrechteckige Farbbahnen ab, die an die Silhouetten der beiden Türme des World Trade Centers erinnern. Die semantische Ebene erschließt sich im Zusammenklang des Titels – das alttestamentliche Menetekel aus dem Buch Daniel als unheilverheißendes Zeichen – mit dem ikonischen Verweis auf das World Trade Center.

ECHO, SPUR UND ZEICHEN VON GESCHICHTE Es ist deutlich geworden, dass sich im informellen Werk von K. O. Götz seit Ende der fünfziger Jahre bis heute immer wieder Rekurse auf historische und zeitgeschichtliche Ereignisse finden, die von der intensiven Auseinandersetzung des Künstlers mit Geschichte und Gegenwart zeugen. Gerade im Alterswerk gewinnt dieser Aspekt mehr und mehr an Bedeutung. Wichtig ist, dass sich Götz dabei in der Regel von Bildern und Berichten der Massenmedien inspirieren ließ, weswegen man von »Bildern über Bilder« sprechen kann. So waren es im Falle von Jonction, Moga I und Moga II, wie die oben zitierten Erinnerungen zeigen, nachweislich die Fernsehübertragungen, von denen der Bildimpuls jeweils ausging. Festzuhalten ist weiterhin, dass sich Jonction und die anderen aufgeführten Beispiele in Konzeption und Malweise nicht von den anderen informellen Werken des Künstlers unterscheiden und dass der Betrachter ohne die Paratexte der Werktitel und gegebenenfalls Inschriften wohl kaum den Zusammenhang mit dem jeweiligen Ereignis erkennen würde.19 Bei Moga I und Moga II bedarf es zusätzlich der Information, dass die Titel aus den ersten beiden Silben von »Mogadischu« gebildet sind. Im Falle von Jonction, Dresden und Tsunami stellen die auf die Leinwand geschriebenen Jahreszahlen, bei Jonction und Dresden in Verbindung mit den Titeln, unmissverständlich den Zusammenhang zum jeweiligen historischen Geschehen her. Titel und Inschriften ermöglichen dem Betrachter semantische Assoziationen, ja, sie fordern ihn regelrecht dazu auf, dem Zusammenhang zwischen Bild, Titel und historischem Ereignis nachzuspüren. Doch sind Buchstaben und Ziffern nicht nur Bedeutungsträger, sondern in formaler Hinsicht auch graphische Bildelemente.

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171 K. O. Götz, Rissa, Klaus Staeck und Bundestagspräsident Norbert Lammert im Paul-LöbeHaus vor dem Bild »Jonction III«, 2009, Fotografie: Joachim Lissmann

Zugleich belegt die Kunst von K. O. Götz, dass die gängige Interpretation der informellen Kunst erweitert werden muss. Dazu gehören nicht nur die eingangs erwähnten, bislang vernachlässigten Aspekte, sondern auch Implikationen der Wirkungsgeschichte. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass zwei der hier vorgestellten Werke gewissermaßen Bestandteil der offiziellen Repräsentation und des historischen Gedächtnisses der Bundesrepublik Deutschland geworden sind: Moga II befindet sich, zusammen mit zwölf weiteren Werken von Götz, seit 2007 als Dauerleihgabe in der Villa Hammerschmidt in Bonn, dem zweiten Amtssitz des Bundespräsidenten. Dort hing von 2007 bis 2009 auch Jonction III, bis es auf Initiative des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert am 8. November 2009 anlässlich einer Feierstunde zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, die im Paul-Löbe-Haus in Berlin stattfand, der Sammlung des Deutschen Bundestages als Dauerleihgabe übergeben wurde (Abb. 171). So rekurrieren diese Bilder nicht nur auf die Zeitgeschichte, sondern sie schreiben sich ihrerseits in die Geschichte der Bundesrepublik in Gegenwart und Zukunft ein. Die besprochenen Werke werfen die generelle Frage auf, ob es überhaupt ungegenständliche – und mithin auch informelle – Historienbilder geben kann. Letztlich geht es hier

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um die semantische Aussagefähigkeit der abstrakten Kunst, deren inhaltliche Offenheit man als Verlust von Eindeutigkeit beklagen, aber auch – mit Umberto Eco – als Zugewinn interpretativer Möglichkeiten begrüßen kann.20 Immerhin ist festzustellen, dass K. O. Götz nicht der einzige informelle Maler ist, der sich in seinem Œuvre immer wieder auf Geschichte bezieht. Genannt seien exemplarisch: Jean Fautriers berühmte Otages von 1943–1945, mit denen der Künstler an die von den deutschen Besatzern erschossenen Geiseln erinnern wollte, Georges Mathieus großformatiges Ölbild La Bataille de Brunkeberg von 1958, K. R. H. Sonderborgs Spur Andreas B. von 1980 oder Emil Schumachers farbige Aquatinta-Radierung 2/1995, 8. Mai von 1995. Aus jüngerer Zeit sei auf Cy Twomblys 2001 für die Biennale in Venedig geschaffenen, zwölf großformatige Leinwände umfassenden Zyklus Lepanto im Museum Brandhorst in München hingewiesen, der sich auf die historische Seeschlacht bei Lepanto im Jahre 1571 bezieht. Auch wenn es sich bei all diesen Werken zweifellos nicht um Darstellungen historischen Geschehens im Sinne traditioneller Historien- und Programmmalerei handelt (obwohl es teilweise durchaus gegenständlich lesbare und ikonographisch identifizierbare Einzelmotive und Details gibt), so steht doch fest, dass die Künstler mit ihren jeweiligen bildnerischen Mitteln auf Geschichte reagieren, Geschichte künstlerisch verarbeiten und somit Geschichte repräsentieren. Gibt es eine spezifische visuelle Leistung des informellen Bildes im Hinblick auf das Historienbild? Wenn ja, so liegt sie zweifellos in der genannten Deutungsoffenheit für den Betrachter. Wenn sich dieser frei assoziierend auf das Bild einlässt und in seiner Wahrnehmung die Verbindung zum historischen Ereignis und zu seinem individuellen Erleben dieses Geschehens herstellt, dann kann ein Bild wie Jonction tatsächlich als Historienbild »funktionieren«, es kann den Betrachter aktivieren und ihm als Projektionsfläche für seine individuellen Wahrnehmungen und Erlebnisformen des geschichtlichen Ereignisses dienen. Ein solches Bild appelliert zugleich, stärker als dies gegenständliche Werke vermögen, an die eigene Historie des Betrachters. Doch diese Stärke ist zugleich auch eine Schwäche. Denn wenn der Betrachter sich nicht in der beschriebenen Weise mit dem Bild auseinandersetzt, wenn er sich nicht bereitwillig darauf einlässt, dann wird er das Bild wohl kaum als Historienbild lesen. Dessen ungeachtet steht für einen Künstler wie Götz außer Frage, dass sein Bild Geschichte bildnerisch verarbeitet, Geschichte repräsentiert. In einem erweiterten Sinne können Jonction wie auch die anderen besprochenen Werke von K. O. Götz also durchaus als Historienbilder bezeichnet werden. Jonction verleiht der Wucht, Dynamik und Energie des historischen Prozesses, der zur Wiedervereinigung führte, auf eine besondere Weise Ausdruck. Unmittelbar unter dem Eindruck der Feiern zur deutschen Einheit mit der Absicht geschaffen, an diese bildnerisch zu erinnern, stellt Jonction das Ereignis nicht mimetisch dar, sondern registriert seismographisch dessen Wirkungen und ist zugleich selbst Bestandteil der von diesen Ereignissen ausgehenden Impulse. Es ist kein gegenständliches Abbild historischen Geschehens, es »illustriert« nicht Geschichte, aber Echo, Spur und Zeichen von Geschichte ist es allemal.

430 | Christoph Zuschlag

DIE ENTTÄUSCHUNG DES KRIEGES HISTORISCHES EREIGNIS UND ÄSTHETISCHES NACHLEBEN IN JEFF WALLS »DEAD TROOPS TALK« Ursula Frohne

Wenige Jahre nachdem 1989 mit dem Abzug der letzten Sowjettruppen aus Afghanistan ein erbitterter Invasionskrieg zu Ende ging, schuf der kanadische Künstler Jeff Wall ein fotografisches Bildepos, das in einer grotesk überzeichneten Vision den Zerrüttungsprozess der Armee als ein düsteres Schauspiel der zerstörerischen Kräfte des Krieges aufführt. Unter dem dokumentarisch formulierten Titel Dead Troops Talk. A Vision After an Ambush of a Red Army Patrol, Near Moqor, Afghanistan, Winter 1986 bezieht sich das illuminierte Großbilddiapositiv auf den einsetzenden Umbruch einer von Anbeginn verfahrenen militärischen Intervention (Abb. 172). Dieser Wendepunkt wurde von zwei zeithistorischen Faktoren eingeleitet und zog die Verlagerung der globalen Machtverhältnisse beziehungsweise der ideologischen Konfliktzonen nach sich, denn mit Ende dieses Krieges schlug auch die letzte Stunde der Konfrontationspolitik des Kalten Krieges: Nachdem der russische Präsident Michael Gorbatschow bei seinem Amtsantritt 1985 seine GlasnostPolitik mit dem Ziel verknüpfte, den Abzug aus Afghanistan voranzutreiben und kurz darauf im Herbst 1986 die USA erstmalig High-Tech-Waffen an die dortigen Mudschaheddin lieferten, war die sowjetischen Lufthoheit in Afghanistan gebrochen und die Kapitulation besiegelt. Walls cinematisch inszeniertes Schlachtfeld beschwört ein Bild der sich anbahnenden Niederlage der Aggressoren in diesem kaum zu gewinnenden Konflikt, der mit dem überraschenden Einmarsch der Truppen in Afghanistan am Weihnachtsabend 1979 den abrupten Abbruch der Entspannungspolitik der siebziger Jahre bedeutete. Mit einer blutigen Bilanz von insgesamt mehr als einer Millionen Toten ging dieser Krieg in die jüngere Geschichte ein. Wie in einem Brennglas erfasst das schauerliche Bildtableau die imaginäre

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172 Jeff Wall: Dead Troops Talk. A Vision After an Ambush of a Red Army Patrol, Near Moqor, Afghanistan, Winter 1986, 1992, Großbilddiapositiv in Leuchtkasten, 229 × 417 cm, New York, Sammlung David N. Pincus

Verdichtung einer Szene aus diesem militärischen Fiasko. Augenscheinlich manifestiert sich in den martialisch geschundenen Soldaten die Aussichtslosigkeit der sowjetischen Angriffspolitik, die auf die ideologische Unterwerfung einer Kultur zielte, deren stark ausgeprägter Unabhängigkeitsanspruch mit archaischem Kampfgeist verteidigt wurde. Die plakative Darstellung unterstreicht in Gegenüberstellung der uniformierten Sowjetsoldaten und der Mudschaheddin die kolonialen Triebkräfte dieses Krieges, der den Einfluss des Kommunismus in der muslimisch-arabischen Nachbarregion festigen sollte. Jenseits des hier geschilderten konkreten Ereignisses impliziert die monumentale Komposition, deren erhabenes Format und detailgenaue Ausstattung auf die symbolische Identifikationsfunktion von Historiengemälden anspielt, die zunehmend erschöpfte Konfrontationspolitik der Blockstaaten des Kalten Krieges, die mit Beginn der neunziger Jahre schließlich in die Neuordnung der Welt einmündete. Wall moduliert ein nahezu plastisches Bild jener politischen Agonie einer überkommenen, auf Polarisierungen gründenden Strategie der gegenseitigen militärischen Einschüchterung durch die Blockstaaten, die um den Preis desaströser Vernichtungsschläge darum rangen, ihre wechselseitigen Hegemonieansprüche unnachgiebig einzufordern. In diese Richtung weisend, hat der Kunsthistoriker Terry Atkinsons eine emphatische Exegese der bizarren Kriegslandschaft formuliert, die das Bild als symbolische Verkörperung der obsiegenden Kräfte des Kapitalismus einordnet. Gleich einer »Allegorie des Todes der Roten Armee« sieht Atkinson hierin die untergegangene Utopie beschworen sowie das Fanal des »sterbenden Kommunismus angesichts des triumphierend harten Antlitzes des

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Kapitalismus und des ekstatischen Wahns des islamischen Fundamentalismus«.1 Diesem fraglos zutreffend erfassten Sinnhorizont soll nachfolgend eine medienhistorische und bildtheoretische Sichtwiese an die Seite gestellt werden. Die unterschiedlichen Ebenen der Bildentstehung – von der Performance beziehungsweise dem re-enactment über die fotografische Reproduktion bis hin zur computerisierten Postproduktion – legen der Szene eine komplexe Struktur zugrunde, in der sich eine Vielzahl von Referenzen an die Traditionslinien medialer Bildgeschichte verdichten. Deutlich wird in dieser Verschmelzung der bildnerischen Mittel, dass insbesondere die Repräsentationen des Krieges als Ausdruck und Überlieferung des existentiellen Ereignisses par excellence in einer genealogischen Beziehung zur Entwicklung der operativen Kriegstechnologien stehen und auf das Engste an ihre Wirkungsgeschichte gekoppelt sind. Indem Walls traumartige, ja, traumatische Inszenierung eines weltpolitischen Schwellenmoments auf die Grenzen der bildlichen Repräsentation von Kriegsereignissen ganz allgemein sowie auf ein breites Spektrum unterschiedlicher Bildgenerierungen (Malerei, tableau vivant, Film, Kriegsfotografie, Panorama) verweist, schärft sie die Wahrnehmung für Zusammenhänge zwischen Geschichte und deren Visualisierung. Trotz ihrer Faktentreue in Form einer opulent ausgestatteten ReInszenierung der historischen Begebenheit bleibt Walls Szene inhaltlich ambivalent. Die kompositorische Komplexität bietet eine ausdrucksstarke Metaphorisierung des Ereignisses, die alternative Blickverhältnisse zu den polarisierenden Bildpolitiken schafft. Dem ästhetischen Erkennen, das an das faktisch-historische Wissenschaftsverständnis angeschlossen bleibt, erschließt sich über das Experimentierfeld der Kunst ein erweiterter Erfahrungsraum, in dem Bilder nicht als reine Illustrationen von geschichtlichen Ereignissen erscheinen, sondern in ihrer evokativen Kraft kritisch reflektiert werden. Walls Epik bannt unsere Aufmerksamkeit ganz unmittelbar, doch wird die Möglichkeit einer Einordnung in gleichem Maße durch das kontrafaktische Rollenspiel der Protagonisten gedrosselt. In Verweigerung des rein dokumentarischen Abbildens zugunsten einer Dramatisierung, die durch Überzeichnung und Irrealisierung des Geschehens einen seltsam verzerrenden Effekt erzeugt, scheitert jeglicher Versuch einer moralisch vereinnahmenden Bedeutungszuschreibung. Hierin liegt die Chance eines engagierten Sehens, das sich einer Bildwerdung des »Undarstellbaren im Sichtbaren« öffnet, da sich uns die konsumierende und politisch korrekte Verkürzung der Sicht auf das Geschehen entzieht.2 Um diese Widerstandseffekte des Bildlichen, die das historische Ereignis ins Fiktionale einbinden, sollen sich die nachfolgenden Überlegungen zentrieren. Indem sich die Schrecken des Krieges in der bildhaften Erinnerung zur Farce verkehren, werden sie gebannt, und es eröffnet sich daraus die Möglichkeit, dass sie als überzeitliches memento mori die Gewaltsamkeiten der Geschichte überdauern.

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DANSE MACABRE »Nun gleicht es einer übernatürlichen Ruhestätte. Das Gelände ist durchwegs mit Wesen übersäht, die schlafen oder mit den leisesten Bewegungen dabei sind, einen Arm zu heben, den Kopf zu heben, die wieder zu leben beginnen, oder im Begriff zu sterben sind. Der feindliche Schützengraben sackt schließlich in sich selbst zusammen, auf den Grund mächtiger Aushübe und sumpfiger Granattrichter voller Morast, wo er sich in einer Reihe geformt von Einschlägen und Gruben verliert. Hier und da sieht man die überhängend aufragenden Erdränder in Bewegung geraten, zerrieseln und ganz abrutschen. […] All diese Männer mit Gesichtern wie Kadaver, vor uns und hinter uns, die am Ende ihrer Kräfte sind, aller Worte und jedes Willens beraubt, all diese mit Erdreich überzogenen Männer tragen, wenn man das sagen kann, ihr Grab mit sich, und sie gleichen einander, als wären sie allesamt nackt. Dieser Nacht des Grauens entsteigen auf der einen wie auf der anderen Seite gespenstische Widergänger, umhüllt von exakt derselben Uniform des Elends und Drecks.«3 Verstörend wirkt auf den ersten Blick das kaum kaschierte bühnenhafte Arrangement von Walls Kapitulationsdrama. Obwohl die Kostümierung der Protagonisten authentisch ist, gibt sich das Bildgeschehen insgesamt als ein zur Perfektion getriebenes Ausstattungsschauspiel zu erkennen. Besonders beeindruckt die Wahrnehmung der kunstvoll imitierten Wunden, die sich unverblümt als Werk professioneller Maskenbilder aus der Filmbranche zu erkennen geben. Der Echtheitseffekt, der die verstümmelten und aufgerissenen Körper zu Inkarnationen von Schrecken und Gewalt stilisiert, bekräftigt einerseits die »forensische Funktion« der Fotografie, die indexikalisch, gleichsam als Abdruck, das Ereignis selbst zu verkörpern vorgibt, worin ihr eine elementare Verwandtschaft zum Motiv der Wunde eignet, das schon in der christlichen Ikonographie als die eigentliche metaphysische Präsenzerfahrung des Bildes rezipiert wurde.4 Doch löst andererseits die Übertriebenheit der artifiziellen Nachbildung, die »realer« als das Leben selbst erscheint, auch eine ambivalente Reaktion aus. Oszillierend zwischen Erleichterung und Enttäuschung wird der befürchtete Schrecken schnell als Simulation eines gleichwohl historischauthentischen Ereignisses erkannt, das einzig für den Moment der Aufnahme in Szene gesetzt wurde und so an die Effektdramaturgie der Splatterästhetik kommerzieller Spektakelkultur grenzt. In Betonung seiner Inszeniertheit konterkariert das opulent ausgestattete tableau vivant das positivistische Paradigma fotografischer Evidenz, das besonders Kriegsbilder aus den Pressearchiven seit jeher als aufklärerisches Mandat für sich in Anspruch nehmen konnten. Vielfach sind Fotografien in den Dienst der Fortführung von Kriegen mit visuellen Mitteln getreten oder stützen heute mehr denn je als Beweisdokument das Urteil über Greueltaten und Kriegsverbrechen.5 Die als sowjetische Invasoren posierenden Figuren liegen indessen nicht leblos da, wie der im Titel attestierte Tod der Angehörigen dieses Einsatzkommandos nahelegt. Vielmehr

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Ed Grazda: Mudschaheddin-Lager, Jaji, Afghanistan, um 1985, Fotografie

agieren sie als Gespenster eines niemals enden wollenden kriegerischen Desasters, in das sie als Täter wie als Opfer verstrickt sind, womit vorgeprägte Sichtweisen auf das Geschehen ins Leere laufen. Wie Protagonisten einer post-apokalyptisch anmutenden Szene agieren sie in einem illusionären Bildraum, der in mehrfacher Hinsicht auf die Rezeptionserwartungen eines Kinozuschauers anspielt und den Film als zentrales Referenzmedium für derart surreal eskalierende Gewaltexzesse und mit zombieartigen Wesen ausstaffierte Verwandlungsgenres aufruft. Obwohl sie durch ihre Uniform als Soldaten der ehemaligen UDSSR ausgewiesen sind, wirken sie aus heutiger Sicht wie Präfigurationen der US-Streitkräfte, die nach dem 11. September 2001 den Zweiten Afghanistankrieg begannen. Gleich einem somnambulen Spuk, scheinen sie noch über ihren Tod hinaus von ihrer (selbst)zerstörerischen Mission besessen. Schwer verletzt pervertiert ihr begrenzt bemessener Handlungsmodus zu sadistischen Quälereien. Zwei feixende Soldaten einer im Zentrum des Bildes platzierten Dreiergruppe drangsalieren einen ebenfalls schwer verstümmelten Leidensgenossen, während die anderen ihre »Technicolor-Wunden« (Terry Atkinson) wie Trophäen zur Schau stellen. Die spröde, fahle Landschaft, hier als Hinterhalt stilisiert, absorbiert die Uniformierten wie ein Grabhügel und visualisiert die Erkenntnis des Sozialpsychologen Kurt Lewin, dass unter den Bedingungen des Krieges die topologische Struktur der Landschaft unweigerlich zur Gefahrenzone, zur »Kriegslandschaft« transformiert (Abb. 173).6 Unbeeindruckt vom Martyrium der Besiegten scheint demgegenüber ein junger afghanischer Widerstandskämpfer, der seine automatische Waffe beiseite gelegt hat und am Rande dieses schaurigen Pandämoniums, links im Bild, ohne Hast und gänzlich unbeachtet die Habseligkeiten der Besiegten plündert. In dieser paradoxen Gegenüberstellung von Agonie und Pragmatismus, von Überlebenskampf und Materialismus, von

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condition humaine und groteskem Klamauk kulminiert der wahre Schrecken des Krieges zu einem makabren Spektakel, das trotz seiner schauspielerischen Übertreibung eine abgründige Sogwirkung entfaltet. Das Ereignis, auf das Ortsangabe und Datierung im Titel von Dead Troops Talk deuten, ist nicht in der Szene abgebildet, sondern sichtbar werden allein seine Auswirkungen. In Anspielung auf eine authentische Begebenheit zitiert der nüchtern informative Sprachstil den Duktus unzähliger Nachrichtenmeldungen und Dokumentationen, die über diesen oder ähnlich fatale Patrouilleneinsätze in dem hoffnungslos entglittenen Invasionskrieg berichteten. Walls Tableau richtet sich nicht auf den Höhepunkt dieses Dramas, jenen fruchtbaren Moment, den es nach Lessings einflussreicher Laokoon-Betrachtung im Kunstwerk zu erfassen gilt, sondern die Antiklimax tritt hier als darstellungswürdiger Moment gleichsam geisterhaft ins Bild. Post factum verwandelt sich das Unbegreifliche des Krieges in ein Phantasma, in eben jene Vision, auf die der Titel anspielt und die im psychoanalytischen Doppelsinn des Wortes sich als »Nachleben« eines traumatischen Ereignisses in die Erfahrungen der Gegenwart einspeist. Indem Wall den entscheidenden Kulminationspunkt des Ereignisses, die Kampfszene, indirekt, gleichsam als Vorstellung heraufbeschwört, zieht er – entgegen dem Repräsentationsregime der Hollywoodfilme dieses Genres, die mit dem gesamten Aufgebot an special effects in einem ebenso bildtechnologischen wie bildästhetischen Crescendo eben diesen Moment zum immersiven Totalerlebnis steigern – die »Möglichkeit der Ereigniswiedergabe« prinzipiell in Zweifel.7 In Betonung der schauspielerischen Konstruktion der Szene wird vielmehr auf die Unmöglichkeit verweisen, ein Geschehen jemals »auf der Höhe des Ereignisses und nie a priori« vertrauenswürdig fassen zu können.8 Die Suggestion der Fotografie, über den direkten Sichtkontakt zum Ereignis dieses gleichsam zu substituieren, wird durch die performative Aneignung der Situation in Walls Tableau als fragwürdig gekennzeichnet. Analog zu Jacques Derridas Überlegungen zur interpretatorischen Wiedergabe von Ereignissen mittels fotografischer Aufzeichnung, manifestiert sich in Walls Inszenierung die Erkenntnis, dass »Bilder das Ereignis schließlich nicht zeigen, sondern hervorbringen«.9 Wall lenkt unsere Wahrnehmung auf die Tatsache, dass sich Ereignisse, zumal von existentieller Dimension, allenfalls als Spur vergegenwärtigen lassen. Als Verwundung überdauert das Ereignis in der menschlichen Erfahrung und nicht zuletzt auch in der Fotografie als zeichenhafte Einschreibung, die wiederum als Zeugnis eben dieser Spuren die Temporalität und Flüchtigkeit des Ereignisses bezeugt. Walls performative Aneignung der Potentialität des Bildes als Ereignis stellt Analogien her zwischen den Verletzungen der Körpergrenzen, den Transgressionen, die der Krieg in territorialer wie in moralischer Hinsicht begeht, und den bildtechnischen Verfahren, die ihrerseits auf die Entgrenzung des Rahmens zu einer immersiven Bildraumerfahrung hinwirken und nicht zuletzt durch die Lichtentfaltung des leuchtenden Großbilddiapositivs auf den Betrachterraum ausstrahlen. Ebenso wie der Körper niemals in den Konturen seiner biologischen Begrenzung verharrt, führt Wall das Bild als ein Phänomen vor Augen, das atmosphärisch und affektiv über sich selbst hinauswirkt.

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Welcher Status kann der Fotografie demnach als Aufzeichnungsmedium historischer Ereignisse zugestanden werden? Dieser Frage nach dem dokumentarischen Wert von Quellen und ihrer historischen Evidenz geht der Historiker Carlo Ginzburg nach, wenn er sich mit dem grundsätzlichen Dilemma des Geschichtswissenschaftlers auseinandersetzt, eine Methode entwickeln zu müssen, die das Bezugsverhältnis der Forschung zur historischen Realität zwischen den Polen des Urteilens und des Verstehens auslotet und den Umgang mit dem Quellenmaterial bestimmt.10 Transferiert man diese Unterscheidung auf die Kulturtechnik der Fotografie so wäre mit Ginzburg zu differenzieren, ob sich ihre abbildende Funktion wie ein »offenes Fenster« zu den Ereignissen verhält oder, wie bildkritische Skeptiker argumentieren, eher als eine »Wand« zu verstehen ist, die unsere reflektierende Sicht auf die Ereignisse blockiert.11 Beide Positionen, die »theoretische Naivität und die theoretische Sophistikation«, gehen von der gleichen schlichten Voraussetzung aus, dass eine selbstverständliche Beziehung zwischen Beweis und Realität bestünde.12 Dead Troops Talk scheint den Kern dieses Dilemmas auf die umstrittene Möglichkeit einer bildgeschichtlich fundierten Historiographie hin zuzuspitzen, da das Bild weniger den Dokumentationscharakter als die Fähigkeit zur Interpretation von Ereignissen mit Verweis auf den besonderen Erinnerungswert der Fotografie hervorkehrt. Anstatt im Bild die vermeintliche Evidenz von Begebenheiten zu essentialisieren, nutzt Wall ihr darstellerisches Potential in einer komplexen medialen Verschmelzung und dramaturgischen Konzeption, in der sich die Erinnerung an das Ereignis in einem mnemotechnischen Synkretismus von Quellen und divergierenden Erinnerungen metaphorisch verdichtet. Durch die nachträgliche Aufführung, die wie ein Erinnerungsbild mit fiktionalen Elementen angereichert ist, ersteht das Ereignis als ein visionäres und, im Sinne Demokrits, auch als eine sinnbildhafte »Emanation« eines Unmöglichen. Es ist diese Hypertrophie der ambivalenten, zwischen Realismus und Imagination oszillierenden Bilderscheinung, die den Ereignischarakter der vom Bild erzeugten ästhetischen Erfahrung bedingt. Fotografie wirkt hier wie Geschichtsschreibung selbst, welche ebenso post factum die Ereignisse, die sie rekapituliert, erst hervorzubringen scheint; eine Praxis der »konstitutiven Nachträglichkeit«, die Freud der Psyche selbst zuschreibt.13 Die Pathosformeln des Leidens, die in den Historienbildern der Malereigeschichte einen spezifischen Ausdruckskanon herausgebildet haben und ihr visuelles Nachleben sogar in den dokumentarischen Fotografien der Kriegsberichterstattung finden, bemüht Wall in seiner Regie der Figurenanordnungen nur bedingt, da er die Posen, die er einsetzt, als semantisch aufgeladene Ausdruckskategorien sichtbar macht. Die Enttäuschung, die mit Entdeckung der künstlerischen Täuschungsstrategie einhergeht, welche die Figuren mit Theaterschminke zu Untoten stilisiert, ruft nicht nur die prinzipielle Frage nach dem zwiespältigen Status von Bildern auf, sondern entwirft auch das Szenario eines verlorenen Kampfes, mehr noch, eines von Anbeginn ebenso vergeblichen wie sinnlosen Kampfes, in dem das Sterben ebenso zur Banalität verkommt wie das Überleben. Dramatisch überhöhte Kampfszenen, die den Vernichtungsexzessen von Kriegen in Historiengemälden ebenso

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174 Oliver Stone (Regie): Platoon, USA 1986, Fotografie (Production Shot)

wie in ergreifenden Filmepen nachträglich ein heroisches Gesicht verleihen – man denke an die Reihe symphonisch überhöhter Gefechtsszenen in Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (1979), Oliver Stones Platoon (1986) oder Steven Spielbergs Saving Private Ryan (1998) –, sind in Walls Tableau obsolet (Abb. 174). Glorifizierungen, die selbst noch das Leiden der Gefallenen mit der Aura hehrer Ziele verklären, bietet Dead Troops Talk wenig Resonanzraum. Stattdessen zeigt sich das infernalische Grinsen des Todes als das wahre Gesicht des Krieges, der die Menschen ihrer Individualität beraubt und so zu höhnischen wie verhöhnten Opfern degradiert. In der künstlerischen Stilisierung zum Absurden erstehen sie als lebendige Leichen und sind dazu verdammt, auf ewig die Schrecken menschheitsgeschichtlicher Grausamkeiten als memento mori zu inkarnieren. Das närrische Gebaren vereitelt jegliche mythologisierende Sicht auf den Krieg und verzerrt das Grauen zur Satire. Die Satire verkehrt das Leiden in einen fatalen Mummenschanz, einen danse macabre, und stellt den Krieg in seiner Nichtigkeit bloß. Dem Tod, dem großen Gleichmacher, trotzen diese unseligen Zombie-Soldaten mit ironisch vermessenem Spott. Ihre Frivolität noch im Tod legt zahlreiche kunsthistorische Vergleiche nahe, die von den feixenden Skeletten in den Totentanzdarstellungen des Mittelalters über Francisco de Goyas Desastres de la guerra von 1810–1814 bis zu Max Beckmanns irdischen Höllenszenarien, den lebendig unter Leichen begrabenen Soldaten in den Kriegsbildern von Otto Dix oder Felix Nussbaums Triumph des Todes von 1944 (Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus) reichen und auf ihre je eigene Weise die Macht des Todes mit dem Fatalismus der Verdammten auf die Probe stellen (Abb. 175).

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175 Michel Wolgemut: Totentanz, 1493, Holzschnitt, aus Hartmann Schedel: Liber chronicarum, Nürnberg 1493, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum

RE-ANIMATION DES VERGANGENEN UND ERLOSCHENEN »Ein distinktives Merkmal des modernen Imaginären ist die Historizität, die im klassischen Imaginären nicht vorkommt.«14 Ihre Lebensgeister empfangen die Gestalten in Dead Troops Talk von der künstlerischen Animation. Jeff Wall griff hierfür auf Methoden der Filmbranche zurück. Wie ein location manager wählte er einen möglichst realistischen Landschaftsausschnitt aus einer afghanischen Bergregion als Vorbild für die bühnenhaft arrangierte Szenerie. Auch das Casting der Darsteller und die Ausstattung ihrer Kostüme und Requisiten orientierten sich wirklichkeitsnah am äußeren Erscheinungsbild der am Krieg beteiligten Sowjetsoldaten und Mudschaheddin. Eine wichtige Funktion für das Erzeugen des Eindrucks eines erzählerischen

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Spannungsbogens, in den die Szene vermeintlich eingebettet ist, hat auch das Beleuchtungskonzept, das eine cinematische Bildatmosphäre schafft, die sich wirkungsästhetisch dem film still oder production shot annähert. Die einzeln produzierten und in einer Gesamtsicht aufeinander abgestimmten Bildsegmente fügen sich durch die Feinabstimmung der digitalen Postproduktion nahtlos zu einer panoramatischen Bildwirkung, die nach dem filmischen Prinzip der suture die Wahrnehmungsaktivität des Zuschauers dahingehend animiert, die parallelen Handlungsmomente der Breitbandaufnahme zu einer homogenen Raum-Zeit-Erfahrung zu verschmelzen (Abb. 176–177).15 Dieser Einsatz cinematischer Montagemethoden, die sich in den Kompositionsmitteln traditioneller Malerei als Animationsbild avant la lettre historisch ankündigt, begründet die illusionäre Bildwirkung und legt zugleich ihren Konstruktionscharakter offen. Dabei sind es gerade die Zweifel an der »Echtheit« der Szene, die ihr Faszinosum aufrecht erhalten. Die Bildwirkung profitiert von der ontologischen Ungewissheit, die man gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt des Dargestellten verspürt. Der Realismus, den Wall tatsächlich aus den fotografischen Reproduktionen gewinnt, die seinem Kompositbild zugrunde liegen, »akzeptiert nicht nur, sondern verlangt die Anwesenheit eines Imaginären in seinem Inneren, er verlangt, dass das Imaginäre, das keineswegs realitätsfremd ist, einer seiner Zustände sei«, wie JeanFrançois Lyotard über die postmoderne Fabel schreibt.16 Dementsprechend verursacht Dead Troops Talk einen Double-bind-Effekt, da in ihm die Zentrifugalkräfte seines fragmentierten Entstehungsprozesses gleichsam als das visuelle Unbewusste aktiv bleiben und so der Suggestion entgegen gewirkt wird, dass hier in einer fotografischen Momentaufnahme die komprimierte Ereignishaftigkeit als bildgewordene Realität zur Darstellung komme. Zur Montage und Nachbearbeitung der fotografischen Bilddaten verwendete Wall Computersoftware, die zu Beginn der neunziger Jahre erstmalig in großem Stil auch für die Special-Effect-Szenen aufwendiger Hollywoodproduktionen eingesetzt wurde. Die künstlerische Nutzung dieser inzwischen weitaus differenzierteren technischen Möglichkeiten der Bildgenerierung fällt historisch keineswegs zufällig mit dem Moment der Verwandlung des Krieges selbst in ein computerisiertes, digital gesteuertes Spektakel zusammen. Als 1991 die amerikanische Berichterstattung über den Golfkrieg nur ein Jahr vor Entstehung des Tableaus der Weltöffentlichkeit ein vermeintlich unblutiges Kriegsszenario mit digitalisierten Simulationsbildern vor Augen führte, zeigte sich in kaum zuvor erlebter Deutlichkeit die kulturelle Verflechtung von militärischem Fortschritt und bahnbrechenden Medialisierungsschüben beziehungsweise Visualisierungstechnologien, auf die Friedrich Kittler bekanntlich in seiner Medienarchäologie als die Fortschreibung der Kriegstechnologie in der Chronologie der Medien hingewiesen hat: Computeranimierte Digitalbilder der Bombardements in der Golfregion visualisierten in Echtzeitübertragung die Präzisionsarbeit elektronisch gesteuerter Waffensysteme und demonstrierten in technologisch verbrämter Neutralitätsrhetorik die militärische Überlegenheit der US Air Force.17 Die seither in allen Bereichen extensiv genutzten Methoden der Bildgenerierung, die den

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Roy Arden: Jeff Walls »Dead Troops Talk«, 1992, Fotografie (Production Shot)

militärischen Technologieschub mithilfe digitaler Darstellungseffekte sekundierten, brachten auf neue Weise die Möglichkeiten computerisierter Visualisierungsformen mit der Automatisierung des Krieges zur Deckungsgleichheit. Es gehörte zur Ideologie dieser rationalisierten Kriegsoptik – die damals alle erwarteten Bilder des Schreckens ausblendete –, dass sie sich strategisch einer »blinden« Technik bediente, deren digitalisierte Bildercodes die zeitgleich zunehmende Popularisierung von virtuellen Kampfszenarien der Videospiele zunutze machte. Getarnt als ein Geschicklichkeitsmanöver im virtuellen Raum, das traditionelle Kriegstaktiken durch sogenannte »intelligente« Waffen ersetzte und den Sichtkontakt zu den realen Zielen ausschaltete sowie die tatsächlichen Opferzahlen hinter digitalen Zeichen spielerischer Bildschirmmanipulationen verbarg, erreichte die bildliche Repräsentation von Kampfhandlungen damals eine neue Dimension der kollektiven Verdrängung von Krieg als das tatsächlich von ihm ausgelöste humanitäre Desaster. Implizit widersetzt sich Walls Tableau der propagandistisch eingesetzten verharmlosenden Bildästhetik, die Anfang der neunziger Jahre einer vermeintlich klinisch »sauberen« Kriegsführung als visueller Schutzschild gegenüber der tatsächlichen Zerstörung diente und von einer zeitgleich eingeführten Sprachregelung flankiert wurde, indem nicht von Opfern die Rede war, sondern von den »Kollateralschäden« eines als unblutig stilisierten Waffengangs. Dead Troops Talk entstand in dieser Zeit, in der seitens der USA die Anordnung galt, dass keine Kriegstoten gezeigt werden durften. Anstatt die Toten aber wie oftmals in den Fotografien der gegenwärtigen Berichterstattung über die Kriege in Afghanis-

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177 Roy Arden: Jeff Walls »Dead Troops Talk«, 1992, Fotografie (Production Shot)

tan und im Irak zu ästhetisieren, lässt Wall sie als die für sich selbst sprechenden Zeugen auftreten.18 Durch die theatrale Überbetonung ihrer Verwundungen verhindert er zugleich, dass sein Tableau als objektive Gegendarstellung gegenüber den offiziellen Bildern des Krieges Position bezieht. Jenseits polarisierender Wahrheitsbehauptungen arbeitet er mit einem heterogenen Kompendium visueller Mittel, in dem die traumatischen Anteile des historischen Ereignisses als monströs-groteske Verkehrung der ideologisch motivierten Täuschungen über den vermeintlich »gefahrlosen« Krieg aufscheinen. Im Sinne Foucaults ist Dead Troops Talk ein memento mori, das die Erinnerung als eine prinzipielle Form des Widerstands wach hält. Indem Wall die Wahrnehmung auf die Grenze zwischen dem Leblosen und Belebten, auf den unbegreiflichen Effekt der bildlichen Re-Animation des Vergangenen und Erloschenen lenkt, kennzeichnet er das durch die rückwärtige Illumination beseelte Bild als einen prekären Schwellenbereich zwischen Leben und Tod. Diese labile Übergangszone des Bildes, in der die visuelle Belebung des Motivs seiner Mortifikation konvergiert, kommentierte Roland Barthes mit der bestürzenden Einsicht, dass es der Fotografie gelinge, die Rückkehr der Toten zu evozieren. Fotografien »suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los«, schreibt Susan Sontag in ihren Reflexionen über die Rolle der Fotografie als Aufzeichnungsmedium von Gewalt, Krieg und Zerstörung.19 Diese Ambivalenz zwischen Verlebendigung und Stillstellung macht die Fotografie zu einer Quelle intellektueller Verunsicherung, da sie die »Nachträglichkeit« verleugneter traumatischer Geschichte durch die retroaktive Wiederkehr der Bilder zum Erscheinen bringt und so an der »Enttäuschung des Krieges« mitwirkt.20 In seinem Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod, den Freud 1915 angesichts des Ersten Weltkriegs verfasste,

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nimmt er dem Leser jegliche Hoffnung darauf, dass eine pazifistische Haltung dazu führen könne, Kriege künftig vollkommen abzuschaffen. Vielmehr schreibt er zwei Aspekten das »Enttäuschende« des Krieges zu. Zum einen kehre auf traumatische Weise das Reale im Krieg wieder, insofern die Leugnung des eigenen Todes gerade dadurch aufrecht erhalten werde, dass die Illusion im Krieg befördert wird, er bringe nur den Anderen den Tod, während unter den Bedingungen des staatlich monopolisierten Unrechts im Krieg die Fassade der Zivilisation zerbreche und den verdrängten Triebkräften des Todes freier Lauf gewährt werde.21 Dead Troops Talk ist trotz der politischen, moralischen Berechtigung einer verteidigenden Reaktion auf Invasion ein Sinnbild dieser Enttäuschung des Krieges. Die in eine mediale Zwischenwelt verbannten Gespenster erweckt der Krieg zum Leben. Sie kehren über das re-enactment wieder, doch verdrehen sie die bekannten Nachrichtenbilder des allgegenwärtigen »Schauspiels« der Schrecken zu einer beunruhigenden Vision, in der die Toten gegen ihr Verschwinden im Wechsel der Aktualitäten aufbegehren. Walls Kompositfotografie betont ihre virtuelle Unsterblichkeit beziehungsweise ihr Überleben in der künstlerisch verfremdeten Vergegenwärtigung. Für Derrida sind die Geister und Phantasmen »weder an die Teleologie des historischen Materialismus noch an die lineare Zeitmessung« gebunden, sondern kehren immer wieder, wie der Philosoph in seiner Theorie über die Phantome des Kommunismus ausführt. Inspiriert von Hamlets berühmter Zeitdiagnose (»The time is out of joint«), leben sie als Protagonisten eines nicht linear strukturierten Unbewussten wieder auf.22 Ihr Überleben gewährt ihnen eine »Überlebendigkeit«, die sie jenseits der Polarität von Gegenwart und Vergangenheit gegenwärtig hält, denn als stets »zu-künftig« und »wieder-künftig« überschreiten sie die »faktische Gegenwart«.23 Als Wiedergänger widersetzen sie sich dem herrschenden Präsenzmodell, das allein im Präsens verankert ist. In dieser Anachronie aber sah Derrida das politische Potential der Phantasmen, die einer anderen Zeit angehören, der Zeit des Unbewussten, und daher den Strömungen des Zeitgeistes zuwider laufen. An die Erinnerungsfähigkeit der Bilder gekoppelt, lässt sich ihr Nachleben nicht auf die Antithese von Vergangenheit und Gegenwart reduzieren.

BILDSPHÄREN »Ich bin nicht unbedingt an unterschiedlichen Bildthemen interessiert, wohl aber an unterschiedlichen Bildtypen.«24 Jeff Walls szenographisch-performative Inszenierung der einzelnen Figuren in seinem Kriegspanorama und die anschließende Verschweißung der fotografischen Aufnahmen zu einem Gesamtbild, gleicht den handwerklichen Arbeitsprozessen, die vor allem die Maler des frühen 19. Jahrhunderts an der Schwelle zur Auflösung dieser klassischen Bildkategorie

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178 Jeff Wall: Restoration, 1993, Großbilddiapositiv in Leuchtkasten, 119 × 490 cm, Kunstmuseum Luzern

anwendeten. Ihre narrativen Figurenbilder entwickelten sich aus einer Vielzahl von Skizzen und Entwürfen, die nach lebenden Modellen und im Atelier aufgebauten Szenarien angefertigt und nachträglich auf der Leinwand zu einer wirkungsvollen Gesamtkomposition zusammengefügt wurden. Künstlerlegenden schildern beispielsweise, wie Théodore Géricault alle verfügbaren Mittel einsetzte, um den in seinem Floß der Medusa von 1819 (Paris, Museée du Louvre) angestrebten Realitätseffekt mit den Mitteln der Malerei zur vollen Geltung zu bringen. Über die modellhafte Re-Inszenierung des realen Geschehens bemühte er sich, das erlebte Grauen zu essentialisieren und die Unmittelbarkeit seiner Eindrücke glaubhaft in der hiervon inspirierten Bildfindung zu kondensieren. Auch der naturalistische Zeichner und Maler Adolph Menzel, der als Chronist des wilhelminischen Berlins mit seinen Bildern minutiöse Zeitzeugnisse einer von Gegensätzen und im Wandel begriffenen Gesellschaft schuf, erfasste seine aus dem Leben gegriffenen Modelle mit einer zu seiner Zeit noch ungewöhnlichen dokumentarischen Handschrift. Die Mikroperspektive seiner lebensnahen Studien fügte er anschließend in seinem Atelier als distinkte Kompositelemente in seine Gemälde ein, denen die ästhetische Erfahrung der Fotografie als kulturelles Faktum eines paradigmatischen Medienumbruchs bereits inhärent ist. Die Irritationskraft von Walls fotografisch fixiertem tableau vivant, das Anleihen bei jenen technisch älteren Bildtechnologien und nicht zuletzt auch bei der Ereigniskunst des Theaters macht, geht auf die intensive Auseinandersetzung mit den historischen Bildtypen der realistischen Wirklichkeitserzeugung zurück, ohne hiermit einen bloßen Anachronismus zu begehen. Auch das Motiv des Krieges spielt in diesem Spektrum der Repräsentationsmedien eine besondere Rolle. Krieg ist seit jeher als die Immersionerfahrung im

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eigentlichen Sinn geschildert worden. Dass Schlachtenbilder neben Landschaftsdarstellungen als ein bevorzugtes Sujet der neuen Attraktion des Panoramas im 19. Jahrhundert vom Publikum bestaunt wurden, unterstreicht das Faszinosum des Krieges, dessen ästhetische Repräsentation seinen Übergang von einer apokalyptisch-archaischen Erfahrung gegen Ende des 20. Jahrhunderts zur Massenkultur markiert.25 Entlang der medialen Umbrüche, das zeigen die rasanten Veränderungen der Bildpolitiken des Krieges, verwandelt sich der Krieg selbst in einen durch und durch »technisch geprägten Wahrnehmungsraum, dessen Repräsentationen zur visuellen Darstellung drängen«.26 Die Anpassung des menschlichen Wahrnehmungsapparates an eine katastrophische Technik richtet das Bewusstsein des Subjekts auf die Erfahrung eines neuen, »medialen Wahrnehmungsstils« aus, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Schlachtfeldern herausbildete.27 Darauf geht auch Peter Sloterdijk ein, wenn er den Beginn des Gaskriegs in der Schlacht bei Ypern 1915 als eine bis dahin unbekannte Verschmelzung von Atmosphäre und Kriegstechnologie beschwört.28 Die neue (Medien)Technik des Krieges verlangte nach Bildern, die seine Repräsentationen zu immersiven Raumerfahrungen hin erweitern. Das Panoramabild war ein solcher Versuch, die Wahrnehmung zu totalisieren und durch die Rundumschau, die den Betrachter in das Geschehen inkorporierte, dynamisch zu steigern, den Betrachter gleichsam in erhöhter Position über dem Schlachtfeld – und wie einen Untoten inmitten des Gemetzels – zu positionieren. Der klassische Ort der Katastrophe mit einer dann auch ästhetisch zu besetzenden Distanz ihr gegenüber, wurde sicher zuerst mit der Metapher des »Schiffbruches mit Zuschauern« von Lukrez besetzt.29 In Auseinandersetzung mit den medienhistorischen Funktionen vergleichbarer Werkinszenierungen, die als Ouvertüre zum Auf-

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kommen der illusiven und immersiven Bilderfahrungen durch die Technologien der Projektion und filmischen Dynamisierung Walls Interesse weckten, entstand nur ein Jahr nach Vollendung von Dead Troops Talk das ähnlich »komponierte« Großbilddiapsoitiv Restoration, das im Kunstmuseum Luzern erstmalig ausgestellt wurde (Abb. 178). Walls fotografische Adaption des 1881 in Genf eröffneten, als Panorama begehbaren Rundbildes von Edouard Castres zeigt das Gemälde im Prozess der Restaurierung. Untypisch für diese zum Erlebnis gesteigerte Bildgattung schildert das sogenannte Bourbaki-Panorama keine siegreiche Schlacht, sondern bringt, ähnlich wie die Szene in Dead Troops Talk, die verdrängte Seite des Krieges zur Darstellung, in diesem Falle die ausgehungerte und zerschundene französische Ostarmee, die gegen Ende des deutsch-französischen Krieges am Morgen des 1. Februar 1871 die Schweizer Grenze überquerte und von der Zivilbevölkerung versorgt wurde. Auch Castres arbeitete nach uniformierten Modellen, um die illusionistische Wirkung seiner Malerei zu perfektionieren, und auch in seinem Bild erscheinen die Soldaten wie Gespenster, die den »Schrecken des modernen Krieges als Zerstörung der Erfahrung« vorwegnehmen; eine Erkenntnis, die Walter Benjamin 1933 auf den Ersten Weltkrieg zurückblickend festhielt.30 Und ebenso wie die Restauratorinnen, die auf dem Großbilddiapositiv an der Retusche der visuellen Bruchstellen des vom Zahn der Zeit gezeichneten Gemäldes arbeiteten, setzte Wall bei der Montage der digitalisierten Bildsegmente dieser niemals in einer einzigen fotografischen Aufnahme zu erfassenden Panoramadarstellung den Computer ein. Die hierin sich andeutende künstlerische Reflexion historischer Bildgenerierungs- und Bildbearbeitungsmethoden verleiht dem Gedanken Ausdruck, dass die Gültigkeit einer Darstellung von dem vorherrschenden Wirklichkeitsmodell, dem »Régime der Repräsentation« abhängt, das von Traditionen geprägt ist und daher immer kulturell und politisch kodiert ist.31 Mit Dead Troops Talk lenkt Wall den Blick auf die Repräsentationen des Krieges, die er mit Restoration in das Repertoire der visuellen Wirklichkeitseffekte einbettet und als schablonenhafte Matrix einer Bildkultur zitiert, die in jeder Generation immer wieder historischer Rekonstruktionen und Sinnrahmungen der aufscheinenden Brüche des scheinbar Evidenten bedarf. Indem er den immersiven Erfahrungshorizont dieses Genres in eine groteske Allegorie der Vernichtung überführt, verkehrt Wall die Historiographie der Kriegsdarstellungen in eine Travestie und führt den vermeintlichen visuellen Zugriff auf das Ereignis als ein stets vermitteltes Geschehen ad absurdum. Nur in der Störung der ästhetischen Ordnung gelingt die »Herstellung eines befreienden Abstands«, der eine interpretierende Sichtweise auf das Ereignis ermöglicht.32 Anstatt das Bild und besonders die Fotografie als zweifelhaftes Medium der Illusionswirkung, als Vehikel einer verschmelzenden Erfahrung einzusetzen, öffnet Jeff Wall die Wirkung seines Bildes auf diese produktive »Enttäuschung« hin und ist der historischen Einsicht über die faktische »Enttäuschung des Krieges« dadurch näher als die täuschende Mimesis im Bild je zu fassen vermag.

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DAS EREIGNIS UND SEINE BILDER ZUR MEDIALEN GEGENWART DES TERRORANSCHLAGS AUF DAS WORLD TRADE CENTER IN NEW YORK Dietrich Erben

Das Betrachten der aus einer Filmsequenz geschnittenen einzelnen Aufnahme erzeugt unweigerlich den Reflex, den gezeigten Moment gemäß der eigenen Erinnerung zu einem Geschehensablauf zu vervollständigen (Abb. 179). Nachdem das erste von den Selbstmordattentätern entführte Flugzeug in den nördlichen Turm des Welthandelszentrums in New York gerast war, wurde das zweite Flugzeug in den Südturm gelenkt. Aus südlicher Richtung aufgenommen zeigt das Bild im Hintergrund das zuerst getroffene Gebäude, aus dem Rauchschwaden aufsteigen, sowie den Anflug des zweiten Flugzeugs. Die Explosionen im Einschlagbereich der von den Terroristen als Raketen benutzten Passagiermaschinen führten zum Zusammensturz der in ihrem äußeren Erscheinungsbild identischen Zwillingsbauten. Als am Morgen des 11. September 2001 um halb elf Uhr der zweite Turm des World Trade Center in sich zusammenfiel, waren nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs knapp zwei Stunden vergangen. Das Niedersinken des Südturms und dann des zuerst getroffenen Nordturms vollzog sich in einer Art »Zeitlupe«, die vom Riesenmaß der Türme erzeugt wurde und deren Dimensionen zuletzt noch einmal sichtbar werden ließ. Von den Türmen blieb am ehemaligen Standort der Hochhäuser an der Südspitze von Manhattan ein immenses Ruinenfeld zurück, für das in Analogie zum Epizentrum einer Atombombenzündung die Bezeichnung »ground zero« gebräuchlich wurde. Die Schuttmassen bargen für Monate die Überreste der Toten. Nach offiziellen Angaben sind bei den Attacken 3.066 Menschen ums Leben gekommen, mehrere zehntausend Menschen wurden verletzt. In vieler Hinsicht sind die Anschläge vom 11. September 2001 in der Geschichte des Terrorismus ein bis dahin neuartiges Ereignis gewesen. Gleichzeitig stehen sie aber als

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179 Unbekannter Kameramann: Der brennende Nordturm des World Trade Center in New York und der Anflug es zweiten Flugzeugs auf den Südturm, 11. September 2001, TV-Still

drastische Steigerung in der Kontinuität eines auch damals schon seit gut anderthalb Jahrzehnten zu beobachtenden kriegs- oder bürgerkriegsartigen Terrorismus. Diese ambivalente Einschätzung betrifft die zerstörerische Dimension der Anschläge auf die USA ebenso wie die ihnen zugrunde liegende Planungsstrategie, ihre weltpolitischen Folgen und nicht zuletzt ihre unmittelbar erzeugte und bis heute andauernde mediale Gegenwart.1 Die Attentate waren von einem international operierenden Netzwerk von langer Hand vorbereitet worden. Sie wurden von neunzehn Männern ausgeführt, die aus verschiedenen arabischen Staaten stammten und der Ende der achtziger Jahre in Afghanistan gegründeten

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Terrororganisation Al-Qaida angehörten. Die Terroristen, von denen einzelne in den Vereinigten Staaten Flugunterricht genommen hatten, brachten insgesamt vier Flugzeuge in ihre Gewalt. Eine in Washington gestartete Maschine wurde in die Hauptstadt zurück gelenkt und raste nach fast zweistündigem Flug in das Gebäude des Verteidigungsministeriums. Die vierte Maschine stürzte, aus New Jersey kommend, in Pennsylvania in der Nähe des Präsidentensitzes von Camp David ab. Die gesamte Attentatserie beruhte auf einem vorher nicht bekannten Maß an geheim gehaltener Logistik und Koordination. Die im Hinblick auf die Folgen viel beschworene Aussage, nach dem 11. September sei »die Welt nicht mehr wie vorher«, ist ebenso richtig wie falsch. Die weltpolitischen Konsequenzen stehen mit einem immens gesteigerten Sicherheitsbedarf und mehrfachen militärischen Interventionen seitens der USA und alliierter Staaten außer Frage. Gleichzeitig bleiben die Kontinuitäten zu bedenken, denn natürlich haben sich die Lebensrealitäten der überwältigenden Mehrzahl der Menschen gar nicht oder allenfalls beiläufig verändert. Insgesamt eskalierte am 11. September 2001 das Ausmaß an terroristischer Gewalt, die man nun ernst zu nehmen hatte und die auch vorher schon hätte ernst genommen werden müssen.2 Die Formel von der veränderten Welt besaß von Anfang an einen beschwörenden Gestus und ihr haftet der Beigeschmack einer instrumentellen Phrase an. Wer sie aufruft meint: Was noch nicht ist, wird schon noch werden. Eine ähnliche Dialektik von Alt und Neu, wie sie das Geschehen selbst kennzeichnet, gilt auch für die Bilder der Angriffe.3 Die Bildgeschichte des Attentats dokumentiert sich in der Fülle visueller Mitteilungen, die im folgenden in ihrer Spannbreite vom Film über die Pressefotografie und die Internetsequenz bis zum Bild als Kunstform skizziert werden soll. Es liegt in der Logik des Überfalls bei Terrorattentaten, dass sie erst im Moment der Destruktion öffentlich und damit auch der Bildberichterstattung zugänglich werden. Hingegen waren durch die serielle Abfolge der Anschläge am 11. September 2001 in New York nicht nur die Folgen der Zerstörung sichtbar. Wie es die abgebildete Fotografie zeigt, richteten sich die Kameras auf den Moment der zerstörerischen Aktion selbst, die in ihrem sequentiellen Ablauf die terroristische Willkür der Verbreitung von Schrecken noch steigerte. Die Bildlichkeit der gesamten Attentatserie war von Beginn an von den Aufnahmen der Twin Towers in New York dominiert. Dies hatte zunächst mit dem Simultanwert der Aufnahmen zu tun, durch die man als Fernsehzuschauer in Echtzeit den Angriffen, der Destruktion und den Rettungsmaßnahmen beiwohnen konnte. Mochte man sich bei den ersten Fernsehbildern noch an fiktive, inszenatorisch erfundene Bilder erinnern, so handelte es sich bei den Filmaufnahmen von den New Yorker Anschlägen als der Wiedergabe einer geschehenen Wirklichkeit um eine neue Seherfahrung. Die Filmaufnahmen machten in ihrem dokumentarischen Status nicht nur die Zerstörung der Wolkenkratzer ablesbar, mit dem Sehen war auch das Wissen um eine Unzahl von Menschen verbunden, die während des Betrachtens der live ausgestrahlten Bilder durch die Zerstörung der Gebäude starben.

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VISUELLE URTEILSKRAFT UND HISTORISCHE REFERENZ Man hat von Anfang an konstatiert, dass die Filmsequenzen von den in die Hochhäuser hinein gesteuerten Passagierflugzeugen jedweden Erklärungskontext des Geschehens verweigerten.4 Flugzeuge und Hochhäuser sind höchst unterschiedliche Werkzeuge. Während erstere Bestandteile eines hoch technisierten Massenverkehrssystems sind, beherbergten die Wolkenkratzer im New Yorker Financial District die Büros einer hoch verdichteten Finanzbürokratie. Die Passagiermaschinen und die Türme wurden ineinander zerrieben, waren aber in ihrer parallelen Zerstörung rational nicht aufeinander zu beziehen. Die in den Stunden nach den Anschlägen nicht enden wollende, über weite Strecken unkommentierte Wiederholung der Aufnahmen zielte offensichtlich darauf ab, das Geschehen als realen Vorgang überhaupt erst einsichtig zu machen. Es mag sein, dass die permanente Wiederholung die wohl bei jedem Zuschauer auf Anhieb vorhandene Assoziation an einen fiktiven Filmplot, dessen Spannungsmoment ja entscheidend in seiner Einmaligkeit liegt, tilgen sollte. In den ersten Stunden nach den Anschlägen kam es zunächst zu einer Paralyse der Filmreportage, die durch den tatsächlichen Ablauf des Geschehens in groteske Nähe zu Produktionen des Action- oder Katastrophenfilms gelangt war. Durch die andauernde, die Aufmerksamkeit abstumpfende Wiederholung der Filmsequenzen mit eingeblendeten Kommentarstreifen distanzierte sich die Reportage wieder vom Thriller. Vielleicht schwerer als die Orientierungslosigkeit, die durch die Überlagerung zweier Filmgenres zustande kam, wog es hingegen, dass in den ersten Bildern keine Akteure erkennbar hervortraten. Durch die Suizide war die Selbstmitteilung der Attentäter nach ihrer Tat ausgeschlossen. Es gab aber auch keine schriftliche oder bildliche Botschaft der terroristischen Zentrale. Anders als frühere Terrorbewegungen hielt es von den verantwortlichen Hintermännern niemand für nötig, sich zu erklären oder die Tat zu rechtfertigen. Da ideologische Begründungen ausblieben, fehlte für die ersten Fernsehbilder der Attentate auch ein Verständnisrahmen. Nach dem ersten Erstaunen über den Realitätsgehalt der Bilder sprach aus ihnen nichts anderes als die schiere Gewalt des Faktischen. Auf diese faktenbeherrschte Bildlichkeit der ersten Stunde und die völlige Absenz einer bildlichen Programmatik antworteten unverzüglich zahlreiche bildliche Kommentare. Schon einen Tag nach den Attentaten wurde die Fotografie von drei Feuerwehrleuten publiziert, die in den Ruinen des World Trade Center die amerikanische Flagge hissen (Abb. 180). Diese Fotografie ist in vieler Hinsicht ein Traditionsbild mit Identifikations- und Appellcharakter – und als solches ist sie auch ein Gegenbild zu den ersten Fernsehaufnahmen. Die Aufnahme stammt von dem Fotografen Thomas E. Franklin und wurde am 12. September 2001 erstmals als Titelbild der Zeitschrift The Record veröffentlicht. Allein schon die gegenüber dem Fernsehfilm traditionsgebundene Gattungswahl der Pressefotografie zeigt, dass das Bild nicht nur einen dokumentarischen Wert verbürgen soll, sondern auch für einen individuellen Betrachter kalkuliert ist. Dies gilt umso mehr für die Darstellung selbst. Drei Feuerwehrleute haben in schwerer Montur in den Ruinen des World

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180 Thomas E. Franklin: Feuerwehrleute beim Hissen der amerikanischen Flagge in den Ruinen des World Trade Center, 12. September 2001, Pressefotografie

Trade Center Stellung bezogen, sie folgen offensichtlich dem militärischen Reglement der Flaggenparade. Zwei der Männer hantieren gemeinsam am Seilzug der erst halb gehissten Flagge, der dritte Feuerwehrmann hat sich etwas abseits gestellt und den Kopf noch weiter als die beiden anderen in den Nacken geworfen, um die Aktion zu beaufsichtigen und ihrem Abschluss erwartungsvoll entgegenzusehen. Es bleibt offen, ob die Männer die Flagge auf Halbmast setzen wollen, oder ob sie bis zum Ende des Mastes hochgezogen werden soll. Die Gruppe ist auf einem diagonal ansteigenden Schuttplateau in Positur gegan-

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gen, dessen Umriss von der Linie der drei Köpfe nachgezeichnet wird. Der Fahnenmast ist in der Gegendiagonale aufgerichtet, wobei das Sternenfeld der Flagge im Bildzentrum fixiert ist. Eine den linken Bildrand vertikal durchmessende Säule stabilisiert dieses Gefüge architektonisch. Die bereits mit diesen Mitteln erzeugte Bildordnung wird schließlich durch die scharfe, durch Licht und Staub beinahe wie koloriert wirkende Modellierung der Personengruppe vor dem diffusen Hintergrund gewährleistet. Die Schuttberge sind unscharf aus dem Fokus der Kameralinse gerückt und türmen sich, das Format zur Gänze ausfüllend, als Steilwand unbestimmbarer Ausdehnung auf. Dem rückwärtigen Chaos scheint eine Szenerie provisorischer, aber immerhin rudimentär wiedergewonnener Ordnung regelrecht abgerungen. Kaum hat man sich diesen Bauplan der Bildregie vor Augen geführt, so stellen sich Nachfragen im Hinblick auf die motivischen und inhaltlichen Dimensionen der Fotografie. Offen bleibt etwa die Herkunft des Flaggenmasts. Er mag ins Ruinenfeld geschleppt worden sein, oder es mag sich um eine aus den Trümmern herausgelesene Stange handeln, die mit einem Rollenzug zum Flaggenmast improvisatorisch zurechtgerüstet wurde. Bei beiden Optionen bleibt die schiefe Aufrichtung allerdings auffällig genug. Man kann außerdem eine dünne Stange erkennen, die offenbar als zu leicht befunden und zur Seite gestellt wurde. Diese Sorgfalt bei der Auswahl der Relikte entspricht am Ende dem zeremoniellen Reglement, das über der gesamten Szenerie des Flaggenappells waltet. Die Feuerwehrleute werden dem Betrachter während ihrer gefährlichen Rettungs- und Sicherungsarbeiten in den Ruinen des Welthandelszentrums in einem gemeinschaftlichen patriotischen Akt des Innehaltens vor Augen gestellt. Die scheinbare Momentaufnahme erweist sich endgültig als ein Produkt minutiös kalkulierter Bildregie, wenn man erkennt, dass sie sich einer älteren Bildformel verdankt. Es handelt sich um Joe Rosenthals berühmte Fotografie aus dem Zweiten Weltkrieg, die das Aufpflanzen der amerikanischen Flagge auf Iwo Jima am 23. Februar 1945 zeigt (Abb. 181). Rosenthals Fotografie erinnert an die verlustreiche Eroberung der Pazifikinsel, mit der die Landung der Amerikaner in Japan eingeleitet wurde. Die Aktion einer fünfköpfigen Gruppe von Soldaten, die in energischem Vordringen eine Fahnenstange ins öde Gelände rammen, ist jedoch eine durch und durch nachgestellte Inszenierung. In vielfältigen Reproduktionen rückte die Fotografie in den populären Bestand der amerikanischen Nationalikonographie ein.5 Das Bild wurde nach dem Krieg als Briefmarke ausgegeben; im Marinedenkmal auf dem National Cemetery in Arlington erfuhr es seine monumentale Steigerung zur Bronzegruppe. Und es hält auch der kritischen Revision durch Edward Kienholz stand, der auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges die Gruppe in seinem Portable War Memorial von 1968 (Köln, Museum Ludwig) zu einer Figurenassemblage technoider, leerer Hüllen umfunktionierte. Auf diese Weise im kollektiven Bildgedächtnis verankert, genügt der Aufruf weniger Signalmotive, um beim Aktionsbild der New Yorker Feuerwehrleute mit dem schräg gestellten Flaggenmast als Sammelpunkt einer Gruppe von Uniformierten die historische Referenz unmissverständlich mitzuliefern.

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181 Joe Rosenthal: Das Aufpflanzen der amerikanischen Flagge auf Iwo Jima am 23. Februar 1945, 1945, Pressefotografie

Für die Bedeutung der Fotografie hat diese Bezugnahme immense Folgen. Erst durch den Rückverweis auf die Ikonographie des Zweiten Weltkriegs wird es dem Betrachter ermöglicht, die Leerstellen des Bildes zu schließen und letztlich das Attentatsgeschehen des 11. September 2001 als historisches Ereignis – nämlich in Analogie zu den Schlachten des Zweiten Weltkriegs – einzuordnen. Die Fotografie von den Feuerwehrleuten erscheint vor dem Hintergrund der Aufnahme von der Eroberung Iwo Jimas auf eine ganz paradoxe Weise als ein ziviles, aber gleichermaßen triumphales Eroberungsbild. Dieser Gehalt hat wesentlich mit dem Ruinenfeld des »ground zero« zu tun, das nun in der Gattungstopik des Schlachtenbildes ebenso als Schlachtfeld wie als erobertes Territorium zu begreifen ist.6 Ruinenbilder von Hochhäusern dieser Dimensionen erwiesen sich nach dem 11. September als eine neue Bilderfahrung. Moderne Hochhäuser waren bis dahin mit ihrer geschichtslosen Oberfläche nicht als Ruinen denkbar. Natürlich wurden auch Hochhäuser immer wieder in Sprengungen niedergelegt; bei solchen Zerstörungen handelt es sich aber um planmäßig organisierte Abbruchkampagnen, und von den Bauten blieb in der Regel keine Ruine, sondern eine säuberlich ausgebreitete Abbruchhalde übrig. Die Attentate auf

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das Welthandelszentrum hatten hingegen gigantische Ruinenreste hinterlassen. Sie waren für die Rettungskräfte gefährlich wie Minenfelder. Am Tag der Attentate und in den darauf folgenden Tagen starben 343 Feuerwehrleute bei ihrer Arbeit.

DIE HISTORISIERUNG DER ATTENTATE Die Fotografie von den Feuerwehrleuten wies der Wahrnehmung eine Richtung, die Ruinen als Überreste eines Schlachtfeldes nach dem Bombardement aufzufassen. Diese Konnotation sollte schließlich von der Topik des eroberten Territoriums überlagert werden. Denn nach dem Eindringen der Terroristen in das Staatsgebiet der USA dokumentiert das Bild eine symbolische Rückeroberung des Landes. Auch dieser fundamentale Gehalt der Fotografie Franklins begründet sich entscheidend aus dem Rückverweis auf die Bildlichkeit des Zweiten Weltkriegs. Ging es bei dem für die Fotografie inszenierten Aufrichten des Sternenbanners auf Iwo Jima um die territoriale Eroberung des Pazifikraumes, so wird dieselbe symbolische Handlung im New Yorker Bild für die Restituierung der territorialen Integrität des Landes in Dienst genommen. Erst so wird es erklärbar, dass die Aufnahme auch wieder zurück ins Kriegsgeschehen eingespeist werden konnte. Dies dokumentiert eine Fotografie von Soldaten der amerikanischen Invasionstruppen in Afghanistan, die der geläufigen Regieanweisung gemäß die Nationalflagge aufrichten. Bei der Flagge handelt es sich im Übrigen um ein Geschenk der New Yorker Feuerwehr, die sie zusammen mit der Stadtfahne von New York den Invasionstruppen vermachten (Abb. 182). Die Fotografie der Feuerwehrleute in den Ruinen des World Trade Center macht eine Mitteilung, deren Verständnisrahmen in den öffentlichen politischen Diskussionen und offiziellen Verlautbarungen abgesteckt ist. Zugleich erfahren diese Debatten im Bild eine sinnfällige Umsetzung und Bekräftigung. Die Titulierung der Attentate als Krieg gegen die USA, die schon in den ersten Schlagzeilen zu lesen war, wurde spätestens eine Woche später zur offiziellen politischen Doktrin erhoben und in den folgenden Monaten unter dem Stichwort des »war on terror« zum zentralen außenpolitischen Paradigma der Regierung Bush.7 Damit war der Option auf eine Strafverfolgung der Täter mit polizeilichen, international koordinierten Mitteln gegenüber einem militärischen Gegenschlag eine Absage erteilt. Die eminente Tragweite dieser Entscheidung hat sich in den Jahren seit 2001 mit den Interventionen in Afghanistan und im Irak gezeigt. Der Gleichsetzung von Terrorismus und Krieg wurde zusätzlich Vorschub geleistet durch den historischen Vergleich der Anschläge mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour, der die USA im Dezember 1941 zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg veranlasste. Insofern erscheint es als ein konsequenter strategischer Zugriff, für die New Yorker Fotografie eine Bildepisode aus dem Pazifikkrieg zu reaktivieren. Die Aufnahme, die auf militärisches Gepräge weitgehend verzichtet, erscheint so als ein Appell an die amerikanische Zivilgesellschaft, sich der Kriegsoption als Antwort auf die Attentate anzuschließen.

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182 Unbekannter Fotograf: US-Marines hissen die US-Flagge und die New Yorker Stadtfahne im Süden Afghanistans, 1. Dezember 2001, Pressefotografie

Gleichermaßen entscheidend ist, dass sowohl auf der Ebene der politischen Debatten wie auf der Ebene der bildlichen Äußerungen eine Historisierung des Geschehens vollzogen wurde. Die Attentatserie wurde in eine historische Kontinuität eingereiht, und die Bildlichkeit war wieder in den Stand gesetzt, den zunächst ausgebliebenen, nun freilich auch erheblich ideologisierten Verständigungsbedarf über das Ereignis zu befriedigen. Das Aktionsbild der Feuerwehrleute, das ein Jahr nach seiner Entstehung ebenfalls als Vorlage für eine Briefmarke und später für ein plastisches Bronzedenkmal verwendet wurde und im Stadtbild New Yorks für lange Jahre allgegenwärtig war, lässt sich als eines der Hauptzeugnisse für den Versuch verstehen, mit der Wiedergewinnung politischer Handlungsoptionen auch eine Art Bildhoheit zu etablieren. Die Historisierung der Attentate durch deren Zurückbinden an eine geschichtliche Kontinuität blieb ein Grundanliegen ihrer bildlichen Kommentierung und Deutung. Sie konnte freilich weit weniger staatstragend ausfallen als auf der Fotografie der New Yorker Feuerwehrleute. Zum bildlichen Niederschlag, den das Ereignis jenseits der ikonisch erstarrten Fotografien bald nach den Attentaten gefunden hat, gehört eine im Internet veröffentlichte, zunächst anonyme Fotomontage, die bald zu einer Serie mit kollektiver Autorschaft erweitert wurde und zu den irritierendsten und eindrücklichsten Zeugnissen des Anschlags zählt (Abb. 183). Anfang Oktober 2001 ins Netz gestellt und seither auf mehrere Dutzend Motive ausgeweitet, stellt die Bildfolge einen Mann dar, der als »tourist

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183 Unbekannter Fotograf: Auszüge aus der Bildsequenz »Touristguy«, Oktober 2001, im Internet veröffentlichte Bildserie

guy« bezeichnet wird und unter diesem Namen im Internet abrufbar ist, fast identisch wiederkehrend, ausdruckslos und eigentümlich blasiert vor einer Bildchronik von Katastrophen. Als Kulissen seiner – fingierten – Auftritte sind die Explosion des Zeppelin in Lakehurst 1937, die Atombombenabwürfe in Japan 1945, der Mord an John F. Kennedy in Dallas 1963, der Absturz der Concorde-Maschine in Paris 2000 und eben auch die Zerstörung des World Trade Centers 2001 zu sehen. Doch diese und andere Ereignisorte scheinen den jungen Mann jenseits seiner bloßen Anwesenheit vollkommen unberührt zu lassen. Auf dem Dach eines der Twin Towers findet er sich fatalerweise noch rechtzeitig zum Anflug des Flugzeugs ein. Es mag sich erübrigen, auf die einzelnen Bilder detaillierter einzugehen. Die Serie verleugnet ja keineswegs den Charakter des zusammengelesenen, eilig fabrizierten Trash, wie er dem ephemeren Medium des Internets auch nur zu angemessen ist. Im Gegenzug stellt sich die Bildsemantik als ganz und gar nicht banal heraus. Der Tourist ist ein Wiedergänger durch die Historie, der durch Zeiten und Räume hindurch stets zur Stelle ist. Der enzyklopädische Sammler von Sensationen erweist sich auch als ein Aktivist des globalen Sightseeing. Das New Yorker Attentat, das immerhin den Anlass für die retrospektive Ausarbeitung der Bildfolge gab, fügt sich schließlich völlig unauffällig in die Serie ein. Das Ergebnis führt auf Abwege, denn die Historisierung des Geschehens relativiert keineswegs die einzelnen abgebildeten Ereignisse, sondern fügt jeder Katastrophe eine weitere hinzu. Mit dieser Einreihung der Attentate in eine nicht enden wollende Chronik

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der Gewalt leistet die Bildserie einer ins absurde Extrem vorangetriebenen Konventionalisierung Vorschub. Der so entstandene Rekurs auf die Konvention ist bereits im Bildtypus der Fotomontagen angelegt, die als touristischer Schnappschuss inszeniert sind. Offensichtlich ist die Formel des fotografischen Reiseandenkens geradezu insistierend monoton reproduziert. Es hat seine Wurzeln im Reiseporträt des 18. Jahrhunderts, etwa in Wilhelm Tischbeins Gemälde Goethe in der römischen Campagna von 1787 (Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut). Gemäß dem populären Bildtypus soll die Postierung des Reisenden an einem signifikanten Ort seine Augenzeugenschaft und darüber hinaus die innere Affinität des Reisenden mit dem Ziel der Reise beglaubigen. Das Schema der Zuordnung von Person und Hintergrund signalisiert den neuen, durch die Reise gewonnenen und erweiterten Erfahrungshorizont. Nun sind auf den Fotomontagen im Hintergrund des Internet-Touristen aber nicht dauerhafte Wahrzeichen abgebildet, sondern plötzlich hereinbrechende Ereignisse. Die für den arglos Anwesenden vermeintlich tödlichen Katastrophen werden in der Bildfolge arretiert, das Ereignis wird mit einem monumentaldauerhaften Wahrzeichen gleichgesetzt. Da es sich bei diesen Ereignissen um Katastrophen handelt, wird auch deren Wahrzeichenwert ins Destruktive gewendet. Die ebenso distanzierte wie aussichtslose Hintergründigkeit des emblematischen Wanderers geht zu den offiziell verordneten Bildwelten über das New Yorker Ereignis auf denkbar weite Distanz. Auch hier wird eine Historisierung erkennbar, die aber nicht mehr in den Dienst der Affirmation gestellt ist, sondern einen illusionslosen Gegenentwurf bietet. Trotz dieser skeptischen, geschichtskritischen Tendenz äußert sich auch in der Bildserie der Fotomontagen das Grundanliegen historischer Einordnung und Erklärung. Die Attentatserie des 11. September war nicht nur ein Anschlag auf Menschen, sondern auch auf Geschichtsbilder. Gerade indem die Bildserie ein Geschehen zum Wahrzeichen und ein Ereignis zum Monument umformuliert, verweist sie auf das Problem des Ereignisses selbst.

DAS EREIGNIS ALS KULTURELLE SCHÖPFUNGSLEISTUNG Es ist ein seltsamer Zufall, dass die Differenz von historischem Ereignis und Alltagsgeschehen in einer Fotomontage von John Baldessari ausgerechnet am Beispiel der Zerstörung des World Trade Centers bildlich durchexerziert wurde. Das Werk entstand bereits im Jahr 1990, also lange vor den Anschlägen (Abb. 184).8 Das Doppelbild zeigt im oberen Teil ein Paar in der Kleidung der späten sechziger Jahre, ein Mann steht neben einer Frau mit Hand- und Einkaufstasche. Vor die Gesichtsfelder sind ein roter und ein grüner Punkt gesetzt, ein bei Baldessari wiederkehrendes Gestaltungsmittel, das seine Herkunft im Blick durch den Sucher einer Kamera oder in den bei Sehtests verwendeten Probelinsen hat. Die Gesichter werden durch die aufgemalten Punkte im Wortsinne fokussiert, aber auch verdeckt. Der Betrachter wird durch die gleichzeitige Betonung und Tilgung der

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184 John Baldessari: Two Highrises (With Disruption) / Two Witnesses (Red and Green), 1990, übermalte Farbfotografie, Los Angeles, Museum of Contemporary Art

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Gesichter dazu herausgefordert, sich deren Züge vorzustellen. In der unteren Bildhälfte erscheinen die Twin Towers im fiktiven Moment der Destruktion. Unter einem vom Himmel hereinrasenden Feuersog zerbersten die oberen Bereiche der Türme und vereinigen sich. Die Bauwerke und das Personenpaar darüber sind axial aufeinander bezogen. Bei allen offensichtlichen Kontrasten ist es offenbar die Paarbildung als Verkörperung einer perfektionierten oder zumindest konventionell akzeptierten Ordnung, die Baldessari zu deren künstlerischer Infragestellung provoziert hat. Die Beziehung zwischen beiden Bildhälften ist angespannt. Diese Konfrontation ist auch im Bildtitel aufgenommen: Two Highrises (With Disruption) / Two Witnesses (Red and Green). So wie in der Fotomontage die anonyme Figur des Menschen gegen die Figur des Bauwerks gestellt ist, so ist im Bildtitel Benennung gegen Benennung gesetzt. Durch den Titel wird das in beiden Fotografien latent vorhandene gemeinsame Thema als mögliche Beziehung einer Augenzeugenschaft angedeutet. Baldessaris Arrangement und die Konfrontation verschiedener Motivwelten treten in seiner »Combined Photograph« in einen formalen und inhaltlichen Dialog mit offenem Ausgang. Sie verweisen mit der Parallelität der Abbildung nicht nur auf die mögliche Simultaneität des Geschehens, sondern auch auf eine mögliche Verknüpfung der beiden dargestellten Momente zu einem Handlungsstrang. In der Imagination des Betrachters werden so die banale Alltagssituation und das katastrophale Ereignis ins Verhältnis gesetzt. Baldessaris Werk reflektiert eine Differenz, die auch in der historiographischen Methodendebatte während der letzten zwei Jahrzehnte wieder in den Vordergrund getreten ist und im Zuge derer der Ereignisbegriff eine nachdrückliche Aufwertung erfahren hat.9 Als ein entscheidendes Kriterium des Begriffs erscheint die Tatsache, dass Ereignisse als ebenso unerwartet wie außergewöhnlich wahrgenommen werden. Nach einer Formulierung von Reinhart Koselleck zeitigt jedes Ereignis »mehr und zugleich weniger als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist: daher seine jeweils überraschende Novität«.10 Die Qualitäten des Überraschenden und Außerordentlichen prägen beim Ereignis jedoch nicht nur das Verständnis einzelner Zeitgenossen, sondern erreichen einen sozial geteilten, kollektiven Erfahrungs- und Erwartungshorizont, der durch breit vermittelte Geschichtstraditionen und verbindliche Konventionen konturiert wird. Ereignisse sind aus der Wirklichkeit hervorgehende kulturelle Schöpfungsleistungen kollektiver Akteure.11 So wie sie in der zeitgenössischen Wahrnehmung aus der Wirklichkeit hervorbrechen, so kommt ihnen selbst ein die Realität verändernder Charakter zu. Beruht einerseits die Individualität und Veränderungskraft von Ereignissen auf ihrer Differenz zu längerfristig angelegten Strukturen, so verändern sie andererseits die strukturellen Gegebenheiten, aus denen sie begründet sind. Mit der Einschätzung des Singulären geht die Wahrnehmung einher, dass ein Ereignis in alle Lebensbereiche diffundiert. Auch diese Vorgänge waren nach dem 11. September beispielhaft in der Berichterstattung der Zeitungen nachzuvollziehen. Das Ereignis bestimmte nicht nur die harten Sektoren der Berichterstattung von Politik und Wirtschaft, sondern auch die Bereiche von Kultur und Sport bis hin zu den vermischten Meldungen über den Jetset. Eine polemische, sonderbar antiquierte moralische Note erhielt

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die breite Streuung der Nachrichten in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein durch die pauschale Invektive gegen die sogenannte »Spaßgesellschaft«, die durch den Terror abgestraft worden sei. Der Wahrnehmung eines durch das Ereignis ausgelösten beschleunigten Wandels entsprechen schließlich ebenfalls kollektive Versuche und Formen der Bewältigung. Dazu gehört eine mehr oder minder konsensfähige Verständigungsformel für die Bezeichnung des Geschehens. Dies war nach dem 11. September an der schrittweisen Eindämmung der Begriffsvielfalt von »Terror-Angriff«, »Kamikaze-Attacken«, »clash of civilisations« oder »Krieg« abzulesen, bei der sich der Kriegsbegriff bekanntlich durchsetzte. In dem Maße wie er dann definitorisch die Oberhand gewann, wurde auch das Ereignis zur Geschichtstradition in Relation gesetzt. Diese Verständigungsprozesse und Bewältigungsstrategien sind auf mediale Vermittlung regelrecht angewiesen. Die Bewertung eines Geschehens als Ereignis verdankt sich einer zutiefst visuellen Form der Wirklichkeitserfahrung. Ereignisse sind sowohl in ihren Handlungsträgern, in ihrem Aktionsverlauf wie in ihren Folgen sichtbar. Dies gilt auch für die Aktionen und Destruktionen, für die Akteure und Opfer des 11. September. Mehr als Texte dies zu leisten im Stande sind, wird das Ereignis erst durch die Anschauung glaubhaft. Nicht nur die Fernsehbilder der Angriffe, sondern auch die von den Attentaten provozierten bildlichen Kommentare dienten dazu, das Ereignis des 11. September in seiner Evidenz zu konstituieren. Auch in diesem Sinne haben die Bilder des Anschlags und seiner Folgen jenseits der Tatsache, dass sie notorisch berühmt geworden sind und die zur Kriegspropaganda taugliche Ideologisierung des Ereignisses vorangetrieben haben, Geschichte gemacht. Blickt man noch einmal auf die ersten Fernsehbilder der Attentate zurück, so gehört es sicherlich zu den zentralen Aporien, mit denen der Betrachter konfrontiert war, dass die von der Realität erzeugten Bilder einerseits aus den genannten Gründen als bisher ungesehen erlebt wurden, dass sie aber andererseits in der Imagination schon längst vorweg genommen waren. Die Zerstörung der Hochhäuser des Welthandelszentrums war seit der Fertigstellung der Türme in zahlreichen Kunstwerken zum Thema gemacht worden, und diese Werke entstanden aus jener »terroristischen« Imagination, die in uns allen wohnt.«12 Es mag genügen, aus der Fülle von Beispielen aus Literatur, Film und Bildender Kunst auf die Fotomontage von John Baldessari hinzuweisen.

MOTIV UND MOTIVATION Solche Imaginationen und die Bilder, die von den Attentaten selbst erzeugt wurden, sagen nichts über die Motive der Attentäter im Hinblick auf die Auswahl ihrer Ziele. Die Spekulationen über die Zielwahl der Terroristen begannen in den Medien unverzüglich. Der Vergleich der beiden Zwillingstürme mit mittelalterlichen Stadttoren oder mit den Türmen von Kathedralfassaden unterstellte nicht nur dem Architekten der Twin Towers

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solcherart historische Reminiszenzen als Teil seiner Planungsidee, sondern insinuierte zugleich, die Terroristen hätten ihre Attacken gegen die Idee westlicher Urbanität ebenso gerichtet wie gegen die christlichen Grundlagen des Abendlandes. Weder die Bilder noch unser Wissen von den Aktionen selbst reichen für solche Behauptungen aus. Als der Architekt Minoru Yamasaki die Hochhäuser entwarf, die 1973 nach nur achtjähriger Bauzeit eröffnet wurden, stellte er sich selbstbewusst in die Tradition des Hochhausbaus seit der klassischen Moderne. Bereits Le Corbusier konzipierte nach dem Ersten Weltkrieg seine megalomanen Stadtentwürfe mit gleichförmigen Hochhausrastern, bereits damals marschierten die einzelnen Türme mit völlig gleichförmigen Fassaden auf. Ludwig Mies van der Rohe postierte schon 1951 am Ufer des Michigansees in Chicago seine North Lake Shore Drive Apartments als Zwillingstürme, die in spannungsvoller Gegenüberstellung ähnlich wie später die am Hudson gelegenen Twin Towers in New York die Stadtsilhouette akzentuieren. Kurz darauf realisierte er ebenfalls in Chicago die Commonwealth Apartments als Doppeltürme. Der Gedanke der völlig identischen Spiegelung eines Hochhauses mochte bei Yamasaki auch durch ein Bildprinzip der Pop Art angeregt worden sein. Seit den frühen sechziger Jahren schuf Andy Warhol seine berühmten Porträtreihen im Siebdruckverfahren, in denen er das Verschwinden des Einzelnen in der Masse und die Selbstbehauptung des Individuums gegen seine anonyme Vervielfältigung gleichermaßen zum Thema machte. In ähnlicher Weise ist bei den Zwillingstürmen die Individualität des Solitärs sowohl aufgehoben als auch bekräftigt. Die Planung des Welthandelszentrums war für lange Jahre ebenso umstritten wie dessen architektonischer Entwurf. Erst seit 1980 waren die Bauten vollständig vermietet und erst im letzten Jahrzehnt ihres Bestehens fanden sie Akzeptanz als ein Wahrzeichen der Stadt New York. Die Hochhäuser wurden keineswegs aus dem Geist der Kathedralbaumeister errichtet, sondern stehen in der Tradition eines aktualisierten Funktionalismus, der sich die Maximierung in der Ausnutzung des Baugrundes und die bildhaften Qualitäten von Architektur zum Programm gemacht hat. Es gibt bislang weder ein Indiz noch einen Beweis dafür, dass sich die Terroristen des 11. September 2001 bei der Auswahl ihres New Yorker Ziels von anderen Motiven als desjenigen des logistischen Erfolgs leiten ließen. Dieses Kalkül betrifft die Garantie maximaler medialer Aufmerksamkeit ebenso wie die radikale Indifferenz im Hinblick auf das eigene Leben und die Anzahl der Opfer. Die Attentate des 11. September zielten auf Negation: An dieser Einsicht kommt gerade auch die seitdem unternommene akribische historische Analyse der Attentate nicht vorbei. Die Inanspruchnahme einer antagonistischen Ideologie, die sich religiöser Identifikationsmittel reduktionistisch bedient,13 kann nicht davon absehen lassen, dass der internationale Terrorismus im strengen Sinn unpolitisch ist. Er ist weder mit einem intentionalen Politikbegriff, der vor allem die Handlungsinteressen und -strategien bei der Organisation von Entscheidungen beschreibt, noch mit einem kommunikativen Politikbegriff, der auf ein Verständnis von gesellschaftlichen Austauschprozessen in ihrer Gesamtheit abzielt, vereinbar. Der Terrorismus lässt absichtsvoll keinen Raum für

461 | Das Ereignis und seine Bilder

verhandelbare Forderungen und bricht mit der Übereinkunft rationaler Verständigung.14 Eine solche Aufkündigung politischer Verfahren zieht auch Konsequenzen dahingehend nach sich, wie die visuellen Zeugnisse, die die Attentate selbst hinterlassen haben, zu verstehen sind. Diese Bilddokumente zeigen die Durchsetzung und die Folgen einer Massendestruktion, die von Seiten der Akteure die vorsätzliche Wahl der verwendeten zerstörerischen Mittel voraussetzt. Jede Absicht, aus den Bildern eine über diese Mitteilung hinausgehende Symbolik herauszulesen, läuft Gefahr, den Attentaten selbst eine Programmatik zuzuschreiben, die ihnen vermutlich nicht zukommt. Jenseits dessen ist aber das Nachdenken über die Bilder des Terrorismus, zu denen auch die den Attentaten vorangehenden und die ihnen nachfolgenden Reflexionen im Medium des Bildes gehören, Teil einer notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der terroristischen Gegenseite.

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ANMERKUNGEN

Die Ideologie des Augenblicks (Uwe Fleckner) Zur Gattung des Ereignisbildes vgl. Werner Hager: Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zu einer Typologie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, München 1939; Stefan Germer u. Michael F. Zimmermann (Hrsg.): Bilder der Macht – Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München et al. 1997 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts, Bd. 12).

1

Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie (hrsg. v. Joachim Ritter), Bd. 2, Basel u. Stuttgart 1972, S. 608–609, s. v. »Ereignis«; Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin u. New York, 23. Auflage 1995, S. 229, s. v. »ereignen«.

2

3 Zum Kunstwerk als Quelle historischer Forschung vgl. Francis Haskell: History and its Images. Art and the Interpretation of the Past, New Haven u. London 1993; Helmut Altrichter (Hrsg.): Bilder erzählen Geschichte, Freiburg im Breisgau 1995 (Rombach Wissenschaft – Reihe Historiae, Bd. 6); Jean-Claude Schmitt: L’historien et les images, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Göttingen 1997 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 4), S. 7–51; Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004; zum »historischen Augenblick« vgl. ibid., S. 212 ff.

George Kubler: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge [1962], Frankfurt am Main 1982, S. 51; zum methodischen Umgang mit dem Ereignis in den Geschichts- und Sozialwissenschaften vgl. Jean-Luc Petit (Hrsg.): L’événement en perspective, Paris 1991 (Raisons pratiques. Epistémologie, sociologie, théorie sociale, Bd. 2); Alban Bensa u. Eric Fassin: Les sciences sociales face à l’evénement, in: Terrain. Revue d’ethnologie de l’Europe 38/2002 (Themenheft »Qu’est-ce qu’un événement?«), S. 5–20; Arlette Farge: Penser et définir l’événement en histoire. Approche des situations et des acteurs sociaux, ibid., S. 67–78. 4

5

Wilhelm von Humboldt: Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers, Berlin 1822, S. 1 f.

6

Vgl. im vorliegenden Band, S. 235 ff.

463 | Anmerkungen zu S. 11–13

7 Vgl. Stefan Germer: Stillgestellte Geschichte. Ingres und die Historienmalerei, in: Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie (hrsg. v. Ekkehard Mai), Mainz 1990, S. 193–208; Uwe Fleckner: Historie ohne Handlung. Asmus Jakob Carstens und das Ende der Bilderzählung im europäischen Klassizismus, in: Steffen Bogen, Wolfgang Brassat u. David Ganz (Hrsg.): Bilder – Räume – Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp, Berlin 2006, S. 184–201. 8

Vgl. im vorliegenden Band, S. 29, S. 53 u. S. 85 ff.

9

Vgl. im vorliegenden Band, S. 113 ff.

10

Vgl. im vorliegenden Band, S. 201 ff.

11

Vgl. im vorliegenden Band, S. 211 ff.

Vgl. Napoléon et l’Europe (hrsg. v. Emilie Robbe u. François Lagrange), Ausstellungskatalog, Musée de l’Armée, Paris 1913, S. 147 f., Kat.-Nr. 54. 12

Vgl. Ekkehard Mai u. Anke Repp-Eckert: Triumph und Tod des Helden. Europäische Historienmalerei von Rubens bis Manet, Ausstellungskatalog, Wallraf-Richartz-Museum, Köln / Kunsthaus Zürich / Musée des Beaux-Arts, Lyon 1987–1988.

13

Vgl. Werner Busch: Das Einfigurenhistorienbild und der Sensibilitätskult des 18. Jahrhunderts, in: Angelika Kauffmann (hrsg. v. Bettina Baumgärtel), Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Düsseldorf / Haus der Kunst, München / Bündner Kunstmuseum, Chur 1998-1999, S. 40–46.

14

15

Vgl. im vorliegenden Band, S. 267 ff. u. S. 293 ff.

16

Vgl. im vorliegenden Band, S. 305 ff. u. S. 319 ff.

17

Vgl. im vorliegenden Band, S. 221 ff.

Vgl. Marc Rölli (Hrsg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004; Dominic E. Delarue, Johann Schulz u. Laura Sobez (Hrsg.): Das Bild als Ereignis. Zur Lesbarkeit mittelalterlicher Kunst mit Hans-Georg Gadamer, Heidelberg 2012 (Heidelberger Forschungen, Bd. 38).

18

19 Zu ausgewählten Beispielen historisch wirksamer Bildberichterstattung vgl. L’Evenément. Les images comme acteurs de l’histoire (hrsg. v. Régis Durand), Ausstellungskatalog, Jeu de paume, Paris 2007. 20 Zu diesem Themenkomplex vgl. Dario Gamboni: The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, New Haven and London 1997; Uwe Fleckner, Maike Steinkamp u. Hendrik Ziegler (Hrsg.): Der Sturm der Bilder. Zerstörte und zerstörende Kunst von der Antike bis in die Gegenwart, Berlin 2011 (Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs). 21

Vgl. im vorliegenden Band, S. 253 ff.

22

Vgl. im vorliegenden Band, S. 319 ff.

23 Vgl. Hanna Vorholt u. Stefan Schweizer: Der »Guernica Cover-Up« vom Februar 2003. Verhüllung und Enthüllung im zeitgenössischen Bildgebrauch, in: Historische Anthropologie 3/2003, S. 435– 446; Gerhard Paul: Der Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der »Operation Irakische Freiheit«, Göttingen 2005, S. 34 ff. 24 Vgl. Werner Spies: Was wir lieben, wird sterben. Picasso und das alte Europa: Das entschleierte »Guernica«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Februar 2003. 25

Vgl. Günter Grass: Das geschändete Bild, in: Die Zeit, 22. März 1991.

26

Vgl. im vorliegenden Band, S. 371 ff.

27

Vgl. im vorliegenden Band, S. 447 ff.

464 | Anmerkungen zu S. 13–21

28 Hans-Georg Gadamer: Ästhetik und Hermeneutik [1964], in: id.: Ästhetik und Poetik, Bd. 1, Tübingen 1993 (Gesammelte Werke, Bd. 8), S. 1–17, S. 1.

Vgl. Handbuch der politischen Ikonographie (hrsg. v. Uwe Fleckner, Martin Warnke u. Hendrik Ziegler), München 2011, 2 Bde., Bd. 2, S. 366–372, s. v. Sozialismus (Maike Steinkamp), S. 366 f.

29

30

Vgl. im vorliegenden Band, S. 387 ff.

31

Vgl. im vorliegenden Band, S. 417 ff.

32

Vgl. im vorliegenden Band, S. 201 ff.

33

Vgl. im vorliegenden Band, S. 357 ff. u. S. 399 ff.

Vgl. Jean-Claude Schmitt: De l’histoire des »faits« à »faire de l’histoire«, in: Raison présente 157– 158/1966, S. 65-87.

34

Gestickte Geschichte (Cornelia Logemann) 1 Zur Odyssee der Tapisserie vgl. Carola Hicks: The Bayeux tapestry. The Life and Story of a Masterpiece, London 2006. Die erste graphische Dokumentation lieferte Bernard de Montfaucon: Les Monumens de la Monarchie Françoise, qui comprennent l’histoire de France. Avec les figures de chaque regne que l’injure des temps a épargnées, Bd. 2 (La conquête de l’Angleterre par Guillaume, Duc de Normandie, dit le Bâtard, tirée d’un Monument du tems. Et la suite des Rois, depuis Louis VI, dit le Gros, jusqu’à Jean II), Paris 1730; vgl. Pierre Bouet, Brian Levy u. François Neveux (Hrsg.): La Tapisserie de Bayeux. L’art de broder l’Histoire, Caen 2004. 2 Entschieden dafür votiert David J. Bernstein: The Mystery of the Bayeux Tapistry, London 1986, S. 136 ff.

Vgl. Richard Gameson: The Origin, Art and Message of the Bayeux Tapestry, in: id. (Hrsg.): The Study of the Bayeux Tapestry, Woodbridge et al. 1997, S. 157–211; zu diesen Lokalisierungsfragen vgl. auch Wolfgang Grape: Der Teppich von Bayeux. Triumphdenkmal der Normannen, München 1994; George Beech: Was the Bayeux Tapestry Made in France? The Case for Saint-Florent of Saumur, New York 2005. 3

Vgl. Manuscrits du Chapitre de la cathédrale de Bayeux, Ms. 199, fol. 262r: »Item, une tente très longue et estroicte de telle à broderie de ymages et escripteaulx, faisans représentation du conquest d’Angleterre, laquelle est tendue environ la nef de l’église le jour et par les octables des Reliques«; zitiert nach Shirley Ann Brown: The Bayeux Tapestry. History and Bibliography, New Hampshire u. Suffolk 1988, S. 161; Chris Henige: Putting the Bayeux Tapestry in Its Place, in: Gale R. Owen-Crocker (Hrsg.): King Harold II and the Bayeux Tapestry, Woodbridge 2005, S. 125–137. Henige schlägt, mit Verweis auf Studien von Owen-Crocker, eine Hängung in einem Raum mit quadratischem Grundriss vor und glaubt, im Schloss von Dover den ursprünglichen Bestimmungsort der Tapisserie gefunden zu haben.

4

5

Vgl. Suzanne Lewis: The Rhetoric of Power of the Bayeux Tapestry, Cambridge 1998, S. 60.

6

Vgl. ibid., S. 87 ff.

Zu den möglichen Dreiklängen der Bilderzählung vgl. Brian J. Levy: Les trois fonctions du rythme narratif de la Tapisserie de Bayeux, in: Bouet, Levy u. Neveux 2004, S. 327–345. Levy zieht schließlich Verbindungen zum Luttrell-Psalter von 1325–1335 (London, British Library).

7

8 Ausführlicher von der Eroberung Englands berichten Baudri de Bourgueil (um 1085–1102), Eadmer: Historia Novorum (um 1107), William von Jumieges: Gesta Normannorum ducum (um 1070), William von Poitiers: Gesta Willelmi (1073–1077), Orderic Vital: Historia Ecclesiastica (um 1140), William von Malmesbury: Gesta regum Anglorum (um 1125), Henry von Huntingdon: Historia Anglorum (um 1130) und Wace: Roman de Rou (um 1170).

465 | Anmerkungen zu S. 23–39

9 V. P. Abrahams (Hrsg.): Les Œuvres poétiques de Baudri de Bourgeuil (1046–1130), Paris 1926, S. 202–211 (CXCVI, 208–578); vgl. Shirley Ann Brown u. Michael W. Herren: The Adelae Comitissae of Baudri of Bourgueil and the Bayeux Tapestry, in: Anglo-Norman Studies 16/1993, S. 55–73.

»Einer für alle …« (Ulrich Pfisterer) 1 George Kubler: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge [1962] (hrsg. v. Gottfried Boehm), Frankfurt am Main 1982, S. 78 ff.

Vgl. Uta Feldges: Landschaft als topographisches Porträt. Der Wiederbeginn der europäischen Landschaftsmalerei in Siena, Bern 1980.

2

3 Besprochen wird das Guidoriccio-Fresko bei Jacob Burckhardt: Das Porträt in der Malerei, in: id.: Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien, Basel 1898, S. 143–294, S. 164 f.; vgl. Stephan Selzer: »Renaissancemenschen« gesucht. Italienische Condottieri (1380–1480) im Porträt bei Jacob Burckhart und im prosopographischen Gruppenbild, in: id. u. Ulf-Christian Ewert (Hrsg.): Menschenbilder – Menschenbildner. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers, Berlin 2002, S. 241–275. 4 Werner Hager: Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zur Typologie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, München 1939, S. 99 f.; dagegen noch jüngst ganz unproblematisch etwa Norbert Schneider: Historienmalerei. Vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Köln et al. 2010, S. 73 ff. 5

Kubler 1982, S. 80 ff.

6 Zu den kontroversen Meinungen vgl. Gordon Moran: An Investigation Regarding the Equestrian Portrait of Guidoriccio da Fogliano in the Siena Palazzo Pubblico, in: Paragone / Arte. Rivista mensile di arte figurativa e letteratura 28/1977, S. 81–88; Michael Mallory: Guido Riccio da Fogliano. A Challenge to the Famous Fresco Long Ascribed to Simone Martini and the Discovery of a New One in the Palazzo Pubblico in Siena, in: Studies in Iconography 7–8/1982, S. 1–13; Thomas De Wesselow: The Guidoriccio Fresco. A New Attribution, in: Apollo 159-1/2004, S. 3–12. 7 Siena, Biblioteca Comunale, Ms. B.A.V. Chigi, G. I.33, Bd. 10, S. 40: »Guido Riccius pictus in aula […] Hic ille est qui in aula dominorum senensium pictus est in capite mappemundi rotunde ubi Montis Massici picta est obsidio«; zitiert nach Andrew Martindale: The Problem of Guidoriccio, in: id.: Painting the Palace. Studies in the History of Medieval Secular Painting [1986], London 1995, S. 34–74, S. 38. 8 Vgl. Joseph Polzer: Simone Martini’s »Guidoriccio da Fogliano«. A New Appraisal in the Light of a Recent Technical Examination, in: Jahrbuch der Berliner Museen 25/1983, S. 103–141. 9 Zum Tod Guidoriccios 1352 vgl. Giugurta Tomassi: Dell’Historie di Siena, Venedig 1625–1626, Teil II, S. 319: »[…] gli fu fatto honorata sepoltura a San Domenico, essendo per prima stato honorato della Republica d’una Statua a cavallo dipenta nella Sala delle Balestre, hora del Conseglio di mano di Simon Martini sommo pittore de’ suoi tempi, e tanto amico del Petrarca, che vi si vede sin’hoggi sopra il Mappamondo con l’impresa di Montemassi.« 10 Vgl. William M. Bowsky: The Finance of the Commune of Siena 1287–1355, Oxford 1970, Taf. 3 (nach einer Fotografie im Berenson-Archiv); zur Aufdeckung als Fälschung vgl. Feldges 1980, S. 42 f.

Vgl. Piero Torriti: Guidoriccio »bozzetti eccezionali«, in: Accademia dei Rozzi 12–23/2005, S. 58–59.

11

12

Zu »formalen Klassen« und »Lösungsketten« vgl. Kubler 1982, S. 71 ff.

13 Zu diesen Monumenten, ergänzt um die reiterlosen Pferde von San Marco in Venedig, vgl. Peter Seiler: Mittelalterliche Reitermonumente in Italien. Studien zu personalen Monumentsetzungen in den italienischen Kommunen und Signorien des 13. und 14. Jahrhunderts, Phil. Diss., Universität Heidelberg 1989 (Microfiche-Ausgabe 1995), S. 25 ff.; Veronika Wiegartz: Antike Bildwerke im Urteil mittelalter-

466 | Anmerkungen zu S. 39–46

licher Zeitgenossen, Weimar 2004, S. 72 ff.; Saverio Lomartire: La statua del Regisole di Pavia e la sua fortuna tra medioevo e rinascimento, in: Joachim Poeschke, Thomas Weigel u. Britta Kusch-Arnhold (Hrsg.): Praemium Virtutis III: Reiterstandbilder von der Antike bis zum Klassizismus, Münster 2008, S. 31–73. 14

Vgl. Elisabeth Oy-Marra: Florentiner Ehrengrabmäler der Frührenaissance, Berlin 1994.

15

Vgl. Seiler 1989, S. 222 ff.

16 Zur weiteren Entwicklung vgl. Wendy J. Wegener: Mortuary Chapels of Renaissance Condottieri, Ann Arbor 1991; Dietrich Erben: Bartolomeo Colleoni. Die künstlerische Repräsentation eines Condottiere im Quattrocento, Sigmaringen 1996; Volker Hunecke: »Dux aetatis suae cautissimus«. Feldherrentugenden und republikanische Reitermonumente im langen Quattrocento, in: Poeschke, Weigel u. Kusch-Arnhold 2008, S. 95–109. 17 Das Werk wurde im Laufe des 18. Jahrhundert zerstört, aber in einem Intarsienbild von 1523–1532 festgehalten; vgl. Wendy J. Wegener: »That the practice of arms is most excellent declare the statues of valiant men«. The Luccan War and Florentine Political Ideology in Paintings by Uccello and Castagno, in: Renaissance Studies 7/1993, S. 129–167, S. 144 ff.

Vgl. Patricia Rubin: Florenz und das Porträt der Renaissance, in: Keith Christiansen u. Stefan Weppelmann (Hrsg.): Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, Berlin u. München 2011, S. 2–25. In SS. Annunziata in Florenz gab es im 15. Jahrhundert offenbar so viele Wachsvotive und darunter insbesondere auch Reiterbildnisse, dass sie die Liturgie und Benutzung der Kirche zu beeinträchtigen drohten; vgl. Susann Waldmann: Die lebensgroße Wachsfigur, eine Studie zur Funktion und Bedeutung der keroplastischen Porträtfigur vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, München 1990, S. 30 ff. 18

19 Vgl. John Larner: Chivalric Culture in the Age of Dante, in: Renaissance Studies 2/1988, S. 117– 130; Stephan Selzer: Reitende Macht. Italienische Condottieri und ihre Pferde im 14. und 15. Jahrhundert, in: Poeschke, Weigel u. Kusch-Arnhold 2008, S. 75–93, S. 85. 20 Petrarca: Fam. 22, 14: »Assueverant preterea milites pro qualitate facinoris penam aut premium sperare; neque enim aut occultum aliquid aut neglectum iudicium sub extimatione tantorum fingi poterat. Cernebat statuas insignium bellatorum; videbant coronoas civicas mulares obsidionales; […].« Der Wortlaut des Hawkwood-Vertrags lautet: »gesta magnifica ac fidelia in honorem et magnificentiam reipublicae Florentine«; zitiert nach Seiler 1989, S. 51. 21 Vgl. Edna Carter Southard: The Frescoes in Siena’s Palazzo Pubblico, 1289–1539. Studies in Imagery and Relations to other Communal Palaces in Tuscany, New York u. London 1979, S. 93 f. u. S. 497 f. 22 Vgl. Gherardo Ortallli: »… pingatur in Palatio …« La pittura infamante nei secoli XIII–XIV, Rom 1979; Max Seidel: »Castrum pingatur in palatio«. Richerche storiche e iconografiche sui castelli dipinti nel Palazzo Pubblico di Siena, in: id.: Arte italiana del Medioevo e del Rinascimento [1982], Venedig 2003, 2 Bde., Bd. 1, S. 161–192.

Vgl. Anne Dunlop: Painted Palaces. The Rise of Secular Art in Early Renaissance Italy, University Park 2009, S. 180–187; Anne-Laure Imbert: Un miroir pour la Commune. Les peintures de batailles à Sienne entre Trecento et Quattrocento, in: Philippe Morel (Hrsg.): Le miroir et l’espace du prince dans l’art italien de la Renaissance, Tours u. Rennes 2012, S. 257–281.

23

24 Zur politischen Konstellation vgl. William M. Bowsky: A Medieval Italian Commune. Siena Under the Nine, 1287–1355, Berkeley 1981; zur Baugeschichte und Marienverehrung vgl. Diana Norman: Siena and the Virgin. Art and Politics in a Late Medieval City State, New Haven u. London 1999, S. 45 ff. 25

Vgl. Helmut Ph. Riedl: Das Maestà-Bild in der Sieneser Malerei des Trecento, Tübingen 1991.

467 | Anmerkungen zu S. 47–50

26 Zur Verbindung von historia und allegoria vgl. Hans Belting: Das Bild als Text. Wandmalerei und Literatur im Zeitalter Dantes, in: id. u. Dieter Blume (Hrsg.): Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit, München 1989, S. 23–64.

Die originalen Formulierungen lauten für Pietro Farnese: »pro honore comunis Florentie et corporis ipsius Pieri«, für Hawkwood »tam pro magnificentia communis Florentie quam pro honore et fama perpetua dicti domini Johannes«.

27

28 Vgl. Giuliana Crevatin: La »virtus« del condottiero tra retorica e romanzo, in: Rivista storica italiana 96/1984, S. 338–359; Seiler 1989, S. 49 ff.; Wegener 1993, S. 129 ff. 29 Vgl. Ingo Herklotz: Antike Denkmale in den Proömien mittelalterlicher Geschichtsschreiber, in: Antonio Cadei et al. (Hrsg.): Arte d’Occidente. Temi e metodi. Studi in onore di Angiola Maria Romanini, Rom 1999, S. 971–986.

Marzagaia: De modernis gestis, in: Carlo Cipolla (Hrsg.): Antiche cronache Veronesi, Bd. 1, Venedig 1890 (Monumenti storici, Reihe 3, Bd. II), S. 114–120 (Kap. »De his qui statuis post mortem honorati sunt«). Auf diese Quelle verweist bereits Seiler 1989, S. 96 ff.

30

31 Zu Florenz vgl. Seidel 2003, S. 180 u. S. 188 f. (Dok. 7); zu Visconti vgl. zuletzt Peter Seiler: Praemium Virtutis oder Abnominabile Idolum? Zur zeitgenössischen Rezeption des Reitermonuments des Bernabò Visconti in Mailand, in: Poeschke, Weigel u. Kusch-Arnhold 2008, S. 111–134. 32 Besonders antikisierend gibt sich eine Handschrift zu den Historiae Romanorum des mittleren 13. Jahrhunderts insbesondere beim Triumph Caesars, vgl. Tilo Brandis u. Otto Pächt (Hrsg.): Historiae Romanorum. Codex 151 in scrin. der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Frankfurt am Main et al. 1974, 2 Bde.; Dietmar Popp: Duccio und die Antike. Studien zur Antikenvorstellung und zur Antikenrezeption in der Sieneser Malerei am Anfang des 14. Jahrhunderts, München 1996, S. 192 f. 33

Dies untersucht umfassend Ortalli 1979.

Aufprall, Schock, Geschichte (Hannah Baader) Eine Tagung am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, Mit Clios Augen. Bilder als historische Quellen, Zürich 2006, bot die Gelegenheit, diesen Beitrag in der vorliegenden Fassung zu diskutieren, wofür ich Cornelia Imesch, Bernd Roeck sowie den Tagungsteilnehmern zu Dank verpflichtet bin; ebenso den Teilnehmern eines Studientages am Kunsthistorischen Institut zu Stadtchroniken in Florenz 2007. Francesco Caglioti sowie auch Lorenza Melli danke ich für anregende Gespräche. Vgl. jetzt auch Matteo Burioni: Grund und campo. Die Metaphorik des Bildgrundes in der Frühen Neuzeit oder: Paolo Uccellos Schlacht von San Romano, in: Gottfried Boehm u. Matteo Burioni (Hrsg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, Paderborn 2012, S. 95–149. Zur Restaurierung des Florentiner Bildes vgl. die Beiträge von Angelo Tartuferi, Muriel Vervat, Andrea Balidinotti, José-A. Gody, Maria Adele Signorini und Valentina Conticelli, in: I Bagliordi Dorati. Il Gotico Internazionale a Firenze 1375–1440, Ausstellungskatalog, Galleria degli Uffizi, Florenz 2012, S. 322–349. 1 Vgl. Francesco Caglioti: Nouveautés sur la »Bataille de San Romano« de Paolo Uccello, in: Revue du Louvre 51-4/2001, S. 37–54; id.: Donatello e i Medici. Storia del David e della Giuditta, Florenz 2000, 2 Bde., Bd. 1, S. 266–281; Outi Merisalo: Le collezioni medicee nel 1495. Deliberazioni degli ufficiali dei ribelli, Florenz 1999. 2 Vgl. Volker Gebhardt: Paolo Uccellos Schlacht von San Romano. Ein Beitrag zur Kunst der Medici in Florenz, Frankfurt am Main et al. 1991; id.: Paolo Uccello. Die Schlacht von San Romano. Ein Bilderzyklus zum Ruhme der Medici, Frankfurt am Main 1995 (Kunststück).

468 | Anmerkungen zu S. 50–54

Vgl. Caglioti 2001, S. 40 ff.; Wolfger Bulst: Die ursprüngliche innere Aufteilung des Palazzo Medici in Florenz, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 14/1969–1970, S. 369–392.

3

4

Vgl. Laurie Fusco u. Gino Corti: Lorenzo de’ Medici. Collector and Antiquarian, Cambridge 2006.

5

Zitiert nach Caglioti 2001, S. 49, Anm. 60.

Zu Albertis Begriff der historia, der im Folgenden nicht mit der Historia als Geschichtsschreibung zu verwechseln ist, vgl. Kristine Patz: Zum Begriff der »historia« in L. B. Albertis »De Pictura«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49/1986, S. 296–287; Jack M. Greenstein: Alberti on historia. A Renaissance view of the structure of significance in narrative painting, in: Viator 21/1990, S. 273– 299; Anthony Grafton: Historia and Istoria: Alberti’s terminology in context, in: I Tatti Studies 8/1999 [erschienen 2000], S. 37–68; Charles Hope: Il concetto di »historia« nelle arti visive prima di Alberti, in: Roberto Cardini u. Mariangela Regoliosi: Alberti e la tradizione. Per lo »smontaggio« dei »mosaici« albertiani, Florenz 2007, S. 533–544. 6

7

Vgl. Caglioti 2000, Bd. 1, S. 274.

8 Vgl. James Bloedé: Paolo Uccello et la représentation du mouvement. Regards sur »La Bataille de San Romano« [1996], Paris 2005; Caglioti 2001, S. 40 ff. 9

Vgl. Caglioti 2001, Bd. 1, S. 40 ff.

Vgl. Franco Borsi u. Stefano Borsi: Paolo Uccello, London 1994, S. 140 ff.; dort auch ein Hinweis auf die Bedeutung Uccellos für den Kubismus und die Künstlergruppe um die Zeitschrift Valori Plastici.

10

11 Auf Grund der stilistischen Unterschiede hat zuletzt Roccasecca ein späteres Entstehungsdatum für dieses Bild vorgeschlagen; vgl. Pietro Roccasecca: »La Rotta di San Romano« e »La Rotta di Niccolo Piccino«. Paolo Uccello e i Bartolini. Le ragioni di una commissione attraverso l’iconografia delle battaglie, in: Bulletin de l’association des historiens de l’art italien 11/2005–2006, S. 5–21. 12 Vgl. Hermann Diels u. Walter Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker [6. Auflage 1951] Hildesheim 2004, 2 Bde., Bd. 1, 22 B 53: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.« 13

Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, München u. Wien 1976, S. 9.

14

Ibid., S. 10.

15

Vgl. ibid.: »Waffen sind Werkzeuge nicht nur der Zerstörung, sondern auch der Wahrnehmung«.

16 Vgl. Michael Mallett: Der Condottiere, in: Eugenio Garin (Hrsg.): Der Mensch der Renaissance, Frankfurt am Main 1990, S. 49–78; id.: Mercenaries and their Masters. Warfare in Renaissance Italy, London 1974. 17

Vgl. Gebhardt 1991, S. 51 ff.

18

Der Bericht und weitere Quellen zur Schlacht vollständig bei Gebhardt 1991, S. 183 ff. (Anhang).

19

Vgl. Gebhardt 1991, S. 198.

Vgl. Thomas Kirchner: Paradigma der Gegenwärtigkeit. Schlachtenmalerei als Gattung ohne Darstellungskonventionen, in: Stefan Germer u. Michael F. Zimmermann (Hrsg.): Bilder der Macht – Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München 1997, S. 107–124; zur Ikonographie seit dem 16. Jahrhundert vgl. Matthias Oberli: Schlachtenbilder und Bilderschlachten. Kriegsillustrationen in den ersten gedruckten Chroniken der Schweiz, in: Kunst + Architektur in der Schweiz 57/2006, S. 45–53; Elke Anna Werner: Schlachtenbild, in: Uwe Fleckner, Martin Warnke u. Hendrik Ziegler (Hrsg.): Handbuch der politischen Ikonographie, München 2011, 2 Bde., Bd. 2, S. 675–683. 20

469 | Anmerkungen zu S. 54–63

Zu Leonardos Werk vgl. beispielsweise Daniel Arasse: Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 428 ff.; zur Zeitlichkeit vgl. Frank Fehrenbach: Blick der Engel und lebendige Kraft. Bildzeit, Sprachzeit und Naturzeit bei Leonardo, in: id. (Hrsg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang, München 2002, S. 169–206; id.: Much ado about nothing. Leonardo’s Fight for the standard, in: Philine Helas et al. (Hrsg.): Bild-Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 397–412.

21

22 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert [1977], Frankfurt am Main 2007, S. 134–141 (»Exkurs: Geschichte des Schocks«). 23 Zitiert nach Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Vierter Teil: Neuzeit, Berlin 1962 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1920), S. 62. 24 Vgl. Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, in: id.: Abhandlungen, Frankfurt am Main 1991 (Gesammelte Schriften, Bd. I. 2), S. 607–653, S. 613 ff. 25 Vgl. Valentin Groebner: Menschenfett und falsche Zeichen. Identifikation und Schrecken auf den Schlachtfeldern des späten Mittelalters und der Renaissance, in: Steffen Martus et al. (Hrsg.): Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, Berlin 2003, S. 21–32. 26

Vgl. Sydney Anglo: The Martial Arts of Renaissance Europe, New Haven u. London 2000, S. 40 ff.

27

Zitiert nach ibid., S. 231.

Vgl. Fiore dei Liberi: Flos Duellatorum in armis, sine armis equester et pedester (hrsg. v. Giovanni Rapisardi), Padua 1998; vgl. auch Massimo Malipiero: Il Fior di battaglia di Fiore dei Liberi da Cividale. Il Codice Ludwing XV 13 del J. Paul Getty Museum, Udine 2006. 28

29

Vgl. Lionello G. Boccia: Le armature di Paolo Uccello, in: L’Arte 11–12/1970, S. 55–91.

Zu Leonardo Bartolini als Auftrageber zumindest einer weiteren Serie von Bildern Uccellos vgl. Caglioti 2001, S. 46 ff.; sowie id.: L’»Amore Attis« di Donatello, caso esemplare di un’iconografia »d’autore«, in: Il ritorno d’amore. L’Attis di Donatello restaurato, Museo Nazionale del Bargello, Florenz 2005, S. 31–74, S. 56 ff.

30

31 Vgl. Karl Keuck: Historia. Geschichte des Wortes und seiner Bedeutung in der Antike und in den romanischen Sprachen, Emsdetten 1934; Joachim Knape: Historie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984 (Saecula spiritalia).

Das Ereignis als politisches Exemplum (Nina Zenker) 1 Die Abschrift des 352 Blätter zählenden und 39,8 auf 29,5 cm messenden Folianten wurde laut Kolophon von Pierre Favre (Pierre Faure) in Aubervilliers nahe Paris fertiggestellt.

Das Bild misst 34 × 28 cm, der Textspiegel 24 × 18,8 cm. Fol. 2 und 3 bilden gemeinsam ein einzeln eingebundenes, regliertes, jedoch ansonsten unbeschriebenes Doppelblatt. Für diese Information danke ich Dr. Brigitte Gullath von der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, München.

2

3 Das Illustrationsprogramm war ursprünglich auf neunzig textbezogene Miniaturen angelegt. Neben dem obligatorischen Einstiegsbild zum Prolog des Übersetzers markieren neun weitere zweispaltige Miniaturen jeweils den Anfang eines neuen Buches; achtzig einspaltige Bilder vom Meister des Münchner Boccaccio – möglicherweise einer der beiden Söhne Fouquets, Louis oder François – sind in den Textverlauf eingefügt und kennzeichnen Kapitelanfänge. Zur Zuschreibung der einundneunzigsten, im ursprünglichen Illustrationsplan wahrscheinlich gar nicht vorgesehenen Miniatur auf fol. 2v an Jean Fouquet vgl. Leon de Laborde: La Renaissance des Arts à la Cour de France, Bd. 2, Paris 1855,

470 | Anmerkungen zu S. 63–75

S. 722–726. Zur Handschrift vgl. auch Claude Schaefer: Fouquet. An der Schwelle zur Renaissance, Dresden u. Basel 1994, S. 180 ff. u. S. 314 ff.; Jean Fouquet. Peintre et enlumineur du XVe siècle (hrsg. v. François Avril), Paris 2003, S. 272–278, Kat.-Nr. 32. Zur Identifizierung des Eigentümers vgl. Paul Comte de Durrieu: Le Boccace de Munich. Reproduction des 91 miniatures du célèbre manuscrit de la Bibliothèque Royale de Munich, München 1909, S. 7 ff. Zur Identifizierung des dargestellten Ereignisses vgl. Auguste Vallet de Viriville: Notice d’un manuscrit de la Bibliothèque royale de Munich contenant les nobles malheureux de Boccace, in: Revue archéologique 13/1855, S. 509–520.

4

5

Vgl. Malcolm G. A. Vale: Charles VII, London 1974, S. 154 ff. u. S. 204 ff.

6 Vgl. Sarah Hanley: The Lit de Justice of the Kings of France. Constitutional Ideology in Legend, Ritual and Discourse, Princeton 1983, S. 14 ff.; Robert W. Scheller: The Lit de Justice, or How to Sit on a Bed of Estate, in: Annus Quadriga Mundi 8/1989, S. 193–202. Als Titel ist der Begriff nur unter Vorbehalt zu gebrauchen, da er zwar bereits im 14. Jahrhundert mitunter synonym mit der königlichen Gerichtsbarkeit verwendet wurde, aber erst im 16. Jahrhundert als feststehende Bezeichnung im konstitutionellen Sinne nachzuweisen ist. 7 Zu den Livreefarben Karls VII. und dem von seinem Vater übernommenen Wappentier vgl. Malcolm G. A. Vale: The livery colours of Charles VII of France in two works by Fouquet, in: Gazette des Beaux-Arts 74/1969, S. 243–248; Jean-Bernard de Vaivre: Les cerfs ailés et la tapisserie de Rouen, in: Gazette des Beaux-Arts 100/1982, S. 93–108. 8

Vgl. Durrieu 1909, S. 51 ff.

9 Vgl. Theodore Godefroy: Le cérémonial français, Bd. 2, Paris 1649, S. 441 ff. Besonders gut passt die Beschreibung in der Chronik Chastellains, die zum Zeitpunkt der Herstellung der Handschrift allerdings noch nicht herausgegeben war; vgl. Kervyn de Lettenhove: Œuvres de Georges Chastellain, Bd. 3, Brüssel 1864, S. 477. Vale führt zudem einige Handschriften mit zeitgenössischen Dokumenten zum Prozess an; vgl. Vale 1974, S. 207 ff. 10 In dem mit einigem Abstand neben Charles de France sitzenden älteren Herrn hat man Charles d’Orléans erkannt, den Schwiegervater des Angeklagten. Schon bei der Identifizierung der beiden Männer zu Füßen des Monarchen – es könnte sich um den Großkämmerer Jean Comte de Dunois, Bastard von Orléans handeln sowie um Kanzler Guillaume Juvenel des Ursins oder um den Präsidenten des Parlamentes Yves de Scépeaux – gehen die Meinungen auseinander; vgl. Vale 1974, S. 207 f.; Schaefer 1994, S. 190; zu ausführlichen Identifizierungsversuchen vgl. auch Durrieu 1909, S. 51 ff.; Trenchard Cox: Jean Foucquet. Native of Tours, London 1931, S. 93. 11

Vgl. Cox 1931, S. 92.

12 Vgl. Schaefer 1994, S. 190; Erik Inglis: Fouquet peintre d’histoire, in: Jean Fouquet 2003, S. 70–75. Ganz unwahrscheinlich ist die Teilnahme Fouquets nicht; zumindest konnte er seine Informationen aus erster Hand beziehen, denn neben Karl VII. waren noch zwei weitere seiner wichtigsten Auftraggeber, Etienne Chevalier und Guillaume Jouvenel des Ursins, unmittelbar am Verfahren beteiligt. 13 Als Referenz dient das Selbstporträt des Künstlers auf einem Emailmedaillon (Paris, Musée du Louvre), das zwischen 1452 und 1455 datiert wird; vgl. Jean Fouquet 2003, S. 131–137, Kat.-Nr. 9.

Vgl. Peter Ainsworth: Contemporary and »Eyewitness« History, in: Deborah Mauskopf Deliyannis (Hrsg.): Historiography in the Middle Ages, Leiden u. Boston 2003, S. 249–276.

14

15 Zum Selbstporträt des Künstlers als Ausweis der Augenzeugenschaft vgl. Inglis 2003, S. 70 ff; id.: Image and Illustration in Jean Fouquet’s Grandes Chroniques de France, in: French Historical Studies 1/2003, S. 185–224; id. The production and program of Fouquet’s Boccaccio, in: Kathryn A. Smith u. Carol H. Krinsky (Hrsg.): Tributes to Lucy Freeman Sandler. Studies in illuminated manuscripts, London et al. 2007, S. 373–386.

471 | Anmerkungen zu S. 75–79

16 Dass der Maler zur Unterstützung seines Ausdrucksziels die Regeln der Perspektive bewusst missachtete, belegt eine Kopie des Bildes in Jean Pélerins De artificiali perspectiva von 1505. Hier wird die Komposition nach wesentlichen Änderungen als Musterbeispiel für Perspektivkonstruktion aufgenommen. Der Blickpunkt des Malers, der das Geschehen beobachtet, ist nun nicht mehr der erhöhten Standpunkts des allwissenden Erzählers, sondern er steht in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes auf Augenhöhe seiner Figuren. Pélerins korrektere Fassung nimmt dem Bild jedoch jene aufgeklappte Flächigkeit, die Fouquet ganz bewusst einsetzte, um aus allwissender und nicht notwendig rekonstruierbarer Gesamtschau das universale Gesellschaftsprinzip einer pyramidalen Ständeordnung darstellen zu können; vgl. Liliane Brion-Guerry: Jean Pélerin Viator. Sa place dans l’histoire de la perspective, Paris 1962, S. 268 ff.; Nicole Reynaud: Jean Fouquet, Paris 1981, S. 58 ff. 17 Vgl. Patricia May Gathercole: Laurent de Premierfait’s Des Cas des nobles hommes et femmes. Book I. Translated from Boccaccio. A critical edition based on six manuscripts, Chapel Hill 1968 (Studies in the romance languages and literatures, Bd. 74), S. 75–90.

Vgl. Vittore Branca: Boccaccio visualizzato, Bd. 3, Turin 1999, Kat.-Nr. 26, Kat.-Nr. 31, Kat.-Nr. 36, Kat.-Nr. 45 u. Kat.-Nr. 67.

18

19 Pächt hat das Rautenmuster sogar als Grundform französischer Bilderfindungen definiert und den angedeuteten unendlichen Rapport im Lit de Justice ebenfalls mit dem Ausdrucksziel einer universellen Ordnung verbunden; vgl. Otto Pächt: Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. Jahrhunderts [1933], in: id.: Methodisches zur Kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften (hrsg. v. Jörg Oberhaidacher), Wien 1977, S. 18–58; id.: Jean Fouquet. A study of his style, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 4/1941, S. 94–96. Zum Rhombus in der Grundform eines ungeschliffenen Diamanten als Symbol Frankreichs vgl. Schaefer 1994, S. 190. 20 Zu Chartier, dessen Chronik die Jahre 1422–1461 umfasst, vgl. Auguste Vallet de Viriville: Chronique de Charles VII, roi de France par Jean Chartier, Bd. 1, Paris 1858, S. V ff., Bd. 3, Paris 1858, S. 90 ff. Zu Chastellain, dessen Chronik die Jahre 1419–1470 umfasst, jedoch unvollständig blieb und bei seinen Zeitgenossen wenig Beachtung gefunden hat, vgl. Lettenhove 1864, S. 466 ff. 21 So hatte sich Jean Petit, Rektor der Sorbonne, nach der Ermordung Ludwig von Orléans durch Johann Ohnefurcht 1407 bei seiner Verteidigung explizit auf Boccaccio bezogen, um den Anschlag als Tyrannenmord ausweisen zu können. In den Frontispizien seiner Schrift La Justification du Duc de Bourgogne wird das Ereignis kaum ein Jahr später bereits bildlich aufgegriffen. Als Ereignisbilder sind diese Miniaturen allerdings nicht zu bezeichnen, da der Vorfall allegorisch in Form eines Kampfes zwischen Löwe und Wolf umgesetzt wurde. Für die Zeitgenossen war der unmittelbaren Bezug jedoch sicher evident; vgl. Französische Gotik und Renaissance in Meisterwerken der Buchmalerei (hrsg. v. Dagmar Thoss), Ausstellungskatalog, Österreichische Nationalbibliothek, Wien 1978, S. 101–103, Kat.-Nr. 19. 22 Zur Rezeptionsgeschichte Boccaccios in Frankreich vgl. Carla Bozzolo: Manuscrits des Traductions francaises d’oeuvres de Boccace, Padua 1973; Boccace en France, Ausstellungskatalog, Bibliothèque Nationale de France, Paris 1975; Branca 1999, S. 67 ff.; Marie Hélène Tesnière: La réception des Cas des Nobles Hommes et Femmes de Boccace en France au XVe siècle d’après l’illustration des manuscrits, in: Michelangelo Picone (Hrsg.): Autori et Lettori di Boccaccio. Atti del Convegno internazionale di Certaldo (20–22 settembre 2001), Certaldo 2002, S. 387–402. 23 Die Idee einer Fortschreibung von Boccaccios Exempla wurde auch literarisch aufgegriffen. Mit seinem Temple de Boccace hat Georges Chastellain die Reihe der Beispiele bis in seine eigene Zeit fortgesetzt; vgl: Susanne Bliggenstorfer: George Chastellain. Le Temple de Boccace (Romanica Helvetica, Bd. 104), Bern 1988.

472 | Anmerkungen zu S. 79–83

Ein Wunder geschieht (Rebecca Müller) 1 Für Anregung und Kritik bin ich Jana Graul, Alessandro Nova, Ulrich Pfisterer und besonders Ralf Behrwald verbunden, für Korrekturen Marianne Müller. 2 Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens. Malerei (hrsg. v. Bernd Roeck, Christine Tauber u. Martin Warnke), München u. Basel 2001 (Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3), S. 66 f., S. 87 (die Äußerung gilt mehreren Bruderschaftsgemälden des Gentile Bellini).

In seiner späten Schrift Die Malerei nach Inhalt und Aufgaben spricht Burckhardt von der Ausstattung des Dogenpalastes als »der Geburtsstunde der realistischen Historienmalerei im neuern Sinne« und stellt auch die Scuolenbilder in ein besseres Licht, ohne aber erneut ihren Charakter als »Historien« zu diskutieren; vgl. id.: Die Kunst der Renaissance. Geschichte der Renaissance in Italien. Die Malerei nach Inhalt und Aufgaben. Randglossen zur Sculptur (hrsg. v. Maurizio Ghelardi, Susanne Müller u. Max Seidel), München u. Basel 2006 (Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16), S. 165; vgl. ibid., S. 326 f.

3

Vgl. Friedl Brunckhorst: Architektur im Bild. Die Darstellung der Stadt Venedig im 15. Jahrhundert, Hildesheim et al. 1997, S. 77–125; Patricia Fortini Brown: Venetian Narrative Painting in the Age of Carpaccio, New Haven u. London 1988, Kat.-Nr. XV; zu Bellini vgl. ibid., Kat.-Nr. XV,7.

4

5 Zit. nach Fortini Brown 1988, S. 266 (Dokument von 1484); zur Reliquienschenkung im Jahr 1369 vgl. ibid., S. 246, Anm. 54.

Vgl. anonym: Questi sono i miracoli dela santissima croce dela scola de misier san zuane evangelista, s. l. [Venedig: Lucas Dominici], s. d. [um 1481], Unikat, Venedig, Biblioteca Museo Correr, Inc. H 249; vgl. Patricia Fortini Brown: An Incunabulum of the Miracles of the True Cross of the Scuola Grande di San Giovanni Evangelista, in: Bollettino dei Civici Musei Veneziani d’arte e di storia 27/1982, S. 5–8.

6

Martin Heinzelmann u. Klaus Herbers: Zur Einführung, in: Martin Heinzelmann et al. (Hrsg.): Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen – Erscheinungsformen – Deutungen, Stuttgart 2002, S. 9–21, S. 16.

7

Zur »Mitte als das sowohl Bedingte als auch Bedingende« vgl. Metzler Lexikon Kunstwissenschaft (hrsg. v. Ulrich Pfisterer), 2. Aufl. Stuttgart u. Weimar 2011, S. 62–64, s. v. »Bilderzählung« (Wolfgang Kemp).

8

9 Von einem »flash across« spricht Elisabeth Rodini: Describing Narrative in Gentile Bellini’s »Procession in Piazza San Marco«, in: Art History 21/1998, S. 26–44, S. 27. 10 Neben Bellini waren Lazzaro Bastiani, Giovanni Mansueti, Vittore Carpaccio, Pietro Perugino und Benedetto Diana am Zyklus beteiligt.

Vgl. Anm. 6. Drucker und Datum waren bislang ungeklärt; ich danke Wolfram Kardorf und Ninon Suckow, Berlin, die beides erschlossen haben.

11

12 Eine Ausnahme bildet das um 1505–1510 entstandene Gemälde von Benedetto Diana, das bereits anderen Kriterien folgt; vgl. Brown 1988, S. 94 ff. 13 Brown 1988, S. 4; zum Dogenpalast vgl. ibid., S. 37 ff.; vgl. auch Peter Humfrey: La pittura narrativa dai Bellini a Carpaccio, in: Gennaro Toscano u. Francesco Valcanover (Hrsg.): Da Bellini a Veronese. Temi di arte veneta, Venedig 2004 (Studi di arte veneta, Bd. 6), S. 177–195, S. 179. 14 Brown 1988, S. 86; zur Schenkungsurkunde der Vendramin und zu »paintings as visual authorities« der Historiographie vgl. ibid., S. 79 ff.

473 | Anmerkungen zu S. 85–89

15 Aus unterschiedlicher Perspektive ist darauf bereits hingewiesen worden, vgl. Francis AmesLewis: The Image of Venice in Renaissance Narrative Painting, in: id. (Hrsg.): New Interpretations of Venetian Renaissance Painting, London 1994, S. 17–29; Brunckhorst 1997, S. 79 u. S. 124 f.; Rodini 1998, S. 26 ff. Auch wenn Rodini die Analogien zwischen Kreuzreliquie, San Marco und einem in San Marco aufbewahrten Reliquiar sowie die von ihr postulierte »cruciform intersection that supports the structure« des Bildes meines Erachtens zu sehr forciert, ist ihr Beitrag zentral für die Analyse des narrativen Potentials der Markusprozession und ihrer Bildrhetorik; vgl. ibid., S. 31 ff. u. S. 38. 16 Vgl. Jürg Meyer Zur Capellen: Gentile Bellini, Stuttgart 1985, S. 74 f., Kat.-Nr. A19; Brunckhorst 1997, S. 104 f.; trotz unterschiedlicher Beschreibungsmodelle betonen beide Autoren das Konstruierte des Bildraumes. 17 Zu den Bauten vgl. Jürgen Schulz: La piazza medievale di San Marco, in: Annali di architettura 4–5/1992–93, S. 134–156, S. 139 ff. 18

Vgl. Meyer Zur Capellen 1985, S. 75.

19 Vgl. Hans Körner: Auf der Suche nach der »wahren Einheit«. Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert, München 1988, S. 16. 20 Zum »fruchtbaren Moment« vgl. Ernst H. Gombrich: The Image and the Eye. Further studies in the psychology of pictorial representation, Oxford 1982, S. 55 u. S. 58. 21 Andrea Löther: Rituale im Bild. Prozessionsdarstellungen bei Albrecht Dürer, Gentile Bellini und in der Konzilschronik Ulrich Richentals, in: Andrea Löther et al. (Hrsg.): Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, S. 99–123, S. 106; Robert Finlay: Politics in Renaissance Venice, London 1980, S. 20. 22

Zit. nach Meyer Zur Capellen 1985, S. 75.

23 British Museum, Inv. 1933-8-3-12. Die in der älteren Forschung umstrittene Zuschreibung der Zeichnung darf heute als gesichert gelten; vgl. Bellini and The East (hrsg. v. Caroline Campbell u. Alan Chong), Ausstellungskatalog, National Gallery, London / Isabella Stewart Gardner Museum, Boston 2005, S. 51; Meyer Zur Capellen 1985, S. 164 f. 24 Vgl. Francesco Luisi: Per una identificazione dei musici raffigurati nella »Processione in Piazza San Marco« di Gentile Bellini, in: Studi in onore di Carlo Bo, Urbino 1991 (Notizie da Palazzo Albani, Bd. 20), S. 73–79. Die Kleidung erlaubt nicht in jedem Fall eine Differenzierung zwischen nobile und cittadino; vgl. Brown 1988, S. 227.

Vgl. Stefania Mason: La pittura del Rinascimento (1475–1500), in: Storia di Venezia. L’arte, Rom 1994, S. 485–544, S. 532; Rodini 1998, S. 33 f.

25

26 Vgl. Edward Muir: Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981, S. 78 ff.; Franco Gaeta: L’idea di Venezia, in: Storia della cultura veneta, Bd. III, 3, Vicenza 1981, S. 565–641.

Vgl. Wolfgang Kemp: Praktische Bildbeschreibung. Über Bilder in Bildern, besonders bei Van Eyck und Mantegna, in: Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995 (Bild und Text), S. 99–109.

27

28 Zitiert nach Brown 1988, S. 283. Die »Fremden« wurden auch als Visualisierung der Handelsbeziehungen und des Herrschaftsanspruchs Venedigs verstanden; vgl. Löther 1996, S. 106; Rodini 1998, S. 40; Löther betont ihre Abgrenzung von den Prozessionsteilnehmern, doch können auch sie als Identifikationsfiguren historischer Betrachter bewertet werden. 29 Vgl. Meyer Zur Capellen 1985, S. 72 u. S. 165 f.; Brown 1988, S. 233; zu der in Berlin aufbewahrten Vorzeichnung vgl. Hein-Theodor Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen des

474 | Anmerkungen zu S. 89–94

14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett, Berlin 1995, S. 69 f. Die Perforation und die neu überprüften Übereinstimmungen der Maße erweisen die Verwendung der Zeichnung als Karton; vgl. dagegen Meyer Zur Capellen 1985, S. 69. Für ihre praktische Unterstützung in dieser Frage danke ich Luca Caburlotto, Hein-Theodor Schulze Altcappenberg und Ulf Sölter. 30 Vgl. anonym [um 1481]: »molti altri miracoli ha facto & fa de giorno i giorno q.sta benedeta croce«; Marino Sanudo: De origine, situ et magistratibus urbis Venetae ovvero la città di Venetia [1493–1530] (hrsg. v. Angela Caracciolo Aricò), Mailand 1980, S. 52. 31 Vgl. John K. G. Shearman: Only connect… Art and the Spectator in the Italian Renaissance, Princeton 1992 (Andrew W. Mellon Lectures in the Fine Arts, Bd. 37). 32 Zur Signatur und ihrer Inszenierung vgl. Tobias Burg: Die Signatur. Formen und Funktionen vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 348. 33 Die wohl korrekte Lesart der heute erneuerten Aufschrift bietet Antonio Maria Zanetti: Della pittura veneziana, Venedig 1771, S. 58: »Gentilis Bellini Veneti Equitis Crucis / Amore Incensi Opus MCCCCLXXXXVI«; vgl. Brown 1988, S. 286. 34 Vgl. Rodini 1998, S. 27; Götz Pochat: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts, Wien, Köln u. Weimar 1996–2004 (Bild-Zeit, Bd. 2), S. 216.

Gottfried Boehm: Bildsinn und Sinnesorgane, in: Rüdiger Bubner, Karl. S. Kramer u. Reiner Wiehl (Hrsg.): Anschauung als ästhetische Kategorie, Göttingen 1980 (Neue Hefte für Philosophie, Bd. 18– 19), S. 118–132, S. 132.

35

36 Mir geht es bei dem Begriff des »Oszillierens« nicht um den Sehprozeß, wie ihn Frank Fehrenbach beschreibt, sondern um die Anregung, unterschiedliche Distanzen einzunehmen; vgl. Frank Fehrenbach: Der oszillierende Blick. »Sfumato« und die Optik des Leonardo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65/2002, 522–544. Zum Topos der Nah- und Fernsicht vgl. Martin Warnke: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie, Köln 1997, S. 6–15; zur »inhärenten Zeitlichkeit« vgl. Lorenz Dittmann: Überlegungen und Beobachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes, in: Bubner, Kramer u. Wiehl 1980, S. 133–150; vgl. auch Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner u. Guido Reuter (Hrsg.): Bilderzählungen – Zeitlichkeit im Bild, Köln 2003 (Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 4).

Giorgio Vasari: Das Leben der Bellini und des Mantegna (hrsg. v. Rebecca Müller), Berlin 2010, S. 19 f.; vgl. id.: Le vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori, Bd. 3 (hrsg. v. Paola Barocchi), Florenz 1971, S. 429; vgl. auch Brown 1988, S. 236.

37

38 Alessandro Nova: Giorgione e Tiziano al Fondaco dei Tedeschi, in: Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.): Giorgione entmythisiert, Turnhout 2008, S. 71–104. 39

Vgl. Brown 1988, S. 266.

40

Vasari 2010, S. 20.

41 Vgl. Muir 1981, passim; Brian Pullan: The »Scuole grandi« of Venice. Some Further Thoughts, in: Timothy Verdon u. John Henderson (Hrsg.): Christianity and the Renaissance. Image and religious imagination in the Quattrocento, Syracuse 1990, S. 272–301; Gabriele Köster: Künstler und ihre Brüder. Maler, Bildhauer und Architekten in den venezianischen Scuole Grandi (bis ca. 1600), Berlin 2008; zur Ausstattung vgl. Brown 1988, passim; id.: Honor and Necessity. The dynamics of patronage in the confraternities of Renaissance Venice, in: Studi Veneziani 14/1987, S. 179–210. 42

Vgl. Brown 1987, S. 182.

43

Vgl. ibid., S. 206 f.

44

Vgl. ibid., S. 191 ff.

475 | Anmerkungen zu S. 94–97

45

Sanudo 1980, S. 48 u. S. 52.

Otto Pächt: Venezianische Malerei des 15. Jahrhunderts. Die Bellinis und Mantegna, München 2002, S. 133.

46

47 Vgl. Löther 1996, S. 99 ff.; Miri Rubin: Symbolwert und Bedeutung von Fronleichnamsprozessionen, in: Klaus Schreiner: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politischsoziale Zusammenhänge, München 1992 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 20), S. 309–318.

Ereignis und Vedute (Matthias Krüger) 1

Vgl. Ludovica Sebregondi: Iconografia di Girolamo Savonarola. 1495–1998, Firenze 2004, S. 15 ff.

2 Zur Biographie Savonarolas vgl. Lauro Martines: Scourge and Fire. Savonarola and Renaissance Florence, London 2006; zum angeblichen Geständnis Savonarolas vgl. ibid., S. 244 ff. 3 Zur Verbrennung der Eitelkeiten vgl. Horst Bredekamp: Renaissancekultur als »Hölle«. Savonarolas Verbrennungen der Eitelkeiten, in: Martin Warnke (Hrsg.): Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, München 1973, S. 41–64. 4

Zum Ablauf der Hinrichtung vgl. Martines 2006, S. 273 ff.

5 Zu den auf der Piazza abgehaltenen Zeremonien vgl. Richard Trexler: Public Life in Renaissance Florence, New York et al. 1980, S. 49 f. u. S. 315 ff. 6 Zur Ikonographie dieser Statue vgl. Volker Herzner: Die »Judith« der Medici, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 43/1980, S. 139–180. 7 Zum Marzocco vgl. Geraldine Johnson: The Lion and the Piazza. Patrician politics and public statuary in central Florence, in: Philip Lindley u. Thomas Frangenberg (Hrsg.): Secular sculpture, Stanford 2000, S. 54–73. 8

Zu Herausforderung und gescheiterter Feuerprobe vgl. Martines 2006, S. 219 ff.

9

Zu diesen Beschreibungen des Laufstegs vgl. Sebregondi 2004, S. 18.

10 Vgl. Firenze e la sua immagine. Cinque secoli di vedutismo (hrsg. v. Marco Chiarini u. Alessandro Marabottini), Ausstellungskatalog, Forte di Belvedere, Florenz 1994, S. 69 f.

Vgl. Leopold David Ettlinger: A Fifteenth-century View of Florence, in: Burlington Magazine 94/1952, S. 160–167. Laut Ettlinger handelt es sich vermutlich um den Miniaturmaler und Kartographen Francesco di Lorenzo Rosselli; die Zuschreibung bleibt indes spekulativ.

11

Zu diesen Darstellungskonventionen innerhalb der Florentiner Kartographie vgl. Thomas Frangenberg: Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 158 f.

12

13 Zum Florentiner Glauben an die eigene Erwähltheit vgl. das Kapitel »The Myth of Florence«, in: Donald Weinstein: Savonarola and Florence. Prophecy and Patriotism in the Renaissance, Princeton 1970, S. 27–66. 14 Zur Ikonographie Davids in Florenz vgl. Volker Herzner: David florentinus. I. Zum Marmordavid Donatellos im Bargello, in: Jahrbuch der Berliner Museen 20/1978, S. 43–115; id.: David Florentinus. II. Der Bronze-David Donatellos im Bargello, in: Jahrbuch der Berliner Museen 24/1982, S. 63–142. 15 Zu Savonarolas Gleichsetzung von Florenz mit dem neuen Jerusalem vgl. Weinstein 1970, S. 138 ff.; Lorenzo Polizzotto: The Elect Nation. The Savonarola Movement, Oxford 1994; Polizzotto untersucht auch das Fortleben dieser Idee nach Savonarolas Hinrichtung.

476 | Anmerkungen zu S. 97–108

16

Zu dieser Version und ihrer Inschrift vgl. Sebregondi 2004, S. 16 u. S. 28.

17 Anders Ludovica Sebregondi, die davon ausgeht, dass dieses Bild unter dem unmittelbaren Eindruck des Ereignisses von einem Augenzeugen gemalt und erst später von einem anderen Künstler zu einer Stadtansicht erweitert worden sei; vgl. Sebregondi 2004, S. 16 u. S. 28.

Sieg mit den Pinseln (Iris Wenderholm) 1 Im italienischen Sprachraum sind allein zwischen 1571–1573 nicht weniger als 233 auf Latein oder Italienisch verfasste Werke entstanden; vgl. Simona Mammana: Lèpanto. Rime per la Vittoria sul Turco. Regesto (1571–1573) e studio critico, Rom 2007. Dionisotti begründet die große geographische Ausbreitung der literarischen Erzeugnisse damit, dass aus fast ganz Italien Männer an der Schlacht teilgenommen hatten und damit sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite großes Interesse an der literarischen Verarbeitung des Ereignisses bestand, während die vielen – eigentlich zeituntypischen – Verse auf Latein als Wunsch, den Sieg in seiner Größe angemessen zu feiern, interpretiert werden; vgl. Carlo Dionisotti: Lepanto nella cultura italiana del tempo, in: Gino Benzoni (Hrsg.): Il mediterraneo nella seconda metà del ’500 alla luce di Lepanto, Venedig 1974, S. 127–151, S. 138. Grundlegend zum Thema der Darstellung kriegerischer Auseinandersetzungen für die Epoche ist Wolfgang Henze: Studien zur Darstellung der Schlacht und des Kampfes in den Bildkünsten des Quattro- und Cinquecento in Italien, München 1970. 2 Zum historischen Entstehungshintergrund von Vasaris Gemälden für die Sala Regia vgl. Angela Böck: Die Sala Regia im Vatikan als Beispiel der Selbstdarstellung des Papsttums in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Hildesheim et al. 1997; Herwarth Röttgen: Zeitgeschichtliche Bildprogramme der katholischen Restauration unter Gregor XIII. 1572–1585, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 26/1975, S. 89–122; Jan L. de Jong: Papal History and Historical Invenzione. Vasari’s Frescoes in the Sala Regia, in: Philip Jacks (Hrsg.): Vasari’s Florence. Artists and Literati at the Medicean Court, Cambridge 1998, S. 220–237; Jan L. de Jong: The painted decoration of the Sala Regia in the Vatican. Intention and reception, in: Tristan Weddigen et al. (Hrsg.): Functions and decorations. Art and ritual at the Vatican Palace in the Middle Ages and the Renaissance, Vatikanstadt 2002, S. 153–168; vgl. auch Rick Scorza: »A me pare, che siano fatte con diligenza«. Cosimo Bartoli, Giorgio Vasari, and an extraordinary Venetian drawing, in: Master Drawings 48/2010, S. 341–351. Seit Abgabe des Manuskripts wurden zu Vasaris Lepanto-Fresken substantielle Beiträge veröffentlicht, so dass man nicht mehr mit Scorza sagen kann: »it seems remarkable that so little has been written about Giorgio Vasari’s Lepanto cycle«; vgl. Rick Scorza: Vasari’s Lepanto frescoes: apparati, medals, prints and the celebration of victory, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 75/2012, S. 141–200; Marino Capotorti: Lepanto tra storia e mito: arte e cultura visiva della controriforma, Galatina 2011; Stefan Hanß: »Per la felice vittoria«: venezianische Reaktionen auf die Seeschlacht von Lepanto (1571), in: Frühneuzeit-Info 22/2011, S. 98–111. Zur visuellen Topik in der Darstellung der Protagonisten des Schlachtgeschehens vgl. Christina Strunck: The barbarous and noble enemy: pictorial representations of the Battle of Lepanto, in: James G. Harper (Hrsg.): The Turk and Islam in the Western Eye 1450–1750. Visual Imagery before Orientalism, Farnham et al. 2011, S. 217–240. Dort auch die überzeugende These, dass Vasari in den Lepanto-Fresken den Mangel an ethischen und religiösen Werten thematisiert, der den Osmanen von ihren christlichen Gegnern zugeschrieben wurde.

Turin, Biblioteca di Palazzo Reale, Inv. Cart. 19/22. Ein etwas abweichender Entwurf für das Schlachtenfresko liegt in Florenz, Uffizien, Gabinetto disegno e stampe, Inv.-Nr. 7080F.

3

Vgl. Karl Frey u. Herman-Walther Frey (Hrsg.): Der literarische Nachlaß von Giorgio Vasari, München et al. 1923–1940, 3 Bde., Bd. II, S. 616, Nr. DCCCXXX (Brief von Monsignor Guiglielmo Sangaletti an Giorgio Vasari, 2. November 1571). Zur exakten Chronologie vgl. Laura Corti et al. (Hrsg.): Giorgio Vasari. Principi, letterati e astisti nelle corte di Giorgio Vasari, Ausstellungskatalog, Casa Vasari, Florenz 1981, S. 98–99, Kat.-Nr. IV, 39 h. 4

477 | Anmerkungen zu S. 109–116

Zum Verhältnis von päpstlichem Selbstverständnis und Ausstattung der Sala Regia vgl. Alexandra Herz: Vasari’s »Massacre« Series in the Sala Regia – the Political, Juristic, and Religious Background, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49/1986, S. 41–54.

5

6 Zur Darstellung von Zeitgeschichte in der päpstlichen Bildpolitik außerhalb des Vatikans in Vasaris Sala dei Cento Giorni vgl. Julian Kliemann: Gesta dipinte. La grande decorazione nelle dimore italiane dal Quattrocento al Seicento, Cinisello Balsamo 1993. 7

Vgl. Röttgen 1975, S. 100.

Vgl. Ottfried Neubecker im Anhang von Friedrich Sarre: Die Seeschlacht von Lepanto. Ein unbekanntes Bild aus der Werkstatt Tintorettos, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 59/1938, S. 233–246, S. 243. 8

9

Dazu vgl. ausführlich Scorza 2012, S. 141 ff.

10 Zitiert nach Frey u. Frey 1923–1940, Bd. II, S. 647, Nr. DCCCLXIII (Brief von Giorgio Vasari an Francesco de’ Medici, vom 23. Februar 1572): »[…] il golfo dj Lepanto et la Zaffalonia con lisole et scogli de Cozzolarj, nel qual sito sia tutto lo aparato delle galee cristiane et turchesche in ordjne da voler conbattere […] con quel paese ritratto bene dj naturale.« 11

Zit. nach ibid., S. 649.

12 Vgl. Böck 1997, S. 184, Anm. 375. Dies ist der wesentliche Unterschied zu vorgängigen Darstellungen von Seeschlachten wie etwa von Jacopo Ripanda im Kapitolspalast, der sich für die Darstellung eines historischen Ereignisses fast ausschließlich an der römischen Antike orientiert (z. B. an den Historienreliefs der Trajanssäule); zu Ripandas Wandbild vgl. Sybille Ebert-Schifferer: Ripandas kapitolinischer Freskenzyklus und die Selbstdarstellung der Konservatoren um 1500, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 23–24/1988, S. 75–218. 13

Vgl. Sarre 1938, S. 244 u. S. 246.

Zu Pius V. und dem Kreuzzugsgedanken für die Auseinandersetzung bei Lepanto vgl. Hubert Jedin: Papst Pius V., die Heilige Liga und der Kreuzzugsgedanke, in: Benzoni 1974, S. 193–213, S. 208. 14

15 Zur Deutung des Skeletts nicht so sehr als Tod im physischen, sondern als Verweigerung des ewigen Lebens für die Ungläubigen im spirituellen Sinn vgl. Strunck 2011, S. 222. 16 Vgl. Böck 1997, S. 79. Neubecker identifiziert die Osmanen der vordersten Bildebene aufgrund ihrer Kopfbedeckungen als gewöhnliche türkische Soldaten mit Turban beziehungsweise als Janitscharen mit ihrer Ketsche aus Filz, bei der die charakteristische vordere Hülse für den Eßlöffel und die nach hinten hängenden Lappen zu erkennen sind; vgl. Sarre 1938, S. 244. Zur historischen Realität, dass von Seiten der Liga keine Gefangenen gemacht, sondern die Gegner getötet wurden, vgl. Scorza 2012, S. 141 ff. 17 Scorza 2012, S. 184, beschreibt ebenfalls die ikonographische Verschiebung der Personifikation des Friedens hin zu einer Personifikation des Glaubens. 18

Zu den Bildstrategien der anderen Maler vgl. Jong 2002, S. 154 f.

Vgl. Werner Hager: Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zu einer Typologie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, München 1939, S. 127; Julian Kliemann: Programme, Inschriften und Texte zu Bildern. Einige Bemerkungen zur Praxis in der profanen Wandmalerei des Cinquecento, in: Wolfgang Harms (Hrsg.): Text und Bild, Bild und Text, Stuttgart 1990, S. 79–95.

19

20 Vgl. Francis Haskell: Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995, S. 100 ff. 21

Inschriften bei Frey u. Frey 1923–1940, Bd. II, S. 649.

478 | Anmerkungen zu S. 117–122

22 Vgl. Klaus Heitmann: Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 52/1970, S. 244–279; Andreas Kablitz: Dichtung und Wahrheit – zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Klaus W. Hempfer (Hrsg.): Ritterepen der Renaissance, Stuttgart 1989, S. 77–122. 23 Vgl. Lore Börner (Hrsg.): Die italienischen Medaillen der Renaissance und des Barock (1450–1750), Berlin 1997 (Bestandskataloge des Münzkabinetts Berlin), Kat.-Nr. 473, Kat.-Nr. 474 u. Kat.-Nr. 520,1; Scorza 2012, S. 141 ff. 24

Dazu ausführlich Henze 1970, S. 157–160.

25 Zitiert nach Henze 1970, S. 157: »Nella quale con magistero indicibile, & con un mirabile intrigo, & viluppo di cose, & con groppo fantastici di persone, si come nelle zuffe aviene, si rappresentava quella sempre memoranda Vittoria che si ottene già […].« 26 Zitiert nach Anna Pallucchini: Echi della battaglia di Lepanto nella pittura veneziana del ’500, in: Benzoni 1974, S. 279–287, S. 279. 27 Frey u. Frey 1923–1940, Bd. II, S. 648, Nr. DCCCLXII (Brief von Giorgio Vasari an Francesco de’ Medici, 23. Februar 1572): »Spero con la gratia del Signor Dio che, per esser stata fattura sua, che mi dara gratia che io ne conseguiro la medesima vittoria coj pennegli, che i Cristianj con larme.«

Frey u. Frey 1923–1940, Bd. II, S. 776, Nr. CMLXXXVI (Brief von Giorgio Vasari an Vincenzo Borghini, 23. April 1573): »Et questo lauoro [in der Sala Regia] torna certamente il più bello che abbi maj fatto, ne dettj maj tanta forza et rilieuo a pictture mie. Dio ma [m’ ha] illumjnato etc. Ci sara che dire […] dauere auto questa occasione, perche 2 sale, le prime del mondo, Dio me la [l’ ha] fatte condurre a gloria sua etc. Queste storie di mano dj questi altrj maestrj son rimaste cieche, che par strana cosa. Io non o inteso altro del Gran Duca nostro per le sua, alle qualj io credo piu delle altre; aujsate qualcosa, vorrej pur vedello, Signor prior mio, io mj consumo, et mj par mille annj esser costi. Grandezze, Grandezze, Grandezze, esi [et si] va via. Orsu io non vo diruj altro, se non chella mj mandj quelle inscritionj che li chiesi, et il concetto lo ridiro: in 39 annj che [ch’ è] 3 volte XIII il primo anno del pontificato dj Pauol III si comincio questa sala e con sei ponteficj doppo et 12 picttorj eccellenti seguito e non gli anno potuto dar’ maj fine: Gregorio XIII P. M. il primo anno del suo pontificato con Giorgio Vasarj Pictor XIII in XIII mesi gla [gl’ ha] dato fine l anno 1573. Questo lo uorej mettere in una storia vltima che o fatto, et mj sara caro che lo faccjate voj.«

28

29 Frey u. Frey 1923–1940, Bd. II, S. 616, Nr. DCCCXXX (Brief von Guiglielmo Sangaletti an Giorgio Vasari, 2. November 1571): »[…] questa gratia noua e [è] tale che bisognia come dite lassarne memoria, et uedo che in altro luogo non staria bene se non in la sala regia […].« 30 Vgl. Cy Twombly. Lepanto. A painting in twelve parts, Ausstellungskatalog, Gagosian Gallery, New York / Alte Pinakothek, München 2002; Lepanto. Cy Twombly, Ausstellungskatalog, Museo del Prado, Madrid 2008. 31

Vgl. Laura Brandon: Art and War, London 2007, S. 120.

Die göttliche Ordnung der Geschichte (Martin Schieder) 1

Vgl. William M. Drew: D. W. Griffith’s »Intolerance«. Its genesis and its vision, London 1986.

2 Vgl. Winfried Engler: Die Bartholomäusnacht im französischen Roman. 1829–1945–1980, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 108/1998, S. 128–148. 3 Zur Bartholomäusnacht vgl. Nicola-Mary Sutherland: The Massacre of St. Bartholomew and the European Conflict, 1559–1572, London 1973; Denis Crouzet: La Nuit de Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance, Paris 1994; Jean-Louis Bourgeon: Charles IX devant la Saint-Barthélemy, Genf 1995.

479 | Anmerkungen zu S. 123–132

4 Vgl. Henri Bordier: Peinture de la Saint-Berthélemy par un artiste contemporain, comparée avec des documents historiques, Genf 1978; Waldemar Deonna: Une peinture genevoise de la Saint-Barthélemy, in: Geneva 21/1943, S. 116–120: Le monde selon François Dubois, peintre de la Saint-Barthélemy (hrsg. v. Ralf Beil), Ausstellungskatalog, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne 2003.

Simon Goulart: Mémoires de l’Estat de France sous Charles neufiesme […], Genf 21578; zitiert nach Gérard Moreau: La Saint-Barthélemy, le martyrologe de Jean Crespin et Simon Goulart, in: Supplément au Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français 121/1975, S. 11–36 (»Le duc de Guise, qui estoit demeuré en la basse cour avec les autres seigneurs catholiques, oyant les coups, commence à crier à haulte voix: ›Besmes, as tu achevé?‹ ›C’est fait‹ […]. »Monsieur le Chevalier ne peut le croire s’il ne le void de ses yeux. […] Or d’autant que le coup qu’il avoit receu en la teste et le sang qui luy couvroit le visage empeschoit qu’on le cognust, le duc de Guise, se baissant dessus et luy torchant le visage avec ung mouchoir. […] C’est il luy mesmes. […] Un Italien de la garde du duc de Nevers coupa la teste à l’Amiral [et] les mains et les parties honteuses de ce corps lequel, ainsi mutilé et sanglant, fut traîné par ces canailles par toute la ville […] et finallement porté au gibet de Montfaucon où ils le pendirent«).

5

Zitiert nach Pierre Bonnaure: Des images à relire et à réhabiliter: l’œuvre gravé de Tortorel et Perrissin, in: Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français 138/1992, S. 475–514, S. 476 u. S. 483.

6

7

Ibid., S. 488.

8 Zitiert nach Frank Lestringant: Politique du martyre au temps des guerres de religion, in: Giovanni Dotoli (Hrsg.): Politique et littérature en France au XVIe et XVIIe siècles, Paris 1997, S. 173–194, S. 179 (»Ce ne sont […] fables de Legendes dorées, pour les recommander et en faire des reliquaires, […] mais ce sont eux-mesmes parlans en leurs escrits, consolans et enseignans ceux qui restent encore en ceste course«). 9 Vgl. Jean Ehrmann: Antoine Caron. Peintre des fêtes et des massacres, Paris 1986. Nach Manuskriptabschluss sind erschienen: Neil Cox: A painting by Antoine Caron, in: Papers of surrealism, 7/2007 (URL: http:// www.surrealismcentre.ac.uk/papersofsurrealism/journal7/index.htm; 12. Februar 2013); Valérie Auclair: Le sens à l’épreuve du sang. Les interprétations des »Massacres du Triumvirat« d’Antoine Caron (1566) par Michel Leiris et Gustave Lebel, in: Corps sanglants, souffrants et macabres, XVIe–XVIIe siècle (hrsg. von Charlotte Bouteille-Meister), Paris 2010, S. 333–349. 10 Anonymer Graphiker: Das Massaker des römischen Triumvirats, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, Kupferstich, 50 × 76 cm, Paris, Bibliothèque nationale de France, Cabinet des estampes. 11 Zitiert nach Ulrika von Haumeder: Antoine Caron. Studien zu seiner »Histoire d’Arthémise«, Phil. Diss., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1976, S. 273 (»Vous retrouverez ce qui a esté faict par ceste bonne Royne Arthemise, & ce qui est auiourd’huy renouvelé de nostre temps de telle sorte qu’on diroit que nostre siecle est la revolution de cet antique & premier«). 12 Agrippa d’Aubigné: Les Tragiques [1616] (hrsg. v. Jean-Raymond Fanlo), Paris 2003, 2 Bde., Bd. 1, I, 371, S. 284 (»Car mes yeux sont tesmoings du subjet de mes vers«). 13 Reinhart Kosellek: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit [1968], in: id.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 31995, S. 17–37, S. 25. 14 D’Aubigné 2003, Bd. 1, V, 259 f., S. 587 (»où l’Antechrist, saoulé de vengeance et de playe, / Sur l’effect de ses mains en triomphant s’esgaie«). 15 Zitiert nach Philipp P. Fehl: Vasari’s »Extirpation of the Huguenots«. The challenge of pity and fear, in: Gazette des Beaux-Arts 84/1974, S. 257–284, S. 271 (»che sta bene, ha del reale et cosa che conuiene costi et e simile all’altre et comprenderebbe tutto questo negotio et pienamente«).

Michel de Montaigne: Essais, in: id.: Œuvres complètes, Bd. 16 (hrsg. v. Albert Thibaudet u. Maurice Rat), Paris 1962, 2, XI, S. 401 (»A peine me pouvoy-je persuader, avant que je l’eusse

16

480 | Anmerkungen zu S. 132–139

veu, qu’il se fut trouvé des ames si monstrueuses, qui, pour le seul plaisir du meurtre, le voulussent commettre: hacher et détrencher les membres d’autruy; esguiser leur esprit à inventer des tourmens inusitez et des morts nouvelles […] pour cette seule fin de jouïr du plaisant spectacle«). 17 Denis Crouzet: Imaginaire du corps et violence aux temps des troubles de religion, in: Jean Céard (Hrsg.): Le corps à la Renaissance, Paris 1990, S. 115–127, S. 119; zur Ritualisierung religiöser Gewalt vgl. Natalie Zemon Davis: The Rites of Violence. Religious riot in sixteenth-century France, in: Past and Present 59/1973, S. 51–91. 18

Zitiert nach Crouzet 1990, S. 121.

19

D’Aubigné 2003, S. 619 (V, 871).

Zitiert nach Crouzet 1994, S. 160 f. (»Il ne faut contre ses armes / Appareiller nostre effort, // Quant à moy je ne peux vivre / Qu’avec ce qu’il interdit, // Aussi le mien cors je livre / Aux peines de son édit; // Qu’il me commande exiler, / Qu’il face mes os brûler, // Qu’il m’estrangle d’une corde / Je le veux et m’y accorde«); zur calvinistischen Martyrologie vgl. David Nicholls: The Theatre of Martyrdom in the French Reformation, in: Past and Present 121/1988, S. 49–73.

20

Geschichtskonstruktionen im Widerstreit (Wolfgang Brassat) Zu Rubens’ diplomatischer Tätigkeit vgl. Otto von Simson: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat, Mainz 1996 (Berliner Schriften zur Kunst, Bd. 8), S. 229 ff.; HansMartin Kaulbach: Peter Paul Rubens. Diplomat und Maler des Friedens, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa (hrsg. v. Klaus Bußmann u. Heinz Schilling), Ausstellungskatalog, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Kulturgeschichtliches Museum, Osnabrück 1998, 3 Bde., Textbd. II, S. 565–574; Ulrich Heinen: »Versatissimus in historiis et re politica«. Rubens’ Anfänge als Diplomat, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 63/2002, S. 283–318; Hans Ost: Malerei und Friedensdiplomatie. Peter Paul Rubens’ »Anbetung der Könige« im Museo del Prado zu Madrid, Köln 2003. 1

Die gesamte Dokumentation zum Medici-Zyklus ist chronologisch ausgebreitet in Jacques Thuillier u. Jacques Foucart: Le storie de Maria de’ Medici de Rubens al Lussemburgo, Mailand 1967, S. 91 ff.; zum Vertrag vgl. ibid., S. 95 f. Der Heinrich-Zyklus kam aufgrund der Widerstände Richelieus nicht zur Ausführung, lediglich einige Skizzen und fünf unvollendete Gemälde geben einen Eindruck von diesem Projekt; vgl. Ingrid Jost: Bemerkungen zur Heinrichsgalerie des Peter Paul Rubens, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 15/1964, S. 175–219.

2

3 Diese These geht zurück auf David DuBon: Tapestries from the Samuel H. Kress Collection at the Philadelphia Museum of Art. The History of Constantine the Great. Designed by Peter Paul Rubens and Pietro da Cortona, Aylesbury 1964, S. 5. Die These wird weiterhin als denkbare Möglichkeit referiert; vgl. Rubens (hrsg. v. Arnauld Brejon de Lavergnée), Ausstellungskatalog, Palais des Beaux-Arts, Lille 2004, deutsche Ausgabe, Stuttgart 2004, S. 278 f.; Entschieden vertreten wird diese These von Koenraad Brosens: The Constantine Series, London u. Turnhout 2011 (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, Bd. XIII/3). Peter Krüger geht dagegen von einem Auftrag Ludwigs XIII. aus; vgl. Peter Krüger: Studien zu Rubens’ Konstantinzyklus, Frankfurt u. Paris 1989, S. 13 ff. 4 Vgl. Max Rooses u. Charles Ruelens: Codex Diplomaticus Rubenianus, Antwerpen 1887–1909, 6 Bde., Bd. III, S. 78 ff. u. S. 85 ff. Der Brief vom 1. Dezember 1622 handelt zunächst vom MediciZyklus; vgl. ibid., S. 83 ff.

Zu dieser Schenkung, mit der der König Rom eine Art Protektionsversprechen gab, vgl. Dubon 1964, S. 11 f.; Wolfgang Brassat: Tapisserien und Politik. Funktion, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums, Berlin 1992, S. 92. Francesco Barberini gründete später die Barberinische Tapisseriemanufaktur und ließ die Rubens-Teppiche durch weitere Stücke nach Entwürfen von Pietro da Cortona ergänzen.

5

481 | Anmerkungen zu S. 139–142

6 Eine Ausnahme ist John Coolidge: Louis XIII and Rubens. The Story of the Constantine Tapestries, in: Gazette des Beaux-Arts 67/1966, S. 271–292. Der vorliegende Beitrag folgt der dort vorgebrachten These, nach der der Medici-Zyklus und der Konstantin-Zyklus konkurrierende, denselben Sachverhalt der umstrittenen Thronfolge thematisierende Werke sind, die von der Forschung vorwiegend skeptisch aufgenommen wurde; vgl. Thullier u. Foucart 1967, S. 96; Julius Held: The Oil Sketches of Peter Paul Rubens, Princeton 1980, 2 Bde., Bd. I, S. 67; Krüger 1989, S. 137 f. u. S. 207 f.; Brosens 2011. 7 Später wurde Maria de’ Medici Vorsitzende des Ministerrates, und auf ihr Drängen hin ernannte Ludwig XIII. 1625 ihren Ratgeber Richelieu zum Minister. Als sie, nicht mehr einverstanden mit seiner Politik, Richelieu stürzen wollte, widersetzte sich ihr Sohn. Nach der journée des dupes am 11. November 1630 wurde sie nach Compiègne verbannt. Im Juli 1631 floh sie aus Frankreich; ihre letzten elf Lebensjahre verbrachte sie, von ihrem Sohn des Hochverrats bezichtigt, im Exil in Brüssel, Amsterdam, London und Köln. Zur Zeit des Exils vgl. Helga Hübner u. Eva Regtmeier: Maria de’ Medici. Eine Fremde: Florenz – Paris – Brüssel – London – Köln, Frankfurt am Main et al. 2010, S. 163–235. 8 Zur Ikonographie vgl. Susan Saward: The Golden Age of Maria de’ Medici, Ann Arbor, Mich. 1982; Ronald Forsyth Millen u. Robert E. Wolf: Heroic Deeds and Mystic Figures. A New Reading of Rubens’ Life of Maria de’ Medici, Princeton 1989; zur Gliederung der Folge vgl. Quintilian: Institutio oratoria, III 7. 9 Unsinnigerweise wurden diese drei Gemälde bis vor einigen Jahren getrennt von den Historien im Depot in Versailles bewahrt. 10 Zur Definition der Historia als »lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae« vgl. Cicero: De oratore, II 36. 11 Zitiert nach Irene Haberland: Jonathan Richardson (1666–1745). Die Begründung der Kunstkennerschaft, Münster 1991, S. 33. 12

Vgl. Simson 1996, S. 248; Millen u. Wolf 1989, S. 73 ff.

13 Ich nehme diese unterschwellige Bedeutungsdimension an, obwohl Maria de’ Medici sich wiederholt in Medaillen als Juno hatte darstellen lassen; vgl. Millen u. Wolf 1989, S. 78 f. 14

Vgl. Quintilian: Institutio oratoria, IX 2, 46 u. VIII 6, 44 ff.

Zur nachträglichen Änderung der Fahrtrichtung des Staatsschiffs vgl. Martin Warnke: Laudando Praecipere. Der Medicizyklus des Peter Paul Rubens, in: id.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie (hrsg. v. Michael Diers), Köln 1997, S. 160–199, S. 179 f. 15

16 Zum Bildprogramm vgl. den aide-mémoire von 1622, der sogenannte »Text von Baluze«, publiziert von Jacques Thuillier: La »Galerie de Medicis« de Rubens et sa genèse: un document inédit, in: Revue de l’art 4/1969, S. 52–62. 17

Vgl. Warnke 1997, S. 181 f.; Rooses u. Ruelens 1887–1909, Bd. III, S. 353 f.

Soweit ich sehe, ist die Tragweite dieser Veränderung bisher nicht erkannt worden. Julius Held schrieb zum Motiv des Dauphin, der in der Münchner Skizze die Krone berührt: »This theme was dropped from the final version, probably because it might have lent itself to misinterpretation, either as a reflection on the queen’s independence or as a premature ›reaching for the crown‹ on the part of the dauphin« (Held 1980, Bd. 1, S. 109). Diese unzulängliche Erklärung wurde oft wiederholt, zum Beispiel bei Konrad Renger u. Claudia Denk: Flämische Malerei des Barock in der Alten Pinakothek, München u. Köln 2002, S. 412. Auch Otto von Simson schrieb: »Der künftige König Ludwig XIII. legt nun nicht mehr die Hand an Marias Krone – man hätte diese ›Mitwirkung‹ mißverstehen können« (Simson 1996, S. 255). Millen und Wolf haben den Gestus des Dauphin in der Münchener Ölskizze sogar folgendermaßen interpretiert: »the heir to the crown unmistakably urges his mother to accept it« (Millen u. Wolf 1989, S. 114). Tatsächlich aber hatte bei dem Krönungszeremoniell zunächst der Duc de Conty, der ranghöchste anwesende Prinz von Geblüt, dem Dauphin auf einem Kissen die

18

482 | Anmerkungen zu S. 142–147

Krone überreicht, die dann von diesem und seiner Schwester, wie in der Münchener Skizze und einem Stich von Léonard Gauthier (Millen u. Wolf 1989, Abb. 36) zu sehen ist, über dem Haupt der Königin gehalten wurde; vgl. Hübner u. Regtmeier 2010, S. 56. Dieser in der Ölskizze in der Eremitage noch nicht gegebene unmissverständliche Hinweis auf das eine weibliche Nachfolge ausschließende salische Recht, nach dem die Königin ihre Macht nur stellvertretend für den Dauphin ausübt, entfiel in der endgültigen Fassung. 19 Daher waren zeremonielle Akte ein Sujet, das nach realistischen Darstellungsweisen verlangte; vgl. Wolfgang Brassat: Monumentaler Rapport des Zeremoniells. Charles Le Bruns »Tenture de l’Histoire du Roy«, in: Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn (Hrsg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 353–381. 20

Vgl. Simson 1996, S. 278.

Jean Baptiste Du Bos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, I, 24 (hrsg. v. Dominique Désirat), Paris 1993, S. 64 ff.

21

22 Vgl. Roger de Piles: L’Idée du Peintre parfait (hrsg. v. Xavier Carrère), Paris 1993, S. 121: »Aucun Peintre n’a traité si doctement, ni si clairement que Rubens les sujéts Allégoriques.« Zur AllegorieKritik vgl. Karlheinz Barck (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 79–87; s. v. »Allegorie«, Abschnitt III: Aesthetica (Bettine Menke). Im Zuge der Verzeitlichung der Geschichte und des modernen linearen Geschichtsbegriffs wurde das Vertrauen erschüttert, Geschichte metaphorisch festhalten zu können.

Barbara Gaehtgens: Zwei Gemäldezyklen für den Französischen Hof: Maria de’ Medici und Heinrich IV., in: Rubens 2004, S. 179–180, S. 180.

23

24

Warnke 1997, S. 183.

25

Vgl. die ausführliche Analyse ibid., S. 183 ff.

26

Ibid., S. 188.

27 Vgl. Hübner u. Regtmeier 2010, S. 55 u. S. 58. Die Autorinnen bewerten die Einführung des lit de justice inaugural, der sofortigen Machterteilung durch das Parlament von Paris, die auch bei Ludwig XIII. seiner Krönung in Reims vorausging, als entscheidenden Schritt für den »Übergang vom feudalistischen Regime zur absoluten Monarchie« (ibid., S. 62); vgl. Sara Mamone: Paris et Florence. Deux capitales du spectacle pour une reine Marie de Médicis, Paris 1990, S. 193.

Zur Marien-Ikonographie vgl. Warnke 1997, S. 162 ff. Rubens war ausdrücklich die »libertà di cangiare il sito et positura delle figure« gewährt worden; vgl. ibid., S. 188; Rooses u. Ruelens 1887–1909, Bd. III, S. 37 f. 28

Andrea Gilio: Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’istorie [1564], in: Paola Barocchi (Hrsg.): Trattati d’Arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma, Bd. 2, Bari 1961, S. 5–115, S. 15 f.

29

30

Vgl. Warnke 1997, S. 182.

31 Zum Folgenden vgl. Alphons Reckermann: Amor mutuus. Annibale Carraccis Galleria-FarneseFresken und das Bild-Denken der Renaissance, Köln u. Wien 1991, S. 48 ff. 32

Ibid., S. 50.

33 Zur Bedeutung der Rhetorik als einem maßgeblichen theoretischen Modell der frühneuzeitlichen Malerei vgl. Wolfgang Brassat: Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun, Berlin 2003; zu Rubens vgl. ibid., S. 233 ff.

Zitiert nach Krüger 1989, S. 54 (Inschrift eines zeitgenössischen Flugblattes). Dort und bei Coolidge 1966 zahlreiche Belege für Vergleiche Heinrichs IV. und seines Sohnes mit Konstantin.

34

483 | Anmerkungen zu S. 148–152

35 Vgl. Brosens 2011, Anhang II.6, S. 360–362. Brosens geht davon aus, dass es sich bei diesem Ereignis nicht um eine Begutachtung der Kartons durch die Hofbeamten handelte, sondern um eine Präsentation der Kartons, mit der die Manufakturleiter Comans und de la Planche Abnehmer für Tapisseriefolgen zu gewinnen hofften; vgl. ibid., S. 89. 36

Vgl. Rooses u. Ruelens 1887–1909, Bd. III, S. 431; Brosens 2011, Anhang II.16, S. 365.

37 Vgl. DuBon 1964, S. 5; zu den erwähnten Briefen und dem Nachlassinventar siehe Brosens 2011, Anhang II.2–4, S. 359 f. u. Anhang II.18, S. 365 f. 38 Vgl. Konraad Brosens: Who Commissioned Rubens’s »Constantine« Series? A New Perspective: The Entrepreneurial Strategy of Marc Comans and François de la Planche, in: Semiolus: Netherlands Quaterly for the History of Art 33/2008, S. 166–182; Brosens 2011. 39 In einem Brief an Sir Dudley Carleton vom 12. Mai 1618 erwähnte Rubens »alcuni gentiluomini genovesi«. Traditionell hat man in diesen die Auftraggeber der Decius-Mus-Teppiche vermutet. Dagegen brachte schon Joseph Duverger gute Gründe vor, dass mit den Genuesern der in Antwerpen tätige Tapisseriehändler Franco Cattaneo und sein Bruder gemeint waren und sich die Entstehung dieser Folge somit der Initiative von Händlern verdankte; vgl. Joseph Duverger: Aantekeningen Betreffende de Patronen van P. P. Rubens en de Tapijten met de Geschiedenis van Decius Mus, in: Gentse Bijdragen tot de Kunstgeschiedenis XXIV/1976–1978, S. 15–42. Susanne Tauss hat dagegen aufgrund archivalischer Indizien versucht, einen der »genuesischen Aristokraten« mit Giovanni Battista Brignole, dem Bruder des 1635 zum Dogen ernannten Giovanni Francesco Brignole, zu identifizieren; vgl. Susanne Tauss: Dulce et Decorum? Der Decius-Mus-Zyklus von Peter Paul Rubens, Osnabrück 2000. Tauss weist nach, dass der aus einfachen Verhältnissen stammende Decius Mus als Musterbeispiel für den von Seneca und Justus Lipsius erörterten »Seelenadel« (nobilitas animi) galt und dieser Begriff in der Adelsdiskussion der humanistischen Zirkel Genuas eine wichtige Rolle spielte. Dies spricht allerdings nicht zwingend dafür, dass die Rubens-Teppiche auf einen Genueser Auftrag zurückgehen. Die Suche nach den Genueser Auftraggebern hat unlängst Brosens kritisiert und noch einmal auf den Brief hingewiesen, in dem der Humanist und Tapisseriehändler Frans Sweerts 1618 schrieb: »Rubenius heeft voor mij geschildert eenen patroon«, zitiert nach Koenraad Brosens: New Light on the Raes Workshop in Brussels and Rubens’s Achilles Series, in: Thomas P. Campbell u. Elizabeth A. H. Cleland (Hrsg.): Tapestry in the Baroque. New Aspects of Production and Patronage, New York 2010 (The Metropolitan Museum of Art Symposia), S. 32, Anm. 80. 40

Vgl. Brosens 2011, S. 155.

41 Vgl. ibid., S. 33 ff. (mit Abbildung der Ölskizze und des Stichs von Tardieu) u. S. 108. Die Formate der Ölskizzen des Konstantin-Zyklus variieren stark. Die kleinste Skizze mit der Larbarum-Szene misst nur 35,4 mal 27,5 cm, die mit dem Einzug in Rom 48,6 mal 64,5 cm. Insofern ist das Format des 54 mal 69 cm messenden Triumph Roms kein sicheres Kriterium dafür, dass diese Skizze mit der Konstantin-Folge nichts zu tun hätte. 42

Vgl. Held 1980, Bd. 1, S. 65.

43 Die Schlussfolgerung, die Brosens aus Briefen von Peiresc im Dezember 1622 und im Frühjahr 1623 an Rubens zieht (Brosens 2011, Appendix II.8–II.13, S. 362 ff.), dass Comans und de la Planche den Zyklus auch Maria de’ Medici anbieten wollten (ibid., S. 93), kann ich nicht nachvollziehen. Mir scheint vielmehr, dass die Verantwortlichen eine zu erwartenden Verstimmung der Königinmutter über den Konstantin-Zyklus antizipieren wollten. 44

Vgl. Held 1980, Bd. 1, S. 70.

45 Die Darstellung wurde traditionell als Konstantin übergibt Crispus das Kommando über die Flotte gedeutet, also als Hinweis auf den Sieg des ältesten Sohnes, der, während Konstantin 324 bei Adrianopel die Armee des Licinius bezwang, vor den Dardanellen die Flotte des Gegners besiegte. Zu Recht hat Brosens die Protagonisten der Darstellung mit Constantius und Konstantin identifiziert; vgl. Koenraad Brosens: A case of mistaken identity: Rubens’s so-called »Constantine and Crispus« oil-sketch

484 | Anmerkungen zu S. 152–154

in Sydney, in: The Burlington Magazine 153/2011, S. 86–89; Brosens 2011, S. 187 ff. Gegen die Darstellung von Crispus spricht auch, dass Konstantin 326 seine Gattin Fausta umbringen und seinen mit der Konkubine Minervina gezeugten ältesten Sohn hinrichten ließ, wahrscheinlich weil sie ein Verhältnis mit einander hatten; vgl. Elisabeth Herrmann-Otto: Konstantin der Große, Darmstadt 2007, S. 141 ff.; Oliver Schmitt: Constantin der Große, Stuttgart 2007, S. 221 ff. Laktanz und Eusebius, die beiden christlichen Biographen Konstantins, hatten diese Vorgänge schamhaft verschwiegen, die Baronio hingegen erwähnte; vgl. Cesare Baronio: Annales Ecclesiastici, Antwerpen 1589–1609, 12 Bde., Bd. 3 (1593). 46

Vgl. Brosens 2011, S. 148.

47

Vgl. ibid., S. 188.

48 Vgl. DuBon 1964, S. 10; Brosens 2011, S. 200 ff. Auch in den Nachstichen von Tardieu und anderen wurde das Sujet mit der Maxentius-Schlacht identifiziert; vgl. ibid., Abb. 29 ff. 49

Vgl. Krüger 1989, S. 51 ff.

50 Dieser Zusammenhang ist erstmals von Burchard und sodann von vielen weiteren Autoren angenommen worden; vgl. Ludwig Burchard: A Loan Exhibition of Works by Peter Paul Rubens, Ausstellungskatalog, Wildenstein & Co., London 1950, S. 50; Held 1980, Bd. 1, S. 71. 51 Brosens deutet die Darstellung als »a dismal warning of the weakness of political alliances that are based on strategic marriages«, ohne zu erklären, an wen diese gerichtet war, wobei er meint, ihre Deutung als Allusion auf die französisch-habsburgische Doppelhochzeit sei »inextricably linked to the traditional assumption that Louis XIII had commissioned the series« (Brosens 2011, S. 150 u. S. 220.). 52

Vgl. ibid., S. 238.

Brosens spricht davon, dass Rubens hier wie auch in der Darstellung der Doppelhochzeit die Strategie eines »grouping people together in a fictitious constellation« verfolgt habe; ibid., S. 151.

53

54 Coolidge schrieb: »the features of this robust matron are unmistakably those of Marie de Medici« (Coolidge 1966, S. 282). Diese Identifikation ist, soweit ich sehe, von der Forschung einmütig abgelehnt worden. Held fand sie »entirely unacceptable, for physiognomic reasons as much as for the context in which she appears. Moreover, Constantine’s wife Fausta had died before him« (Held 1980, Bd. 1, S. 83). Das letzte Argument ist jedoch nicht nachzuvollziehen. Gerade weil die Anwesenheit einer Hinterbliebenen am Totenbett, wie auch die der drei Söhne, nicht den historischen Tatsachen und der Überlieferung entspricht, muss ihre Darstellung durch aktuelle Anschauungsbedürfnisse motiviert worden sein. 55 Brosens führt die Darstellung der Trauernden auf die Weinende Dacia zurück (Rom, Musei Capitolini), ein antikes Relief, das schon 1549 durch einen Nachstich Verbreitung fand und im CesiGarten zu sehen war; vgl. Brosens 2011, S. 239 u. Abb. 109. Dies widerspricht aber keineswegs ihrer Ähnlichkeit mit Maria de’ Medici und sagt nichts über die signifikante Zurücksetzung der Figur im Tod Konstantins. Bemerkenswert ist, dass die Witwe in Rubens’ Ölskizze (Paris, Privatbesitz) eine weniger individuell akzentuierte, deutlich hagerere Physiognomie hat (vgl. ibid., Abb. 105); erst in der Tapisserie weist sie ein fülliges Gesicht mit dem charakteristischen Doppelkinn auf. 56

Vgl. Warnke 1997, S. 198, Anm. 40.

Auf der Bühne der Geschichte (Martin Warnke) 1 Aus der reichen Literatur seien nur genannt José Lopez-Rey: Velázquez. A Catalogue Raisonné of his Œuvre, London 1963, Kat.-Nr. 80; Enriqueta Harris: Velázquez, London 1982, S. 125 ff.; Jonathan Brown: Velázquez. Painter and Courtier, New Haven u. London 1986, S. 107 ff.

485 | Anmerkungen zu S. 154–159

2 Zur Abbildung in Geschichtsbüchern vgl. Manuel Fernández Alvares: La España de Felipe IV, in: Historia de España (begr. v. Ramón Menendez Pidal), Bd. 25, Madrid 1982, S. 685; dort wird auch von einem »Pyrrhussieg« gesprochen, der nur bis 1637 Bestand hatte. 3 Der Text von Herman Hugos Obsidio Bredana, Antwerpen 1626, bei Ulrich Pfisterer: Malerei als Herrschaftsmetapher. Velázquez und das Bildprogramm des Salón de Reinos, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 29/2002, S.199–252, S. 235, Anm. 10; vgl. Simon A. Vosters: La Rendición de Bredá en la literatura y el arte de España, London 1973, S. 8 ff.; zu Calderón vgl. Shirley Whitaker: The First Performance of Calderón’s »El sitio de Breda«, in: Renaissance Quarterly 31/1978, S. 515– 531, S. 529 f.; Margaret R. Greer: Calderón de la Barca. Playwright at Court, in: Suzanne L. StrattonPruitt: The Cambridge Companion to Velázquez, Cambridge 2002, S. 149–169. 4 Vgl. Jacques Callot. 1592–1635, Ausstellungskatalog, Musée Historique Lorrain, Nancy 1992, S. 348 ff.; Vosters 1973, S. 13 u. S. 79 f., Abb. 12a-f; Fritz Saxl: Velázquez and Philipp IV., in: id.: Lectures, London 1957, S. 311–324, S. 316. 5 Zum Palast und zur Gesamtanlage vgl. Jonathan Brown u. John H. Elliott: A Palace for a King. The Buen Retiro and Court of Philip IV, New Haven u. London 1980; zur Ausstattung des Salón de Reinos vgl. Pfisterer 2002, S. 199 ff. Diese Arbeit erschließt erstmals für die Ausstattung, vor allem für den Gemäldezyklus der Schlachten, nicht nur eine neue Anordnung, sondern auch eine schlüssige Sinnstruktur. 6 Anders als Pfisterer 2002, S. 226 ff., oder Juan José Luna Fernández: Der Salón de Reinos des BuenRetiro-Palastes in Madrid, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa, Ausstellungskatalog, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Kulturgeschichtliches Museum, Osnabrück 1998-1999, 3 Bde., Textbd. 2, S. 121–129, sehe ich die Herkulestaten zumindest assoziativ auch auf die Feldherren bezogen, denen sie unmittelbar zugesellt sind; vgl. auch Luister van Spanje en den belgische steden, Ausstellungskatalog, Palais voor Schone Kunsten, Brüssel 1985, Kat.-Nr. B 32–33. 7 Carl Justi: Diego Velázquez und sein Jahrhundert, Bonn, 3. Aufl., 1922–1923, 2 Bde., Bd. 1, S. 361. 8

Vgl. Martin Warnke: Velázquez. Form und Reform, Köln 2005, S. 92 f.

9 Vgl. Gridley McKim-Smith: On Velázquez’ Working Method, in: Art Bulletin 61/1979, S. 589–603, wo auch angenommen wird, dass Spinola zunächst frontal, soeben von seinem näher herangerückten Pferd abgestiegen und mit dem Gesicht dem Gegner zugewandt gewesen sei; es wäre also der Begegnung ein Moment der Beiläufigkeit gegeben, die ja wohl auch ohne Schlüssel hätte auskommen müssen. Die schließliche Lösung wäre damit förmlicher geworden, sozusagen zeremonialisiert. 10

Vgl. Pfisterer 2002, S. 219 f.

11 Vgl. Lopez-Rey 1963, S. 65; Brown 1986, S. 118 f.; Vosters 1973, S. 35 f., der eine einzige Briefquelle, die von den »llaues de la fortaleza« spricht, für unglaubwürdig hält. 12

Vgl. Lopez-Rey 1963, S. 65.

13 Vgl. Quintín Aldea Vaquero: El ejército de Felipe IV, in: José Alcalá Zamora u. Queipo de Llano (Hrsg.): Felipe IV. El hombre y el reinado, Madrid 2005, S. 253–266.

Die merkwürdige Assoziation mit den »Kreuzen von Golgatha« bei Marc Fumaroli: El abrazo de »Las Lanzas«, in: Javier Portús (Hrsg.): El Museo del Prado. Fragmentos y detalles, Madrid 1997, S. 39–61, S. 59. 14

15 Vgl. Justi 1922–1923, Bd. 1, S. 371 u. S. 374. Auch ein portugiesischer Prinz war darunter; vgl. ibid., S. 377; vgl. auch Lopez-Rey 1963, S. 64 f.; Vosters 1973, S. 34.

486 | Anmerkungen zu S. 159–163

16 Vgl. Michael Diers: Affekt und Effekt – Körpersprache und Bildsprache. Bildrhetorik bei Velázquez. Eine Beobachtung am Rande, in: Martin Warnke (Hrsg.): Politische Kunst. Gebärden und Gebaren, Berlin 2004 (Hamburger Forschung zur Kunstgeschichte, Bd. 3), S. 17–32. 17 Als freundschaftliche Umarmung des verbündeten Dogen Genuas ist der Gestus auch schon im Bild des Antonio de Pereda bei der Rückgabe eingesetzt; vgl. Pfisterer 2002, S. 218. 18 Vgl. Museo del Prado. Catálogo de los cuadros (hrsg. v. Sánchez Calero Francisco Javi), Madrid 1952, S. 338: »mientras las tropas españolas rinden honores«. 19 Vgl. August L. Mayer: Diego Velázquez, Berlin 1924, S. 120. Die eindringlichste Beschreibung der Bewegungen und Gesten bietet Victor I. Stoichita: »La Reddition de Breda« par Velázquez, in: Jacques Thuillier u. Klaus Bußmann (Hrsg.): 1648. Paix de Westphalie, Paris 1999 (Conférences et colloques / Louvre), S. 115–138, S. 123 ff. 20

Harris 1982, S. 126.

21

Justi 1922–1923, Bd. 1, S. 377.

22

Zitiert nach Pfisterer 2002, S. 234, Anm. 2.

23 Vgl. Bernardino de Pantorba: La vida y la obra de Velázquez. Estudio biográfico y critico, Madrid 1955, S. 123 f.; zur Rezeption seit dem 18. Jahrhundert vgl. Vosters 1973, S. 128 ff. 24 Vgl. Heinrich Wölfflin: Velázquez, in: id.: Kleine Schriften (hrsg. v. Joseph Gantner), Basel 1946, S. 126–130; zu den technischen Qualitäten vgl. Jonathan Brown u. Carmen Garrido: Velázquez. The Technique of Genius, New Haven u. London 1998. 25

Justi 1922–1923, Bd. 1, S. 378.

Über diese Bemühungen, die Ortega y Gasset als »fuentismo« ironisiert hat, vgl. Vosters 1973, S. 51 ff. u. S. 67 ff.; Brown u. Elliott 1980, S. 111 f.; Pfisterer 2002, S. 201.

26

27 Dies geschah mit besonderer Intensität durch Fumaroli 1997, S. 58 f., durch Hinweis auf sakrale Umarmungsszenen von Guido Reni und Federico Barocci, doch verweist er auch auf eine Hintergrundszene im Medicizyklus Rubens; vgl. ibid., S. 47. Dazu eine hagiographische Ergänzung durch Werner Hofmann: »Change the Purpose«. Eine Anmerkung zur »Übergabe von Breda«, in: Martin Papenbrock et al. (Hrsg.): Kunst und Sozialgeschichte. Festschrift für Jutta Held, Pfaffenweiler 1995, S. 200–204, S. 201. 28

Mayer 1924, S. 120.

29

Enrique Lafuente-Ferrari: Velázquez, Genf 1960, S. 60.

30

Georg Rudolf Weckherlin: Gedichte, Stuttgart, S. 46 ff.

31 Diego de Saavedra Fajardo: Empresas Políticas [1640] (hrsg. v. Francisco Javier Díez de Revenga), Barcelona 1988, S. 639 ff. (Empresa 96); Vosters 1973, S. 75 ff., führt das Verhalten auf den Einfluss aus dem Islam zurück.

1648. Krieg und Frieden in Europa« 1998–1999, Kat.-Nr.19 (Marloes Huiskamp). Bei Warnke 2005, S. 101, Abb. 47, ist ein Teppich aus dem 16. Jahrhundert abgebildet, der die Begegnung zweier Herrscher zeigt, wobei der Ältere dem Jüngeren den rechten Arm auf die Schulter legt. Mit offenen Armen gehen sich Spinola und Maurits von Nassau in einem Stich nach Hogenberg um 1620 entgegen; vgl. Der Westfälische Frieden. Krieg und Frieden, Ausstellungskatalog, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 1988, Kat.-Nr. 115.

32

33 Vgl. Fumaroli 1997, S. 39 f.; Wolfgang Brassat: Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun, Berlin 2003 (Studien aus dem Warburg-Haus, Bd. 6), S. 340 f.

487 | Anmerkungen zu S. 163–167

34

Kurt Gerstenberg: Velázquez, München 1957, S. 117.

Werner Hager: Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zu einer Typologie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, München 1939, S. 165. Unvermittelt heißt es dagegen bei Brassat 2003, S. 348, bei Velázquez sei »Geschichte noch nicht allein Menschenwerk, sondern gestiftet durch göttlichen Willen«; ähnlich Fumaroli 1997, S. 58, der, nachdem er fast auf jeder Seite den Realisten Velázquez gegen den Panegyriker Rubens absetzt, am Ende eine »historia sagrada« aus der Übergabe von Breda macht und einen »vierten Sinn« sowie eine »presencia invisibile de la gracia de Cristo salvador en ese cuadro de historia« annimmt.

35

Vgl. Ivan Nagel: Gemälde und Drama. Giotto – Masaccio – Leonardo, Frankfurt am Main 2009.

36

37 Victor I. Stoichita: Etikette, Psychologie, Sinnlichkeit: Diego Velázquez, in: Henrik Karge (Hrsg.): Vision oder Wirklichkeit. Die spanische Malerei der Neuzeit, München 1991, S. 122–141, S. 134. Pfisterer 2002, S. 200, spricht von einer »dramatisierenden Zuspitzung des Geschehens«; Fumaroli 1997, S. 54, von einer »escena teatral; las categorias del teatro (lo verosimil, más verdadero que el verdadero; el natural, supremo grado del arte) dieron al pintor los medios […].« 38

Zitiert nach Justi 1922–1923, Bd. 1, S. 373.

39

Vgl. Vosters 1973, S. 38 f.

Der Augenzeuge (Karin Gludovatz) 1 Vgl. Simon Groenveld: Der Friede von Münster. Die niederländische Seite des Westfälischen Friedens, Bonn 1998, S. 49; Horst Lademacher: »Ein letzter Schritt zur Unabhängigkeit«. Die Niederländer in Münster 1648, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 335–348. 2 Das Gemälde ist seit 1871 Eigentum der National Gallery, London, die es im Jahr 2000 dem Rijksmuseum in Amsterdam als Leihgabe überließ; vgl. Neil MacLaren: The Dutch School, London 1960 (National Gallery Catalogues), S. 35–41. 3 Vgl. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, 3. Teil, Maastricht 1953 (Nachdruck der Ausgabe Amsterdam 1721), S. 27. 4 Vgl. Sturla J. Gudlaugsson: Gerard Ter Borch, Den Haag 1959–1960, 2 Bde., Bd. 1, S. 18. Zu Ter Borchs Aufenthalt in Münster und seinen Kontakten vgl. Jonathan I. Israel: Art and Diplomacy: Gerard Ter Borch and the Münster Peace Negotiations, 1646–8, in: id.: Conflicts of Empires. Spain, the Low Countries and the Struggle for World Supremacy 1585–1713, London u. Rio Grande 1997, S. 93–104. 5

Vgl. Gudlaugsson 1959–1960, Bd. 1, S. 60.

6

Ibid.

7 Zu diesem Themenfeld vgl. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers [1985], Köln 1996, besonders S. 99 ff. 8 Vgl. Gudlaugsson 1959–1960, Bd. 1, S. 60. Auf die hohe Wertschätzung des Malers bezieht sich (topisch) auch Houbraken 1953, S. 28. 9 Dieser Vermutung liegt die Erwähnung eines solchen Bildnisses bei Houbraken zugrunde; vgl. Houbraken 1953, S. 28. Er überliefert, Ter Borch sei mit dem Grafen nach dem Abschluss der Verhandlungen nach Spanien gegangen und hätte dort am Hof das Wohlwollen des Königs gewonnen, der ihn für seine Verdienste in den Ritterstand erhoben habe. Tatsächlich blieb Peñaranda noch einige Jahre in Brüssel bis er 1651 nach Madrid zurückkehrte, wohingegen Ter Borch bereits im Herbst 1648 wieder in den Niederlanden nachweisbar ist; vgl. Gudlaugsson 1959–1960, Bd. 1, S. 86. Gudlaugsson

488 | Anmerkungen zu S. 169–174

nahm ein Porträt des Königs in sein Werkverzeichnis auf (ibid., Bd. 2, Kat.-Nr. 9), das er für eine Kopie nach Ter Borchs verschollenem Original hielt. 10 Gutlaugsson 1959–1960, Bd. 1, S. 56 f.; Gerard Ter Borch. Zwolle 1617, Deventer 1681, Ausstellungskatalog, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 1974, S. 84.

Zitiert nach Fritz Dickmann: Der Westfälische Frieden, Münster, 8. Auflage 1998, S. 606; zum Ablauf der Zeremonie vgl. ibid., S. 468 ff.; Alison McNeil Kettering: Gerard Ter Borchs »Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster« als Historienbild, in: Klaus Bußmann u. Heinz Schilling (Hrsg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa, Ausstellungskatalog, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Kulturgeschichtliches Museum, Osnabrück 1998–1999, 3 Bde., Bd. 2, S. 605–614, S. 605. 11

12 Die originale Ausstattung ist auch heute noch im sogenannten »Friedenssaal« zu sehen. Sie konnte, nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs ausgelagert war, 1948 wieder in den rekonstruierten Raum eingebaut werden. Nur die Madonnenfigur des Leuchters wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch eine andere Skulptur ersetzt. 13

Vgl. Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, S. 160.

Zu den Selbstbildnissen vgl. Gudlaugsson 1959–1960, Bd. 2, Kat.-Nr. 172, Kat.-Nr. 232 u. Kat.-Nr. 267.

14

15 Vgl. Jonathan I. Israel: The Dutch Republic and the Hispanic World 1606–1661, Oxford 1982, S. 347 ff. 16 Vgl. Alois Riegl: Das holländische Gruppenporträt, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 23/1902, S. 71–278.

Vgl. Alison McNeil Kettering: Gerard Ter Borch and the Treaty of Münster, Ausstellungskatalog, Mauritshuis, Den Haag 1998, S. 37.

17

18 Vgl. C. J. A. Genders: De Bevestiging van de Vrede van Munster, 1648, door Gerard Ter Borch, in: Spiegel historiael 8/1973, S. 642–650, S. 649. 19 In einem Dokument vom 30. Dezember 1650 beschloss der Stadtrat von Kampen den Ankauf von 23 Exemplaren des Stichs zu ein Preis von 100 Gulden; vgl. Gudlaugsson 1959–1960, Bd. 2, S. 20.

Vgl. McNeil Kettering 1998, S. 54, Kat.-Nr. 17: »Icon exactissima. Qua ad vivum exprimitur solennis conventus legatorum plenipotentariorum hispaniarum regis Philippi IV. et ordinum / generalium faederati Belgii, qui pacem perpetuam paullo ante sancitam, extraditis utrinque instrumentis, iuramento confirmarunt. Monasterii Westphalorum in domo senatoria. Anno MD CXL VIII. Idibus maii.« 20

21 Vgl. McNeil Kettering 1998, S. 612. Er verlangte 6.000 Gulden für das Gemälde, Rembrandts monumentale Nachtwache hatte 1642 einen Preis von 1.600 Gulden erzielt.

Die Personalisierung der Geschichte (Hendrik Ziegler) 1 Vgl. Camille Rousset: Histoire de Louvois, Paris 1862–1863, 4 Bde, Bd. I, S. 348 ff.; Ernest Lavisse: Louis XIV, la religion, les lettres et les arts, la guerre (1643–1685), Paris 1906 (Histoire de France des origines à la Révolution, Bd. VII,2), S. 309 ff.; François Bluche: Louis XIV, Paris 1986, S. 364 ff.; vgl. auch wichtige ältere Darstellungen: Lettres historiques de Monsieur Pellisson, Paris 1729, 2 Bde., Bd. I, S. 133 ff.; François-Marie Arouet gen. Voltaire: Le siècle de Louis XIV [1751], in: id.: Œuvres historiques (hrsg. v. René Pomeau), Paris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 128), S. 605–1274, S. 715 ff.

489 | Anmerkungen zu S. 174–187

2 Vgl. François Auguste Mignet: Négociations relatives à la succession d’Espagne sous Louis XIV, Paris 1835–1842, 4 Bde., Bd. III, S. 710; hier zitiert nach Wolfgang Cilleßen: Vorboten des Krieges. Politische Graphik und Bildsatire im späten 17. Jahrhundert, in: id. (Hrsg.): Krieg der Bilder. Druckgraphik als Medium politischer Auseinandersetzung im Europa des Absolutismus, Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum, Berlin 1997–1998, S. 11–35, S. 25, Anm. 81. 3 Vgl. Dictionnaire du Grand Siècle (hrsg. v. François Bluche), Paris 1990, S. 470–471, s. v. »Dévolution (La guerre de)« (Jean Bérenger). 4 Vgl. Gerard van Loon: Histoire métallique des XVII provinces des Pays-Bas, depuis l’abdication de Charles Quint jusqu’à la paix de Bade en 1716, Den Haag 1732–1737, 5 Bde., Bd. III, S. 21 f.; vgl. Krieg der Bilder 1997–1998, S. 238 f. Nach Loon lautet die vollständige Inschrift, die noch in Bezug auf das Versailler Deckengemälde interessant wird: »Assertis legibus. / Emendatis sacris. / Adjutis defensis. / Conciliatis regibus. / Vindicata marium libertate. Pace egregia virtute armorum parta. / Stabilita orbis europæi / Quiete. / Numisma hoc. / Senatus Fœderati Belgii Cudi Fecit / MDCLXVIII« (»Diese Medaille hat der Staatsrat der Vereinigten Niederlande schlagen lassen, nachdem die Wahrung der Gesetze gesichert, die Religion reformiert, den Verbündeten beigestanden, die Könige versöhnt, die Freiheit der Meer wiederhergestellt, ein fruchtbarer Frieden durch die Tugend der Waffen erzwungen und die Ruhe in Europa wiederhergestellt worden ist«).

Vgl. Dictionnaire du Grand Siècle 1990, S. 685–687, s. v. »Guerre de Hollande« (Jean Bérenger).

5

6 Vgl. Fabian Stein: Charles Le Brun. La tenture de l’Histoire du Roy, Worms 1985 (Manuskripte zur Kunstwissenschaft, Bd. 4), S. 121 ff.; Gérard Sabatier: Versailles ou la figure du roi, Paris 1999, S. 359, Anm. 51. 7 Vgl. Lorenz Seelig: Studien zu Martin van den Bogaert gen. Desjardins (1637–1694), Altendorf 1980, S. 123, Anm. 477. 8 Vgl. Donald Posner: Charles Lebrun’s »Triumph of Alexander«, in: Art Bulletin 41/1959, S. 237– 248, S. 242; Thomas Kirchner: Paradigma der Gegenwärtigkeit. Schlachtenmalerei als Gattung ohne Darstellungskonventionen, in: Stefan Germer u. Michael F. Zimmermann (Hrsg.): Bilder der Macht, Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München 1997 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, Bd. 12), S. 107–124, S. 109, Abb. 26.

Vgl. Laure Starky: Le passage du Rhin. L’épopée d’une traversée, in: A la gloire du roi. Van der Meulen, peintre des conquêtes de Louis XIV (hg. v. id. u. Danièle Wagener), Ausstellungskatalog, Musée des Beaux-Arts, Dijon 1998, S. 149 ff. u. S. 156 (Kat.-Nr. 42 D).

9

10 Vgl. ibid., S. 152 ff. (Kat.-Nr. 40–41). Im Jahr 1688 fertigte Charles Louis Simonneau einen Stich nach der heute im Louvre befindlichen Fassung (Kat.-Nr. 41); vgl. ibid., S. 150, Abb. 67; vgl. auch Isabelle Richefort: Adam-François van der Meulen (1632–1690). Peintre flamand au service de Louis XIV, Rennes 2004, S. 88 ff., S. 232 f. u. S. 244. 11 Vgl. Stein 1985, S. 119 ff., S. 154 ff., S. 263 u. S. 271 ff.; Starcky 1998, S. 149 ff.; Sabatier 1999, S. 361. 12 Vgl. Josèphe Jacquiot: Médailles et jetons de Louis XIV d’après le manuscrit de Londres add. 31.908, Paris 1968, 4 Bde., Bd. II, S. 264, Taf. L (1–3), S. 266, Taf. L (4) u. S. 267 f., Anm. 3; La Médaille au temps de Louis XIV, Ausstellungskatalog, Hôtel de la Monnaie, Paris 1970, S. 51 f. (Kat.-Nr. 86), S. 159 f. (Kat.-Nr. 235) u. S. 268 f. (Kat.-Nr. 359); François Souchal: French Sculptors of the 17th and 18th Centuries. The Reign of Louis XIV. Illustrated Catalogue, Oxford 1977–1993, 4 Bde., Bd. I, S. 25 ff. (Kat.-Nr. 17); Bd. III, S. 246 f. (Kat.-Nr. 18); Seelig 1980, S. 121 ff. (Kat.-Nr. XLV/80) u. S. 499; Thomas Kirchner: Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 2001, S. 419, Abb. 103, S. 420, Abb. 105; Kurfürst Max Emanuel. Bayern

490 | Anmerkungen zu S. 187–193

und Europa um 1700, Ausstellungskatalog, Altes und Neues Schloß, Schleißheim 1976, 2 Bde., Bd. II, S. 32 (Kat.-Nr. 62); Sabatier 1999, S. 171, Abb. 48, S. 362, Abb. 132; Christoph Daniel Frank: The Mechanics of Triumph. Public, Ceremony and Civic Pageantry under Louis XIV, Phil. Diss., Warburg Institute, London 1993, 2 Bde, Bd. I, S. 156. Nicolas und Guillaume Coustou: Ludwig XIV. beim Rheinübergang, Marmorrelief, 1715–1738, ursprünglich für den Salon de la Guerre in Versailles bestimmt, doch erst seit den 1830er Jahren im Vestibül der Kapelle von Versailles aufgestellt; vgl. Souchal 1977–1993, Bd. I, S. 173 (Kat.-Nr. 67); Bénigne Gagnereaux: Le Passage du Rhin, 1790, Dijon, Musée des Beaux-Arts; vgl. Starcky 1998, S. 149, Abb. 66. 13

14

Vgl. Voltaire 1957, S. 715 ff.

15

Ausführlich zum gesamten Deckenprogramm vgl. Sabatier 1999, S. 290 ff.

16 Es handelt sich um Résolution prise de faire la guerre aux Hollandais 1671, Le roi arme sur terre et sur mer, 1672 und Le roi donne ses ordres pour attaquer en même temps quatre des plus fortes places de la Hollande, 1672; vgl. L’Objet d’Art. Dossier de l’Art 66/2000 (Sonderheft »Versailles. La Galerie des Glaces«), S. 40 ff. u. S. 61 f.

Vgl. Sabatier 1999, S. 259 ff.; Nicolas Milovanovic: Les inscriptions dans le décor de la galerie des glaces à Versailles: nouvelles découvertes, in: Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions 1/2005, S. 279–306; Florence Vuilleumier Laurens u. Pierre Laurens: Les inscriptions de la galerie: une »épigraphie de la gloire«, in: La Galerie des Glaces. Histoire et restauration, Dijon 2007, S. 172 ff. u. S. 404 ff. (Anhang 12).

17

18 Die folgende Beschreibung verdankt sich wesentlich den Ausführungen von Sabatier 1999, S. 357 ff.; vgl. L’Objet d’Art. Dossier de l’Art 66/2000 (Sonderheft »Versailles. La Galerie des Glaces«), S. 34 f.; Lydia Beauvais: Histoire allégorisée des dix-huit premières années du règne de Louis XIV, in: La Galerie des Glaces. Histoire et restauration 2007, S. 214 ff. 19 Sabatier übersieht, dass es sich bei der Inschrift des Schildes der Hollandia um die der Gedenkmedaille auf den Frieden von Aachen handelt; vgl. Sabatier 1999, S. 359; vgl. auch Micolas Milovanovic: Le portrait du roi: Louis XIV dans le décor de la galerie des Glaces, in: La Galerie des Glaces. Histoire et restauration 2007, S. 142–153, S. 150 f. 20 Grundlegend zu den von den Hofkünstlern Ludwigs XIV. entwickelten Strategien der Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse vgl. Kirchner 1997, S. 119; id. 2001, S. 395 ff.; Wolfgang Brassat: »Les exploits de Louis sans qu´en rien tu les changes«. Charles Perrault, Charles Le Brun und das Historienbild der »Modernes«, in: Germer u. Zimmermann 1997, S. 125–139; Micolas Milovanovic: Le système iconographique: un édifice symbolique, in: La Galerie des Glaces. Histoire et restauration 2007, S. 120–133. 21 Zum gottgleichen Porträt vgl. Uwe Fleckner: Bildnis, theomorphes, in: id., Martin Warnke u. Hendrik Ziegler (Hrsg.): Handbuch der politischen Ikonographie, München 2011, 2 Bde., Bd. 1, S. 162–169. 22 Vgl. Jennifer Montagu: Le Brun’s Early Designs for the Grande Galerie: Some Comments on the Drawings, in: Gazette des beaux-arts 120/1992, S. 195–206; zu den Vorzeichnungen und Entwürfen aus dem im Louvre verwahrten Nachlass des Künstlers vgl. Lydia Beauvais et al.: Musée du Louvre, Département des arts graphiques, Inventraire général des dessins. École française: Charles Le Brun 1619–1690, Paris 2000, 2 Bde., Bd. I, S. 194 ff. (Kat.-Nr. 615–666).

Zu dieser Entscheidung vgl. die Lebensbeschreibung Le Bruns aus der Hand von dessen Schüler Claude Nivelon: Vie de Charles le Brun et description détaillée de ses ouvrages. Édition critique (hrsg. v. Lorenzo Pericolo), Genf 2004 (Hautes Études médiévales et modernes, Bd. 86), S. 487.

23

491 | Anmerkungen zu S. 193–196

24 Brief von Matthew Prior an Charles Montague, 8.–18. Februar 1698, in: Historical Manuscripts Commission (Hrsg.): Calendar of the Manuscripts of the Marquis of Bath Preserved at Longleat, Wiltshire, Hereford 1904–1908, 3 Bde., Bd. III, S. 192; hier zitiert nach Charles Kenneth Eves: Matthew Prior. Poet and Diplomatist, Columbia 1939 (Columbia University Studies in English and Comparative Literature, Bd. 144), Reprint New York 1973, S. 110 f. In freier deutscher Übersetzung lautet das Zitat: »Seine Residenz in Versailles ist eine der verrücktesten Dinge in dieser Welt; Ludwig XIV. streift durch jedes Gemälde, und an jeder Decke galoppiert er einem über den Kopf; und wenn er sich umdreht, um zu spucken, muß er sich selbst in der Form seines Stellvertreters sehen, der Sonne, mit sufficit orbi oder nec pluribus impar als Beischriften. Ich glaube wirklich, daß es von ihm mehr als 200 Statuen, Büsten, Basreliefs und Gemälde in Haus und Garten von Versailles gibt.« 25 Leonhard Christoph Sturms durch einen großen Theil von Teutschland und den Niederlanden bis nach Paris gemachte Architectonische Reise-Anmerckungen, zu der vollständigen Geldmannischen Bau-Kunst VIten Theil als ein Anhang gethan, damit so viel in des Auctoris Vermogen stehet, nichts an der Vollständigkeit des Wercks ermangle [1719], Augsburg 1760, S. 121. 26

Vgl. Abbé Du Bos: Réflexions critique sur la poésie et sur la peinture, Paris 1993, S. 68 f.

Louis-Sébastien Mercier: L’an deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut jamais, hg. v. Raymond Trousson, Paris 1971, S. 308; Übersetzung zitiert nach Fleckner 2011, S. 167. Mercier bezieht sich hier allerdings nicht auf die Darstellung des Passage du Rhin, sondern auf das Deckengemälde Prise de la ville de la citadelle de Gand en six jours, 1678.

27

28 Vgl. Dominik Bartmann: Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1985, S. 96 ff.; Anton von Werner. Geschichte in Bildern (hrsg. v. Dominik Bartmann), Ausstellungskatalog, Berlin Museum u. Deutsches Historisches Museum, Berlin 1993, S. 332 ff.; Thomas W. Gaehtgens: Anton von Werner. Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik, Frankfurt a. M 1990 (Kunststück). 29

Vgl. Bartmann 1985, S. 103 ff.; Gaehtgens 1990, S. 47 f.

Vgl. Anton von Werner 1993, S. 315; Marianne und Germania 1789–1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – Eine Revue (hrsg. v. Marie-Louise von Plessen), Ausstellungskatalog, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1996–1997, S. 455, Kat.-Nr. 13/8; vgl. G. Schucht: Fotografie der Feststraße zum Einzug Kaiser Wilhelms I. mit den deutschen Truppen in Berlin am 16. Juni 1871, 1871, Berlin, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz; ibid., S. 456, Kat.-Nr. 13/9.

30

31 Vgl. Hendrik Ziegler: Herrenchiemsee: pourquoi Louis II de Bavière copie la Grande Galerie de Versailles après la guerre franco-allemande, in: Les grandes galeries européennes XVIIe–XIXe siècles (hrsg. v. Claire Constans u. Matthieu Da-Vinha), Actes du colloque, 2007, Versailles, Centre de recherche du château de Versailles, Paris 2010 (Collection Aulica), S. 353–373.

Die handelnde Menge (Wolfgang Kemp) Zum Werk allgemein vgl. Philippe Bordes: Le Serment de Jeu de Paume de Jacques-Louis David, Paris 1983; zur Ikonographie der Menge Gemälde sowie in der Revolutionsgraphik vgl. Wolfgang Kemp: Das Bild der Menge, in: Städel-Jahrbuch 4/1973, S. 249–270; id.: Volksmenge, in: Uwe Fleckner, Martin Warnke u. Hendrik Ziegler: Handbuch der politischen Ikonographie, München 2011, 2 Bde., Bd. 2, S. 521–529.

1

2 Übersetzt nach Le serment du jeu de paume. Fac-similé du texte et des signatures d’après le procèsverbal manuscrit conservé aux Archives nationales, Paris 1893, Taf. I. 3

Alexandre Dumas: Ange Pitou [1850–1851], Paris 1860 (Œuvres complètes), 2 Bde., Bd. 1, S. 150.

492 | Anmerkungen zu S. 197–204

Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Rhetorik der französischen Revolution, München 1978; Éric Négrel: Une expérience rhétorique: l’éloquence de la Révolution, Oxford 2002.

4

5 Vgl. Wolfgang Kemp: Einleitung, in: Der einzelne und die Masse. Kunstwerke des 19. und des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Ruhrfestspiele Recklinghausen 1975, unpag.

Zu dieser Darstellungstradition vgl. Jutta Held: Monument und Volk. Vorrevolutionäre Wahrnehmung in Bildern des ausgehenden Ancien Régime, Köln u. Wien 1990, S. 327 ff.; Annette Graczyk (Hrsg.): Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996; zur politischen Ikonographie von Volk und Nation vgl. Susanne von Falkenhausen: Das Bild des Volkes – Vom Zentralismus zur Totalität in Italien und Deutschland, in: Oliver Janz, Pierangelo Schiera u. Hannes Siegrist (Hrsg.): Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000, S. 137–162; aus historischer Sicht vgl. George Rudé: Die Massen in der Französischen Revolution, München 1961; Lynn Hunt: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt am Main 1989.

6

Vgl. Klaus Herding u. Rolf Reichardt: Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt am Main 1989, S. 8 ff., S. 52 ff., S. 104 ff. u. S. 146 f.; zur Ikonographie der Stände vgl. Andrea Pühringer: Stände, in: Fleckner, Warnke u. Ziegler 2011, Bd. 2, S. 395–401.

7

8 Zum Begriff »Einheitssemantik« vgl. Gábor Kiss: Nation als Formel gesellschaftlicher Einheitssymbolisierung, in: Jörg-Dieter Gauger u. Justin Stagl (Hrsg.): Staatsrepräsentation, Berlin 1992, S. 105–130; zu den stark differierenden Deutungen der Figur des Trägers von Maupetit de la Mayenne vgl. Richard Wrigley: Le Serment du Jeu de paume de Jacques-Louis David et la Représentation de l’homme du peuple en 1791, in: Revue de l’art 141/2003, S. 9–24; dort auch die neuere Literatur zum Schwur im Ballhaus. 9 Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat social ou Principes du droit politique, Amsterdam 1758, III, 15, Abs. 5. 10 Vgl. Philippe Bordes: Le recours à l’allégorie sous la Révolution française, in: Michel Vovelle (Hrsg.): Image de la Révolution française, Paris 1986, S. 243–250; Antoine de Baecque: Le corps du politique, in: Régis Michel (Hrsg.): David contre David. Actes du colloque organisée au Musée du Louvre par le Service culturel du 6 au 10 décembre 1989, Paris 1993, 2 Bde., Bd. 2, S. 27–53. 11

Bordes 1983, S. 54.

Vgl. Wolfgang Kemp: Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David. Eine neue Interpretation des »Schwurs im Ballhaus«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21/1986, S. 165–184, wieder abgedruckt in: Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp (hrsg. v. Kilian Heck und Cornelia Jöchner), München u. Berlin 2006, S. 99–121.

12

13

Armand-Guy Kersaint: Discours sur les monuments publics, Paris 1792, S. 56.

Der Tag danach (Gerrit Walczak) 1 Vgl. David O’Brien: After the Revolution. Antoine-Jean Gros, Painting and Propaganda under Napoleon, University Park 2006, S. 155 ff.; Christopher Prendergast: Napoleon and History Painting. Antoine-Jean Gros’s »La Bataille d’Eylau«, Oxford 1997, S. 117 ff.; Martina Hansmann: Zum Verhältnis von Innovation und Tradition in Gros’ »Napoleon auf dem Schlachtfeld bei Preußisch-Eylau«. Schilderung und Interpretation historischer Realität im Auftrag Napoleons, in: Stefan Germer u. Michael F. Zimmermann (Hrsg.): Bilder der Macht, Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München 1997 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, Bd. 12), S. 157–175; Manfred Heinrich Brunner: Antoine-Jean Gros. Die Napoleonischen Historienbilder, Phil. Diss. Bonn 1979, S. 233 ff.

493 | Anmerkungen zu S. 204–211

2 Zur detaillierten Rekonstruktion des Kampfgeschehens vgl. Francis Loraine Petre: Napoleon’s Campaign in Poland, 1806–1807 [1907], London 2001, S. 161 ff. 3

Vgl. O’Brien 2006, S. 158.

4

Vgl. Prendergast 1997, S. 129 f.

5

Pierre-François Percy: Journal des campagnes [1904], Paris 2002, S. 165.

6

Alfred-Armand-Robert de Saint-Chamans: Mémoires, Paris 1896, S. 60 f.

7

Zitiert nach Petre 2001, S. 201.

8

Zitiert nach O’Brien 2006, S. 158 f.

Vgl. Marc Gerstein: Denon et la politique des concours, in: Daniela Gallo (Hrsg.): Les vies de Dominique-Vivant Denon. Actes du colloque, Paris 2001, 2 Bde., Bd. II, S. 347–364.

9

10 Vgl. Susan L. Siegfried: The Rhetoric of Military Painting in Postrevolutionary France, in: Art Bulletin 75/1993, S. 235–258. 11

Zitiert nach Brunner 1979, S. 263.

12 Aus Denons Aufruf zum Wettbewerb vom 7. März 1807, zitiert nach Pierre Lelièvre: Vivant Denon, homme des lumières, »ministre des arts« de Napoléon, Paris 1993, S. 169. 13

Zitiert nach ibid.

14

Zitiert nach ibid.

15

Zitiert nach ibid.

16

Vgl. Prendergast 1997, S. 18 f.

17

Zitiert nach Lelièvre 1993, S. 169.

18

Zitiert nach Hansmann 1997, S. 165.

Das Pathos der Sinnlosigkeit (Werner Busch) 1 Der vorliegende Beitrag folgt teilweise der Behandlung des Bildes bei Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 95–113. 2

Valentín de Sambricio: Tapices de Goya, Madrid 1946, Dok. 225.

Zu den historischen Ereignissen vgl. Goya and the Spirit of Enlightenment (hrsg. v. Alfonso E. Pérez Sánchez u. Eleanor A. Sayre), Ausstellungskatalog, Museo del Prado, Madrid / Museum of Fine Arts, Boston / Metropolitan Museum of Art, New York 1989; Francis D. Klingender: Goya in the Democratic Tradition [1948], New York 1968; Jutta Held: Francisco de Goya in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980. 3

4 Vgl. Pierre Gassier u. Juliet Wilson: The Life and Complete Work of Francisco Goya, with a Catalogue Raisonné of the Paintings, Drawings, and Engravings, New York 1971, Kat.-Nr. 896. 5 Vgl. Werner Hofmann: Traum, Wahnsinn und Vernunft. Zehn Einblicke in Goyas Welt, in: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen. 1789–1830, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle 1980–1981, S. 50–238, S. 117–121.

494 | Anmerkungen zu S. 213–225

6 Vgl. John R. Martin: The Decorations for the Pompa Introitus Ferdinandi, Brüssel 1972 (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, Bd. 16); Peter Paul Rubens 1577–1640 (hrsg. v. Gerhard Bott), Ausstellungskatalog, Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1977, S. 98–108. 7

Vgl. Fred Licht: Goya. Beginn der modernen Malerei [1979], Düsseldorf 1985, S. 123 f.

8 Vgl. Folke Nordström: Goya, Saturn and Melancholy, Stockholm, Göteborg u. Uppsala 1962 (Acta Universitatis Upsaliensis. Figura Nova Series), S. 178.

Die Übernahme aus der populären Graphik beobachtete zuerst Ernst H. Gombrich: Meditations on a Hobby Horse and Other Essays on the Theory of Art [1953], London u. New York 1971, S. 124–126.

9

Schiffbruch des Zuschauers (Gregor Wedekind) 1

Anonym: ohne Titel, in: Journal des Débats, 8. September 1816, S. 3.

Johannes Zeilinger hat die marinegeschichtlichen Hintergründe des Schiffbruchs erhellt und darauf hingewiesen, dass einer der ersten Amtshandlungen Dubouchages zu Beginn der zweiten Restauration im Sommer 1815 darin bestand, vierhundert Offiziere der napoleonischen Flotte zu entlassen, womit er, die Dummheit der Jakobiner wiederholend, die eigene Marine mit einem Federstrich um kompetente Führung brachte, vgl. Johannes Zeilinger: Der Tod der Medusa, in: Jean-Baptiste Henri Savigny u. Alexandre Corréard: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa, Berlin 2005, S. 139–189, S. 143 f. 2

3 Vgl. Jean-Baptiste Henri Savigny u. Alexandre Corréard: Naufrage de la Frégate La Méduse, faisant partie de l’expédition du Sénégal en 1816; relation contenant les événemens qui ont eu lieu sur le radeau, dans le désert de Sahara, à Saint-Louis et au camp de Daccard; suivie d’un examen sous les rapports agricoles de la partie occidentale de côte d’Afrique, depuis le Cap-Blanc jusqu’à l’embouchure de la Gambie, Paris 1817; weitere überarbeitete Auflagen erschienen 1818 und 1821. Die französische Originalausgabe wurde nach ihrem Erscheinen sogleich ins Englische und Deutsche übersetzt; vgl. J. B. Henry Savigny u. Alexander Corréard: Narrative of a voyage to Senegal in 1816, undertaken by order of the French government, comprising an account of the shipwreck of the Medusa, London 1818; J. B. Heinrich Savigny u. Alexander Correard: Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal im Jahr 1816, Leipzig 1818 (Reprint Berlin 2005). 4 Vgl. Charles Clément: Géricault. Étude biographique et critique avec le catalogue raisonné de l’œuvre du maître [1879], Paris 1973, S. 129. 5 Vgl. Clément 1973, S. 130. Dass Géricault sich ein Modell des Floßes bauen ließ, wird erstmals 1830 erwähnt; vgl. Biographie universelle et portative des contemporains (hrsg. v. Claude-Augustin Vieilh de Boisjoslin), Paris 1830, 4 Bde., Bd. 2, s. v. Géricault (Jean-Louis-Théodore-André), S. 1861–1863, S. 1862.

Louis Batissier: Vie de Géricault [1841], in: Géricault. Raconté par lui-même et par ses amis, Genf 1947, S. 23–70, S. 42.

6

Vgl. Lorenz Eitner: Géricault’s Raft of the Medusa, London 1972; Benedict Nicolson: »The Raft« from the point of view of subject-matter, in: Burlington Magazine 96/1954, S. 241–249.

7

Vgl. Charles Blanc: Études sur les peintres français. Géricault, in: Le National, 28. August 1842, S. 1–2; 30. August 1842, S. 1–3, S. 1.

8

Vgl. Hugh Honour: L’image du noir dans l’art occidental. De la Révolution américaine à la Première Guerre mondiale, Paris 1989, 2 Bde., Bd. 1, S. 119 ff.; Albert Boime: Géricault’s African Slave Trade and the Physiognomy of the Oppressed, in: Géricault (hrsg. v. Régis Michel), Paris 1996 (Conférences et colloques du Louvre), 2 Bde., Bd. 2, S. 561–593; Albert Alhadeff: The Raft of the Medusa. Géricault,

9

495 | Anmerkungen zu S. 228–242

Art, and Race, München et al. 2002, S. 185; Darcy Grimaldo Grigsby: Extremities. Painting Empire in Post-Revolutionary France, New Haven u. London 2002, S. 224. 10 Vgl. Louis Brault: Ode. Sur le désastre de la frégate la Méduse, in: Le Mercure de France, 10. Januar 1818, S. 49–53, S. 50. 11 Vgl. Jules Michelet: Cours de 1848. Cinquième leçon, in: Cours au Collège de France 1838–1851 (hrsg. v. Paul Viallaneix), Paris 1995 (Bibliothèque des Histoires), 2 Bde., Bd. 2, S. 319–329, S. 324.

Anonym: Exposition de 1819. Deuxième article, in: Gazette de France, Nr. 243, 31. August 1819, S. 1050.

12

13 Charles Paul Landon: Salon de 1819, Paris 1819 (Annales du Musée et de l’École Moderne des Beaux-Arts), 2 Bde., Bd. 1, S. 65–67, S. 67.

Savigny u. Corréard 1817, S. 143 f.; deutsche Übersetzung zitiert nach Savigny u. Corréard 2005, S. 70 f.

14

Zu dieser Figur vgl. zuletzt: Bruno Chénique: Ein kannibalisches Kaiserreich. Politische Symbole in Théodore Géricaults »Floß der Medusa«, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 2005 bis 2007 (hrsg. v. Uwe Fleckner u. Hubertus Gaßner), Hamburg 2009, S. 61–77. 15

16 Vgl. Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa, in: id.: Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang, Basel u. Frankfurt am Main 1995, S. 9–74, S. 16. 17

Anonym: L’Observateur au Salon. Critique des tableaux en vaudeville, Paris 1819, S. 10.

Vgl. Lorenz Eitner: Géricault. His Life and Work, London 1983; S. Martial Guédron: La Plaie et le Couteau. La sensibilité anatomique de Théodore Géricault (1791–1824), Paris 1997, S. 94; Norman Bryson: Géricault and »Masculinity«, in: id., Michael Ann Holly u. Keith Moxey (Hrsg.): Visual Culture. Images and Interpretations, Hanover u. London 1994, S. 228–259, S. 256.

18

Savigny u. Corréard 1817, S. 94; deutsche Übersetzung zitiert nach Savigny u. Corréard 2005, S. 73.

19

20

Vgl. Georges Bordonove: Le Naufrage de la Méduse, Paris 1973, S. 279.

Zitiert nach Henri Delaborde: Ingres. Sa vie, ses travaux, sa doctrine d’après les notes manuscrites et les lettres du maître, Paris 1870, S. 166 f.

21

22

Anonym: Wreck of the Medusa, in: The Literary Gazette, 10. Juni 1820, Nr. 177, S. 380.

23

Bryson 1994, S. 256.

24 Brief von Théodore Géricault an Jean-Jacques de Montcimet de Musigny, Ende August / Anfang September 1819; zitiert nach Bruno Chenique: Les cercles politiques de Géricault (1791–1824), Lille 1998, 2 Bde., Bd. 2, S. 513 f. 25 Vgl. Martha C. Nussbaum: Upheavel of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge et al., 7. Auflage 2007, S. 297–454, S. 317 ff. 26

Vgl. Aristoteles: Poetik (hrsg. v. Manfred Fuhrmann), Stuttgart 1982, S. 39 (1452b).

27

Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1997, S. 31.

28

Vgl. ibid., S. 34.

Voltaire: Zadig, ou la destinée. Histoire orientale [1743], in: id.: Œuvres complètes, Bd. 64, Zweibrücken 1792, S. 3–106, S. 98; vgl. Blumenberg 1997, S. 39 f.

29

Vgl. Henning Ritter: Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid, München 2004, S. 125 f.

30

496 | Anmerkungen zu S. 242–250

Vgl. Jean Jacques Rousseau: Discours sur l’origine, et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes [1754], in: id.: Œuvres complètes, Bd. 3 (hrsg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond u. Jean Starobinski), Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 109–223, S. 154 ff.

31

Vgl. Jean Jacques Rousseau: Rousseau juge de Jean Jacques, in: id.: Œuvres complètes, Bd. 1 (hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond), Paris 1959 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 657–992, S. 936.

32

33 Mme. de Staël: Delphine (hrsg. v. Béatrice Didier), Paris 2000, 2 Bde., Bd. 1, S. 247. Der Hinweis auf diese Passage findet sich, allerdings ohne jeden Verweis auf Lukrez und die damit verknüpften ästhetischen Diskussionen, bei Bruno Chenique: Le Radeau de la Méduse ou l’avenir du monde, in: FMR 20/2007, S. 6–40, S. 26.

Brief von Eugène Delacroix an Félix Guillemardet, 2. November 1819, in: id.: Lettres intimes (hrsg. v. Alfred Dupont), Paris 1954, S. 102–106, S. 105.

34

Brief von Ary Scheffer an Mme. Destutt de Tracy, 25. September 1819; zitiert nach Bruno Chenique: Géricault, le Radeau de la Méduse et l’idéologie du seul but d’art, in: Histoire et Anthropologie 18–19 / 1999, S. 147–183, S. 183.

35

36 Das ist Werner Hager entgegenzuhalten, der das moderne Ereignisbild als Sieg der an die Geschichtsgebundenheit der Lebensmächte glaubenden Weltanschauung über die symbolisch-metaphysische versteht. Die Ausfaltung des Geschichtlichen und eine Deutung der Geschichte vom Jenseits der Dinge her, stehen nicht, wie Hager will, in Opposition zueinander, sondern sind aufs engste miteinander verschränkt und bedingen sich gegenseitig; vgl. Werner Hager: Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zu einer Typologie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, München 1939, S. 165 f.

Vom Ereignisbild zum Bild-Ereignis (Sabine Slanina) 1 Vgl. Nicos Hadjinicolaou: »Die Freiheit führt das Volk« von Eugène Delacroix. Sinn und Gegensinn, Dresden 1991.

Vgl. ibid., S. 29 ff.; Werner Hofmann (Hrsg.): Kunst, was ist das?, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle 1977, S. 178.

2

Vgl. Arlette Sérullaz u. Vincent Pomarède: Eugène Delacroix. La Liberté guidant le peuple, Paris 2004 (Collection solo, Bd. 28), S. 56 ff.

3

4

Vgl. Alain Daguerre de Hureaux: Delacroix. Das Gesamtwerk [1993], Stuttgart 1994, S. 88.

5 Vgl. Michael Marrinan: Painting Politics for Louis-Philippe. Art and Ideology in Orléanist France, 1830–1848, New Haven u. London 1988, S. 53; Elisabeth A. Fraser: Delacroix, Art and Patrimony in Post-Revolutionary France, Cambridge 2004, S. 4.

Vgl. Archives du Louvre, copie enregistrée le 11 avril 1855, zitiert nach Hélène Toussaint: »La Liberté guidant le peuple« de Delacroix, Paris 1982 (Les dossiers du département des peintures), S. 62: »Cet ouvrage qui est la représentation d’un fait appartenant à l’histoire n’avait pas paru à l’Ancien Gouvernement devoir être mis sous les yeux d’une génération qui est loin d’avoir répudié les conséquences de cet événement. Il m’a semblé que sous un gouvernement puissant, issu lui-même d’une grande manifestation nationale, ce tableau pouvait être tiré de l’oubli.«

6

Ibid., S. 62: »J’espère que vous avez bien voulu transmettre à S.A.I. [Son Altesse Impériale] les hautes raisons qui, a mon point de vue, s’opposent à l’exposition d’un tableau représentant la liberté en bonnet rouge au sommet d’une barricade et des soldat français foulés aux pieds de l’emeute.«

7

Ich beziehe mich mit dieser Assoziation insbesondere auf Herdings Ausführungen über die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich durchaus weit verbreitete metaphorische Lektüre

8

497 | Anmerkungen zu S. 250–257

des Meeres als Volk; Klaus Herding: Egalität und Autorität in Courbets Landschaftsmalerei«, in: StädelJahrbuch 5/1975, S. 159–199, S. 182. Vgl. besonders Günter Busch: Eugène Delacroix. Die Freiheit auf den Barrikaden, Stuttgart 1960 (Werkmonographien zur bildenden Kunst, Bd. 52), S. 7 ff.

9

10 Zitiert nach Lee Johnson: The Paintings of Eugène Delacroix. A Critical Catalogue, Oxford 1981–2002, 7 Bde., Bd. 2, S. 149. 11 Zum Verlauf der Juli-Revolution siehe insbesondere die konzise Zusammenfassung bei Marrinan 1988, S. 27 ff. 12 Wolfgang Kemp: Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983, S. 54. 13

Vgl. Charles Blanc: Les artistes de mon temps, Paris 1876, S. 46.

Alexandre Dumas: Causerie sur Eugène Delacroix et ses œuvres faite par Alexandre Dumas le 10 décembre 1864 dans la salle d’exposition des œuvres d’Eugène Delacroix, Paris 1865; erneut als id.: Delacroix, Paris 1996 (Le petit Mercure), S. 80 f.

14

15 Brief von Eugène Delacroix an Charles de Verninac, 17. August 1830, in: Eugène Delacroix: Further Correspondence, 1817–1863 (hrsg. v. Lee Johnson), Oxford 1991, S. 17. 16 Brief von Eugène Delacroix an Charles Henri Delacroix, 12. Oktober 1830, in: Eugène Delacroix: Lettres intimes, correspondance inédite (hrsg. v. Alfred Dupont), Paris 1954, S. 191. 17

Vgl. Hadjinicolaou 1991, S. 129.

Vgl. die Ausführungen des Kritikers Pierre Petroz, der die Figur des Bürgers eben jener »Klasse untätiger, unzufriedener, lasterhafter Menschen« zuschlug, »die begeistert alle Gelegenheiten wahrnehmen, um sich zu rehabilitieren, indem sie für eine ehrenvolle Sache sterben«; zitiert nach ibid., S. 127.

18

19 Vgl. Auguste Barbier: La Curée. Iambes, in: Revue de Paris XVIII/1830, S. 140: »C’est une forte femme aux puissantes mamelles, / À la voix rauque, aux durs appas.«

Vgl. Monika Wagner: Freiheitswunsch und Frauenbild. Veränderung der Liberté zwischen 1989 und 1803, in: Inge Stephan u. Sigrid Weigel (Hrsg.): Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption, Hamburg 1989 (Literatur im historischen Prozeß, Bd. 26 / Argument-Sonderbd. 185), S. 7–25.

20

Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik [1970], München, 4. Auflage 1994, S. 144 (mit Bezug auf eine Passage in Heines Salonbesprechung).

21

22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt am Main 1970 (Werke, Bd. 13), S. 241: »Im wahren Staat nämlich ist die Arbeit für das Allgemeine, wie in der bürgerlichen Gesellschaft die Tätigkeit für Handel und Gewerbe usf. aufs allermanigfaltigste geteilt, so daß nun der gesamte Staat nicht als die konkrete Handlung eines Individuums erscheint […]. Daß die Gesetze gehandhabt werden, liegt daher nicht in einem Individuum, sondern resultiert aus vielseitigem Zusammenwirken in festgestellter Ordnung.« 23 Vgl. ibid., S. 243: »Heroen sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist.« 24

Zitiert nach Hadjinicolaou 1991, S. 64.

25 Notiz im »Carnet vert de Champrosay«, wahrscheinlich vom 22. März 1847, in: Eugène Delacroix: Journal (hrsg. v. Michèle Hannoosh), Paris 2009, 2 Bde., Bd. 2, S. 1638: »La Révolution a achevé de

498 | Anmerkungen zu S. 258–265

nous fixer à la glèbe de l’intérêt et de la jouissance physique. Elle a aboli toute espèce de croyance: au lieu de cet appui naturel que cherche une créature aussi faible que l’homme dans une force surnaturelle, elle lui a présenté des mots abstraits: la raison, la justice, l’égalité, le droit. Une association des bandits se régit aussi bien par ces mots-là que peut le faire une société moralement organisée.«

Das unfertige Bild und sein fehlendes Publikum (Françoise Forster-Hahn) Anonym: Die Berliner März-Revolution im Jahre 1848, Berlin 1848, S. 214. Diese reich illustrierte Publikation ist von einer liberalen Perspektive aus geschrieben und befindet sich in der Berliner Kunstbibliothek, Signatur: Lipp Dfn 10 d kl.

1

Vgl. Katalog der Meister des 19. Jahrhunderts in der Hamburger Kunsthalle (hrsg. v. Eva Maria Krafft u. Carl-Wolfgang Schümann), Hamburg 1969, S. 215; Jenns E. Howoldt: Adolph Menzel in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1993, S. 16 ff.

2

Vgl. Françoise Forster-Hahn: Die Aufbahrung der Märzgefallenen. Menzels Unfinished Painting as a Parable of the Aborted Revolution of 1848, in: Christian Beutler, Peter-Klaus Schuster u. Martin Warnke (Hrsg.): Kunst um 1800 und die Folgen. Werner Hofmann zu Ehren, München 1988, S. 221–232; id.: The German Experience of 1848: Imaging the Vormärz, the Revolution and its Aftermath, in: Andrew Hemingway u. William Vaughn (Hrsg.): Art in Bourgeois Society, 1790–1850, Cambridge 1998, S. 268–288.

3

4 Die Literatur zur kritischen Analyse des modernen Historienbildes sowie zur Interpretation von Menzels Bild hat sich in den letzten Jahren intensiviert; vgl. Helmut Börsch-Supan: Menzel und das zeitgenössiche Ereignisbild in Berlin, in: Stefan Germer u. Michael F. Zimmermann (Hrsg.): Bilder der Macht, Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München 1997 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, Bd. 12), S. 499–511; Hubert Kohle: Geschichte als Gegenwart. Bemerkungen zu Adolph Menzels Friedrich-Bildern, ibid., S. 529–549; Keisch hat Menzels Erfahrung der Revolution von 1848 im Kontext der Friedrich-Bilder interpretiert; vgl. Claude Kreisch: Landschaft. Revolution. Geschichte. Adolph Menzel. Die Bittschrift, Ausstellungskatalog, Alte Nationalgalerie, Berlin 2002; vgl. auch Christopher B. With: Adolph Menzel and the Revolution of 1848, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 42/1979, S. 195–214; Menzel, der Beobachter (hrsg. v. Werner Hofmann), Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle 1982, S. 84 ff.; Albert Boime: Social Identity and Political Authority in the Response of Two Prussian Painters to the Revolution of 1848, in: Art History 13/1990, S. 365–383; Peter Paret: Art as History. Episodes in the Culture and Politics of Nineteenth-Century Germany, Princeton 1988. 5 Börsch-Supan hat darauf hingewiesen, dass es trotz der Reaktion in Preussen möglich war, in Berlin Bilder der Revolution, zum Beispiel auch des Badischen Aufstandes, zu sammeln; vgl. Börsch-Supan 1997, S. 508. 6 Sternberg sah das Bild 1848 oder kurz danach und berichtet von seinem Besuch in Menzels Atelier; vgl. Alexander von Sternberg: Erinnerungsblätter aus der Biedermeierzeit (hrsg. v. Joachim Kühn), Potsdam u. Berlin 1919, S. 325 ff.

Zu Ehren von Menzels 80. Geburtstag wurde eine Retrospektive seiner Gemälde in der Berliner Akademie der Künste gezeigt, hier wurde die Aufbahrung der Märzgefallenen zum ersten Mal ausgestellt sowie ein Jahr später, 1896, in der Menzel-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle. 1905 erschien das Bild in der bedeutenden Retrospektive, die Hugo von Tschudi organisiert hatte; vgl. Ausstellung von Werken Adolph von Menzels, Ausstellungskatalog, Königliche National-Galerie, Berlin 1905, S. 4, Kat.-Nr. 28. Ein Jahr später stellte Tschudi das Bild in der sogenannten »Jahrhundertausstellung« aus, aber – bezeichnenderweise – bildete er es nicht im Begleitband ab; vgl. Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875 Ausstellungskatalog, Königliche NationalGalerie, Berlin 1906. 7

499 | Anmerkungen zu S. 267–269

8 Über die Revisionen der kritischen Rezeption Menzels vgl. Françoise Forster-Hahn: Lesarten zwischen Nationalismus und Modernität, in: Adolph Menzel 1805–1905. Das Labyrinth der Wirklichkeit (hrsg. v. Claude Keisch u. Marie Ursula Riemann-Reyher), Ausstellungskatalog, Alte Nationalgalerie u. Kupferstichkabinett, Berlin 1996, S. 521–532. 9 Zur Struktur des Bildes vgl. Karin Gludovatz: Nicht zu übersehen. Der Künstler als Figur der Peripherie in Adolph Menzels »Aufbahrung der Märzgefallenen in Berlin« (1848), Edith Futscher et al. (Hrsg.): Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur, München et al. 2007, S. 237–263. 10 Zitiert nach Claude Keisch Landschaft – Revolution – Geschichte. Adolph Menzel. Die Bittschrift, Ausstellungskatalog, Alte Nationalgalerie, Berlin 2002, S. 69. Eine gute historische Zusammenfassung der revolutionären Ereignisse bei Justine Davis Randers-Pehrson: Germans and the Revolution of 1848–1849, New York 1999 (New German-American Studies, Bd. 18). 11 Das Aquarell Eduard Gaertners Barrikade in der Breiten Strasse von 1848 ist am linken Bildrand präzise datiert: »Schreckensnacht vom 18ten zum 19ten um 3h/48 EG«. 12 Brief von Adolph Menzel an Carl Heinrich Arnold, 23. März 1848 (Berlin, Staatliche Museen, Zentralarchiv), zitiert nach Adolph Menzel: Briefe (hrsg. v. Claude Keisch u. Marie Ursula RiemannReyher), Bd. 1, Berlin u. München 2009, Nr. 228, S. 244–249. 13 Schadows und Rauchs Tagebücher befinden sich in Berlin, Staatliche Museen, Zentralarchiv; vgl. Forster-Hahn 1988, S. 229 (mit Abb. von Schadows Tagebuchseite vom 19.–22. März 1848). Das Zitat Rauchs stammt aus dem Tagebucheintrag vom 22. März 1848 (Rauch-Archiv, C Nr. 7). 14

Anonym 1848, S. 177.

15

Vgl. Keisch 2002, S. 38–41.

16

Die Berliner März-Revolution, 1848, S. 177.

17 Vgl. Forster-Hahn 1988, S. 221 ff. Es wäre erhellend, die verschiedenen Lesarten des Bildes im Westen mit denjenigen der DDR zur Zeit des »Kalten Krieges« zu vergleichen; eine typisch marxistische Interpretation zum Beispiel bei Ulrike Krenzlin: »Sympathie für einen Freiheitsbegriff«. Zu Adolph Menzels »Aufbahrung der Märzgefallenen« von 1848, in: Bildende Kunst 3/1985, S. 99–101.

Brief von Adolph Menzel an Wilhelm Puhlmann, 7. April 1848, in: Keisch u. Riemann-Reyher 2009, Nr. 232, S. 251; Brief von Adolph Menzel an Carl Heinrich Arnold, 15. September 1848, ibid., Nr. 242, S. 255.

18

Lichtwark, der 1902 das Bild für die Hamburger Kunsthalle kaufte, befragte den alten Menzel auch über 1848; vgl. Menzel, der Beobachter 1982, S. 84: »Er wäre mit Herzklopfen und in hoher Begeisterung für die Ideen, in deren Dienst die Opfer gefallen, an die Arbeit gegangen, aber ehe er fertig gewesen wäre, hätte er gesehen, daß alles Lüge oder dummes Zeug gewesen wäre, und er hätte das Bild mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt und in seinem Ekel keine Hand mehr daran legen mögen […].«

19

20

Ottomar Beta: Gespräche mit Adolf Menzel, in: Deutsche Revue 3/1898, S. 107–108.

Vgl. Françoise Forster-Hahn: Adolph Menzels »Daguerreotypical« Image of Frederick the Great. A Liberal Bourgeois Interpretation of German History, in: Art Bulletin 59-2/1977, S. 242–261.

21

22 Das Skizzenbuch mit Studien zur Aufbahrung der Märzgefallenen (drei Doppelseiten) befindet sich im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 1951/153. 23 Max Liebermann: Menzel, in: id.: Die Phantasie in der Malerei. Reden und Schriften, Berlin 1983, S. 130–147, S. 139; vgl. Françoise Forster-Hahn: Authenticity Into Ambivalence. The Evolution of Menzel’s Drawings, in: Master Drawings 16/1978, S. 255–283.

500 | Anmerkungen zu S. 269–274

Vgl. Brief von Adolph Menzel an Carl Heinrich Arnold, 3. Mai 1848, in: Keisch u. RiehmannReyher, Nr. 234, S. 251 f.: »[…] ich habe in der vorigen Woche unter Sang und Stank ein paar Pferdeköpfe, die ich mir aus einer Schlächterei dazu kommen ließ nach Natur gemalt, lebensgroß, das war sehr lehrreich. Jetzt bin ich an einer Farbenskizze, ob und was aber daraus werden wird, weiß ich noch nicht.«

24

25 Die neuere Forschung zu Museums- und Ausstellungstheorie betont, welche zentrale Rolle die Inszenierung von Kunstwerken im Herstellen, aber auch im Bruch und Wechsel von Bedeutung spielt; vgl. Françoise Forster-Hahn: The Politics of Display or the Display of Politics?, in: Art Bulletin 77–2/1995 (The Problematics of Collecting and Display, Teil 2), S. 174–179. 26 In engem Zusammenhang mit Menzels Retrospektive von 1905 und der »Jahrhundertausstellung« von 1906 konstruierte Tschudi seine Argumente für die Modernität des jungen Menzel; vgl. Hugo von Tschudi: Aus Menzels jungen Jahren, in: Jahrbuch der Königlichen Preußischen Kunstsammlungen 26/1906, S. 215–314. Gleichzeitig polemisierte Meier-Graefe gegen den älteren Menzel und betonte die Innovation des jungen Künstlers; vgl. Julius Meier-Graefe: Der junge Menzel. Ein Problem der Kunstökonomie Deutschlands, Leipzig 1906.

Ich danke der Kunstbibliothek in Berlin für die kenntnisreiche Unterstützung meiner Arbeit und meiner Assistentin Stephanie Beene für ihre bibliographische Hilfe.

Die Unverfügbarkeit der Geschichte (Barbara Wittmann) 1

Zitiert nach Antonin Proust: Edouard Manet. Erinnerungen, Berlin 1917, S. 26.

Vgl. Stefan Germer: Le Répertoire des Souvenirs. Zur Reflexion des Historischen bei Manet, in: Edouard Manet. Augenblicke der Geschichte (hrsg. v. Manfred Fath u. Stefan Germer), Ausstellungskatalog, Städtische Kunsthalle, Mannheim 1992, S. 40–54.

2

3 Maxime Du Camp: Die schönen Künste auf der Weltausstellung von 1855, zitiert nach Thomas W. Gaehtgens u. Uwe Fleckner (Hrsg.): Historienmalerei, Berlin 1996 (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 1), S. 338. 4

Vgl. ibid., S. 155.

5 Vgl. Patricia Mainardi: Art and Politics of the Second Empire. The Universal Expositions of 1855 and 1867, New Haven u. London 1987, S. 156.

Vgl. Thomas Scheffler: Vom Königsmord zum Attentat. Zur Kulturmorphologie des politischen Mordes, in: Soziologie der Gewalt (hrsg. v. Trutz von Trotha), Köln 1997 (Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 39), S. 183–199.

6

Zur Geschichte der mexikanischen Republik, des Kaiserreichs und der französischen Intervention vgl. Alfred Jackson Hanna u. Kathryn Abbey Hanna: Napoleon III and Mexico. American Triumph over Monarchy, Chapel Hill 1971; Douglas Johnson: Die französische Intervention in Mexiko. Zum geschichtlichen Hintergrund, in: Edouard Manet 1992, S. 9–22; Konrad Ratz: Maximilian und Juárez. Hintergründe, Dokumente und Augenzeugenberichte, Graz 1998.

7

8 Ausführliche Dokumentation des Prozesses bei Konrad Ratz: Das Militärgerichtsverfahren gegen Maximilian von Mexiko, Hardegg 1985.

Vgl. Egon Caesar Conte Corti: Maximilian und Charlotte von Mexiko, Bd. 2, Zürich, Leipzig u. Wien 1924, S. 397.

9

10 Zur Genealogie der Gemälde vgl. Juliet Wilson-Bareau: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians, in: Edouard Manet 1992, S. 103–131; Manet and the Execution of Maximilian (hrsg. v. John Elderfield), Ausstellungskatalog, Museum of Modern Art, New York 2006.

501 | Anmerkungen zu S. 274–285

11 Zur rezeptionsästhetischen Struktur der verschiedenen Fassungen vgl. Michael Fried: Manet’s Modernism, or, The Face of Painting in the 1860s, Chicago 1996, S. 346 ff.; Michael Lüthy: Bild und Blick in Manets Malerei, Berlin 2003 (Berliner Schriften zur Kunst, Bd. 17), S. 121–159; Kristine Ibsen: Spectacle and Spectator in Édouard Manet’s »Execution of Maximilian«, in: Oxford Art Journal 2/2006, S. 213–226. 12

Georges Bataille: Manet [1955], Genf 1988, S. 46.

13 Vgl. Helmut Lethen: »Knall an sich«: Das Ohr als Einbruchstelle des Traumas, in: Inka Mülder-Bach (Hrsg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 192–210.

Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 145.

14

15 Peter Geimer: Das Projektil und sein Selbstporträt. Räume der Selbstauslösung um 1887, in: Peter Berz u. Christoph Hoffmann (Hrsg.): Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschossfotografien, Göttingen 2001, S. 335–355, S. 336; vgl. id.: Picturing the Black Box: On Blanks in Nineteenth Century Paintings and Photographs, in: Science in Context 17/2004, S. 467–501. 16

Bataille 1988, S. 48.

17 Vgl. Oskar Bätschmann: Edouard Manet. Der Tod des Maximilian, Frankfurt am Main u. Leipzig 1993, S. 20.

Vgl. Volker Sellin: Die Bestrafung des Usurpators. Edouard Manets »Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko«, in: Pantheon 54/1996, S. 108–122.

18

Vgl. Werner Busch: Goya und die Ursprünge der Moderne um 1800, in: Moderne Kunst, Bd. 1 (hrsg. v. Monika Wagner), Reinbeck 1991, S. 32–49.

19

20

Zitiert nach Juliet Wilson-Bareau 1992, S. 121.

21 Vgl. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. II,1 (hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser), Frankfurt am Main 1991, S. 179–203; Albrecht Koschorke: Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates, in: Neue Rundschau 1/2004, S. 40–55. 22 Zitiert nach Juliet Wilson-Bareau (Hrsg.): Dokumente zur Erschießung Maximilians, in: Manet 1832–1883, Ausstellungskatalog, Galeries nationales du Grand Palais, Paris / Metropolitan Museum of Art, New York 1983–1984, deutsche Ausgabe Berlin 1984, S. 532.

Aufruhr der Malerei (Kerstin Thomas) 1 Carrà nennt im Zusammenhang seiner Schilderungen des Ereignisses das Jahr 1904, in das er fälschlicherweise den politischen Hintergrund der Auseinandersetzungen verlegt; vgl. Carlo Carrà: La mia vita, in: id.: Tutti gli scritti (hrsg. v. Massimo Carrà), Mailand 1978, S. 607–756, S. 633. Zu Beginn des Jahres 1942 von dem Verleger Leo Longanesi angeregt, sollte die Autobiographie in der Reihe »Il Cammeo« erscheinen. Noch im Sommer und Herbst desselben Jahres diktierte Carrà seiner Frau seine Lebenserinnerungen und verließ sich nach eigener Aussage ganz auf seine Erinnerung, ohne Dokumente zu Rate zu ziehen. Die im Sommer 1943 gedruckte Fassung wurde beim Bombenangriff auf die Druckerei Rizzoli in Mailand im August zerstört, ein Neudruck erschien 1945 nach Kriegsende; vgl. ibid., S. 605 (Einleitung von Massimo Carrà) u. S. 606 (»Avvertenza«). Die Forschungsliteratur hat dieses falsche Datum übernommen, ohne dass bislang die historischen Fakten überprüft wurden.

502 | Anmerkungen zu S. 286–293

2 Vgl. Maurizio Antonioli et al. (Hrsg.): Dizionario Biografico degli anarchici italiani, Pisa 2003–2004, 2 Bde., Bd. 1, S. 657–659, s. v. »Alessandro Galli«, S. 658. Angelo Galli erhielt hier keinen eigenen Eintrag, sondern erscheint unter dem Lemma seines Bruders Alessandro. 3 X. Y. Z.: Per l’assassinio dell’anarchico Angelo Galli, in: La Protesta umana, 3. November 1906; zitiert nach ibid., S. 658. 4 Carrà 1978, S. 633 f. (»Trasportato al cimitero di Musocco il cadavere del Galli, i funerali dovevano svolgersi, per ordine della polizia, nell’ambito del piazzale antistante al cimitero, e perché la disposizione fosse rispettata, dei cordoni di truppa a cavallo bloccavano le strade che portavano alla città. Ma gli anarchici decisero di opporsi e quindi in corteo, allo sbocco del vialone del Sempione, improvvisamente irruppero contro i soldati, i quali caricarono con una inaudita violenza. Io che mi trovai senza volerlo al centro della mischia, vedevo innanzi a me la bara tutta coperta di garofani rossi ondeggiare minacciosamente sulle spalle dei portatori; vedevo i cavalli imbizzarrirsi, i bastoni e le lance urtarsi, si che a me parve che la salma cadesse da un momento all’altra in terra e che i cavalli la calpestassero. Fortemente impressionato, appena tornato a casa feci un disegno di ciò a cui ero stato spettatore«).

Marinetti veröffentlichte das erste futuristische Manifest am 20. Februar 1909 auf der Titelseite des Figaro in Paris; 1910 schlossen sich die Künstler Umberto Boccioni, Giacomo Balla, Carlo Carrà, Luigi Russolo und Gino Severini der futuristischen Bewegung an und verfassten das technische Manifest futuristischer Malerei; vgl. Carrà 1978, S. 656 f.; Giovanni Lista: Le Futurisme. Manifestes, proclamations, documents. Lausanne 1973, S. 85 ff. u. S. 163 ff.

5

6 Carrà und Boccioni reisten im September 1911 nach Paris, um sich vor Ort mit den neuen Tendenzen der französischen Malerei vertraut zu machen, gegenüber denen sie sich mit ihrer Ausstellung bei Bernheim-Jeune im März 1912 positionieren wollten. So besuchten sie den Salon d’automne, auf dem unter anderem die Arbeiten von Léger, Gleizes und Metzinger zu sehen waren, sowie die Galerie Kahnweiler, um die Werke von Picasso und Braque zu studieren, die sie auch persönlich kennenlernten; vgl. Carrà 1978, S. 666 f. 7 Vgl. Umberto Boccioni et al.: Manifesto tecnico della Pittura futurista, 11. April 1910, verbreitet in italienischer und französischer Fassung unter dem Titel Manifeste des peintres futuristes; abgedruckt in: Lista 1973, S. 163–166.

Calvesi wies darauf hin, dass der Orphismus diese Formen von Carrà übernommen hat; vgl. Maurizio Calvesi: Il Futurismo, Mailand 1970, S. 12.

8

Les peintres futuristes italiens, Ausstellungskatalog, Galerie Bernheim-Jeune, Paris 1912, S. 8: »Le désir d’intensifier l’émotion esthétique fondant en quelque sorte la toile peinte avec l’âme du spectateur, nous a fait déclarer que celui-ci ›doit être placé désormais au centre du tableau‹. Il n’assistera pas, mais il participera à l’action. Si nous peignons les phases d’une émeute, la foule hérissée de poings et les bruyants assauts de la cavalerie se traduisent sur la toile par des faisceaux de lignes correspondant à toutes les forces en conflit, en suivant la loi de violence générale du tableau. Ces lignes-forces doivent envelopper et entraîner le spectateur qui sera en quelque sorte obligé de lutter lui aussi avec les personnages du tableau.«

9

10

Vgl. Carrà 1978, S. 634.

11 Vgl. Carlo Carrà: La pittura di suoni, rumori, odori. Manifesto futurista, in: Lacerba, 1. September 1913; wieder abgedruckt in: Carrà 1978, S. 16–21. 12 Diese Feier des Großstadterlebnisses geht letztlich auf Gustave Kahn zurück, den symbolistischen Dichter und engen Freund Georges Seurats und Paul Signacs; vgl. Gustave Kahn: L’esthétique de la rue, Paris 1901, S. 239 ff. Marinetti widmete dem Dichter sein 1902 in La Plume veröffentlichtes erstes Gedicht La conquête des étoiles. Zum Verhältnis des Futurismus zur Großstadt vgl. Fanette RochePézard: L’aventure futuriste, 1909–1916, Rom 1983 (Collection de l’école française de Rome, Bd. 68), S. 19 ff.

503 | Anmerkungen zu S. 294–298

13 In seinem Manifest grenzt sich Carrà von den Neoimpressionisten ab, denen er ihre Statik vorwirft; vgl. ibid., S. 17–19. Zu Seurats Einsatz suggestiver Bildmittel zur Steigerung der emotionalen Wirkung der Bilder vgl. Kerstin Thomas: Welt und Stimmung bei Pavis de Chavannes, Seurat und Gauguin, Berlin u. München 2010 (Passagen / Passages, Bd. 32), S. 105–149.

Seurat hatte in seinem Briefessay zur Ästhetik an Maurice Beaubourg vom 28. August 1890, die Aufgabe der Malerei als Ausdruck einer Gefühlsdominante beschrieben; vgl. Seurat (hrsg. v. Françoise Cachin u. Robert L. Herbert), Ausstellungskatalog, Musée d’Orsay, Paris 1991, S. 422 f., Abb. 96, sowie Anhang E, Version D, S. 430–431, S. 431: »L’art c’est l’Harmonie. L’Harmonie c’est l’analogie des Contraires, l’analogie des semblables de ton, de teinte, de ligne considérés par la dominante et sous l’influence d’un éclairage en combinaisons gais, calmes ou tristes.« Zu Seurats Ästhetik vgl. Michael F. Zimmermann: Seurat. Sein Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991.

14

15

Zu Charles Henry und dem Neoimpressionismus vgl. ibid., S. 227 ff.

16 Vgl. J. d’Aoust: La Peinture Cubiste, Futuriste … et au-delà, in: Livres et Art 5/1912, S. 153–156, S. 155: »[…] il faut bien avouer que l’on a ressenti une étrange sensation de cauchemar, en présence de ces étranges visions, telles que seul l’alcoolique peut en avoir au travers de son verre, multiples et déformées, vertigineuses, où tout bon sens se perd, n’ayant aucun point solide pour se raccrocher!« Zur Aufnahme der futuristischen Kunst durch die französische Presse vgl. Françoise Cachin-Nora: Le Futurisme à Paris, in: Le Futurisme 1909–1916 (hrsg. v. Guido Ballo et al.), Ausstellungskatalog, Musée national d’art moderne, Paris 1973, S. 21–30. 17 André Salmon: Les futuristes, in: Paris-Journal, 6. Februar 1912, S. 4 (»On s’écrasait devant Souvenirs d’une Nuit de Russolo; on trépignait devant Les Funérailles de l’anarchiste Galli, par Carrà; on hurlait devant La Danse de pan-pan à Monico, par Severini […]«). 18 Carrà 1978, S. 21 (»[…] bisogna dipingere, come gli ubriachi cantano e vomitano, suoni, rumori e odori!«). 19 Eine Zusammenstellung der Forschungen gibt Théodore Flournoy: Des phénomènes de synopsie (audition colorée). Paris 1893; vgl. Philippe Junod: De l’audition colorée ou du bon usage d’un mythe, in: Cahiers du Léopard d’or 6/1994, S. 63–76; zum Einfluß der syntästhetischen Theorien auf die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Pascal Rousseau: Confusion des sens. Le débat évolutionniste sur la synesthésie dans les débuts de l’abstraction en France, in: Les Cahiers du Musée national d’art moderne 74/2000, S. 4–33. 20 Die Untersuchungen von Helmholtz wurden bereits früh ins Französische übersetzt; vgl. Hermann von Helmholtz: Théorie physiologique de la musique, Paris 1868; zum wissenschaftlichen Hintergrund der Neoimpressionisten vgl. Zimmermann 1991, S. 227–275. Maurizio Calvesi wies zu Recht auf die wichtige Rolle des Universalgelehrten Charles Henry für die Futuristen hin, der die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit sammelte und in ein übergeordnetes eklektizistisches System überführte; vgl. Calvesi 1970, S. 12. 21 Vgl. Henri Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889 (deutsche Ausgabe Zeit und Freiheit, Hamburg 1994); id.: Matière et mémoire, Paris 1896 (deutsche Ausgabe Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991); id: Introduction à la métaphysique, in: Revue de Métaphysique et de Morale 11/1903, S. 1–36; vgl. Pär Bergman: »Modernolatria« et »Simultaneità«. Recherche sur deux tendances dans l’avant-garde littéraire en Italie et en France à la veille de la première guerre mondiale, Uppsala 1962; Francesca Talpo: Der Futurismus und Henri Bergsons Philosophie der Intuition, in: Der Lärm der Strasse. Italienischer Futurismus 1909–1918 (hrsg. v. Norbert Nobis), Ausstellungskatalog, Sprengel Museum, Hannover 2001, S. 59–71. Bergsons Konzepte kehren in den futuristischen Manifesten wiederholt wieder und der Text von Auguste Joly im Anschluss an die erste Futuristen-Ausstellung von 1912, in dem der Kritiker die Ästhetik der Futuristen mit den Theorien Bergsons erklärt, wurde von Marinetti als zweisprachiges Manifest verteilt; vgl. Auguste Joly: Le Futurisme et la philosophie, in: La Belgique artistique et littéraire 82/1912; wieder abgedruckt in: Lista 1973, S. 415–419.

504 | Anmerkungen zu S. 298–300

Vgl. Futurismo. I grandi temi 1909–1944 (hrsg. v. Enrico Crispolti u. Franco Sborgi), Ausstellungskatalog, Palazzo Ducale, Genua / Fondazione Antonio Mazzotta, Mailand 1997, S. 175. Zum Begriff des état d’âme in der französischen Kunst des späten 19. Jahrhunderts vgl. Thomas 2010.

22

Les peintres futuristes italiens 1912, S. 4 (»La simultanéité des états d’âme dans l’œuvre d’art: voilà le but enivrant de notre art«).

23

24

Ibid., S. 12.

25 Vgl. Carrà 1978, S. 620, S. 625 ff., u. S. 631 ff; vgl. Antonioli et al. 2003–2004, s. v. »Giuseppe Monnanni«. 26

Vgl. Carrà 1978, S. 631–632 u. S. 648.

27

Vgl. Max Nettlau: Geschichte der Anarchie, 5 Bde., Bd. 5, Vaduz 1984, S. 101 ff.

28

Vgl. André Reszler: L’esthétique anarchiste, Paris 1973; Lista 1973, S. 27.

Les peintres futuristes italiens 1912, S. 9 (»[…] il y a chez nous non seulement variété, mais chaos et entrechoc de rythmes absolument opposés, que nous ramenons néanmoins à une harmonie nouvelle«).

29

30 Vgl. Renato Poggioli: Teoria dell’arte d’avanguardia, Bologna 1962; zur Negation der Autonomie der Kunst durch die Avantgarde vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 21980, S. 63 ff.; zum ästhetischen Mittel des Schocks vgl. ibid., S. 98 ff. 31

Vgl. Carrà 1978, S. 21.

32

Ibid.

Les peintres futuristes italiens 1912, S. 3 (»Nous déclarons […] qu’il ne peut pas y avoir de peinture moderne sans le point de départ d’une sensation absolument moderne, et nul ne peut nous contredire quand nous affirmons que peinture et sensation sont deux mots inséparables«). 33

34 Vgl. Victor Segalen: Les Synesthésies et l’école symboliste, in: Mercure de France 4/1902, S. 57–90. Segalen verstand die Verknüpfung des Sinnesphänomens mit der künstlerischen Sprache als poetisches Mittel, nicht als Künstlerphysiologie.

Zur futuristischen Geschichtsauffassung vgl. Manfred Hinz: Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus, Berlin u. New York 1985.

35

Zitiert nach Lista 1973, S. 87 (»Nous sommes sur le promontoire extrême des siècles! … A quoi bon regarder derrière nous […]. Le Temps et l’Espace sont morts hier. Nous vivons déjà dans l’absolu, puisque nous avons déjà créé l’éternelle vitesse omniprésente«).

36

Die ewige Wiederkehr des Gleichen (Olaf Peters) Vgl. Otto Dix. »Der Krieg«. Das Dresdner Triptychon, Ausstellungskatalog, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden 2014; Jörg Martin Merz: Otto Dix’ Kriegsbilder. Motivationen – Intentionen – Rezeptionen, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26/1999, S. 189–226, S. 197 ff.; Linda F. McGreevy: Bitter Witness. Otto Dix and the Great War, New York et al. 2001, S. 355 ff.; Dietrich Schubert: Otto Dix – das Triptychon »Der Krieg« 1929–1932, in: Heidelberger Jahrbücher 48/2004, S. 311–331. Weiterhin grundlegend sind Otto Dix. Zum 100. Geburtstag 1891–1991, Ausstellungskatalog, Galerie der Stadt Stuttgart / Neue Nationalgalerie, Berlin 1991–1992; Otto Conzelmann: Der andere Dix. Sein Bild vom Menschen und vom Krieg, Stuttgart 1983. Meine Ausführungen gehen zum Teil zurück auf das Dix-Kapitel in Olaf Peters: Neue Sachlichkeit und Nationalsozialismus. Affirmation und Kritik 1931–1947, Berlin 1998, S. 194–227. Zur Biographie des Künstlers vgl. id.: Otto Dix. Der

1

505 | Anmerkungen zu S. 300–305

unerschrockene Blick. Eine Biographie, Stuttgart 2013; Andreas Strobl: Otto Dix. Eine Malerkarriere der zwanziger Jahre, Berlin 1996; Dietrich Schubert: Otto Dix [1980], Reinbek bei Hamburg, 5. Aufl. 2001. 2 Zu den historischen Umständen und ihrer künstlerischen Aufarbeitung vgl. Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkriegs (hrsg. v. Rainer Rother), Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum / Altes Museum, Berlin 1994; Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Dietrich Schubert: Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914–18, Heidelberg 2013. 3 Julius Meier-Graefe: Die Ausstellung in der Akademie, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 307, 2. Juli 1924 (Ausgabe für Groß-Berlin, Abendblatt). 4

Willi Wolfradt: Otto Dix, Leipzig 1924 (Junge Kunst, Bd. 41), S. 13 f.

5

Ernst Kállai: Dämonie der Satire, in: Das Kunstblatt 11/1927, S. 97–104, S. 97.

6

Ibid., S. 99.

So Dix 1964 im Gespräch mit Karl-Heinz Hagen im Neuen Deutschland; zitiert nach Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin (Ost) 1978, S. 244 f. 7

8 Vgl. Ulrike Lorenz: Otto Dix. Das Werkverzeichnis der Zeichnungen und Pastelle, Weimar 2002, Kat.-Nr. NSk 7.3.2 9

Vgl. Peters 1998, S. 214 ff.

10

Vgl. S. 431 ff. im vorliegenden Band.

11

Alle angeführten Vergleichsbeispiele bei Peters 1998.

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I–IV [III, 1884] (hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari), Berlin 21988 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 4), S. 272 f. 12

Vgl. Fritz Löffler: Otto Dix, 1891–1969. Œuvre der Gemälde, Recklinghausen 1981, Kat.-Nr. 1934.1.

13

14

Vgl. Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 41986.

15

Zitiert nach ibid., S. 104.

16

Zitiert nach ibid., S. 90.

Die Wahrheit der Malerei (Uwe Fleckner) 1 Léon Blum: [Vorwort], in: Exposition internationale des arts et des techniques. Album officiel, Paris 1937, S. 1. 2 Die Literatur zu diesem Bild ist nahezu unüberschaubar geworden; vgl. insbesondere Reinhold Hohl: Die Wahrheit über Guernica, in: Pantheon. Internationale Zeitschrift für Kunst 36/1978, S. 41–58; Jean-Louis Ferrier: De Picasso à Guernica. Généalogie d’un tableau, Paris 1984; Max Imdahl: Picassos Guernica. Eine Kunst-Monographie, Frankfurt am Main 1985; Juan Marin: Guernica ou Le Rapt des Ménines, Paris 1994; Herschel B. Chipp: Picasso’s Guernica. History, Transformations, Meanings, Berkeley, Los Angeles u. London 1988; Laurent Gervereau: Autopsie d’un chef-d’œuvre. Guernica, Paris 1996; Carlo Ginzburg: Das Schwert und die Glühbirne. Picassos »Guernica«, Frankfurt am Main 1999 (Erbschaft unserer Zeit. Vorträge über den Wissensstand der Epoche, Bd. 3); nach Abschluss des vorliegenden Textes erschien Marlen Schneider: Picasso auf der Suche. »Guernica« und die Atelierstudien zur Weltausstellung 1937, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 2/2012, S. 239–260.

506 | Anmerkungen zu S. 305–320

George Lowther Steer: The Tragedy of Guernica. Town Destroyed in Air Attack, in: The Times, 28. April 1937; eine erschöpfende Analyse der zeitgenössischen Berichterstattung sowie späterer Meinungskämpfe bietet Herbert R. Southworth: La destruction des Guernica. Journalisme, diplomatie, propagande et histoire, Paris 1975, S. 22 ff.

3

4 Vgl. Catherine Blanton Freedberg: The Spanish Pavillion at the Paris World’s Fair [1981], New York u. London 1986, 2 Bde.; Cinquantenaire de l’exposition des arts et des techniques dans la vie moderne, Ausstellungskatalog, Institut Français d’Architecture, Paris 1987; Pabellón Español. Exposición Internacional de París, Ausstellungskatalog, Centro de Arte Reina Sofía, Madrid 1987; zur Ausstellung von Kunstwerken im Pavillon vgl. auch Otto Karl Werckmeister: Picassos »Guernica« und die Pariser Weltausstellung, in: Monika Wagner (Hrsg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst [1991], Reinbek bei Hamburg 2000, 2 Bde., Bd. 2, S. 491–510, S. 495 ff. 5 Zur Rezeption des Werkes vgl. Chipp 1988, S. 151 ff.; Gervereauu 1996, S. 160 ff.; Jutta Held: Wie kommen politische Wirkungen von Bildern zustande? Das Beispiel von Picassos »Guernica« [1985], in: id.: Avantgarde und Politik in Frankreich. Revolution, Krieg und Faschismus im Blickfeld der Künste, Berlin 2005, S. 170–187; Annemarie Zeiller: Guernica und das Publikum. Picassos Bild im Widerstreit der Meinungen, Berlin 1996; Michael F. Zimmermann: Pablo Picassos »Guernica« in der deutschen Rezeption, in: Uwe Fleckner, Martin Schieder und Michael F. Zimmermann (Hrsg.): Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. Thomas W. Gaehtgens zum 60. Geburtstag, Köln 2000, 3 Bde., Bd. 3, S. 137–165. 6

Robert Wiene: »Gehen Sie links herum!«, in: Die neue Weltbühne 33/1937, S. 1171–1172.

7

Zitiert nach Gerverau 1996, S. 164.

Emanuel Paul Frank: Die Weltausstellung Paris 1937. 100 Raumbild-Aufnahmen von Heinrich Hoffmann, Reichsbildberichterstatter der NSDAP, Diessen am Ammersee 1937, S. 12.

8

9

Gervereau 1996, S. 195.

10 Zu dieser Figur vgl. Otto Karl Werckmeister: Pablo Picasso: Guernica (1937), in: Gabriele Saure u. Gisela Schirmer (Hrsg.): Kunst gegen Krieg und Faschismus. 37 Werkmonografien, Weimar 1999 (Schriften der Guernica-Gesellschaft, Bd. 11), S. 99–103, S. 101 f. 11

Michel Leiris: Faire-part, in: Cahiers d’art 4–5/1937, S. 128.

12 Vgl. beispielsweise Carla Gottlieb: The Meaning of Bull and Horse in Guernica, in: Art Journal 2/1964–1965, S. 106–124; Herschel B. Chipp: Love, War, and the Bullfight, in: Art Journal 2/1973– 1974, S. 100–115; Rachel Wischnitzer: Picasso’s Guernica. A Matter of Metaphor, in: Artibus et Historiae 12/1985, S. 153–172; zu den widerstreitenden Interpretationen vgl. Gerverreau 1996, S. 177 ff.; Werner Spies: Picasso. Die Zeit nach Guernica 1937–1973, Ausstellungskatalog, Nationalgalerie, Berlin / Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München / Hamburger Kunsthalle 1993, S. 16. 13 Zum »kollektiven Bilderschatz« des Gemäldes vgl. Hohl 1978, S. 48 ff.; Werner Hofmann: Picasso’s »Guernica« in its Historical Context, in: Artibus et Historiae 7/1983, S. 141–169.

Zu den einzelnen Arbeitsschritten vgl. Ruth Maria Capelle: Die Bedeutung der Maitage in Barcelona in der ikonographischen Entwicklung von Picassos »Guernica«, in: Jutta Held (Hrsg.): Der Spanische Bürgerkrieg und die bildenden Künste, Hamburg 1989 (Schriften der Guernica-Gesellschaft, Bd. 1), S. 76–94.

14

15 Vgl. Fernando Martín Martín: El pabellón español en la Exposición Universal de Paris en 1937, Sevilla 1983 (Filosofia y Letras, Bd. 66), S. 125 f. 16 Vgl. Kathleen Brunner: »Guernica«: The Apocalypse of Representation, in: Burlington Magazine 1175/2001, S. 80–85, S. 81; Gervereau 1996, S. 35.

507 | Anmerkungen zu S. 322–328

17 Zu Picassos Kenntnis der Pläne und Bauarbeiten vgl. Josep Lluís Sert: »La Victoria del Guernica«, in: Guernica – Legado Picasso, Ausstellungskatalog, Museo del Prado – Casón del Buen Retiro, Madrid 1981, S. 24–30, S. 24. 18 Vgl. Werner Spies: Picasso: l’histoire dans l’atelier, in: Les cahiers du Musée national d’art moderne 9/1982, S. 60–71, S. 63; Ludwig Ullmann: Zur Vorgeschichte von Picassos »Guernica«. Unbekannte und unbeachtete Arbeiten (Januar–April 1937), in: Kritische Berichte 4/1985, S. 45–56; id.: Zur Vorgeschichte von Picassos »Guernica«. Entwürfe zu einem Atelier-Bild (April 1937), in: Kritische Berichte 1/1986, S. 4–26; Chipp 1988, S. 58 ff.; Marin 1994, S. 116 ff.; Spies vermutet in den Zeichnungen sogar eine »Inszenierung aus plastischen Elementen«; vgl. Spies 1993, S. 14. 19

Zu dieser Interpretation vgl. Ullmann 1986, S. 9 ff.

20 In der Literatur ist aufgrund der Kostümierung allerdings gelegentlich von einer weiblichen Figur, einer »femme-peintre« die Rede; vgl. Ullmann 1986, S. 6; Marin 1994, S. 119 f.

Vgl. Bernhard Geiser u. Brigitte Baer: Picasso. Peintre-graveur. Catalogue raisonné de l’œuvre gravé et lithographié et des monotypes, Bd. 1, Bern 1990, S. 213 ff., Kat.-Nr. 123–135.

21

22 Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: id.: Das Chagrinleder, München 1998 (Die Menschliche Komödie, Bd. 11), S. 485–515, S. 510. 23

Ibid., S. 495.

Zitiert nach Southworth 1975, S. 35; zum Artikel in Ce Soir vgl. ibid., S. 21 (Faksimile) u. S. 31. 24

25 Christian Zervos: Histoire d’un tableau de Picasso, in: Cahiers d’art 4–5/1937, S. 105–111, S. 105. 26 ABC, 29. April 1937; zitiert nach Southworth 1975, S. 53; zu den Falschmeldungen vgl. ibid. S. 47 ff.; Ferrier 1984, S. 45 ff. 27

Vgl. Chipp 1988, S. 41.

28 Der Hinweis auf dieses Gemälde schon bei André Fermigier: Picasso, Paris 1960, S. 261 u. S. 264; Meyer Shapiro: Picasso’s »Woman with a Fan«. On Transformation and Self-Transformation, in: Larissa Bonfante u. Helga von Heintze (Hrsg.): In Memoriam Otto J. Brendel. Essays in Archaeology and the Humanities, Mainz 1976, S. 249–254, S. 253. 29

Zur Auseinandersetzung mit klassischen Bildelementen vgl. Ginzburg 1999, S. 27 ff.

Zu den politischen Gründen, die zu einem Zurückdrängen kommunistischer Ikonographie geführt haben könnten, vgl. Christiane Holm: Pablo Picasso: »Traum und Lüge Francos« und »Guernica«, in: id. u. Bettina Bannasch (Hrsg.): Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, Tübingen 2005, S. 145–160. S. 154 f.

30

31 Vgl. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands [1975–1981], Frankfurt am Main 1986, S. 340: »Das Bild schrie und erinnerte an alle zurückliegenden Stadien der Unterdrückung.« 32

Vgl. Hohl 1978, S. 47 f.

33

Zitiert nach Spies 1993, S. 13.

34

Zur ästhetischen Leistung des Bildes vgl. Imdahl 1985, S. 52 ff.

Zum Begriff der »ikonischen Differenz« vgl. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: id. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994 (Bild und Text), S. 11–38, S. 29 ff. 35

36 Brief von Carl Einstein an Pablo Picasso, 6. Januar 1939, in: Carl Einstein u. Daniel-Henry Kahnweiler: Correspondance 1921–1939 (hrsg. v. Liliane Meffre), Marseille 1993, S. 113–115, S. 114;

508 | Anmerkungen zu S. 328–340

vgl. Uwe Fleckner (Hrsg.): The invention of the 20th century. Carl Einstein and the avant-gardes, Ausstellungskatalog, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid 2008–2009, S. 283 ff.

Im Angesicht des Holocaust (Maike Steinkamp) 1 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.): Lexikon des Holocaust, München 2002, S. 19 f., s. v. Auschwitz (Sybille Steinbach). 2 Vgl. Eva Berger et al.: Felix Nussbaum. Verfemte Kunst – Exilkunst – Widerstandskunst, Bramsche 1995 (Beiträge zur Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Osnabrück, Bd. 3), S. 448. 3

Vgl. Gert Kaiser: Der tanzende Tod. Mittelalterliche Totentänze, Frankfurt am Main 1983, S. 58 f.

4

Vgl. Berger et al. 1995, S. 445 (Abb.).

Beispielsweise in Werken wie Leierkastenmann von 1931 (Berlinische Galerie) oder Leierkastenmann von 1939 (Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus); vgl. ibid., S. 131 u. S. 269.

5

Eine enge Straßenflucht mit schwarzen Fahnen malte Nussbaum bereits 1928 in seinem Gemälde Die trostlose Straße (Privatbesitz). Zwar sind auf dem Bild die Fahnen nicht zerrissen, doch ragen sie auch dort aus rahmenlosen Fensteröffnungen heraus. Nicht nur in diesem Fall tauchen in Nussbaums späteren Gemälden Elemente auf, die er bereits in früheren Bildern formuliert hat. Doch gehen sie über den persönlichen, melancholischen Charakter, der insbesondere in den Friedhofs- und Totenbildern der Jahre 1928–1929 zum Ausdruck kommt, hinaus und erlangen eine allgemeingültige Aussagekraft.

6

Zur Entwicklung von Nussbaums Schaffen vgl. auch Zeit im Blick. Felix Nussbaum und die Moderne (hrsg. v. Rosamunde Neugebauer), Ausstellungskatalog, Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück 2004.

7

8 Vgl. Sabine Eckmann: Felix Nussbaums ästhetische Strategien im Exil: Hybride Erinnerungen und radikaler Illusionismus, ibid., S. 123–131, S. 128 f. Auch andere Künstler, wie beispielsweise Max Beckmann oder Karl Zerbe, haben sich in Form von Selbstbildnissen mit ihrer Situation im Exil auseinandergesetzt.

Vgl. Juliane Wetzel: Frankreich und Belgien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 105–135, S. 110; Maxime Steinberg: The Judenpolitik in Belgium within the West European Context: Comparative Observations, in: Dan Michmann (Hrsg.): Belgium and the Holocaust. Jews – Belgians – Germans, Yad Vashem 1998, S. 199–224, S. 200.

9

10

Vgl. Wetzel 1991, S. 115 f.

11

Vgl. Berger et al. 1995, S. 349.

Vgl. Dieter Pohl: Dimensionen eines Menschheitsverbrechens. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1939–1945, in: Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung (hrsg. v. Burkhard Asmuss), Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum, Berlin 2002, S. 103–120, S. 107 f. 12

13

Vgl. Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reichs, München 2002, S. 218 ff.

14 Vgl. Markus Meckl: Wartesaal vor Ausschwitz: Das Lager Mechelen (Malines), in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1939–1945, S. 39–48, S. 41. 15 Vgl. Benz 2002, S. 25 f., s. v. Belgien (Juliane Wetzel). Interessant ist, dass Nussbaum genau in dieser Zeit das Gemälde St. Cyprien (Gefangene in Saint-Cyprien) fertigstellt, das auf den 18. Juni 1942 datiert ist.

509 | Anmerkungen zu S. 341–349

16

Vgl. Berger et al. 1995, S. 417.

17 So beispielsweise bei Alfred Rethels Auch ein Todtentanz von 1848, der eine konservative Reaktion

auf die Revolution von 1848 darstellt. Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Zuge des Ersten Weltkrieges, wurde die Totentanzthematik wieder vermehrt aufgegriffen; vgl. Thema Totentanz. Kontinuität und Wandel einer Bildidee vom Mittelalter bis Heute, Ausstellungskatalog, Kunstverein Mannheim 1986.

18

Vgl. Kaiser 1983, S. 52 u. S. 67.

Vgl. Der Heidelberger Totentanz von 1485 (hrsg. v. Manfred Lemmer), Frankfurt am Main u. Leipzig 1991; Hans Holbein. Bilder des Todes, Leipzig 1964. Zur Tradition der Totentanzdarstellungen vgl. Uli Wunderlich: Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Freiburg 2001.

19

20 Vgl. Otto Dix. »Der Krieg« – Radierwerk 1924, Ausstellungskatalog, August Macke Haus, Bonn 1999 (Schriftenreihe Verein August Macke Haus Bonn, Bd. 29). 21 Zu Masereels Kriegsdarstellungen vgl. Michael Nungesser: Anklage und Ächtung des Krieges – Masereels Kriegsdarstellungen, in: Karl-Ludwig Hofmann u. Peter Riede (Hrsg.): Frans Masereel (1889–1972). Zur Verwirklichung des Traums von einer freien Gesellschaft, Saarbrücken 1989, S. 86–103. 22 Vgl. Friedrich W. Kaster: Gründerzeit, Kaiserreich und Weimarer Republik. Totentanzdarstellungen zwischen 1871 und 1933, in: Thema Totentanz 1986, S. 43–219, S. 217. 23 Vgl. Reinhold Hammerstein: Tanz und Musik des Todes. Die mittelalterlichen Totentänze und ihr Nachleben, Bern u. München 1980, S. 85 u. S. 51 ff.; Berger et al. 1995, S. 439.

Ereignis und Medialität (Michael Lüthy) 1 Andy Warhol u. Pat Hackett: POPism. The Warhol Sixties, New York 1980, S. 274 f. Sämtliche Übersetzungen aus fremdsprachig nachgewiesenen Quellen vom Verfasser. 2 Warhol schloss 1949 seine Ausbildung am Carnegie Institute of Technology mit einem »Bachelor of Fine Arts in Pictorial Design« ab; Gegenstand der Ausbildung, die besonders auf kommerziell arbeitende Graphiker zugeschnitten war, bildete weniger die direkte, unmittelbare Fertigung von Bildern im klassisch-künstlerischen Sinne, sondern in erster Linie die Verwendung vorhandenen Materials für neue bildliche Zusammenhänge. 3 Vgl. die Einträge und Kommentare im hervorragend recherchierten und dokumentierten Œuvrekatalog: Georg Frei u. Neil Printz (Hrsg.): The Andy Warhol Catalogue Raisonné, Bd. 2A, London u. New York 2004, S. 102–237, Kat.-Nr. 937–1239.

Die hier gezeigte Abb. 141 (Farbaufnahme) stammt aus Life, Jg. 55, Nr. 22, 29. November 1963, S. 22; Abb. 142 (Schwarzweißaufnahme) aus Life, Jg. 55, Nr. 22, 29. November 1963, S. 30 f.; Abb. 143 (Farbaufnahme) aus Life, Jg. 55, Nr. 23 (6. Dezember 1963), S. 42 f. 4

Gretchen Berg: Nothing to Lose. An Interview with Andy Warhol, in: Michael O’Pray (Hrsg.): Andy Warhol. Film Factory, London 1989, S. 60.

5

Zum Vergleich des technischen Verfahrens bei der Serie der Jackies und dem frühesten Auftragsporträt Ethel Scull 36 Times von 1963 vgl. Frei u. Printz 2004, S. 102 f. Anzufügen wäre, dass Ethel Scull 36 Times sowie die Serien der Jackies und Race Riots die einzigen herausragenden Beispiele in Warhols Œuvre sind, bei denen in demselben Werk unterschiedliche Fotografien erwendet werden, wodurch hier Zeitlichkeit und Narration ins Bild einziehen, die Warhol sonst gerade vermeidet; vgl. Anne M. Wagner: Warhol Paints History, or Race in America, in: Representations 55/1996, S. 98–119, S. 109 f.

6

510 | Anmerkungen zu S. 349–362

7 Zu Warhols Transfer zwischen Fotojournalismus und Hochkunst bzw. Malerei vgl. Vincent Lavoie: Le dernier tabloïd. Andy Warhol, in: Études photographiques 4/1998, S. 101–119, S. 108 ff. Lavoie zeichnet nach, wie Warhol das in die Fotografie abgewanderte Ereignisbild wieder in die Domäne der Malerei zurückholt, jedoch in einer Weise, welche die damaligen Vertreter des Fotojournalismus ebenso irritiert wie die Vertreter der Hochkunst. 8

Zu den Bildquellen vgl. Francis Wheen: Television. A History, London 1985, S. 235.

Die Anordnung mancher dieser aus mehreren Tafeln bestehenden Arbeiten verändert sich im Lauf der Zeit und kann in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht rekonstruiert werden. Bei Jackie (The Week That Was) ist die heutige Erscheinungsform hingegen durch eine frühe Fotografie der Factory als authentisch belegt; vgl. Frei u. Printz 2004, S. 104 u. S. 142, Abb. 35.

9

10 Eine a-chronologische Anordnung weist nicht nur Jackie (The Week That Was) auf, sondern alle mehrteiligen Arbeiten der Serie. Sie ist demnach als programmatisch anzusehen. 11 Im Folgenden greife ich teilweise auf eine frühere Publikation zurück; vgl. Michael Lüthy: Andy Warhol. Thirty Are Better Than One, Frankfurt am Main 1995, S. 92 ff. 12

Zitiert nach Wheen 1985, S. 235.

13

Ibid.

14 Die Aufnahmen, wie sie auf Abb. 144 dokumentiert sind, stammen aus folgenden Quellen: Abb. erste Reihe links aus Life, Jg. 55, Nr. 23, 6. Dezember 1963, Titelblatt; Abb. zweite Reihe rechts, ibid., S. 48; Abb. dritte Reihe rechts, ibid., S. 42 f.; Abb. vierte Reihe links, ibid. Nr. 22, 29. November 1963, S. 23; Abb. vierte reihe rechts, ibid., S. 30 f. Die Quellen der drei übrigen Vorlagenbilder konnte ich nicht ermitteln. 15 Vgl. die materialreiche Studie von Art Simon: Dangerous Knowledge. The JFK Assassination in Art and Film, Philadelphia 1996, S. 35–54 (»The Zapruder Film«). Das Buch enthält auch ein lesenswertes Kapitel zu Warhols Serie der Jackies, ibid., S. 101–118. 16

Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 323.

17

Vgl. Wheen 1985, S. 62.

Warhol u. Hackett 1980, S. 60. Zu Warhols unmittelbarer Reaktion auf Kennedys Tod vgl. auch Paul Mattick: The Andy Warhol of Philosophy and the Philosophy of Andy Warhol, in: Critical Inquiry 24/1998, S. 965–987, S. 980.

18

19

Vgl. Victor Bockris: The Life and Death of Andy Warhol, New York 1989, S.142 f.

20

Vgl. Online-Archiv der BBC, www.bbc.co.uk/comedy/twtwtw (Zugriff vom 7. März 2009).

21 Die Serie Suicide von 1962–1963 zeigt Menschen, die sich aus Häusern gestürzt haben, entweder im Augenblick des Sprungs oder aber als liegende tote Körper. Die Siebdrucke der springenden Menschen erhielten anlässlich des Terroranschlags auf das World Trade Center eine überraschende Aktualität, indem sie gleichsam als vorweggenommene »Historienbilder« des späteren Ereignisses erschienen. Bei aller medienstrukturellen Vergleichbarkeit zwischen dem Anschlag auf die »Twin Towers« und dem Kennedy-Attentat stellte sich am 11. September 2001 jedoch das neuartige Gefühl ein, das reale Ereignis sei die Wiederholung von etwas, das man als Bild bereits kenne, insbesondere durch die einschlägigen Produktionen Hollywoods. 22

Zitiert nach Patrick S. Smith: Andy Warhol’s Art and Films, Ann Arbor 1986, S. 561, Anm. 314.

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2 (hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser), Frankfurt am Main 1991, S. 471–508, S. 478. 23

511 | Anmerkungen zu S. 363–369

24 Zu unterschiedlichen Aspekten und Dimensionen der zentralen Todesthematik in Warhols Œuvre vgl. Thomas Crow: Saturday Disasters. Trace and reference in early Warhol, in: Art in America 75/1987, S. 128–136; Trevor Fairbrother: Skulls, in: Gary Garrels (Hrsg.): The Work of Andy Warhol, Seattle 1989, S. 93–114; Hal Foster: Death in America, in: October 75/1996, S. 36–59; Peggy Phelan: Andy Warhol. Performances of »Death in America«, in: Amelia Jones u. Andrew Stephenson (Hrsg.): Performing the Body / Performing the Text, London u. New York 1999, S. 223–236.

Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: id.: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt am Main 2000 (Studienausgabe, Ergänzungsbd.), S. 205–215, S. 211.

25

26 Andy Warhol, zitiert nach Thierry de Duve: Cousus de fil d’or. Beuys, Warhol, Klein, Duchamp, Villeurbanne 1990, S. 46.

Unser Mann auf dem Mond (Hole Rößler) Ich danke Tina Asmussen, Lucas Burkart, Vera F. Koppenleitner, Gerald Reuther und Tristan Weddigen für ihre kritischen Kommentare, Hinweise und Ermunterungen. 1 Alle Fotografien der Apollo 11-Mission finden sich unter www.hq.nasa.gov/alsj/a11/images11. html. Ausgewählte und zum Teil überarbeitete Aufnahmen sind auf einer gesonderten Website der NASA veröffentlicht: grin.hq.nasa.gov/ (14. Oktober 2009). 2 Vgl. National Aeronautics and Space Administration (Hrsg.): Apollo 11 Lunar Landing Mission. Press Kit, Washington 1969, S. 80; zum Einsatzplan vgl. H. J. P. Arnold: Lunar Surface Photography. A Study of Apollo 11, in: History of Rocketry and Astronautics. AAS History Series 15/1993, S. 266– 269; zur Aufnahme der Checklisten vgl. hq.nasa.gov/alsj/a11/ap11-S69-38898HR.jpg; www.hq. nasa.gov/alsj/a11/ap11-S69-38937HR.jpg (14. Oktober 2009). 3 Zum technischen Aufwand der Bildproduktion vgl. Albert J. Derr: Photography Equipment and Techniques. A Survey of NASA Developements, Washington 1972; zur Fototechnik während der Apollo 11-Mission vgl. Arnold 1993, S. 262–265; vgl. auch history.nasa.gov/printFriendly/ apollo_photo.html; www.lpi.usra.edu/lunar/missions/apollo/apollo_11/photography; de.hasselblad. com/about-hasselblad/hasselblad-in-space/space-cameras.aspx (14. Oktober 2009). 4 Zum Protokoll der Kommunikation und Tätigkeiten auf dem Mond vgl. Apollo 11 Lunar Surface Journal, in: www.hq.nasa.gov/alsj/a11/a11j.html (14. Oktober 2009). Die Apollo 11 Image Library bietet überdies Angaben zum Aufnahmezeitpunkt (www.hq.nasa.gov/alsj/a11/images11.html) sowie eine kartographische Darstellung des jeweiligen Aufnahmeortes (www.hq.nasa.gov/alsj/a11/ a11prsci3-15.html) (14. Oktober 2009). Zum Stellenwert des Fotos in der Bildkultur der Spätmoderne vgl. Martina Heßler: »Der Mond ist ein Ami«. Bilder der Mondlandung und die Inszenierung der Wissenschaft, in: Das Jahrhundert der Bilder (hrsg. v. Gerhard Paul), Göttingen 2008, 2 Bde., Bd. 2, S. 394–401; zur gegenwärtigen kunstwissenschaftliche Diskussion um die Bildlichkeit der Raumfahrt vgl. Kritische Berichte 3/2009 (Themenheft »Planetarische Perspektiven. Bilder der Raumfahrt«); zur Bildgeschichte des Mondes vgl. Andreas Blühm (Hrsg.): Der Mond, Ausstellungskatalog, Wallraf-Richartz-Museum u. Fondation Corboud, Köln 2009. 5

Zu weiteren technischen Daten vgl. www.hq.nasa.gov/alsj/a11/a11-hass.html (14. Oktober 2009).

6 Vgl. Eric M. Jones: A Brief History of AS11-40-5903, in: www.hq.nasa.gov/alsj/a11/a11-5903 history.html (14. Oktober 2009). 7 Astronaut Edwin E. Aldrin’s faceplate reflects Astronaut Neil A. Armstrong and the Lunar Module. 69-HC-684, aus: National Aeronautics and Space Administration (Hrsg.): NASA Picture Set No. 4. Washington 1969; vgl. National Space Science Data Center (Hrsg.): Apollo 11 Lunar Photography (NSSDC ID NO. 69-059A-01), Greenbelt 1970, S. 8; www.hq.nasa.gov/alsj/a11/a11nssdc70-06. html.

512 | Anmerkungen zu S. 369–372

8

Ibid., S. 1.

9 Michael Maegraith: Mondlandung. Dokumentation der Weltraumfahrt USA und UdSSR, Stuttgart 1969, S. 170. 10 Die von der Fernsehkamera übertragenen Handlungen und Worte der Astronauten waren im Vorfeld sehr genau geplant worden; vgl. Erik Barnouw: Tube of Plenty. The Evolution of American Television, New York u. Oxford, 2. Aufl. 1990, S. 422 ff.

Vgl. www.hq.nasa.gov/alsj/a12/AS12-47-6896HR.jpg; www.hq.nasa.gov/alsj/a12/AS12-497284HR.jpg; www.hq.nasa.gov/alsj/a12/AS12-49-7278HR.jpg (14. Oktober 2009).

11

12

Heßler 2008, S. 394.

13 Vgl. Johannes Kepler: Unterredung mit dem Sternenboten, in: Schriften zur Optik 1604–1611, Frankfurt am Main 2008, S. 367–402, S. 372; Jurgis Baltrusˇaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien, Gießen 1986, S. 49 ff. 14 Vgl. Hans Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, in: Galileo Galilei: Siderus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, Frankfurt am Main 1965, S. 5–73, S. 20: »Galilei ist ein Mann von einer vertrackt reflektierten Optik. Er richtet das Fernrohr auf den Mond, und was er sieht, ist die Erde als Stern im Weltall«; zur Einschätzung der NASA vgl. National Space Science Data Center 1970, S. 1. 15 Vgl. National Aeronautics and Space Administration (Hrsg.): Eyewitness to Space. Paintings and Drawings Related to the Apollo Mission to the Moon, New York o. J. (1971). 16 Die Vorlage für die hier gezeigte Zeichnung ist die Fotografie Nr. S69-33247 vom 22. April 1969; vgl. www.hq.nasa.gov/alsj/a11/ap11-S69-32247.jpg (14. Oktober 2009). 17 Vgl. Baltrusˇaitis 1986, S. 285 ff.; Hans-Joachim Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, Hildesheim, Zürich u. New York 1984, S. 285. 18 Vgl. Wolfgang Harms et al. (Hrsg.). Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl, Tübingen 1983, Kat.-Nr. 30, S. 62 f.; id. (Hrsg.): Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe, Ausstellungskatalog, Kunstsammlungen der Veste Coburg 1983, Kat.-Nr. 135, S. 276 f. 19

Vgl. www.hq.nasa.gov/alsj/a11/images11.html#5930 (14. Oktober 2009).

20

National Aeronautics and Space Administration o. J. (1971), Kat.-Nr. 65.

21

Vgl. www.hq.nasa.gov/alsj/a15/AS15-88-11894HR.jpg (14. Oktober 2009).

22 National Geographic. Official Journal of the National Geographic Society 6/1969, Titelblatt; im Heftinneren wird das Bild noch einmal gezeigt; vgl. ibid., S. 736 f. Der vollständige Text lautet: »Here men from the planet Earth first set foot upon the moon July 1969, A.D. We came in peace for all mankind«. 23

Zur Frage, warum es keine Bilder von Armstrong auf dem Mond gibt, vgl. Arnold 1993, S. 266 ff.

24 Alfred Polgar: Kleinere Schriften, Reinbek 1982, Bd. 1, S. 73, zitiert nach Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main 2000, S. 475. 25 Reactions to Man’s Landing on the Moon Show Broad Variations in Opinions, in: The New York Times, 21. Juli 1969, S. 6: »The most conspicuous scientific and technical achievements of our age – nuclear bombs, rockets, computers – are all direct products of war, and are still being promoted, under the guise of ›Research and Development‹ for military and political ends that would shrivel under rational examination and candid moral appraisal. The moon-landing program is no exception: it is a symbolic act of war, and the slogan the astronauts will carry, proclaiming that it is for the benefit

513 | Anmerkungen zu S. 373–377

of mankind, is on the same level as the Air Force’s monstrous hypocrisy – ›Our Profession is Peace.‹« 26

Blumenberg 2000, S. 417.

27

Ibid., S. 416.

28 Vgl. Golo Mann (Hrsg.): Die Welt von heute [1961], Berlin u. Frankfurt am Main, 2. Auflage 1986 (Propyläen-Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Bd. 10), S. 686 u. Abb. auf dem Buchrücken. 29

Blumenberg 2000, S. 420.

30 Vgl. Dedo Burhop: »Postkriegs-Belege« 1948–1972. Beanstandete Postwertzeichen und Werbestempel »Berliner Postkrieg«. Luftbrücke Berlin, Stollhamm 1984. 31 Vgl. Ulrich Raulff: Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee. »Idea vincit«: Warburg, Stresemann und die Briefmarke«, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 6/2002, S. 125–162, S. 131. Von Warburgs Briefmarkenvortrag haben sich im Archiv des Warburg Institute, London, lediglich die vorbereitenden Aufzeichnungen erhalten (WIA III, 99.1.1.1). Ich danke Claudia Wedepohl, Warburg Institute Archive, für ihre freundliche Auskunft. 32 Vgl. Michel-Europa-Katalog, Bd. 4 (Osteuropa 2004/2005), München 2004: Polen Michel Kat.-Nr. 1940; Rumänien Michel Kat.-Nr. 2781 u. Bl. 72; Tschechoslowakei Michel Kat.-Nr. 1888– 1889; Ungarn Michel Kat.-Nr. 2519, Bl. 72A u. 72B. Im Dezember 1972 wurden in Rumänien anlässlich von Apollo 17 sogar ein Satz von neun Marken und zwei zusätzliche Blocks ausgegeben, die wesentliche Ereignisse des Apollo-Programms zeigen, dabei aber ganz ohne einen sprachlichen oder bildlichen Hinweis auf die Vereinigten Staaten auskommen; vgl. Rumänien Michel Kat.-Nr. 3069–3079 u. Bl. 102–103. 33

Vgl. Polen Michel Kat.-Nr. Bl. 109.

34

Vgl. Rumänien Michel Kat.-Nr. Bl. 257.

35

Vgl. Thomas Kunze: Nicolae Ceaus¸ escu. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 183.

36

Vgl. ibid., S. 345.

37 Vgl. beispielsweise Gernot L. Geise: Der größte Betrug des Jahrhunderts? Die Apollo-Mondflüge, Hohenpeißenberg 2000, S. 101 ff.; Gerhard Wisnewski: Lügen im Weltraum. Von der Mondlandung zur Weltherrschaft, München 2005, S. 164 f.; zu den topischen Kritikpunkten und deren Widerlegung vgl. Philip C. Plait: Bad Astronomy. Misconceptions and Misuses Revealed, from Astrology to the Moon Landing »Hoax«, New York 2002, S. 168 ff. 38 Vgl. Achatz von Müller u. Lucas Burkart: Beruhen Geschichtsbilder auf Bildern?, in: Clemens Wischermann (Hrsg.): Geschichtsbilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz, Konstanz 2007, S. 42–43. 39 Für diesen Ansatz vgl. grundlegend Francis Haskell: History and Its Images. Art and the Interpretation of the Past, New Haven 1993; Annette Tietenberg (Hrsg.): Das Kunstwerk als Geschichtsdokument. Festschrift für Hans-Ernst Mittig, München 1999.

Abstrakte Geschichte (Sven Beckstette) Zitiert nach Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 2005, S. 642; zur Roten Armee Fraktion vgl. Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, 2 Bde. 1

514 | Anmerkungen zu S. 378–388

2 Vgl. Werner Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 71987, S. 490 f. 3 Vgl. Sabine Fischer: »Die Maschinengewehre haben ja die Mächtigen. Dies ist Malerei.« Zur politischen Ikonographie K. R. H. Sonderborgs, in: Jochen Poetter (Hrsg.): K. R. H. Sonderborg, Ausstellungskatalog, Staatliche Kunsthalle, Baden-Baden 1993, S. 31–50.

Anonym: »Ich habe mir eine Spielzeugpistole gekauft«. Gerichtsmediziner über den Tod der Stammheimer Häftlinge, in: Der Spiegel 6/1978, S. 81–97.

4 5

Ibid., S. 84.

Zitiert nach Georg-W. Költzsch (Hrsg.): Informel. Symposium Informel, 8.10.–12.10.1982. Die Malerei der Informellen heute, Ausstellungskatalog, Moderne Galerie, Saarlandmuseum, Saarbrücken 1983, S. 122.

6

7

Zitiert nach ibid., S. 30 f.

8 Auszüge aus einem Gespräch zwischen K. R. H. Sonderborg und Jochen Poetter, in: K. R. H. Sonderborg 1993, S. 146.

K. R. H. Sonderborg: Ruhe und Geschwindigkeit, in: Manfred de la Motte (Hrsg.): K. R. H. Sonderborg, Berlin 1991, S. 18.

9

10 Zum Begriff der »Spur« bei Sonderborg vgl. Meinrad Maria Grewenig: Spuren der Wirklichkeit – Bilder K. R. H. Sonderborgs, in: Georg-W. Költzsch (Hrsg.): K. R. H. Sonderborg. Werke 1948 bis 1986, Ausstellungskatalog, Moderne Galerie, Saarlandmuseum, Saarbrücken 1987, S. 15–25. 11 Die Haftbedingungen der RAF-Terroristen lösten mehrere kontroverse Debatten in der Bundesrepublik aus. Die einsitzenden Mitglieder des »Harten Kerns« stellten ihre Situation dabei immer wieder öffentlichkeitswirksam als Isolationsfolter dar und demonstrierten dagegen mit Hungerstreik. Besondere mediale Aufmerksamkeit erzielten sie in diesem Zusammenhang mit dem Besuch Jean-Paul Sartres in Stammheim. Zum Hungerstreik der RAF in Stammheim 1974 und seinen Folgen vgl. Aust 2005, S. 297 ff. 12

Anonym 1978, S. 84.

13 Vgl. Grewenig 1987, S. 25. Zur Arbeitsweise Sonderborgs vgl. Költzsch 1983, S. 75 ff.; Achim Sommer: Im Ungewissen behaupten. Bewegung – Geste – Spur. Zum Werk von K. R. H. Sonderborg, in: id. (Hrsg.): K. R. H. Sonderborg. Maler ohne Atelier, Ausstellungskatalog, Kunsthalle, Emden 2003, S. 11 ff. 14 Vgl. Klaus Biesenbach (Hrsg.): Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Ausstellung, Ausstellungskatalog, KW Institute for Contemporary Art, Berlin 2005, 2 Bde. 15 So in der XPO Galerie, Hamburg (1985), in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums, Saarbrücken (1987), in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden (1993) sowie kürzlich in der Kunsthalle Emden (2003); auch in der Berliner RAF-Ausstellung war 2005 eine Version der Serie zu sehen. 16

Für diese Auskunft danke ich Johannes Janssen vom Saarlandmuseum, Saarbrücken.

17 Für diese Auskunft und weitere Hilfe danke ich Anton Markmiller und Monika Beck von der Landesvertretung des Saarlandes, Berlin. 18 In einem Gespräch mit Norbert Bisky und Oliver Koerner von Gutstorf bestätigte Sonderborg den politischen Gehalt dieser und anderer Bilder; vgl. Katja Blomberg: Norbert Bisky. Ich war’s nicht, Ausstellungskatalog, Haus am Waldsee, Berlin 2007, S. 76: »Politisch war es bei mir natürlich auch. In den Gremien saßen viele ehemalige Nazis.«

515 | Anmerkungen zu S. 389–397

19 Zu den Ereignissen in Bad Kleinen und deren Rezeption vgl. Butz Peters: Der letzte Mythos der RAF. Das Desaster von Bad Kleinen – Wer erschoß Wolfgang Grams, Berlin 2006. 20

Vgl. Aust 2005, S. 637 ff.

Das unauslöschliche Gedächtnis der Bilder (Julia Gelshorn) Das Museum für Moderne Kunst und Portikus, Frankfurt am Main, haben die kritische Rezeption in einer Publikation zusammengefasst: Presseberichte. Gerhard Richter. 18. Oktober 1977, Köln 1989.

1

2 Vgl. Gerhard Richter, Ausstellungskatalog, Musée d’art moderne, Paris et al. 1993–1994, 3 Bde., Bd. 3, Kat.-Nr. 2–4 u. Kat.-Nr. 49–51. 3 Zur Aufarbeitung der deutschen und internationalen Rezeption des Zyklus vgl. Hubertus Butin: Zu Richters Oktober-Bildern, Köln 1991, S. 32 ff.

Eine nicht unumstrittene Darstellung der Ereignisse findet sich in Stefan Aust: Der BaaderMeinhof-Komplex, Hamburg 1985. Zur Zusammenfassung der Ereignisse in Bezug auf Richters Zyklus vgl. Butin 1991, S. 9 ff.; Robert Storr (Hrsg.): Gerhard Richter. October 18, 1977, Ausstellungskatalog, Museum of Modern Art, New York 2000–2001.

4

5 Vgl. Kai-Uwe Hemken: Gerhard Richter. 18. Oktober 1977, Frankfurt am Main 1998, S. 78 f.; id.: Leiden an Deutschland – Gerhard Richters Elegie der Moderne. Geschichtsphilosophie im Zyklus »18. Oktober 1977«, in: Eckart Gillen (Hrsg.): Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land, Ausstellungskatalog, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1997–1998, S. 413–420, S. 415.

Hubertus Butin: Richters RAF-Zyklus nach New York verkauft: kultureller Gewinn oder Verlust?, in: Kunstforum international 132/1996, S. 432–435, S. 434.

6

7 Stefan Germer: Ungebetene Erinnerung, in: Kasper König u. Gerhard Storck (Hrsg.): Gerhard Richter. 18. Oktober 1977, Ausstellungskatalog, Museum Haus Esters, Krefeld / Portikus, Frankfurt am Main 1989, S. 51–53, S. 53; vgl. Butin 1991, S. 43–44; Hemken 1998, S. 91 ff.; Storr 2000–2001, S. 98 f. Richters Aussagen finden sich in: Gerhard Richter / Jan Thorn-Prikker. Gespräch über den Zyklus »18. Oktober 1977«, in: Parkett 19/1989, S. 127–136; Gregorio Magnani: Gerhard Richter. For me it is absolutely necessary that the Baader-Meinhof is a subject for art, in: Flash Art 146/1989, S. 94–97; Butin 1996, S. 432 ff. 8 Hansgünther Heyme: »Trauerarbeit der Kunst muß sich klarer geben«, in: Art. Das Kunstmagazin 4/1989, S. 14–15, S. 15. 9 Walter Grasskamp: Gerhard Richter: 18. Oktober 1977, in: Jahresring. Jahrbuch für moderne Kunst 36/1989, S. 220–229, S. 226.

Hilton Kramer: MoMA Helps Martyrdom of German Terrorists, in: The New York Observer, 3.–10. Juli 1995, S. 23.

10 11

Vgl. Butin 1991, S. 40 f.

Vgl. Grasskamp 1989, S. 222; Gerhard Richter: Brief an Walter Grasskamp, in: Presseberichte 1989, S. 111–112.

12 13

Magnani 1989, S. 97.

14

Storr 2000–2001, S. 123.

15 Martin Henatsch: Gerhard Richter. 18. Oktober 1977. Das verwischte Bild der Geschichte, Frankfurt am Main 1998, S. 52. 16

Storr 2000–2001, S. 127.

516 | Anmerkungen zu S. 397–407

17

Vgl. Hemken 1998, S. 69 f.

Vgl. Butin 1991, S. 45 ff.; Ulf Erdmann Ziegler: Wie die Seele den Leib verlässt. Gerhard Richters Zyklus »18. Oktober 1977«, das letzte Kapitel westdeutscher Nachkriegsmalerei, in: Gillen 1997, S. 406–412, S. 408 ff.; Hemken 1997, S. 415; Storr 2000–2001, S. 106 ff.

18

19

Thorn-Prikker 1989, S. 128.

20

Vgl. Butin 1991, S. 45; Roland Barthes: Photos-chocs, in: id.: Mythologies, Paris 1957, S. 105–107.

21

Vgl. ibid., S. 106.

22

Germer 1989, S. 51.

Vgl. Benjamin H. D. Buchloh: Gerhard Richter: 18. Oktober 1977, in: Gerhard Richter 1989, S. 55–59, S. 57.

23

24

Germer 1989, S. 52.

25

Vgl. Henatsch 1998, S. 32 ff.

Vgl. Storr 2000–2001, S. 112 f.; Henatsch 1998, S. 74 ff. Benjamin Buchloh liest die Grisaille bei Richter grundsätzlich in der Funktion der Trauer und als allegorische Hingabe an den Tod; Benjamin H. D. Buchloh: Richter’s Abstractions: Silences, Voids, and Evacuations, in: Gerhard Richter. Paintings from 2003–2005, Ausstellungskatalog, Marian Goodman Gallery, New York, 2005–2006, Köln 2005, S. 7–27, S. 23.

26

27 Vgl. dazu ausführlicher Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München 2012, S. 96–119. 28

Thorn-Prikker 1989, S. 127.

29

Vgl. Pieter H. Bakker Schut: Stammheim. Der Prozess gegen die Rote Armee Fraktion, Kiel 1986.

30

Vgl. Hemken 1998, S. 95 ff.

Vgl. ein ähnliches Vorgehen in Bezug auf den Irakkrieg in Richters Künstlerbuch Warcut, in dem er Texte aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit fotografischen Ausschnitten eines seiner abstrakten Gemälde konfrontiert; Gerhard Richter: Warcut, Köln 2004.

31

32 Dabei wäre jedoch zu bedenken, dass mit der »Abstraktion« eine im 20. Jahrhundert ebenso ideologisch aufgeladene Bildsprache aufgegriffen wird, von der sich die künstlerischen Positionen der NeoAvantgarden gerade absetzen. Zur allegorischen Struktur vgl. Craig Owens: The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism (Part 2), in: October 13/1980, S. 58–80, S. 79 f.

Charles Baudelaire: Die künstlichen Paradiese. Opium und Haschisch: Der Opiumesser, in: id.: Sämtliche Werke/Briefe (hrsg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois), Frankfurt am Main 1989, 8 Bde., Bd. 6, S. 103–187, S. 174.

33

34

Vgl. dazu ausführlicher Gelshorn 2012.

35

Hemken 1998, S. 111 u. S. 145 ff.; Hemken 1997, S. 418 ff.

Vgl. Craig Owens: The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism, in: October 12/1980, S. 67–86. Zur »catastrophic structure of history« vgl. Peter Muir: Signs of a beginning: »October« and the »Pictures« exhibition, in: Word & Image. A Journal of verbal, visual inquiry 20–1/2004, S. 52–62, S. 58. 36

517 | Anmerkungen zu S. 408–415

Das informelle Historienbild (Christoph Zuschlag) 1 Vgl. Christoph Zuschlag: Gestus als Symbol. Zur Symbolfähigkeit der informellen Malerei, in: Heinz Althöfer (Hrsg.): Informel. Begegnung und Wandel, Dortmund 2002 (Schriftenreihe des Museums am Ostwall, Bd. 2), S. 74–83; id.:, K. O. Götz: Jonction – ein informelles Historienbild?, in: Ralph Melcher (Hrsg.): K. O. Götz – Impuls und Intention. Werke aus dem Saarland Museum und aus Saarbrücker Privatbesitz, Ausstellungskatalog, Saarbrücken, Moderne Galerie, Saarlandmuseum 2004, S. 79–84; Christine Baus: Das Formelle in der informellen Malerei. Eine methodologische Untersuchung zur Malerei des deutschen Informel, Dissertation, Heidelberg 2007 (elektronische Version unter http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2008/8372/). Wertvolle Hinweise zum Manuskript des vorliegenden Textes verdanke ich K. O. Götz und Rissa sowie Joachim Lissmann. 2

K. O. Götz: Erinnerungen, Bd. 4 (1975–1999), Aachen 1999, S. 87.

Zur ersten Verwendung des Motivs vgl. Bild vom 30.11.1955, reproduziert in K. O. Götz: Erinnerungen und Werk, Bd. 1b, Düsseldorf 1983, S. 746, Abb. 838 (mit falscher Bildunterschrift). 3

4

K. O. Götz: Zungensprünge. Gedichte 1945–1991, Aachen 1992, S. 110 (dort falsch datiert).

Vgl. Klaus Heinrich Kohrs: Schema und Variation, in: K. O. Götz. Monotypien, Gemälde, Gouachen 1935–1983, Ausstellungskatalog, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf / Moderne Galerie, Saarlandmuseum, Saarbrücken / Villa Merkel, Esslingen 1984–1985, S. 138–142; Christoph Zuschlag: Variation als Prinzip. Gedanken zur Mappe »Variationen« von K. O. Götz, in: Manfred Hügelow (Hrsg.): Karl Otto Götz. Werkverzeichnis der Original-Lithographien, Ergänzungsband 1994–1995, Offenbach 1995, S. 9–13.

5

6 Aus einem 1972 veröffentlichten Interview mit Georg Bussmann, zitiert nach dem Wiederabdruck in Tayfun Belgin (Hrsg.): Kunst des Informel. Malerei und Skulptur nach 1952, Ausstellungskatalog, Museum am Ostwall, Dortmund / Kunsthalle, Emden / Neue Galerie, Linz 1997–1998, S. 253 f. 7 Bereits in seiner frühen informellen Phase hatte der Künstler seine Bilder häufig mit dem Entstehungsdatum betitelt, seit 1956 aber nicht mehr. 8

Götz 1999, S. 88.

9

Ibid.

10 Götz 1983, S. 797; vgl. ibid., Abb. 901 u. Abb. 923. Farbabbildungen aller drei Bilder finden sich in Adam C. Oellers u. Harald Kunde (Hrsg.): K. O. Götz. Ein Rückblick – Aktuelle Arbeiten, Ausstellungskatalog, Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen 2004, S. 38 f.; Joachim Lissmann (Hrsg.): K. O. Götz. Werkverzeichnis. Bilder 2003 bis 2006. Stahlreliefs 2000 bis 2006. Holzvögel 2003 bis 2005, Alsdorf 2006, S. 14. 11 Michael Klant u. Christoph Zuschlag (Hrsg.): »Abstrakt ist schöner!« Karl Otto Götz im Gespräch, Stuttgart 1994, S. 38; vgl. Kreuze, Ausstellungskatalog, Internationales Künstlerhaus Villa Concordia, Bamberg 2002 (Edition Villa Concordia, Bd. 7 / Veröffentlichungen der Hauptabteilung Kunst und Kultur des Erzbischöflichen Ordinariates Bamberg, Bd. 11), S. 35; Sven Beckstette: Das Historienbild im 20. Jahrhundert. Künstlerische Strategien zur Darstellung von Geschichte in der Malerei nach dem Ende der klassischen Bildgattungen, Dissertation, Freie Universität Berlin 2008, S. 134 ff. 12

Götz 1983, S. 1236; vgl. ibid., Abb. 1403–1404.

Vgl. Manfred Hügelow (Hrsg.): Karl Otto Götz. Werkverzeichnis der Original-Lithographien. 1996–2001, 2. Ergänzungsband, Offenbach 2002, Kat.-Nr. 179–181.

13

14 Vgl. Joachim Lissmann: Zu einigen Bildern von K. O. Götz der Jahre 2000 bis 2006, in: id. 2006, S. 13–17. In diesem Band finden sich auch Farbabbildungen der im Folgenden besprochenen Werke.

518 | Anmerkungen zu S. 417–426

15

Vgl. Götz 1992, S. 30 f.

Vgl. K. O. Götz: Tsunami, in: id.: Freiheitstropfen. Gedichte 2005, Alsdorf 2005, S. 12; dort auch ein Gedicht mit dem Titel Irak; vgl. ibid., S. 25.

16

Hier seien auch die ebenfalls 2005 datierten Bilder Hurrikan, Tornado und Dürre erwähnt. In ihnen verzichtet der Künstler auf jegliche Inschriften, evoziert dagegen den Eindruck des jeweiligen Geschehens mit rein malerischen Mitteln.

17

18 Menetekel I 2011 wurde publiziert in Oliver Kornhoff (Hrsg.): Karl Otto Götz. In Erwartung blitzschneller Wunder, Ausstellungskatalog, Arp-Museum, Rolandseck 2010, S. 103. Menetekel II 2011 wird hier erstmals veröffentlicht. Götz malte zu diesen Bildern auch eine Serie von kleinformatigen Gouachen. 19 Vgl. Barbara Nierhoff-Wielk: »Das Wunder beim Schopfe packen«. Anmerkungen zum informellen Werk von Karl Otto Götz, in: Kornhoff 2010, S. 17–26, S. 24.

Vgl. Christoph Zuschlag: Undeutbar – und doch bedeutsam. Überlegungen zur informellen Malerei, in: id., Hans Gercke u. Annette Frese (Hrsg.): Brennpunkt Informel. Quellen – Strömungen – Reaktionen, Ausstellungskatalog, Kurpfälzisches Museum / Heidelberger Kunstverein, Heidelberg 1998–1999, S. 38–45, S. 42 f.

20

Die Enttäuschung des Krieges (Ursula Frohne) 1 Vgl. Terry Atkinson: Dead Troops Talk, in: Jeff Wall. Dead Troops Talk, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Luzern / Dublin, Irish Museum of Modern Art / Hamburg, Deichtorhallen, 1993–1994, S. 9–27, S. 9; vgl. Wolfgang Brückle: Bilder, die nichts zeigen. Inszenierter Krieg in der künstlerischen Fotografie, in: Lars Blunck (Hrsg.): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration, Bielefeld 2010, S. 85–102. 2

Marie-José Mondzain: Können Bilder töten?, Zürich u. Berlin 2006, S. 21.

3 Henri Barbusse: Le Feu. Journal d’une escouade, Paris 1916, S. 359 f. Im Original lautet die Stelle, die hier in eigener Übersetzung wiedergegeben ist: »C’est maintenant un surnaturel champ de repos. Le terrain est partout taché d’êtres qui dorment, ou qui, s’agitant doucement, levant un bras, levant la tête, se mettent à revivre, ou sont en train de mourir. La tranchée ennemie achève de sombrer en elle-même dans le fond de grands vallonnements et d’entonnoirs marécageux, hérissés de boue, et elle y forme une ligne de flaques et de puits. On en voit, par places, remuer, se morceler et descendre les bords qui surplombaient encore. […] Tous ces hommes à face cadavérique, qui sont devant nous et derrière nous, au bout de leurs forces, vides de paroles comme de volonté, tous ces hommes chargés de terre, et qui portent, pourrait-on dire, leur ensevelissement, se ressemblent comme s’ils étaient nus. De cette nuit épouvantable il sort d’un côté ou d’un autre quelques revenants revêtus exactement du même uniforme de misère et d’ordure.« 4 Zur »forensic function« der Fotografie vgl. David Campany: Photography and Cinema, London 2008, S. 45; zu fotografischer Indexikalität und Körperdiskursen vgl. Ursula Frohne: Berührung mit der Wirklichkeit. Körper und Kontingenz als Signaturen des Realen in der Photographie der Gegenwart, in: Hans Belting, Dietmar Kamper u. Martin Schulz (Hrsg.): Quel Corps?, München 2002, S. 401–426. 5 Vgl. Judith Butler: Krieg und Affekt (hrsg. v. Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch u. Eva von Redecker), Zürich u. Berlin 2009.

Vgl. Kurt Lewin: Kriegslandschaft [1917], in: id.: Werkausgabe, Bd. 4 (hrsg. v. Carl-Friedrich Graumann), Bern u. Stuttgart 1982, S. 315–325.

6 7

Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 22.

519 | Anmerkungen zu S. 426–436

8

Ibid.

9

Ibid., S. 23.

Vgl. Carlo Ginzburg: Checking the Evidence. The Judge and the Historian«, in: Critical Inquiry 18/1991, S. 79–92; Francis Haskell: History and Its Images. Art and the Interpretation of the Past, New Haven u. New York 1993. 10

11

Ginzburg 1991, S. 83.

12

Ibid.

Vgl. Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie [1895], in: id.: Gesammelte Werke (hrsg. v. Angela Richards), Frankfurt am Main 1999, Nachtragsbd., S. 375–486. 13

Jean-François Lyotard: Eine postmoderne Fabel, in: Hartmut Böhme u. Jörg Huber (Hrsg.): Wahrnehmung von Gegenwart, Basel, Frankfurt am Main u. Zürich 1992, S. 15–30, S. 24.

14

Heath erörtert die suture als ein filmisches Prinzip, das darauf basiert, dass der Zuschauer die Schnittfolgen im Film, welche unterschiedliche Raum- und Zeitebenen miteinander konfrontieren, durch seine Wahrnehmungsaktivität miteinander zur narrativen Logik verschweißt; vgl. Stephen Heath: Bemerkungen zur Suture, in: Joachim Paech et al. (Hrsg.): Screen Theory. Zehn Jahre Filmtheorie in England von 1971–1981, Osnabrück 1985, S. 131–146.

15

16

Lyotard 1992, S. 24.

17 Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986; id.:, Optische Medien, Berlin 2002.

Die Ästhetisierung der Opfer von Kriegen hat seit dem zweiten Afghanistankrieg 2001 als ein Nebeneffekt des seither praktizierten »embedded journalism« der US-amerikanischen Streitkräfte die Simulationsbilder verdrängt und eine neue Gattung der Kriegsfotografie herausgebildet, die internationale Auszeichnungen erhält. Hierbei handelt es sich aber weder um Bilder aus dem Feld der Kunst, noch um eine objektivierende visuelle Berichterstattung, sondern um die Indienstnahme effektiver Pathosformeln für ein auf Identifikation hin angelegtes, mithin kriegslegitimierendes Darstellungsspektrum.

18

19 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München 2003, S. 104. Am Ende ihres Buches nimmt Sontag Bezug auf Jeff Walls Großbildiapositiv Dead Troops Talk, das sie kontrovers diskutiert; vgl. ibid., S. 143 ff. 20 Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1915], in: id.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt am Main 1999, S. 324–355, S. 325; zu diesem Aufsatz vgl. Felix Ensslin: Angst, in: Wörterbuch des Krieges / Dictionary of War, Berlin 2008, S. 7–19. 21 Freuds Aufzeichnungen lassen sich auf die moderne Kriegserfahrung insgesamt übertragen, wenn er schreibt: »Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege gemacht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat« (ibid., S. 331). 22 Vgl. Jacques Derrida: Spectres du Marx, Paris 1993; Christine Blättler: Wiedergänger. Zu Derridas »Spectres du Marx«, in: Trajekte 18/2009, S. 51. 23

Ibid.

Zitiert nach Jeff Wall. Restoration, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Luzern / Kunsthalle Düsseldorf 1994, S. 10. 24

25 Vgl. Tom Holert u. Mark Terkessidis: Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln 2002.

520 | Anmerkungen zu S. 436–445

Vgl. Brigitte Werneburg: Der Arbeiter und sein Bilderbuch. Der Wechsel des Mediums in Ernst Jüngers Fotobuch »Der Arbeiter«. Ein visueller Kommentar zur Veränderung der Welt, Bremen 1996 (www.werneburg.nikha.org/?id=499).

26

Ibid.; dort zitiert nach Peter M. Spangenberg: Mediale Kopplungen und die Konstruktivität des Bewußtseins, in: Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt am Main 1991, S. 791–808, S. 802.

27

28

Vgl. Peter Sloterdijk: Luftbeben, Frankfurt am Main 2002, S. 12.

Lukrez: De rerum natura, II.550–568; zur Geschichte der Deutung dieser Figur vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979.

29

Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nicolai Lesskows, in: id.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1961, S. 409–436, S. 410; auch zitiert bei Arielle Pelenc: Das Unheimliche, in: Jeff Wall. Restoration 1993, S. 32–38, S. 35.

30

31 Restoration. Interview with Martin Schwander 1994, in: Thierry de Duve, Arielle Pelenc u. Boris Groys (Hrsg.): Jeff Wall, London 1996, S. 126–139, S. 133. 32

Marie-José Mondzain: Können Bilder töten?, Zürich u. Berlin 2006, S. 21.

Das Ereignis und seine Bilder (Dietrich Erben) 1 Die Literatur zu den Terroranschlägen des 11. September 2001 in den USA stellt sich mit zahllosen Beiträgen von der politischen Analyse über den individuellen Erfahrungsbericht bis zur idiosynkratischen Verschwörungstheorie als kaum überschaubar und höchst disparat dar. Die hier zugrundeliegende historische und politische Einschätzung der Ereignisse verdankt maßgebliche Anregungen David C. Rapoport: Inside Terrorist Organizations [1988], London, 2. Auflage 2001; Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2002; Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt am Main 2002; Peter Waldmann: Terrorismus und Bürgerkrieg. Die Staatsmacht in Bedrängnis, München 2003; Ami Pedahzur: Suicide Terrorism, Cambridge, Mass. 2005; Ulrich Schneckener: Transnationaler Terrorismus, Frankfurt am Main 2006; Lawrence Wright, The Looming Tower. Al-Qaeda and the road to 9/11, London 2006 (deutsche Ausgabe: Der Tod wird euch finden, München 2007); Marc Sageman, Leaderless Jihad. Terror networks in the 21st century, Pittsburg 2008.

Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Terroristische Gewalt – Was klärt die Frage nach ihren Motiven?, in: Detlef Sack et al. (Hrsg.): Gewalt statt Anerkennung? Aspekte des 11.9.2001 und seiner Folgen, Frankfurt am Main 2003, S. 36–53.

2

Zur medialen Vermittlung und zur Bildlichkeit des 11. September vgl. Christian Schicha u. Carsten Brosda (Hrsg.): Medien und Terrorismus. Reaktionen auf den 11. September, Münster 2002; Christel Fricke: Kunst und Öffentlichkeit. Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Ursula Franke u. Josef Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie. Positionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2003 (Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft), S. 1–18; Michael Beuthner et al. (Hrsg.): Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln 2003; Claus Leggewie: 11. September 2001 – wessen Niederlage? Die Entstehung eines globalen Erinnerungsortes, in: Horst Carl et al. (Hrsg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 447– 463; Otto Karl Werckmeister: Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001, Berlin 2005; Linda Hentschel (Hrsg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008; Dietrich Erben: Mediale Konfigurierung eines Ereignisses. Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Enno Rudolph u. Thomas Steinfeld (Hrsg.): Machtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel, Zürich 2012, S. 179–211 (erweiterte Fassung des vorliegenden Textes, in der die Ereignisdenkmäler und die Neubebauung des »Ground Zero« behandelt werden).

3

521 | Anmerkungen zu S. 445–449

4 Dies konstatieren bereits die ersten Augenzeugenberichte und Analysen; vgl. die Sammlung von Aufsätzen in: Toni Morrisson et al.: Dienstag 11. September 2001, Reinbek 2001. 5 Karal Ann Marling u. John Wetenhall: Iwo Jima. Monuments, Memories and the American Hero, Cambridge, Mass. et al. 1991; Pamela C. Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen. Betrachtungen über eine patriotische Ikone der Medienlandschaft, in: Franke u. Früchtl 2003, S. 19–44; Hans-Werner Schmidt: Edward Kienholz. The Portable War Memorial. Moralischer Appell und politische Kritik, Frankfurt am Main 1988 (Kunststück); zur Fotografie von Jenkins vgl. Meike Mügge: Die »Helden« des 11. September. Kritische Rekonstruktion eines Bildtyps, Magisterarbeit, RuhrUniversität Bochum 2005. 6 Vgl. Bernd Hüppauf: Ground Zero und Afghanistan. Vom Ende des fotografischen Bildes im Krieg der Unschärfen, in: Fotogeschichte 22/2002, S. 7–22. 7 Die Literatur zum »war on terror« ist mittlerweile immens; zur kriegsideologischen und mediengeschichtlichen Sicht vgl. Richard Jackson: Writing the War on Terrorism. Language, politics and counter-terrorism, Manchester u. New York 2005; Gerhard Paul: Der Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der »Operation Irakische Freiheit«, Göttingen 2005; Magnus-Sebastian Kutz: Public Relations oder Propaganda? Die Öffentlichkeitsarbeit der US-Administration zum Krieg gegen den Irak 2003, Berlin 2004; Erin Steuter u. Deborah Wills: At War With Metaphor. Media, propaganda, and racism in the war on terror, Lanham 2008; Wolf Mackiewicz: Winning the War of Words. Selling the war on terror from Afghanistan to Iraq, Westport, Conn. 2008; Manfred B. Steger: The Rise of Global Imaginary. Political ideologies from the French Revolution to the war on terror, Oxford 2008. 8 Vgl. Tomorrow for Ever. Architektur / Zeit / Photographie (hrsg. v. Carl Aigner, Hubertus von Amelunxen u. Walter Smerling), Ausstellungskatalog, Kunsthalle Krems / Museum Küppersmühle und Sammlung Groth, Duisburg 1999–2000, S. 125; zum Werk des Künstlers vgl. Baldessari. While something is happening here, something is happening there. Works 1988–1999, Ausstellungskatalog, Sprengel Museum, Hannover 2000; John Baldessari. Pure Beauty, Ausstellungskatalog, Tate Modern, London 2009. 9 Vgl. Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 5); Annette Verhein: Das politische Ereignis als historische Geschichte. Auslandskorrespondentenberichte des Fernsehens in historiographischer Perspektive, Frankfurt 1990; Reinhard Blänker u. Bernhard Jussen (Hrsg.): Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen des gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 138); Andreas Suter u. Manfred Hettling (Hrsg.): Struktur und Ereignis, Göttingen 2001 (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. Sonderheft, Bd. 19); Dietrich Erben: Geschichtsüberlieferung durch Augenschein. Zur Typologie des Ereignisdenkmals, in: Achim Landwehr (Hrsg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 219–248; Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003. 10

Reinhart Koselleck: Ereignis und Struktur, in: id. u. Stempel 1973, S. 560–571, S. 566.

11 So die Definition von Andreas Suter: Theorien und Methoden für eine Sozialgeschichte historischer Ereignisse, in: Zeitschrift für historische Forschung 25/1998, S. 209–243, S. 210. 12 Jean Baudrillard: Der Geist des Terrors. Herausforderungen des Systems durch die symbolische Gabe des Todes, in: id.: Der Geist des Terrors, Wien 2002, S. 12. 13 Über eine solche Einschätzung der terroristischen Ideologie der Al-Qaida besteht weitgehend Konsens; vgl. dazu die in Anm. 1 genannte Literatur. 14 Zu dieser Bewertung Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1993; id.: Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt am Main 2006.

522 | Anmerkungen zu S. 450–462

REGISTER

Adam 82 Aelfgyva 35, 37 Agnolo di Tura 45 Agrippa, Camillo 67 Agrippa d’Aubigné, Théodore 136, 137 Aguirre, José Antonio 335 Aitzema, Lieuwe van 176, 177 Alba, Herzog von, siehe Fernando Alvarez de Toledo Alberti, Leon Battista 56, 70, 90, 91, 95, 96, 327 Albizzi, Luca di Maso degli 62 Albon de Saint-André, Jacques d’ 131 Alciatus, Andrea 166 Aldrin, Edwin »Buzz« 371–373, 375, 376, 378, 381–384 Alexander I. von Russland 217 Alexander VI. 101, 102 Alexander der Große 118, 191, 192, 196, 316 Ali Pascha 120 Altdorfer, Albrecht 118, 316 Ammann, Jost 118, 121 Anna von Österreich 141, 155 Ansano, Heiliger 45 Antonius, siehe Marcus Antonius Aoust, J. d’ 299 Apollo 196 Aragon, Louis 333 Arden, Roy 441, 442 Aristoteles 123, 152, 249, 251 Armstrong, Neil 371–381, 383

523 | Register

Arnold, Carl Heinrich 270 Arnolfi della Branca da Roma, Pietro 46 Arnolfini, Giovanni 177, 178, 376 Artemisia II. 135 Atkinson, Terry 432, 435 Aubert, François 282 Audran, Gérard 192 Augereau, Charles-Pierre-François 213 Augustus, Gaius Octavius, genannt 135 Azzoni, Altenerio degli 46 Baader, Andreas 25, 387–397, 400, 401, 405, 407, 413, 430 Bailly, Jean-Sylvain 202, 206, 207, 209, 210 Bakker Schut, Pieter H. 413 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 302 Baldessari, John 457–460 Balla, Giacomo 297 Balzac, Honoré de 328, 330, 331, 339 Barberigo, Augustin 118, 119 Barberini, Francesco 142 Barbier, Auguste 263 Barbusse, Henri 318 Barère, Bertrand 27, 204 Barnuevo, Miguel Lopez de 175 Baronio, Cesare 154, 156, 157 Barrault, Jean-Louis 328 Barthes, Roland 410, 442 Bartolini, Andrea 53, 55, 57 Bartolini, Damiano 53, 55–57, 70

Bartolini, Lionardo 55, 57, 71 Bataille, Georges 286, 288, 289, 328 Baudelaire, Charles 63, 415 Baume Dürrbach, Jacqueline de la 20 Beaubourg, Maurice 298 Becker, Verena 397 Beckmann, Max 438 Beckstette, Sven 396 Bellini, Gentile 13, 85–89, 92–98, 174 Bellona 143 Benjamin, Walter 59, 62, 63, 369, 415, 446 Bergerac, Cyrano de 374 Bergson, Henri 297, 300, 303 Bernstein, F. W. 383 Bessarione, Basilio 97 Bevière, Jean-Baptiste-Pierre 203 Bèze, Théodore de 139 Blado, Antonio 67 Blanc, Charles 262 Blanc, Louis 257 Blankenburg, Ludwig Rudolph von 197 Blechen, Carl 307 Blois, Adele von 39, 40 Blum, Léon 319, 333 Blumenberg, Hans 250, 378, 382 Boccaccio, Giovanni 73, 80, 82 Boccioni, Umberto 296, 300 Bockris, Victor 367 Bodin, Jean 137 Boehm, Gottfried 95, 339 Boilly, Louis-Léopold 214, 215 Bonaparte, Joseph 223 Bonaparte, Napoleon, siehe Napoleon Bonaparte Bonnemer, François 192 Bonzagna, Gian Federigo 123, 124 Borghini, Vincenzo 125, 137 Bourgeuil, Baudri de 39 Bracamonte y Guzmán, Caspar de 174–176 Brauckmeyer, Anneli 426 Brault, Louis 242 Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog von, siehe Blankenburg, Ludwig Rudolph von Brosens, Koenraad 153, 154 Brueghel, Pieter d. Ä. 353, 354 Brun, Antoine 175, 176, 179 Brunelleschi, Filippo 106 Bruni, Leonardo 60 Bryson, Norman 248 Buback, Siegfried 397 Buchloh, Benjamin 411 Buckingham, Herzog von, siehe Villiers, George Buoncompagno da Signa 51 Burckhardt, Jacob 42, 85, 86, 90

524 | Register

Bush, George W. 454 Butin, Hubertus 405, 409, 410 Caesar, Gaius Iulius 191, 152, 217 Caglioti, Francesco 54, 55 Calder, Alexander 323, 324 Calderón de la Barca, Pedro 159, 162, 169, 170 Callot, Jacques 160, 161, 305 Calvin, Johannes 140 Canal, Martin da 90 Cangrande I. della Scala 46 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 241 Carda, Bernardino della 61 Carlos, Balthasar 161 Caron, Antoine 135, 136 Carrà, Carlo 18, 293–304 Castagnary, Jules-Antoine 281 Castagno, Andrea del 47 Castres, Edouard 446 Cavalli, Jacopo 47 Ceauçescu, Nicolae 381 Cézanne, Paul 254 Charles de France 77 Charles X. 253, 255, 256 Chartier, Jean 81 Chastellain, Georges 81 Chaumareys, Hugues de 235, 236 Chevreul, Eugène 300 Chigi, Fabio 181 Chirico, Giorgio de 347 Christus 96, 110, 117, 120, 121, 123, 127, 130, 140, 204, 229, 230, 315 Cicero, Marcus Tullius 136, 151, 152 Clant van Stedum, Adriaen 175 Clément, Charles 239 Coemans, Marc de 142, 153 Coligny, Gaspard de 130–133, 137, 139 Colonna, Marcantonio 120 Comans, Marc de, siehe Coemans, Marc de Concini, Concino 143, 147 Condé, Prinz von, siehe Louis II. de Bourbon Conquérant, Guillaume le 29–40 Conrad, Charles 373 Coolidge, John 157 Cooper, Gordon 376 Coppola, Francis Ford 438 Cornelius, Peter von 281 Corréard, Alexandre 238–240, 242, 243, 247, 249 Cotignola, Michele Attendolo da 56, 59, 62, 63 Courbet, Gustave 257 Cranach d. Ä., Lucas 315 Crespin, Jean 133, 134

Crowell, Josephine 128 Cuyermans, Johannes 175 Daumier, Honoré 262 David 106, 107, 108 David, Jacques-Louis 14, 17, 18, 27, 201–211, 244, 260, 406, 407 Décazes, Elie 236 Decius-Mus, Publius 153 Dedreux-Dorcy, Pierre-Joseph 251 Dei, Benedetto 62 Delacroix, Eugène 19, 220, 251–265, 268, 290 Demokrit 437 Denon, Dominique-Vivant 215–217, 219 Derrida, Jacques 366, 436, 443 Dix, Otto 18, 305–317, 351, 352, 354, 438 Dollmann, Georg von 199 Domenico da Pescia 99, 101, 105 , 110 Donatello, Donato di Niccolò di Betto Bardi, genannt 47, 102, 103 Donia, Frans van 175 Du Bos, Jean-Baptiste 149, 198 Du Camp, Maxime 281 Duarte I. de Portugal 66 Dubois, François 127–130, 132–140 DuBon, David 152, 154 Dubouchage, François Joseph 236 Dumas, Alexandre 203, 262 Duret, Théodore 290 Eco, Umberto 430 Edith von Wessex 38 Eduard I. von Portugal, siehe Duarte I. de Portugal Edward der Bekenner 31, 33, 34, 36, 38, 39 Eichmann, Adolf 347, 348 Einstein, Albert 340 Elisabeth Stuart 141, 147, 155 Ensor, James 347 Ensslin, Gudrun 388, 390, 393, 397, 400, 401, 404, 408 Eva 82 Eyck, Jan van 177–179, 376 Fabri de Peiresc, Nicolas-Claude 142, 152 Fabriano, Gentile da 63 Farnese, Alessandro 168 Farnese, Pietro 46, 50 Fausta, Flavia Maxima 154–156 Fautrier, Jean 430 Fénéon, Félix 299 Ferdinand III. 172 Ferdinand VII. 221, 222–224, 227, 290 Ferdinand von Spanien und Portugal 228, 229

525 | Register

Fernando Alvarez de Toledo 171 Fiore dei Liberi 66, 67, 69 Forbin, Auguste de 251 Fortini Brown, Patricia 90, 97 Foucault, Michel 442 Fouquet, Jean 73–81, 83 Franco, Francisco 319, 322, 334, 336, 337 Franklin, Thomas E. 450, 451, 454 Franziskus, Heiliger 230 Franz-Joseph I. 279 Freud, Sigmund 370, 437, 442 Friedrich II. von Preußen 269, 273, 276, 277 Friedrich III. 199 Friedrich V. 141 Friedrich Wilhelm, siehe Friedrich III. Friedrich, Caspar David 307 Fronsperger, Leonhardt 118 Fumaroli, Marc 167, 168 Gadamer, Hans-Georg 19, 23 Gaertner, Eduard 270 Galen, Christoph Bernhard von 188 Galilei, Galileo 374 Galli, Alessandro 294 Galli, Angelo 293, 294, 296, 299, 301–303 Garibaldi, Guiseppe 285 Gattamelata, Erasmo da Narni, genannt 47 Geimer, Peter 287 Gent, Barthold van 174, 177, 180 Gérard, François 15, 16, 218 Géricault, Théodore 13, 235–239, 241–244, 246–252, 264, 338, 444 Gerle, Antoine-Christophe 206 Germer, Stefan 411 Gernhardt, Robert 382, 383 Gerstenberg, Kurt 168 Ghisilieri, Grandonio de’ 48 Ghisilieri, Gualengo 47 Gilio, Andrea 151 Ginzburg, Carlo 437 Giotto di Bondone 70 Girard, Laurens 75, 76, 81 Girodet de Roussy-Trioson, Anne-Louis 218 Godoy, Manuel 221–223 Godwinson, Harold 29, 31, 33–40 Goethe, Johann Wolfgang von 457 Goliath 108 Gonzaga, Luigi 133 González, Julio 323 Gorbatschow, Michael 431 Götz, Karl Otto 25, 26, 388, 417–430 Goulart, Simon 132, 133 Gourmont, Jean de 377

Goya, Francisco de 18, 221–227, 229–231, 233, 290, 306, 307, 314, 438 Graf, Urs 305 Gramont, Guy Armand de 187 Grams, Wolfgang 397 Grape, Wolfgang 30 Grasskamp, Walter 405 Grazda, Ed 435 Gregoire, Henri 206 Gregor I. 120 Gregor VIII. 120 Gregor XIII. 116, 137 Griffith, David Wark 127–130 Groebner, Valentin 65 Gros, Antoine-Jean 15, 211, 212, 215, 218–220, 259 Grünewald, Matthias 315 Guérin, Pierre-Narcisse 244, 245, 250, 251 Guiche de, Comte, siehe Gramont, Guy Armand de Guidoriccio da Fogliano 41, 43–46, 48–50, 52 Guiffrey, Jules 152 Guillotin, Joseph-Ignace 210 Guise, François de 130–133 Guise, Henri I. de 130–133 Guizot, François 128 Guzmán, Gaspar de 161 Hadjinicolaou, Nicos 253 Haftmann, Werner 388 Hager, Werner 42, 169 Halifax, Graf von, siehe Montagu, Charles Hardouin-Mansart, Jules 193 Hawkwood, John 47, 50 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 264 Heidegger, Martin 18 Heine, Heinrich 255, 263 Heinrich II. 130 Heinrich III. 143 Heinrich IV. 131, 142–144, 146, 147, 150–152, 157, 158 Held, Julius 154 Helena, Flavia Iulia 156 Helman, Isidore-Stanislas-Henri 205 Helmholtz, Hermann von 300 Hemken, Kai-Uwe 413, 415 Henatsch, Martin 407, 411 Henrietta Maria von Frankreich 141, 142 Henry, Charles 298, 299 Herkules 161, 195, 196, 229 Heyman, Ronnie 358 Heyman, Samuel 358 Heyme, Hansgünther 405

526 | Register

Himmler, Heinrich 30 Hitler, Adolf 313, 314, 333, 399 Hoeydonck, Paul Van 376 Hofer, Carl 347 Hoffmann, Heinrich 314 Hoffmann, Kurt Rudolf 388 Hogefeld, Birgit 397 Holbein, Hans 315, 350 Holofernes 102, 103, 106 Houbraken, Arnold 173 Houel, Nicolas 135 Hugo, Hermann 160 Hugo, Victor 285 Hulles, Anselm van 174 Humboldt, Wilhelm von 12, 22 Husserl, Edmund 18 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 248, 281 Isabella Clara Eugenia von Spanien 141 Jakob I. 141 Jamieson, Mitchell 376 Jeanne d’Arc 75 Johann II. der Gute 82 Johann II. von Alençon 73, 75, 76, 78, 81, 82 Johann von Berry 75, 82 Johanna von Österreich 143 Johannes, Evangelist 88 Johannes der Täufer 315 Johnson, Claudia »Lady Bird« 361 Johnson, Lyndon B. 359–361, 364, 366 Joyeuse, François de 147 Juan d’Austria 116 Juárez, Benito 284, 285 Judd, Donald 369 Judith 102, 103, 106 Jünger, Ernst 307 Juno 144, 154 Jupiter 144, 154, 195–198, 421 Justi, Carl 165 Kállai, Ernst 307, 308 Karl I. 141, 142 Karl IV. 221–223 Karl V. 113, 161, 171 Karl VI. 75 Karl VII. 75–77, 81, 82 Karl VIII. 64, 100 Karl IX. 130–132, 137 Karl XI. von Schweden 188 Kasing, Bill 382 Kemp, Wolfgang 261 Kennedy, Edward 362

Kennedy, Jacqueline 357–369 Kennedy, John F. 357, 359–361, 365–367, 370, 389, 456 Kennedy, John F., jr. 365 Kennedy, Robert 357, 362 Kienholz, Edward 452 Kinschot, Caspar van 174 Kirchhoff, Johann Jakob 272 Kittler, Friedrich 440 Klar, Christian 395, 397 Knoblochtzer, Heinrich 350, 351 Knuyt, Johan van 180 Költzsch, Georg-W. 396 Konstantia, Flavia Iulia 154 Konstantin der Große 120, 141, 142, 143, 152–158, 422 Konstantin II. 156 Konstantius, Flavius Julius 154, 155, 158 Koselleck, Reinhart 459 Kramer, Hilton 405 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 301, 302 Kubler, George 12, 41, 43 Kugler, Franz 273 Labriola, Arturo 301, 302 Ladislaus, König von Neapel 46 Lammert, Norbert 429 Laokoon 436 La Tour d’Auvergne, Henri de 187 Le Brun, Charles 185, 186, 191–193, 196–200, 244 Le Corbusier, Charles-Édouard Jeanneret, genannt 461 Legrand, Jaques 208 Leiris, Michel 326 Leonardo da Vinci 61, 63, 117 Leonardo, Jusepe 163, 164 Lepidus, siehe Marcus Aemilius Lepidus Lewin, Kurt 435 L’Hôpital, Michel de 130 Liberi, Fiore dei, siehe Fiore dei Liberi Lichtwark, Alfred 268, 273 Licinius, Licinianus 154–156 Liebermann, Max 274 Lissitzky, El 23, 24, 26 Lissmann, Joachim 429 Löbe, Paul 429 Loenen, Barthold van Gent, Herr van, siehe Gent, Barthold van Loon, Gerard van 189 Lootius, Eleazer 174 López de Santa Ana, Antonio 284 Lorca, Federico García 323 Lorenzetti, Ambrogio 50

527 | Register

Lorges, Gabriel de, siehe Montgomery, Gabriel de Lorges, Herzog von Louis II. de Bourbon 187 Louis de Valois, Herzog von Orléans 75, 77 Louis-Philippe 255–257, 261 Louvois, François Michel Le Tellier de 189 Ludwig von Orléans, siehe Louis de Valois, Herzog von Orléans Ludwig II. von Bayern 186, 199, 200 Ludwig XIII. 141–144, 147, 151–154 Ludwig XIV. 185, 187–191, 193–199 Ludwig XVIII. 236 Lukian von Samosata 374 Lukrez 249–251, 445 Lupi da Parma, Bonifacio de’ 47 Luther, Martin 314 Luynes, Charles d’Albert 143, 147 Lyotard, Jean-François 440 Maar, Dora 328 Macchiavelli, Niccolò 64, 65 Madonna, siehe Maria Magnani, Gregorio 406 Maître la Cité de Dames 80 Malanga, Gerard 363 Mander, Karel van 179 Manet, Edouard 279–281, 283, 285–291, 338, 406, 407 Mann, Golo 378 Mantz, Paul 152 Marat, Jean-Paul 17, 18, 27, 204, 406, 407 Marc Aurel 46 Marcus Aemilius Lepidus 135 Marcus Antonius 135 Marcus Sextus 244, 245, 250 Maria 50, 52, 102, 129, 151, 177, 180 Maria Luisa 221, 223 Marinetti, Filippo Tommaso 304 Markus, Heiliger 88, 93 Martin, Heiliger 45 Martini, Simone 41, 43–46, 49–51 Maruffi, Silvestro 99, 101 Marx, Karl 301 Marzagaia da Lavagno 51 Masereel, Frans 351–354 Mathenesse, Jan 175 Mathieu, Georges 430 Mathilde von Flandern 30 Maxentius, Marcus Aurelius Valerius 120, 154, 155 Maximian, Marcus Aurelius Valerius Maximianus, genannt 154, 155 Maximilian I. von Mexiko 279–291, 338, 407 Maxwell, James Clerk 300

Mayenne, Maupetit de la 206 Mazarin, Jules 193 McNeil Kettering, Alison 182 Medici, Cosimo de’ 54 Medici, Ferdinando de’ 147 Medici, Francesco de’ 119, 143 Medici, Katharina de’ 128–132, 135 Medici, Lorenzo de’ 53–55, 57 Medici, Maria de’ 141–149, 151, 155, 157, 158 Meier-Graefe, Julius 307 Meinhof, Ulrike 400, 401, 404, 405, 408, 413 Meins, Holger 400 Meissonier, Ernest 268 Mejía, Tomás 285, 287, 288 Memmi, Lippo 50 Mengs, Anton Raphael 165 Menzel, Adolph 18, 267–271, 273–277, 444 Mercier, Louis-Sébastien 198 Meulen, Adam-Frans van der 192, 196 Michelangelo Buonarroti 63, 106, 108, 116, 117, 241 Michelet, Jules 132, 242 Mies van der Rohe, Ludwig 461 Mihai, Andrei 381 Minerva 196 Miramón, Miguel 285, 288, 289 Miró, Joan 323 Mohnhaupt, Brigitte 395 Molinos, Jaques 208 Möller, Irmgard 388, 400 Mondrian, Piet 25, 26 Monnanni, Giuseppe 301 Monnet, Charles 204, 205 Monroe, Marilyn 368 Montagu, Charles 197 Montaigne, Michel de 139, 250 Montfaucon, Bernard de 29 Montgomery, Gabriel de Lorges, Herzog von 133 Montmorency, Anne de 131 Morin, Jean 152 Mumford, Lewis 377, 378 Murat, Joachim 212, 222–224 Mussolini, Benito 304, 319, 333 Muybridge, Eadweard 297 Nagel, Ivan 169 Napoleon Bonaparte 14, 15, 24, 211–214, 216–219, 221–224, 227, 231, 232, 262, 290 Napoleon III. 199, 256, 284, 285, 289, 291 Napoleone della Torre 49 Nassau, Justinus von 159, 162–165, 168 Nassau, Mauritius von 159, 167 Navarre, Henri de, siehe Heinrich IV.

528 | Register

Neptun 154 Nevers, Herzog von, siehe Gonzaga, Luigi 133 Ney, Michel 213, 214 Nierendorf, Karl 305, 352 Nietzsche, Friedrich 18, 301, 307, 315–317 Nieuwerkerke, Alfred Emilien de 256 Nixon, Richard 366, 367 Nordau, Max 303 Nostradamus, Michel de Nostredame, genannt 130 Nothelfer, Georg 394 Nova, Alessandro 96 Nussbaum, Felix 341–350, 352–355, 438 Octavian, siehe Augustus, Gaius Octavius, genannt Odo von Bayeux 30 Olivares, Graf von, siehe Guzmán, Gaspar de Orlandi de’ Rossi, Bernardo 51 Oswald, Lee Harvey 360, 365, 366 Owens, Craig 414, 415 Pächt, Otto 97 Paganotti, Benedetto 102 Pardaillan, N. de 133 Paris 54 Patroklos 314 Paul III. 122 Pauw, Adriaen 173–175, 180 Peñaranda, Graf von, siehe Bracamonte y Guzmán, Caspar de Percy, Pierre-François 212, 214 Perrissin, Jacques 133–137, 139 Perron, Philipp 199 Petrarca, Francesco 47 Petrus, Heiliger 50, 117, 137 Philipp der Gute, siehe Philipp III. Philipp II. 132, 168, 171 Philipp III. von Burgund 75–77, 81 Philipp III. von Spanien 141 Philipp IV. 141, 155, 160, 161, 174, 187 Picasso, Pablo 18, 20–22, 319, 320, 322–324, 326–340 Piccinino, Niccolò 47, 48, 52 Piles, Roger de 149 Pillet, Fabien 264 Piloty, Ferdinand von 200 Pincus, David N. 432 Pius IV. 116 Pius V. 113, 116, 117, 120, 123, 137 Planche, François de la, siehe Plancken, Frans van der Planche, Gustave 259 Plancken, Frans van der 142, 152, 153

Platek, Felka 346, 355 Ponthieu, Guy de 35 Porter, Robert K. 231, 232 Portino da Montefiore dell’Aso, Gentile 45 Poussin, Nicolas 315 Powell, Colin 19 Praz, Mario 263 Premierfait, Laurent de 73, 79, 80, 82 Prior, Matthew 197, 198 Prud’hon, Pierre Paul 336 Pucci, Ambrogio 48 Pucci, Nicolao 48 Puglia, Francesco di 105 Rabaut de Saint-Étienne, Jean-Paul 206 Raffael 241 Raspe, Jan-Carl 387, 388, 390, 393, 397, 400 Rauch, Christian Daniel 271 Ravaillac, François 143 Reede van Nederhorst, Godard van 174, 180 Reinsch, J. Leonard 365 Remolin, Francisco 102 Richardson, Jonathan 144 Richter, Gerhard 27, 395, 396, 399–415 Riegl, Alois 181 Riesener, Léon 256 Ripperda, Willem van 175 Rissa, Karin Götz, genannt 418, 423, 429 Rockefeller, Nelson A. 20 Rodini, Elisabeth 95 Ronsard, Pierre de 139 Rooses, Max 152 Rosenthal, Joe 452, 453 Rossi, Gian Antonio 123 Rousseau, Jean-Jacques 206, 207, 250 Rubens, Peter Paul 63, 141–157, 165, 228, 229, 241 Ruby, Jack 360 Russolo, Luigi 299 Ruyter, Michiel de 189 Saavedra Fajardo, Diego de 167 Salis, Jacopo de’ 88, 89, 92, 95 Salmon, André 299 San Bonifacio di Verona, Vinciguerra di 46 Sánchez, Alberto 323 Sangaletti, Guglielmo 117, 126 Sansovino, Francesco 125 Sanudo, Marin 90 Sarego, Cortesia 47 Sarlaboux 133 Savelli, Paolo 47 Savigny, Jean-Baptiste Henri 238–240, 242, 243, 247, 249

529 | Register

Savonarola, Girolamo 99–102, 104–111 Schadow, Johann Gottfried 271 Schedel, Hartmann 439 Scheffer, Ary 251 Schiller, Friedrich 267 Schinkel, Karl Friedrich 270 Schleyer, Hanns Martin 387, 388, 400, 423 Schmaltz, Julien 238 Schmidt, Helmut 387, 388 Schnetz, Jean-Victor 260, 261, 263 Schumacher, Emil 430 Segalen, Victor 303 Sellin, Volker 289 Sert, Josep Lluís 323, 324 Seurat, Georges 296, 298 Severini, Gino 299 Shepard, Alan 373 Sholette, Gregory 21 Sieyès, Emmanuel-Joseph 202 Sigismund von Luxemburg 62 Signac, Paul 296, 298 Sloterdijk, Peter 445 Sodoma, Giovanni Antonio Bazzi, genannt 43, 45 Sonderborg, K. R. H. 25, 26, 387–397, 430 Sontag, Susan 442 Sorel, Georges 301, 302 Speer, Albert 323 Spielberg, Steven 438 Spinola, Ambrogio 159, 160, 162–167, 169, 170 Staeck, Klaus 429 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de 251 Stasik, Zbigniew 380 Stella, Frank 369 Stirner, Max 301 Stoichita, Victor I. 169 Stone, Oliver 438 Storr, Robert 406, 407 Stothard, Charles 29 Struth, Thomas 255 Sturm, Leonhard Christoph 197, 198 Suyderhoef, Jonas 181, 182 Tacitus, Publius Cornelius 167 Taddeo di Bartolo 50 Tardieu, Nicolas-Henri 153, 154 Tarlati, Guido 49 Taylor, Liz 368 Tedeschi, Mario 301 Tedesco di Pietramala, Gian 47 Ter Borch, Gerard 171, 173–177, 179–183 Thetis 192

Thieler, Fred 388 Thorn-Prikker, Jan 413 Thous, Auguste de 131 Thulden, Theodor van 228 Tintoretto, Jacopo 123, 125, 126 Tischbein, Wilhelm 457 Tizian 165 Tizio, Sigismondo 44 Tolentini, Giovanni da 47 Tolentini, Niccolò da 54, 57, 61, 62 Tomassis, Giugurta 44 Torriani, Gioachino 102 Tortorel, Jean 133–137, 139 Tschudi, Hugo von 268 Turenne Marschall von, siehe La Tour d’Auvergne, Henri de Twombly, Cy 125, 126, 430 Ubaldini, Giovanni d’Azzo 47 Uccello, Paolo 13, 47, 53–60, 62–71 Urban VIII. 142 Valois, Marguerite de 131 Vanni, Lippo 49 Vasari, Giorgio 14, 44, 56, 87, 90, 96, 113–123, 125, 126, 137, 138 Velázquez, Diego 159–167, 174 Vendramin, Andrea 89, 90 Venus 222 Verninac, Charles de 262 Villiers, George 142 Virilio, Paul 59 Visconti, Bernabò 52 Visconti, Filippo Maria 46, 47 Visconti, Ottone 49 Vollard, Ambroise 328 Voltaire, François-Marie Arouet, genannt 193, 250

530 | Register

Vostell, Wolf 407, 408, 410 Vries, Hans Vredeman de 167, 168 Waechter, F. K. 383 Wall, Jeff 315, 431–434, 436–444, 446 Warburg, Aby 379 Warhol, Andy 27, 357–359, 361–370, 379, 382, 411, 461 Warnke, Martin 150 Weckherlin, Georg Rudolf 167 Weiss, Peter 336 Wellington, Arthur Wellesley, Herzog von 221, 224, 225, 230, 290 Werner, Anton von 186, 198, 199 West, Benjamin 16 Wilhelm I. 186 Wilhelm I. von Oranien 159 Wilhelm II. von Oranien 190, 197 Wilhelm III. von Oranien 190 Wilhelm der Eroberer, siehe Conquérant, Guillaume le Wilhelm, Jean-Pierre 421 Wolfe, James 16, 17 Wölfflin, Heinrich 165 Wolfradt, Willi 307 Wolgemut, Michel 439 Wormald, Francis 30 Wrangel, Friedrich von 273 Wurtz, Paul 189 Yamasaki, Minoru 461 Yanowitz, Jean 133 Zapruder, Abraham 366 Zervos, Christian 333 Zola, Emile 289 Zuloaga, Félix María 284 Zurbarán, Francisco de 161

ABBILDUNGSNACHWEIS

Archiv der Verfasserin – Archiv des Verfassers: 7, 10, 12–19, 38, 40, 51, 62, 66, 68–70, 77, 83, 93–97, 100, 102–116, 141–144, 146–150, 152, 154, 162, 179–184 / © Sven Beckstette, Stuttgart: 154 / Berlin, Galerie Georg Nothelfer: 153 / © Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique: 4 / © CP Photo – Peterborough Examiner (Clifford Skarstedt): 8 / © Eindhoven, Stedelijk Van Abbe Museum: 9 / Florenz, Kunsthistorisches Institut: 25–34 / Freie Universität Berlin, Kunsthistorisches Institut: 71–75 / © GRIN – Great Images in NASA, NASA Headquarters, Office of Public Affairs. Media Services Division, News and Imaging Branch: 145 / Halle-Wittenberg, Martin-Luther-Universität, Institut für Kunstgeschichte: 117–123 / © Joachim Lissmann: 171 / © Madrid, Museo del Prado: 91–92 / © Mondrian Estate / Holtzman Trust: 11 / © München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv: 1 / © München, Bayerische Staatsbibliothek: 35 / München, Ludwig-Maximilians-Universität, Institut für Kunstgeschichte: 20–24 / © Ottawa, National Gallery of Canada: 3 / © Paris, Bibliothèque nationale: 36 / © Paris, Musée du Petit Palais: 101 / © Paris, Réunion des musées nationaux: 2, 98 / © Paris, Succession Picasso: 124–131 / © Gerhard Richter, 2013: 155–161, 163 / © Saarbrücken, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz: 151 / Gregory Sholette, New York: 6 / © UN Photo (Eskinder Debebe): 5 / Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar: 37, 39, 41–50, 52–61, 63–65, 67, 84–90, 99, 132–140 / Universität Hamburg, Warburg-Haus, Index der politischen Ikonographie: 81, 82 / Universität zu Köln, Kunsthistorisches Institut: 172–178 / Université de Reims Champagne-Ardenne, CERHiC: 76, 78–80 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014: 151, 153, 154, 164–170.

Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2014 Akademie Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter www.degruyter.de Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-006317-1