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German Pages [1042] Year 1996
Die Geschichte der Kunst E.H.Gombrich
Ernst H, Gombrichs Gcschichtc der Kunst ist eines der berühmtesten und beliebtesten Bücher über Kunst, die je veröffentlicht wurden, und als umfassende Einfuhrung in das weite Gebiet der Kunst, von den frühesten Höhlenmalereien bis zur experimentellen Kunst unserer Zeit, seit 50 Jahren unübertroffen. Die Geschichte der Kunst verdankt ihre anhaltende Beliebtheit dem einzigartigen Talent des Autors, kulturgeschichtliche Zusammenhänge und künstlerische Probleme bestechend klar und erzählerisch fesselnd darzustellen. Dank seines Gespürs für die Psychologie der bildenden Künste gelingt es Gombrich, die Geschichte der Kunst als einen ständigen Wechsel künstlerischer Absichten erkennbar werden zu lassen und jedes einzelne Kunstwerk als eingebunden in einen Traditionszusammenhang zu betrachten, ganz gleich, ob es sich nun nachahmend oder ablehnend zu dem Vorangegangenen verhält. Gombrieh zeigt, dass eine lebendige Kette von Überlieferungen die Kirnst unserer Tage noch mit der des Pyramidenzeitalters verbindet. Im neuen Format wird dieser Klassiker auch als kleine Ausgabe weiterhin junge Generationen in die Welt der Kunst einführen und KunstInteressierte begeistern.
>Dieses Buch w i r d die Denkweise einer ganzen Generation beeinflussen. Gombrichs Wissen, das sich d e m Kenner der Materie sofort offenbart, k o m m t im Plauderton daher, und doch hat er zu fast jedem Thema etwas Neues zu sagen. Mit wenigen Worten gelingt es ihm, die Atmosphäre einer ganzen Periode aufleben zu lassen. < The Times, Literarische Beilage, Rezension der i. Auflage, 27Januar 1950 >Eine Wonne, für den Geist und fürs Auge.c Professor H.W Janson, New York University, 195:0 >Sir Ernst Gombrichs Geschichte der Kunst ist fast so bekannt wie die Mona Lisa und vereint Bildung und Vergnügens Pierre Rosenberg, ehemaliger Direktor des Musee du Louvre, Paris >Die Art und Weise, wie ich — und mit mir die meisten Kunsthistoriker meiner Generation — über Gemälde nachdenke, wurde zu einem großen Teil von Ernst Gombrich geprägt. Ich war 15-, als ich Die Geschichte der Kunst las. Es war, als hielte ich eine Landkarte in Händen, die mir das Zutrauen gab, dieses große Gebiet weiter zu erkunden, ohne Angst haben zu müssen, v o m Sujet überwältigt zu werden.< Neil MacGregor, Direktor des British Museum, London, ehemaliger Direktor der National
Galleiy, London
>Ich kann nicht oft genug sagen, w i e sehr mich dieses Buch begeistert. Es ist eines der wichtigsten Werke, wenn es darum geht, Menschen und Kunst zusammenzubringen. Ein Buch, das man immer wieder liest und genießt, w i e einen guten Tropfen aus einem hervorragenden Jahrgangs J. Carter Brown, 1 9 6 9 - 1 9 9 2 Direktor der National Gallery of Art, Washington, D.C.,Vorsitzender der US Commission of Fine Arts
Vorwort 7 Einleitung Von der Kunst und den Künstlern 21
Seltsame Anfänge Die Kunst der Urzeit, der Primitiven und Altamerikas 37
Kunst für die Ewigkeit Ägypten - Mesopotamien - Kreta 49
Das große Erwachen Griechenland, 7. bis
Jahrhundert v. Chr. 63
Ins Reich der Schönheit Griechenland und die griechische Welt vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins i. Jahrhundert n. Chr. 81
Welteroberer Römer, Buddhisten, Juden und Christen, vom i. bis zum Jahrhundert n. Chr. 93
Die Wege scheiden sich Rom und Byzanz vom 5. bis 13. Jahrhundert 103
Ein Blick nach Osten Islam und China - 2. bis 13. Jahrhundert 111
Die abendländische Kunst im Schmelztiegel Europa, 6. bis in Jahrhundert 119
Die streitbare Kirche Das 12. Jahrhundert 129
10
Die t r i u m p h i e r e n d e Kirche Das 13. Jahrhundert 139
11
Bürger und Höflinge Das 14. Jahrhundert 155
12
D ie Eroberung der Wirklichkeit Das frühe 15. Jahrhundert 167
13
Tradition und Erneuerung: I • Die zweite Hälfte des 15.Jahrhunderts in Itallien 183
14
Tradition und Erneuerung: II Das
15 i
15.
im
Norden
201
Die Harmonie ist erreicht Toskana
16
Jahrhundert
und
Rom
im
frühen 16. Jahrhundert
Licht und Farbe Venedig und Oberitalien im frühen 16.Jahrhundert
17
215
215'
Die neuen Erkenntnisse im Norden Deutschland und die Niederlande im frühen 16. Jahrhundert 257
18
Eine Krise in der Kunst Europa im späteren 16. Jahrhundert 273
19
Das Ideal und das Leben Katholisches Europa, erste Hälfte des 17. Jahrhunderts 293
20
Spiegel der Natur Holland im 17. Jahrhundert 315-
Macht u n d Herrlichkeit: I Italien,spates 17.und 18.Jahrhundert 331
Macht und Herrlichkeit: II Frankreich, Deutschland und Österreich, spates 17. und frühes 18. Jahrhundert 339
Das Zeitalter der Vernunft England und Frankreich im
Jahrhundert 347
Der Bruch mit der Tradition England,Amerika und Frankreich im späten i8.und frühen 19.Jahrhundert 361
Revolution in P e r m a n e n z : Das 19 Jahrhundert 379
Auf der Suche nach neuen Werten Das späte 19. Jahrhundert 411
Experimente Die erste Hälfte des 2o.Jahrhunderts 429
Eine endlose Geschichte Der Triumph der Moderne 4% Stimmungsumschwung 487 Neue Entdeckungen 494 Tafeln 505 Bemerkungen zur Kunstliteratur, Abbildungsverzeichnis nach Orten, Detailliertes Abbildungsverzeichnis, Index und Glossar Danksagung
Vorwort
Dieses Buch ist für alle bestimmt, die gern einen ersten Überblick über ein erstaunliches und faszinierendes Gebiet gewinnen wollen. Es will für den Neuling in diesem Bereich die großen Linien ziehen, ohne ihn durch allzu viele Einzelheiten zu verwirren; es möchte ihm helfen, sich erst ein wenig zurechtzufinden, damit er dann mit größerem Nutzen zur Fachliteratur greifen kann, in der es von Namen und Jahreszahlen zu wimmeln pflegt. Wenn ich mir meine Leser vorstellte, so dachte ich vor allem an ganz junge Leute, die gerade die Welt der Kunst für sich entdeckt hatten. Aber ich war nie der Meinung, dass Bücher für junge Leute sich von Büchern für das reifere Alter unterscheiden sollen - höchstens in einem Punkt: Sie müssen sich auf die kritischste Gattung von Lesern gefasst machen, auf Leser, die unfehlbar jede Spur von falschem Tiefsinn und Pathos entdecken und übel nehmen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass wegen dieser beiden weit verbreiteten Laster viele Leute ihr Leben lang jedem >Gerede und Geschreibe< über Kunst misstrauen. Ich habe mich bemüht, nicht in diesen Fehler zu verfallen und so einfach zu schreiben wie möglich, selbst auf die Gefahr hin, manchmal laienhaft und unwissenschaftlich zu wirken. Vor schwierigen Gedanken habe ich mich allerdings nie gedrückt, und so darf ich hoffen, dass der Leser sich nicht unterschätzt fühlt, auch wenn ich versucht habe, mit einem Minimum an Fachausdrücken auszukommen. Denn nur wer die Sprache der Wissenschaft missbraucht, um dem Leser zu imponieren, nimmt ihn wirklich nicht für voll.
Abgesehen von diesem Entschluss, die Zahl der Fachausdrücke zu beschränken, habe ich mir beim Schreiben dieses Buches noch eine Reihe anderer Regeln auferlegt, die mir als Autor zwar das Leben schwer gemacht haben, es meinen Lesern aber erleichtern sollen. Zunächst nahm ich mir vor, kein Kunstwerk zu erwähnen, das ich nicht auch in einer Abbildung zeigen konnte; ich wollte den Text nicht in eine Aufzählung von Namen ausarten lassen: Sie müsste mehr oder weniger nichtssagend bleiben, wenn man die Kunstwerke nicht kannte, und überflüssig sein, wenn man mit ihnen nicht
vertraut war. Diese Grundregel beschränkte natürlich die Zahl der Künstler und Kunstwerke, die ich behandeln konnte, entsprechend der Zahl der Illustrationen, die in diesem Buch unterzubringen waren. So musste ich eine besonders strenge Auswahl treffen und mi: genau überlegen, was ich aufnehmen und was ich weglassen sollte. Das führte zu meiner zweiten Regel: Ich hatte mich auf wirkliche Kunstwerke zu beschränken und alle nur für eine etwaige Modeströmung interessanten Beispiele auszusondern. Diesem Entschluss fiel manches zum Opfer, was literarisch ganz effektvoll gewesen wäre. Lob ist so viel langweiliger als Kritik, und zur Abwechslung hätte ich gern auch ein paar amüsante Scheußlichkeiten besprochen. Aber der Leser würde mit Recht gefragt haben, was ein Werk, das ich nicht ernst nahm, in einem Buch über Kunst zu suchen hätte. Noch dazu, wenn ein wirkliches Meisterwerk dafür geopfert werden musste. Die dritte Regel erforderte ebenfalls eine gewisse Selbstverleugnung. Ich gelobte, der Versuchung zu widerstehen, in meiner Auswahl >originell< zu sein und die berühmten Meisterwerke eigenen Vorheben zu opfern/Dieses Buch ist schließlich nicht nur als eine Blütenlese schöner Dinge gedacht. Es soll eine Orientierungshilfe [sein, und die vertrauten Formen angeblich >abgedroschener< Beispiele sind dabei als Wegweiser vielfach sehr willkommen. Außerdem 'sind häufig die berühmtesten Werke in mehr als einer Hinsicht auch wirklich die größten, und wenn dieses Buch seine Leser dazu bringen kann, sie mit neuen Augen zu sehen, so ist das nützlicher, als wenn es ihnen weniger Bekanntes vorgezogen hätte. Die Zahl berühmter Werke und Künstler, die ich nicht berücksichtigen konnte, ist trotzdem erschreckend groß. Ich will lieber gleich gestehen, dass ich für die Kunst der Hindu oder der Etrusker keinen Platz fand, ebenso wenig wie für Meister vom Range eines Quercia, Signorelli, Carpaccio, eines Peter Visher, Brouwer, Terborch, Canaletto, Corot, und vieler anderer, die mir sogar besonders interessant scheinen. Man hätte den Umfang des Buches verdoppeln oder sogar verdreifachen müssen, um sie alle aufzunehmen, und ich glaube, das
hätte seinen Wert als Einführung in die Kunst beeinträchtigt. Es war schmerzlich, immer wieder etwas wegzulassen, und ich habe bei dieser schwierigen Aufgabe schließlich noch eine Regel befolgt: Im Zweifelsfall zog ich es immer vor, ein Werk zu besprechen, das ich im Original und nicht nur von Abbildungen kannte. Ich wäre dieser Regel gern ohne jede Ausnahme treu gebheben, aber wie konnte ich den Leser unter all den Reisebeschränkungen leiden lassen, die dem Kunstliebhaber die letzten Jahrzehnte vergällt haben? Meine endgültig letzte Regel war, überhaupt keiner Regel ohne Ausnahme treu zu bleiben. Es sei dem Leser die Freude gegönnt, mich bei diesen Verstößen zu ertappen. Soweit die negativen Regeln, die ich einhalten wollte. Meine positiven Absichten gehen hoffentlich aus dem Buch selbst hervor. Es versucht, in einfacher Sprache wieder einmal die alte Geschichte von der Kunst zu erzählen, und möchte dem Leser begreiflich machen, dass es eine zusammenhängende Geschichte ist. Es soll ihm das Kunstwerk näher bringen, und zwar nicht durch verzückte Beschreibungen, sondern durch das Herausarbeiten von Anhaltspunkten dafür, worauf es dem Künsder jeweils vermutlich ankam. Diese Methode sollte wenigstens die gröbsten Missverständnisse aus dem Weg räumen und einer Kritik vorbeugen, die gänzlich am Kunstwerk vorbei redet. Darüber hinaus hat das Buch freilich noch einen etwas größeren Ehrgeiz: Es versucht, die besprochenen Werke in ihren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und die künstlerischen Absichten der Meister dadurch leichter verständlich zu machen. Jede Generation revoltiert bis zu einem gewissen Grad gegen die Wertmaßstäbe ihrer Väter; jedes Kunstwerk verdankt seinen Erfolg bei den Zeitgenossen nicht nur dem, was es tut, sondern auch dem, was es unterlässt. Als Mozart in seiner Jugend nach Paris kam, fiel ihm auf, dass alle modischen Sin-
fonien dort mit einem schnellen Finale endeten; daraufhin beschloss er, sein Publikum mit einer langsamen Einleitung zum letzten Satz zu überraschen. Das ist ein ziemlich banales Beispiel, aber es zeigt doch, worauf es ankommt, wenn man die Kunst von ihrer Geschichte her verstehen will. Der Drang, einmal etwas anderes zu machen, ist sicher
nicht der tiefste u n d erhabenste Anlass k ü n s d e r i s c h e n Schaffens, aber er fehlt d o c h selten ganz. W e n n w i r dieses b e w u s s t e Streben >anders zu sein< berücksichtigen, so h a b e n w i r u n s d a mi t in d e n m e i s t e n Fällen d e n Z u g a n g zur Kunst der Vergangenheit w e s e n t l i c h erleichtert. Ich habe m i c h b e m ü h t , d e n ständigen W e c h s e l künstlerischer A b s i c h t e n z u m A n g e l p u n k t meiner Darstellung z u m a c h e n u n d z u z e i g e n , w i e sich jedes Kunstwerk, n a c h a h m e n d oder ablehnend, au f Vorangegangenes bezieht. Ich habe i m m e r wieder, a u c h auf die Gefahr hin, d e n Leser zu langweilen, frühere Kunstwerke z u m Vergleich herangezogen, u m z u verdeuüichen, w i e weit sich ein Künsder v o n seinen Vorläufern entfernt hat. Bei dieser Art der Darstellung gibt es eine Gefahr: Der ständige Richtungswechsel in der Kunst kann naiv als ständiger Fortschritt missdeutet werden. Gewiss fühlt jeder Künstler, dass er die frühere Generation weit übertroffen u n d v o n seinem Standpunkt aus einen ungeheuren Fortschritt gemacht hat. W i r w e r d e n niemals imstande sein, ein Kunstwerk zu verstehen, w e n n w i r das Gefühl der Befreiung u n d des Triumphes nicht begreifen, das der Künsder beim Anblick einer gelungenen Schöpfung empfand. Aber w i r dürfen dabei nie vergessen, dass jede Errungenschaft in der einen Hinsicht einen Fortschritt und in anderer Hinsicht einen Verlust bedeutet und dass der subjektive Fortschritt nichts mit einem Zuwachs an objektivem künstlerischem Wert zu tun hat. Das alles mag, so abstrakt ausgedrückt, etwas rätselhaft klingen. Ich h o f f e aber, das Buch w i r d es klarmachen. N o c h ein Wort zur Berücksichtigung der einzelnen Künste. Manche Leser w e r d e n finden, dass gegenüber der Plastik und der Architektur die Malerei zu stark bevorzugt wurde. Dabei ist zu bedenken, dass ein Gemälde in der A b b i l d u n g w e n i g e r verliert als eine Vollplastik oder gar ein monumentales Gebäude. Auch lag es nicht in meiner Absicht, eine Geschichte der Baustile zu schreiben, darüber gibt es bereits eine ganze Reihe guter Bücher. Die Geschichte der Kunst, w i e i c h sie auffasse, konnte i c h andererseits natürlich nicht erzählen, ohne auf die Architektur Bezug zu nehmen. Also wählte i c h für jeden Zeitabschnitt zwar nur ein oder zwei Gebäude aus, gab
ihnen aber den Ehrenplatz in jedem Kapitel, damit sich das Gewicht wieder zu Gunsten der Baukunst verlagere. Jedem Kapitel ist eine Schlussvignette beigegeben, die das Leben und die Welt des Künstlers in einer zeitgenössischen Darstellung zeigt. Diese Illustrationen bilden eine selbstständige kleine Bilderreihe, der man die Wandlungen in der gesellschaftlichen Stellung des Künstlers entnehmen kann. Ohne die herzliche Anteilnahme von Elisabeth Senior wäre dieses Buch niemals geschrieben worden. Ihr verfrühter Tod bei einem Luftangriff auf London war ein schwerer Verlust für alle, die sie kannten. Dank schulde ich ebenso Dr. Leopold Ettlinger, Dr. Edith Hoffmann, Dr. Otto Kurz, Mrs Olive Renier, Mrs Edna Sweetman, meiner Frau und meinem Sohn Richard für manchen wertvollen Hinweis und ihre Unterstützung, sowie den Mitarbeitern der Phaidon Press für die äußere und innere Form dieses Buches.
Vorwort zur 12. Ausgabe Dieses Buch wurde von Anfang an. so angelegt, dass Wort und Bild einander ergänzen. Der Leser soll so weit als möglich die jeweils besprochenen Abbildungen vor sich sehen, ohne umblättern zu müssen. Ich erinnere mich dankbar an die unkonventionelle und hilfreiche Art, in der Dr. Bela Horovitz und Ludwig Goldscheider, die Begründer der Phaidon Press, dieser Aufgabe gerecht wurden, als sie mich 1949 baten, hier und da einen Textzusatz oder ein Bild einzufügen. Das Ergebnis dieser Mühen rechtfertigte dieses Verfahren, jedoch war das erreichte Gleichgewicht so austariert, dass keinerlei größere Veränderungen möglich schienen, wenn es galt, das Original-Layout beizubehalten. Nur die letzten Kapitel wurden für die 11. Auflage (1966) etwas verändert und ein Nachwort hinzugefügt. Der Hauptkorpus des Buches blieb erhalten.
D i e Entscheidung des Verlages, das B u c h in einer n e u e n F o r m zu präsentieren, die die n e u e n P r o du k ti o n sm et h od en stärker berücksichtigt, brachte daher n e u e M ö g l i c h k e i t e n , j e d o c h a u c h neue Probleme. D i e Geschichte der Kunst ist w ä h r e n d ihrer langen Publikations^ g e s c h i c h t e einer w e i t g r ö ß e r e n Anzahl v o n M e n s c h e n vertraut geword e n , als i c h je gedacht hätte. Da a u ch die meisten der Ausgaben in a n d e r e n Sprachen n a c h d e m Original-Layout angelegt w u r d e n , schien es m i r unzulässig, einzelne Textpassagen oder A b b i l d u n g e n wegzulassen, die der Leser erwartet. Nichts ist ärgerlicher, als etwas in e i n e m B u c h n i c h t zu finden, das m a n darin erwartet. W ä h r e n d ich so die Möglichkeit b e g r ü ß t e , einige der besproc h e n e n W er k e i n g r ö ß e r e m Format abzubilden u n d einige Farbtafeln h i n z u z u f ü g e n , w u r d e nichts h e r a u s g e n o m m e n , sondern nur ganz w e n i g e Beispiele aus t e c h n i s c h e n G r ü n d e n ausgetauscht. Bildergänz u n g e n b lie ben im R a h m e n , d e n n es galt der Versuchung zu widerstehen, d e n Charakter des Buches zu zerstören. Schließlich habe ich m i c h entschlossen, v i e r z e h n Beispiele h i n z u z u f ü g e n , die m i r nicht n u r an sich interessant erschienen, son dern die das G e f ü g e der Argum e n t a t i o n bereichern, d e n n es ist ja die Argumentation, die diese Geschichte v o n einer b l o ß e n A n t h o l o g i e v o n Bildern unterscheidet. W e n n der Leser a uc h den Text mit G e w i n n und, w i e ich hoffe, m i t Vergnügen lesen kann, o h n e die Lektüre i m m e r wi ed er durch die Suche n a c h der betreffenden A b b i l d u n g unterbrechen zu müssen, so verdankt er das der Geduld u n d d e m Verständnis der Mitarbeiter m e i n e r Verleger. E. H. G. November 1971
Vorwort zur 13. Ausgabe Diese A u s g a b e enthält viel m e h r Farbabbildungen als die vorige, der T ex t j e d o c h ist (mit A u s n a h m e der Bibliographie) unverändert. Neu
sind auch die chronologischen Tabellen im Anhang (S. 655-665). Der Blick auf einige wichtige Begebenheiten im unendlichen Spektrum der Geschichte wird es dem Leser erleichtern, die verzerrte Perspektive zu korrigieren, die neueren Entwicklungen eine solch große Bedeutung beimisst, und zwar auf Kosten der weiter zurückreichenden Vergangenheit. Diese Tabellen sollen also dazu anregen, über die Zeitspannen in der Geschichte der Kunst nachzudenken, und verfolgen so das gleiche Ziel, das ich beim Schreiben dieses Buches vor etwa dreißig Jahren anstrebte. Hierzu möchte ich den Leser immer noch auf die Eingangssätze des ursprünglichen Vorwortes ab Seite 7 verweisen.
E, H. G. Juli 1977
Vorwort zur 14. Ausgabe >Bücher haben ihr eigenes Lebend Der, römische Dichter, der dies sagte, kann nicht geahnt haben, dass.seine Worte jahrhundertelang von Hand abgeschrieben werden und noch zweitausend Jahre später in den Regalen unserer Bibliotheken zugänglich sein würden. Daran gemessen, ist dieses Buch ein Wickelkind. Gleichwohl hätte ich mir, als ich es schrieb, sein weiteres Leben nicht im Traum vorstellen können. Einige Änderungen, die es erfahren hat, sind in den Vorworten zur l2. und 13. Ausgabe erwähnt. Diese Veränderungen wurden beibehalten, aber der Abschnitt über Kunstbücher wurde wieder auf den neuesten Stand gebracht. Um mit den technischen Neuerungen und den veränderten Erwartungen des Publikums Schritt zu halten, erscheinen jetzt viele Abbildungen in Farbe, die ursprünglich in Schwarz-Weiß waren. Des Weiteren habe ich einen Anhang über >Neue Entdeckungen angefügt, mit einem kurzen Rückblick auf archäologische Funde, um den Leser daran zu erinnern, wie sehr die Geschichte der Vergangenheit
i m m e r Gegenstand v o n Revisionen u n d bereichernden Überraschung e n ist: ( E H . G. März 1984
Vorwort zur 15. Ausgabe Pessimisten erzählen uns gelegentlich, dass M e n s c h e n in diesem Zeitalter des Fernsehens u n d des Videos nicht m e h r läsen u n d vor a l l e m Schüler u n d Studenten nicht m e h r die G e d u l d aufbrächten, e i n B u c h m i t V e r g n üg e n v o n v o r n bis h i n t e n z u lesen. W i e alle A u t o r e n k a n n auch i c h nur h o f f e n , dass die Pessimisten Unrecht haben. U n d so glücklich ic h bin, diese 15. Ausgabe durch neue Farbabbildungen, eine überarbeitete u n d n e u geordnete Bibliographie s o w i e e i n e n I n d ex angereichert zu sehen, so w i c h t i g ist es mir,n o c h m a l s zu betonen, dass dieses B u c h als eine Geschichte gelesen w e r d e n sollte. Diese Geschichte reicht heute ü b e r jenen Punkt hinaus, an d e m i ch in der 1. Ausgabe aufhörte, aber auch die neu hinz u g e k o m m e n e n Episoden sind nur im Lichte des Vorhergehenden völlig zu verstehen. Ich h o f f e i m m e r n o c h auf Leser, die es wirklich v o n A n f a n g an interessiert, w i e alles g e k o m m e n ist. E. H. G. März 1989
Vorwort zur 16. Ausgabe Jetzt, da i c h m i c h anschicke, das V o r w o r t f ü r diese Neuauflage zu sc h r eib en , b i n i c h e b e n s o erstaunt w i e dankbar. Erstaunt, w e i l i c h m i c h s o g u t a n m e i n e ersten, sehr bescheidenen Erwartungen b e i m S c h r e i b e n dieses Buches erinnere, u n d dankbar, w e i l Generationen v o n Lesern - d a r f i c h sagen: auf der g a n z e n Welt? - es als
Einführung in unser künstlerisches Erbe o f f e n b a r so h i l f r e i c h f a n den, dass sie es in i m m e r größerer Zahl w e i t e r e m p f a h l e n . D a n k b a r natürlich auch m e i n e n Verlegern, die a u f diese N a c h f r a g e reagierten, indem sie d e m A b l a u f der Zeit R e c h n u n g trugen u n d j e de r n e u e n und überarbeiteten Ausgabe viel A u f m e r k s a m k e i t schenk ten. Die letzte Wa ndlung verdankt sich d e m jetzigen Besitzer von Phaidon Press, Richard Schlagman, der zu der U r s p r u n g s i d e e zurückkehren wollte, dass der Leser die A b b i l d u n g e n vor A u g e n haben soll, w e n n er den dazugehörigen Text liest, u n d der a u ß e r d e m Qualität u n d G r ö ß e der Abbildungen verbessern u n d deren Zahl w o immer m ö g l i c h vermehren wollte. Bei der Realisierung des letztgenannten Wunsches gab es natürlich strikte Begrenzungen, da das Buch seinen Sinn verfehlte, w e n n sein U m f a n g es als E i n f ü h r u n g untauglich machte. W i r hoffen, dass die Leser diese Erweiterungen schätzen werden. Dies gilt vor allem für die Falttafeln. Dank der Tafel a u f Seite 237, Abbildungen 1 5 5 und 156, kann ich den Genter Altar zur Gänze zeigen. Einige andere neue Abbildungen m ö g e n in früheren Ausgaben vermisst w o r d e n sein, vor allem einige Bilder, die besprochen, aber nicht gezeigt wurden, w i e die Darstellung ägyptischer Gottheiten aus dem Totenbuch (Abb. 38), das Familienbild König Echnatons (Abb. 40), die Medaille mit d e m ursprünglichen Plan der Peterskirche (Abb. 186), Correggios Fresko im D ö m von Parma (Abb. 217) s o w i e eines der Georgsschützen-Bildnisse von Frans Hals (Abb. 269). Einige w e n i g e Abbildungen wurden a u f g e n o m m e n , um das Umfeld des besprochenen Werks zu verdeutlichen: die ganze Figur des Wagenlenkers von Delphi (Abb. 53), die Kathedrale v o n D u r h a m (Abb. 114), das Nordportal der Kathedrale von Chartres (Abb. 126) und das Portal v o m südlichen Querschiff des Straßburger Münsters (Abb. 128). Den Austausch von Abbildungen aus technischen G r ü n d e n muss ich hier ebenso w e n i g erklären w i e den Zweck v o n Detailabbildungen, ich möchte aber etwas zu jenen acht Künstlern sagen, die ich trotz meines Vorsatzes, deren Zahl nicht ausufern zu lassen,
aufgenommen habe: Im Vorwort zur i. Ausgabe hatte ich Corot als Beispiel für jene Maler genannt, die ich sehr bewundere, aber nicht unterbringen konnte. Seither hat mir diese Auslassimg keine Ruhe gelassen. Nun habe ich mich anders besonnen und hoffe, dass dies auch der Erörterung bestimmter künstlerischer Probleme zugutekommt. Ansonsten habe ich die Neuaufnahme von Künstlern auf das zwanzigste Jahrhundert begrenzt; aus der bearbeiteten deutschsprachigen Ausgabe von 1986 habe ich zwei Künstler des deutschen Expressionismus übernommen: Käthe Kollwitz wegen des ungeheuren Einflusses, den sie auf die Künstler des sozialistischen Realismus< Osteuropas hatte, und Emil Nolde wegen seiner ausdrucksstarken Verwendung eines neuen graphischen Mediums (Abb. 368,369); Brancusi und Nicholson (Abb. 380 und 382) sollen die Darstellung der Abstraktion, de Chirico und Magritte (Abb. 388 und 389) die des Surrealismus stützen. Morandi schließlich habe ich als Beispiel für einen Künsder des zwanzigsten Jahrhunderts herangezogen, der umso hebenswerter ist, als er sich keiner Richtung angeschlossen hat (Abb. 399). Mit der Aufnahme dieser Künsder verbinde ich die Hoffnung, dass die Entwicklungen dadurch weniger unvermittelt wirken mögen, als dies in früheren Ausgaben der Fall gewesen ist, und somit auch verständlicher. Denn dies ist immer noch das wichtigste Ziel dieses Buches. Wenn Kunstliebhaber und Studenten es schätzen, kann es nur daran hegen, dass es ihnen vor Augen führte, wie die Geschichte der Kunst zusammenhängt. Eine Liste von Namen und Daten auswendig zu lernen, ist schwer und langweilig; doch es kostet wenig Mühe, sich an eine erzählte Geschichte zu erinnern, sobald man verstanden hat, welche Rollen die jeweiligen Mitwirkenden spielen und auf welche Weise Daten auf die Zeit verweisen, die zwischen den Generationen und den einzelnen Episoden der Erzählung vergangen ist. Ich spreche in diesem Buch mehrfach davon, dass in der Kunst ein Gewinn auf einem Gebiet mitunter einen Verlust auf einem
anderen nach sich zieht: Dies trifft mit Sicherheit auch auf diese Neu-^
aufläge zu, aber ich hoffe von Herzen,'dass die Gewinne die Verluste mehr als aufwiegen. E.H. G. Dezember
1994
Vorwort zur Taschenbuchausgabe Diese Taschenbuchausgabe der Geschichte der Kunst ist die erste Neuauflage seit dem Tod des Autors im Jahre 2001. Die Geschichte der Kunst ist die bekannteste und weltweit am meisten gelesene Einführung in die Kunstgeschichte, die je geschrieben wurde. Das Buch wurde in 34 Sprachen übersetzt und ist nach wie vor erste Wahl für Studenten, Kunstliebhaber und all jene, die beruflich mit Kunst zu tun haben. Ich erinnere mich gerne daran zurück, wie ich, zur Vorbereitung der 16. Ausgabe, in meiner Eigenschaft als Verleger viele, viele Stunden, manchmal ganze Tage mit Ernst Gombrich zusammengesessen habe. Nicht nur die große Sorgfalt, mit der er jeden Aspekt des Layouts prüfte, ist mir im Gedächtnis geblieben, sondern auch die Freude, die er bei unseren Zusammentreffen ausstrahlte. Wir vermissen ihn sehr. Der Gründe für eine Taschenbuchausgabe liegen auf der Hand: Sie ist leichter zu transportieren und komfortabler zu benutzen. Uns ist daran gelegen, dass die 16. Auflage auch weiterhin gedruckt wird und erhältlich ist, für die heimische Lektüre und für die eigene Bibliothek. Die Taschenbuchausgabe ist für unterwegs gedacht. Damit sie so wenig Gewicht wie möglich auf die Waage bringt, wurde extra leichtes Papier verwendet, was eine Trennung von Text und Abbildungen erforderlich machte. Dank der Lesebändchen ist es dennoch ein Leichtes, die zum Text gehörigen Bilder zu finden und zuzuordnen. Der Text ist mit dem der 16. Ausgabe identisch, ebenso die Abbildungen. Ganz aufmerksamen Lesern fallt vielleicht auf, dass die kleinen
Illustrationen am Ende jedes Kapitels fehlen. Da im Text nicht auf sie verwiesen wird, wurden sie in dieser Ausgabe aus layouttechnischen Gründen weggelassen. Wenn Sie dieses Vorwort lesen, gehe ich davon aus, dass Sie die Vorworte des Autors zu den vorangehenden Auflagen ebenfalls gelesen haben. Falls dem nicht so sein sollte, empfehle ich die Lektüre unbedingt, denn die dort dargelegten Hintergründe und Intentionen des Autors sind von unschätzbarem Wert für das Verständnis seines Werkes. Sir Ernst Gombrich war in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Mann. Ich widerstehe hier der Versuchung, näher auf sein Leben einzugehen, und verweise auf eine kleine Denkschrift, die wir in naher Zukunft über ihn veröffentlichen wollen. Richard Schlagman
Einleitung von der Kunst und Künstlern
Genau genommen gibt es >die Kunst< gar nicht. Es gibt nur Künstler. Einstmals waren das Leute* die farbigen Lehm nahmen und die rohen Umrisse eines Büffels auf eine Höhlenwand malten. Heute kaufen sie ihre Farben und entwerfen Plakate für Fleischextrakt; dazwischen taten sie noch manches andere. Es schadet natürlich nichts, wenn man alle diese Tätigkeiten Kunst nennt, man darf nur nicht vergessen, dass dieses Wort in verschiedenen'Ländern und zu verschiedenen Zeiten etwas ganz Verschiederies bedeuten kann, und man muss sich vor allem merken, dass es >die Kunst< eigentlich nicht gibt. Sie ist zu einer Art Götze geworden, und all das Nachdenken und Reden über das >Wesen der Kunstchat den Künstlern mehr geschadet als genützt. Wenn man einem Künstler sagt, seine Arbeiten seien ja in ihrer Art recht anständig, nur hätten sie mit >Künst< nichts zu tun, so ist er erledigt.1 Und man kann jedem die Freude an einem Bild durch die Bemerkung verderben, ihm gefiele daran nicht der künstlerische WertSchönheitWas ist schön?< ändert sich so oft wie der Geschmack und die jeweils geltenden Maßstäbe. Abb. s und 6 stammen beide aus dem fünfzehnten Jahrhundert, beide stellen Laute spielende Engel dar. Vielen wird das italienische Gemälde von Melozzo da Forli (Abb. 5) in seiner bestrickenden Anmut zunächst besser gefallen als das seines nördlichen Zeitgenossen Hans Memling (Abb. 6). Mir gefallen beide in ihrer Art gleich gut. Es wird vielleicht etwas länger dauern, bevor man die tiefinnere Schönheit von Memlings Engel entdeckt, aber sobald uns seine schüchterne und vielleicht ein wenig linkische Haltung nicht mehr stört, werden wir ihn unendlich liebenswert finden. Was für die Schönheit gilt, gilt auch für den Ausdruck. Eine Gestalt auf einem Bild kann einen Ausdruck haben, der uns das ganze Werk verleidet oder umgekehrt es für uns anziehend macht. Manche Leute möchten den Ausdrück
leicht verstehen können und dadurch tief berührt und erschüttert werden. Als der italienische Maler Guido Reni daranging, das Haupt des gekreuzigten Christus zu malen (Abb. 7), wollte er gewiss, dass der Besucher in diesem! Antlitz das ganze Leiden und den ganzen Triumph der Passion verkörpert fände. Jahrhundertelang haben dann auch viele Gläubige aus dieser Darstellung des Heilands Kraft und Trost geschöpft. Die Empfindung, die darin zum Ausdruck kommt, ist so klar und leicht verständlich, dass man Kopien und Reproduktionen dieses Bildes in einsamen Bergkapellen und entlegenen Almhütten findet, wo sich niemand über das >Wesen der Künst< den Kopf zerbricht. Aber auch wenn uns ein so starker Gefühlsausdruck zusagt, ist das kein Grund, andere Kunstwerke abzulehnen, deren Ausdruck möglicherweise etwas schwerer zu verstehen ist. Der mittelalterliche toskanische Meister, der das Kruzifix (Abb. 8) malte, hat das Leiden Christi sicher ebenso tief empfunden wie Reni; aber wir müssen erst seine Darstellungsweise verstehen lernen, ehe wir seine Gefühle begreifen können. Wer die verschiedenen Sprachen der Kunst erlernt hat, wird vielleicht Sogar Meister vorziehen, die sich weniger überschwänglich und leicht verständlich äußern als Reni. Es ist nicht nur bei den Menschen so, dass uns die Zurückhaltenden und Verschlossenen häufig am liebsten sind — viele Leute schätzen auch die Bilder und Skulpturen am meisten, die nicht alle ihre Geheimnisse auf den ersten Blick preisgeben; Iii >primitiveren< Zeiten waren die Künstler in der Darstellung des menschlichen Mienen- und Gebärdenspiels weniger bewandert als heute, dafür ist es umso rührender, zu beobachten, wie sie sich trotzdem um den Ausdruck eines Gefühls bemühten. Hier muss man beim Publikum aber häufig mit einer anderen Schwierigkeit rechnen: Die meisten Leute wollen bewundern, wie geschickt die Künsder das dargestellt haben, was sie vor Augen hatten. Am besten gefallt ihnen ein Bild, auf dem alles so aussieht >wie in Wirklichkeit^ Ich will keineswegs bestreiten, dass auch dieser Gesichtspunkt von Wichtigkeit sein kann. Man kann die Geduld und das Geschick nur bewundern, die dazu gehören, die sichtbare Welt
getreulich abzumalen. Große Künstler der Vergangenheit haben mit unendlicher Mühe an Werken gearbeitet, die selbst das kleinste Detail wiedergeben. Dürers Aquarellstudie eines Hasen (Abb. 9) gehört zu den berühmtesten Beispielen einer solchen liebevollen Geduldsprobe. Aber wer wollte behaupten, dass Rembrandts Zeichnung eines Elefanten (Abb. 10) weniger gut ist, weil man weniger Einzelheiten darauf ausnehmen kann? Rembrandt war eben ein richtiger Hexenmeister, und ein paar Striche mit dem Kohlestift genügten, um die runzlige Haut des alten Tieres für uns greifbar zu machen. Aber diese Art von Skizzenhaftigkeit stört Leute, die gern >naturgetreue< Bilder haben, noch am wenigsten. Viel mehr fühlen sie sich von Werken abgestoßen, die ihrer Ansicht nach >unrichtig< gezeichnet sind. Besonders wenn der Künstler aus einer Zeit stammt, in der er es schon hätte >besser wissen sollen Wesen der Kunstrichtig< zu zeichnen. Wenn sie es nicht tun, haben sie vielleicht ähnliche Gründe dafür wie der Schöpfer der Mickymaus.
Abb. r r zeigt eine Tafel aus einer Naturgeschichte, die Picasso illustriert hat, der berühmte Vorkämpfer der modernen Kunst. An dieser reizenden Darstellung einer Gluckhenne mit ihren flaumigen Kücklein kann sicher niemand etwas auszusetzen haben. Als Picasso aber einen Hahn zeichnete (Abb, 12), war er nicht damit zufrieden, einfach das Aussehen des Vogels wiederzugeben. Er wollte deutlich zeigen, wie kampflustig, wie frech und wie dumm so ein Hahn ist. Das heißt, er karikierte ihn - aber was für eine Karikatur gelang ihm da! { Wenn wir an der >Richtigkeit< einer Darstellung zweifeln, sollten wir uns daher immer zwei Fragen vorlegen; Erstens: Hat der Künsder nicht vielleicht Gründe gehabt, die Dinge anders wiederzugeben, als er sie sah? Im Verlauf dieser Geschichte der Kunst werden , wir hören, dass es« mehr als einen Grund dafür gibt. Zweitens sollten wir von einem Kunstwerk nie behaupten, es sei >falsch gezeichnet«, bevor wir nicht ganz, ganz sicher sind, dass wir Recht haben und der Künsder Unrecht. Wir sind alle schnell mit dem Urteil bei der Hand, dass >Dinge doch gar nicht so aussehen«. Wir haben die komische Gewohnheit, zu glauben, dass die'Natur genauso ausschauen muss wie auf den Bildern, die -uns vertraut sind. Dafür lässt sich leicht ein Beispiel anführen. Vor nicht allzu langer Zeit wurde eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Seit Jahrhunderten haben Abertausende von Menschen galoppierenden Pferden zugeschaut, sind zu Pferderennen und auf die Jagd gegangen und haben mit großem Genuss Schlachtenbilder und illustrierte Bücher betrachte^ in denen es von Pferden nur so wimmelte. Und doch hat anscheinend nicht einer von ihnen gemerkt, wie es >wirklich aussieht«* wenn ein Pferd galoppiert. Große und kleine Meister haben die feurigen Tiere gerne mit ausgestreckten Beinen in der Luft schweben lassen - so wie Theodore Gericault, der große französische Maler aus dem neunzehnten Jahrhundert, sie auf seinem berühmten Rennplatzbild darstellte (Abb. 13). Erst vor etwa achtzig Jahren, als die fotografische Kamera hinreichend vervollkommnet worden war, um Momentaufnahmen rennender Pferde zu machen, zeigten diese Aufnahmen, dass sowohl Maler wie Publikum die ganze Zeit einer Täuschung unterlegen waren. Niemals bewegte
ein galoppierendes Pferd sich in der Art, die uns so >natürlich< vorkommt. Sobald ein Fuß den Boden berührt hat, wird er sofort wieder eingezogen (Abb. 14). Wenn man nur einen Augenblick nachdenkt, muss man sich klar werden, dass das Pferd ja sonst gar nicht richtig vorwärts kommen könnte. Aber sowie die Maler begannen, diese neue Entdeckung auszuwerten, und die Pferche auf ihren Bildern sich so bewegen ließen, wie sie es wirklich tun, beklagte sich das Publikum, an diesen Darstellungen >sei etwas falsche Gewiss ist das ein extremes Beispiel, aber ähnliche Fehler und Vorurteile sind gar nicht so selten, wie man glauben möchte. Wir neigen alle dazu, konventionelle Formen und Farben für die einzig richtigen zu halten. Die Kinder denken manchmal, Sterne müssen sternförmig sein wie in den Bilderbüchern. Sie zeichnen sie so und sehen sie vielleicht auch so am Himmel oben. Leute, die ärgerlich darauf bestehen, dass auf einem Bild der Himmel immer himmelblau und jede Wiese grasgrün sein müss, sind diesen Kindern sehr ähnlich. Sie entrüsten sich höchlichst, wenn eine Landschaft in anderen Farben dargestellt wird. Wenn wir aber einmal zu vergessen trachten, was wir von grünem Gras und blauem Himmel gehört haben, und die Welt betrachten, als wären wir gerade auf einer Entdeckungsfahrt von einem fremden Planeten gekommen und sähen sie zum ersten Mal im Leben, dann werden wir vielleicht die Erfahrung machen, dass Himmel und Wiesen oft die erstaunlichsten Farben haben. Künstler nun haben sehr häufig das Gefühl, auf einer solchen Entdeckungsreise zu sein. Sie wollen die Welt mit neuen Augen sehen und mit den hergebrachten Vorstellungen und Vorurteilen aufräumen, dass Fleisch rosa ist und Äpfel rot zu sein haben oder gelb. Es ist nicht leicht, uns von solchen vorgefassten Meinungen zu befreien, je besser es aber einem Künstler gelingt, desto aufregender sind meist die Werke, die aus seinen Händen hervorgehen. Vielleicht steht nichts unserer Freude an großen Kunstwerken so sehr im Weg wie unsere Trägheit und der Widerwille, eingefleischte Gewohnheiten und Vorurteile abzuschütteln, Begegnen wir der ungewohnten Darstellung eines vertrauten Gegenstandes, so wird sie häufig nur deshalb abgelehnt, weil sie uns
nicht >richtig< vorkommt. Je öfter ein Thema künstlerisch behandelt wurde, desto fester sind wir davon überzeugt, dass es immer auf ähn-
liche Art und Weise dargestellt werden muss.Vor allem dann gehen die Wogen der Erregimg hoch, wenn es sich um biblische Themen handelt. Wie wir alle wissen, berichtet die Heilige Schrift nichts über das Aussehen Jesu, und Gott selbst kann im Grunde gar nicht in menschlicher Gestalt nachgebildet werden; weiter wissen wir, dass es die Künstler der Vergangenheit waren, die alle uns heute so vertrauten Bilder und Vorstellungen schufen - und doch sind immer noch viele Menschen der Meinung, es käme einer Lästerung gleich, von diesen überkommenen Formen abzugehen. Dabei waren es gerade die Künstler, die das Studium der Heiligen Schrift mit größter Andacht und Aufmerksamkeit betrieben, um die Episoden der Heiligen Geschichte vor ihrem geistigen Auge völlig neu erstehen zu lassen. Und immer wieder geschah es, dass der Versuch eines großen Künsders, den alten Text mit völlig neuen Augen zu lesen, gedankenlose Menschen empört und erbost hat. Ein bezeichnender >Skandal< dieser Sorte flammte um Caravaggio auf; einem äußerst kühnen und revolutionären Maler, der um das Jahr 1600 in Italien tätig war. Er hatte den Auftrag bekommen, ein Bild des heiligen Matthäus für den Altar einer römischen Kirche zu malen. Der Heilige sollte bei der Abfassung des Evangeliums dargestellt werden, und zum Zeichen, dass im Evangelium Gottes Wort enthalten sei, sollte ein Engel auf dem Bild die Niederschrift inspirieren. Caravaggio, ein überaus fantasiebegabter junger Künsder, der alle Kompromisse hasste, dachte angestrengt nach, wie es wohl gewesen sein mag, als ein älterer, armer, abgearbeiteter Mensch, ein einfacher Zöllner, den Auftrag von oben erhielt, sich hinzusetzen und ein Buch zu schreiben. Und so malte er denn den heiligen Matthäus mit kahlem Kopf und bloßen staubigen Füßen, wie er den riesigen Folianten unbeholfen auf den Knien hält und vor lauter Anstrengung über die ungewohnte Arbeit des Schreibens ängstlich die Stirne runzelt (Abb. 15). Ihm zur Seite malte er einen jugendlichen Engel, der, so scheint es, eben herabgeschwebt kam. Behutsam führt er die schwere
Hand des alten Mannes, wie ein Lehrer sie einem Kinde führen mag. Als Caravaggio aber sein Bild in der Kirche ablieferte, für deren Altar es bestimmt war, glaubten die Leute, mangelnden Respekt vor dem Heiligen herauszulesen, und waren empört darüber. Das Bild wurde zurückgewiesen, und Caravaggio musste von Neuem anfangen. Diesmal ließ er sich auf kein Wagnis ein, sondern hielt sich streng an die konventionelle Vorstellung von einem Heiligen und von einem Engel (Abb. 16)| Das Ergebnis war immer noch ein recht güfes Bild, denn Caravaggio hatte sein Bestes getan, es im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten lebendig und interessant zu gestalten, aber man fühlt doch, dass es weniger ehrlich und aufrichtig ist als die erste Fassung. Diese Anekdote zeigt, welchen Schaden Leute anrichten können, die ein Kunstwerk aus einem >falschen Grund< ablehnen und kritisieren. Noch wichtiger ist eine andere Lehre, die sie uns erteilt.' Das, was wir >ein Kunstwerk< nennen, ist offensichtlich nicht das Ergebnis einer mysteriösen Tätigkeit, sondern ein Gegenstand, den ein • lebendiger Mensch für andere lebendige Menschen gemacht hat. Ein I Bild sieht leicht so lebensfern und beziehungslos aus, wenn es unter I Glas und Rahmen an der Wand hängt. Besonders in unseren Museen, I wo es — selbstverständlich mit vollem Recht - verboten ist, die aus• gestellten Gegenstände zu berühren. Aber ursprünglich berührte man sie — dafür waren sie gemacht —, nahm sie in die Hand, feilschte um sie, stritt um sie und sorgte sich um sie. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass jede Einzelheit in so einem Kunstwerk letzten Endes das Resultat einer Entscheidung ist, die der Künstler treffen musste: Er hat sich vielleicht den Kopf zerbrochen und seine Meinung viele Male geändert, er hat überlegt, ob er den Baum im Hintergrund stehen lassen oder ihn übermalen solle, er hat sich gefreut, wenn ihm halb zufällig ein Pinselstrich besonders gelang und einer sonnenbeschienenen Wolke unerwarteten Glanz verlieh, und nur widerwillig malte er eine Gruppe von Menschen in seine Landschaft, weil der Käufer darauf bestand. Denn die meisten der Bilder und Statuen, die jetzt an den Wanden unserer Museen aufgereiht sind, waren nicht entstanden, um als >Kunst< ausgestellt zu werden. Sie wurden für eine ganz
bestimmte Gelegenheit und einen bestimmten Zweck verfertigt, und der Künsder stellte sich bei seiner Arbeit darauf ein. Begriffe hingegen wie >Schönheit< oder >Ausdruck«, über die wir Nicht-Künstler uns so gerne den Kopf zerbrechen, kommen im Wortschatz der Künstler viel seltener vor, als wir erwarten würden. Das war zwar nicht immer so, trifft aber in der Vergangenheit während vieler Jahrhunderte zu und im Großen und Ganzen auch in der Gegenwart. Zum Teil liegt es wohl daran, dass Künsder meist zurückhaltende Leute sind, die es nur in Verlegenheit bringen würde, so große Worte wie >Schönheit< zu gebrauchen. Es käme ihnen eingebildet und abgeschmackt vor, mit Phrasen wie >Ausdruck der Gefühle< und Ahnlichem herumzuwerfen. Solche Dinge müssen sich nach ihrer Meinung von selbst verstehen, und es bedarf keiner langen Diskussionen darüber. Damit findet ihre Zurückhaltung eine Erklärung, wie; man sie nicht besser wünschen kann; Aber es gibt noch eine andere: Bei der taglichen Arbeit und Mühe des Künstlers spielen diese Dinge nämlich eine viel kleinere Rolle, als der Laie es sich in der Regel vorstellt. Wenn ein Künsder ein Bild entwirft, wenn er Studien macht oder sich überlegt, ob an einem ^fertigem Gemälde nicht doch noch etwas fehlt, dann lassen sich seine wirklichen Sorgen viel weniger leicht in Worte fassen. Vielleicht würde er uns erklären; dass er noch nicht weiß, ob alles >in Ordnung istrichtig im Rahmen sitztso ist* wie es sein sollhingehörtschlägtin Ordnung bringen«. >Rühr es nur nicht mehr an«, hört man ihn dann rufen, >jetzt ist es genau, wie es sein soll«. Ich gebe gerne zu, dass gewiss nicht jeder Mensch so viel Sorgfalt auf die Zusammenstellung eines Blumenstraußes verwenden wird - für den einen ist es vielleicht wichtig, eine Krawatte zu finden, die zu seinem Hemd passt, für die andere, einen Gürtel zu kaufen, der ihr Kleid entsprechend ergänzt; auch gibt es Leute, die besonderen Wert darauf legen, nicht zu viel und nicht zu wenig Bratensaft zum Reis auf den Teller zu gießen. In allen Fällen, und seien sie noch so banal, geht es letzten Endes um ^ das >richtige< Gleichgewicht. Schlägt das Zünglein dahin oder dorthin S aus, so ist es schon gestört — nur eine einzige Lösung gibt es, die dem ^m >ausgewogenen< Verhältnis der Dinge zueinander völlig entspricht. Bemühen sich Leute gar so sehr um Blumen, Kleider oder Speisen, findet man das leicht >übertrieben«, weil wir das Gefühl haben, diese Dinge verdienten nicht so viel Aufmerksamkeit. Vieles aber kann im Bereich der Kunst seine Berechtigung haben, was im täglichen Leben nur eine schlechte Gewohnheit ist, die man unterdrückt oder verheimlicht. Wenn es darauf ankommt, Farben und Formen abzuwägen und abzustimmen, muss jeder Künsder >übertrieben< oder, besser gesagt, unglaublich feinfühlig sein. Er bemerkt vielleicht Unterschiede in der Schattierung oder im Material, die uns nicht auffallen würden. Und seine Aufgabe ist außerdem um vieles schwieriger als alles, was uns im täglichen Leben an derartigen Problemen begegnen kann. Er hat ja nicht nur zwei oder drei Farben, Formen und Möglichkeiten aufeinander abzustimmen, sondern eine unbegrenzte Zahl. Er hat buchstäblich Hunderte von Schattierungen und Formen auf seiner Leinwand, die er gegeneinander abwägen
xnuss, bis es >stimmtrichtigMadonna im Grünen« (Abb. 17). Gewiss, es ist schön und anmutig* die Gestalten sind wunderbar gezeichnet, und der Ausdruck der Jungfrau, die auf die beiden Kinder herabsieht, ist unvergesslich. Betrachten wir aber Raffaels Skizzen zu diesem Bild (Abb. 18), so wird uns klar werden, dass ihm diese Dinge bei der Arbeit gar nicht so sehr am Herzen lagen. Sie verstanden sich sozusagen von selbst. Immer wieder und wieder hingegen bemühte er sich um die Ausgewogenheit der Gruppe, um das richtige Verhältnis der Gestalten zueinander, um die größtmögliche Harmonie des Ganzen, zu dem sie sich zusammenschließen sollten. Die flüchtige Skizze in der linken Ecke zeigt, dass er zunächst daran dachte, das Jesuskind im Weggehen zu zeichnen, wie es sich nach seiner Mutter umsieht. Er experimentierte mit den verschiedenen Kopfhaltungen der Mutter, die der Bewegimg des Kindes entsprechen sollten. Dann entschloss er sich, das Kind umzudrehen und zur Madonna aufblicken zu lassen. Ein drittes Mal versuchte er es wieder anders und fügte den kleinen Johannes dazu, aber statt dass ihn das Jesuskind ansah, blickte es nach außen. In der nächsten Skizze wurde er scheinbar schon ungeduldig, man sieht, wie er den Kopf des Kindes in den verschiedenen Stellungen andeutet. Dabei ist das nur eines von vielen Skizzenblättern, auf denen er wieder
und wieder versuchte, diese drei Gestalten am besten zu einer harmonischen Gruppe zu fügen. Wenn wir jetzt nochmals das fertige Bild betrachten, sehen wir, dass es ihm am Ende gelang, das Problem zu lösen. Alles ist genau dort, wo es hingehört, und die Ausgewogenheit und Harmonie der Gruppe, die Raffael so harte Arbeit gekostet hat, wirkt so selbstverständlich und natürlich, dass man sie kaum bemerkt. Und doch macht diese Harmonie die Schönheit der Madonna noch schöner und die Anmut der Kinder noch anmutiger. Es ist faszinierend, einem Künsder so über die Schulter zu blicken, wie er sich um das richtige Gleichgewicht bemüht; wären wir aber imstande, ihn zu fragen, warum er dieses tat und jenes änderte - er würde vielleicht gar nicht antworten können. Er folgt keinen feststehenden Regeln, er probiert eben herum und tastet sich allmählich näher an das heran, was ihm vorschwebt. Es hat wohl immer wieder Künsder gegeben, die versuchten, gewisse Kimstregeln aufzustellen, aber es hat sich immer wieder gezeigt, dass schlechte Künstler nichts erreichten, auch wenn sie diese Regeln befolgten. Große Künsder aber konnten sie missachten und trotzdem eine neue Art von Harmonie entdecken, an die man eben vorher nicht gedacht hatte. Man erzählt, dass der große englische Maler Joshua Reynolds seinen Schülern an der Akademie einmal die Weisung gab, niemals ein starkes Blau im Vordergrund anzubringen, weil diese Farbe dem Hintergrund, den fernen Hügeln usw. vorbehalten sei. Das soll Gainsborough, den großen Rivalen Reynolds, gereizt haben. Und um zu beweisen, dass solche akademischen Regeln gewöhnlich sinnlos sind, malte er den berühmten >Blauen Knabenin Ordnung< sein. Und weil es nun einmal keine Regel gibt, die uns verrät, wann ein Bild oder eine Statue >in Ordnung< ist, kann man in Worten meist auch gar nicht erklären,
warum es sich dabei um ein großes Kunstwerk handelt und manchmal nicht. Das heißt aber noch lange nicht, dass ein Werk so gut ist wie das andere und dass sich über den Geschmack nicht streiten lässt. Auch wenn bei einem solchen >Streit< nichts anderes herauskommt, als dass wir das fragliche Bild einmal wirklich betrachten, so ist er nicht umsonst gewesen, denn je genauer wir hinschauen, desto leichter werden wir die Absichten des Künsders herausfinden. Man entwickelt ein Gefühl dafür, Welche Art von Harmonie eine bestimmte Generation von Künsdern jeweils angestrebt hat. Wir werden uns umso mehr an diesen Harmonien freuen, je stärker sich unser Gefühl dafür entwickelt hat — und darauf kommt es ja schließlich an. So besteht zwar die alte Behauptung, alles sei nur eine Frage des Geschmacks, zu Recht, aber es sollte uns nicht vergessen lassen, dass man den Geschmack bilden kann. Auch das ist eine Erfahrungstatsache, die jeder selbst nachprüfen kann. Wer wenig Gelegenheit hat, Kaffee zu trinken, dem wird einer wie der andere vorkommeil. Wer aber Muße, Lust und Geduld hat, sich zu einem Kenner auszubilden und den feinen Unterschieden der einzelnen Marken und Sorten nachzuspüren, wird schließlich genau wissen, was er am liebsten hat. Und niemand-wird eine Tasse, die genauso ist, wie sie sein soll, mit größerem Genuss trinken als der echte Kenner. Natürlich ist es unendlich viel komplizierter, den Geschmack in künsderischen Dingen auszubilden als den Geschmack an Essen und Trinken. Schließlich und endlich haben die großen Meister ihr Letztes in den Kunstwerken hergegeben, sie haben für sie gelitten und Blut geschwitzt, und wir sind ihnen zumindest denVersuch schuldige zu verstehen, worauf es ankam. Bei der Kunst lernt man nie aus. Immer wieder macht man neue Entdeckungen. Große Kunstwerke sehen jedes Mal anders aus, wenn man vor sie hintritt. Sie sind so unerschöpflich und so unberechenbar wie lebendige Menschen. Es ist eine erstaunliche Welt voll der überraschendsten Abenteuer. Niemand soll sich einbilden, dass er alles darüber weiß, denn dazu ist niemand imstande. Man muss an Kunstwerke mit unvoreingenommenem Geist und offenen Sinnen herantreten, das ist vielleicht das Allerwichtigste von allem, wenn
man sie wirklich genießen will; man muss bereit sein, die geringste Nuance zu erfassen und der verborgensten Harmonie nachzuspüren; und ganz besonders darf das Gehirn nicht mit großen Worten und imposanten Fachausdrücken vollgestopft sein. Es ist unvergleichlich besser, über Kunst gar nichts zu wissen, als eingebildet auf eine gewisse Art von Halbbildung zu sein, die einem nur den freien Blick verstellt. Diese Gefahr ist heutzutage sehr groß. Es gibt z.B. eine ganze Anzahl Menschen, die schon etwas von den Dingen läuten hörten, die ich in diesem Kapitel besprochen habe. Sie wissen also, dass es große Kunstwerke gibt, die auf den ersten Blick weder schön noch ausdrucksvoll, ja nicht einmal richtig gezeichnet erscheinen/Und dann sind diese Menschen auf ihr Wissen so stolz, dass sie alles, was schön, ausdrucksvoll oder richtig gezeichnet ist, als Kitsch abtun. Dieses Wort hat viel Schaden angerichtet. Es ist besser, den leeren Streit um Worte, die ewigen Fragen >Was ist Kitsch?< und > Was ist Kunst?< zu vergessen. Denn manche wirklich feinfühligen Menschen werden heutzutage gehindert, sich einfach naiv an schönen Dingen izu freuen, weil sie dauernd fürchten, auf etwas >hereinzufallenPrimitive< unterscheiden nicht zwischen Wirkhchkeit und Bild. Als einmal ein europäischer Künsder in ein solches Dorf kam und Rinder in sein Skizzenbuch zeichnete, wurden die Einwohner sehr besorgt: >Wovon sollen wir denn leben, wenn du unser Vieh mitnimmst?« Alle diese seltsamen Ideen sind; wichtig für uns, denn sie helfen uns, die ältesten aller erhaltenen Bilder von Menschenhand zu verstehen. Diese Gemälde sind beinahe so alt wie die ersten Spuren menschlichen Könnens überhaupt. Sie. stammten aus der Eiszeit. Damals machten gefahrliche Ungeheuer die Gegend unsicher, und die Menschen lebten in Höhlen und kannten nur die primitiven Steinwerkzeuge. Aber an den Wänden und Decken solcher Höhlen, vor allem in Südfrankreich (Abb. 20) und in Spanien (Abb. 19), hat man Malereien entdeckt. Sie stellen meistens Tiere dar, Mammuts, Rentiere, Wisente und wilde Pferde. Diese Gemälde wirken ganz erstaunlich lebendig und natürlich, viel natürlicher, als man es vielleicht erwartet hätte. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie dazu bestimmt waren, die Wände dieser dunklen Höhlen zu schmücken. Erstens findet man sie oft sehr tief im Berg, weit entfernt von den eigendichen Wohnstätten. Zweitens sind sie oft in wirrem Kreuz und Quer übereinander gemalt, ohne dass auf die Anordnung Wert gelegt zu sein scheint, wobei einige Bilder in der Höhle von Lascaux eine Ausnahme bilden (Abb. 2i}< Es sieht aus, als ob wir es hier mit den ältesten
Zeugnissen für den Glauben an die Macht des Bildzaubers zu tun hätten. Man nimmt an, dass diese primitiven Jäger hofften, sie müssten nur ein Abbild ihrer Beute machen - und es vielleicht mit Spießen oder Faustkeilen bearbeiten - und die wirklichen Tiere wurden ihnen dann auch zum Opfer fallen. Natürlich sind wir in diesen Dingen auf Vermutungen angewiesen. Aber was wir über die Kunst der heutigen primitiven Völker wissen - soweit ihre alten Sitten und Gebräuche noch bestehen macht es doch sehr wahrscheinlich, dass wir da richtig raten. Zwar gibt es jetzt kein Volk, soviel ich weiß, das genau dieselbe Art von Jagdzauber versucht, aber ähnliche Vorstellungen von der Zauberkraft des Bildes spielen eine große Rolle in dem Kimstschaffen dieser Stämme. Es gibt noch immer Primitive, die nur Steinwerkzeuge verwenden und Tierbilder zu magischen Zwecken in Felsen ritzen. Andere Stämme haben regelmäßige Festtage, an denen sie sich als Tiere verkleiden und sich in feierlichen Tänzen wie Tiere bewegen. Auch diese Stämme glauben, dass ihnen diese Tänze irgendwie Macht über ihre I Jagdbeute geben. Manche glauben auch, dass sie mit einem bestimml tenTier verwandt sind, so wie manche Gestalten in unseren Märchen, und dass der ganze Stamm ein Wolfsstamm, ein Rabenstamm oder ein Froschstamm ist. Das klingt gewiss seltsam genug. Aber schließlich darf man nicht vergessen, dass selbst derartige Ideen unserer eigenen Zeit nicht ganz so fremd sind, wie man im ersten Augenblick meinen könnte. Die alten Römer glaubten, dass Romulus und Remus von einer Wölfin gesäugt wurden, und das Bild dieser Wölfin aus Bronze stand an geheiligter Stätte am Kapitol in Rom. Noch unter Mussolini lebte immer eine Wölfin in einem Käfig an den Stufen zum Kapitol. Die Stadt Bern hält seit Jahrhunderten lebendige Bären im Bärengraben. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen der Rolle dieser Art von Wappentieren in unserem Leben und Denken und dem tiefen Ernst, mit dem die Wilden ihr Verhältnis zu dem >Totem< (wie sie ihre Tierverwandten nennen) betrachten. Für uns ist das alles ein Spiel, aber in der Welt der Primitiven scheint es kein Widerspruch zu sein, wenn jemand sowohl Mensch als auch Tier ist. Es gibt Stämme, die
in festgelegtem Ritual Masken mit tierischen Zügen tragen und dabei empfinden, dass sie nun wirklich Raben oder Bären geworden sind. Es geht ihnen vielleicht so ähnlich wie Kindern, die Räuber und Gendarmen spielen, bis sie nicht mehr wissen, wo das Spiel aufhört und die Wirklichkeit beginnt. Aber Kinder leben immer innerhalb der Welt der Erwachsenen, und es gibt jemanden, der ihnen zuruft: >Macht, keinen solchen Lärm!< oder >Es ist Zeit zum Schlafengehen!< Für den Primitiven gibt es keine andere Welt, die ihm die Illusion zerstören kann, denn alle Mitglieder des Stammes nehmen an den Zeremonien und Riten mit ihren fantastischen Spielen teil. Sie kennen alle ihre Bedeutung, sie haben sie von früheren Generationen gelernt und gehen so darin auf, dass sie kaum die Möglichkeit haben, aus dem Zauberkreis herauszutreten und sich selbst kritisch zu betrachten.. Wir alle haben wahrscheinlich Vorstellungen und Ansichten, die uns genauso selbstverständlich sind wie den >Primitiven< ihr seltsamer Glaube, und wir werden erst darauf aufmerksam, wenn wir auf Leute stoßen, die sie infrage stellen. Alles dies scheint zunächst nicht viel mit Kunst zu tun zu haben, aber nur zunächst. Denn primitive Kunstwerke sind ja oft für solche seltsamen Gebräuche bestimmt, bei denen es natürlich nicht darauf ankommt, ob das Bildwerk pder Gemälde von unserem Standpunkt aus schön, sondern ob es brauchbar, das heißt zauberkräftig ist. Die Künstler arbeiten für ihren eigenen Volksstamm, in dem jeder genau weiß, was jede Farbe und jede Form zu bedeuten hat. So ist Zweck und Form von vornherein festgelegt, und man erwartet niqht, dass der Künsder daran etwas ändert, sondern nur, dass er seine ganze Kunstfertigkeit an die Ausführung des Werks wendet. Wir müssen gar nicht so weit gehen, um Verwandtes zu finden. Eine Fahne soll bei uns auch nicht nur ein schönes farbiges Stück Tuch sein, das jeder Fahnenmacher nach Geschmack verändern kann, ein Ehering ist nicht nur ein Schmuckstück, das man tragen oder auswechseln kann, wie es einem einfallt Und doch bleibt uns innerhalb dieser festgelegten Gebräuche und Riten oft eine gewisse Möglichkeit, unsere Vorliebe und unseren Geschmack zur Geltung zu
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Seltsame Anfänge
bringen. Denken wir an den Christbaum. Seine wesentlichen Züge sind in der Uberlieferung festgelegt. Beinahe jede Familie hat da sogar ihre eigene Tradition und ihre eigene Vorhebe. Aber wenn der große Moment kommt und der Baum geschmückt werden soll, sind immer noch genügend Entscheidungen zu treffen. Soll auf diesen Zweig eine Kerze kommen? Sind an der Spitze genug Silberketten? Ist der Stern nicht zu groß oder eine Seite zu sehr überladen? Einem Außenseiter würde der ganze Vorgang vielleicht sehr merkwürdig vorkommen. Vielleicht würde er sogar finden, dass Bäume ohne Silberketten eigentlich viel schöner sind. Aber für uns bleibt es doch wichtig, dass der Baum so geschmückt ist, wie er >sein sollprimitive Kunst< soll wirklich nicht besagen, dass das Können primitiv ist. Manche dieser Künstler haben im Gegenteil eine geradezu unglaubliche Technik der Schnitzerei, der Korbflechterei, der Lederarbeit und sogar der Metallbearbeitung entwickelt. Man muss nur bedenken, mit welch primitiven Mitteln und Werkzeugen diese Arbeiten zustande kommen. In jahrhundertelanger Spezialisierung haben diese einfachen Handwerker eine so geduldige und sichere Hand entwickelt, dass man nur staunen kann. Die Maoris z.B., die Ureinwohner von Neuseeland, sind solche Meister in der Holzschnitzerei, dass sie mancher europäischer Handwerker um ihre Geschicklichkeit beneiden könnte (Abb. 22). Zwar ist die Tatsache allein, dass etwas schwer zu machen ist, natürlich noch kein Beweis, dass es auch ein Kunstwerk ist. Sonst wären ja die Leute, die kleine Segelschiffe in Glasflaschen verfertigen, die größten Künsüer. Aber die Zeugnisse handwerklicher Virtuosität bei den Primitiven beweisen uns immerhin, wie falsch es wäre, zu glauben, dass ihre Kunstwerke so seltsam sind, weil sie sie eben nicht besser zu machen verstehen. Das hat nichts mit Ungeschick zu tun, sondern mit der ganzen Vorstellungswelt dieser Menschen. Darüber muss man sich von Anfang an klar sein: Die Geschichte der Kunst ist nicht die Geschichte
technischer Fortschritte, sondern die Geschichte sich wandelnder Vorstellungen und Bedürfnisse. Wir wissen heutig, dass die Künstler eingeborener Stämme unter Umständen Werke schaffen können, die die Natur genauso richtig wiedergeben wie die besten Arbeiten einer modernen Kunstakademie. So würden vor einigen Jahrzehnten in Nigeria eine Serie von Bronzeköpfen entdeckt, wie man sie sich lebendiger und überzeugender nicht vorstellen kann (Abb. 23). Sie scheinen viele Jahrhunderte alt zu sein, und wir haben keinen ! Anhaltspunkt dafür, dass die Künstler ihre Fertigkeit von Fremden gelernt haben könnten. Wieso sehen dann primitive Kunstwerke oft so ungeheuer merkwürdig aus? Auch das lässt sifch vielleicht leichter verstehen, wenn wir wieder zu uns selbst und zu den Versuchen zurückkehren, die wir alle an uns machen können. Wir brauchen nur ein Stück Papier zu nehmen und darauf irgendein Gesicht zu kritzeln. Einfach einen Kreis für einen Kopf, einen Strich für die Nase und einen für den Mund. Nur die Augen lassen wir weg. Wirkt das Gesicht nicht furchtbar traurig? Das arme Ding kann ja nicht sehen! Wir haben das Gefühl, dass wir ihm->Augen machen< müssen — wir fühlen uns wirklich erleichtert, wenn wir dann zwei Punkte hineingesetzt haben, sodass das Gesicht uns endlich anschauen kann. Auf uns wirkt so ein Versuch wie ein Spaß, aber auf die Eingeborenen gewiss nicht. Ein hölzerner Klotz mit den wenigen wesentlichen Zügen eines Gesichts wirkt auf sie wie verwandelt. Er braucht den Klotz nicht natürlicher zu machen, wenn er ihm nur Augen zum Schauen gibt. Abb. 24 zeigt die Figur eines polynesischen Kriegsgottes namens Oro. Die Polynesier sind ausgezeichnete Holzschnitzer, aber sie fanden es offenbar nicht wichtig, einen Menschen nachzubilden. Das Ganze ist nichts als ein Stück Holz mit Bast überzogen. Nur die Augen und die Arme sind in diesem Geflecht angedeutet, aber sobald wir sie erkennen, bekommt der Klotz für uns einen unheimlichen Ausdruck. Man muss das vielleicht noch nicht Kunst nennen. Aber unsere Kritzelexperimente können uns noch etwas weiterführen. Versuchen wir die verschiedenen Formen unseres Kritzelgesichts so viel wie möglich zu variieren. Geben wir ihm Kreuze anstatt der Punkte für die Augen
oder irgendwelche andere formen, die nicht die geringste Ähnlich- j keit mit wirklichen Augen haben. Versuchen wir einen Kreis als Nase und Spirale als Mund. All das wird wenig ausmachen, solange wir die Beziehungen dieser Teile zueinander nicht zu sehr verändern. Dass das so ist, hat für einen eingeborenen Künstler vielleicht einmal eine große Entdeckung bedeutet. Sie setzte ihn in den Stand, seine Figuren und Gesichter immer aus den Formen aufzubauen, die ihm am besten gefielen und die sich in seiner Technik am leichtesten herstellen ließen. Was dabei herauskam, sah zunächst vielleicht nicht sehr natürlich aus, aber dafür behielt es eine gewisse, Einheitlichkeit und ornamentale Harmonie, von der in unserer Kritzelei wahrscheinlich wenig zu sehen war. Abb. 25 zeigt eii^e Maske aus Neuguinea. Sie ist vielleicht gerade keine Schönheit, das soll sie auch gar nicht sein, denn sie ist für eine Zeremonie bestimmt, in der sich die jungen Männer aus dem Dorfe als Gespenster verkleiden, um die Frauen und Kinder zu schrecken. Aber obwohl dieser Kinderschreck fantastisch genug aussieht, so kann man doch die Kunst bewundern, mit der der Schnitzer ein Gesicht aus geometrischen Formen aufgebaut hat. In manchen Gegenden haben primitive Künsder ganze Systeme ausgebaut, nach denen die .verschiedenen Gestalten und Totem-, tiere ihrer Mythologie als Ornamente dargestellt werden können. Die nordamerikanischen Indianer z.B. verbinden eine scharfe Naturbeobachtimg mit vollständiger Nichtbeachtung alles dessen, was wir das > wirkliche Aussehen< der Dinge nennen. Als Jäger und Fischer wissen sie viel genauer als unsereins, wie ein Adlerschnabel, ein Biberohr ode? (eine Bärentatze aussieht. Aber gerade deshalb genügt ihnen ein einziger charakteristischer Zug vollständig. Eine Maske mit einem Adlerschnabel ist eben ein Adler. Abb. 26 zeigt das Modell des Hauses eines Indianerhäupdings des .Haidastammes im Nordwesten der USA mit drei sogenannten Totempfahlen vor der Fassade. Uns kommen sie vielleicht nur wie ein Wirrwarr hässlicher Fratzen vor, aber für die Eingeborenen stellt jeder dieser Pfahle eine alte Stammeslegende dar. Vielleicht erscheint uns die Legende selbst beinahe so merkwürdig und zusammenhanglos wie ihre Darstellung, aber es sollte uns nicht
länger überraschen, dass die Vorstellungen der Eingeborenen anders sind als unsere: >Es war einmal ein junger Mann in dem Dorf Gwais Kun, der war so faul, dass er den ganzen Tag im Bett lag, bis seine Schwiegermutter darüber Bemerkungen machte. Da schämte sich der junge Mann, zog aus dem Haus und beschloss, ein Ungeheuer zu erlegen, das in einem See lebte und sich von Menschen und Walfischen nährte. Mit der Hilfe eines Märchenvogels baute er eine Falle aus einem Baumstamm und hängte zwei Kinder darüber als Köder auf. So fing er das Ungeheuer, kleidete sich in seine Haut und fing Fische, die er immer auf die Schwelle seiner keifenden Schwiegermutter legte. Sie fühlte sich so geschmeichelt durch diese unerwarteten und unerklärlichen Geschenke, dass sie zu glauben begann, sie sei eine mächtige Zauberin. Als der junge Mann sie endlich ihrer Illusionen beraubte, schämte sie sich so, dass sie darüber starb.
KunstEr, der am Leben erhältschmücken< in diesem Falle kaum richtig angewendet, denn auch diese Bilder waren ja nicht für das Auge eines Lebenden bestimmt. Sie sollten niemanden erfreuen, auch sie sollten >am Leben erhaltene Einst, in grauer und grausamer Vorzeit, war es Sitte gewesen, dass jeder Mächtige nach seinem Tode von Dienern und Sklaven ins Grab begleitet werden musste, damit er im Jenseits mit geziemendem Gefolge auftreten konnte. Später fand man diese furchtbaren Gebräuche zu grausam oder zu kostspielig, und man nahm die Kunst zu Hilfe. Statt wirklicher Diener bekamen die Großen dieser Erde Bilder als Ersatz mit ins Grab. Die Bilder und Holzpuppen, die man in ägyptischen Gräbern fand, hängen mit der Vorstellung zusammen, dass die Seele drüben in der anderen Welt nicht ohne Helfer sein sollte, ein Glaube, den viele frühe Kulturen teilen. Diese Reliefs und Wandmalereien geben uns ein außerordentlich lebendiges Bild des ägyptischen Lebens vor Tausenden von
Jahren. Wenn man sie zum ersten Male sieht, kommen sie einem allerdings oft ziemlich unverständlich vor. Das liegt daran, dass die ägyptischen Maler die Natur auf völlig andere Weise wiedergaben, als wir das gewöhnt sind. Möglicherweise hängt auch das noch mit dem Zweck dieser Bilder zusammen. Denn hier kam es ja in erster Linie auf Vollständigkeit, nicht auf Schönheit an. Die Künstler hatten die Aufgabe, alles so deutlich und so unverrückbar wie möglich darzustellen. Es war gar nicht ihre Absicht, die Dinge der Wirklichkeit darzustellen, wie sie gerade zufallig aussahen. Sie zeichneten aus dem Gedächtnis und nach strengen Regeln, die zur Folge hatten, dass alles, was im Bilde vorkam, vollständig ersichtlich war. In mancher Hinsicht erinnern ihre Methoden eher an unsere Landkarten als an unsere Bilder. Abb. 33 zeigt ein einfaches Beispiel dafür; es stellt einen Garten mit einem viereckigen Teich dar. Wenn wir die Aufgabe hätten, so ein Motiv zu zeichnen, so wären wir vielleicht im Zweifel, von welcher Seite wir es anpacken sollten. Die Gestalt und der Charakter der Bäume könnten nur von der Seite klar zum Ausdruck kommen, die Form des Teiches kann man nur aus der Vogelschau unverzerrt abbilden. Den Ägyptern machte das kein Kopfzerbrechen. In so einem Falle zeichneten sie eben den Teich von oben und die Bäume im Profil. Die Fische und Vögel im Teich andererseits wären von oben gesehen kaum kenntlich, und so zeichnete man sie eben von der Seite. Bei einem so einfachen Bild ist diese Methode ganz leicht verständlich. Viele Kinder zeichnen nach ähnlichen Grundsätzen. Aber die Ägypter waren viel konsequenter in der Anwendung dieser Grundsätze, als Kinder es jemals sind. Alles musste von der charakteristischsten Seite dargestellt werden. Abb. 34 zeigt uns, wie sich dieses Prinzip bei der Wiedergabe des menschlichen Körpers auswirkte. Den Kopf sieht man am klarsten im Profil. Wenn man andererseits an ein menschliches Auge denkt, so stellt man es sich von vorn gesehen vor. Darum wurde das Auge en face in die Seitenansicht des Gesichts hineingezeichnet. Oberkörper, Schultern und Brust stellen
sich
uns am klarsten von vorne dar, denn dann kann man sehen,
wie die Arme am Körper angewachsen sind. Aber Arme und Beine in Bewegung sind wieder deutlicher von der Seite zu erkennen. Das also ist der Grund, warum die Ägypter auf ihren Bildern so flach gedrückt und verdreht aussehen. Noch dazu fanden die ägyptischen Künstler es schwer, sich einen Fuß von außen gesehen vorzustellen. Sie zeichneten lieber den klaren Umriss von der großen Zehe zum Rist. Beide Füße erscheinen daher in dieser Form, und der Mann auf unserem Relief sieht aus, als ob er zwei linke Füße hätte. Man darf natürlich nicht meinen, dass die ägyptischen Künstler glaubten, dass Menschen wirklich so ausschauen. Sie folgten nur der Regel, die es ihnen ermöglichte, alle Teile der menschlichen Gestalt, die ihnen wesentlich schienen, in ihr Bild einzubeziehen. Es ist, wie gesagt, nicht immöglich, dass diese strenge Befolgung der Regel etwas mit dem magischen Zweck der Bilder selbst zu tun hatte. Denn wie konnte ein Diener mit nur einem Arm (weil der andere verdeckt öder verkürzt war) die notwendigen Opfergaben für den Toten herantragen? Das Wesentliche ist, dass die ägyptische Kunst sich nicht danach richtet, was der Künstler in irgendeinem bestimmten Augenblick sehen konnte. Es kam darauf an, dass er wusste, was zu einer Person oder einer Szene gehörte. Er baute seine Darstellung aus den Formen auf, die er gelernt hatte, so wie ja auch die primitiven Künsder ihre Gestalten aus den Elementen aufbauten, die sie handhaben konnten. Und der Künstler bringt in seinen Bildern nicht nur zum Ausdruck, was er von den Formen und Gestalten, die er darstellen will, weiß, sondern auch, was ihm von ihrer Bedeutimg bekannt ist. Wir sagen von jemandem, dass er >ein großer Mann< sei. Die Ägypter zeichneten den großen Mann auch größer als seine Diener u^d auch größer als seine Frau. Wenn man diese Regeln und Konventionen versteht, dann versteht man die Sprache der Bilder, in denen die Ägypter ihr Leben geschildert haben. Abb. 35 kann nur einen Begriff von der Anordnung
solcher Gemälde an der Wand einer Grabkammer geben, in der ein hoher ägyptischer Würdenträger des sogenannten Mittleren Reiches, ungefähr 1900 Jahre vor Christi Geburt, beigesetzt war. Die Inschriften in Hieroglyphen verkünden genau, wer begraben ist und welche Ehrentitel er im Laufe seines Lebens erworben hat. Wir lesen, dass es Chnemhotep war, der Verwalter der östlichen Wüste, Prinz von Menat Chufu, vertrauter Freund des Königs, dem König wohl bekannt, Vorsteher der Priester, Priester des Horus, Priester des Anubis, Vorsteher der göttlichen Geheimnisse und - das Imponierendste von allem - Hüter aller Tuniken. Links sehen wir ihn auf der Vögeljagd mit einem Wurfholz, begleitet von seiner Frau Cheti, seiner Konkubine Jat und einem seiner Söhne, der trotz seiner winzigen Ausmaße auf dem Bild den Titel >Aufseher der Grenzen< führte. Unten an dem Fries sieht man Fischer unter ihrem Aufseher Mentuhotep einen großen Fang einholen. Uber der Tür wiederum Chnemhotep, diesmal Wasservögel in einem Klappnetz fangend. Nachdem wir die Methoden der ägyptischen Künstler kennen gelernt haben, fallt es nicht schwer, diesen Apparat zu verstehen. Der Jäger saß hinter einem Schild aus Schilf und hielt ein Seil, das am geöffneten Netz (in Draufsicht gezeichnet) befestigt war. Sobald die Vögel vom Köder angelockt sich auf dem Netz niedergelassen hatten, zog er an, und die Falle schloss sich über ihnen. Hinter Chnemhotep erscheint sein ältester Sohn, Nacht, und sein Schatzmeister, der auch für die Anordnung der Begräbnisstätte verantwortlich war. Rechts erscheint Chnemhotep, den die Inschrift als >groß an Fischen, reich an Geflügel, Verehrer der Jagdgöttin< beschreibt, wie er Fische mit dem Zweizack fangt (Abb. 36). Wieder können wir die Konventionen der ägyptischen Kunst beobachten: Die Lichtung im Schilf mit dem Fisch ist von oben gesehen und wirkt daher wie ein Wasserberg. Die Inschrift lautet: >Auf seinem Kanu im Papyrusdickicht, in den Geflügelgewässern, den Sümpfen und Bächen fängt er dreißig Fische mit seinem Zweizack. Wie köstlich ist ein Tag der Flusspferdjagd.< Weiter unten sieht man einen komischen Zwischenfall, ein Mann ist
ins Wasser gefallen und wird von seinen Gefährten herausgefischt. Rings um die Tür stehen Gebete an die Götter und die Tage verzeichnet, an denen der Tote Opfer zu empfangen hat. Sobald wir uns nur an die ägyptischen Bilder gewöhnt haben, stören uns ihre Verstöße gegen die Wirklichkeit genauso wenig, wie es uns stört, dass Fotografien keine Farben haben. Wir fangen an, die großen Vorzüge der ägyptischen Methoden zu entdecken. In ihren Bildern wirkt nichts zufallig oder ungefähr. Nichts sieht so aus, als könnte es geradeso gut woanders sein. Es lohnt die Mühe, einen Bleistift zur Hand zu nehmen und zu versuchen, eine dieser. >primitiven< ägyptischen Malereien abzuzeichnen. Unsere Versuche wirken immer plump, windschief und verzerrt. Meine eigenen jedenfalls tun das immer. Denn der ägyptische Ordnungssinn, der sich auf jedes Detail bezieht, ist so stark, dass die kleinste Veränderung das Ganze über den Haufen wirft. Der ägyptische Künstler begann seine Arbeit damit, ein Liniennetz an die Wand zu zeichnen und seine Figuren sorgfaltig darin zu verteilen. Und dennoch hinderte ihn dieser Ordnungssinn nicht daran, die Natur mit unglaublicher Beobachtungsgabe nachzubilden. Jeder Vogel, jeder Fisch und jeder Schmetterling ist so getreu abgebildet, dass Zoologen noch heute die Gattungen ohne Schwierigkeiten bestimmen können. Abb. 37 zeigt solch einen Ausschnitt von Abb. Z5 - die Vögel im Baum nahe bei Chnemhoteps Netz. Bei diesen Details kam dem Künstler nicht nur sein großes Wissen zu Hilfe, sondern auch sein guter Blick für Farbe und Form. Es gehört zu den größten Vorzügen der ägyptischen Kunst, dass alle Skulpturen, Malereien und architektonischen Formen einem Gesetz zu gehorchen scheinen. Wir nennen ein solches Gesetz, dem sich alle Schöpfungen einer Epoche unterordnen, einen >Stiloriginell< sein sollte. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich galt der als der beste Künstler, dessen Statuen den bewunderten Denkmälern der Vorzeit am ähnlichsten waren. So erklärte es sich, dass sich die ägyptische Kunst im Laufe von dreitausend Jahren nur sehr wenig verändert hat. Alles, was zur Zeit der Pyramiden als schön und vortrefflich galt, hielt man auch tausend Jahre später für ausgezeichnet. Natürlich gab es neue Moden und neue Gegenstände, die der Künstler darzustellen hatte, aber im Großen und Ganzen blieb die Methode der Wiedergabe von Menschen und Tieren dieselbe. Es gab nur einen Mann, der jemals an den Gitterstäben des ägyptischen Stils zu rütteln wagte. Das war der König der achtzehnten Dynastie, aus dem sogenannten Neuen Reich, das nach einer katastrophalen Invasion Ägyptens gegründet worden war. Dieser König, Amenophis IV., war ein Ketzer. Er brach mit vielen geheiligten, uralten Bräuchen und Überlieferungen. Er wollte nicht die vielen seltsam gestalteten Götter des Volkes verehren. Für ihn gab es nur einen höchsten Gott. Aton, den er anbetete und den er in der Gestalt der Sonnenscheibe darstellen ließ, die ihre Strahlen herabsendet, ein jeder endet in seiner Hand. Er selbst nannte sich Echnaton, nach seinem Gott, und verlegte seinen Hof außerhalb der Reichweite der Priester der andern Götter, in das heutige Teil el-Amarna.
Die Bilder, die er malen ließ, müssen die Ägypter seiner Zeit durch ihre Neuheit geradezu schockiert haben. Hier gab es nichts von der feierlichen Würde früherer Pharaonen. Stattdessen Heß er sich mit seiner Frau Nefertiti darstellen, wie sie unter der segnenden Sonne ihre Kinder streicheln. Manche seiner Bildnissse zeigen ihn als hässlichen Mann (Abb. 39) - vielleicht wollte er geradezu, dass ihn die Künstler in seiner ganzen menschlichen Schwäche darstellten. Echnatons Nachfolger war Tutanchamun, dessen Grab mit all seinen Schätzen 1922 entdeckt wurde. Einige der Arbeiten, die dort gefunden wurden, haben noch den modernen Stil der AtonReligion, besonders die Rückenlehne eines Throns (Abb. 42), die den König und die Königin in einem häuslichen Idyll zeigt. Er sitzt in seinem Sessel, in einer Haltung, die die strengen ägyptischen Konservativen vielleicht entsetzt haben mag - für ägyptische Verhältnisse lümmelt er beinahe. Seine Frau ist nicht kleiner dargestellt als er selbst. Sie legt ihre Hand leise auf seine Schulter, während auch hier die goldene Scheibe des Sonnengottes segnende Hände zu ihnen hinunterstreckt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese« Reform der ägyptischen Kunst unter der achtzehnten Dynastie dem König leichter wurde, weil er auf ausländische Arbeiten hinweisen konnte, die viel weniger streng und starr waren als die ägyptischen. Auf einer Insel draußen im Meer, auf Kreta, lebte damals ein begabtes Volk, dessen Künstler eine besondere Freude an der Darstellung bewegter Gestalten hatten. Als Ende des neunzehnten Jahrhunderts der Palast ihres Königs in Knossos ausgegraben wurde, konnten die Menschen kaum glauben, dass ein so ungebundener und graziöser Stil im zweiten Jahrtausend vor Christus existiert haben sollte. Abb. 41 zeigt ein gutes Beispiel dieses kretischen oder minoischen Stils (so genannt nach Minos, dem mythischen König von Kreta), wie er auch in Mykene am griechischen Festland herrschte. Der Dolch aus Mykene zeugt von einem Sinn für Bewegung und Linienschwung, der nicht verfehlen konnte, auf ägyptische Meister Eindruck zu
machen, sobald sie sich frei fühlten, von den geheiligten Regeln ihres Stils abzuweichen. Aber die Zeit, in der die ägyptische Kunst solch fremden Einflüssen offenstehen durfte, dauerte nicht lange. Schon in der Regierungszeit des Tutanchamun wurde der alte Glaube wieder hergestellt und das Fenster nach der Außenwelt geschlossen. Der ägyptische Stil, der mehr als tausend Jahre vor dieser Episode existiert hatte, überdauerte noch ein Jahrtausend, und die Ägypter glaubten gewiss, dass er für alle Ewigkeit gelten würde. Viele ägyptische Kunstwerke in unseren Museen stammen aus dieser späteren Zeit, und ebenso fast alle ägyptischen Bauten, Tempel und Paläste. Zwar wurden neue Themen und neue Aufgaben in Angriff genommen, aber zu wesentlichen neuen Errungenschaften in der Kunst kam es nicht mehr. Natürlich war Ägypten nur eines der großen und mächtigen i Reiche, die durch mehrere Jahrtausende im Vorderen Orient exisI tierten. Wir wissen alle aus der Bibel, dass das kleine Palästina zwischen dem ägyptischen Königreich am Nil und den babylonischen und assyrischen Reichen lag, die im Zweistromlande des Euphrat und Tigris entstanden waren. Die Kunst Mesopotamiens, wie das Zweistromland auf Griechisch heißt, ist weniger gut bekannt als die Ägyptens. Zum Teil wenigstens beruht das auf einem Zufall. Es gab keine Steinbrüche in diesen Tälern, und so wurden die meisten Gebäude aus Ziegeln gebaut, die im Laufe der Zeit verwitterten und in Staub zerfielen. Selbst steinerne Bildwerke waren verhältnismäßig selten. Aber das ist nicht die einzige Erklärung dafür, dass verhältnismäßig wenige frühe Kunstwerke aus diesen Gegenden erhalten geblieben sind. Der Hauptgrund ist wahrscheinlich, dass diese Völker die religiösen Anschauungen der Ägypter nicht teilten, wonach der menschliche Leib und sein Bildnis erhalten bleiben muss, wenn die Seele nicht zugrunde gehen soll. In der frühesten Zeit, als das Volk der Sumerer von der Stadt Ur aus herrschte, wurden Könige noch mit ihrem ganzen Haushalt samt Sklaven begraben, auf dass sie
im Jenseits nicht ohne Gefolge seien. Gräber dieser Frühzeit wurden entdeckt, und heute können wir einige der Gebrauchsgegenstände dieser barbarischen Könige der Vorzeit im British Museum bewundern. Sie zeigen, welcher verfeinerte hohe Kunstverstand mit primitivem Aberglauben und Grausamkeit Hand in Hand gehen kann. Unter den Grabbeigaben war auch eine Harfe, mit Bildern von Fabeltieren geschmückt (Abb. 43). Sie wirken ähnlich wie Wappentiere, nicht nur ihrem Aussehen nach, sondern auch in der Anordnung, denn die Sumerer liebten Symmetrie und Präzision. Wir wissen nicht genau, was die Fabeltiere zu bedeuten hatten. Aber es ist beinahe sicher, dass es Gestalten aus der Mythologie dieser Frühzeit sind, und dass die Szenen, die ein wenig wie Seiten aus einem Bilderbuch wirken, einen feierlichen, ernsten Sinn enthielten. Obwohl die mesopotamischen Künstler nicht die Aufgabe hatten, die Wände von Grabkammern zu schmücken, so sollten auch ihre Werke und Bilder Mächtigen Dauer verleihen/ Seit den frühesten Zeiten war es der Brauch mesopotamischer Könige, Siegesdenkmäler zu errichten, die verkündeten, welche Stämme unterworfen waren und wie viel Beute gemacht worden war. Diese Denkmäler zeigen meist den Herrscher, wie er den Fuß auf den geschlagenen Feind setzt, während andere Gegner um Gnade flehen (Abb. 44). Vielleicht war der Zweck dieser Denkmäler nicht nur, das Andenken dieser Siege lebendig zu erhalten. Wenigstens ursprünglich mögen die alten Anschauungen von der Macht des Bildes dabei mitgespielt haben. Vielleicht glaubte man, dass sich der geschlagene Stamm nicht mehr erheben konnte, solange der König im Bilde mit seinem Fuß auf dem Nacken des geschlagenen Gegners stand. Später entwickelten sich diese Denkmäler zu ausführlichen Bilderchroniken der Feldzüge jedes Königs. Die besterhaltenen dieser Chroniken stammen aus einer relativ späten Zeit, der Regierungszeit des Königs Asurnasirpal II. von Assyrien im neunten Jahrhundert vor Christus, ein wenig später als der biblische König Salomon. Sie zeigen uns alle Episoden eines sorgfaltig organisierten Feldzuges.
Abb. 45 zeigt Details aus der Erstürmung einer Festung: die Belagerungsgerätschaften, die herabstürzenden Verteidiger sowie auf der Turmspitze eine Frau, die vergebens klagt. Die Art, wie die Szenen dargestellt sind, ist den Methoden der Ägypter recht ähnlich, nur vielleicht weniger starr und streng. Man glaubt die Nachrichten von vor zweitausendneunhundert Jahren zu sehen. Alles wirkt so überzeugend realistisch. Aber sobald man näher hinsieht, entdeckt man einen seltsamen Zug. Es gibt genug Tote und Verwundete in diesen wilden Kriegen, aber kein einziger unter ihnen ist ein Assyrer. Die Kunst der Propaganda und der Prahlerei war damals schon weit entwickelt. Aber möglicherweise sollten wir über diese alten Assyrer nicht gar zu hart urteilen. Vielleicht waren auch sie noch von dem alten Aberglauben beherrscht, der in dieser Geschichte eine solche Rolle spielt: der Aberglaube, dass ein Bild mehr ist als eben nur ein Bild. Vielleicht wollten sie aus diesem Grund keine verwundeten Assyrer darstellen. Wie dem auch sei, die Tradition, die damals begann, hatte ein sehr langes Leben. Auf allen Denkmälern, die die Kriegsherren der Vergangenheit verherrlichen, ist der Krieg völlig problemlos. Man braucht nur zu erscheinen, und der Feind ist weggeblasen wie die Spreu im Winde.
3
das grosse Erwachen Griechenland 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr.
In den großen Oasenstreifen am Nil und am Euphrat, wo die Sonne unbarmherzig brennt und nur das von den Flüssen bewässerte Land den Menschen Nahrung schenkt, entstanden die uralten Kunststile der orientalischen Despotien, die Jahrtausende währten. Anders war das in den milderen Zonen an dem Meer, das die Küsten dieser Königreiche bespült: auf den unzähligen großen und kleinen Inseln des östlichen Mittelmeers und den buchtenreichen Halbinseln von Kleinasien und Griechenland. Diese Gebiete unterstanden keinem Alleinherrscher. Dort waren die Schlupfwinkel von abenteuerlustigen Seefahrern, von Seeräuberkönigen, die weit als Händler und Freibeuter herumkamen und in ihren Schlössern und Hafenstädten große Schätze aufstapelten. Das Hauptzentrum dieser Gebiete war ursprünglich die Insel Kreta, deren Könige manchmal reich und mächtig genug waren, Gesandtschaften nach Ägypten zu senden, und deren Kunst dort einen Eindruck hinterließ (S. 57). Man weiß nicht genau, welchem Volksstamm die damaligen Herrscher von Kreta angehörten, deren Kunst auf dem griechischen Festland, besonders in Mykene, kopiert wurde. Neuere Entdeckungen machen es wahrscheinlich, dass sie eine frühe Form des Griechischen sprachen. Später drang um 1000 v. Chr. eine neue Welle kriegerischer Stämme aus Europa auf die felsige Halbinsel Griechenlands und an den Küsten Kleinasiens vor; sie bekämpften und besiegten die ursprünglichen Einwohner. Der Glanz und die Schönheit der Kunstwerke, die in diesen langen Kriegen zerstört wurden, leben nur noch in den Liedern fort, die von diesen Schlachten künden. Diese Lieder sind die homerischen Gesänge, und die Neuankömmlinge waren Griechen. Während der ersten Jahrhunderte ihrer Herrschaft über Griechenland sahen die Kunstwerke dieser griechischen Stämme recht barbarisch aus. Nichts erinnert an die Bewegungsfreude kretischer Kunstwerke, vielmehr scheinen sogar die Ägypter an Starrheit übertroffen. Ihre Töpferwaren waren mit einfachen geometrischen Mustern geschmückt, und wo es eine Szene
darzustellen galt, musste sie sich diesem Schema einfügen. Abb. 46 stellt zum Beispiel die Klage um einen Toten dar. Er liegt auf der Bahre, während rechts und links Frauen die Hände zum Haupt erheben - die rituelle Klage, wie sie bei fast allen primitiven Völkern üblich ist. Etwas von dieser Vorliebe für klare und einfache Anordnung scheint sich auch der Bauweise mitgeteilt zu haben, die die Griechen in dieser Frühzeit entwickelten und die, so merkwürdig das klingen mag, auch heute noch in unseren Städten und Dörfern weiterwirkt. Abb. 50 zeigt einen griechischen Tempel dieses alten Stils, der nach dem dorischen Stamm benannt ist. Zu diesem Stamm gehörten die Spartaner, die für ihre strenge Lebensführung berühmt waren. Tatsächlich gibt es an diesen Gebäuden kein überflüssiges Beiwerk, nichts, dessen wirklicher oder scheinbarer Zweck nicht klar zum Ausdruck käme. Wahrscheinlich waren die ersten dieser Tempel aus Holz gebaut und bestanden nur aus einer kleinen Zelle für das Standbild des Gottes und einem Kranz starker Stützen, die das Dach zu tragen hatten. Um das Jahr 600 v. Chr. begannen die Griechen diese einfachen Gebäude in Stein nachzubilden. Die hölzernen Stützen wurden zu Säulen, die feste, steinerne Gebälke trugen. Man sieht noch die Formen der alten Holzkonstruktion am oberen Teil des Gebälks, das aussieht, als kämen dort die Enden der Querbalken zu Tage. Sie waren meist dreigeschlitzt und heißen darum Triglyphen (Dreischlitze). Das Feld zwischen diesen Balkenenden heißt Metope. Das Bewundernswerte an diesen frühen Tempelgebäuden ist die Einfachheit und der Zusammenklang aller Teile. Hätten die griechischen Baumeister gewöhnliche viereckige Pfeiler oder geradlinige Säulen verwendet, so hätten diese Gebäude vielleicht schwer und plump gewirkt. Sie ließen aber die Säulen in einer sanften Kurve von oben etwas zulaufen, sodass sie beinahe elastisch aussehen. Man hat den Eindruck, dass das Gewicht des Daches sie ein wenig zusammendrückt, dass sie es aber mit federnder Leichtigkeit tragen, ohne aus
der Form zu geraten. Sie wirken beinahe wie Lebewesen, die dem Bau mit Freude dienen. So groß und eindrucksvoll auch manche dieser Tempel sind, so haben sie doch niemals die kolossalen Ausmaße ägyptischer Bauten. Man fühlt, dass sie von Menschen und für Menschen gebaut sind. Es war ja kein göttlicher Herrscher über die Griechen gesetzt, der ein ganzes Volk hätte zwingen können, für ihn zu arbeiten. Die griechischen Stämme verteilten sich auf kleine Städtebünde und Hafenplätze. Es gab viel Eifersüchteleien und Reibereien zwischen diesen kleinen Gemeinden, ohne dass es einer gelang, die anderen zu unterjochen. Von all diesen griechischen Stadtstaaten wurde Athen in Attika für die Kunstgeschichte bei Weitem der wichtigste. Dort wirkte sich vor allem die größte und erstaunlichste Umwälzung in der gesamten Geschichte der Kunst aus. Es ist schwer, genau zu sagen, wann und wo die Umwälzung begann — vielleicht war es ungefähr zur gleichen Zeit, als die ersten steinernen Tempel in Griechenland gebaut wurden, d. h. im sechsten Jahrhundert v. Chr. Wir wissen, dass die Künstler der altorientalischen Reiche früherer Zeit in ihrer eigenen Art nach Vollendung strebten: der Kunst ihrer Vorfahren so getreu wie möglich nachzueifern und sich streng an die geheiligten Regeln des Herkommens zu halten. Als die Griechen begannen, steinerne Statuen zu machen, nahmen sie sich die Ägypter und Assyrer zum Vorbild. Abb. 47 zeigt, wie genau sie ägyptische Kunstwerke studiert und nachgeahmt haben. Dort konnten sie lernen, wie man die Gestalt eines stehenden Jünglings bildet, wie man den Körper gliedert und sein Gerüst klarmacht. Aber man sieht auch, dass der Künstler, der diese Statue verfertigte, sich nicht damit zufrieden gab, irgendeine Formel anzuwenden, so gut sie auch war, und dass er selbst zu experimentieren begann. Er wollte offenbar wissen, wie Knie wirklich aussehen. Vielleicht ist ihm das nicht ganz gelungen. Vielleicht wirken die Knie seiner Statue sogar weniger natürlich als die ägyptischer Bildwerke. Aber das Wesentliche war, dass er lieber seinen eigenen Augen traute als
einem alten Rezept. Es kam ihm nicht mehr darauf an, ein gutes Schema für die Darstellung des menschlichen Körpers zu erlernen. Jeder griechische Bildhauer wollte wissen, wie er selbst einen bestimmten Menschenleib darstellen sollte. Die Ägypter gründeten ihre Kunst auf Wissen; die Griechen begannen, die Augen aufzumachen. Sobald diese Revolution einmal begonnen hatte, gab es kein Halten mehr. Die Bildhauer in ihren Werkstätten probierten immer neue Darstellungsmethoden, und jede neue Idee wurde begeistert von anderen aufgenommen, die ihre eigenen Entdeckungen hinzufügten. Einer bekam heraus, wie man den Brustkorb meißelt, ein anderer entdeckte, dass eine Statue viel lebendiger wirkt, wenn die Füße nicht zu fest am Boden stehen. Ein Nächster fand vielleicht, dass er ein Gesicht beleben konnte, indem er einfach die Mundwinkel nach oben zog, sodass es zu lächeln schien. Freilich, die ägyptischen Methoden waren in mancher Hinsicht weniger riskant; die Experimente der griechischen Künstler misslangen auch manchmal. Das Lächeln wirkte dann vielleicht wie ein verlegenes Grinsen, oder das lockere Stehen wirkte etwas affektiert. Aber die griechischen Künstler ließen sich von solchen Misserfolgen nicht leicht abschrecken. Auf diesem Wege gab es kein Zurück. Die Maler folgten den Bildhauern. Wir wissen nur wenig von ihren Werken, abgesehen von Nachrichten bei antiken Schriftstellern. Wir lesen bei ihnen, dass viele griechische Maler zu ihrer Zeit sogar noch berühmter waren als die zeitgenössischen Bildhauer. Nur der Bildschmuck aus griechischen Töpfereien gibt uns eine gewisse Vorstellung vom Charakter der frühen griechischen Malerei. Man nennt diese bemalten Gefäße gewöhnlich Vasen, obwohl sie in der Regel für Wein und Öl bestimmt waren und nicht für Blumen. Das Bemalen dieser Vasen war eine wichtige Industrie in Athen, und die einfachen Handwerker, die in den Werkstätten arbeiteten, waren ebenso stolz darauf wie andere Künstler, die neuesten Entdeckungen auf ihren Produkten zur Schau stellen zu
bemerkt man noch Spuren ägyptischer Methoden (Abb. 48). Wir sehen zwei homerische Helden, Achilles und Ajax, beim Brettspiel in ihrem Zelt. Beide sind in strengem Profil gezeichnet, und ihre Augen wirken wie von vorne gesehen. Aber ihr Körper ist nicht mehr nach der ägyptischen Weise dargestellt, und ihre Arme und Hände sind nicht mehr so starr und klar gebildet. Offenbar hatte der Maler versucht sich vorzustellen, wie es wirklich aussieht, wenn sich zwei Männer so gegenübersitzen. Er scheute sich nicht mehr davor, nur ein Stückchen von der Hand des Achilles zu zeigen, während der Rest von der Schulter verdeckt ist. Er glaubte nicht mehr, dass er alles zeigen müsste, was seinem Wissen nach vorhanden war. Sobald diese uralte Regel durchbrochen war, sobald die Künstler anfingen, sich auf ihre Augen zu verlassen, kam alles ins Rollen. Die Maler mächten die allergrößte Entdeckung — sie entdeckten die Verkürzung. Es war ein gewaltiger Wendepunkt in der Geschichte der Kunst, als Künstler es das erste Mal in der Weltgeschichte wagten, einen Fuß von vorne gesehen darzustellen. Das war wahrscheinlich kurz vör dem Jahre 500 v. Chr. In Tausenden und Abertausenden ägyptischer und assyrischer Kunstwerke, die erhalten sind, gibt es so etwas nicht. Eine griechische Vase (Abb. 49) zeigt uns, mit welchem Stolz diese Entdeckung angewandt wurde. Wir sehen einen jungen Krieger, der sich zur Schlacht rüstet. Seine Eltern, ihm zur Seite, die ihm helfen und gute Ratschläge geben, sind noch in strengem Profil gezeichnet. Der Kopf des Jünglings in der Mitte ist auch von der Seite gesehen, und man hat das Gefühl, dass es dem Künstler nicht leicht gefallen ist, den Kopf mit dem Körper zu verbinden, der von vorne gesehen ist. Auch der rechte Fuß ist nach dem alten verlasslichen Rezept gezeichnet, aber der linke Fuß ist verkürzt gesehen — man sieht die fünf Zehen wie eine Reihe kleiner Kreise. Vielleicht wirkt es zunächst übertrieben, von einer solchen unscheinbaren Einzelheit so viel Aufhebens zu machen, aber diese unscheinbare Einzelheit verkündet tatsächlich, dass nun die alte Kunst auf Nimmerwiedersehen vorbei war. Sie
zeigt, dass der Künstler nicht mehr darauf Wert legte, alles im Bilde in seiner deutlichsten Gestalt zur Geltung zu bringen, sondern dass er den Gesichtswinkel, aus dem er blickte, mit in Rechnung stellte. Dicht neben dem Fuß beweist er diese Absicht noch einmal. Er zeichnete den Schild des Jünglings nicht rund, w i e w i r uns einen Schild vorstellen, sondern von der Seite gesehen und verkürzt an die Wand gelehnt. Und doch, wenn w i r uns dieses und das vorige Bild genauer ansehen, so bemerken wir, dass die Lehren der ägyptischen Kunst nicht einfach vergessen und in den Wind geschlagen w u r den. Die griechischen Künstler strebten weiter danach, den Umriss ihrer Gestalten so klar w i e möglich zu halten und ihre Kenntnisse des menschlichen Körperbaus so deutlich zur Geltung zu bringen, w i e es sich eben irgend mit dem natürlichen Aussehen vereinigen ließ. Sie behielten den Geschmack an strengen, klaren U m r i s s e n und ausgewogenen Formen. Nichts lag ihnen ferner, als zu versuchen, die Natur so darzustellen, w i e sie sich zufällig i h r e n Blicken bot.Das alte Schema, der Typus der menschlichen Gestalt, w i e er sich in all den Jahrhunderten entwickelt hatte, blieb ihr Ausgangspunkt. Er w a r ihnen nur nicht m e h r in jeder Einzelheit unantastbar u n d heilig.
Die große Revolution in der griechischen Kunst, die Entdeckung der Naturwiedergabe und der Verkürzung, spielte sich zu einem Zeitpunkt ab, der der erstaunlichste Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit ist. Es war die Zeit, in der zuerst Männer in den griechischen Städten auftraten, die die uralten Überlieferungen und Göttersagen in Zweifel zu ziehen wagten und die die Natur der Dinge vorurteilsfrei zu erforschen suchten. Die Zeit also, in der das, was wir heute Wissenschaft und Philosophie nennen, zuerst erwachte und in der sich auch das Theater aus religiösen Riten zu Ehren des Dionysos entwickelte. Wir dürfen uns aber nicht vorstellen, dass Künstler damals zu den intellektuellen Kreisen gehörten. Die reichen Griechen, die die Politik der
Stadt beherrschten und die ihre Zeit in endlosen Gesprächen am Marktplatz verbrachten, ja vielleicht sogar die Dichter und Philosophen schauten auf Bildhauer und Maler als etwas Minderes herab. Künstler waren Leute, die von ihrer Hände Arbeit lebten. Sie saßen beim Schmelzofen, verschwitzt und mit geschwärzten Gesichtern, sie schufteten wie ganz gewöhnliche Schwerarbeiter und wurden daher von der griechischen Gesellschaft nicht für voll genommen. Trotzdem war ihr Anteil am Leben der Stadt noch immer unvergleichbar größer als der der ägyptischen oder assyrischen Handwerker, denn die meisten griechischen Städte, vor allem Athen selbst, waren Demokratien, in denen diese einfachen Arbeiter einen gewissen Anteil an der Regierung hatten, wenn sie auch von den snobistischen Reichen verachtet wurden. Die Blütezeit der athenischen Demokratie fällt mit dem Höhepunkt der griechischen Kunstentwicklung zusammen. Nachdem die Athener den persischen Einfall zurückgeschlagen hatten, begannen sie unter der Führung des Perikles wieder aufzubauen, was die Perser zerstört hatten. Im Jahre 480 v. Chr. hatten die Feinde die Tempel auf dem heiligen Fels von Athen, der Akropolis, niedergebrannt und geplündert. Jetzt, nach 450 v. Chr., wurden sie wieder aufgebaut, und zwar in nie gekannter Pracht und Würde (Abb. 50). Perikles war kein Snob. Man kann den antiken Autoren entnehmen, dass er die Künstler seiner Zeit als seinesgleichen behandelte. Der Mann, dem er die Bauleitung der Tempel übertrug, war der Architekt Iktinos, und der Künstler, der die Ausschmückung der Tempel überwachen sollte, war Phidias. Der Ruhm des Phidias gründet sich auf Werke, die nicht mehr existieren. Aber es ist wichtig, zu versuchen, sich ihr Aussehen vorzustellen, denn sonst vergessen wir zu leicht, welchem Zweck die griechische Kunst damals noch diente. Wir lesen in der Bibel, wie die Propheten gegen den Götzendienst wetterten, aber wir stellen uns gewöhnlich wenig unter diesen Worten vor. Oft liest man Stellen wie den folgenden Abschnitt aus Jeremias 10,3-5-
>Denn der Heiden Götter sind lauter Nichts. Sie hauen im Walde einen Baum, und der Werkmeister macht sie mit dem Beil und schmückt sie mit Silber und Gold und heftet sie mit Nägeln und Hämmern, dass sie nicht umfallen... so muss man sie auch tragen, denn sie können nicht gehen. Darum sollt ihr euch nicht vor ihnen fürchten; denn sie können weder helfen noch schaden;dass durch Myron die Kunst auch der: Bewegung Herr jv^iiardef^^MÄe ; Malerrden tBaunai .eroberiteiB^ j Diese neu eroberte. Freiheit ,der die diesen Tempel schmückten, aber da Bhi-^v dias mit der Errichtung' der/großen Tempelstatüe im Innern betraut war^ so nimmt man an, dass seine Werkstatt auch für die anderen Bildhauerarbeiten verantwortlich iwar. Abb. 56 und 57 zeigen Ausschnitte des langen Bandes oder Frieses, das imlnnern des Gebäudes unter dem Dach herumlief und die feierliche Prozession am jährlichen Fest der Göttin darstellt Bei diesen Festlichkeitengäbes immer Spiele und Sportveranstaltungen:'? so musste.man.ein* Viergespann in voller Fahrt lenken und dabei auf- uad abspringen. Unsere erste Abbildung stellt dieses gefährliche
Spiel dar (Abb. 56). Es mag zuerst nicht leicht sein, sich darauf zurechtzufinden, da das Relief sehr beschädigt ist. Nicht nur ist die Oberfläche zum Teil weggebrochen; es ist auch die ganze Bemalung verschwunden, durch die die Gestalten sich wahrscheinlich klar von einem farbigen Hintergrund abhoben. Für uns sind der Ton und die Oberfläche einer schönen Marmorplastik etwas so Wunderbares, dass wir nie daran denken würden, sie anzumalen. Aber die Griechen bemalten sogar ihre Tempel mit leuchtenden Farben* z.B. mit Rot und Blau. Aber so wenig auch von dem Ganzen übrig ist 9 bei griechischen Kunstwerken lohnt es sich immer zu versuchen, gar nicht an das zu denken, was nicht mehr da ist, vor lauter Freude, dem nachspüren zu dürfen, was uns noch bleibt. Das Erste, was wir auf unserem Fragment ausnehmen, sind die vier Pferde, eins hinter dem anderen. Ihre Köpfe und Gliedmaßen sind gut genug erhalten, um uns eine Vorstellung von der Meisterschaft zu geben, mit der der Künstler das: Gerüst der Knochen und Muskeln zeigte, ohne dabei doch ins Steife oder Trockene zu verfallen. Und bald sehen wir, dass dasselbe auch für die menschlichen Gestalten zutrifft. Ihre Überreste geben uns eine Vorstellung von der Freiheit ihrer Bewegung und der Klarheit ihres Aufbaus. Die Verkürzung bot dem Künstler keine großen Schwierigkeiten. Der Arm, der den Schild hält, der flatternde Helmbusch und der windgeblähte Mantel sind ganz ungezwungen dargestellt. Das zweite Fragment gibt vielleicht einen noch klareren Begriff von der Meisterschaft dieser Bildhauer in der Darstellung der Natur. Aber alle diese Entdeckungen sind dem Künstler nicht zu Kopf gestiegen. So groß auch seine Befriedigung und seine Freude an der Errungenschaft neuer Darstellungsmittel gewesen sein mag, man hat nie das Gefühl, dass ihm diese Mittel Selbstzweck wurden. Auch die lebendigsten und bewegtesten Gruppen fügen sich klar in die feierliche Prozession, die an der Wand des Gebäudes entlangzieht. Auch in ihnen wirkt noch die uralte künstlerische Weisheit nach, die die griechische Kunst von der ägyptischen geerbt hat und die durch die Übung in
geometrischen Formen, die dem großen Erwachen; vorangingen, noch bestärkt wurde. Jedes griechische Kunstwerk aus dieser großen Zeit zeigt diese! ireife .Erfährung, aber die Griechen'dieser Epoche schlugen etwas anderes noch höher an, nämlich die neu gewonnene Freiheit,- den menschlichen Körper in jeder Bewegung oder Haltung so darzustellen; dass damit das innere Leben der Gestalt zum Vorschein kam: Wir hören von einem der Schüler des Sokrätes, der seifest* als Bildhauer ausgebildet worden war, dass der große Philosoph die Künstler dazu' aufforderte, sie sollten die ^Bewegung der Seele< wiedergeben durch die genaue Beobachtung der. Art und Weise, >wie die Gefühle die Aktionen des Körpers bestimmen:. Wiederum versuchten, die Künstler, die Vasen malten, SehrittzU halten mit diesen Entdeckungen der großen Meister; deren Werke»verloren Sind. Abb.i£wirklichen< Körper, der ganz so symmetrisch schön und regelmäßig ist w i e griechische Statuen. Man hört m a n c h m a l die Ansicht, dass griechische Künstler viele Modelle studierten und alle Züge wegließen, die ihnen nicht gefielen; dass sie damit a n f i n g e n , einen wirklichen Menschen sorgfaltig nachzubilden, und ihn dann >verschönertenidealisieitenhellenistischDie drei Männer im Feuerofen< (Abb. 84), wahrscheinlich aus d e m dritten Jahrhundert n.Chr., zeigen, dass diese Künsder mit der hellenistischen Malweise, w i e w i r sie aus Pompeji kennen, wohlvertraut waren. Sie waren sehr gut imstande, eine
menschliche Gestalt mit ein paar kühnen Pinselstrichen anzudeuten. Aber man hat d o c h das Gefühl, dass ihnen nicht sehr viel an diesen virtuosen Effekten lag. Die Bilder waren nicht m e h r einfach dazu bestimmt, schön zu sein, sie sollten vor allem dazu dienen, die Gläubigen an ein Beispiel göttlicher Macht und Gnade zu g em a h n e n . W i r lesen in der Bibel (Daniel 3) von den drei jüdischen Beamten unter König Nebukadnezar, die sich weigerten, auf ein gegebenes Z e i c h e n hin niederzufallen und anzubeten, als ein riesiges goldenes Standbild des Königs auf der Ebene v o n Dura in der Provinz Babylon errichtet wurde. W i e so viele v o n den Christen aus der Zeit, der diese G e m ä l d e entstammen, mussten sie für ihre Weigerung büßen. Sie w u r d e n m i t ihren Mänteln, Hosen u n d Hüten in den Feuerofen g e wo r fe n , d o c h siehe! - das Feuer hatte keine Macht über sie, kein Haar auf i h r e m Kopf w a r versengt, u n d selbst ihre Mäntel blieben unversehrt. Der Herr sandte seinen Engel'und erlöste seine Knechte. M a n muss sich nur vorstellen, wa s der Meister des L a o k o o n (Abb. 69) aus so einem Thema gemacht hätte, um sich klar zu w e r d e n , w e l c h anderen W e g die Kunst nun einschlug. D e m Maler in d e n Katak o m b e n g i n g es nicht m e h r darum, eine dramatische Szene um ihrer selbst w i l l e n wiederzugeben. Um das trostreiche u n d stärkende Beispiel v o n M u t u n d Errettimg zur Schau zu stellen, genügte es ja, w e n n die drei Männer in i h r e m persischen Gewand, die Flammen u n d die Taube — als Z e ic h en göttlicher Hilfe - erkennbar waren. Was nicht absolut zur Sache gehörte, sollte besser wegbleiben. Forderungen nach Klarheit u n d Einfachheit begannen w i e d e r das Ideal getreuer Naturnachahmimg zu verdrängen. U n d d o c h liegt etwas Erschütterndes im B e m ü h e n des Künstlers, sein T h e m a so klar u n d schlicht w i e m ö g l i c h z u r Darstellung zu bringen. Diese drei Männer, v o n v o r n gesehen, die d e n Beschauer mit z u m Gebet e r h o b e n e n H ä n d e n anblicken, scheinen zu zeigen, dass die Menschheit b e g o n n e n hatte, sich um andere D i n g e zu sorgen als um irdische Schönheit. M a n merkt diesen Wandel der Interessen nicht nur an d e n religiösen Denkmälern aus der Zeit des Verfalls des Römerreiches. Es
gab damals anscheinend nur wenig Künsder mehr, denen die Feinheiten und die Harmonie, die doch einst den Ruhm der griechischen Kunst ausgemacht hatten, noch am Herzen lag. Die Bildhauer hatten nicht mehr die Geduld, den Marmor nur mit dem Meißel zu bearbeiten und ihn mit jener Sorgfalt und jenem Geschmack zu behandeln, der einst der Stolz der griechischen Handwerker gewesen war. So wie die Maler der Kätakombenmalereien verwendeten auch sie schnellere und gröbere Verfahren, z.B. einen mechanischen Bohrer, mit dem man die wesentlichen Züge eines Gesichtes oder eines Körpers markieren konnte. Man hat oft behauptet, dass die antike Kunst in jener Zeit verfiel, und es ist sicherlich richtig, dass viele Geheimnisse aus ihrer Hochblüte in den Wirren von Kriegen, Aufständen und Barbareneinfallen verloren gegangen sind. Aber trotzdem wäre es einseitig, hier nur den Verlust an handwerklicher Geschicklichkeit zu sehen. Die Künsder dieser Zeit fanden in der bloßen Virtuosität der hellenistischen Kunst offenbar keine Befriedigimg mehr und legten es auf neue Wirkungen an. Einige Bildnisse, besonders aus dem vierten und fünften Jahrhundert n. Chr., zeigen uns vielleicht am klarsten, worum es diesen Künsdem ging (Abb.^%). Einem Griechen aus der Zeit des Praxiteles wären sie gewiss roh und barbarisch vorgekommen, und in der Tat sind die Köpfe nicht schön im gewöhnlichen Sinn des Wortes; auch ein Römer, der an die Lebenswahrheit von Porträts wie das des Vespasian (Abb. 76) gewöhnt war, hätte sie vielleicht als minderwertige Arbeit abgetan. Und doch lebt für uns in diesen Gestalten ein eigenartiger Geist und eine starke Ausdruckskraft, die sie der Betonung der Gesichtszüge, der sorgfaltigen Behandlung der Partie um die Augen und der hochgezogenen Stirn verdanken. So sahen sich die Menschen, die den Sieg des Christentums miterlebten, der den Untergang der antiken Welt bedeutete.
Die Wege scheiden sich Rom und Byzanz vom 5. bis zum 1 3 . Jahrhundert
Als Kaiser Konstantin im Jahre 311 das Christentum öffentlich anerkannte, sah sich die Kirche vor ungeheuer schwierige Probleme gestellt. Zur Zeit der Christenverfolgungen bestand weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, Gebäude für den öffentlichen Gottesdienst zu errichten. Soweit es Kirchen und Versammlungsräume gab, mussten sie so klein und unauffällig gehalten werden wie möglich. Sobald jedoch die Kirche die größte Macht im Staate geworden war, musste ihr ganzes Verhältnis zur Kunst neu durchdacht werden. Die Kirchen konnten nicht nach dem Vorbild der Tempel gebaut werden, denn ihr Zweck war ja ein ganz anderer. Das Tempelinnere bestand gewöhnlich nur aus einer kleinen Zelle für das Standbild des Gottes. Die Opfer und Prozessionen fanden im Freien vor dem Tempel statt. In einer Kirche dagegen musste Platz für die gesamte Gemeinde gefunden werden, die sich zum Gottesdienst versammelte, wenn der Priester predigte oder am Hochaltar die Messe las. Das ist der Grund, warum Kirchen nicht mehr nach dem Muster der heidnischen Tempel, sondern nach dem der großen Versammlungsräume gebaut wurden, die im Altertum Basiliken, d. h. ungefähr Königshallen, genannt wurden. Das waren Markt- und Gerichtsräume, meist in der Form lang gestreckter Säle, an deren Langseiten, durch Säulenreihen getrennt, niedrigere Räume entlangliefen. Am Ende des Saales befand sich oft ein halbkreisartiges Podium (eine >ApsisChorMittelschiffSeitenschiffe< genannt wurden. In den meisten Basiliken war das hohe Mittelschiff einfach mit Holz gedeckt, sodass die Dachsparren
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Die Wege scheiden sich
von unten zu sehen waren. Die Seitenschiffe waren gewöhnlich flach gedeckt. Die Säulen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennten, trugen oft prunkvollen Schmuck. Von den allerersten Basiliken hat sich keine ganz unverändert erhalten, aber trotz mancher Umbauten und Renovierungen, die im Laufe von eineinhalb Jahrtausenden nötig wurden, können wir uns doch noch einen Begriff davon machen, wie diese Gebäude ungefähr aussahen (Abb. 86). Die Frage der Ausschmückung dieser Basiliken war noch viel ernster und schwieriger als die ihrer Anlage, denn hier kam es wieder zur Auseinandersetzung in der Streitfrage, ob die Verwendung von Bildern überhaupt und besonders im religiösen Gebrauch zulässig sei. Über einen Punkt waren sich beinahe alle frühen Christen einig: Im Hause Gottes durfte es keine Statuen geben. Statuen erinnerten zu sehr an die Stelle in der Heiligen Schrift, in der es heißt: »Verflucht sei, der einen Götzen oder gegossen Bild macht, einen Gräuel dem Herrn, ein Werk der Werkmeisterhände< (5. Buch Moses, 27,15). Ein Standbild Gottvaters oder eines seiner Heiligen auf dem Altar aufzustellen, kam gar nicht in Betracht. Denn wie sollten die armen Heiden, die gerade erst zum neuen Glauben bekehrt worden waren, den Unterschied zwischen ihren alten Anschauungen und der neuen Lehre verstehen, wenn sie derartige Standbilder in den Kirchen sahen? Sie hätten dann zu leicht glauben können, dass ein solches Standbild tatsächlich Gott darstelle, genau in derselben Art, wie ein Standbild des Phidias für ein Abbild des Zeus gehalten wurde. Dann wäre es ihnen noch schwerer gefallen, die Lehre vom allmächtigen, unsichtbaren Gott zu verstehen, nach dessen Bild wir geschaffen sind. Aber obwohl alle frommen Christen große, naturgetreue Standbilder ablehnten, gingen ihre Ideen über Malerei doch sehr auseinander. Manche sahen in ihr ein Mittel zum Zweck, denn gemalte Bilder konnten die Gemeinde an die Lehren erinnern, die sie empfangen hatte, und ihr die Episoden der heiligen Geschichte einprägen. Papst Gregor der Große, der gegen Ende des sechsten Jahrhunderts lebte, schloss sich dieser Meinung an.
Er erinnerte die Leute, die gegen jede Form von Malerei auftraten, daran, dass viele Mitglieder der Kirche weder lesen noch schreiben konnten und dass diese Bilder bei ihrer Unterweisung den gleichen Zweck erfüllten wie die Bilderbibel beim Unterricht von Kindern. >Was die Schrift für die bedeutet, die lesen können, das leistet das Bild für die, die es nicht könnenWenn es Gottes gnädiger Ratschluss war, Sich sterblichen Augen in
der Gestalt Christi auf Erden zu zeigen< - so argumentierten sie >warum sollte Er dann nicht auch willens sein, Sich in sichtbaren Bildern zu offenbaren? Wir glauben nicht, wie die Heiden, dass diese Bilder selbst das Göttliche darstellen. Auch verehren wir nicht die Bilder selbst, sondern wir verehren Gott und die Heiligen durch ihre Bilder. < Was immer wir von der Logik dieser Argumente halten, es ist klar, dass die Vorstellung, heilige Bilder spiegelten das Übernatürliche in mystischer Weise wider, für die Kunst von großer Bedeutung werden musste. Denn als nach einem Jahrhundert der Unterdrückung die Bilderverehrer an die Macht kamen, konnte es die griechische Kirche unmöglich mehr dem Künstler überlassen, wie er die heiligen Gestalten darstellen sollte. Konnte sich doch nicht irgendein behebiges schönes Bild einer Mutter mit ihrem Kind zum heiligen Abbild oder Ikon der Gottesgebärerin eignen, sondern nur eine Darstellung, die durch lange, uralte Überlieferung als das wahre Bild geheiligt war. So kam es, dass die Byzantiner in diesen Dingen fast so streng auf die Einhaltung der Überlieferung sahen wie die Ägypter. Aber das hatte zwei Seiten. Gerade weil sie,-so, streng darauf bedacht war, dass die Künsder sich bei Heiligenbildern genau an die alte Tradition hielten, half die byzantinische Kirche mit, die Ideen und Errungenschaften der griechischen Kunst hinsichtlich ihrer Muster für Faltenwurf, Gesichtsformen und Gebärden zu bewahren. Ein byzantinisches Altarbild der Madonna wie Abb. 88 mag auf den ersten Blick yon den Leistungen der griechischen Kunst weit entfernt sein. Und doch wäre die Art, wie die Falten um den Körper drapiert sind und von Ellbogen und Knien strahlenförmig ausgehen, die Modellierung von Gesicht und Hand durch Licht und Schatten und der Schwung der Thronlehne ohne die Errungenschaften griechischer und hellenistischer Malerei gar nicht möglich. Trotz einer gewissen Starrheit entfernte sich die byzantinische Kunst weniger weit von der Natur, als es die Kunst des Westens damals tat. Andererseits machte die Betonung der Tradition und der Zwang, sich auf wenige Typen zu beschränken, es dem byzantinischen Künstler s c h w e r , seine persönliche Begabung
zu entfalten. Aber dieser Konservatismus entwickelte sich erst allmählich; und man darf sich nicht vorstellen, dass den Künstlern damals gar kein Spielraum blieb. Im Gegenteil, sie waren es, die die schlichten Illustrationen der frühchristlichen Kunst in die großen, feierliche;^ Bilderzyklen verwandelten, die das Innere byzantinischer Kirchen beherrschen. Wenn wir die Mosaiken, die von griechischen Künstlern im Mittelalter auf dem Balkan und in Italien geschaffen winden, betrachten, so wird uns klar, dass dieses neue Weltreich im Osten wirklich etwas von der Größe und Majestät der altorientalischen Kunst wieder belebt und für die Verherrlichung Christi und seiner Macht verwendet hat. Abb. 89 mag uns eine Vorstellung davon geben, wie eindrucksvoll diese Kunst sein konnte. Sie stellt die Apsis der Kathedrale von Monreale in Sizilien dar, die von byzantinischen Künsdern kurz vor 1190 mit Mosaiken ausgeschmückt wurde, Sizilien gehörte zur lateinischen Kirche, und in der untersten Reihe, auf beiden Seiten des Fensters, sehen wir auch wirklich westliche Heilige, unter ihnen die erste bekannte Darstellung des heiligen Thomas von Canterbury, dessen Ermordung im Jahre 11:70 gan£ Europa erschüttert hatte. Im Übrigen hielten sich* die Meister aber ganz an das Schema, das inr Osten gebräuchlich: war* Die Gläubigen sahen sich der riesigen Gestalt Christi gegenüber, der als Weltenherrscher;;. die Hand zum Segen Erhoben, die Wölbung der Apsis ausfallt. Unter ihm thront die heiligt Jungfrau, wie eine Kaiserin, von zwei Erzengeln flanki ert. Bilder wie diese, die feierlich und unbewegt vor dem schimmernden Goldgrund schweben, schienen so vollkommene* Sinnbilder der heiligen Wahrheiten zu sein, dass man keinen Grund sah, warum sie je] abgeändert werden sollten. So behielten sie ihre Geltung in allen ^Ländern der Ostkirche. Die Heiligenbilder oder Ikonen der Russen sind der letzte Widerschein dieser großen Schöpfungen byzantinischer Künstler.
Ein Blick nach Osten Islam und China - 2. bis 13. Jahrhundert
Bevor w i r ins Abendland zurückkehren und die Geschichte der Kunst in Europa wieder aufnehmen, müssen w i r wenigstens einen Blick auf die Ereignisse in anderen Weltteilen während dieser Jahrhunderte werfen. Vor allem ist interessant, w i e zwei andere große Religionen sich mit der Bilderfrage auseinander setzten, die die Gemüter in Europa bewegte.- Die Religion des Nahen Ostens, die im siebten und athten Jahrhundert n. Chr. ihren unwiderstehlichen Siegeslauf antrat, die Religion der moslemischen Eroberer Persiens, Mesopotamiens, Ägyptens; Nordafrikas und Spaniens, w a r in die- 1 ser Frage noch strenger als das Christentum. Ursprünglich waren
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alle Arten von Bildern verboten. Aber die Kunst lässt sich nicht so leicht unterdrücken, und so lebte sich die Fantasie der Künstler des Ostens, denen die Menschendärstellung verboten war, in Mustern und Formen aus. Sie schufen Üie 'reichsten Liniengewebe verschlungener Ornamente, die w i r Arabesken nennen.' Wenn w i r heute den Erfindungsreichtum, die Ausgewogenheit und • Farbenharmonie orientalischer Teppiche bewundern
(Abb:'91
bder die Höfe Und
Hallemder Alhambra ( A b b : 90),' sö verdanken wir dies vielleicht letzten Endes MohammM^der die^Fantäsie der Künstler von den Dingen der Außenwelt iaü$ diese Traumwelt von Linien und Farben ablenkte. Spatere Sekten des'* Islam waren weniger streng in ihrer Auslegung ;des Bilderverbötesi Sie? gestatteten Menschendarstellungen und' Illustrationen,' solange 1 sie nichts mit Religion zu tüif hatten. Die Illustration von Sagen, Geschichten und Fabeln, die in Persien seit dem-vierzehnten Jahrhundert und spätidi? auch in Indien unter mos-i lemischen Mogul-Herrschern gemalt wurden, beweisen uns, wie viel'die Künstler dieser Gebiete der* Schulung verdankten^ die ihnen das Entwerfen von Ornamenten gab. Die MortdscheinszeneUn einem Garten?(Abb. 9 2 ) aus einem persischen Roman des fünfzehnten Jahrhunderts ist ein Wunderbares Beispiel solcher Meisterschaft. Die Seite v^irkt wie ein Teppich', der in einer Märchenwelt zum Leben erwacht ist. Die Illusion der Wirklichkeit ist hier nicht stärker als in der byzantinischen Kunst. Vielleicht sogar geringer. Es gibt keine
Verkürzung und keinen Versuch, Licht und Schatten oder das Gerüst des Körpers zu zeigen. Die Gestalten und Pflanzen wirken beinahe, als wären sie aus farbigem Papier ausgeschnitten und über die Seite verteilt worden, um ein vollkommenes Muster zu bilden. Aber gerade deshalb fügt sich die Illustration noch besser in das Buch, als wenn der Künstler die Illusion einer wirklichen Szene hätte erzielen wollen. Wir können eine solche Seite beinahe so ablesen, wie wir einen Text lesen. Wir können vom Helden, der mit gekreuzten Armen in der rechten unteren Ecke steht, zur Heldin blickend, die sich ihm nähert, und wir können unsere Fantasie durch den Märchengarten im Mondlicht schweifen lassen, ohne je genug davon zu bekommen. Die Wirkimg der Religion auf die Kunst war noch stärker in China. Über die Anfange der Kunst in China wissen wir wenig, außer der Tatsache, dass die Chinesen schon in grauer Vorzeit geschickte Bronzegießer waren und dass manche der Bronzegefaße, die in den alten Tempeln verwendet wurden, auf das erste Jahrtausend v. Chr. zurückgehen — manche glauben sogar, noch weiter. Die ältesten Denkmäler chinesischer Malerei und Plastik, die sich erhalten haben, stammen allerdings nicht aus so früher Zeit. In den Jahrhunderten um Christi Geburt nahmen die Chinesen Bestattungsgebräuche an, die denen der Ägypter nicht unähnlich waren, und in den Grabkammern sieht man wie in denen der Ägypter lebendige Szenen des chinesischen Lebens jener längst vergangenen Tage (Abb. 93) und Illustrationen aus Mythen und Sagen. Viele Züge waren damals schon entwickelt, die wir heute in der Kunst typisch chinesisch nennen. Die Künstler zeigten weniger Vorliebe für starre, eckige Formen als die Ägypter, sie zogen geschwungene Linien vor. Wenn ein chinesischer Künstler ein bewegtes Pferd darstellen wollte, schien es aus einer Anzahl von runden Formen zusammengesetzt. Man kann dasselbe bei chinesischen Plastiken beobachten, die sich auch immer zu drehen und zu biegen scheinen, ohne dabei an Festigkeit und Geschlossenheit zu verlieren (Abb. 94).
Einige der bedeutenden Weisen Chinas scheinen ähnliche Ansichten über den Wert der Kunst gehabt zu haben Wie Papst Gregor der Große. Für sie war Kunst ein Mittel, die Leute an die großen Beispiele tugendhaften Lebens atiS dem Goldenen Zeitalter der Vergangenheit zu erinnern. Eine der ältesten illustrierten chinesischen Buchrollen, die erhalten blieb, ist im Geist des Konfuzius geschrieben und berichtet von dem musterhaften Verhalten tugendhafter Heldinnen. Sie soll äuf den Maler Ku K'aichi zurückgehen, der im vierten Jahrhundert v. Chr. lebte. Die Szene (Abb. 95) zeigt einen Ehemann, der seine Frau ungerechterweise anklagt, und hat all die Würde und Anmut, die man gewöhnlich chinesischer Kunst zuschreibt. Die Gebärden und die Anordnung sind so deutlich, wie man es von einem Bild erwartet, das eine Moral zum/Ausdruck bringen soll. Man sieht auch, dass der chinesische Maler die schwierige Kunst verstand, Bewegung darzustellen. Nichts in? diesen frühen chinesischen Werken wirkt steif und starr, weil dieVorhebe für geschwungene Linien ihnen allen etwas Bewegtes verlieh. Die wesentlichen Impulse verdankt- die chinesische Kunst vielleicht weniger dem Konfuzianismus^ak -dem Buddhismus. Die Tonplastiken der frühen buddhistischen Kunst in Ghana; 'die Mönche " und Asketen aus Buddhas Kreis darstellen, sind von erstaunlicher Lebensechtheit. Der Kopf eines solchen >Lohan< (Abb:'96) zeigt dieselbe Vorhebe für geschwungene Formen in der Bildung der Ohren, der Lippen und der Wangen. Und doch wird, die Wirklichkeit dabei nicht verzerrt - der Zusammenklang dieser Formen macht das Ganze nur einheitlicher. Die uralten Grundsätze, nach denen wir die primitiven Masken ( A b b . 28) gebildet sahen, verfehlen ihre Wirkung auch nicht in einer so lebensnahen Darstellung. Aber der Buddhismus gab der chinesischen Kunst mehr als eine Reihe neuer Themen. Sie verdankt ihm eine gänzlich neue Einstellung zur bildenden Kunst und eine Ehrfurcht vor aller künstlerischen Leistung, wie es sie weder im alten Griechenland noch in Europa vor der Zeit der Renaissance gegeben hat. Die Chinesen
waren das erste Volk der Welt, das die Kunst des Bildermalens nicht als bloße Handfertigkeit ansah, sondern das den Maler auf eine Stufe mit dem genialen Dichter stellt. Die Religionen des Ostens lehrten, dass es nichts Wichtigeres gibt als die rechte Art der Meditation. Meditation bedeutet ungefähr tiefes Sichversenken. Wer meditiert, muss viele Stunden lang über dieselbe heilige Wahrheit nachsinnen und grübeln. Er muss einen Gedanken festhalten und ihn von allen Seiten betrachten, ohne nachzulassen. Für Orientalen hat diese Art geistiger Übung noch größere Bedeutung als für uns körperliche Übung oder Sport. Es gab Mönche, die über einzelne Worte meditierten und sich tagelang in sie versenkten, wobei sie bewegungslos dasaßen und auf die Stille lauschten, die der heiligen Silbe voranging und ihr folgte. Andere wieder meditierten über Dinge in der Natur, z.B. über das Wasser und was es uns lehren kann, wie es demütig ist und sich in alles fügt und wie es dennoch den harten Stein» höhlt, wie klar und frisch es ist und wie gütig es den durs-/ tenden Fluren Leben spendet; oder sie meditierten über Berge, wie groß und majestätisch sie sind und wie gütig, dass sie dennoch den Bäumen erlauben, auf ihnen zu wachsen. Vielleicht liegt darin der. Grund, dass die religiöse Kunst in China weniger dazu verwendet wurde, die Legenden von Buddha und den anderen Lehrern der Chinesen zu erzählen, weniger, eine bestimmte Glaubensmeinung zu lehren - wie das die Aufgabe der christlichen Kunst im Mittelalter wurde
sondern mehr als ein Hilfsmittel zur Meditation. Fromme
Maler begannen Wasser und Berge mit Ehrfurcht zu malen, weder um jemandem eine Lektion zu erteilen noch auch als reine Dekoration, sondern um der Meditation Nahrung zu geben. Diese Gemälde auf Seidenrollen wurden in kostbaren Behältern aufbewahrt und nur in besinnlichen Augenblicken aufgerollt, so wie man einen Gedichtband aufschlägt, um eine schöne Strophe wieder und wieder zu lesen. Beschauliche Versenkung ist der Zweck, dem die bedeutendsten chinesischen Landschaftsmalereien des zwölften und dreizehnten' Jahrhunderts ebenen wollten. Es mag für uns nicht leicht sein, uns
in diese Stimmung zu versetzen, denn wir kribbeligen Europäer haben wenig Geduld und noch weniger Erfahrung in der Technik der Meditation — wir wissen davon vielleicht nicht mehr als die Menschen des alten Chinas vom Körpertraining. Aber wenn wir lange und sorgfaltig auf ein Bild wie Abb. 97 schauen, so beginnen wir vielleicht etwas von dem Geist zu ahnen, in dem es gemalt wurde, und von dem hohen Ziel, dem es diente. Natürlich dürfen wir keine Abbilder wirklicher Landschaften erwarten oder Ansichtskarten von Ausflugsorten. Chinesische Künstler gingen nicht ins Freie, um sich vor irgendein Motiv zu setzen und es abzuzeichnen. Sie lernten auch ihre Kunst mit den eigenartigen Mitteln der Meditation und Konzentration. Sie mussten erst die Technik meistern, >wie man eine Föhre maltwie man Felsen oder Wolken maltfinstere Mittelalters genannt hat. Ob das Mittelalter wirklich finsterer war als andere Zeiten, können wir dahingestellt sein lassen. Aber so viel ist gewiss, dass während dieser verworrenen Jahrhunderte, die auf den Stürz des Römischen Reichs folgten, viel Wissen verloren ging und viele Überlieferungen durch Krieg, Plünderungen und Katastrophen abrissen. Man weiß nicht allzu viel über den Zeitraum zwischen dem Ende der alten Welt und der Entstehung der europäischen Nationen, die wir heute kennen. Genau lassen sich beidfei Ereignisse natürlich nicht abgrenzen, aber für unsere Zwecke mag es genügen zu sagen, dass die Wirren ungefähr ein halbes Jahrtausend dauerten, vom Jahre 5-00 bis zum Jahre 1000. Ein halbes Jahrhundert ist eine lange Zeit, in der viel geschehen kann und auch wirklich viel geschah. Aber das Inte-
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ressanteste für uns ist, dass dieser lange Zeitraum keinen einheitlichen Stil in der Kunst hervorbrachte — man kann eher von einem Kampf verschiedener Stile sprechen, der erst gegen Ende dieser Zeit zu etwas Neuem führte. Wenn man die Gieschichte der 500 Jahre liest, wird man kaum darüber verwundert sein. Wie immer in Zeiten der Wirrnis herrschten damals die größten Kontraste zwischen verschiedenen Völkern und Klassen. Während all dieser fünfhundert Jahre gab es Männer und Frauen, besonders in den Klöstern und Abteien, für die Wissenschaft lind Kunst unendlich viel bedeuteten. Was sich an Denkmälern der alten Welt in Klosterbibliotheken oder Kirchenschätzen erhalten hatte, wurde daher von ihnen ängstlich gehütet/Manchmal geschah es, dass diese gelehrten Mönche oder Kleriker an den Höfen der Mächtigen eine einflussreiche Stellung gewannen und versuchten/diese bewunderten Kunstfertigkeiten wieder ins Leben zu rufen. Aber oft wurden alle ihre Bestrebungen
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Die abendländische Kunst im Schmclztiegd
vereitelt durch neue Kriege und Einfalle bewaffneter Banden aus dem Norden, die ganz andere Vorstellungen von Kunst hatten. Die verschiedenen germanischen Stämme, die Goten, Vandalen, Angelsachsen, Dänen und Wikinger, die sengend und mordend durch Europa zogen, wurden von allen, die das griechische und römische Erbe in Kunst und Literatur hochhielten, für Barbaren gehalten. In gewisser Beziehung waren sie auch Barbaren. Aber das besagt nicht, dass sie keinen Schönheitssinn oder keine eigene Kunst besaßen. Sie hatten geschickte Meister der Goldschmiedekunst und ausgezeichnete Holzschnitzer, die sich an Virtuosität mit denen der Maoris in Neuseeland hätten messen können (Abb. 22). Sie hatten eine Vorliebe für komplizierte Ornamentik, die aus verschlungenen Drachenkörpern oder aus geheimnisvoll ineinander verstrickten Vögeln bestand. Man weiß nicht genau, wo die Ornamentik im siebenten Jahrhundert entstand oder was sie bedeutete. Aber es ist anzunehmen, dass die germanischen Stämme Ähnliches von der Kunst verlangten wie andere primitive Völker. So scheint es z. B., dass auch sie glaubten, mit Bildern böse Geister bannen zu können. Die geschnitzten Drachenköpfe von Wikingerschlitten und -schiffen sind ein Beispiel dafür (Abb. 101). Diese dräuenden Köpfe von Ungeheuern waren nicht einfach zur Verzierung da. Bei den norwegischen Wikingern galt das Gesetz, dass der Kapitän eines Schiffes diese Figuren vom Bug zu nehmen hatte, bevor er in den heimischen Hafen einlief, >um die Geister des Landes nicht zu erschreckend Die Mönche und Missionare des keltischen Irland und des angelsächsischen England versuchten, diesen eigenartigen Formenschatz der heidnischen Krieger nur auf christliche Aufgabenstellungen anzuwenden. Sie errichteten Kirchen und Kirchtürme aus Stein, die Holzkonstruktionen nachahmten (Abb. 100), doch die erstaunlichsten Zeugnisse sind einige der Handschriften, die in England und Irland während des siebten und achten Jahrhunderts entstanden. Abb. 103 zeigt eine Seite des berühmten Lindisfarne-Evangeliars, das kurz vor 700 in Nordengland geschrieben wurde. Das Kreuz wird dabei aus
einem
komplizierten Filigran von verschlungenen Drachen öder Lind-
würmern gebildet und hebt sich von einem Hintergrund noch wilder verflochtener Formen ab. Es ist geradezu aufregend, sich einen Weg durch das verworrene Labyrinth wirbelnder Linien zü suchen und die Verschlingungen der ineinander verworrenen Körper zu verfolgen. Es ist noch erstaunlicher, dass das Ganze kein bloßer Wirrwarr ist, sondern die verschiedenen Muster harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Es ist kaum vorstellbar, wie jemand sich etwas derart Kompliziertes ausdenken und dann noch die Geduld und Beharrlichkeit aufbringen kann, es auszuführen. Das beweist, falls es überhaupt eines Beweises bedarf, dass es den Künstlern, die diese Werke schufen, weder an künstlerischem noch an technischem Können mangelte. Umso merkwürdiger ist es, wie menschliche Gestalten von denselben Künsüern in illustrierten Handschriften Englands und Irlands dargestellt wurden. Sie wirken gar nicht Wie Menschen, ' £or£- >a dem eher wie Muster, die aus menschlichen Körperteilen zusammengesetzt sind (Abb. 102). Offenbar hielt sich der Künsder an irgendein Vorbild, das er in einer alteii Bibel g'efünden Hatte, undbildete es dann nach seinem Geschmack um.LUriter [seineri Händen bekamen die Falten des Gewandes da's'Aussehen verflochtener Bander, die Haarlocken Wurden zu Schnörkeln und das Gesicht' selbst erstarrte zur Maske. Diese Gestalten von Heiligen und Evangelisten wirken beinahe so' starr und eigenartig wie' primitive Götzenbilder.' Sie'beiwfeiseii, w i e schwierig es für englische tind irische Maler war.denÄnfördbrürigen christlicher Buchmalerei gerecht zu werden. 'Und doch w f f e es falsch; solche Bilder als' khidisch abzutun. Die Übung der Hand und des Auges, die diese KüriMei'iii den Stand setzte, ihr£ "erstaunlichen ornamentalen Büchseiten zu malen, führte ein ganz nfeues Element in die abendländische Kunst ein. Ohne seinen Einfluss hätte die europäische Malerei sich vielleicht ähnlich entwickelt wie die byzantinische. Wir verdanken es dem Zusammenspiel zweier Kunstarten, der antiken Tradition und dem einheimischen Geschmack, dass etwas Neues im Abendland entstand.
Denn auch damals war ja die Kenntnis der Kunst des Altertums und ihrer Errungenschaften keineswegs erloschen. Am Hofe Karls des Großen, der sich als Nachfolger der römischen Kaiser sah, wurden die Überlieferungen der römischen Kunst mit solchem Eifer gepflegt und wiederbelebt, dass man oft von einer >Karolingischen Renaissance^ d.h. Wiedergeburt, redet. So ist die Kapelle, die Karl der Große um 800 in Aachen (Abb. 104) errichtete, eine bewusste Nachahmung einer berühmten Kirche, die ungefähr 300 Jahre vorher in Ravenna erbaut worden war. Wir wissen, dass unsere heutige Vorstellung, ein Künstler müsse >originell< sein, von den wenigsten Völkern der Vergangenheit geteilt wurde. Ein ägyptischer, chinesischer oder byzantinischer Meister wäre über ein solches Ansinnen sehr verblüfft gewesen. Auch ein mittelalterlicher Künstler hätte nicht verstanden, warum er eine neue Methode erfinden sollte, eine Kirche zu planen, einen Kelch zu entwerfen oder eine Heiligenlegende darzustellen, wenn die herkömmliche Art ihren Zweck doch so gut erfüllte. Der fromme Stifter, der einen neuen Behälter für die wundertätige Reliquie seines Schutzheiligen in Auftrag gab, versuchte nicht nur das kostbarste Material zu beschaffen, das er sich leisten konnte, er trachtete auch, ein altehrwürdiges Vorbild zu finden, aus depi der Meister ersehen konnte, wie die Legende des Heiligen darzustellen sei. Der Künsder seinerseits fühlte sich durch einen solchen Auftrag nicht im Geringsten in seiner Freiheit beschränkt. Es blieb ihm genug Spielraum, um zu zeigen, ob er ein Meister oder ein Stümper war. Vielleicht können wir diese Einstellung am besten verstehen, wenn wir an unser eigenes Verhältnis zur Musik denken. Wenn wir einen Musiker bitten, z.B. bei einer Hochzeit zu spielen, so erwarten wir genausowenig von ihm, 4ass er etwas Neues für diese Gelegenheit komponiert, wie der mittelalterliche Auftraggeber eine neue Erfindung erwartete, wenn er eine Darstellung von Christi Geburt bestellte. Wir sagen dem Musiker, was für ein Programm wir uns wünschen und wie groß das Orchester oder der Chor sein darf, den wir uns leisten können. Es bleibt dann
noch immer Sache des Musikers, uns eine wunderbare Aufführung eines alten Meisterwerkes zu bieten oder das Ganze zu verpfuschen. Und so wie zwei gleich gute Musiker das gleiche Stück sehr verschieden interpretieren können, so konnten auch zwei gleich große mittelalterliche Meister aus demselben Thema und sogar nach demselben Vorbild zwei sehr verschiedene Kunstwerke gestalten. Dafür ein Beispiel: Abb. 105 zeigt eine Seite einer Evangelienhandschrift, die am Hofe Karls des Großen verfertigt wurde. Sie stellt den heiligen Matthäus dar, wie er das Evangelium schreibt. Es war in griechischen und römischen Büchern üblich gewesen, das Bildnis des Verfassers auf der ersten Seite anzubringen, und das Bild des schreibenden Evangelisten muss eine ungewöhnlich getreue Kopie eines solchen Verfasserbildes sein. Die Art, wie die Toga um den Heiligen nach bester antiker Manier drapiert ist, die Art, wie sein Kopf in vielen Tönungen von licht \uid Schatten modelliert ist, beweist, dass der mittelalterliche Künstler hier sein ganzes Können aufgeboten hat, um ein bewundertes Vorbild getreu nachzubilden. Der Maler einer anderen Handschrift des neunten Jahrhunderts hatte wahrscheinlich das gleiche oder ein verwandtes Vorbild frühchristlicher Zeit vor Augen (Abb. 106). Man kann z.B. die Hände vergleichen — wie die linke das Tintenhorn hält und auf dem Pult aufliegt, wie die rechte die Feder umklammert. Selbst die Füße und der Faltenwurf um die Knie sind ähnlich. Aber während der Meister der Abb. 105 sein Bestes tat, um das Original so getreu wie möglich nachzubüden, muss dem Künsder von Abb. 106 eine ganz andere Auffassung vorgeschwebt haben. Vielleicht wollte er den Evangelisten nicht wie irgendeinen ruhigen, alten Gelehrten darstellen, der still in seiner Stube saß. Für ihn war der heilige Matthäus ein Mann göttlicher Eingebung, der die offenbarte Wahrheit niederschrieb. Er wollte einen Augenblick von ungeheurer und aufregender Bedeutung für die Geschichte der Menschheit darstellen, und es gelang ihm wirklich, in die Gestalt des Schreibenden etwas von seiner eigenen Ehrfurcht und Erregung hineinzulegen. Es war nicht nur
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Die abendländische Kunst im Schmelztiegel
Ungeschick, das ihn veranlasste, den Heiligen mit aufgerissenen, hervorquellenden Augen und riesigen Händen darzustellen. Gewiss wollte er ihm diesen Ausdruck krampfhafter Konzentration verleihen. Selbst die Pinselstriche am Gewand und im Hintergrund wirken, als wären sie in großer Erregung hingesetzt. Zum Teil verdankt man diesen Eindruck wohl der sichtlichen Vorliebe des Künstlers für verschlungene Linien und zackige Falten. Vielleicht hatte das Vorbild selbst Züge, die diese Technik nahelegten; aber den mittelalterlichen Meister sprachen sie wohl deshalb besonders an, weil sie ihn an die verschlungenen Bänder und Linien gemahnten, die der Stolz der Kunst des Nordens gewesen waren. In Werken dieser Art sehen wir das Entstehen eines neuen Stils, der die mittelalterliche Kunst in den Stand setzte, etwas zu leisten, wozu im Grunde weder die altorientalische noch die antike Kunst fähig gewesen waren. Die Ägypter hatten hauptsächlich dargestellt, was sie wussten, die Griechen, was sie sahen. Im Mittelalter lernten die Künstler in ihren Bildern auszudrücken, was sie fühlten. Man kann keinem mittelalterlichen Kunstwerk gerecht werden, wenn man diesen Zweck aus dem Auge verliert. Denn die damaligen Künstler hatten es ja nicht darauf abgesehen, die Wirklichkeit naturgetreu darzustellen oder etwas Schönes zu schaffen. Sie wollten ihren Glaubensbrüdern den Gehalt und die Bedeutung der heiligen Geschichten näher bringen. Und das gelang ihnen vielleicht besser als den meisten früheren oder späteren Künstlern. Die Buchmalerei um das Jahr iooo zeigt diese klare dramatische Erzählungskunst eindringlich. Abb. 107 stellt eine Seite aus dem Evangelienbuch Kaiser Ottos III. dar, nach dem dieser Stil auch der >Ottonische< heißt. Sie illustriert die Stelle im Johannesevangelium (13,4-9). i n der Jesus beim letzten Abendmahl den Jüngern die Füße wäscht. >Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen. Jesus antwortete ihm: Werde ich dich nicht waschen, so hast du kein Teil mit mir. Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt.
Bewegung der Seele< entdeckt, und so verschieden der mittelalterliche Künsder seine Aufgabe auch ergriff, hätte er seine Darstellung doch nicht ohne dieses Erbe vollbringen können. Wir erinnern uns der Lehre Papst Gregors des Großen, >Was die Schrift für die bedeutet, die lesen können, das leistet das Bild für die, die es nicht könnenRichtigkeit< hin zu betrachten. Und doch muss man nicht denken, dass die Kunst dieses Zeitalters ausschließlich im Dienste der Religion stand. Es gab im Mittelalter ja nicht nur Kirchen, sondern auch Burgen, und auch die Ritter und Herren, denen diese Burgen gehörten, beschäftigten zeitweise Künstler. Der Grund, warum man das so leicht vergisst, wenn man an die Kunst des frühen Mittelalters denkt, ist sehr einfach: Bingen wurden oft zerstört, während Kirchen verschont blieben. Kirchliche Bildwerke wurden im Großen und Ganzen mit mehr Ehrfurcht behandelt als weltliche, die nur zum Schmuck einer privaten Wohnstätte dienten. Wurden sie unmodern, so übermalte man sie oder warf sie weg — genau wie heute. Glücklicherweise hat sich doch ein wichtiges Denkmal weltlicher Kunst erhalten, und zwar gerade, weil es in einer Kirche aufbewahrt war. Es ist der berühmte Teppich von Bayeux, der den Feldzug der Normannen gegen England schildert. Man weiß nicht genau, wann der Teppich verfertigt winde. Aber die meisten Gelehrten sind sich einig, dass es zu einer Zeit gewesen sein muss, als die Erinnerung an dieses Ereignis noch lebendig war - vielleicht ungefähr um das Jahr 1080. Der Bildstreifen ist eine Chronik der Art, wie wir sie aus dem alten Orient und von der römischen Kunst her kennen - die Geschichte eines siegreichen Feldzuges wie z.B. dieTrajanssäule, Abb. 78. Die Erzählungsweise ist ungeheuer lebendig. Abb. 109 zeigt laut Inschrift, wie König Harold dem Normannenherzog Wilhelm von der Normandie den Treueid schwört, und Abb. 110, wie er dann nach England zurückkehrt. Die Darstellung könnte nicht deutlicher sein. Wir sehen Herzog Wilhelm auf seinem Thron sitzen und zuschauen, wie Harold beide Hände auf heilige Reliquiare legt, um den Treueid zu leisten. Es war der Eid, den Wilhelm zum Vorwand nahm, um in England einzufallen. Mir
gefallt immer der Mann auf dem Söller im nächsten Bild am besten, der mit der Hand über den Augen nach Harolds Schiff Ausschau hält. Es ist! zwar wahr, dass seine Arme und Finger einigermaßen seltsam^', aussehen und dass alle Gestalten in der Erzählung etwas sonderbar^ ^ Männlein sind, die nicht mit derselben Sicherheit gezeichnet sind wie die Krieger der assyrischen oder römischen Bilderchröniken. Wenn die mittelalterlichen Künsder jener Zeit kein Vorbild'hatten, an das sie sich anlehnen konnten, zeichneten sie wirklich §in wenig wie Kinder. Es istJ leicht darüber zu lächeln, aber gar nicht leicht, es ihnen gleich.zutuip Hier wird ein Heldenlied mit so sparsamen Mitteln und mit solcher,Konzentration auf das Wesentliche erzählt, dass es am Ende eindrucksvoller wirkt als die realistischen Berichte in unseren Zeitungen (Ml&l&rn Fernsehen.
Die streitbare Kirche Das
12. J a h r h u n d e r t
Daten sind w i e unverzichtbare Haken, an die m a n den Teppich der Geschichte aufhängt, und da das Jahr 1066 allgemein bekannt ist, ist es ein sehr praktischer Haken. In England hat kein einziges Gebäude aus der Zeit der Sachsenherrschaft unbeschadet überlebt, ja, in ganz Europa existieren aus jener Zeit nur noch einige w e n i g e Kirchenbauten. Aber die Normannen, die in England landeten, brachten einen hoch entwickelten Baustil mit, der binnen einer Generation in der Normandie u n d andernorts Gestalt annahm. Die Bischöfe u n d Adligen, die Englands neue Feudalherren waren, begannen schon bald, ihre Macht durch die Errichtung von Klöstern und Kathedralen zu d em o n s trieren. Der Stil dieser Bauwerke w i r d in England >normannischromanisch< genannt. Seine Blütezeit w a r das Jahrhundert nach der normannischen Invasion und etwas darüber hinaus. Man kann sich heute kaum vorstellen, was eine Kirche damals für die Menschen bedeutete. Nur in einigen alten Dörfern b e k o m m t m a n vielleicht n o c h einen Begriff davon. Die Kirche war oft der einzige Steinbau weit und breit, ja das einzige größere Gebäude in der ganzen Gegend, und der Kirchturm beherrschte w e i t hin die Landschaft. An Sonntagen u n d während des Gottesdienstes versammelten sich alle Einwohner der Stadt in der Kirche, u n d der Gegensatz z w i s c h e n d e m hochragenden Bauwerk u n d den p r i m i tiven, ärmlichen Wohnstätten, in denen diese Menschen ihr Leben verbrachten, muss überwältigend gewesen sein. So w a r es ganz natürlich, dass die ganze G e m e i n d e an d e m Bau dieser Kirche Anteil n a h m und auf ihre A u s s c h m ü c k u n g stolz war. Die Errichtung eines M ü n s ters, die viele Jahre währte, muss auch wirtschaftlich eine ganze Stadt verwandelt haben. Das Brechen u n d das Heranschaffen der Steine, das Aufrichten der Gerüste, die A n k u n f t fahrender Handwerksgesellen, die v o n f e r n e n Ländern erzählen konnten - all das w a r in j e n e n Tagen ein großes Ereignis. Die W i r r e n der Völkerwanderungszeit hatten d i e Erinnerung an die u r s p r ü n g l i c h e n F o r m e n des Kirchenbaus, die Basiliken, u n d an die B a u f o r m e n , die die R ö m e r zu v e r w e n d e n p f l e g t e n , keineswegs ausgelöscht. Die Gesamtanlage blieb im Wesentlichen
die gleiche: ein Mittelschiff, das auf einen Chor mit Apsis hinlief, und zwei oder vier Seitenschiffe/Manchmal wurde dieser einfache Grundriss etwas bereichert. Manche Baumeister fanden Gefallen daran, Kirchen in Kreuzform zu errichten, und darum fügten sie ein sogenanntes Querschiff zwischen dem Chor und dem Hauptschiff ein. Der Gesamteindruck dieser romanischen oder normannischen Kirchen ist trotzdem völlig verschieden von dem der frühchristlichen Basiliken. Die Säulen trugen dort oft ein gerades Gebälk. In den romanischen und normannischen Kirchen finden wir gewöhnlich Rundbogen, die auf wuchtigen Pfeilern aufruhen. Sowohl von innen wie von außen machen diese Kirchen den Eindruck trotziger Kraft. Wir finden wenig Schmuckwerk, sogar wenige Fenster; man sieht nur feste Mauern und Türme, die an mittelalterliche Burgen gemahnen (Abb. in). Diese mächtigen und beinahe drohenden Steinmassen, die in den eben erst zum Christentum bekehrten Gebieten aufgetürmt wurden, wirken wie eine Verkörperung des Glaubens an die Ecclesia militans, die streitbare Kirche, deren Aufgabe es hienieden ist, den Mächten der Finsternis Trotz zu bieten, bis sie am Jüngsten Tage triumphiert (Abb. 112). Der Bau dieser Kirchen stellte die Baumeister vor ein Problem, mit dem sie sich alle auseinander setzen mussten. Es war die Aufgabe, diesen gewaltigen steinernen Bauten auch ein steinernes Dach zu geben, das ihrer würdig war. Die Holzdecken der frühchristlichen Basiliken waren unpraktisch wegen Feuergefahr und standen auch kaum im Einklang mit der Wucht des übrigen Gebäudes. Die römische Technik der Einwölbung so großer Gebäude verlangte viel Erfahrung und viele technische Kenntnisse, die meist in Vergessenheit geraten waren. So wurde das elfte und zwölfte Jahrhundert zu einer Zeit unermüdlichen Experimentierens. Es war keine Kleinigkeit, eine Wölbung über ein weites Mittelschiff zu spannen. Die einfachste Lösung schien darin zu liegen, dass man den Zwischenraum überbrückte, so wie man eine Brücke über einen Fluss schlägt. Auf beiden Seiten wurden gewaltige Pfeiler errichtet, um die Brückenbögen zu
tragen. Es zeigte sich jedoch bald, dass ein solches Gewölbe sehr fest gefügt sein musste, um nicht einzustürzen. Das Gewicht des erforderlichen Materials aber war so ungeheuer, dass die Mauern und Pfeiler ihrerseits noch massiver und stärker gestaltet werden mussten. So bedurfte es gewaltiger Steinmassen, um diese frühen schweren Tonnengewölbe zu tragen. Normannische Baumeister versuchten es darum mit anderen Methoden. Sie kamen darauf, dass es nicht notwendig war, die gesamte Decke so schwer zu machen. Es genügte, eine Reihe fester Gurten oder Brückenbogen zwischen den Pfeilern zu spannen und den Zwischenraum mit leichterem Material auszufüllen. Es ergab sich, dass es am besten war, die Gurte oder >Rippen< diagonal zwischen den Pfeilern zu führen, sodass die dreieckigen Felder zwischen diesen >Kreuzrippen< nur locker ausgefüllt zu werden brauchten. Dieser Gedanke, der für die folgende Entwicklung der Baukunst von ungeheurer Bedeutimg werden sollte, lässt sich bis zur Kathedrale von Durham (Abb. 114) zurückverfölgen, wenn auch der Architekt, der kurz nach der normannischen Eroberung das erste Kreuzgewölbe für das gewaltige Kircheninnere (Abb. 113) entwarf, die technischen Vorteile noch nicht so ganz auszunützen verstand. In Frankreich begann man diese Kirchen mit Bildhauerarbeiten zu schmücken. Freilich ist das Wort >schmücken< auch hier eher irreführend. Alles, was zur Kirche gehörte, hatte einen bestimmten Zweck und musste eine klar umschriebene kirchliche Lehre ausdrücken. Das Portal der Kirche von St. Trophime in Arles in Südfrankreich vom Ende des zwölften Jahrhunderts ist eines der vollkommensten Beispiele dieses Stils (Abb. 115). Sein Aufbau erinnert an das Prinzip der römischen Triumphbögen (Abb. 74). ImTympanon, wie man das halbkreisförmige Feld über dem Türsturz nennt, sieht man Christus in der Glorie, umgeben von den Sinnbildern der vier Evangelisten (Abb. 116) . Diese Sinnbilder, der Löwe für Markus, der Engel für Matthäus, der Ochse für Lukas und der Adler für Johannes, sind der Bibel entnommen. Das alte Testament erzählt von der Vision des Hesekiel
(Hes. 1 , 4 - 1 2 ) , in der der Prophet den Thron des Herrn beschreibt, der von vier Gestalten mit einem Löwen-, einem Menschen-, einem Ochsen- und einem Adlerkopf getragen wird. Die christlichen Theologen legten diese Stelle dahin aus, dass mit diesen vier Gestalten die Evangelisten gemeint seien, und so eignete sich diese Vision gut für eine Darstellung über dem Kircheneingang. Auf dem Türsturz darunter sieht man zwölf sitzende Gestalten, die zwölf Apostel. Zur Linken Christi können wir eine Reihe nackter Figuren in Ketten ausnehmen — das sind die armen Seelen, die in die Hölle gezerrt werden, während zur Rechten Christi die Gerechten abgebildet sind, die ihm in ewiger Seligkeit ihr Antlitz zuwenden. Darunter sieht man die steifen Gestalten von Heiligen, jede durch ein Attribut gekennzeichnet; sie sollen die Gläubigen an die Fürbitter gemahnen, die für ihre Seele vor dem letzten Richter eintreten können. So waren die Lehren der Kirche von den letzten Dingen in diesen Bildwerken an der Kirchentüre verkörpert. Solche Bildwerke wirkten noch stärker auf das Gemüt des Volkes als die Worte der Prediger. Ein spätmittelalterlicher französischer Dichter, Fran^ois Villon, hat diese Wirkung in den rührenden Strophen geschildert, die er für seine Mutter schrieb:
Bin eine arme alte Frau, Die gar nichts weiß, ich kann nicht lesen. Ich seh' im Kreuzgang meiner Pfarre Ein Paradies gemalt mit Lilien und Harfen, Und eine Holl', wo die Verdammten schmoren. Eins macht mir Angst, das andre macht mir Freude. 11 Man darf nicht erwarten, dass solche Bildwerke so natürlich und anmutig wirken wie antike Skulpturen, aber ihre feierliche Starre macht sie nur noch eindrucksvoller. Sie ermöglicht es, auf einen Blick zu sehen, was dargestellt ist, und fügt die Bildwerke auch noch fester in die schlichte Größe der Architektur ein.
Jede Einzelheit der Kirche hatte m a n sich genauso liebevoll ausgedacht, um ihren Z w e c k u n d Sinn kundzutun. Abb. 117 zeigt einen Kirchenleuchter, der um das Jahr 1100 f ü r die Kathedrale v o n Gloucester verfertigt w u r d e . Die verschlungenen U n g e h e u e r u n d Drachen, aus d e n e n er gebildet ist, g e m a h n e n u n s n o c h an die W e r k e der Völkerwanderungszeit (Abb. 101 und 103). A b e r n u n h a b e n diese u n h e i m l i c h e n Gestalten eine klarer umrissene Bedeutung. Eine lateinische Inschrift, die o b e n u m d e n Leuchter h e r u m l ä u f t , besagt u n g e fähr: >Dieser Träger des Lichts ist ein Werk der Tugend; sein L e u c h t e n kündet die Lehre, a u f dass des Lasters D u n k el d e n M e n s c h e n n i c h t verschlingen U n d w i r k l i c h , s o w e i t w i r m i t unseren A u g e n das w i l d e G e w i r r dieser seltsamen G e s c h ö p f e d u r c h d r i n g e n , e r k e n n e n w i r n i c h t nur w i e d e r d i e Sinnbilder der vier Evangelisten, s o n d e r n a u c h n a c k t e m e n s c h l i c h e Gestalten. Schlangen u n d U n g e h e u e r b e d r o h e n sie s o w i e einst L a o k o o n u n d seine S ö h n e (Abb. 69), aber ihr K a m p f ist n i c h t h o f f n u n g s l o s , das >Licht, das in der Finsternis scheinetc, k a n n i h n e n z i n n Sieg ü b e r das B öse verhelfen.
Auch das Taufbecken einer Kirche in Liege in Belgien, das um 1113 gegossen wurde, ist ein Beispiel dafür, dass die Geistlichkeit die Künstler bei der Wahl ihrer Vorwürfe eingehend beriet (Abb. 118). Es ist ein erzenes Becken, das in der Mitte ein Relief mit der Taufe Christi zeigt, die geeignetste Darstellung für einen Taufbrunnen. Lateinische Inschriften erklären den Sinn jeder Figur. So lesen wir >Angelis ministrantesein gegossen Meer, zehn Ellen weit von einem
Rande an den andern rund umher... Und Ochsenbilder waren unter ihm umher... Es stand aber also auf den zwölf Ochsen, dass drei gewandt waren gegen Mitternacht, drei gegen Abend, drei gegen Mittag und drei gegen Morgen, und das Meer oben auf ihnen, und alles ihr Hinterstes war inwendige. Das war es also, was der Meister von Lüttich, auch er ein weiser Mann, erfahren im Erzguss, mehr als zweitausend Jahre nach der Zeit Salomons nachbilden sollte. Die Formen, die der Künstler für sein Bild Christi, der Engel und des heiligen Johannes verwendet, sehen natürlicher und gleichzeitig ruhiger und majestätischer aus, als die Bronzetüren von Hildesheim (Abb. 108). Wir erinnern uns daran, dass das zwölfte Jahrhundert das Jahrhundert der Kreuzzüge ist. Damals gab es natürlich einen stärkeren Kontakt mit der byzantinischen Kunst als zuvor, und viele Künsder des zwölften Jahrhunderts versuchten die majestätischen, geheiligten Bildwerke der Ostkirche (Abb. 88, 89) nachzuahmen. Tatsächlich ist die europäische Kunst in keinem Jahrhundert den Idealen des Ostens so nahe gekommen wie in der Blütezeit des romanischen Stils. Die Miniaturhandschriften des zwölften Jahrhunderts atmen dieselbe feierliche, starre Ruhe wie die Bildwerke von Arles (Abb. 115, 116). Die Darstellung der Verkündigung aus einer schwäbischen Handschrift (Abb. 119) wirkt beinahe so steif und erstarrt wie ein ägyptisches Relief. Man sieht Maria von vorne, wie sie staunend die Hände hebt, während die Taube des Heiligen Geistes vom Himmel her sich auf sie niedersenkt. Der Engel ist halb im Profil gezeigt, die Rechte zu einer Gebärde erhoben, wie sie in der mittelalterlichen Kunst die Rede begleitete. Wer von einer solchen Buchseite eine anschauliche Illustration erwartet, wird vielleicht enttäuscht sein. Aber wenn wir uns noch einmal klarmachen, dass es dem Künstler gar nicht um die Nachahmung der Wirklichkeit ging, sondern um die Anordung der überlieferten heiligen Sinnbilder des Verkündigungsmysteriums auf einer Bildseite, dann werden wir auch nicht mehr vermissen, was er uns nie geben wollte.
Vielleicht verstehen wir dann auch, welche ungeheuren Möglichkeiten sich vor den Künstlern auftaten, sobald sie gänzlich darauf verzichteten, die Dinge so darzustellen, wie wir sie sehen. Abb. 120 zeigt eine Seite aus einem Kalender, der für ein deutsches Kloster geschrieben wurde. Sie verzeichnet die wichtigsten Gedenktage von Heiligen, die im Monat Oktober gefeiert werden. Aber im Unterschied zu unseren Kalendern verzeichnet sie sie nicht nur im Text, sondern auch durch Abbildungen. In der Mitte unter den Bögen sehen wir den heiligen Priester Willimarus und den heiligen Gallus mit dem Hirtenstab und einem Gefährten, der das Gepäck des Missionars auf der Wanderschaft trägt. Die seltsamen Darstellungen darüber und darunter illustrieren die Geschichte zweier Martyrien, deren Gedenktage in den Oktober fallen. In späteren Zeiten, in denen die Kunst wieder zu einer genaueren Wiedergabe der Natur zurückgekehrt war, wurden solche grausamen Szenen oft mit einer Überfülle von schrecklichen Einzelheiten gemalt. Unser Künstler konnte das alles vermeiden. Um uns an St. Gereon und seine Gefährten zu erinnern, deren Köpfe in einen Brunnen geworfen wurden, verteilte er die enthaupteten Rümpfe fein säuberlich um das Bild des Brunnens mit den Köpfen. Die heilige Ursula, die der Legende zufolge mit ihren elftausend Jungfrauen von den Heiden niedergemetzelt wurde, wird im buchstäblichen Sinn im Kreis ihrer Gefahrtinnen thronend gezeigt. Ein hässlicher Wilder mit Pfeil und Bogen und ein Mann, der ein Schwert schwingt, stehen außerhalb des Rahmens und zielen auf die Heilige. Wir können die Geschichte von der Buchseite ablesen, ohne sie uns im Einzelnen vorstellen zu müssen. Und da der Künstler auf jede räumliche Illusion und jede dramatische Handlung verzichten konnte, war er imstande, seine Gestalten und Formen nach rein ornamentalen Grundsätzen anzuordnen. Die Malerei war wirklich auf dem Wege, zur Bilderschrift zu werden. Gleichzeitig gaben diese vereinfachten Darstellungsmethoden den Künstlern die Freiheit, sich dem Studium neuartiger Kompositionsformen zu widmen (Komposition = Zusammenstellung). Ohne diesen Reichtum
der Möglichkeiten hätten die Lehren der Kirche nie dargestellt werden können. Was für die Formen gilt, gilt auch für die Farben. Da die Künstler sich nicht mehr verpflichtet fühlten, die wirklichen Schattierungen, die in der Natur vorkommen, zu studieren und nachzuahmen, stand es ihnen frei, jede Farbe für ihre Darstellung zu wählen, die ihnen gefiel. Das leuchtende Gold und tiefe Blau mittelalterlicher Goldschmiedearbeiten, die bunten Farben ihrer Buchmalereien, das satte Rot und dunkle Grün ihrer Kirchenfenster (Abb. 121) beweisen uns, dass diese Meister ihre Unabhängigkeit von der Natur wohl zu nutzen verstanden. Weil sie nicht mehr an das Natürliche gebunden waren, konnten sie das Übernatürliche darstellen.
Die triumphierende Kirche Das 13. Jahrhundert
Wir haben gerade die romanische Kunst mit der byzantinischen und sogar altorientalischen Kunst verglichen. Aber in einer Beziehung war die abendländische Kunst doch etwas ganz anderes. Im Osten blieb der Stil jahrtausendelang unverändert, und es schien keinen Grund für einen Wandel zu geben. Das Abendland hat diese Erstarrung nie gekannt. Dort suchte man immer wieder nach neuen Lösungen. Der romanische Stil überlebte nicht einmal das zwölfte Jahrhundert. Kaum war es den Künstlern gelungen, ihre Kirchen einzuwölben und ihre Bildwerke in neuartiger majestätischer Ruhe anzuordnen, als eine noch neuere Erfindung all diese romanischen Kirchen plump und veraltet scheinen ließ. Der neue Gedanke kam aus Nordfrankreich, und das ganze Prinzip des gotischen Stils war darin enthalten. Zuerst mochte es scheinen, als ob es sich dabei einfach um eine technische Erfindung handelte, aber in seinen Auswirkungen erwies er sich doch als wesentlich mehr. Es war die Entdeckimg, dass die Methode, eine Kirche mittels kreuzweiser Gurte oder Rippen einzuwölben, noch viel konsequenter und zielbewusster durchgeführt werden konnte, als es sich die romanischen Architekten hatten träumen lassen. Wenn es richtig war, dass einfach Pfeiler genügten, um diese Gurte zu tragen, und dass das Mauerwerk dazwischen bloßes Füllsel sein konnte, dann waren ja all die dicken Wände zwischen den Pfeilern überflüssig. Es musste möglich sein, ein steinernes Gerüst zu errichten, das das ganze Gebäude zusammenhielt. Man brauchte dazu nur schlanke Pfeiler und schmale >RippenKreuzrippen< allein nicht genug, um diesen revolutionären gotischen Baustil möglich zu machen. Es bedurfte einer ganzen Reihe anderer technischer Verbesserungen, bevor dieses Wunder Wirklichkeit werden konnte. So waren die Rundbögen des romanischen Stils für die Zwecke der gotischen Baumeister ungeeignet. Das hat folgenden Grund: Wenn ich die Aufgabe habe, den Zwischenraum zwischen zwei Pfeilern mit einem halbkreisförmigen Bogen zu überbrücken, so ist die Höhe des Bogens von vornherein damit festgelegt. Will ich eine größere erreichen, so muss ich den Bogen steiler machen. In diesem Fall ist es das Beste, überhaupt keinen runden Bogen zu wählen, sondern zwei Kreissegmente aneinander zu lehnen. Das ist der Grundgedanke des Spitzbogens. Sein Vorteil hegt darin, dass man ihn je nach den Bedürfnissen des Bauplans flacher oder steiler gestalten kann. Noch ein Problem bedurfte der Lösimg: Die schweren Steine der Wölbung drücken wie ein gespannter Bogen nicht nur nach unten, sondern auch nach der Seite. Die Pfeiler allein reichten nicht aus, dem Druck nach außen standzuhalten. Auch hier hegt die Sache beim Spitzbogen besser. Aber man brauchte doch einen festen Rahmen, der die Form des ganzen Gerüstes zusammenhielt. Bei den gewölbten Seitenschiffen war das nicht so schwer. Man konnte die Wand durch starke Pfeiler verstreben, die man darum >Strebepfeiler< nennt. Aber was sollte mit dem hohen Mittelschiff geschehen? Auch das musste von außen zusammengehalten werden, und zwar über das Dach des Seitenschiffes hinweg. Das war der Zweck der sogenannten Strebebögen, durch deren Erfindimg erst das rein gotische Gewölbe möglich wurde (Abb. 122). Eine gotische Kirche scheint zwischen diesen schlanken Baugliedern zu hängen wie das Rad eines Fahrrads zwischen seinen dünnen Speichen. In beiden Fällen macht die gleichmäßige Lastenverteilung es möglich, die notwendige Masse
der Konstruktionsglieder immer mehr zu reduzieren, ohne dass das Ganze an Festigkeit einbüßt. Und doch wäre es falsch, diese Kirchen hauptsächlich als technische Errungenschaften zu bewundern. Die Baumeister legten es darauf an, uns die Kühnheit der Konstruktion bewusst zu machen. Wenn man vor einem dorischen Tempel steht (Abb. 50), so empfindet man die Funktion der Säulenreihen, die die Last des horizontalen Dachbalkens tragen. Wenn man in einem gotischen Innenraum steht (Abb. 123), so lernt man das vielfaltige Ineinanderspielen von Schub und Druck verstehen, das das hohe Gewölbe dort oben in Schwebe hält. Nirgends sieht man kahle Mauern oder massigen Pfeiler. Das ganze Kircheninnere wirkt wie ein Geflecht aus schlanken Pfeilern und Rippen, sein Netzwerk spannt sich über die Wölbung und verläuft an der Wand des Mittelschiffs entlang, bis diese steinernen Stäbe oder >Dienste< als Bündel zu Pfeilern zusammengefasst werden. Selbst die Fenster sind von diesem Gewebe übersponnen, das man Maßwerk nennt (Abb. 124). Die großen Kathedralen oder Bischofskirchen (Cathedra = Bischofsthron) des zwölften und frühen dreizehnten Jahrhunderts waren meist in so gewaltigen und kühnen Ausmaßen geplant, dass man kaum eine einzige so zur Vollendung brachte, wie sie beabsichtigt gewesen war. Trotzdem aber und trotz der vielen Veränderungen, die im Laufe der Zeiten daran vorgenommen wurden, bleibt es ein unvergessliches Erlebnis, in eine solche Kathedrale einzutreten, vor deren Riesenmaßen unsere kleine Menschenwelt ganz winzig und nichtig wirkt. Wir können uns kaum vorstellen, welchen Eindruck diese Gebäude auf Menschen gemacht haben müssen, die vorher nur die wuchtig-trotzigen Kirchen des romanischen Stils gekannt hatten. In den älteren Kirchen mit ihrer drohenden Kraft lebt etwas von dem Glauben an die streitbare Kirche, die Schutz gegen die Anfeindungen des Bösen bietet. Die neuen Kathedralen gaben den Gläubigen die Ahnimg einer anderen Welt. Sie hatten in Predigten und Kirchenliedern vom »himmlischen Jerusalem< gehört, mit seinen
Toren aus Perlen, seinem kostbaren Edelgestein, seinen Gassen aus lauterem Gold und durchscheinendem Glas (Offenbarung des Johannes, 2i ,21). Jetzt hatte sich diese Vision vom Himmel auf die Erde herabgesenkt. Die Wände dieser Kirchen waren nicht mehr kalt und abweisend: Sie waren aus buntem Glas, das funkelte wie Edelgestein. Die Pfeiler, die Kreuzrippen und das Maßwerk glitzerten in goldener Bemalung. Alles Alltägliche und alles Erdenschwere war verschwunden. Wer sich der stillen Betrachtung all dieser Schönheit hingab, durfte fühlen, dass ihm das Mysterium verständlicher geworden war. Selbst von Weitem schienen diese Wimderwerke der Baukunst des Ewigen Ehre zu rühmen. Die Fassade von Notre-Dame in Paris ist vielleicht die vollkommenste von allen (Abb. 125). Die Anordnung der Portale und der Fenster wirkt so klar und selbstverständlich, das Maßwerk der Galerie so leicht und anmutig, dass wir das Gewicht k dieser Steinmassen ganz vergessen und das ganze Gebäude vor uns I aufzusteigen scheint wie eine Fata Morgana. Die Bildwerke, die die Portale dieser gotischen Kirchen wie himmlische Heerscharen flanJ kieren, vermitteln denselben Eindruck von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit. Wahrend der romanische Meister von Arles (Abb. 115) seinen Heiligengestalten das Aussehen starrer Pfeiler gab und sie fest in das architektonische Rahmenwerk eingliederte, verlieh der Meister, der am Nordportal der gotischen Kathedrale von Chartres (Abb. 126/127) arbeitete, jeder Gestalt ein eigenes Leben. Sie scheinen sich leise zu rühren und einander feierlich anzublicken. Es ist auch wieder zu merken, dass der Faltenwurf der Gewänder einen wirklichen Körper verhüllt, und jede Gestalt ist so deutlich erkennbar gemacht, dass alle, die mit dem Neuen Testament vertraut waren, verstehen mussten, um wen es sich handelt. Es fallt uns nicht schwer, Abraham herauszufinden, wie er sich zum Opfer seines Sohnes Isaak bereitmacht und zu dem Engel emporblickt, der ihm die Tat erlässt, während der Widder am Sockel erscheint. Auch Moses erkennen wir leicht, denn er hält die Gesetztafel, auf die die Zehn Gebote geschrieben waren, und die eherne Säule mit der Schlange, durch deren Anblick er die Israeliten
heilte. Der Mann zu Abrahams Rechten ist Melchisedek, der König von Salem, von dem es in der Bibel heißt, dass er >ein Priester Gottes, des Höchsten, war< und Brot und Wein herantrug, um Abraham nach dem siegreichen Gefecht zu begrüßen. In der Theologie des Mittelalters galt er darum als Urbild des Priesters, der die Kommunion darreicht, und darum ist er auch mit Kelch und Weihrauchfass dargestellt. Fast jede einzelne Figur an den großen gotischen Kathedralen ist durch ein solches Attribut kenntlich gemacht, sodass sich die Gläubigen ihren tieferen Sinn einprägen konnten. Zusammengenommen stellte sie eine ebenso vollkommene Verkörperung der kirchlichen Lehren dar wie die romanischen Kunstwerke. Und doch empfindet man, dass der gotische Bildhauer anders an seine Aufgabe heranging als die Künsder der früheren Zeit. Für ihn waren diese Gestalten mehr als bloß heilige Sinnbilder, feierliche Künder einer sittlichen Wahrheit. Für ihn muss jede dieser Gestalten ein Eigenleben besessen haben, das sie von der benachbarten Figur unterschied, und so gab er jeder eine andere Stellung, einen andern Gesichtstypus und eine eigene Art von Schönheit und Würde. Die Kathedrale von Chartres gehörte in der Hauptsache noch dem zwölften Jahrhundert an. Kurz nach dem Jahre 1200 entstanden viele neue prächtige Kathedralen nicht nur in Frankreich, sondern auch in seinen Nachbarländern, in England, in Spanien und den deutschen Rheinlanden. Viele Meister, die an diesen neuen Bauten tätig waren, hatten ihre Kunst als Mitarbeiter an den ersten Kathedralen gelernt, aber sie versuchten alle, die Leistungen der älteren Generation noch zu überbieten. Abb. 1 2 9 v o m S ü d p o r t a l d e r g o t i s c h e n K a t h e d r a l e v o n S t r a ß burg aus d e m dreizehnten Jahrhundert zeigt, w i e neuartig die Eins t e l l u n g d i e s e r g o t i s c h e n B i l d h a u e r w a r . D a r g e s t e l l t ist d e r T o d M a r i ä . D i e z w ö l f A p o s t e l u m s t e h e n i h r Bett, d i e h e i l i g e M a r i a M a g d a l e n a k n i e t v o r ihr, u n d C h r i s t u s i n d e r M i t t e n i m m t i h r e S e e l e i n s e i n e A r m e auf. M a n f ü h l t , d a s s d e m K ü n s t l e r n o c h d a r a n g e l e g e n w a r , etwas v o n der feierlichen S y m m e t r i e des verflossenen Zeitalters b e i zubehalten. M a n k a n n s i c h vorstellen, dass d i e K ö p f e d e r A p o s t e l i m
Halbkreis angeordnet waren, mit den zwei einander entsprechenden Apostelgestalten an beiden Enden des Bettes und der Gestalt Christi in der Mitte. Aber eine Anordnung von der Regelmäßigkeit, wie sie der Meister der Miniatur des zwölften Jahrhunderts (Abb. 120) wählte, genügte ihm nicht mehr. Er wollte ja seinen Gestalten Leben einhauchen. Man sieht den Ausdruck der Trauer in den schönen Zügen der Apostel mit ihren hochgezogenen Augenbrauen und ihrem angespannten Blick. Drei von ihnen legen die Hand an die Wange - die traditionelle Trauergebärde. Noch ausdrucksvoller sind die Gestalt und das Mienenspiel der Maria Magdalena, die händeringend beim Bett kauert, und man kann nicht genug bewundern, wie der Straßburger Meister ihre Züge zu dem ruhigen, seligen Blick auf Marias Antlitz in Kontrast gesetzt hat. Die Gewänder sind nicht mehr die leeren Hüllen und bloß ornamentalen Schnörkel wie auf frühmittelalterlichen Miniaturen. Die gotischen Künsder wollten wieder auf den ursprünglichen I Sinn dieser überlieferten Gewand- und Faltenformeln kommen. Es kann sein, dass sie sich in dieser Absicht nach Resten von heidnischem Steinmetzwerk, von römischen Grabsteinen und Triumphbögen umsahen, von denen es noch einige in Frankreich gab. Und so besann man sich wieder auf die verlorene Kunst, das Körpergerüst unter dem Gewand fühlbar zu machen. Man kann sehen, dass unser Künsder auf seine Meisterschaft in dieser schwierigen Fertigkeit stolz war. Die Art, wie die Füße und Hände der Maria und die linke Christi unter dem Stoff sichtbar werden, zeigt, dass es diesen gotischen Bildhauern nicht mehr bloß darum ging, was sie darstellten, sondern auch um die Probleme, wie sie es darstellen sollten. So wie einst in der Zeit des großen Erwachens in Griechenland, begannen sie die Wirklichkeit zu beobachten, nicht eigentlich, um sie zu kopieren, sondern um dabei zu lernen, wie man eine Gestalt überzeugend darstellt. Und doch besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen griechischer und gotischer Kunst, zwischen den Bildwerken des Tempels und der Kathedrale. Die griechischen Künstler des fünften Jahrhunderts interessierten sich vor allem dafür, wie man das Bild eines schönen
Körpers aufbaut. Für den gotischen Künstler waren all diese Methoden und Effekte nur Mittel zum Zweck, die heilige Geschichte noch erschütternder und überzeugender zu erzählen. Er erzählt sie ja auch nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Lehre willen, zum Trost und zur Erbauung der Gläubigen. Der Ausdruck, mit dem Christus auf seine sterbende Mutter blickt, war dem Künstler sicher wichtiger als die geschickte Darstellung. Im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts gingen manche Künstler in ihren Versuchen, dem Stein Leben einzuhauchen, sogar noch weiter. Der Meister, der um das Jahr 1260 den Auftrag erhielt, die Stifter des Naumburger Doms darzustellen, macht uns geradezu glauben, dass er wirkliche Ritter und Edelfrauen seiner Zeit konterfeit hat (Abb. 130). Und doch ist das höchst unwahrscheinlich - diese Stifter waren schon lange tot und waren bloße Namen für ihn. Aber unter seinen Händen erwachten die Bildwerke von Männern und Frauen der Vorzeit zum Leben. In ihrer ritterlichen Haltung sind sie die wahren Zeitgenossen der letzten Staufer. Während die Hauptaufgabe der nordischen Bildhauer des dreizehnten Jahrhunderts im Skulpturenschmuck der Kathedralen lag, war das Betätigungsfeld der Malerei noch immer im Wesentlichen das Illustrieren von Handschriften. Man braucht aber nur die Seite eines gotischen Psalters (Abb. 131) mit den feierlich starren Buchmalereien der romanischen Zeit (Abb. 119) zu vergleichen, um zu sehen, wie sehr sich auch diese Kunst im Verlauf eines Jahrhunderts gewandelt hat. Sie stellt die Grablegung Christi dar, einen Gegenstand, dessen Stimmung dem Reüef des Straßburger Münsters verwandt ist (Abb. 129). Auch hier sieht man wieder, wie wichtig es dem Künstler war, uns fühlen zu lassen, was seine Gestalten empfinden. Maria beugt sich über den Leichnam Christi und küsst ihn, während Johannes trauernd die Hände ringt. Wieder zeigt es sich, wie sehr sich der Künstler bemühte, die Darstellung regelmäßig anzuordnen. Man sieht das an den Engeln, die in den Ecken mit Räuchergefaßen aus den Wolken hervortauchen, und an den Gestalten der Diener, mit ihren
eigenartigen Hüten, wie sie die Juden im Mittelalter tragen mussten. Es kam dem Künsder offensichtlich mehr auf einen starken Gefühlsausdruck und eine regelmäßige Verteilung seiner Figuren auf der Buchseite an als auf eine naturgetreue Darstellung einer wirklichen Szene. Es kümmert ihn wenig, dass die Diener kleiner sind als die Heiligengestalten, und er gibt uns keinen Anhaltspunkt, wo sich die Szene abspielt. Wir verstehen das Geschehen auch ohne solche äußerlichen Anhaltspunkte. Obwohl aber dem Künstler nichts daran lag, die Dinge so zu zeigen, wie wir sie in Wirklichkeit sehen, so waren doch seine Kenntnisse des menschlichen Körpers (genau wie die des Straßburger Meisters) unvergleichlich größer als die des Malers der Miniatur aus dem zwölften Jahrhundert. Die Künstler des dreizehnten Jahrhunderts begnügten sich nicht mehr damit, Vorbilder aus Musterbüchern abzuzeichnen. Sie respektierten zwar die überlieferten Darstellungsformen der heiligen Geschichten, aber sie setzten ihren Stolz darein, sie zu neuem Leben zu erwecken. Damals im dreizehnten Jahrhundert kam es sogar ausnahmsweise wieder vor, dass Künstler ihre Musterbücher beiseite legten und einen Gegenstand, den sie sahen, abzeichneten, nur weil er sie interessierte. Wir können die Bedeutung dieses Vorgangs heute nur schwer begreifen. Wir sehen den Künstler als jemanden, der, wann immer er Lust dazu bekommt, zu seinem Skizzenblock greift und nach der Natur zeichnet. Wir wissen aber, dass im Mittelalter die Ausbildung und Erziehimg des Künstlers völlig anders verlief. Er begann als Lehrling bei einem Meister, dem er zur Hand ging, indem er seine Anweisungen befolgte und relativ unbedeutende Bildteile ausführte. Mit der Zeit lernte er, wie man einen Apostel darzustellen und eine Muttergottes zu zeichnen hatte. Er lernte, Szenen aus alten Büchern zu kopieren und neu zu arrangieren, auch, sie in andere Handlungen einzupassen, und schließlich war er mit all dem hinreichend vertraut, um selbst eine Szene illustrieren zu können, für die er kein Vorbild kannte. In seinem ganzen Berufsleben wurde er indes niemals vor die Aufgabe gestellt, einen Skizzenblock zu nehmen und etwas nach der
Natur zu z e i c h n e n . Selbst w e n n m a n ihn beauftragte, eine bestimmte Person darzustellen, d e n regierenden Kön ig oder einen Bischof, malte er nicht das, w a s w i r als Porträt dieser Person b e z e i c h n e n w ü r d e n . Was w i r unter e i n e m Bildnis verstehen, w a r d e m Mittelalter f r e m d . Der Künstler z e i c h n e t e einfach eine schematische Figur u n d gab ihr die Z e i c h e n ihres A m t e s - d e m König Krone u n d Zepter, d e m B i s c ho f Mütze u n d Krummstab. U n d dann schrieb e r vielleicht n o c h den N a m e n darunter, um jedes Missverständnis auszuschließen. Es m a g seltsam scheinen, dass Künsder, die so lebensnahe Bildwerke w i e die N a u m b u r g e r Stifter gestalten konnten (Abb. 130), i r g e n d w e l c h e Schwieri gk eiten damit gehabt haben sollen, eine bestimmte Person naturgetreu abzubilden. Aber die ganze Vorstellung, dass m a n sich vor e in en Gegenstand oder einen Menschen hinsetzen kann, um i h n abzuzeichnen, w a r ihnen eben fremd. Um so bemerkenswerter ist es, dass es im dreizehnten Jahrhundert d o c h schon Fälle gab, in d e n e n Künsder n a c h der Natur zeichneten. Das kam vor, w e n n sie nirgends ein Vorbild finden konnten, um sich daran anzulehnen. Abb. 132 stellt eine solche A u s n a h m e dar. Es ist das Bildnis eines Elefanten, v o n d e m englischen Historiker Matthew Paris (gest. 1259) um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gezeichnet. Der französische König Ludw i g der Heilige hatte diesen Elefanten Heinrich III. v o n England im Jahre 1255: übersandt. Es w a r der erste seiner Art, der je in England zu sehen war. Die Gestalt des Wärters daneben wirkt nicht w i e ein sehr üb er z eu ge nd es Bildnis, o b w o h l sein Name dabeisteht; er hieß Henricus de Flor. Bemerkenswert für uns ist die Tatsache, dass es d e m Künsder in diesem Falle sehr darauf ankam, die Größenverhältnisse richtig darzustellen. Z w i s c h e n den Beinen des Elefanten ist eine lateinische Inschrift, die sagt: >Nach der Größe des Mannes, der hier abgebildet ist, magst Du Dir die Größe des hier dargestellten Tieres vorstellend Der Elefant m a g uns etwas m e r k w ü r d i g v o r k o m m e n , u n d d o c h beweist er, dass mittelalterliche Künstler, zumindest im dreizehnten Jahrhundert, sich der Größenverhältnisse sehr w o h l bewusst waren. Sie ließen sie nicht aus Unkenntnis außer Acht.
Im dreizehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der großen Käthe dralen, war Frankreich das reichste und mächtigste Land Europas. Die Universität von Paris bildete damals den Mittelpunkt des abendländischen Geisteslebens. In dem stark zersplitterten Italien fanden die Gedanken und Methoden der großen französischen Baumeister anfanglich wenig Widerhall, während sie in Deutschland und England eifrig aufgenommen wurden. Erst in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts begann ein italienischer Bildhauer dem Beispiel der französischen Meister zu folgen und die Methoden der antiken Plastik zu studieren, um eine getreuere Darstellung der Natur geben zu können. Dieser Bildhauer war Nicola Pisano, der in der blühenden Hafenstadt Pisa tätig war. Abb. 133 zeigt eines der Reliefs einer Kanzel, die er im Jahre 1260 vollendete. Auf den ersten Blick mag es nicht ganz leicht sein, den Inhalt der Darstellung zu erkennen, denn Pisano hat nach mittelalterlichem Brauch mehrere Szenen auf einem Feld vereinigt. Die Schilderung der Verkündigung nimmt die Unke Ecke ein, Christi Geburt die Mitte. Maria liegt auf ihrer Lagerstatt, der heilige Josef kauert in einer Ecke, und zwei Mägde baden gerade das Kind. Die Herde von Schafen, die sich dazwischenzudrängen scheint, gehört in Wirklichkeit zu einer dritten Szene, zur Verkündigung an die Hirten, die in der Ecke rechts oben abgebildet ist, wo das Jesuskind noch einmal in der Krippe liegend erscheint. Aber selbst wenn die Szene etwas gedrängt und konfus wirkt, so ist es dem Bildhauer doch gelungen, jede Episode mit vielen lebendigen Einzelheiten ins Ganze einzufügen. Man sieht, welche Freude er an solchen gut beobachteten Einzelheiten hatte, wie z.B. die Ziege in der rechten Ecke, die sich mit dem Huf am Kopf kratzt, und man erkennt, wie viel er dem Studium der antiken und frühchristlichen Plastik verdankt (Abb. 83), wenn man die Behandlung der Köpfe und Gewänder betrachtet. So wie der Meister von Straßburg, der ungefähr eine Generation vor ihm tätig war, oder der Naumburger Meister, der sein Altersgenosse gewesen sein mag, hatte Nicola Pisano von den antiken Meistern gelernt, wie man die Körperformen unter dem
Gewand sichtbar macht und den Gestalten sowohl Leben wie Würde verleiht. Die italienischen Maler brauchten noch länger als die italienischen Bildhauer, bis sie auf den Geist der gotischen Meister reagierten. Italienische Städte, wie z.B. Venedig, unterhielten enge Beziehungen zu Byzanz, und die italienischen Handwerker richteten ihre Augen eher auf Konstantinopel als auf Paris (Abb. 8). Auch im dreizehnten Jahrhundert schmückte man italienische Kirchen noch mit feierlichen Mosaiken in der griechischen Manierc Es sah damals so aus, als ob die Herrschaft des konservativen östlichen Stils jede Möglichkeit eines Wandels ausschließen würde. Und es brauchte in der Tat lange, bis sich diese Starre löste. Aber als dann die große Wende gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts eintrat, war es gerade die gründliche Schulung in der byzantinischen Überlieferung, die es der italienischen Kunst ermöglichte, die Leistungen der nördlichen Bauhütten nicht nur einzuholen, sondern die ganze Kunst der Malerei von Grund auf zu revolutionieren. Man darf nicht vergessen, dass ein Bildhauer, der die Natur wiedergeben will, es leichter hat als ein Maler, der sich dasselbe Ziel setzt. Der Bildhauer braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wie er die Raumillusion durch Verkürzimg oder durch Modellieren in Licht und Schatten erzeugt. Seine Statue steht ja im wirklichen Raum und im wirklichen Licht. Das ist auch der Grund, warum der Straßburger oder Naumburger Meister einen Grad von Lebensnähe erreichen konnte, mit dem sich kein Gemälde des dreizehnten Jahrhunderts vergleichen lässt. Wir wissen ja, dass die Malerei des Nordens jeden Anspruch aufgegeben hatte, die Illusion der Wirklichkeit vorzutäuschen. Sowohl in der Anordnung wie in der Erzählungsweise richtete sie sich nach ganz anderen Grundsätzen. Letzten Endes war es die byzantinische Kunst, die es den Italienern ermöglichte, die Kluft zwischen Plastik und Malerei zu überspringen. Bei all ihrer Starre hatte die byzantinische Kunst doch mehr von den Errungenschaften der hellenistischen Malerei in sich
a u f b e w a h r t , als in den bilderschriftlichen M e t h o d e n der abendländischen Kunst des f r ü h e n Mittelalters am Leben blieben. W i r erinnern uns, w i e viele dieser Errungenschaften sich s o z u s a g e n unter der Eisdecke eines feierlichen byzantinischen G e m ä l d e s w i e Abb. 8 8 erhalten hatten, w i e das Gesicht d u r c h Licht u n d Schatten m o d e l l i e r t ist, u n d w i e der T h r o n u n d der Fußstuhl richtiges Verständnis f ü r di e Prinzipien der Verkürzung zeigen. Mit s o l c h e n Mitteln k o n n t e e i n Genie, das d e n Bann der byzantinischen U n w a n d e l b a r k e i t brach, di e l e b e n d i g e n Gestalten der gotischen Skulpturen in die Malerei übertragen. Dieses G e n i e fand sich in d e m Florentiner Maler Giotto di B o n d o n e . Es ist üblich, ein neues Kapitel m i t Giotto (ca. 1267—1337) a n z ufa n g en . Die Italiener w a r e n davon ü b e r z e u g t , dass m i t d e m Auftreten dieses g r o ß e n Malers eine g ä n z l i c h n e u e E p o c h e in der Geschichte der Kunst b e g o n n e n hatte. W i r w e r d e n sehen, dass sie recht haben. A b e r trotz alledem m a g es gan z n ü t z l i c h sein, n i c h t zu vergessen, dass es in der w i r k l i c h e n Geschichte keine n e u e n Kapitel u n d kein neues B eg in n en gibt u n d dass es Giottos G r ö ß e k e i n e n A b b r u c h tut, w e n n w i r uns klarmachen, dass seine Mittel z u m g r o ß e n Teil v o n byzantinischen Meistern h er rü hr en , w ä h r e n d seine A n s c h a u u n g s w e i s e m a n c h e s m i t der Art der g r o ß e n Bildhauer no r di scher Kathedralen g e m e i n hat. Giottos berühmteste Werke sind W a n d m a l e r e i e n o d e r Fresken (so genannt, w e i l sie gemalt w e r d e n m ü s s e n , w ä h r e n d der W a n d b e w u r f n o c h frisch, fresco, d. h. nass ist). Z w i s c h e n 1302 u n d 1305 b e d e c k t e er die W ä n d e einer kleinen Kirche in Padua in Norditalien m i t G e m ä l d e n aus der Geschichte Marias u n d d e m Leben Jesu. D a r u n t e r m a l t e e r Personifikationen v o n T u g e n d e n u n d Lastern, w i e sie a u c h öfters a n d e n Portalen der n o r d i s c h e n Kathedralen dargestellt w a r e n . Abb. 134 z e i g t Giottos Darstellung des Gla ubens, eine Matrone m i t K r e u z i n ihrer R e c h t e n u n d einer Schriftrolle i n ihrer Linken. Es ist n i c h t schwer, d i e V e r w a n d t s c h a f t dieser e d l e n Gestalt m i t den Statuen d e r g o t i s c h e n Bildhauer zu erkennen. A b e r hier handelt es
sich nicht um eine Statue. Es ist ein Gemälde, das eine Freiplastik vortäuscht. Man sieht die verkürzten Arme, die Modellierung des Gesichts und des Halses und die tiefen Schatten in den frei fließenden Falten der Gewandung. Etwas Derartiges hatte es seit einem Jahrtausend nicht gegeben. Giotto hatte die Kunst wieder entdeckt, auf einer flachen Ebene die Illusion räumlicher Tiefe zu erzeugen. Für Giotto war diese Entdeckung nicht ein bloßes Kunststück, das er um seiner selbst willen vorführen wollte. Der ganze Begriff der Malerei wurde dadurch ein anderer. Statt die Mittel der Bilderschrift zu verwenden, wurde nun die Illusion geschaffen, die heilige Geschichte spiele sich direkt vor unseren Augen ab. Um das zu erzielen, genügte es Giotto nicht mehr, ältere Darstellungen derselben Szene zu kopieren und diese althergebrachten Vorbilder neuartig anzuwenden. Er beherzigte stattdessen lieber die Predigten der Bettelmönche, die die Gläubigen aufforderten,sich beim Lesen der Bibel und der heiligen Legenden lebendig zu vergegenwärtigen, wie es ausgesehen haben müsse, wenn eine Zimmermannsfamilie nach Ägypten floh oder wie Jesus ans Kreuz genagelt wurde. Er ruhte nicht, bis er sich alles neu ausgedacht hatte: Wie würde ein Mensch stehen, wie sich bewegen und wie handeln, wenn er an einem solchen Geschehen teilnähme? Und wie würde sich dann seine Haltung unserem Auge darstellen? Wir können das Ausmaß dieser Revolution am ehesten ermessen, wenn wir eines von Giottos paduanischen Fresken (Abb. 135) mit der Darstellung des gleichen Themas in einer Miniatur des dreizehnten Jahrhunderts (Abb. 131) vergleichen. Dieses Thema ist die Beweinung Christi mit der Gestalt der Maria, die ihren Sohn zum letzten Mal umarmt. Dem Meister der Miniatur ging es nicht darum, die Szene wirklich so darzustellen, wie sie sich ereignet haben mochte. Er änderte die Ausmaße der Figuren, um sie der Form der Seite anzupassen, und wenn wir versuchen, uns den Raum zwischen den Gestalten im Vordergrund und dem heiligen Johannes im Hintergrund - mit Christus und Maria dazwischen — vorzustellen, so wird uns klar, wie da alles
zusammengedrängt ist und wie wenig sich der Künstler um den Raum kümmerte. Es ist dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber dem wirklichen Schauplatz des Ereignisses, die Nicola Pisano veranlasste, mehrere Episoden auf einem Relief darzustellen. Giottos Methode ist von Grund auf verschieden. Sein Bild ist nicht mehr ein Schriftersatz für Analphabeten, wie das Papst Gregor der Große von der Malerei verlangt hatte. Bei ihm werden wir zu Zeugen des Ereignisses, das sich vor unseren Augen wie auf einer Bühne abspielt. Man muss nur die konventionelle Trauergebärde des heiligen Johannes auf der Miniatur mit der leidenschaftlichen Bewegimg des heiligen Johannes auf Giottos Gemälde vergleichen, der sich mit ausgebreiteten Armen nach vorn neigt. Wenn wir hier versuchen, uns die Entfernung zwischen den kauernden Gestalten im Vordergrund und dem heiligen Johannes vorzustellen, so empfinden wir sofort, dass Licht und Raum zwischen ihnen ist und dass sie sich alle frei bewegen können. Diese Gestalten im Vordergrund zeigen, wie neu die Kunst Giottos in jeder Beziehung war. Wir erinnern uns, dass die frühchristliche Kunst zu den Grundsätzen des alten Orients zurückgekehrt war, die um der Klarheit der Erzählung willen forderten, dass jede Gestalt so vollständig gezeigt würde, wie es die Ägypter einst getan hatten. Giotto gab diese Grundsätze preis. Er bedurfte dieser primitiven Kunstgriffe nicht. Er überzeugt uns in so packenderWeise, dass jede Gestalt die Tragik der Szene widerspiegelt, dass wir sogar die Trauer der kauernden Frauen empfinden, deren Antlitz von uns abgewandt ist (Abb. 136). Giotto war weit und breit berühmt. Das Volk von Florenz war stolz auf ihn. Man interessierte sich für sein Privatleben und erzählte Anekdoten über seinen Mutterwitz und seine Geschicklichkeit. Auch das war etwas Neues. Eigentlich hatte es etwas Derartiges vorher nie gegeben. Natürlich lebten auch früher Meister, die allgemein geschätzt und von Kloster zu Kloster oder von Bischof zu Bischof weiterempfohlen wurden, aber im Großen und Ganzen fand man es nicht notwendig, die Namen der Meister der Nachwelt zu überliefern. Man betrachtete sie wie wir einen guten Tischler oder
Schneider. Auch den Künsdern selbst lag wenig daran, bekannt oder berühmt zu werden. Oft signierten sie nicht einmal ihre Arbeiten. Wir kennen die Namen der Meister von Chartres, von Straßburg oder von Naumburg nicht. Sie waren gewiss zu ihrer Zeit geschätzt, aber sie überließen den Ruhm und die Ehre der Kathedrale, an der sie arbeiteten. Auch in dieser Hinsicht beginnt mit dem Florentiner Maler Giotto ein gänzlich neues Kapitel in der Geschichte der Kunst. Von diesem Tage an wurde die Kunstgeschichte zuerst in Italien und dann auch in anderen Ländern zur Geschichte der großen Künsder.
Bürger und Höflinge Das 14. Jahrhundert
'Tl
Das dreizehnte Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Kathedralen, an denen fast alle Kunstzweige ihren Anteil hatten. Die Arbeit an diesen ungeheuren Bauunternehmungen erstreckte sich noch ins vierzehnte Jahrhundert und sogar darüber hinaus. Aber die Kathedralen waren nicht mehr der Mittelpunkt des Kunstschaffens. Die Welt hatte sich im Verlauf dieser Jahrhunderte sehr verändert. Um die Mitte des zwölften Jahrhunderts, als sich der gotische Stil entwickelte, war Europa ein von Bauern spärlich besiedelter Erdteil, und die wenigen Klöster und Ritterburgen waren die einzigen Zentren der Macht und der Bildung. Der Ehrgeiz der großen Bischofssitze, ihre eigenen Kathedralen zu haben, war eines der ersten Anzeichen erwachenden Bürgerstolzes in den Städten. Aber hundertfünfzig Jahre später waren die Städte selbst zu belebten Handelszentren geworden, deren Bürger sich immer weniger von der Macht der Kirche und der Feudalherren abhängig fühlten. Selbst der Adel lebte nicht mehr auf einsamen Burgen, sondern zog die Bequemlichkeit und den modischen Luxus des Stadtlebens vor, wo man seinen Reichtum am Hofe der Mächtigen zur Schau stellen konnte. Wir bekommen eine sehr lebendige Vorstellung vom Leben im vierzehnten Jahrhundert, wenn wir uns die Werke Chaucers ansehen, mit all ihren Rittern und Knappen, Mönchen und Handwerkern. Das war nicht mehr die Welt der Kreuzzüge und der staufischen Ritter, an die uns die Stifterfiguren aus Naumburg gemahnten (Abb. 130). Es ist immer etwas riskant, vom allgemeinen Charakter einer Zeit oder eines Stils zu sprechen. Es gibt immer wieder Ausnahmen und Beispiele, die gegen solche Verallgemeinerungen sprechen. Aber diese Einschränkungen vorausgesetzt, kann man sagen, dass der Geschmack des vierzehnten Jahrhunderts mehr dem Raffinierten als dem Gewaltigen zuneigte. Schon in der Architektur dieser Zeit bemerkt man diesen Zug zur Verfeinerung. In England z.B. unterscheidet man geradezu zwischen dem reinen gotischen Stil der frühen Kathedralen und der späteren Entwicklung, indem man von einem >Zierstil< (Decorated
Style) spricht. Dieser Name ist wirklich charakteristisch für den Geschmackswandel. Die gotischen Baumeister des vierzehnten Jahrhunderts ließen es nicht bei den klaren, großzügigen Formen der frühen Kathedralen bewenden. Sie bewiesen gern ihre Geschicklichkeit an verfeinerten Zierraten und kompliziertem Maßwerk. Das Westfenster der Kathedrale von Exeter ist ein typisches Beispiel dieses Stils (Abb. 137){ Aber der Bau von Kirchen war nicht mehr die wesentlichste Aufgabe der Architekten. In den ständig wachsenden, blühenden Städten gab es einen großen Bedarf an Entwürfen für weltliche Bauwerke - für Rathäuser, Zunfthäuser, Schulgebäude, Stadtpaläste, Brücken und Stadttore. Eines der berühmtesten und charakteristischsten Gebäude dieser Art ist der Dogenpalast in Venedig (Abb. 138), der im vierzehnten Jahrhundert begonnen wurde, als Macht und Einfluss der Stadt ihren Höhepunkt erreicht hatten. Er beweist uns, dass die Abwandlung des gotischen Stils bei aller Freude an Schmuck und Maßwerk doch den Eindruck von Kraft und Größe vermitteln konnte. Für die Plastik des vierzehnten Jahrhunderts sind die steinernen Bildwerke, die weiterhin in großer Anzahl für Kirchenbauten verfertigt winden, vielleicht weniger charakteristisch als die kleineren Arbeiten aus Elfenbein oder Edelmetallen, in denen die Künsder dieser Zeit ihre Meisterschaft bewiesen. Abb. 139 zeigt eine Statuette der Heiligen Jungfrau aus vergoldetem Silber, das Werk eines französischen Goldschmiedes. Solche Arbeiten waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie hatten ihren Platz in einer Palastkapelle, wo die Stifterin fromme Andacht hielt. So sind sie auch nicht mehr als feierliche Künder der heiligen Wahrheiten gedacht, wie die Statuen der großen Kathedralen, sie sollen ans Gemüt und an die Fantasie der Gläubigen appellieren. Der Pariser Goldschmied stellte sich Maria wie eine wirkliche Mutter vor und Christus wie ein wirkliches kleines Kind, das mit der Hand der Mutter ins Gesicht greift. Er vermied es sorgfaltig, den Eindruck von Starrheit aufkommen zu lassen. Darum gab er der Gestalt den leichten Schwung - sie stützt ihren Arm auf die Hüfte,
um
das Kind zu halten, dem ihr Kopf zugeneigt ist. So biegt sich der
Körper sacht wie ein geschwungenes S, ein Motiv, an dem gotische Künsder dieser Zeit oft Gefallen fanden. Es mag wohl sein, dass der Meister dieser Statuette weder das Stellungsmotiv noch die spielerische Bewegung des Jesuskindes selbst erfunden hatte. In solchen Dingen folgte man gern der Mode. Seine Leistung lag vor allem in der vollendeten Ausführung jeder Einzelheit, der Schönheit der Hände, der Fältchen im Ellbogen des Kindes, der Sorgfalt in der Bearbeitimg von vergoldetem Silber und Email, und vor allem in den ausgewogenen Verhältnissen der Gestalt mit ihrem kleinen, anmutigen Kopf auf dem schlanken Körper. Einzelheiten wie die Falten, die über den rechten Arm fallen, beweisen die unendliche Sorgfalt, die der Meister aufgewandt hat, um das Linienspiel harmonisch zu gestalten. Man kann solchen Arbeiten nie gerecht werden, wenn man sie in einem Museum gerade nur mit dem Blick streift und weitergeht. Sie waren für wirkliche Kenner bestimmt und winden wie ein Schatz gehütet. Die Vorhebe der Maler des vierzehnten Jahrhunderts für das Anmutige und Zarte zeigt sich auch an den bekannten Miniaturhandschriften dieser Zeit, wie z.B. dem >Queen Mary s Psalter< aus England. Abb. 140 zeigt den zwölfjährigen Jesus im Tempel, der mit den Schriftgelehrten diskutiert. Man hat ihn auf einen hohen Sessel gesetzt, und er demonstriert gerade eine Glaubenswahrheit mit der charakteristischen Gebärde, die mittelalterliche Künsder verwendeten, wenn sie einen Lehrenden darstellen wollten. Die jüdischen Schriftgelehrten heben staunend und bewundernd die Hände, und die Geste wiederholt sich auch bei den Eltern Jesu, die gerade dazukommen und einander überrascht anblicken. Die Geschichte ist noch ein bisschen unbeholfen erzählt. Offenbar hat der Künsder noch nichts von Giottos Entdeckung gehört, wie man eine Szene lebenswahr darstellen kann. Christus, der ja damals nach der biblischen Erzählung zwölf Jahre alt war, wirkt winzig im Vergleich zu den Erwachsenen. Auch hat der Künsder nirgends versucht, den Raum zwischen den Gestalten anzudeuten. Alle Gesichter sind mehr oder weniger nach der
gleichen, einfachen Formel gezeichnet, mit gebogenen Augenbrauen, nach imten gezogenen Mundwinkeln und lockigem Bart und Haar. Umso überraschender ist es, auf derselben Seite unten eine andere Szene zu finden, die nichts mit dem heiligen Text zu tun hat, sondern aus dem damaligen Leben gegriffen ist. Es ist eine Entenjagd. Zur großen Freude des Jägers und der Jägerinnnen und des Burschen vor ihnen hat der Jagdfalke gerade eine Ente gepackt, während zwei andere davonfliegen. Wenn auch der Künstler keine wirklichen zwölfjährigen Buben angeschaut haben mag, als er die Szene im Tempel malte, so hat er sich bestimmt wirkliche Falken und Enten angesehen, bevor er die Szene unten am Rande zeichnete. Mag sein, dass er der biblischen Erzählung mit zu großer Ehrfurcht gegenüberstand, um dabei eine Beobachtung des wirklichen Lebens anzubringen. Er zog es vor, die zwei Welten zu trennen. In der Mitte die klare, symbolische Erzählungsweise mit ihren leicht lesbaren Gebärden, ohne Einzelheiten, die nur ablenken könnten, und am Rande ein Stück wirkliches Leben. Erst im weiteren Verlauf des vierzehnten Jahrhunderts wurden diese beiden Elemente, die anmutige Erzählungsweise und die sorgfaltige Naturbeobachtung, allmählich miteinander verschmolzen. Vielleicht wäre das nicht so bald geschehen, wenn sich der Einfluss der italienischen Kunst nicht ausgewirkt hätte. In Italien, besonders in Florenz, hatte ja die Kunst Giottos der Malerei ganz neue Aufgaben gestellt. Die alte byzantinische Manier wirkte plötzlich steif und unmodern. Und doch darf man sich nicht vorstellen, dass damit plötzlich eine Schranke zwischen der italienischen Kunst und der des übrigen Europa aufgerichtet war. Ganz im Gegenteil. Die Kunst Giottos gewann auch nördlich der Alpen Einfluss, während die Ideale der gotischen Maler des Nordens auch die südlichen Meister beeindruckten. Dieser Eindruck war besonders tief und nachhaltig in Siena, einer anderen toskanischen Stadt, der großen Rivalin von Florenz. Die sienesischen Maler hatten nicht so jäh mit der byzantinischen Überlieferung gebrochen, wie es Giotto getan hat. Der größte Maler Sienas aus Giottos Generation, Duccio
(etwa i2££/i26o-i3i£/i3i8), hatte erfolgreich versucht, den alten byzantinischen Schemen neues Leben einzuhauchen. Das Altarbild von Abb. 141 ist das Werk zweier jüngerer Meister seiner Schule, Simone Martini (i28s?-i344) und Lippo Memmi (gest. 1347?). Es zeigt uns, wie sehr die sienesische Kunst sich die Ideale und die Stimmung des vierzehnten Jahrhunderts zu eigen gemacht hat. Das Bild stellt die Verkündigung dar, den Augenblick, als der Erzengel Gabriel vom Himmel kommt, um die Jungfrau zu grüßen, und man kann die Worte, die er spricht, lesen: >Ave Maria, gratia plenaRömischen Reichs Deutscher Nationen< war. Im St.-Veits-Dom zu Prag gibt es eine wunderbare Reihe von Büsten aus dieser Zeit zwischen 1379 und 1386. Sie stellen Wohltäter der Kirche dar und dienen also einem ähnlichen Zweck wie die Naumburger Stifterfiguren (Abb. 130). Aber hier fühlen wir keinen Zweifel mehr: Das sind wirkliche Bildnisse. Denn in dieser Reihe gibt es Büsten von Zeitgenossen, darunter eine des leitenden Meisters der Prager Dombauhütte, Peter Parlers des Jüngeren (1330—1399), die aller Wahrscheinlichkeit nach das erste wirkliche Selbstbildnis eines Künstlers ist, das sich erhalten hat (Abb. 142). In der Zeit Karls IV. und seiner Nachfolger war Böhmen eines der Zentren, durch das sich der Einfluss von Italien und Frankreich weiter über Europa verbreitete. Eine Tochter Karls IV., Anna von Böhmen, war mit König Richard II. von England verheiratet, und England wieder unterhielt rege Handelsbeziehungen mit Flandern und Burgund. Europa, oder wenigstens das Europa, das zur römischen Kirche gehörte, war damals noch eine Einheit. Künstler und Ideen wanderten von Ort zu Ort und von Land zu Land, und niemand dachte auch nur daran, eine Leistimg abzulehnen, weil sie aus dem >Ausland< kam. Der Stil, der aus dieser allseitigen Befruchtung gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts entstand, wird deshalb von manchen Historikern der »internationale Stil< genannt, während andere ihn wegen seiner Vorliebe für das Zarte und Lyrische und für den ungebrochenen Schwung der Falten den >weichen Stil< nennen. Das sogenannte Diptychon von Wilton, das in England, möglicherweise von einem französischen Meister, um das Jahr 139^ gemalt wurde (Abb. 143), ist
ein typisches Beispiel für diesen Stil. Auch hier sehen wir wieder ein Bildnis, und zwar des unglücklichen Gemahls der Königin Anna von Böhmen, Richards II. Er ist dargestellt, wie er vor der Heiligen Jungfrau kniet, während Johannes der Täufer und zwei Heilige Fürbitte für ihn einlegen. Sie führen ihn dem Jesuskind vor, das sich mit einer Segensgebärde zu ihm hinneigt. Auch einige der Engel, die Maria umgeben, weisen auf den König, als wollten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Vielleicht wirkte in dieser Art Stifterbildnis noch etwas von der uralten magischen Einstellung dem Bildnis gegenüber nach von dem Glauben, der einst an der Wiege der Kunst stand. Denn wer vermag zu sagen, ob es für den Stifter nicht auch eine Beruhigung war, zu wissen, dass, während er draußen in der rauen Wirklichkeit zu kämpfen hatte, ein Stück von ihm, sein Ebenbild, in einer Kirche weilte und nie zu beten aufhörte? Die Verwandtschaft zwischen dem Diptychon von Wilton und den anderen Denkmälern des vierzehnten Jahrhunderts springt in die Augen. Es ist dieselbe Freude an schön geschwungenen Linien und an zarten, heiteren Motiven. Die vorsichtige Gebärde, mit der Maria nach dem Fuß des Jesuskindes greift, und die Gesten der Engel mit ihren langen, schmalen Händen erinnern uns an Werke, die wir zuvor betrachtet haben. Wieder zeigt sich die Geschicklichkeit des Meisters in der Darstellung der Verkürzung - z.B. in der Stellung des knienden Engels in der linken Ecke des Bildes - und seine Freude an Naturstudien, die in den vielen im Paradies seiner Fantasie blühenden Blumen zum Ausdruck kommt. Die Künstler des >weichen Stils< zeigten dieselbe Beobachtungsgabe und dasselbe Entzücken an zarten und gefalligeren Einzelheiten, wenn sie Bilder aus dem Leben ihrer Zeit darstellten. Es war im Mittelalter üblich geworden, Kalender mit Darstellungen der wechselnden Szenen des Jahresablaufs, dem Säen, Jagen und Ernten, zu schmücken. Ein solcher Bilderzyklus aus einem prachtvollen Gebetbuch, das der reiche Herzog von Bayern in Burgund bei den Brüdern Limburg in Auftrag gegeben hatte (Abb. 144), beweist, wie
sich die Naturbeobachtung seit der Zeit des Psalters der Queen Mary (Abb, 140) noch verfeinert hatte. Die Miniatur stellt das jährliche Frühlingsfest der Höflinge dar. Sie reiten in bunter Festgev/andung, mit Laub- und Blumenkränzen geschmückt, durch den Wald. Man fühlt, mit welchem Vergnügen der Künstler diese hübschen Mädchen in ihren modischen Gewändern und all das fröhliche Treiben festgehalten hat. Man kann geradezu die verschiedenen Typen erkennen und glaubt ihre fein gedrechselten Reden zu hören. Wahrscheinlich wurde eine solche Miniatur mit dem Vergrößerungsglas gemalt, und vielleicht sollte man sie auch so betrachten. All die bunten Einzelheiten, die der Künsder zusammengetragen hat, schließen sich zu einem Bild zusammen, das beinahe wie eine Szene aus der Wirklichkeit aussieht. Beinahe, nicht ganz; wenn wir bemerken, wie der Künstler den Hintergrund durch eine Art Vorhang von Bäumen abgeschlossen hat, hinter dem die Dächer und Türme eines Schlosses sichtbar werden, wird uns vielleicht klar, dass von einem wirklichen Naturausschnitt keine Rede ist. Sein Stil hat sich so weit von der symbolischen Erzählungsweise des frühen Mittelalters entfernt, dass man sich nicht leicht darüber Rechenschaft gibt, dass auch er die Tiefendimension nicht darstellen kann und dass er die Illusion der Lebenstreue vor allem durch die sorgfaltige Einzelbeobachtung erzielt. Auch seine Bäume sind noch keine wirklichen Bäume, nach der Natur gezeichnet, sondern eher eine Reihe schematischer Formeln, und selbst seine Gesichter sind mehr oder weniger aus solchen Formeln entwickelt. Und doch beweist sein Interesse an der Pracht und dem festlichen Leben, das sich um ihn abspielte, dass für ihn die Malerei einen ganz anderen Zweck hatte als für den Meister des frühen Mittelalters. Allmählich hatte sich das Interesse verlagert. Man fragte sich nicht so sehr, wie die heilige Geschichte so klar und eindringlich wie möglich zu erzählen sein könnte, sondern mit welchen Mitteln ein Naturausschnitt so treu wie möglich abgebildet werden könnte. Wir haben gesehen, dass diese beiden Absichten nicht miteinander in Widerspruch stehen müssen. Es war gewiss möglich, die neu
erworbene Kunst der Natur in den Dienst religiöser Kunst zu stellen, und den Meistern des vierzehnten Jahrhunderts kam sicher auch nichts anderes in den Sinn. Und doch stand der Künsder nun einer anderen Aufgabe gegenüber. Früher hatte es genügt, wenn er die alten Formeln für die Darstellung der wichtigsten Gestalten der heiligen Erzählungen erlernte und seine Kenntnisse in ständig neuen Variationen anzuwenden verstand. Von nun an konnte man kein Künstler werden, wenn man nicht gelernt hatte, wie man Studien nach der Natur macht und sie im Bilde verwendet. Damals begannen Künsder Skizzenbücher anzulegen und systematisch Studien nach seltenen Pflanzen und Tieren zu sammeln. Bei Matthew Paris (Abb. 132) war so etwas noch eine Ausnahme. Nun wurde es bald die Regel. Eine Zeichnung wie die des oberitalienischen Künsders Antonio Pisanello
(I397~I45S?)> die kaum zwanzig Jahre nach der Miniatur der Brüder Limburg entstanden sein mag, zeigt, wie diese Gewohnheit die Künstler dazu brachte, ein lebendiges Tier mit Interesse und Liebe zu studieren. Auch das Publikum begann Kunstwerke danach zu beurteilen, wie getreu sie die Natur nachahmten und wie viele Details aus der bunten Wirklichkeit im Bilde zusammengetragen waren. Die Künsder selbst wollten noch weitergehen. Ihnen genügte ihre neue Fertigkeit in der Darstellung einzelner Blumen oder Tiere nicht mehr. Sie wollten die Gesetze des Sehens erforschen und eine derartige Kenntnis des menschlichen Körpers erwerben, dass sie ihn so aufbauen konnten, wie es die Griechen und Römer getan hatten. Mit diesem neuen Ziel war die mittelalterliche Kunst eigentlich zu Ende. Wir kommen zu der Zeit, die man gewöhnlich die Renaissance nennt.
Die
Eroberung
der Wirklichkeit Das frühe 15. Jahrhundert
Das Wort >Renaissance< bedeutet Wiedergeburt oder Wiederbelebung. Die Idee einer solchen Wiedergeburt hatte in Italien seit der Zeit Giottos immer mehr an Anziehungskraft gewonnen. Wenn man damals einen Dichter oder Maler loben wollte, so sagte man gern, dass seine Werke so gut seien wie die der alten Griechen und Römer. Giotto selbst wurde als Meister gepriesen, der die Kunst wieder zum Leben erweckt hatte. Man meinte damit, dass seine Werke so gut seien wie die der berühmten Maler, die man in den Schriften der griechischen und römischen Klassiker gepriesen fand. An sich ist es nicht merkwürdig, dass dieser Gedanke in Italien Anklang fand. Die Italiener hatten nie ganz vergessen, dass einst, in grauer Vergangenheit, Italien mit seiner Hauptstadt Rom das Zentrum der Kulturwelt gewesen war, um dessen Macht und Ruhm es geschehen war, als die germanischen Stämme, die Goten und Vandalen, ins Land einfielen und dem römischen Weltreich ein Ende setzten. So war die Idee des >Auflebens< bei den Italienern aufs Engste mit dem Glauben an die Wiedergeburt von Roms verschwundener Pracht verbunden. Den Zeitraum zwischen der Antike, auf die sie mit Stolz zurückblickten, und der Ära der Wiedergeburt, auf die sie hofften, betrachteten sie als ein bloßes Zwischenspiel, eine >ZwischenzeitMittelalter< war, eine Ausdrucksweise, die wir ja noch immer verwenden. Da die Italiener den Goten die Schuld am Sturz des Römischen Reiches gaben, begannen sie die Kunst der Zwischenzeit als >gotisch< zu bezeichnen, was in ihren Augen so viel wie barbarisch hieß - ungefähr so, wie wir von Vandalismus sprechen, wenn wir sinnlose Zerstörung kennzeichnen wollen. Wir wissen heute, dass diese Vorstellungen der Italiener sehr wenig mit der Wirklichkeit gemein hatten. Im besten Fall waren sie eine äußerst grobe und vereinfachte Formel für den wirklichen Verlauf der Dinge. Wir wissen, dass der Stil, den wir heute >gotisch< nennen, etwa siebenhundert Jahre nach dem Untergang der Goten
entstanden ist. Auch wissen wir, dass es nach den Stürmen der Völkerwanclerungszeit allmählich zu einem Aufleben der Kunst kam Und dass gerade die Gotik an diesem Aufleben den größten Anteil
hatte. Vielleicht können wir aber auch die Gründe dafür verstehen, warum den Italienern diese allmähliche Entfaltung der Kunst weniger bewusst war als den Völkern des Nordens. Wir haben ja gesehen, dass sie während eines Teils des Mittelalters hinter den anderen zurückblieben, sodass die Entdeckung Giottos auf sie wie eine ungeheure Neuerung wirkte, eine wahre Wiedergeburt alles Großen und Edlen in der Kunst. Die Italiener des vierzehnten Jahrhunderts glaubten also, dass Kunst und Wissenschaft in der Antike geblüht hatten, dass all dies von den nordischen Barbaren beinahe zerstört worden war und dass es nun ihre Aufgabe sei, diese große Vergangenheit wieder zu beleben und dadurch ein neues Zeitalter heraufzuführen. In keiner anderen Stadt war die Stimmimg von Zukunftsglauben und Selbstbewusstsein so ausgeprägt wie in der reichen Handels1 Stadt Florenz, der Stadt Dantes und Giottos. Dort war es auch, wo im ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts eine Reihe von Künsdern daranging, eine neue Kunst zu schaffen. Das führende Mitglied dieser Gruppe junger Florentiner Künstler war ein Architekt, Filippo Brunelleschi (1377—1446). ß r u ~ nelleschi war am Bau des Doms von Florenz beschäftigt, der damals gerade fertig gestellt wurde. Es war eine gotische Kathedrale, und Brunelleschi beherrschte die Technik, die zur gotischen Überlieferung gehörte, vollkommen. Sein Ruhm beruht sogar zum Teil auf einer Leistung im Wölbungsbau, die ohne diese Kenntnisse der gotischen Methoden vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Die Florentiner wollten ihren Dom mit einer mächtigen Kuppel krönen, aber kein Meister vermochte den gewaltigen Abstand zwischen den Pfeilern zu überbrücken, bis Brunelleschi Mittel und Wege fand, die Konstruktion einer Kuppel dort durchzuführen (Abb. 146). Aber als Brunelleschi Aufträge erhielt, neue Kirchen oder andere Gebäude zu entwerfen, beschloss er, sich von der stilistischen Überlieferung loszusagen und
sich das Programm derer zu eigen zu machen, die sich nach der Wiederkunft der römischen Größe sehnten. Es heißt, dass er nach Rom reiste, die Ruinen von Tempeln und Palästen studierte und sich ihre Maße und Ornamente notierte. Gewiss hatte er nicht die Absicht, diese antiken Gebäude genau zu kopieren. Es wäre kaum möglich gewesen, sie den Bedürfnissen der Florentiner des fünfzehnten Jahrhunderts anzupassen. Er wollte eine neue Architektur schaffen, in der die Elemente der klassischen Baukunst frei in neuer Schönheit und Harmonie verwendet werden konnten. Das Erstaunlichste an Brunelleschis Leistung ist, dass es ihm resdos gelang, dieses Programm Wirklichkeit werden zu lassen. Und ein halbes Jahrtausend lang sind die Architekten Europas und Amerikas in seine Fußstapfen getreten. Man kann in keine Stadt und kein Dorf gehen, ohne Bauten zu finden, an denen antike Formen, Säulen, Giebel oder Friese verwendet werden. Erst in diesem Jahrhundert wurde Brunelleschis Programm von einigen Architekten infrage gestellt, die gegen die Tradition der Renaissance in der Baukunst revoltierten, so wie er einst gegen die gotische Tradition revoltiert hatte. Aber auch wenn sie keine Säulen oder ähnliche Verzierungen haben, weisen die meisten Häuser, die heute gebaut werden, doch noch Überreste klassischer Form auf, z.B. in den Profilen der Tür- und Fensterrahmen und in den Verhältnissen der Fassade. War es Brunelleschis Absicht, die Baukunst eines ganzen Zeitalters zu schaffen, so ist ihm das gelungen. Abb. 147 zeigt die Fassade einer kleinen Kirche, die Brunelleschi für die mächtige Florentiner Familie der Pazzi entwarf. Man sieht gleich, dass sie nicht viel mit einem antiken Tempel gemein hat, aber noch weniger mit den Formen, die die gotischen Baumeister verwendeten. Brunelleschi schuf aus Säulen, Pilastern und Bögen ein neues Ganzes, von einer Leichtigkeit und Grazie, die diesen Bau von allem unterscheidet, was vorangegangen war. Einzelheiten, wie z.B. der Türrahmen mit seiner antiken Giebelform, beweisen, wie sorgfaltig Brunelleschi die römischen Bauten studiert hatte (z.B. das
Pantheon, Abb. 75). Das zeigt sich noch deutlicher im Innern der Kapelle (Abb. 148). In diesem hellen Raum mit seinen klaren Maßverhaltnissen erinnert nichts an die Züge, die dem gotischen Baumeister so wichtig waren. Da gibt es keine hohen Fenster oder schlanken Pfeiler. Die weiße Fläche der Wand ist durch graue Pilaster (flache Halbsäulen) gegliedert, die die Vorstellung von einer antiken Säulenordnung vermitteln, obwohl ihnen konstruktiv gar keine Bedeutung zukommt. Brunelleschi hat sie nur angebracht, um die Wand zu gliedern und die Proportionen des Innern klar zur Geltung zu bringen. Brunelleschi war nicht nur der Erfinder der Renaissance-Architektur. Es scheint, dass wir ihm eine weitere Erfindung verdanken, die ebenfalls die Kunst der folgenden Jahrhunderte beherrschte. Es ist die Erfindung der Perspektive. Wir erinnern uns, dass selbst die Griechen, die die Verkürzimg verstanden, und die hellenistischen Maler, die großes Geschick in der Erzeugung einer Illusion der Tiefendimension besaßen (Abb. 72), die mathematischen Gesetze nicht kannten, nach denen sich die Dinge mit wachsender Entfernimg verjüngen. Wir wissen, dass kein antiker Künsder jene Pappelallee hätte zeichnen können, die ins Bild hineinfuhrt, bis sie am Horizont verschwindet. Erst Brunelleschi gab Künstlern die mathematischen Hilfsmittel in die Hand, dieses Problem zu lösen, und die Aufregimg, mit der seine Malerfreunde die Erfindung begrüßten, muss ungeheuer gewesen sein. Abb. 149 zeigt eines der ersten Gemälde, das nach diesen mathematischen Regeln konstruiert ist. Es ist ein Wandgemälde in einer Florentiner Kirche und stellt die Heilige Dreifaltigkeit mit Maria und Johannes unter dem Kreuz dar, die von zwei Stiftern angebetet wird, einem älteren Kaufmann und seiner Frau, die außerhalb knien. Der Maler dieses Freskos hieß Masaccio (1401-1428), was ungefähr so viel bedeutet wie >plumperThomasweichen< Stils erwartet hatten, der in Florenz nicht weniger Mode war als überall sonst in Europa, dann mögen sie zuerst enttäuscht gewesen sein. Statt graziöser Schlankheit sahen sie wuchtige Gestalten; statt leicht geschwungener Linien feste, eckige Formen; und statt hübscher Einzelheiten wie Blumen und Edelsteine ein kahles Grab mit einem Skelett. Aber wenn Masaccios Bild auch vielleicht weniger gefallig wirkte als die Gemälde, die sie gewohnt waren, so war es umso erschütternder. Man sieht, dass Masaccio die dramatische Größe Giottos bewunderte, obwohl er ihn nicht nachahmte. Die .schlichte Gebärde» mit der Maria auf ihren gekreuzigten Sohn hinweist, ist so beredt und eindrucksvoll, weil sie die einzige Bewegung in dem ganzen feierlichen Gemälde ist. Seine Gestalten wirken geradezu wie Statuen. Vor allem anderen ging es Masaccio um diesen Effekt, als er seine Figuren in den neuen perspektivischen Rahmen stellte. Es scheint uns, als könnten wir sie fast berühren, und dieses Gefühl bringt uns die Figuren und ihre Botschaft näher. Für die großen Renaissance-Meister waren die neuen Techniken und Entdeckungen niemals Selbstzweck. Sie setzten sie stets ein, damit wir die Bedeutimg ihrer Themen noch besser verstehen. Der größte Bildhauer aus Brunelleschis Zeit war der Florentiner Meister Donatello (1386?-1466). Er war um etwa fünfzehn Jahre älter als Masaccio, hat ihn aber lange überlebt. Abb. 157 zeigt eines seiner Jugendwerke. Der Auftrag kam von der Zunft der Harnischmacher: ihr Schutzpatron, der heilige Georg, sollte dargestellt werden. Es war für eine Nische an Or San Michele, einer Florentiner Kirche, bestimmt. Wir brauchen nur an die gotischen Bildwerke der großen Kathedralen zurückzudenken (Abb. 127), um zu ermessen,
wie vollständig Donatello mit der Vergangenheit gebrochen hat. Diese gotischen Statuen schweben an den Seiten der Kirchenportale in ruhig-feierlichen Reihen wie Wesen aus einer anderen Welt. Donatellos heiliger Georg steht fest auf dem Boden, beide Füße auf die Erde gepflanzt, als wäre er entschlossen, keinen Schritt zu weichen. Sein Ausdruck hat nichts von der unpersönlichen verklärten Schönheit mittelalterlicher Heiliger - hier ist alles konzentrierte Energie (Abb. 150). Man kann sich vorstellen, dass er dem Drachen gefasst entgegenblickt, die Hände am Schild, ein Bild trotziger Entschlossenheit. Die Statue blieb immer berühmt als die unübertroffene Verkörperung jugendlichen Mutes. Aber wir müssen nicht nur die Erfindungsgabe bewundern, mit der Donatello die Gestalt des ritterlichen Heiligen in so unkonventioneller Weise vor uns hinstellt. Seine ganze Auffassung der Bildhauerei war neu. Obwohl die Gestalt so bewegt und lebendig wirkt, steht die Statue doch so klar und fest umrissen vor uns wie ein Felsblock. So wie Masaccio in seinen Gemälden, wollte auch Donatello in der Plastik die verfeinerte Zartheit seiner Vorgänger durch eine neue und kraftvolle Naturbeobachtung ersetzen. Einzelheiten wie die Hände oder die Brauen des Heiligen beweisen, dass er sich von den überlieferten Formen ganz frei gemacht hat. Man sieht, dass er den menschlichen Körper am lebenden Modell studierte. Die Florentiner Meister am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts gaben sich nicht mehr damit zufrieden, die alten Formeln der mittelalterlichen Kunst zu wiederholen. So wie die Griechen und Römer, denen ihre Bewunderung galt, begannen auch sie in ihren Ateliers und Werkstätten den menschlichen Körper zu studieren und Modelle, meist Werkstattgenossen, zu bitten, ihnen eine bestimmte Stellung vorzuführen. Es sind diese neue Methode und dieses neue Interesse, die Donatellos Werk so außerordentlich überzeugend machen. Donatello erwarb zu seinen Lebzeiten großen Ruhm. So wie Giotto ein Jahrhundert früher, winde er häufig nach anderen italienischen Städten berufen, um zu ihrem Ruhm und ihrer Schönheit beizutragen. Abb. 152 zeigt ein Bronzerelief, das er für ein Taufbecken
in Siena ungefähr zehn Jahre nach dem heiligen Georg fertig stellte. So wie das mittelalterliche Taufbecken von Abb. 118 stellt er eine Szene aus der Legende Johannes des Täufers dar. Es ist der schauerliche Augenblick, in dem Salome, die Tochter des Königs Herodes, als Lohn für ihren Tanz das Haupt des Johannes erhält. Wir blicken in die königliche Banketthalle und sehen dahinter die Musiker auf ihrer Galerie und eine weitere Flucht von Gemächern. Der Henker ist soeben eingetreten und vor dem König niedergekniet, das Haupt des Heiligen auf einer Schüssel. Der König schrickt zurück und erhebt wie abwehrend die Hände, Kinder schreien auf und laufen davon, Salomes Mutter, die Anstifter in des Verbrechens, redet auf den König ein. Eine große Leere hat sich um sie gebildet, da die Gäste vor Grauen zurückgewichen sind. Einer von ihnen bedeckt die Augen mit der Hand, andere drängen sich um Salome, die gerade im Tanzen innezuhalten scheint. Man braucht nicht lange zu erklären, was in einem solchen Werk von Donatello neu war. Alles war neu. Auf ein Publikum, das an die klare und anmutige Erzählweise der Gotik gewöhnt war, muss Donatellos Kunst wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben. Er hatte es nicht darauf abgesehen, seine Gestalten gefallig und harmonisch anzuordnen, er wollte den dramatischen Moment äußerster Verwirrung darstellen. Donatellos Gestalten sind eckig und scharf in den Bewegungen wie die des Masaccio. Ihre Gebärden sind wild, und er versucht nirgends, das Grauen der Erzählung zu mildern. Den Zeitgenossen muss diese Darstellung unheimlich lebendig vorgekommen sein. Die neue Kunst der Perspektive trägt noch zu dieser Illusion der Wirklichkeit bei. Donatello muss damit begonnen haben, sich zu fragen: >Wie sah es wohl aus, als der Kopf des Heiligen in den Saal getragen wurde?< Er tat sein Bestes, einen römischen Palast darzustellen, dem ähnlich, in dem sich das Ereignis abgespielt haben mochte, und er wählte auch römische lypen für die Gestalten des Hintergrundes (Abb. 153). Man sieht deudich, dass Donatello wie sein Freund Brunelleschi damals mit dem systematischen Studiinn römischer
Denkmäler begonnen hatte, weil er glaubte, dass dieses Studiinn zu einer Wiedergeburt der Kunst führen würde. Und doch ist es unrichtig, zu glauben, dass diese Beschäftigung mit griechischer und römischer Kunst die Wiedergeburt oder Renaissance veranlasst hätte. Es war eher umgekehrt: Die Künstler aus Brunelleschis Kreis ersehnten die Wiedergeburt der Kunst so leidenschaftlich, dass sie das wissenschaftliche Studium der Natur und des Altertums zu Hilfe riefen. Die wissenschaftlichen Studien und die Vertrautheit mit der antiken Kunst blieben eine Zeit lang auf die italienischen Künstler der Renaissance beschränkt. Aber der leidenschaftliche Wille, eine neue Kunst von nie da gewesener Naturwahrheit zu schaffen, erfüllte die Künstler dieses Zeitalters auch nördlich der Alpen. Genau wie die Generation Donatellos in Florenz der Überfeiner ung des >weichen< Stils müde war und sich nach kräftigeren Gestalten, sehnte, so trat auch im Norden ein Bildhauer auf, dessen Kunst lebensvoller und unkomplizierter war als der überzarte Stil seiner Vorläufer. Dieser Bildhauer war Claus Sluter, der von ungefähr 1380 bis 1405 in Dijon tätig war, der damaligen Hauptstadt des wohlhabenden und mächtigen Herzogtums Burgund. Seine berühmteste Arbeit ist eine Prophetengruppe, die einst den Sockel des Kruzifixes bildete, das sich über einem Brunnen in einem beliebten Wallfahrtsort erhob (Abb. 154). Nach der kirchlichen Auslegung waren es die Propheten, deren Worte die Passion vorher verkündet hatten. Darum hält jeder ein Buch oder eine Schriftrolle in der Hand, auf denen die betreffende Textstelle zu lesen steht, und scheint die kommende Tragödie im Geiste zu schauen. Auch das sind nicht mehr die feierlich-strengen Gestalten, die einst die gotischen Portale flankierten (Abb. 127). Sie unterscheiden sich von der Kathedralsplastik nicht weniger als Donatellos heiliger Georg. Der Mann mit dem Turban ist Daniel, der Kahlkopf Jesaja. Diese überlebensgroßen Gestalten, die noch Spuren der alten Gold- und Farbenpracht aufweisen, wirken so, als träten sie gerade auf die Bühne eines mittelalterlichen Mysterienspiels, um ihre Rolle aufzusagen.
Tatsächlich begannen auch die alten Passionsspiele meist mit dem Erscheinen der Propheten. Und doch darf man über dieser frappanten Naturtreue nicht die künstlerische Kraft vergessen, mit der Sluter diese wuchtigen Gestalten ins Leben gerufen hat, noch die Würde ihrer Erscheinung, die er durch den feierlichen Wurf der Falten zu erhöhen wusste. Die endgültige Eroberung der Wirklichkeit in der Kunst des Nordens war aber nicht der Bildhauerei vorbehalten. Der Meister, dessen innwälzende Entdeckungen gleich von allem Anfang an als etwas ganz Neues empfunden wurden, war der Maler Jan van Eyck (i390?-i44i). So wie Sluter stand auch er mit dem Hof der Herzöge von Burgund in Beziehimg, aber er wirkte meist in dem Teil der Niederlande, der heute Belgien heißt. Sein berühmtestes Werk ist ein gewaltiger Flügelaltar in Gent (Abb. 155 u. 156). Er soll von Jans älterem Bruder Hubert, über den sonst fast nichts bekannt ist, begonnen worden sein und wurde von Jan im Jahre 1432 fertig gestellt, d. h., er entstand genau in den Jahren, in denen auch die oben beschriebenen Werke des Masaccio und Donatello vollendet wurden. Ungeachtet offensichtlicher Unterschiede gibt es zwischen Masaccios Fresko in Florenz (Abb. 149) und diesem Altar, der für eine Kirche im fernen Flandern gemalt wurde, eine Reihe von Ähnlichkeiten. Beide zeigen seitlich den frommen Stifter und seine Frau im Gebet (Abb. 1 5 5 ) , beide konzentrieren sich auf ein großes symbolisches Bild - das Fresko auf das der Heiligen Dreifaltigkeit, das Altarbild auf die mystische Vision der Anbetung des Lammes, das natürlich Christus symbolisiert (Abb. 1561| Die Komposition beruht im Wesentlichen auf einem Abschnitt der Offenbarung des Johannes, 7,9: >Danach sah ich... eine große Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen vor dem Thron stehend und vor dem Lamm.< Diese Textstelle bringt die Kirche mit dem Allerheiligenfest in Verbindung, auf das im Gemälde mehrfach angespielt wird. Im oberen Bildteil sehen wir Gottvater, ebenso majestätisch wie bei Masaccio, aber einem Papst gleich in
Pracht thronend, zwischen der Heiligen Jungfrau und Johannes dem Täufer, der als Erster Christus als Lamm Gottes bezeichnete. Der Altar mit seinen vielen Darstellungen konnte, wie unsere Falttafel (Abb. 156), offen gezeigt werden. Dies geschah an Feiertagen, dann waren seine glühenden Farben zu sehen, wochentags blieb er geschlossen und sah nüchterner aus (Abb. 155). Hier bildet der Künsder Johannes den Täufer und Johannes den Evangelisten als Statuen ab, ganz so, wie Giotto die Gestalten der Tugenden und Laster in der Arena-Kapelle dargestellt hatte (Abb. 134). Oben zeigt uns van Eyck die bekannte Verkündigungsszene, und wir müssen nur auf das wunderbare Altarbild von Simone Martini und Lippo Merami zurückblicken, das hundert Jahre früher entstanden war (Abb. 141), um einen ersten Eindruck zu bekommen, auf welch ganz und gar neuartige und sachliche Art sich van Eyck der heiligen Geschichte nähert. Doch erst auf den Innenflügeln zeigt er seine völlig unbestechliche Einstellung zur Wirklichkeit: Adam und Eva nach dem Sündenfall. Die Bibel berichtet, erst nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, hätten sie erkannt, dass sie nackt waren. Und sie wirken wahrlich splitternackt, trotz der Feigenblätter, die sie in Händen halten. Hier sind keinerlei Parallelen mehr zu den italienischen Künsdern der Frührenaissance, die die Traditionen der griechischen und römischen Kunst nie völlig aufgaben. Wir erinnern uns, dass die Meister der Antike die menschliche Gestalt in Werken wie dem Apollo von Belvedere oder der Venus von Milo (Abb. 64, 65) >idealisiert< hatten. Davon wollte Jan van Eyck nichts wissen. Er hat offenbar nackte Modelle vor sich hingestellt und mit solcher Detailtreue gemalt, dass spätere Generationen von so viel Ehrlichkeit etwas schockiert waren. Das heißt nicht, dass er kein Auge für Schönheit gehabt hätte. Er beschwor die Pracht des Himmels offensichtlich mit ebenso viel Vergnügen, wie der Meister des Wilton-Diptychons (Abb. 143) es eine Generation zuvor getan hatte. Aber betrachten wir nochmals den Unterschied, die Geduld und die Meisterschaft, mit denen er den Glanz der kostbaren Brokate studierte und malte, die die musizierenden Engel tragen, und das Funkeln
des Schmucks überall. Hierin brachen die van Eycks nicht so radikal mit der Tradition des internationalen Stils wie Masaccio, sondern folgten vielmehr den Methoden von Künsdern wie den Brüdern Limburg und brachten sie zu solcher Vollendung, dass er die mittelalterliche Kunst weit hinter sich ließ. Die Brüder Limburg und die anderen gotischen Meister belebten die Bilder gern mit einer Unzahl von Einzelheiten, die sie der Natur entnommen hatten. Sie setzten ihren Stolz darein, Blumen und Tiere, Gebäude, Prunkgewänder und Schmuck zur Augenweide in ihren Bildern auszubreiten. Die naturgetreue Darstellung der Gestalten und der Landschaft lag ihnen weniger am Herzen, und so nahmen sie es mit richtiger Zeichnung oder gar mit Perspektive nicht so genau. Von den Bildern des Jan van Eyck kann man das nicht mehr sagen. Seine Naturbeobachtung ist noch eingehender und seine Detailkenntnis noch exakter. Am einfachsten lässt sich dieser Unterschied an den Bäumen und Gebäuden des Hintergrundes zeigen. Wir erinnern uns, dass die Bäume der Brüder Limburg eher schematisch waren (Abb. 144). Ihre Landschaft wirkte mehr wie eine Kuhsse oder eine Tapisserie. All dies ist ganz anders im Bild van Eycks. Im Ausschnitt (Abb. 157) gibt es wirkliche Bäume und eine wirkliche Landschaft, die weit in den Hintergrund zu der Stadt und dem Schloss am Horizont führt. Die unglaubliche Geduld, mit der er jeden Grashalm auf den Felsen und jede Blume in den Felsspalten gemalt hat, ist gänzlich verschieden von der ornamentalen Baumreihe bei den Limburgs. Was für die Landschaft gilt, gilt auch für die Figuren. Van Eyck scheint so darauf erpicht gewesen zu sein jede winzige Einzelheit nachzubilden, dass man gerade meint, man könnte die Haare in den Mähnen oder im Pelzbesatz der Kostüme zählen. Der Schimmel auf der Limburg-Miniatur wirkt ein bisschen wie ein Schaukelpferd, der des van Eyck ähnelt ihm in Form und Bewegimg, aber er lebt. Man sieht die Glanzlichter in seinen Augen und die Falten in seiner Haut, und während das Pferd der Limburgs flach wirkt, wirkt das des van Eyck plastisch, denn sein Körper ist in Licht und Schatten modelliert.
Es mag kleinlich scheinen, n a c h all diesen Einzelheiten Ausschau zu halten und einen großen Künsder um der G e d u l d w i l l e n zu loben, mit der er die Natur beobachtet u n d nachgebildet hat. Gewiss wäre es falsch, die Miniatur der Brüder Limburg oder i r g e n d e i n anderes Bild deshalb geringer zu achten, w e i l sie die Natur nicht so getreulich widerspiegeln. Aber m a n kann die E n t w i c k l u n g der Kirnst im Norden nicht verstehen, ohne die unglaubliche Sorgfalt u n d Geduld des Jan van Eyck von Grund auf zu w ü r d i g e n . D i e damaligen Meister im Süden, die Florentiner Künstler aus d e m Kreise Brunelleschis, hatten Methoden entwickelt, mittels derer die Natur m i t beinahe wissenschaftlicher Genauigkeit im Bilde dargestellt w e r d e n konnte. Sie begannen die Wiedergabe des Raumes m i t der Konstruktion des perspektivischen Liniengerüstes, u n d ihre Kenntnis der Anatomie und der Gesetze der Verkürzung verhalf ihnen dazu, das Bild des menschlichen Körpers von innen her aufzubauen. Van Eyck g i n g den entgegengesetzten Weg. Er erzielte die Illusion der W i r k h c h k e i t durch ein geduldiges Nebeneinandersetzen v o n Einzelheit um Einzelheit, bis sein Bild z u m Spiegel der sichtbaren Welt w u r d e . Dieser Unterschied in dem Verfahren der Künsder des Nordens u n d jener Italiens blieb auch weiterhin von großer Bedeutung. Gemälde, die die schöne Oberfläche der Dinge, Blumen, Juwelen und Stoffe, meisterhaft w i e dergeben, kann man in der Regel einem nordischen, höchstwahrscheinlich niederländischen Künstler zuschreiben, w ä h r e n d Bilder mit klaren Umrissen, einer überzeugenden Perspektive u n d voller Beherrs c h u n g der Darstellung schöner Körper g e w ö h n l i c h italienisch sind. Um seine Absicht, der Natur einen Spiegel vorzuhalten, vollends zu verwirklichen, musste Jan van Eyck die Technik der Malerei verbessern. Er w u r d e z u m Erfinder der Ölmalerei. M a n hat viel darüber diskutiert, ob dies ganz wörtlich zu n e h m e n ist, aber eigentlich k o m m t es nicht allzu sehr darauf an. Hier handelte es sich ja nicht um eine wirkliche Erfindimg w i e die der Perspektive, d u r c h die etwas völlig Neues in die Welt trat. Was m a n van Eyck zuschreibt, ist ein neues Rezept für das Anreiben v o n Farben, bevor sie a uf die Tafel
aufgetragen w e r d e n . D i e d a m a l i g e n Maler k a u f t e n j a k e i n e f e r t i g e n Farben in T u b e n o d e r D o s e n . Sie m u s s t e n sic h ihre Farbstoffe selbst bereiten, u n d z w a r m e i s t aus Pflanzen u n d f a r b i g e n M i n e r a l i e n . Sie mussten diese z w i s c h e n z w e i Steinen zu Pulver z e r r e i b e n — falls das nicht d i e L e h r l i n g e b e s o r g t e n — , u n d v o r d e m G e b r a u c h v e r r ü h r t e n sie dann das Pulver m i t einer Flüssigkeit zu einer Art Brei. Es g a b da verschiedene M e t h o d e n , aber w ä h r e n d des g a n z e n Mittelalters w a r der Hauptbestandteil der Flüssigkeit ein rohes Ei, das n u r d e n N a c h teil hatte, e i n w e n i g r asch einzutrocknen. Diese M a l w e i s e n e n n t m a n Tempera. Es s chei nt n u n , dass Jan v a n Eyck dieses Rezept n i c h t z u s a g te, da es i h m n i c h t e r m ö g l i c h t e , die Farben ineinander zu arbeiten. W e n n er Öl statt Ei als Bindemittel verwendete, k o n n t e er v i e l l a n g samer u n d g e n a u e r arbeiten. Er k o n n t e durchsichtige Farben e r z i e l e n u n d sie in S c h i c h t e n übereinander legen, er konnte die Glanzlichter mit e i n e m f e i n gespitzten Pinsel aufsetzen u n d so jene W u n d e r w e r k e an Natur treue schaffen, die seine Zeitgenössen in Erstaunen setzten u n d bald d a z u f ü h r t e n , dass die Technik der Ölmalerei a l l g e m e i n a u f genommen wurde. Vielleicht der größte T r i u m p h der Kirnst des v a n Eyck sind seine Bildnisse. Eines der berühmtesten ist das Bildnis des g e n u e sischen K a u f m a n n s Giovanni Arnolfini, der geschäftlich in d e n Niederlanden weilte, u n d seiner Braut Jeanne de Chenany (Abb. 15S). In seiner Art ist es eben so n e u u n d u m w ä l z e n d w i e die W e r k e des Donatello u n d Masaccio in Italien. Ein schlichtes Eckchen W i r k l i c h k e i t war plötzlich w i e d u r c h Zauberkraft auf ein Bild gebannt. Da sah m a n nun alles, d e n Teppich u n d die Holzpantoffeln, d e n Rosenkr anz an der W a n d u n d die kleine Bürste, die am Bettgestell hängt, das O b s t am Fensterbrett u n d die Butzenscheiben im Fenster. M a n k a n n d i e Arnolfinis ger adezu in i h r e m H e i m besuchen. Das Bild stellt w a h r scheinlich e i n e n feierlichen A u g e n b l i c k in i h r e m Leben dar — ihr Verlöbnis. Die j u n g e Erau hat gerade ihre Rechte in Arnolfinis Linke gelegt, u n d im nächsten-Augenblick w i r d er d e n feierlichen B u n d besiegeln, i n d e m er seine Rechte in ihre legt. Wahrscheinlich hatte
man den Maler gebeten, diesen wichtigen Augenblick zu bezeugen, so wie man einen Notar ersucht, zu erklären, dass er bei einer solchen bedeutsamen Handlung zugegen war. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum der Meister seinen Namen an weithin sichtbarer Stelle auf dem Bilde angebracht hat, mit der lateinischen Formel: >Johannes de Eyck fuit hic< (Jan van Eyck war hier). Die ganze Szene spiegelt sich von rückwärts in dem Spiegel im Hintergrund, und dort, so scheint es, kann man auch zwei Gestalten ausmachen, den Maler und einen anderen Zeugen (Abb. 159). Wir wissen nicht, ob der italienische Kaufmann oder der nordische Künstler auf den Gedanken kam, diese neuartige Form der Malerei so zu verwenden, wie man etwa eine gerichdich beeidigte Fotografie verwendet. Aber wer immer es war, er hatte überraschend schnell die ungeheuren Möglichkeiten erfasst, die in van Eycks neuer Auffassung der Malerei beschlossen lagen. Das erste Mal in der Geschichte wurde der Künsder hiermit im wahrsten Sinne des Wortes der Augenzeuge. I n s e i n e m B e s t r e b e n , d i e N a t u r s o w i e d e r z u g e b e n , w i e sie s i c h d e m A u g e darbietet, w a r n u n a u c h v a n E y c k , w i e M a s a c c i o , d a z u g e k o m m e n , die gefalhge A n o r d n u n g u n d die fließenden Linien des >weichen< Stils a u f z u o p f e r n . M a n c h e r m a g s o g a r f i n d e n , dass i m Verg l e i c h z u d e r A n m u t u n d Zartheit v o n s o l c h e n G e m ä l d e n w i e d e m W i l t o n - D i p t y c h o n (Abb. 143) seine Gestalten k l o b i g w i r k e n . Ü b e r a l l i n E u r o p a g a b e s dam als Künstler, die a u f ihrer l e i d e n s c h a f d i c h e n S u c h e n a c h W a h r h e i t d i e alten S c h ö n h e i t s i d e a l e ü b e r B o r d w a r f e n u n d w a h r s c h e i n l i c h d a m i t v ie l e ältere Leute v o r d e n K o p f stießen. Einer d e r radikalsten dieser N e u e r e r w a r der S c h w e i z e r M a l e r K o n r a d W i t z (1400?—1446?). Abb. 161 s t a m m t v o n e i n e m Altar, d e n er im Jahre 1 4 4 4 f ü r d i e Stadt G e n f malte. Er ist Petrus gestiftet u n d z e i g t d i e B e g e g n u n g des H e i l i g e n m i t Christus n a c h dessen A u f e r s t e h i m g , w i e sie im 20. Kapitel des Johannes-Evangeliums b e s c h r i e b e n w i r d . Einige Apostel w a r e n m i t Begleitern z u m Fischen a u f d e n See Tiberias hinausgefahren, hatten aber nichts gefangen. Als der M o r g e n kam, stand Jesus am Ufer, d o c h sie erkannten i h n nicht. Er sagte, sie sollten
das Netz auf der rechten Seite des Bootes auswerfen, und sie fingen so viele Fische, dass sie das Netz nicht einholen konnten. In diesem Augenblick sagte einer von ihnen: >Es ist der HerrBildnis< einer wirklichen Ansicht, das jemals versucht wurde. Und auf diesem wirklichen See malte Witz wirkliche Fischer. Nicht die würdigen Apostel der alten Bilder, sondern derbe Menschen aus dem Volk, die sich da um ihre Netze bemühen und ungeschickt versuchen, das Schiff am Kentern zu hindern. Der heilige Petrus schaut recht hilflos ins Wasser, und auch das gehört zur Geschichte. Nur Christus selbst steht ruhig und fest auf den Wogen. Seine solide Gestalt gemahnt an jene in Masaccios großem Fresko (Abb. 149). Es muss ein erschütternder Anblick für die Genfer Gemeinde gewesen sein, als sie das Bild zum ersten Mal sahen, sahen, wie die Apostel, Menschen wie sie, in ihrem heimatlichen See fischten und Christus auf dessen wohl bekannten Wassern stand und sie ermahnte: >Fürchtet euch nicht< (Matthäus, 14,27).
Tradition und Erneuerung: I Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien
Die neuen Entdeckungen und Errungenschaften der italienischen und niederländischen Meister zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts machten fast überall in Europa einen tiefen Eindruck/Künstler wie Auftraggeber waren von der Idee hingerissen, dass sich die Kunst nicht nur dazu verwenden ließ, die heiligen Geschichten packend nachzuerzählen, sondern dass man damit auch ein Stück Welt spiegeln konnte. Die erste Folge dieser gewaltigen Umwälzung war, dass die Künstler allerorts zu experimentieren und nach neuen überraschenden Wirkungen zu suchen begannen. Diese Abenteuerlust, dieser kühne Geist der Neuerung, von dem die Kunst im fünfzehnten Jahrhundert ergriffen wurde, markiert den eigentlichen Bruch mit dem >Mittelalterinternationale Stil< (S. 161), weil die führenden Meister in Frankreich, Italien, Deutschland und den Niederlanden so ziemlich die gleichen Ziele verfolgten. Natürlich gab es auch im Mittelalter nationale Unterschiede Ml so haben wir die Kluft zwischen Frankreich und Italien im dreizehnten Jahrhundert erwähnt —, aber im Großen und Ganzen spielten sie damals keine wichtige Rolle. Die Gelehrten des Mittelalters sprachen und schrieben alle Latein, und so kam es ihnen nicht sehr darauf an, ob sie an der Universität von Paris, Padua oder Oxford zu lehren hatten. Auch der Adel Europas war auf die gemeinsamen Ideale des Rittertums eingeschworen. Zwar leistete jeder einem Lehensherrn Gefolgschaft, aber das Lehensverhältnis hatte nichts mit Volkszugehörigkeit zu tun. All das hatte sich gegen Ende des Mittelalters geändert, als die Städte mit ihren Bürgern und Kaufleuten den Burgen des Adels gegenüber zunehmend an Bedeutung gewannen. Die Kaufleute sprachen die Landessprache und hielten gegen fremde Eindringlinge und ausländische Konkurrenz zusammen. Jede einzelne Stadt war stolz auf ihre Stellung und hütete eifersüchtig ihre Privilegien in Handel
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Tradition und Erneuerung: I
und Gewerbe. Im Mittelalter konnte ein tüchtiger Meister von einer Baustelle zur andern wandern, er konnte von einem Kloster in ein anderes empfohlen werden, und es fiel niemandem ein, ihn nach seinem Geburtsort zu fragen. Aber als die Städte an Bedeutung gewannen, schlössen sich auch die Künsder in Zünften zusammen. Diese Zünfte waren in mancher Hinsicht etwas Ähnliches wie die heutigen Gewerkschaften. Es war ihre Aufgabe, über die Rechte und Privilegien ihrer Mitglieder zu wachen und ihnen einen Markt für ihre Erzeugnisse zu sichern. Um in eine Zunft aufgenommen zu werden, musste der Künsder beweisen, dass er imstande war, bestimmten Ansprüchen zu genügen, dass er also tatsächlich ein Meister seiner Kunst war. Dann erst durfte er seine Werkstatt eröffnen, Lehrlinge beschäftigen und Aufträge für Altargemälde, Bildnisse, bemalte Truhen, Prozessionsfahnen und andere derartige Arbeiten übernehmen. Die Zünfte und Innungen waren meist wohlhabende Vereinigungen, die bei der Verwaltung der Stadt mitzureden hatten und die nicht nur den Wohlstand der Stadt forderten, sondern sich auch nach Kräften bemühten, sie zu verschönern. In Florenz und an anderen Orten widmeten die Zünfte, die Goldschmiede, Tuchweber, Lederarbeiter usw., einen Teil des Vermögens der Stiftimg von Kirchen, dem Bau von Zimfthallen und der Errichtung von Altären und Kapellen. In dieser Hinsicht taten sie viel für die Kirnst. Andererseits wachten sie aber ängstlich über die Interessen ihrer eigenen Mitglieder und machten es daher fremden Künsdern schwer, einen Auftrag zu erhalten oder sich bei ihnen niederzulassen. Nur den berühmtesten Meistern gelang es bisweilen, diesen Widerstand zu überwinden und so ungehindert von Ort zu Ort zu reisen, wie es zur Zeit der Errichtung der großen Kathedralen möglich gewesen war. All das hat für die Kunstgeschichte eine gewisse Bedeutung, denn dadurch wurde der internationale Stil< um 1400 wohl der letzte internationale Stil in Europa — zumindest bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Im fünfzehnten Jahrhundert zerfiel die Kunst in eine ganze Reihe verschiedener >SchulenSchule< ist dabei eigentlich irreführend. Zu der Zeit, von der wir sprechen, gab es keine Kunstschulen, die ein angehender Künsder besuchen konnte. Einen Jungen, der Maler werden wollte, gab sein Vater schon als Kind zu einem führenden Meister der Stadt in die Lehre. Gewöhnlich wohnte er beim Meister, half der Frau Meisterin und hatte sich auf jede erdenkliche Weise nützlich zu machen. Zuerst wurde er dann dazu herangezogen, Farben zu reiben und seinem Meister bei der Zurichtung von Holztafeln oder Leinwand zu helfen. Allmählich winde ihm die eine oder andere kleinere Arbeit, etwa das Bemalen einer Fahnenstange, übertragen. Später einmal, wenn der Meister sehr beschäftigt war, wies er den Lehrling vielleicht an, ihm bei der Ausführung einer unwichtigen oder wenig auffalligen Partie einer großen Arbeit zu helfen: den vom Meister skizzierten Hintergrund auf die Leinwand zu malen oder das Gewand einer Nebenfigur auszuführen. Zeigte er Talent und verstand er es, die Art seines Meisters täuschend nachzuahmen, so wurde er nach und nach mit der Ausfuhrung wichtiger Arbeiten beauftragt — vielleicht hatte er eine ganze Figur nach einer Zeichnung seines Meisters und unter Aufsicht zu malen. Das waren also die >Schulen< des fünfzehnten Jahrhunderts. Sie waren wirklich hervorragend, und mancher heutige Maler wäre wohl froh, wenn er eine ähnliche Schulung genossen hätte. Die Art, wie die Meister einer Stadt dem Nachwuchs ihre Erfahrungen und Kenntnisse weitergaben, erklärt auch, wieso die >Schulen< dieser Städte eine solch ausgeprägte Eigenart entwickelten. Man sieht auf den ersten Blick, ob ein Gemälde des fünfzehnten Jahrhunderts aus Florenz oder Siena stammt, ob aus Dijon oder Brügge, Köln oder Wien. Wenn wir die unendliche Vielfalt an Meistern, >Schulen< und Experimenten überblicken wollen, kehren wir am besten nach Florenz zurück, wo die große Umwälzung in der Kunst ihren Ausgang genommen hat. Es ist faszinierend, die Auseinandersetzung der Generation nach Brunelleschi, Donatello und Masaccio mit den neuen
Entdeckungen zu verfolgen. Die Probleme, vor denen sie standen, waren oft gar nicht einfach. Die Art der Aufträge, die sie erhielten, hatte sich seit den Tagen ihrer Vorgänger kaum verändert. Die neuen revolutionären Methoden standen bisweilen im direkten Widerspruch zu diesen herkömmlichen Aufträgen. In der Baukunst wird das besonders deutlich: Es war Brunelleschis Programm gewesen, die Formen der antiken Architektur, die Säulen, Giebel und Gesimse, die er nach römischen Ruinen kopiert hatte, wieder in die Baukunst einzuführen. Er hatte diese Formen bei seinen Kirchen verwendet. Seine Nachfolger brannten darauf, es ihm darin gleichzutun. Abb. 162 zeigt eine von dem Florentiner Architekten Leon Battista Alberti (1404-1472) entworfene Kirche. Ihre Fassade sollte einen ungeheuren Triumphbogen im römischen Stil darstellen (Abb. 74). Aber wie konnte man nach diesem Programm ein gewohnliches Wohnhaus in irgendeiner Straße bauen? Man konnte unmöglich Wohnhäuser und Paläste im Stil von Tempeln ausfuhren. Es gab keine Privathäuser aus der Römerzeit mehr, und selbst wenn es sie gegeben hätte, hatten sich die Sitten und Bedirfmsse seither doch so geändert, dass sie kaum als Vorbilder zu gebrauchen gewesen w ären. Man musste also die antiken Bauformen den Bedürfnissen eines herkömmlichen Wohnhauses mit seinen Mauern und Fenstern anpassen. Und wieder war es Alberti, der eine Lösung iand. di« die Baukunst bis auf unsere Tage beeinflusst hat. Als er einen Palazzo für die R iehe Florentiner Kaufmannsfamilie Rucellai zu bauen hatte, entwarf er zunächst den Plan für ein normales dreistöckiges Haus (Afek ifcj)., dessen Fassade wenig mit antiken Bauten gemein hat. Trotzdem hielt Alberti an Brunelleschis Programm fest und verwendete antike Formen für ihre Ausschmückung. Statt Säulen und Halbsäulen zu verwenden, überzog er das Haus mit einem Netzwerk von flachen Mastern und Deckplatten, die eine antike Säulenordnung vortäuschen, ohne die Grundstruktur des Gebäudes zu verändern. Man sieht leicht, wo Alberti dieses Prinzip gelernt hat. Auch am Kolosseum in Rom (Abb. 71) wurden bei den einzelnen Stockwerken verschiedene Säulenordnungen verwendet. Auch dort ist
das Erdgeschoss eine Variation der dorischen Ordnung, und auch dort sind die Pfeiler durch Bögen miteinander verbunden. Alberti hat dies Prinzip in den Dienst der neuen Aufgabe gestellt. Er kleidete das alte überlieferte Stadtpalais in ein neues, »modernes' Gewand, doch mit dieser Rückkehr zu römischen Formen brach er nicht völlig mit gotischen Traditionen. Wenn wir die Palaisfenster mit denen der Fassade von Notre-Dame vergleichen (Abb. 125), bemerken wir unvermutete Ähnlichkeiten. Alberti >übersetzte< einen gotischen Entwurf in antike Formen, indem er nichts anderes tat, als die >barbarischen< Spitzbögen etwas zu mildern und bei einem tradtionellen Gebäude antike Ordnungselemente zu benutzen. Diese Leistung Albertis ist typisch für sein ganzes Zeitalter. Auch die Maler und Bildhauer im Florenz des fünfzehnten Jahrhunderts sahen sich oft genötigt, das neue künstlerische Programm mit der alten Uberlieferung in Einklang zu bringen. So ist die Mischimg von Alt und Neu, von gotischer Überlieferung und modernen Formen für viele Meister um die Jahrhundertmitte charakteristisch. Der größte dieser Florentiner Meister, denen es gelang, die neuen Entdeckungen mit dem Althergebrachten zu vereinigen, war ein Zeitgenosse Donatellos, der Bildhauer Lorenzo Ghiberti (1378—1455). Abb. 164 zeigt eines seiner Reliefs für das Taufbecken in Siena, für das auch Donatello sein »Festmahl des Herodes< (Abb. 152) geschaffen hatte. Von Donatellos Arbeit konnten wir sagen, dass daran alles neu war. Ghibertis Relief sieht auf den ersten Bück viel weniger ungewöhnlich aus. Die Komposition unterscheidet sich nicht wesentlich von der des berühmten Lieger Bronzegießers aus dem zwölften Jahrhundert (Abb. 118): Christus steht in der Mitte zwischen Johannes dem Täufer und den assistierenden Engeln, während Gottvater und die Taube im Himmel oben erscheinen. Selbst in den Einzelheiten erinnert Ghibertis Werk an seine mittelalterlichen Vorgänger. Die hebevolle Sorgfalt, mit der er den Faltenwurf der Gewänder angeordnet hat, ruft uns eine Goldschmiedearbeit wie die Heilige Jungfrau aus dem vierzehnten Jahrhundert (Abb. 139) ins Gedächtnis. Und doch
ist Ghibertis Relief in seiner Art ebenso packend und überzeugend wie Donatellos Gegenstück. Auch er hatte gelernt, jede einzelne FigUr zu charakterisieren und dem Beschauer ihre Rolle im Geschehen klarzumachen: die Schönheit und Demut Jesu, des Gotteslammes; die kraftvoll-feierliche Gebärde des Täufers, des hageren Propheten aus der Wüste, und die himmlischen Heerscharen der Engel, die einander in freudigem Staunen anblicken. Während Donatellos neue dramatische Darstellungsart die klare Anordnung, die der Stolz früherer Zeiten gewesen war, einigermaßen durcheinander brachte, gab sich Ghiberti weiter Mühe, klar und zurückhaltend zu bleiben. Er vermittelt uns nicht die Vorstellung von einem wirklichen Raum, wie Donatello dies wollte. Er zieht es vor, die Tiefe des Raums nur anzudeuten, sodass sich seine Hauptfiguren von einem neutralen Hintergrund abheben. Ebenso wie Ghiberti gewissen Regeln der gotischen Kirnst treu blieb, ohne es jedoch zu verschmähen, sich die neuen Entdeckungen seiner Zeit zu Nutze zu machen, bediente sich auch der große Maler Fra Angelico (1387—1455) aus Fiesole der neuen Methoden Masaccios hauptsächlich zur Darstellung der überlieferten Ideen der religiösen Kunst. Fra Angelico war ein Dominikanermönch, und die Fresken, die er um das Jahr 1440 für das Florentiner Kloster San Marco malte, gehören zu seinen schönsten Werken. Er malte in jeder Mönchszelle und am Ende eines jeden Ganges eine Szene aus der Heiligen Schrift, und wenn man in der Klosterstille von einem Bild zum andern geht, fühlt man einen Hauch des Geistes, aus dem diese Werke geboren wurden. Abb. 165 zeigt ein Bild der Verkündigung in einer Zelle. Man sieht sofort, dass ihm die perspektivische Darstellung keine Schwierigkeit mehr bereitete. Der Kreuzgang, in dem die Jungfrau kniet, ist ebenso überzeugend dargestellt wie etwa das Gewölbe in Masaccios berühmtem Fresko der Heiligen Dreifaltigkeit (Abb. 149). Aber Fra Angelico war es offenkundig nicht darum zu tun, >ein Loch in die Wand zu brechend So wie Simone Martini im vierzehnten Jahrhundert (Abb. 141) wollte er den Vorgang in all
ist Ghibertis Relief in seiner Art ebenso packend und überzeuge^ wie Donatellos Gegenstück. Auch er hatte gelernt, jede einzelne Pi glir zu charakterisieren und dem Beschauer ihre Rolle im Geschehen klarzumachen: die Schönheit und Demut Jesu, des Gotteslainmesdie kraftvoll-feierliche Gebärde des Täufers, des hageren Propheten aus der Wüste, und die himmlischen Heerscharen der Engel, die einander in freudigem Staunen anblicken. Wahrend Donatellos neue dramatische Darstellungsart die klare Anordnung, die der Stolz früherer Zeiten gewesen war, einigermaßen durcheinander brachte, gab sich Ghiberti weiter Mühe, klar und zurückhaltend zu bleiben. Kr vermittelt uns nicht die Vorstellung von einem wirklichen Raum, wie Donatello dies wollte. Er zieht es vor, die Tiefe des Raums nur anzudeuten, sodass sich seine Hauptfiguren von einem neutralen Hintergrund abheben. Ebenso wie Ghiberti gewissen Regeln der gotischen Kunst treu blieb, ohne es jedoch zu verschmähen, sich die neuen Ent-
deckungen
seiner Zeit zu Nutze zu machen, bediente sich auch
der große Maler Fra Angelico (1-387—1455) aus Fiesole der neuen
Methoden
Masaccios hauptsächlich zur Darstellung der überlieferten
Ideen der religiösen Kunst. Fra Angelico war ein Dominikanermönch, und die Fresken, die er um das Jahr 1440 für das Florentiner Kloster jüan Marco malte, gehören zu seinen schönsten Werken. Er malte in jeder Mönchs/eile und am Ende eines jeden Ganges eine Szene aus der I le tilgen Scliri.fi, und wenn man in der Klosterstille von einem lijld /um
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seiner schlichten Anmut erzählen. Es gibt kaum eine Bewegung in diesem stillen Bild, kaum eine Andeutung greifbarer Körperlichkeit. Aber gerade die Demut, die einen großen Meister veranlasst, bewusst auf die Betonimg der neuen Kunstmittel zu verzichten, so vertraut er auch mit den Problemen eines Masaccio und Brunelleschi ist, wirkt umso ergreifender. Welche unerhörte Anziehungskraft diese Probleme auf die Künsder jener Zeit ausübten, kann man an Gemälden eines anderen Florentiners, des Paolo Uccello (1397-1475), studieren. Eines seiner besterhaltenen Werke ist das Schlachtengemälde (Abb. 166), das wahrscheinlich ursprünglich über einer Türe in die Wand in einem Saal des Palazzo Media, dem Stadtpalast der mächtigsten und reichsten Florentiner Kanfmannsfamilie, eingelassen war. Es stellte ein Ereignis aus der Florentiner Geschichte dar, das zur Zeit, als das Bild gemalt wurde, noch allen in frischer Erinnerung gewesen sein muss: den Sieg Florentiner Söldner bei San Romano im Jahre 1432 in einem der zahllosen Parteikämpfe jener Tage. Auf den ersten Bück wirkt das Bild vielleicht noch ganz mittelalterlich. Diese geharnischten Männer mit ihren langen, schweren Lanzen, die wie in ein Turnier reiten, erinnern an mittelalterliche Ritterromane; auch die Art, wie die Szene dargestellt ist, kommt uns zunächst nicht sehr neuzeitlich vor. Pferde und Reiter sehen hölzern aus, fast wie Spielzeug, und das ganze bunte Bild hat wenig vom blutigen Ernst des Krieges an sich. Aber wenn wir uns dann fragen, warum diese Pferde ein wenig wie Schaukelpferde und die ganze Szene wie ein Marionettentheater aussieht, machen wir eine merkwürdige Entdeckung: Gerade weil der Maler von den neuen Möglichkeiten seiner Kunst fasziniert war, tat er alles, um seine Figuren so in den Raum zu stellen, dass sie wie geschnitzt und nicht wie gemalt aussahen. Man berichtet von Uccello, dass ihn die Perspektive so leidenschaftlich interessierte, dass er Tag und Nacht beschäftigt war, Gegenstände in Verkürzung zu zeichnen, und sich immer neue Aufgaben stellte. Seine Malerkollegen erzählten sich, er sei derart vertieft gewesen, dass er kaum aufblickte, wenn seine Frau ihn ans
Zubettgehen erinnerte, und nur ausrief A V i s lui ein Wunderding ist doch die Perspektive^ Man sieht seinem Bild etwas von dieser Besessenheit an. Uccello hat sich offenbar die größte M üh e g e y e b e n , die verschiedenen Wallensuteke, die auf dem Hoden h e r u m l i e g e n , in der richtigen Verkürzung m malen Sein größter Stolz w a r wahrscheinlich der gefallene Krieger am Boden« dessen verkürzte Darstellung ih m sehr viel Mühe gemacht haben mnss (v\hK 167), Kein Maler vor ihm hatte je etwas Derartiges gemalt, und o b w o h l die Gestalt im Verhältnis zu den anderen Figuren /u klein geraten ist, können w ir uns denken, w a s f ü r ein Aufsehen sie gemacht haben mnss. A u c h sonst rindet man überall Anzeichen lur Uccellos Hauptinteresse Selbst die zerbrochenen Lanzen auf der Erde sind so angeordnet, dass sie einen g e m e i n samen Fluchtpunkt haben. Auch diese regelmäßige, fein säuberliche Anordnung trägt mit 211 dem gekünstelten Aussehen der Bildbühne, auf der die Schlacht stattzufinden scheint, bei. Aber w i r brauchen nur von diesem ritterlichen Schauspiel auf van Eycks Ritterbild (.Abb. 157) und auf die Limburger Miniatur (Abb. 144) zurückzublicken, mit der w i r sie verglichen haben, um zu begreifen, w a s Uccello der gotischen Tradition verdankte und w i e er sie verwandelte. Im N o r d e n hatte van Eyck die Formen des internationalen Stils dadurch u m g e p r ä g t , dass er immer mehr selbst beobachtete Einzelheiten h i n z u f ü g t e und sich bemühte, die Oberfläche der Dinge bis zur feinsten Schattierung getreulich wiederzugeben. Uccello ging eigentlich den u m g e kehrten Weg. Mithilfe seiner geliebten Perspekive versuchte er, eine überzeugende Bühne zu schaffen, auf der seine Figuren körperlich und greifbar wirken würden. Sie haben zweifellos Körper, aber die Gesamtwirkung erinnert ein wenig an die stereoskopischen Bilder, die man durch einen Guckkasten sieht. Uccello hatte n o c h nicht gelernt, w i e man Licht, Luft imd Schatten v e r w e n d e n k a n n , um die harten Umrisse einer streng perspektivischen W i e d e r g a b e a u f z ul o ckern. Aber angesichts des Londoner Bildes k o m m t m a n nicht dazu, das zu vermissen, denn trotz seiner Vorliebe f ü r darstellende G e o m e trie w a r Uccello ein wahrer Künstler.
Während Künstler wie Fra Angelico sich des Neuen bedienen konnten, ohne den Geist des Alten anzutasten, während Uccello andererseits völlig im Bann der neuen Probleme stand, haben weniger fromme und weniger ehrgeizige Künstler die neuen Methoden frisch drauflos verwendet, ohne sich viel darüber den Kopf zu zerbrechen. Dem Publikum gefielen wahrscheinlich diese Meister, die ihm von beiden Richtungen das Beste boten, ganz besonders. So wurde der Auftrag für die Ausmalung der Privatkapelle im Stadtpalais der Media Benozzo Gozzoli (etwa 1421-1497) erteilt, der ein Schüler Fra Angelicos war, wenn auch offenbar ein Mann von ganz anderer Sinnesart. Er schmückte die Wände der Kapelle mit einer Darstellung des Reiterzuges der Heiligen Drei Könige, die er mit wahrhaft königlichem Gepränge durch eine strahlende Landschaft (Abb. 168) reiten ließ. Die biblische Szene gibt ihm Gelegenheit, schönes Geschmeide und prächtige Kostüme in einer bunten Märchenwelt zu malen. Die Vorliebe für solche Darstellungen des Glanzes der vornehmen Welt kommt aus Burgund (Abb. 144), zu dem die Medici lebhafte Handelsbeziehungen unterhielten. Gozzoli wollte offenbar zeigen, dass die neuen Darstellungsmethoden es ermöglichten, diese heiteren Bilder zeitgenössischen Lebens noch lebhafter und anziehender zu gestalten. Das Leben dieser Zeit war tatsächlich so malerisch und farbenfroh, dass wir auch den weniger bedeutenden Meistern dafür dankbar sein müssen, dass sie uns in ihren Werken ein getreues Bild glanzvoller Tage hinterließen. Wer nach Florenz kommt, der sollte sich das Vergnügen eines Besuches der kleinen Kapelle nicht entgehen lassen, in der man noch einen Hauch dieses festlichen Lebens zu spüren meint (Abb. 168). Inzwischen hatten sich andere Maler in den Städten nördlich und südlich von Florenz die Errungenschaften Donatellos und Masaccios zu eigen gemacht und waren vielleicht noch eifriger dabei, sie anzuwenden, als die Florentiner selbst. Da war vor allem Andrea Mantegna (1431-1506), der in Oberitalien zuerst in der berühmten Universitätsstadt Padua und dann am Hofe der Herren von Mantua
arbeitete. In einer Kirche in Padua, unweit von der Kapelle, die Giotto mir seinen berühmten Fresken geschmückt hatte, malte Mantegna eine Reihe von Wandgemälden, die die Legende des heiligen Jakob darstellen- Die Kirche wurde im Zweiten Wellkrieg durch Boniben schwer beschädigt, und die meisten dieser wundervollen Wandgemälde Mantegnas wurden dabei zerstört. Das ist ein großer Verlust, denn sie gehörten bestimmt zu den größten Kunstwerken aller Zeiten. Eines dieser Gemälde l Abb. 169) zeigte den heiligen Jakob auf dem Weg zur Richtstätte. Wie Giotto und Donatello bemühte sich aucli Mantegna, den Hergang einer Szene so vor Augen zu i uhren, wie er sich wirklich abgespielt haben mochte» aber seine Ansprüche an die Genauigkeit waren größer. Giotto kam es auf den inneren Sinn des Geschehens an — wie Männer und Frauen sich in einer gegebenen Situation bewegen und gebärden würden. Mantegna interessierte sich aber auch für die äußeren Umstände, Er wusste, dass der heilige Jakob in der römischen Kaiserzeit gelebt hatte, und er tat sein Möglichstes, die Szene dementsprechend zu rekonstruieren. So studierte er römische Kunstdenkmale mit archäologischem Interesse: Das Stadttor, durch das der heilige Jakob eben hindurchgefuhrt worden ist, ist ein römischer Triumphbogen, und die Soldaten seiner Eskorte tragen die gleichen Uniformen und Waffen wie die römischen Legionäre, die wir von antiken Monumenten her kennen. Aber das Gemälde erinnert nicht nur in diesen Einzelheiten an antike Skulpturen; die ganze Szene atmet den Geist römischer Kunst in ihrer schlichten Strenge und Größe. Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen den Florentiner Fresken des Benozzo Gozzoli und den Werken des Mantegna, die ungefähr zur gleichen Zeit entstanden sind. In Gozzolis heiterem Zug sahen wir eine Rückkehr zu dem Geschmack des gotischen weichen Stils. Mantegna dagegen setzt da an, wo Masaccio aufgehört hat. Seine Gestalten sind so eindrucksvoll und plastisch wie die Masaccios, und auch er bedient sich eifrigst des neuen Darstellungsmittels der Perspektive. Aber nicht, um damit wie Uccello eine besonders frappante Wirkung zu erzielen, sondern
uiii die Bühne zu schaffen, auf die er seine Figuren wie wirkliche, greifbare Geschöpfe stellen kann. Dort verteilt er sie dann wie ein geschickter Regisseur, um uns die Bedeutung des dargestellten Augenblicks und den Verlauf der Szene möglichst eindringlich vor Augen zu fuhren. Man sieht sofort, was vorgeht: Der Zug Soldaten, der den heiligen Jakob zum Richtplatz geleitet, ist für einen Augenblick zum Stehen gekommen, weil einer seiner Verfolger Reue empfunden und sich dem Heiligen zu Füßen geworfen hat, um seinen Segen zu empfangen. Der Heilige hat sich ruhig umgewendet, um den Mann zu segnen, während die römischen Soldaten dabeistehen und zuschauen; der eine ist ganz unbewegt, wahrend ein anderer die Hand in einer ausdrucksvollen Gebärde hebt, die zu besagen scheint, dass er ergriffen ist. Die Wölbung des Bogens bildet den Rahmen für diese Szene und trennt sie von dem Gewirre der Zuschauermenge, die von den Wachen zurückgedrängt wird. Zur gleichen Zeit, als Mantegna in Oberitalien die neuen Methoden der Kunst anwandte, tat ein anderer großer Maler, Piero della Francesca (1416?—1492), das Gleiche südlich von Florenz, in den Städten Arezzo und Urbino. Wie Gozzoli und Mantegna malte auch Piero della Francesca seine Fresken zu Beginn der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, also ungefähr eine Generation nach Masaccio. Die in Abb. 170 dargestellte Episode stellt die berühmte Legende vom Traum Kaiser Konstantins dar, der ihn bewog, den christlichen Glauben anzunehmen. Er träumte am Vorabend einer entscheidenden Schlacht mit seinem Gegenkaiser, dass ein Engel ihm das Kreuz zeige mit den Worten: >In diesem Zeichen wirst du siegen.< Pieros Fresko stellt die nächtliche Szene vor der Schlacht dar. Wir bücken in das offene Zelt, in dem der Kaiser auf einem Feldbett liegt und schläft. Sein Leibdiener sitzt neben ihm, während zwei Soldaten gleichfalls Wache halten. Diese stille nächtliche Szene wird plötzlich von einem Lichtstrahl erhellt, als ein Engel mit einem Kreuz in der ausgestreckten Hand vom Himmel herabstürzt. Wie bei Mantegna denkt man auch hier an die Szene eines Schauspiels. Deutlich ist
eine Bühne markiert, und nichts lenkt die Aufmerksamkeit von der Haupdiandlung ab. So wie Mantegna hat sich auch Piero mit dem Kostüm seiner römischen Legionäre die größte Mühe gegeben, und auch er hat all die farbenfrohen Details vermieden, mit denen Gozzoli seine Darstellung übersät. Auch Piero ist ein Meister in der Kunst der Perspektive, und die Art, wie er die Gestalt des Engels in Verkürzung zeigt, ist so kühn, dass sie fast verwirrend wirkt, besonders in einer Reproduktion in kleinem Format. Aber zu den geometrischen Mitteln, mit denen er seine Bühne andeutet, kommt ein neues hinzu, das ebenso wichtig ist: die Behandlung des Lichtes. Die mittelalterlichen Meister hatten das Licht als solches ignoriert. Ihre flachen Figuren warfen keine Schatten. Auch in dieser Hinsicht war Masaccio bahnbrechend gewesen — seine runden und körperhaften Gestalten sind kräftig in Licht und Schatten modelliert (Abb. 149). Aber niemand hat die unendlichen neuen Möglichkeiten, die dieses Kunstmittel bot, klarer gesehen als Piero della Francesca. Auf seinem Bild hilft das Licht nicht nur die Körper der Gestalten zu modellieren, sondern ist genauso wichtig für die Perspektive, indem es die Illusion von Raumtiefe schafft. Der Soldat im Vordergrund steht wie eine dunkle Silhouette vor der hell erleuchteten Zelttüre und lässt uns so die Distanz empfinden, die ihn von der Stufe trennt, auf der die Leibwache sitzt — auch vom licht umflossen, das von dem Engel ausgeht. Auch die Rundung des Zeltes und den Raum, den es umhüllt, empfinden wir ebenso sehr durch das Licht wie durch Verkürzimg und Perspektive. Aber Piero lässt Licht und Schatten ein noch viel größeres Wunder wirken: Sie schaffen die geheimnisvolle Stimmung der nächtlichen Stunde, als der Kaiser der Welt eine Vision hatte, die den Lauf der Geschichte ändern sollte. Gerade diese Schlichtheit und diese Ruhe sind es, die Piero vielleicht zum größten Erben der Kunst des Masaccio machen. Während diese und andere Künstler sich der Entdeckungen der großen Generation von Florentiner Meistern bediente, kam es den Künstlern in Florenz immer deutlicher zum Bewusstsein,
die Neuerungen Ihrer,seiin auch wieder neue Probleme mit sieh brachten. Im ersten Jubel hatten sie vielleicht gerne int, dass die linldeckuny, der Perspektive, verbunden mit dem Studium der Natur, ihre Schwierigkeiten aus d« Welt gejchafÄ hätte. Ab er man darf illt vergessen, dass die Kuusl sich grundsätzlich von der Wissenschaft unterscheidet. Die Mitirl des Künstlers, seine technischen Möglichkeiten können entwickelt werden, aber von der Kunst selbst kann man nie sagen, sie macht4 In ähnlicher Weise Fortschritte wie die Wissenschaft, Jede Entdeckung in einer bestimmten Richtung schallt zugleich eine neue Schwierigkeit in einer anderen. So wissen wir, dass die mittelalterlichen Maler die Regeln korrekten Zeichnens nicht kannten, gerade durch diese Schwäche aber befähigt wurden, ihre Figuren nach Gutdünken in den schönsten Mustern über die Bildfläche zu verteilen. Die illustrierten Kalender des zwölften Jahrhunderts (Abb* i 2o) oder das Relief >Tod Mariä< (Abb. 129) sind Beispiele für diese Fähigkeit. Selbst Maler des vierzehnten Jahrhunderts wie Simone Martini (Abb. 141) waren noch imstande, ihre Figuren so anzuordnen, dass sie sich klar und deutlich vom Goldgrund abhoben. Als man aber die Forderung akzeptiert hatte, dass das Bild die Natur widerspiegeln müsse, wurde die Anordnung der Figuren zu einem schwierigen Problem. Im wirklichen Leben finden sich die Figuren nicht zu harmonischen Gruppen zusammen und heben sich auch nicht klar von einem neutralen Hintergrund ab. Mit anderen Worten: Durch die neu erworbenen Darstellungsmöglichkeiten der Malerei schien jetzt ihre kostbarste Fähigkeit, ein gefälliges und befriedigendes Ganzes zu schaffen, gefährdet. Diese Gefahr war besonders groß, wenn der Künstler vor der Aufgabe stand, große Altarbilder oder ähnliche Gemälde zu entwerfen. Solche Bilder waren dazu bestimmt, aus großer Entfernung gesehen zu werden, und hatten sich dem architektonischen Rahmen der ganzen Kirche einzufügen. Außerdem sollten sie der Gemeinde die heilige Legende in klaren und eindrucksvollen Linien vor Augen führen. Abb. 171 zeigt, wie ein Florentiner Künstler aus der zweiten Hälfte des kUxss
f ü n f z e h n t e n J a h r h u n d e r t s , A n t o n i o P o l l a i u o l o (143^?—1498), s i c h b e m ü h t , das neue Problem zu lösen, richtige Zeichnung mit harmon i s c h e r K o m p o s i t i o n z u v e r b i n d e n . E s ist e i n e r d e r e r s t e n Vers uche seiner Art, d i e Frage n i c h t allein m i t H i l f e v o n Takt u n d Instinkt, s o n d e r n a u c h d u r c h A n w e n d u n g g a n z b e s t i m m t e r R e g e l n z u lösen. D e r Versuch w a r vielleicht nicht besonders erfolgreich, u n d das Resultat ist a u c h n i c h t s e h r a n z i e h e n d , a b e r e s z e i g t d o c h g a n z deutlich die Überlegung, m i t der die Florentiner Künsder zu Werk g i n g e n . D a s B i l d stellt d a s M a r t y r i u m d e s h e i l i g e n S e b a s t i a n d a r , d e r H e i l i g e ist a n e i n e n P f a h l g e b u n d e n , u n d s e c h s B o g e n s c h ü t z e n v o l l s t r e c k e n a n i h m das Urteil. Die G r u p p e bildet e i n e äußerst regelm ä ß i g e Komposition in Form eines spitzwinkeligen Dreiecks. D i e A n o r d n u n g ist t a t s ä c h l i c h s o k l a r u n d s y m m e t r i s c h , dass s i e b e i n a h e starr w i r k t . D e r M a l e r w a r s i c h d i e s e s N a c h t e i l s s i c h t l i c h b e w u s s t u n d b e m ü h t e sich, eine gewisse A b w e c h s l u n g hineinzub r i n g e n . Einer der B o g e n s c h ü t z e n , der sich gerade b ü c k t u n d seine A r m b r u s t s p a n n t , ist v o n v o r n e g e s e h e n u n d d i e e n t s p r e c h e n d e G e g e n f i g u r v o n hinten. Dasselbe gilt f ü r die Männer, d i e gerade i h r e Pfeile abschießen. M i t s o l c h e n e i n f a c h e n Mitteln hat der Maler v e r s u c h t , d i e starre S y m m e t r i e d e r K o m p o s i t i o n a u f z u l o c k e r n u n d sie d u r c h B e w e g u n g u n d G e g e n b e w e g u n g z u beleben, ähnlich w i e d a s i n e i n e m M u s i k s t ü c k g e s c h i e h t . I n P o l l a i u o l o s G e m ä l d e ist d i e s e Absicht aber n o c h zu deutlich zu merken, u n d seine Kompositio n w i r k t g e w i s s e r m a ß e n w i e ein Ü b u n g s b e i s p i e l . M a n hat d e n Eindruck, dass er f ü r die einander e n t s p r e c h e n d e n Gestalten i m m e r dasselbe M o d e l l , v o n v e r s c h i e d e n e n S e i t e n g e s e h e n , b e n u t z t h a t u n d dass i h m die Beherrschung der künstlerischen Darstellungsmittel v o n Anatomie u n d B e w e g u n g s o w i c h t i g w a r , dass e r d a r ü b e r d e n e i g e n t l i c h e n Tnhalr d e s B i l d e s b e i n a h e v e r g a ß . D a b e i k o n n t e P o l l a i u o l o s e i n e künstl e r i s c h e n A b s i c h t e n n i c h t v ö l l i g v e r w i r k l i c h e n . Z w a r v e r w e n d e t e r die n e u e B e h e r r s c h u n g d e r P e r s p e k t i v e z u e i n e r w u n d e r b a r e n Darstellu ng der toskanischen Landschaft im Hintergrund, aber die Hauptszene u n d der H i n t e r g r u n d fallen i r g e n d w i e auseinander. Es fuhrt kein Weg
von dem Hügel, auf dem sich das Martyrium abspielt, zu der Landschaft im Hintergrund. Man fragt sich, ob Pollaiuolo nicht vielleicht besser daran getan hätte, seine Komposition vor einen Goldgrund oder eine neutrale Fläche zu setzen, aber man merkt auch gleich, dass ihm dieser Ausweg versperrt war. So kräftige, lebensvolle Gestalten würden nicht vor einen Goldgrund passen. Nachdem sich die Kunst einmal auf den Wettstreit mit der Natur eingelassen hatte, gab es kein Zurück. Pollaiuolos Bild gibt uns eine Vorstellung davon, welche Probleme in den Florentiner Künstlerateliers des fünfzehnten Jahrhunderts diskutiert wurden. Erst ihre Lösung ermöglichte in der nächsten Generation den Aufschwung. Unter den Florentiner Künstlern der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, die an diesen Lösungsversuchen mitarbeiteten, war auch der Maler Sandro Botticelli (1446—1510). Eines seiner berühmtesten Bilder hat keine christliche Legende, sondern einen antiken Mythos, die Geburt der Venus (Abb. 172), zum Gegenstand. Manche Dichter des klassischen Altertums waren zwar durch das ganze Mittelalter hindurch bekannt gewesen, aber erst in der Zeit der Renaissance, als die Italiener sich so leidenschaftlich bemühten, die frühere Größe Roms wieder zu erreichen, wurde die gebildete Laienwelt mit der antiken Mythologie vertraut. Für diese Menschen war die Mythologie der bewunderten Griechen und Römer wesentlich mehr als eine Sammlung von heiteren, gefalligen Märchen. Sie waren so von der überlegenen Weisheit des Altertums durchdrungen, dass sie meinten, in diesen antiken Sagen müsse eine tiefe, geheimnisvolle Wahrheit verborgen sein. Der Auftraggeber, der das Bild bei Botticelli für sein Landhaus bestellte, war aus der hoch begüterten, einflussreichen Familie der Medici. Wahrscheinlich hat er selbst oder einer seiner gelehrten Freunde dem Maler erklärt, wie sich die Alten das Auftauchen der Venus aus dem Meer vorgestellt hätten. Für diese Gelehrten war die Sage ein Sinnbild für das Mysterium, wie die Schönheit als Abglanz des Göttlichen in die Welt kam. Wir können uns vorstellen, wie ehrfürchtig der Maler daranging, diesen Mythos
würdig zu veranschaulichen. Was auf dem Bilde vorgeht, ist leicht verständlich. Venus ist auf einer Muschel stehend aus dem Meer aufgestiegen und wird in einem Rosenregen von geflügelten Windgöttern an Land getrieben. Beim Betreten des Landes wird sie von einer Höre oder Nymphe begrüßt, die ihr einen Purpurmantel umlegt. Botticelli hat erreicht, was Pollaiuolo versagt blieb. Die Komposition seines Gemäldes ist vollkommen harmonisch. Pollaiuolo hätte vielleicht gesagt, dass dies Botticelli nur gelungen sei, weil er auf einige Errungenschaften verzichtete, an denen ihm so viel gelegen war. Botticelhs Figuren sehen weniger körperlich aus. Sie sind auch nicht so korrekt gezeichnet wie die des Pollaiuolo oder Masaccio. Die anmutigen Bewegungen und die melodiösen Linien seiner Kompositon erinnern an die gotische Tradition Ghibertis und Fra Angelicos, vielleicht sogar an die Kunst des vierzehnten Jahrhunderts, an Werke wie Simone Martinis >Verkündigung< (Abb. 141) oder an die franzosische Silberstatue (Abb. 139), über deren leichte Körperbiegimg und sorgfaltig gearbeitete Draperie wir bereits sprachen. Botticellis Venus ist so schön, dass wir die unnatürliche Länge ihres Halses ebenso wenig bemerken wie ihre stark abfallenden Schultern oder die eigenartige Weise, wie der linke Arm mit dem Körper verbunden ist. Vielleicht sollten wir besser sagen, dass die Freiheiten, die sich Botticelli mit der Natur nahm, um eine anmutige Kontur zu erreichen, die Schönheit und Harmonie des Ganzen nur steigern, da sie den Eindruck eines unendlich zarten und zerbrechlichen Wesens fördern, das als Himmelsgeschenk an unsere Gestade gespült wurde. Der reiche Kaufmann, der dieses Bild bei Botticelli bestellte, Lorenzo di Pierfrancesco de M e d i a , war auch der Brotherr eines anderen Florentiners, der dazu ausersehen war, einem Weltteil seinen Namen zu geben. Es war im Dienste des Hauses Medici, dass Amerigo Vespucci nach der Neuen Welt segelte, die nach i h m > Amerika< heißt. Wir haben damit den Zeitpunkt erreicht, den die Historiker späterer Generationen z u m >offiziellen< Ende des Mittelalters erklärten. Wir erinnern uns, dass es in der italienischen Kunst eine Reihe von
Wendepunkten gegeben hat, die man als Anfang eines neuen Zeitalters ansehen könnte: die Entdeckungen Giottos um das Jahr 1300, die Brunelleschis um 1400. Aber noch wesentlicher als diese Revolution in den Darstellungsmitteln war vielleicht eine allmähliche, grundlegende Veränderung, die die Kunst im Laufe dieser zweihundert Jahre erfahren hat. Es ist eine Veränderung, die sich eher empfinden als beschreiben lässt. Ein Vergleich zwischen den Buchillustrationen des Mittelalters, die wir in den vorigen Kapiteln besprochen haben (Abb. 131 und Abb. 140), und einem florentinischen Beispiel um das Jahr H75 (-AM). 173) mag einen Begriff davon geben, wie verschieden der Geist sein kann, dem die gleiche Kunstgattung dient. Der Unterschied hegt sicher nicht darin, dass es dem Florentiner Meister an Andacht oder Frömmigkeit fehlte. Aber die Beherrschimg der Darstellungsmittel, die erreicht worden war, machte es ihm unmöglich, die Kunst ausschließlich dazu zu verwenden, dem Beschauer die Bedeutimg einer heiligen Erzählung zu vermitteln. Ihm ging es vielmehr um die Entfaltung von Reichtum und Pracht. Diese Funktion der Kunst, das Leben schöner und anmutiger zu gestalten, war niemals ganz in Vergessenheit geraten. In dem Zeitabschnitt, den wir die italienische Renaissance nennen, trat sie immer mehr in den Vordergrund.
Tradition und Erneuerung: II Das
15.
Jh.
im
Norden
Wir wissen, dass die Entdeckungen Brunelleschis und seines Kreises in Florenz nicht nur die italienische Kunst auf Jahrhunderte beeinflussten, sondern der Kunstentwicklung ganz Europas eine neue Richtung gaben. Das geschah schon dadurch, dass sich nun die europäische Kunst in Schulen aufspaltete und dass dadurch die Gegensätze zwischen Norden und Süden viel spürbarer wurden. Dabei waren die Ziele der Künstler des Nordens im fünfzehnten Jahrhundert gar nicht so verschieden von denen ihrer italienischen Kollegen. Sie wurden nur mit ganz anderen Mitteln angestrebt. Am sinnfälligsten ist die Kluft, die sich nun zwischen Nord und Süd auftat, in der Geschichte der Baukunst. In Florenz hatte Brunelleschi der Gotik ein Ende gesetzt und die Renaissancebauweise mit antiken Architekturmotiven eingeführt. Es dauerte fast hundert Jahre, bis die außeritalienischen Künstler seinem Beispiel folgten. Während des ganzen fünfzehnten Jahrhunderts wurde in Frankreich, Deutschland, England und Spanien im gotischen Stil gebaut. Aber obwohl diese Gebäude die typischen Formen der Gotik wie den Spitzbogen oder den Strebepfeiler beibehielten, hatte sich der Zeitgeschmack auch dort geändert. Wir erinnern uns, dass die Baumeister des vierzehnten Jahrhunderts eine große Vorliebe für anmutiges, durchbrochenes Maßwerk und reichen Schmuck hatten. Wir erinnern uns an den >Decorated Style< der Westfassade der Kathedrale von Exeter (Abb. 137). Im fünfzehnten Jahrhundert ging diese Vorliebe für verschlungenes Maßwerk sogar noch weiter. Der Justizpalast in Rouen (Abb. 174) ist ein typisches Denkmal dieser letzten Phase der Spätgotik, die man auch den >flamboyanten Stil< nennt. Der ganze Bau ist mit einer unendlichen Vielfalt von Zierrat übersponnen, unabhängig davon, ob sie in der Struktur des Gebäudes irgendeine Funktion zu erfüllen haben. Manche dieser Bauten wirken wie unwirkliche Märchenschlösser, und doch hat man das Gefühl, dass sich in ihnen die letzten Möglichkeiten gotischer Baukunst erschöpfen. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass die Baumeister
des Nordens selbst ohne den direkten Einfluss von Italien einen neuen einfacheren Stil geschaffen hätten. Diese Tendenz kann man am besten in England in der letzten Entwicklungsstufe des gotischen Stils, den man >Perpendicular Style< nennt, beobachten. Diese Bezeichnung wurde gewählt, um den Charakter der englischen Gebäude des späten vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts wiederzugeben, bei deren Ausschmückung gerade Linien den Kurven und Bögen der vorangegangenen Periode vorgezogen werden. Das berühmteste Beispiel für diese Richtung ist die wunderbare Kapelle im Kings College in Cambridge (Abb. 175), mit deren Bau im Jahr 1446 begonnen wurde. Der Grundriss dieser Kirche ist viel einfacher als der früherer gotischer Gebäude - es gibt keine Seitenschiffe und daher keine Pfeiler und keine steilen Spitzbögen. Das Ganze macht mehr den Eindruck einer imposanten Halle als den einer mittelalterlichen Kirche. Aber während der Bau als Ganzes vielleicht nüchterner und weltlicher wirkt als die großen Kathedralen, ließen die gotischen Steinmetzen ihrer Fantasie umso freieren Lauf in den Details, besonders bei der Form des Gewölbes (Fächergewölbe), dessen fantastische Spitzengewebe an keltische und angelsächsische Manuskripte (Abb. 103) erinnern. Die Entwicklung der Malerei und Bildhauerei in den Ländern außerhalb Italiens verläuft bis zu einem gewissen Grade parallel zu der der Baukunst. Mit anderen Worten: Während die Renaissance in Italien schon auf der ganzen Linie siegreich war, blieb der Norden im fünfzehnten Jahrhundert noch der gotischen Überlieferung treu. Trotz der großen Neuerungen der Brüder van Eyck galten in der Malerei der Handwerksbrauch und die Herkunft immer noch mehr als die Wissenschaft. Die mathematischen Gesetze der Perspektive, die Geheimnisse der Anatomie und das Studium römischer Denkmäler brachten die Meister im Norden noch nicht um ihren Seelenfrieden. So kann man sagen, dass sie zu einer Zeit, da ihre Kollegen jenseits der Alpen schon der >Neuzeit< angehörten, noch immer >mittelalterliche< Künsder waren. Trotzdem ähnelten sich die Probleme, die
die Künstler diesseits w i e jenseits der A l p e n zu lösen hatten, in auffallender Weise. Jan van Eyck hatte den Malern gezeigt, w i e ein Bild dadurch z u m Spiegel der Natur g e m a c h t w u r d e , dass m a n sorgsam eine Einzelheit an die andere fügte, bis der ganze R a h m e n m i t d e n Ergebnissen peinlichst genauer Naturbeobachtungen gefüllt w a r (Abb. 157 und Abb. 158). Aber genauso w i e Fra A n g e l i c o u n d B e n o z z o Gozzoli im Süden (Abb. 165 und Abb. 168) sich der N e u e r u n g e n Masaccios im Geiste des vierzehnten Jahrhunderts bedient hatten, gab es auch Künstler im Norden, die van Eycks Entdeckungen in den Dienst traditioneller T h e m e n stellten. Der deutsche Maler Stefan Lochner ( i 4 i o ? - i 4 £ i ) z.B., der um die Mitte des f ü n f z e h n t e n Jahrhunderts in Köln arbeitete, war so etwas w i e ein Fra A n g e l i c o des Nordens. Sein entzückendes Bild der Madonna im Rosenhag (Abb. 176), u m g e b e n von kleinen Engeln, die musizieren, B l u m e n pflücken u n d d e m Jesuskind Früchte anbieten, beweist, dass d e m Künstler die neuen Methoden van Eycks ebenso bekannt w a r e n w i e Fra Angelico die des Masaccio. U n d d o c h steht Lochners Bild d e m Geist des Wilton-Diptychons (Abb. 143) aus d e m vierzehnten Jahrhundert näher als den Werken van Eycks. Es lohnt sich, einen Blick a u f dieses Diptychon zu werfen u n d die beiden Werke miteinander zu vergleichen. W i r sehen auf den ersten Blick, dass der jüngere Maler etwas gelernt hat, was dem älteren Schwierigkeiten bereitet hatte: Lochner konnte den Raum, in d e m die Madonna auf d e m Rasen thront, anschaulich machen. Verglichen mit seinen Figuren, sehen die auf dem Diptychon etwas flach aus. Lochners Heilige Jungfrau ist auch auf Goldgrund thronend gemalt, aber eine richtige R a u m b ü h n e steht davor. Er hat sogar zwei reizende Engelsfiguren h i n z u g e f ü g t , die den Vorhang halten, der v o m Rahmen herabzuhängen scheint. Bilder w i e die v o n Lochner und Fra Angelico machten den größten Eindruck auf die Romantiker im neunzehnten Jahrhundert, Männer wie Ruskin und die Maler der Präraffaehten. Sie entdeckten darin d e n ganzen Zauber einfacher Frömmigkeit und eines kindlichen Gemütes. Und in einem gewissen Sinn hatten sie damit Recht. Diese Werke
bezaubern uns vielleicht deshalb so, weil sie den Geist früher mittelalterlicher Werke bewahrten und uns, die wir in der Malerei an wirklichen Raum und eine halbwegs korrekte Zeichnimg gewöhnt sind, trotzdem leichter verständlich sind. Andere Maler des Nordens entsprechen eher Benozzo Gozzoli, dessen Fresken im Palazzo Medici in Florenz das bunte Treiben der eleganten Welt im Geist der internationalen Gotik spiegeln. Dies gilt besonders für die Künsder, die Entwürfe für Wandteppiche machten oder die Seiten kostbarer Manuskripte mit Bildern schmückten. Das Blatt auf Abb. 177 wurde etwa zur gleichen Zeit wie Gozzolis Fresken um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts gemalt. Im Hintergrund sehen wir, wie üblich, den Künsder, der seinem vornehmen Auftrag.
geber das fertige Buch überreicht. Aber der Maler fand die Darstel-
m lung dieser Szene allein zu langweilig. Er versetzt sie daher in eine Art Vorhalle und zeigt uns alles, was ringsum vorgeht. Hinter dem I Stadttor erblickt man eine Gesellschaft, die sich anscheinend zur Jagd rüstet — wenigstens sieht man einen jungen Stutzer mit einem Falken auf der Faust, umgeben von protzigen Bürgern. Dann sind da vor und hinter dem Stadttor die Stände und Buden mit Händlern, die ihre Waren feilbieten, und Käufern, die sie in Augenschein nehmen, kurz, ein naturgetreues Bild einer mittelalterlichen Stadt aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Etwas Derartiges wäre hundert, ja behebig viele Jahre früher unmöglich gewesen. Wir müssen bis in die Tage der altägyptischen Kunst zurückgehen, um Bilder zu finden, die das Alltagsleben des Volkes so getreu schildern wie dieses Blatt, und selbst die Ägypter sahen ihre eigene Welt nicht so genau und mit so viel Humor Wir haben im >Queen Marys Psalter< (Abb. 140) ein früheres Beispiel dieser humoristischen Darstellungsweise gesehen, die nun in den reizenden Schilderungen des Alltagslebens ihre höchste Blüte erreichte. Die nördliche Kunst, der es nicht so sehr wie der italienischen in erster Linie um Schönheit und Harmonie zu tun war, zeigt von nun an eine immer wachsende Vorliebe für Darstellungen dieser Art.
Nichts wäre jedoch unrichtiger, als zu glauben, dass sich die beiden >Schulen< vollkommen getrennt voneinander entwickelten. Von dem fuhrenden französischen Künstler dieser Periode, Jean Fouquet (1420?-1480?), wissen wir sogar, dass er in seiner Jugend in Italien war. Er ging nach Rom, wo er 1447 den Papst porträtierte. Abb. 178 zeigt das Bildnis eines Stifters, das er wahrscheinlich wenige Jahre nach seiner Rückkehr malte. Wie in dem Wilton-Diptychon (Abb. 143) ist der Heilige als Fürsprecher des betenden Stifters dargestellt. Da der Name des Stifters Estienne war, das heißt Stephan, ist der Heilige an seiner Seite sein Schutzpatron Stephanus in der Tracht eines ersten Diakons der Kirche. Er hält ein Buch in der Hand, auf dem ein großer spitzer Stein liegt, denn nach der Apostelgeschichte wurde der heilige Stephanus gesteinigt. Wenn wir jetzt nochmals nach dem Diptychon von Wilton zurückschauen, so sehen wir wieder, welch große Fortschritte die Kunst in einem halben Jahrhundert in der Wiedergabe der Natur gemacht hat. Im Diptychon sehen die Heiligen und der Stifter ein bisschen so aus, als ob sie aus Papier ausgeschnitten und auf das Bild aufgeklebt worden wären; die Gestalten des Jean Fouquet wirken ganz plastisch. In dem älteren Bild finden wir keine Spur von licht und Schatten. Fouquet verwendet das Licht fast wie Piero della Francesca (Abb. 170). Die Ruhe und Würde, mit der seine Figuren dastehen wie in einem wirklichen Raum, zeigt, dass die italienische Kunst einen tiefen und bleibenden Eindruck auf Fouquet gemacht hatte. Und doch ist seine Malweise anders als die der Italiener. Sein Interesse an der Oberfläche der Dinge — der Pelzverbrämimg, des Steins, des Tuches und des Marmors — zeigt, dass seine Kunst auch der nördlichen Tradition des Jan van Eycks viel verdankt. Ein anderer großer Künstler des Nordens, der Rom auf einer Pilgerfahrt im Jahre 1450 besuchte, war Rogier van der Weyden (1400?-1464). Wir wissen nicht viel über ihn, außer dass er sehr berühmt war und in den südlichen Niederlanden lebte, wo auch Jan van Eyck gewirkt hatte. Abb. 179 zeigt ein großes Altargemälde, das die Kreuzabnahme darstellt. Wir sehen, dass Rogier ebenso wie van Eyck
imstande war, jedes Detail, jedes Haar, jeden Strich getreulich wiederzugeben. Trotzdem spiegelt sein Bild keinen wirklichen Vorgang wider. Er hat seine Figuren auf einer Art schmaler Bühne vor einen neutralen Hintergrund gestellt. Wenn wir uns an die Schwierigkeiten erinnern, mit denen Pollaiuolo zu kämpfen hatte (Abb. 171), dann verstehen wir die Weisheit von Rogiers Wahl. Auch er hatte ja die Auf. gäbe, ein großes Altarbild zu malen, das auf die Entfernung wirken und den Gläubigen in der Kirche das heilige Geschehen vor Augen führen sollte. Sein Bild musste klar in den Umrissen und gefallig in der Anordnimg sein. Rogiers Gemälde erfüllte diese Anforderungen, ohne konstruiert und gestellt zu wirken wie das des Pollaiuolo. Der Leichnam des Erlösers, voll der Gemeinde zugewendet, bildet das Zentrum der Komposition, die von den Gestalten weinender Frauen gerahmt wird. Der heilige Johannes, vornübergebeugt wie Maria Magdalena auf der anderen Seite, versucht, die ohnmächtige Mutter Gottes aufzufangen, die im Fallen die Bewegung Christi widerspiegelt. Die ruhige Haltung der Manner bildet die richtige Folie zu den ausdrucksvollen Gebärden der Hauptakteure. Denn man denkt wirklich an Akteure vor diesem Gemälde, an Darsteller eines Passionsspiels oder eines lebenden Bildes. Man könnte sich vorstellen, dass ein genialer Regisseur sie gruppiert hat, der die Malerei des frühen Mittelalters gründlich studiert hat und sie nun mit den Mitteln der Kunst nachbilden will. Gerade dadurch, dass Rogier so die Hauptgedanken der gotischen Malerei in den neuen, naturgetreuen Stil übersetzte, machte er sich um die Kunst des Nordens besonders verdient. Er konnte dadurch viel von der überlieferten Klarheit und Feierlichkeit der Komposition in die neue Zeit hinüberretten, das sonst unter dem Eindruck der Entdeckungen van Eycks verloren gegangen wäre. Von nun an bemühten sich die Künsder des Nordens, jeder in seiner Weise, die neuen Forderungen an die Malerei mit ihrem alten religiösen Zweck in Einklang zu bringen. Man kann dieses Streben am Werk eines der größten flamischen Meister aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts,
des Malers Hugo van der Goes (gestorben 1482), studieren. Er ist einer der wenigen frühen Meister des Nordens, über dessen Leben einiges bekannt ist. Man weiß, dass er seine letzten Jahre in freiwilliger Zurückgezogenheit in einem Kloster verbrachte und von Schwermutsanfallen geplagt wurde. Wirklich unterscheidet sich seine tiefernste, äußerst dramatische Kunst von der gelassenen Stimmung van Eyckscher Bilder. Abb. 180 zeigt seine Darstellung des Marientodes. Am auffallendsten ist zunächst die bewundernswerte Art, mit der van der Goes die unterschiedliche Reaktion der Apostel auf das Ereignis, dem sie beiwohnen, charakterisiert hat — ihr Ausdruck reicht von dumpfem Brüten bis hin zu leidenschaftlicher Anteilnahme und beinahe takdosem Gaffen. Man braucht nur die Darstellung der gleichen Szene über dem Portal am Straßburger Münster anzusehen (Abb. 129), um die Größe der Leistung van der Goes1 ermessen zu können. Verglichen mit den Charakterfiguren auf dem Gemälde, schauen die Straßburger Apostel alle gleich aus. Und wie einfach war es für diesen Künsder, seine Figuren klar anzuordnen! Er musste weder mit Verkürzungen noch mit der Illusion von Raum kämpfen, wie es bei van der Goes erwartet wurde. Wir spüren, wie dieser sich plagte, uns eine lebensechte Szene vorzuführen und zugleich kein Stückchen Leinwand leer und ohne Aussage zu lassen. Die beiden Apostel im Vordergrund sowie die Erscheinung über dem Bett zeigen am deutlichsten, wie viel Mühe es ihn kostete, seine Figuren zu platzieren und sie "uns vorzuführen. Diese spürbare Mühe lässt zwar die Bewegungen etwas verzerrt wirken, steigert aber auch die Atmosphäre dichter Spannimg rund um die ruhige Gestalt der sterbenden Maria, die, allein in dem übervollen Raum, in einer Vision ihren Sohn erblickt, der die Arme öffnet, um sie zu empfangen. Für die Bildhauer und Holzschnitzer war das Weiterleben der gotischen Tradition in der neuen Form, die Rogier ihr gegeben hatte, von ganz besonderer Bedeutung. Abb. 182 zeigt einen holzgeschnitzten Altar, der im Jahre 1477 (zwei Jahre nach Pollaiuolos Altarbild, Abb. 171) für die Stadt Krakau bestellt wurde. Der Meister dieses Altares war
Veit Stoß, der den größten Teil seines Lebens in Nürnberg verbrachte und dort in hohem Alter im Jahre if§§ starb. Selbst auf der kleinen Abbildung lässt sich der Wert der klaren Komposition ausmachen. So wie die Mitglieder der Gemeinde, die weit vom Hochaltar entfernt standen, können auch wir leicht erkennen, welche Begebenheiten die Hauptszenen darstellen. Das mitdere Altarbild zeigt wieder den Tod Maria, umgeben von den zwölf Aposteln. Diesmal ruht sie nicht auf einem Bett, sondern Hegt auf den Knien und betet. Weiter oben sehen wir wieder, wie ihre Seele von Christus in den strahlenden Himmel aufgenommen, und ganz oben, wie sie von Gottvater und dem Sohn gekrönt wird. Die Altarflügel stellen die wichtigsten Begebenheiten des Marienlebens dar, die — mit der Krönung — als die sieben Freuden Maria bekannt sind. Der Zyklus beginnt links oben mit der Verkündigung, dann folgen Christi Geburt und die Anbetung der Heiligen Drei Könige. Auf dem rechten Flügel finden wir dann die anderen drei freudigen Augenblicke nach schwerstem Leid: die Auferstehung Christi, seine Himmelfahrt und die Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten. Die Gemeinde konnte all diese Erzählungen betrachten, wenn sie an einem Marientag in der Kirche versammelt war. (Die Rückseite war für andere Feiertage bestimmt). Aber die Lebenswahrheit und Ausdrucksfahigkeit der Kunst des Veit Stoß konnten sie in den wundervollen Köpfen und Händen der Apostel (Abb. 183) nur dann bewundern, wenn sie dem Hochaltar nahe kamen. Um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts war in Deutschland eine technische Erfindung gemacht worden, die für die künftige Entwicklung der Kunst - und nicht nur der Kunst allein — von enormer Bedeutimg werden sollte: die Erfindung der Buchdruckerkunst. Das Drucken von Bildern war dem Druck von Büchern um einige Jahrzehnte vorausgegangen. Kleine Blättchen mit Heiligenbildern und Gebeten waren zur Verteilung an Pilger und für die Andacht im Hause gedruckt worden. Das Verfahren beim Druck dieser Bilder war einfach genug. Es war dasselbe, das später für den Druck von Buchstaben weiter ausgearbeitet wurde. Man nahm einen Holzblock
und entfernte mit dem Messer alles, was man auf dem Druck nicht zu sehen wünschte. Mit anderen Worten: Was auf dem Blatt schwarz erscheinen sollte, blieb in schmalen Stegen stehen. Der Druckblock sah aus wie heutzutage Gummistempel, und das Verfahren des Abdruckens auf das Papier war auch ungefähr das gleiche: Man bestrich ihn mit Druckerschwärze, die aus Öl und Ruß bestand, und drückte ihn auf das Blatt. Man konnte eine Menge Abdrucke machen, bevor der Block abgenützt war. Diese einfache Technik des Bilddruckes heißt Holzschnitt. Es war ein sehr billiges Verfahren, das rasch Verbreitung fand. Man konnte eine Anzahl von Holzblöcken zusammen für eine kleine Bilderreihe verwenden, die man wie ein Buch einband; diese von ganzen Holzblöcken abgedruckten Bücher heißen Blockbücher. Holzschnitte und Blockbücher wurden bald auf den Märkten zum Verkauf angeboten. Spielkarten wurden auf die gleiche Weise erzeugt. Es gab komische Darstellungen und Heiligenbilder. Abb. 184 zeigt ein Blatt aus einem dieser frühen Blockbücher, das von der Kirche als Bilderpredigt verwendet wurde. Sein Zweck war es, den Gläubigen an seine Todesstunde zu erinnern und ihn — wie der Titel sagt — >Die Kunst, gut zu sterben< zu lehren. Der Holzschnitt zeigt den Frommen auf seinem Totenbett, einen Mönch zur Seite, der ihm eine brennende Kerze in die Hand gibt. Ein Engel nimmt seine Seele in Empfang, die in Gestalt einer kleinen betenden Figur seinem Mund entstiegen ist. Im Hintergrund sehen wir Christus und seine Heiligen, auf die der Sterbende seine Gedanken richten soll. Im Vordergrund sieht man eine Schar von hässlichen und fantastischen Teufeln mit Spruchbändern, die ihnen aus dem Mund hängen, wie >Ich wüteWir sind geschent< (geschändet), >Uns ist keinTrostIch bin unsinnige >Wir haben die SeeT verlorene Ihr Wüten ist vergeblich. Ein Mensch, der die Kunst, gut zu sterben, versteht, braucht die Mächte der Hölle nicht zu furchten. Als Gutenberg seine große Erfindimg machte und bewegliche Buchstaben anstelle von ganzen Holzblöcken verwendete, kamen die Blockbücher bald außer Mode. Man erfand jedoch bald eine Methode,
einen gedruckten Text mit Abbildungen zu versehen, und viele Bücher aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts waren mit Holzschnitten illustriert. Trotz seiner vielen Verwendungsmöghchkeiten war aber der Holzschnitt ein ziemlich grobes Verfahren. Es ist wohl richtig, dass diese Grobheit gelegentlich sehr wirkungsvoll sein kann. Die billigen Holzschnitte des späten Mittelalters erinnern manchmal an gute Plakate mit großzügigen Umrissen und sparsamen Mitteln. Aber die großen Künstler dieser Zeit verlangten doch nach ganz anderen Ausdrucksmöglichkeiten. Sie wollten ihre Beobachtungsgabe und ihre Meisterschaft im Detail zeigen, und dazu war der Holzschnitt nicht geeignet. Sie wählten daher ein anderes Material, mit dem sich zartere Wirkungen erzielen ließen. Statt Holz verwendeten sie Kupfer. Beim Kupferstich ist das Verfahren ein wenig anders als beim Holzschnitt: Beim Holzschnitt schneidet man alles weg mit Ausnahme der Linien, die sichtbar sein sollen. Beim Kupferstich graviert man die Linie mit dem scharfen, harten Grabstichel in die Kupferplatte. In jeder Linie, die man so in die Oberfläche des Metalls ritzt, bleibt die Farbe oder Druckerschwärze haften* die über die Oberfläche gebreitet wird. Man bestreicht also die gestochene Kupferplatte mit Druckerschwärze und wischt sie wieder ab. Die Druckerschwärze hält sich dann nur in den eingravierten Strichen, und wenn man die Platte sehr stark gegen ein Blatt Papier drückt, wird sie darauf übertragen, "und der Druck ist fertig- Mit anderen Worten: Das Prinzip des Kupferstichs ist dem des Holzschnittes entgegengesetzt. Bei einem Holzschnitt lässt man die Linien stehen, beim Kupferstich gräbt man sie in die Platte ein. Nun ist es allerdings schwer, den Grabstichel sicher zu führen und die Linien genau in der gewünschten Tiefe und Stärke einzuritzen; aber wenn man diese Kunst einmal beherrscht, kann man natürlich bei einem Kupferstich viel mehr Details und Effekte erzielen als bei einem Holzschnitt. Einer der größten und berühmtesten Meister des Kupferstichs im fünfzehnten Jahrhundert war Martin Schongauer ( i ^ s t f - ^ 1 ) *
der in Colmar am Oberrhein lebte. Abb. 185 zeigt Schongauers Kupferstich >Geburt Christic. Die Szene ist im Geiste der großen niederländischen Meister dargestellt. Wie sie war auch Schongauer eifrigst darauf bedacht, jedes kleine alltägliche Detail zu zeigen und uns die Oberfläche der dargestellten Gegenstände anschaulich zu machen. Dass ihm das ohne Hilfe von Pinsel und Ölfarbe möglich war, grenzt an ein Wunder. Wenn man seine Stiche durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, kann man im Einzelnen studieren, wie es ihm gelang, die Eigenart der zerbrochenen Steine und Ziegel, die Blumen in den Mauerritzen, den Efeu, der am Gewölbe entlangklettert, das Fell der Tiere und die Haare und Bärte der Hirten getreulich wiederzugeben. Aber nicht nur seine Geduld und Meisterschaft sind bewundernswert. Man kann an diesem Weihnachtsbild seine Freunde haben, auch wenn man nicht weiß, dass Kupferstechen eine schwierige Kunst ist. Da kniet Maria in der verfallenen Kapelle, die als Stall verwendet wird. Sie ist versunken in die Anbetung des Kindes, das sie sorgsam auf einen Zipfel ihres Mantels gebettet hat, und der heilige Josef mit seiner Laterne schaut besorgt und väterlich zu ihr hinüber. Der Ochse und der Esel beten mit. Gerade nähern sich die Hirten bescheiden und andächtig. Im Hintergrund empfangt einer von ihnen die Botschaft des Engels. Rechts oben erscheinen die himmlischen Engelscharen, die ihr >Friede auf Erden< singen. An und für sich sind alle diese Motive in der Überlieferung der christlichen Kunst verwurzelt, aber die Art, wie sie kombiniert und über das Blatt verteilt sind, ist Schongauers persönliches Werk. In mancher Beziehung sind die Kompositionsprobleme in der Graphik die gleichen wie bei einem Altarbild. In beiden Fällen darf die Raumdarstellung und die naturgetreue Wiedergabe das Gleichgewicht der Komposition nicht zerstören. Nur wenn wir dies im Auge behalten, können wir die Leistung Schongauers voll würdigen. Wir verstehen jetzt, warum er eine Ruine als Schauplatz gewählt hat — sie gab ihm den festen Rahmen für die Szene, auf die wir durch eine Lücke im Mauerwerk schauen. So konnte er auch seine Hauptfiguren vor einen schwarzen Hintergrund
stellen und vermeiden, dass auch nur ein Fleck seines Stiches leer oder bedeutungslos wirkte. Wie sorgfaltig er die Komposition durchdacht hat, sieht man, wenn man zwei Diagonalen durch das Blatt legt: Sie kreuzen sich im Kopf der Maria, der der Mittelpunkt des Stiches ist. Die Kunst des Holzschnittes und Kupferstiches verbreitete sich rasch in ganz Europa. Es gibt italienische Kupferstiche in der Art Mantegnas und Botticellis und andere aus Frankreich und aus den Niederlanden. Diese Stiche waren ein neues Mittel für den Ideenaustausch unter den Künsdern Europas. Damals galt es noch nicht als ehrenrührig, eine Idee oder eine Komposition von einem anderen Künsder zu übernehmen, und viele bescheidenere Meister benützten Stiche als Musterbücher, bei denen sie Anleihen machten. Gerade so wie die Erfindung der Buchdruckerkunst den Austausch von Gedanken beschleunigte, ohne den es vielleicht nie zur Reformation gekommen wäre, so war es der Druck von Bildern, der den Sieg der italienischen Renaissance in den anderen Ländern Europas herbeiführte. Sie setzte der mittelalterlichen Kunst des Nordens ein Ende und führte dort zu einer Krise, die nur die größten Meister überwinden konnten.
Die Harmonie ist erreicht Toskana und Rom im frühen 16,. Jahrhundert
Das hetzte, was wir von der italienischen Kunst gesellen haben, war dir Kunst Bolüc Collis. Bottkelli lebte gegen Iffife des fünfzehnten Jahr hunderts, das clic* Italiener in einer für uns etwas verwirrenden Weiv: das Quattrocento nennen, d» h. nlie vier Munderter'. Der Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, des Cinquecento, ist die berühmteste Periode der italienischen Kunst und eine der größten Epochen überhaupt. Es war die Zeit, in der Leonardo und Michelangelo, Raffael und Tizian, Correggio und Giorgione in Italien schufen, während Dürer, Grunewald und Holbein jenseits der Alpen im Norden arbeiteten. Man kann sich wohl fragen, woher es kam, dass alle diese genialen Künstler im gleichen Zeitraum das Licht der Welt er bückten, aber solche Fragen sind leichter gestellt als beantwortet. Man kann Genies nicht erklären, man tut besser daran, sich an ihnen zu freuen. Was wir hier vorbringen, kann daher niemals eine Erklärung für das Phänomen der sogenannten >Hochrenaissance< sein, aber man kann doch wenigstens versuchen, herauszufinden, welche Umstände die plötzliche Entfaltung genialer Kräfte begünstigten. Ihre Wurzeln haben wir schon in der Zeit Giottos zu suchen, dessen Ruhm so groß war, dass die Gemeinde von Florenz darauf bestand, er und kein anderer solle den Glockenturm ihrer Kathedrale entwerfen. So begannen die Städte Italiens miteinander zu wetteifern und sich die größten Meister zu sichern, deren Werke ihnen zu Ruhm und Ehre gereichen sollten. Auch für die Künsder selbst lag natürlich ein großer Ansporn in dem Bestreben, sich vor den anderen hervorzutun, ein Ansporn, der im Norden vielfach fehlte; in den Ländern des Feudalismus hatten die Städte wesentlich weniger Unabhängigkeit und Lokalstolz. Darm kam die Zeit der großen Entdeckungen, die Zeit, in der sich die italienischen Künsder dem Studium der mathematischen Gesetze der Perspektive zuwandten und die Anatomie des menschlichen Körpers studierten. Durch die Entdeckungen weitete sich der Horizont der Künstler. Sie waren nicht länger Handwerker unter anderen Handwerkern, die auf Bestellung Schuhe, Schränke oder Bilder anfertigten. Sie waren
unabhängige Meister ihrer Kunst, die die Geheimnisse der Natur erforschten und in die verborgenen Gesetze des Universums eindringen mussten, um zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Es ist kaum verwunderlich, dass die führenden Künstler mit der neuen Auffassung ihres Berufes sich in ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht wohl fühlten. Denn eigentlich war sie noch immer dieselbe wie einst im alten Griechenland, wo die Snobs vielleicht einen Dichter als ihresgleichen ansahen, weil er ein geistiger Arbeiter war, aber sicher keinen Bildhauer oder Maler, der von der Arbeit seiner Hände lebte. Auch das Problem der gesellschaftlichen Geltung wurde zu einem Ansporn zu immer größeren Leistungen, denn nun wollten die Künsder die Umwelt zwingen, sie nicht nur als ehrbare Handwerker, sondern als begabte Meister anzuerkennen. Es war kein leichter Kampf, und er führte auch nicht sofort zum Sieg. Es ging ja um uralte, tief eingewurzelte Vorurteile. Die meisten Vornehmen, die gerne einen Gelehrten bei sich sahen, der Latein sprach und für jede passende oder impassende Gelegenheit das richtige klassische Zitat wusste, hätten sich kaum mit einem Künsder zu Tisch gesetzt, der am Tag in einem schmutzigen Kittel in der Werkstatt arbeitete. Aber auch hier kam der Ehrgeiz der Vornehmen den Künsdern zu Hilfe. Es gab viele kleine Höfe in Italien, die es für dringend nötig hielten, in der Achtung der Welt zu steigen. Einen großen Palast zu bauen, ein prunkvolles Grabmal zu errichten, einen berühmten Meister zu beauftragen, einen Zyklus von Fresken oder ein Altargemälde zu malen, war ein guter Weg, um sich einen Namen zu machen und sich Ruhm bei der Nachwelt zu sichern. Gerade weil es so viele Zentren gab, die alle um die berühmtesten Meister warben, konnten die Künsder jetzt ihre Bedingungen stellen. Einst war es der Fürst gewesen, der dem Künsder seine Gunst gewährte; mm kam es fast so weit, dass die Rollen vertauscht waren. Es war der Künstler, der dem Fürsten eine Gnade erwies, wenn er den Auftrag von ihm annahm und auch ausführte. So geschah es, dass die Künsder sich oft die Aufträge aussuchen konnten, die ihnen am meisten zusagten, und dass
sie immer weniger gezwungen waren, sich den Launen und Bedingungen ihrer Auftraggeber zu fügen. Ob diese neue Machtstellung der Künstler auf die Dauer ein reiner Segen für die Kunst war, ist nicht leicht zu sagen. Aber im Anfang löste dieser Umschwung jedenfalls ein gewaltiges Maß von Energie aus. Endlich war der Künstler frei. Auf keinem Gebiet war diese Wandlung so einschneidend wie auf dem der Architektur. Seit der Zeit des Brunelleschi (S. 168) musste ein Architekt auch klassische Bildung haben. Er musste die antiken Säulenordnungen beherrschen, d. h. die Regeln und Proportionen der dorischen, ionischen und korinthischen Kapitelle und Gebälke. Er musste die antiken Ruinen vermessen und antike Manuskripte studieren. Da gab es vor allem ein Werk des Vitruvius aus der Zeit des Kaisers Augustus über die griechische und römische Baukunst, das viele dunkle und schwierige Stellen enthielt, deren Deutung den Scharfsinn der Gelehrten auf eine schwere Probe stellte. Auf keinem anderen Gebiet der Kunst war die Kluft zwischen den normalen Bedürfnissen der Auftraggeber und den Idealen der Renaissance so groß wie auf dem Gebiet der Baukunst. Am liebsten hätten die gelehrten Baumeister nur Tempel und Triumphbögen gebaut, aber was man von ihnen verlangte, waren Stadthäuser und Kirchen. Wir erinnern uns, wie Alberti (Abb. 163) diesen tief gehenden Konflikt durch einen Kompromiss löste, indem er die antiken Säulenordnungen als Pilaster vor einen modernen Stadtpalast legte. Aber der wahre Ehrgeiz der Renaissance-Architekten war immer noch, Gebäude ohne Rücksicht auf ihren Gebrauchszweck zu entwerfen, allein um der schönen Maßverhältnisse willen. Sie sehnten sich nach Gebilden von vollkommener Symmetrie und Harmonie, die unerreichbar blieben, wenn man den praktischen Erfordernissen der Gebäude Rechnung trug. So war es ein denkwürdiger Augenblick in der Geschichte der Kunst, als einer dieser Meister wirklich einen mächtigen Schutzherrn fand, der bereit war, Tradition und praktischen Zweck völlig außer Acht zu lassen, um einen Bau zu errichten, der die sieben Weltwunder an Glanz übertreffen sollte. Nur so können wir verstehen, wie
Papst julius II, ito Jahre >15-06 dazu kam, die altehrwürdige Basilika des heiligen Petrus niederzureißen, die seit mehr als tausend Jahren auf der Stelle stand, wo der heilige Petrus nach der; Legende begraben lag, nnd sie in einer Form neu aufbauen zd lässeaa/.die den ältesten Traditionen des Kirchenbaus und den Gebräuchen des Gottesdienstes zuwiderlief. Der Mann, dem er. diesen Auftrag erteilte, war Dohato Bramante (1444-1514), ein begeisterter Vorkämpfer des neuen Stils.; Abb. 187 zeigt eines der wenigen von ihm entworfenen Gebäude, das sich unverändert erhalten hat. Es ist eine Kapelle oder, ein >Tempietto< (kleinerTempel), wie er es nannte, der dite Stelle bezeichnen sollte, an derdertkeiligte'Petrus dasiMartyrium/eiditt. Er hat» die Foimieines kleinen Pavillons , eiivrunde-s, Gebäude .auf einem Sockel von Stufen, f©jn eineriKol'onnadeTidorisßher Ordnung umschlossen, und von einer Kuppel gekrönt. Die Balustrade, die über dem-.Gebälk verläuft, gibt dem • ganzen »Gebäude einen leichten, anmutigen Charakter; und der Säulenkranz :s.ehM;efit>sich' SQtharmöriisch um' den Mittelbau wie bei den Tempeln des- klassischen Altertums. Ursprünglich hätten sich seine Formen wohl noch in dem Kretizgang des Klosterhofs, in-dem die Kapelle-stehle wi^derhelen söjlen>, ;uiri^eili Bild vollkommener, Symmetrie nuid'Harmonie zigusgogeben.*. Diesem Meister also hatte; der Papst den Auftrag erteilt, die neue Peterskirche zu entwerfen, die ein wahres Wunder der .Christenheit werden sollte. Bramante war entschlossen, di© tausendjährige Überlieferung des Abendlandes außer Acht zu lassen, die das Gotteshaus als lang gestreckte Halle zu gestalten pflegte, in der die Gemeinde ostwärts gegen den Hauptaltar blickt, an dem die Messe gelesen wird. Nur ein Bau von vollkommener Regelmäßigkeit und Symmetrie aber konnte nach Bramantes Überzeugung einer so heiligen Stätte würdig sein, und so entwarf er eine quadratische Kirche, in der ein Kranz von Kapellen um eine riesige kreuzförmige Mittelhalle angeordnet war. Diese Halle sollte von einer gewaltigen Kuppel gekrönt werden, deren Last auf riesigen Pfeilern ruhte, wie wir von
der Gründüngsmedaille wissen (Abb. 186). Es hieß, Bramante hoffte, die Wirkung des größten antiken Bauwerks, des Kolosseums (Abb. 73), dessen hochragende Ruinen die Besucher Roms noch immer überwältigten, mit der des Pantheons (Abb. 75) zu vereinigen. Für einen kurzen Augenblick trug die Bewunderung der Antike und der Wunsch nach dem nie Dagewesenen wirklich den Sieg über alle geheiligten Traditionen und praktischen Erwägungen davon. Aber Bramantes Entwurf für St. Peter sollte nie ausgeführt werden. Der gewaltige Bau verschlang so riesige Mittel, dass des Papstes Bemühungen, die nötigen Gelder aufzutreiben, die Krise beschleunigten, die zur Reformation führte. War es doch die Praxis der sogenannten Ablasshändler, Beiträge für den Bau von St.; Peter gegen päpstliche Ablassbriefe einzukassieren; die Luther den Anlass zu einem ersten öffentlichen Protest gegen das Papsttum gab. Aber auch innerhalb der katholischen Kirche selbst wuchs der Widerstand- gegenriBsamantes: Plan, und nach Jahren wurde die Idee einer runden, völlig Symmetrischen Kirche aufgegeben. "Die Peterskdrche, wie sie heute steht, hat mit Bramantes Entwurf wenig gemeinsam außer ihren riesigem, Ausmaßen. Der kühne Unternehmungsgeist, der Bramantes Entwurf für St. Peter möglich machte, ist charakteristisch für die Hochrenaissance, das heißt die Epoche um 1500; die so viele der größten Künstler hervorgebracht hat. Diesen Männern schien nichts unmöglich, und so kam es vielleicht, dass -sie das scheinbar Unmögliche auch erreichten. Wieder war Florenz die Geburtsstätte der führenden Geister dieser Epoche. Seit den Tagen Giottos; um 1300, und Masaccios.um 1400, war sich Florenz seiner künstlerischen Tradition besonders bewusst. Es war. ein berechtigter Stolz, denn es sollte-sich zeigen, dass die ganz großen Meister fast immer auf dem Boden einer solchen fest gegründeten Überlieferung erwuchsen. Wir werden darum gut daran tun, der einfachen Handwerksmeister zu gedenken, in deren Werkstätten die großen Genies die Grundlagen ihrer Kunst erlernten. Der älteste dieser großen Meister, Leonardo da Vinci ( 1 4 , 5 ^ 1519) , wurde in einem toskanischen Dorfe in der Nähe von Florenz
geboren. Er trat als Lehrjunge in die führende Florentiner Werkstatt jener Tage ein, und zwar in die des Malers und Bildhauers Andrea delVerrocchio (143^1488). Der Ruf Verrocchios war so groß, dass selbst die Republik Venedig bei ihm ein Denkmal für den Söldnerfuhrer Bartolommeo Colleoni bestellte, der sich um die Stadt mehr durch wohltätige Stiftungen als durch besondere Kriegstaten verdient gemacht hatte. Das Reiterstandbild Verrocchios (Abb. 188-189) beweist, dass er ein würdiger Erbe der Tradition Donätellos war. Er studierte genau die Anatomie des Pferdekörpers, und man sieht, wie klar und deutlich er die Muskeln und Sehnen in Colieonis Gesicht beobachtet hat. Aber am bewundernswertesten ist die Haltung des Reitars, der an der Spitze seiner Truppen kühn und herausfordernd in die Schlacht zu ziehen scheint. Die folgenden» Zeiten haben uns so viele Denkmäler beschert, so viele mehr oder weniger kühne Kaiser, Könige und Feldherren, die über die Straßen und Plätze unserer Städte reiten, dass wir vielleicht ein» wenig Zeit brauchen^ um uns der Größe und eindringhchen Schlichtheit von Verrocchios Werk voll bewusst zu werden. Sie hegt in der klaren einprägsamen Silhouette des Denkmals, die sich dem Blick von jeder Seite bietet, und der gesammelten Kraft, die den geharnischten Mann midisein Streitross vorwärts zu treiben scheint. In einer Werkstatt, die solche Meisterleistungen zustande brachte, konnte der junge Leonardo sicher viel lernen. Man würde ihn dort in die technischen Geheimnisse des Erzgusses und anderer Metallarbeiten einführen, er würde lernen, wie man Bilder und Statuen durch das Studium nach nackten und bekleideten Modellen vorbereitet, wie man Pflanzen und seltene Tiere abzeichnet, um sie später in Gemälden anzubringen, und er würde eine gründliche Einführung in die Gesetze der Perspektive und den Gebrauch der Farbe erhalten. Eine solche Lehrzeit hätte aus jedem begabten jungen Menschen einen tüchtigen Künstler gemacht, und tatsächlich sind viele ausgezeichnete Maler und Bildhauer aus Verrocchios erfolgreicher Werkstatt hervorgegangen. Aber Leonardo war mehr als ein
Jahrhunder
begabter junger Mensch. Er war ein Genie, dessen Geistesgewalt gewöhnlichen Sterblichen für alle Zeiten ein Gegenstand des Staunens und der Verwunderung bleiben wird. Wir können etwas von der Größe und Tiefe von Leonardos Geist ahnen, denn seine Schüler und Verehrer haben seine Zeichnungen und Notizen sorgfaltig aufbewahrt, und so ist ein Teil davon erhalten geblieben. Da gibt es Tausende von Seiten mit Notizen und Entwürfen, mit Auszügen aus Büchern, die Leonardo gelesen hat, und Plänen für Bücher, die er schreiben wollte. Je mehr man sich in diese Schriften versenkt, desto weniger kann man begreifen, wie ein einzelner Mensch alle diese verschiedenen Gebiete beherrschen, sich darin auszeichnen und nahezu auf jedem Gebiet grundlegend Neues leisten konnte. Vielleicht war das gerade darum möglich, weil Leonardo eben kein zünftiger Gelehrter war, sondern ein Florentiner Künstler. Er sah die Aufgabe des Künstlers darin, die gesamte sichtbare Welt zu erforschen, so wie es schon seine Vorgänger getan hatten, nur unvergleichlich tiefer, gründlicher und genauer. Für die Buchweisheit der damaligen Gebildeten hatte er nicht viel übrig. An einer Stelle sagt er selbst, dass ihn die Wissenschaftler als einen ungebildeten Menschen abtun wollten. Die Gelehrten seiner Zeit konnten sich kein Wissen vorstellen, das nicht auf der Autorität der Bibel oder der antiken Schriftsteller fußte. Leonardo aber wollte sich nur auf seine eigenen Augen verlassen. Wann immer ihm ein Problem unterkam, dachte er nicht zuerst daran, bei den alten Schriftstellern nachzuschlagen, sondern stellte Experimente an, um die Lösung zu finden. Es gab nichts in der ganzen Natur, das seinen Forschungstrieb nicht gereizt hätte. Er forschte nach den Rätseln des menschlichen Körperbaus und sezierte mehr als dreißig Leichen, um den Verlauf der Adern, Muskeln und Sehnen zu zeichnen und zu beschreiben (Abb. 190). Er war einer der Ersten, der das geheimnisvolle Wachstum des Kindes im Mutterleib wissenschaftlich untersuchte; er beobachtete die Strömungen und Wirbel des Wassers und der Luft und widmete viele Jahre dem Studitun des Insekten- und Vogelfluges. Er wollte selbst
eine Flugmaschine konstruieren und glaubte fest daran, dass dieser Plan einmal verwirklicht werden könnte. Die Formationen der Felsen und der Wolken, der Einfluss der Atmosphäre auf die Farben entfernter Gegenstände, die Gesetze des Wachstums der Blumen und der Bäume, die Harmonien der Töne, all das und vieles mehr wurde zum Gegenstand seiner rastlosen Forschungen, die zur Basis seines künstlerischen Schaffens werden sollten. Den Zeitgenossen erschien Leonardo als ein faszinierender, aber etwas unheimlicher Sonderling. Prinzen und Feldherren nahmen diesen seltsamen Hexenmeister gern als Festimgsingenieur und Waffenkonstrukteur in Dienst. In Friedenszeiten entwarf er für sie großzügige Pläne zur Kanalisierung des Landes und amüsierte sie mit der Erfindung von neuen Theatereffekten und Festzügen oder mit mechanischen Spielereien. Gewiss war er als großer Künstler bewundert und als ein glänzender Musiker beliebt, aber trotz alldem können doch nur sehr wenige eine Ahnung von der Bedeutung seiner Ideen und der Reichweite seines Wissens gehabt haben. Das lag daran, dass Leonardo keine einzige seiner Schriften veröffentlichte und dass wohl nur die wenigsten überhaupt von ihrer Existenz wussten. Er war linkshändig und schrieb alle seine Notizen in Spiegelschrift, sodass sie schon darum schwer zugänglich waren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich fürchtete, seine Entdeckungen bekannt zu machen, I um nicht als Ketzer verschrien zu werden. So finden sich in seinen Notizen die fünf Worte: >Die Sonne bewegt sich nichtfreien< und den >unfreien< Künsten unterschied. Die freien Künste waren zum Beispiel Rhetorik, Logik, Grammatik und Geometrie, kurz alles, was mit der Erziehung eines freien Mannes vereinbar war und was ihn nicht zwang, in die Hände zu spucken und körperliche Arbeit zu leisten wie ein gewöhnlicher Sklave. Es war der Ehrgeiz von Männern wie Leonardo, zu zeigen, dass die Malerei eine solche >freie< Kunst sei und dass der Künsder beim Malen seine Hände nicht mehr brauchte als etwa der Dichter beim Schreiben. Es kann sein, dass seine Ansichten von der Würde der Kunst sein Verhältnis zu seinen Auftraggebern häufig beeinflussten. Er wollte nicht als Ladenbesitzer betrachtet werden, bei dem jeder ein Bild bestellen konnte. Jedenfalls wissen wir, dass Leonardo oft Aufträge unerledigt hegen ließ. Er begann ein Bild und machte es trotz der dringenden Bitten der Besteller nicht fertig. Er bestand darauf, dass nur er selbst entscheiden könne, wann ein solches Werk wirklich vollendet sei, und solange er selbst nicht damit zufrieden war, gab er es nicht aus der Hand. So kam es, dass nur sehr wenige seiner Werke jemals vollendet wurden und dass seine Zeitgenossen oft darüber klagten, dass er sich verzettelte und seine Zeit verschwende, rasüos umherziehend von Florenz nach Mailand, von Mailand wieder
nach Florenz und in die Dienste des berüchtigten Abenteurers Cesare Borgia, dann nach Rom und schließlich an den Hof König Franz I. von? Frankreich, wo er 1519, mehr bewundert als verstanden, starb. Durch eine unglückliche Fügung sind selbst die wenigen Werke, die Leonardo in seinen reifen. Jahren fertig stellte, nur in einem sehr schlechten Erhaltungszustand auf uns gekommen. Auch Leonardos berühmtestes Wandgemälde, >Das letzte AbendmahU (Abb. 191,192), das er für das Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand malte,,ist heutzutage nur mehr eine Ruine. Wir müssen versuchen, uns den Eindruck vorzustellen, den das Bild auf die Mönche machte, als es enthüllt wurde und als plötzlich neben den langen Tafeln der Mönche die Tafel des Heilands und seiner Apostel erschien. Niemals zuvor hatte man die heilige Geschichte so nahe und lebendig vor Augen gehabt. Es; war, als wenn sich ein zweiter Raum neben dem ihren geöffnet hätte, in dem gerade das letzte Abendmahl stattfand. Wie klar fiel das Licht auf die Tafel und ließ I die Gestaltung plastisch hervortreten! Vielleicht waren die Mönche I zunächst vor allem über die Naturtreue verblüfft, mit der alle EinzelI heiten, das Tischtuch mit dem Gedeck, die Gewänder und die Falten I abgebildet waren. Denn damals wie heute wurden ja Kunstwerke I von Laien meist nach dem Grad ihrer Naturtreue beurteilt. Und doch kann das nur der erste Eindruck gewesen sein. Wenn sie sich an der gelungenen Illusion satt gesehen hatten, wandten sich die Mönche [ gewiss dem Sinn der biblischen Szene zu, wie Leonardo sie abgebildet hatte. Die Mönche erwarteten wohl, die Szene in der herkömmlichen Weise dargestellt zu sehen, in der die Apostel ruhig an einer Seite der Tafel aufgereiht sitzen - mit Ausnahme des Judas, der ausgesondert ist -, während Christus das Sakrament spendet. Hier aber spielte sich ein aufregendes Drama ab, Wie einst Giotto, so war auch Leonardo auf den Text der Heiligen Schrift zurückgegangen und hatte versucht, es sich auszumalen, wie es wohl gewirkt haben mochte, als Jesus sprach: >Wahrlich ich sage euch: Einer unter euch wird mich verratene und die Jünger >sehr betrübt< wurden und >hoben an, ein
jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: Herr, bin ich's?< (Matthäus 26,21-2.2). Und das Evangelium des Johannes fugt noch hinzu: >Es war aber einer unter den Jüngern, der zu Tische saß an der Brust Jesu, welchen Jesus heb hatte. Dem winkte Simon Petrus, dass er forschen sollte, wer es wäre, von dem er sagte< (Johannes 13,23-24). Dieses Winken und Fragen ist es, das Bewegung in die Szene bringt. Christus' hat gerade die tragischen Worte gesprochen, und seine Tischnachbarn schrecken von dieser furchtbaren Enthüllung zurück. Einige scheinen ihre liebe und Unschuld zu beteuern, andere miteinander zu streiten, wen der Herr wohl gemeint haben könne; wieder andere blicken auf ihn und hoffen, er werde seine Worte noch erklären. Petrus, der Stürmischste von allen, ist aufgesprungen und neigt sich rasch zu Johannes, der zur Rechten Jesu sitzt. Er flüstert ihm etwas ins Ohr und stößt dabei unabsichtlich Judas nadh vorne. Judas ist nicht von | den anderen abgesondert, und doch wirkt er wie isoliert. Er allein gestikuliert nicht und fragt nicke. Er neigt sich nach vorne, sodass seine Gestalt im Schatten hegt, und schaut ärgerlich oder misstrauisch zu Jesus hin, der ruhig Ä'd^gefasst! in dem-Sturm dasitzt?,-den seine Worte entfesselt haben; Man fragt sich.;, wie lange diese ersten Beschauer brauchten, um sieh der hohen Kunst bewusst zu werden, mit der Leonardo diese dramatisch bewegte iSzenö gemeistert hat. Trotz der Aufregung, die die Worte Christi hervorgerufen haben, ist die Gruppe doch nicht chaotisch. Die zwölfijünger-fügen sich ganz natürlich in vier Dreiergruppen, von denen jede mit der anderen durch Bewegungen und Gebärden verbunden ist. Trotz aller Vielfalt ist das Gesamtbild so klar, und bei aller Übersichtlichkeit doch so vielfaltig, dass man das harmonische Ineinanderspielen aller Bewegungen nie ausschöpfen kann. Vielleicht wird uns die Größe von Leonardos Leistung am ehesten bewusst, wenn wir an das Problem der Komposition denken, das wir bei der Beschreibung von Pollaiuolos hl. Sebastian (Abb. 171) besprochen haben. Wir erinnern uns daran, wie die Künsder jener Generation darum rangen, die Forderungen nach naturgetreuer Darstellung mit jenen nach bildmäßiger Anordnung zu
vereinen. Wir erinnern uns auch, w i e steif und gekünstelt Pollaiuolos
Lösung dieses Problems wirkt. Leonardo, der nur wenig jünger war als Pollaiuolo, hat es scheinbar spielend gemeistert. Wenn wir einen Augenblick vergessen, was die Szene darstellt, so bleibt doch die Freude an der schönen Gruppierung der Gestalten. Die Komposition hat das mühelose Gleichgewicht und die schlichte Harmonie, die von gotischen Künsdern erreicht worden war und die, wie wir uns erinnern, Maler wie Rogier van der Weyden und Botticelli jeder in seiner Art wieder zu erlangen strebten. Aber im Gegensatz zu den Meistern der Gotik brauchte Leonardo nicht mehr die richtige Zeichnung und die naturgetreue Beobachtung der Gesamtanordnung zu opfern. Wenn wir nicht an die Schönheit der Komposition denken, fühlen wir uns vor ein Stück Wirklichkeit versetzt, so eindringlich und überzeugend wie etwa in den Werken Masaccios oder Donatellos. Aber auch diese Feststellung erschöpft noch nicht die wahre Größe des Werkes. Denn weit über solche Dinge wie Komposition oder Naturtreue hinaus müssen wir Leonardos tiefe Einsicht in die menschliche Natur bewundern und die Macht seiner Fantasie, die es ihm möglich machf te, uns die heilige Erzählung so vor Augen zu führen. Ein Augenzeuge berichtet, dass er oft Leonardo bei der Arbeit am >Abendmahl< gesehen hat. Er sah, wie Leonardo auf das Gerüst stieg und wie er manchmal dort einen ganzen Tag in tiefen Gedanken stand, ohne einen einzigen Strich zu malen. Diese tiefen Gedanken sind es, die im Werk schließlich Gestalt gewannen, und auch in der Zerstörung bleibt das >Abendmahl< eines der größten Wunder. Es gibt ein Bild von Leonardo, das vielleicht noch berühmter ist als das >Abendmahl< - das Bild der Florentinerin, die Lisa hieß, der >Mona Lisa< (Abb. 193). Es ist vielleicht kein reiner Segen für ein Kunstwerk, so ungeheuer berühmt zu sein, wie es die >Mona Lisa< ist. Wir sind so gewohnt, sie auf Ansichtskarten und selbst in Reklamebildern zu sehen, dass es schwer wird, sie mit >neuen Augen< zu betrachten und sich wieder klarzumachen, dass hier ein wirklicher Mensch, eine wirkliche Person von Fleisch und Blut porträtiert
wurde. Aber es lohnt sich, einen Augenblick zu vergessen, was wir über das Bild wissen oder zu wissen glauben, und es so anzusehen, als wenn wir die Ersten wären, die es zu Gesicht bekommen. Was uns dann zuerst auffallt, ist, wie ungeheuer lebendig das Bild der Lisa wirkt. Man hat das Gefühl, dass sie uns wirklich ansieht und eine eigene Seele besitzt. Denn so wie ein lebendiges Wesen scheint sie sich immer wieder vor unseren Augen zu verändern und jedes Mal ein wenig anders auszusehen, wenn man zu ihr zurückkehrt. Selbst Abbildungen geben uns etwas von diesem eigenartigen Gefühl, aber vor dem Original im Louvre ist es beinahe unheimlich. Manchmal scheint sie sich über uns lustig zu machen, dann kommt es uns wieder vor, als ob etwas von Traurigkeit in ihrem Lächeln wäre. Das alles klingt ziemlich mysteriös, und das ist es schließlich auch. Denn die Wirkung eines großen Kunstwerkes ist immer rätselhaft. Und doch können wir sicher sein, dass Leonardo genau wusste, wie und mit welchen Mitteln er diese Wirkung erzielte. Als tiefer Beobachter der Natur wusste er mehr als irgendjemand vor ihm von der Art und Weise, wie das Sehen zustande kommt. So war es ihm klar geworden, dass die Eroberung der Natur durch die Malerei den Künsder vor ein neues Problem stellte, ein Problem, das nicht weniger kompliziert war als das, die richtige Naturdarstellung mit einer übersichdichen Komposition zu vereinigen. Die großen Kunstwerke der italienischen Meister des Quattrocento, die den Spuren Masaccios folgten, haben eines gemeinsam: Ihre Gestalten wirken eher hart und steif, beinahe hölzern. Das Sonderbare dabei ist, dass das gewiss nicht an einem Mangel an Geduld oder sorgfaltiger Beobachtung liegt. Niemand konnte die Natur mit größerer Geduld und Sorgfalt nachahmen als Jan van Eyck (Abb. 158), und niemand konnte die Naturdarstellung und Perspektive besser beherrschen als Mantegna (Abb. 169). Und doch wirken bei aller Größe und Eindringlichkeit diese Gestalten mehr wie Statuen als wie lebendige Wesen. Vielleicht liegt das an Folgendem: Je genauer und gewissenhafter wir eine Gestalt, Einzelheit um Einzelheit und Strich um Strich, abmalen, desto weniger
kann man sich schließlich vorstellen, dass sie jemals geatmet und sich bewegt hat. Sie wirkt, als hätte sie der Maler plötzlich verzaubert, sodass sie für alle Zukunft stocksteif dastehen muss wie die schlafbefangenen Menschen in >DornröschenMona Lisa< (Abb. 194) zurückkehren, verstehen wir vielleicht etwas mehr von dem Geheimnis ihrer Wirkung. Wir sehen, dass Leonardo das Kunstmittel des Sfumato mit äußerster Zielbewusstheit angewandt hat. Jeder, der nur einmal versucht hat, irgendein Gesicht zu zeichnen oder zu kritzeln, weiß, dass der Gesichtsausdruck hauptsächlich an Zweigstellen konzentriert ist: in den Mundwinkeln und in den Augenwinkeln. Gerade diese Partien aber sind es, die Leonardo absichtlich undeutlich gehalten hat, indem er sie in Schatten verschwimmen ließ. Das ist der Grund, warum wir nie sicher wissen, wie uns >Mona Lisa< ansieht. Ihr Ausdruck scheint uns immer zu entgleiten. Natürlich kann Undeutlichkeit allein diese Wirkung nicht hervorbringen. Es steckt viel mehr dahinter. Leonardo hat ein großes Wagnis unternommen, ein Wagnis, auf das sich nur ein Künsder von solcher Meisterschaft einlassen konnte: Wenn
wir nämlich ganz genau hinsehen, bemerken wir, dass die beiden Hälften des Bildes einander nicht ganz entsprechen. Das sieht man am besten in der fantastischen Traumlandschaft des Hintergrundes. Der Horizont auf der linken Seite scheint viel tiefer zu hegen als der auf der rechten. Wenn wir daher die linke Seite des Bildes ins Auge fassen, so wirkt die Gestalt der >Mona Lisa< irgendwie größer und aufrechter, als wenn wir uns auf die rechte Bildseite einstellen. Und auch ihr Gesicht scheint sich bei diesem Wechsel unseres Blickpunktes zu verändern. Denn auch hier sind die beiden Hälften nicht ganz gleich. Aber mit all diesen raffinierten Kunstgriffen hätte Leonardo vielleicht nur ein frappantes Effektstück statt eines wirklichen Kunstwerkes geschaffen, hätte er nicht genau gewusst, wie weit er gehen durfte, und hätte er nicht sein wagemutiges Abweichen von der Natur durch eine geradezu unglaublich lebendige Wiedergabe der atmenden Oberfläche wettgemacht. Man muss nur sehen, wie er die Hände modelliert oder wie er jedes kleine Fältchen am Ärmel wiedergibt. Leonardo konnte die Natur so geduldig und sorgfältig beobachten wie irgendeiner seiner Vorgänger; aber er war nicht mehr einzig und allein ihr getreuer Diener. Einstmals in der grauen Vergangenheit hatten die Menschen Bildnisse mit einer gewissen Scheu betrachtet. Sie glaubten, dass der Künsder mit der Ähnlichkeit der Züge auch die Seele des Porträtierten in seinem Bild gebannt halten konnte. Nim hatte der große Naturforscher Leonardo etwas von den Träumen
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Ängsten dieser ersten Bildermacher zur Wahrheit werden lassen. Sein Pinsel ward zum Zauberstab, mit dem er den toten Farben auf der Leinwand Leben einhauchte. Der zweite große Florentiner, durch den die italienische Kunst des Cinquecento so berühmt wurde, war Michelangelo Buonarroti (1475--1^64). Michelangelo war 23 Jahre jünger als Leonardo und überlebte ihn um 45- Jahre. In seinem langen Leben sah er einen vollständigen Wandel in der Stellung des Künsders. Bis zu einem gewissen Grad war er selbst für diesen Wandel verantwortlich. In seiner Jugend ging Michelangelo ebenso in die Lehre wie andere
Handwerksburschen. Im Alter von 13 Jahren wurde er auf drei Jahre in den regen Werkstattbetrieb eines der führenden Meister des späteren Quattrocento gegeben, des Florentiner Malers Domenico Ghirlandaio (1449—1494). Ghirlandaio war vielleicht kein sehr großer Künsder, aber einer jener tüchtigen Meister, deren Werke das farbenprächtige Leben ihrer Zeit treu und erfreulich widerspiegeln. Er verstand es, die heiligen Geschichten so zu erzählen, als wenn sie sich gerade in einem der reichen Bürgerhäuser des Medici-Kreises abgespielt hätten, in denen seine Auftraggeber lebten. Abb. 195 stellt die Geburt Maria dar, und wir sehen, wie die Verwandten ihrer Mutter, der heiligen Anna, ihre Gratulationsvisite in der Wochenstube abstatten. Wir blicken in ein vornehmes Gemach des späten fünfzehnten Jahrhunderts und sind Zeugen dieser etwas steifen Zeremonie bei einer Dame der Gesellschaft. Ghirlandaio konnte seine Gruppe wirksam verteilen und den Augen ein erfreuliches Schauspiel bieten. Er bewies, dass er den modischen Geschmack seiner Zeitgenossen an Werken antiker Kunst teilte, denn er vergaß nicht, ein Relief mit tanzenden Kindern im klassischen Stil über dem Bett der Wöchnerin anzubringen. In einer solchen Werkstatt konnte der junge Michelangelo sicher alle technischen Kunstgriffe erlernen, er konnte sich zum soliden Freskomaler ausbilden und das Zeichnen nach dem Modell üben. Aber soviel wir wissen, hatte Michelangelo wenig Freude an seiner Lehrzeit in dieser erfolgreichen Malerfirma. Er hatte eine andere Vorstellung von Kunst. Statt sich die unproblematische Manier des Ghirlandaio zu eigen zu machen, ging er Heber seine eigenen Wege und studierte die Werke der großen Meister der Vergangenheit, des Giotto, des Masaccio und des Donatello, sowie die griechischen und römischen Skulpturen, die er in den Sammlungen der Medici sehen konnte. Er wollte das Geheimnis der antiken Bildhauer ergründen, die die Darstellung des bewegten menschlichen Körpers mit all seinen Muskeln und Sehnen so wunderbar beherrschten. Genau wie Leonardo gab auch er sich nicht damit zufrieden, die Gesetze der Anatomie sozusagen aus zweiter Hand nach Bildwerken zu erlernen. Er sezierte
Leichen und zeichnete nach lebenden Modellen, bis der menschliche Körper keinerlei Geheimnisse mehr für ihn hatte. Aber während für Leonardo der Mensch nur eines unter den vielen faszinierenden Rätsel der Natur war, richtete Michelangelo sein ganzes Streben darauf, dieses eine Problem zu meistern und es völlig auszuschöpfen. Seine Konzentrationsfähigkeit und sein Gedächtnis müssen so hervorragend gewesen sein, dass es bald keine Stellung und keine Bewegung gab, deren Darstellung ihm Schwierigkeiten bereitete. Schwierigkeiten lockten ihn nur. Stellungen und Blickpunkte, die sich manch großer Quattrocento-Meister gescheut hätte in seine Bilder aufzunehmen, spornten nur seinen künstlerischen Ehrgeiz an, und bald hieß es, dass dieser junge Künstler die berühmten Meister des klassischen Altertums nicht nur erreicht hätte, sondern sie sogar überträfe. Heute, wo junge Künstler mehrere Jahre an Kunstschulen verbringen, wo sie Anatomie, Aktzeichnen, Perspektive und alle Kunstgriffe der Zeichenkunst studieren, wo sogar die meisten anspruchslosen Graphiker den menschlichen Körper mühelos von allen Seiten wiedergeben können, wird es uns gar nicht leicht fallen, uns vorzustellen, welch ungeheure Bewunderung allein Michelangelos Können bei seinen Zeitgenossen erregte. Mit 30 Jahren war er allgemein als der größte Meister seiner Zeit anerkannt, und man stellte ihn auf eine Stufe mit Leonardo. Die Stadt Florenz ehrte ihn dadurch, dass sie ihm und Leonardo den Auftrag erteilte, eine Episode aus der Florentiner Geschichte an die Wand des großen Saales im Rathaus von Florenz zu malen. Es war ein dramatischer Augenblick in der Geschichte der Kunst, als diese beiden Geistesriesen um den Siegespreis rangen und ganz Florenz aufgeregt den Fortschritt ihrer Skizzen und Vorbereitungen verfolgte. Leider sind beide Werke niemals vollendet worden. Leonardo kehrte 15x36 nach Mailand zurück, und Michelangelo erhielt eine Berufung, die seinen Ehrgeiz noch mehr anstachelte. Papst Julius II. ließ ihn nach Rom kommen, damit er ihm ein Grabmal errichtete, das des Oberherrn der Christenheit würdig sei. Wir haben schon im Zusammenhang mit St. Peter von den weitgreifenden Plänen dieses
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Die Harmonie ist erreicht
Handwerksburschen. Im Alter von 13 Jahren wurde er auf drei Jahre in den regen Werkstattbetrieb eines der fuhrenden Meister des späteren Quattrocento gegeben, des Florentiner Malers Domenico Ghirlandaio (1449-1494). Ghirlandaio war vielleicht kein sehr großer Künstler, aber einer jener tüchtigen Meister, deren Werke das farbenprächtige Leben ihrer Zeit treu und erfreulich widerspiegeln. Er verstand es, die heiligen Geschichten so zu erzählen, als wenn sie sich gerade in einem der reichen Bürgerhäuser des Medici-Kreises abgespielt hätten, in denen seine Auftraggeber lebten. Abb. 195 stellt die Geburt Mariä dar, und wir sehen, wie die Verwandten ihrer Mutter, der heiligen Anna, ihre Gratulationsvisite in der Wochenstube abstatten. Wir blicken in ein vornehmes Gemach des späten fünfzehnten Jahrhunderts und sind Zeugen dieser etwas steifen Zeremonie bei einer Dame der Gesellschaft. Ghirlandaio konnte seine Gruppe wirksam verteilen und den Augen ein erfreuliches Schauspiel bieten. Er bewies, dass er den modischen Geschmack seiner Zeitgenossen an Werken antiker Kunst teilte, denn er vergaß nicht, ein Relief mit tanzenden Kindern im klassischen Stil über dem Bett der Wöchnerin anzubringen. In einer solchen Werkstatt konnte der junge Michelangelo sicher alle technischen Kunstgriffe erlernen, er konnte sich zum soliden Freskomaler ausbilden und das Zeichnen nach dem Modell üben. Aber soviel wir wissen, hatte Michelangelo wenig Freude an seiner Lehrzeit in dieser erfolgreichen Malerfirma. Er hatte eine andere Vorstellung von Kunst. Statt sich die unproblematische Manier des Ghirlandaio zu eigen zu machen, ging er lieber seine eigenen Wege und studierte die Werke der großen Meister der Vergangenheit, des Giotto, des Masaccio und des Donatello, sowie die griechischen und römischen Skulpturen, die er in den Sammlungen der Medici sehen konnte. Er wollte das Geheimnis der antiken Bildhauer ergründen, die die Darstellung des bewegten menschlichen Körpers mit all seinen Muskeln und Sehnen so wunderbar beherrschten. Genau wie Leonardo gab auch er sich nicht damit zufrieden, die Gesetze der Anatomie sozusagen aus zweiter Hand nach Bildwerken zu erlernen. Er sezierte
u n d G e w e r b e . I m Mittelalter k o n n t e e i n t ü c h t i g e r Meiste r v o n einer Baustelle zur andern w a n d e r n , er k o n n t e v o n e i n e m Kloster in ein a n d e r e s e m p f o h l e n w e r d e n , u n d e s f i e l n i e m a n d e m e i n , i h n n a c h sein e m G e b u r t s o r t z u f r a g e n . A b e r als d i e Städte a n B e d e u t u n g g e w a n nen, schlössen sich a u c h die Künstler in Z ü n f t e n z u s a m m e n . Diese Zünfte waren in mancher Hinsicht etwas Ahnliches w i e die heutigen Gewerkschaften. Es w a r ihre Aufgabe, ü b e r die Recht e u n d Privilegien ihrer Mitglieder zu w a c h e n u n d ihnen einen Markt für ihre Erzeugnisse z u sichern. U m i n eine Zunft a u f g e n o m m e n z u w e r d e n , musste d e r Künstler b e w e i s e n , dass er i m s t a n d e war, b e s t i m m t e n A n s p r ü c h e n zu g e n ü g e n , dass er also tatsächlich ein Meister seiner Kunst war. D a n n erst d u r f t e er seine Werkstatt e r ö f f n e n , L e h r l i n g e b e s c h ä f t i g e n u n d Aufträge für Altargemälde, Bildnisse, bemalte Tru hen, Prozessionsfahnen u n d andere derartige Arbeiten ü b e r n e h m e n .
Die Zünfte und Innungen waren meist wohlhabende Vereinigungen, die bei der Verwaltung der Stadt mitzureden hatten und die nicht nur den Wohlstand der Stadt forderten, sondern sich auch nach Kräften bemühten, sie zu verschönern. In Florenz und an anderen Orten widmeten die Zünfte, die Goldschmiede, Tuchweber, Lederarbeiter usw., einen Teil des Vermögens der Stiftimg von Kirchen, dem Bau von Zimfthallen und der Errichtung von Altären und Kapellen. In dieser Hinsicht taten sie viel für die Kunst. Andererseits wachten sie aber ängstlich über die Interessen ihrer eigenen Mitglieder und machten es daher fremden Künstlern schwer, einen Auftrag zu erhalten oder sich bei ihnen niederzulassen. Nur den berühmtesten Meistern gelang es bisweilen, diesen Widerstand zu überwinden und so ungehindert von Ort zu Ort zu reisen, wie es zur Zeit der Errichtung der großen Kathedralen möglich gewesen war. All das hat für die Kunstgeschichte eine gewisse Bedeutung, denn dadurch wurde der >internationale Stil< um 1400 wohl der letzte internationale Stil in Europa - zumindest bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Im
fünfzehnten Jahrhundert zerfiel die Kunst in eine
ganze Reihe verschiedener >Schulendie geeignet wären, die Welt in Erstaunen zu setzenSixtinische Kapelle< hieß (Abb. 196). Die Wände dieser Kapelle waren von den berühmtesten Künstlern der vorangegangenen Generation, von Botticelli, Ghirlandaio und anderen, ausgemalt worden, aber das große Gewölbe der Decke war noch leer. Der Papst schlug vor, Michelangelo solle es ausmalen. Michelangelo tat, was er konnte, um diesem Auftrag auszuweichen. Er sagte, er sei eigentlich kein Maler, sondern ein Bildhauer. Er war überzeugt, dass dieser undankbare Auftrag wieder ein Werk seiner intrigierenden Feinde sei, die ihn blamieren wollten. Als der Papst festblieb, begann er, ein einfaches Schema mit zwölf Aposteln in Nischen zu entwerfen, und engagierte Gehilfen aus Florenz, die ihm beim Malen helfen sollten. Mit einem Mal aber schloss er sich in der Kapelle ein, ließ niemanden mehr in die Nähe kommen und begann, ganz allein an einem Entwurf zu arbeiten, der von dem Augenblick an, wo die Malerei enthüllt wurde, die Welt in Staunen gesetzt hat. Wir gewöhnlichen Sterblichen können uns kaum vorstellen, wie ein einzelner Mensch vollbringen konnte, was Michelangelo in vier Jahren einsamer Arbeit auf den Gerüsten der päpstlichen Kapelle geschaffen hat (Abb. 198). Die bloße physische Anstrengung, dieses riesige Fresko an die Decke der Kapelle zu malen, jede einzelne Szene und Gestalt Zug um Zug in Skizzen und Entwürfen vorzubereiten und dann auf die Mauer zu übertragen, ist fantastisch genug. Er musste
hochsinnigen, aber auch rücksichtslosen Papstes gehört,und man kann sich leicht denken, wie begeistert Michelangelo gewesen sein muss, für einen Mann arbeiten zu können, der die Mittel und den Willen, hatte, die kühnsten Entwürfe zu verwirklichen. Mit der Erlaubnis des Papstes reiste er sofort zu den berühmten Marmorbrufh^tii; Carrara, um dort die Blöcke für ein riesiges Mausoleum auszusuchen. Der Anblick all dieser Marmorfelsen überwältigte den, jungen Bildhauer. Sie schienen nur auf seinen Meißel zu warten, um sich in Statuen zu verwandeln, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Er blieb mehr als sechs Monate in den Brüchen, wählte aus, verwarf und kaufte, während sich die Gestalten in seiner Fantasie drängten. Er wollte diese Eiguren aus dem Marmor erlösen, in dem sie, scMummerten, : , jjjj&fe^
um ioitj^eff^b^&ÄESiJi
beginnen, entdeckte e^dass.die Begeisterimg des Papstes für Den|ir' ußsprüai^ich war das
an der alten
Peterskkche zu stehen, und i^qts@Ut,e1es. hinkommen, wenn sj^nim niedergerissen wurde? In seiner grenzenlosen Enttäuschung ,glgubte Michelangelo, dass ganz andere Ursachen dahinter steckten. Er witterte Intrigen und meinte sogar, dass seine Rivalen, vor allem Bramante, Wer Architekt der neuen Peterskirche, ihn vergiften wollten. In einem Anfall von Angst und Wut verließ er Rom und kehrte nach Florenz zurück. Von dort aus schrieb er einen groben Brief an den Papst, wenn er ihn haben wolle, dann solle er kommen und ihn holen. Bemerkenswert an diesem Zwischenfall ist, dass der Papst die Geduld nicht verlor, sondern mit dem Stadtoberhaupt VQn Florenz diplomatische Unterhandlungen einleitete, um den jungen Bildhauer zur Rückkehr nach Rom zjut, bestimmen. Alle Beteiligten schienen sich darüber einig, dass die Bitschlüsse und Pläne dieses jungen Künstlers wie eine wichtige Staatsangelegenheit behandelt zu werden
verdienten. Die Florentiner fürchteten sogar, dass sich der Papst an ihnen rächen würde* wenn sie Michelangelo weiter beherbergten. So-überredete der Vorsitzende des Rates von Florenz? Michelangelo, in den Dienst des Papstes zurückzukehren, und gab ihm einen Empfehlungsbrief mit, in dem esi heißt, dass seine Kunst in ganz Italien, ja vielleicht in der ganzen Welt nicht ihresgleichen habe, und wenn man ihm nur mit Güte entgegenkäme, würde er Dinge vollbringen, >die geeignet wären, die Welt in Erstaunen zu setzenSixtinische Kapelle< hieß-(Abb;" 196). Die Wände dieser Kapelle waren von den berühmtesten Künsdern der vorangegangenen Generation, von Botticelli, Ghirlanddio und anderen, ausgemalt worden, aber das große Gewölbe der Decke war noch leer. Der Papst schlug vor, Michelangelo sollees ausmalen. Michelangelo tat, was er konnte, um dieseiiiAuftrag auszuweithemi Er sagte, er sei eigentlich kein Maler, sondern ein'B$"dlMüSr^Er'War überzeugt, dass dieser undankbare Auftrag wieder ein Werk seiner intrigieren-
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den Feinde sei, die ihn blamieren wollten. Als der Papst festblieb; begann er,- ein einfaches Schema mit ^zwölf Aposteln in Nisfchen' ztiaM entwerfen, und engagierte Gehilfen'ans Florenz, die ihm beim Malen helfen sollten. Mit einem Mal aber scMos& fer isiilÄSder Kapelle ein, ließ niemanden mehr in die Nähe kommen und begann, ganz allein an einem Entwurf zu arbeiten, der von dem Augenblick an, wo die Malerei enthüllt winde, die Welt in Staunen gesetzt hat. Wir gewöhnlichen Sterblichen können uns kaum vorstellen, wie ein einzelner Mensch vollbringen konnte, was Michelangelo in vier Jahren einsamer Arbeit auf den Gerüsten der päpsdichen- Kapelle geschaffen hat (Abb. 198). Die bloße physische Anstrengung, dieses riesige Fresko an die Decke der Kapelle zu malen, jede einzelne Szene und Gestalt Zug um Zug in Skizzen und Entwürfen vorzubereiten und dann auf die Mauer zu übertragen, ist fantastisch genug. Er musste
bei dieser Arbeit nach rückwärts gelehnt mit dem Gesicht nach oben malen. Er gewöhnte sich so sehr an die verkrampfte Haltung, dass er einen Brief, den er zu dieser Zeit bekam, über seinen Kopf halten und nach hinten gebeugt lesen musste. Aber was ein einzelner Mann beim Ausmalen dieser gewaltigen Flächen leistete, ist natürlich nichts im Vergleich zu der geistigen und künsderischen Leistung, die er hier vollbrachte. Der Reichtum an immer neuen Erfindungen, die unfehlbare Meisterschaft in der Ausführung jeder, auch der kleinsten Einzelheit und vor allem die Fülle der Gesichter, die Michelangelo der Nachwelt enthüllte, haben der Menschheit einen ganz neuen Begriff davon gegeben, was Genie bedeutet. Man sieht oft Einzelheiten aus diesem Riesenwerk abgebildet, und man kann sie nie genügend betrachten. Aber der Eindruck, den das Ganze macht, wenn man in die Kapelle eintritt, ist doch noch völlig anders als die Summe aller Fotografien, die man je sehen kann. Die Kapelle wirkt wie eine lange, riesig hohe Versammlungshalle mit einem ziemlich flachen Gewölbe. Hoch an den Wänden entlang läuft eine Reihe von Gemälden aus der Geschichte des Moses und dem Leben Christi in dem etwas altertümlichen Stil von Michelangelos Vorläufern. Aber wenn man hinaufsieht, blickt man in eine andere Welt: eine Welt von übermenschlichen Ausmaßen. In den Gewölbegurten, die zwischen den fünf Fensterpaaren zu beiden Seiten der Kapelle herauswachsen, ließ Michelangelo gewaltige Bilder alttestamentarischer Propheten, die den Juden das Kommen des Messias verkündet hatten, mit Bildern der Sibyllen abwechseln, die nach der Überlieferung der Heiden die Erlösung prophezeiten. Er malte sie als machtvolle Männer und Frauen, die tief in Gedanken versunken dasitzen, lesen, schreiben und diskutieren oder einer inneren Stimme zu lauschen scheinen. Zwischen diesen zwei Reihen von überlebensgroßen Gestalten malte er auf der eigentlichen Decke die Schöpfungsgeschichte und die Geschichte Noahs. Aber als hätte diese ungeheure Aufgabe seinem Schaffensdrang noch immer nicht genügt, füllte er das Rahmenwerk zwischen all diesen Bildern mit einer geradezu
überwältigenden Menge von Figuren, manche wie Statuen, manche wie lebende Jünglinge von übernatürlicher Schönheit, die Girlanden mit Medaillons halten, auf denen noch weitere Szenen abgebildet sind. Und auch das alles ist nur das Mittelstück. Seitlich davon, in den Stichkappen und direkt darunter malte er eine endlose Folge von Männern und Frauen in immer neuen Stellungen und Gruppen - die Vorfahren Christi, wie sie in den Evangelien verzeichnet sind. Wenn man diese Gestaltenfülle in einer Abbildung sieht, kann einem vielleicht der Verdacht kommen, dass die Decke bei aller Großartigkeit doch überfüllt und überladen wirken müsse. Es ist eine der größten Überraschungen, wenn man in die Sixtinische Kapelle tritt, wie einfach und harmonisch die Decke aussieht, wenn man sie zunächst rein als ein Werk einer grandiosen Dekorationskunst betrachtet, wie wunderbar abgestimmt die Farbtöne sind und wie übersichtlich die Anordnung. Nachdem sie in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts von ihren vielen Schichten Kerzenruß und Staub befreit wurden, erwiesen sich die Farben als stark und leuchtend, eine Notwendigkeit bei der Decke einer Kapelle, die nur einige wenige kleine Fenster hat. (Diesen Umstand haben nur wenige bedacht, die das Gemälde in dem starken elektrischen Licht bewunderten, das jetzt an die Decke geworfen wird.) Ein Abschnitt des Deckengemäldes (Abb. 197) zeigt beispielhaft, wie Michelangelo die Figuren anordnete, von denen die Schöpfungsszene flankiert ist: Auf der einen Seite ist der Prophet Daniel; er hält einen großen Folianten, den er mithilfe eines kleinen Jungen auf seinen Knien abstützt, und er dreht sich zur Seite, um Notizen aus seiner Lektüre zu machen. Neben ihm die >cumaeische< Sibylle, die in ihr Buch bückt. Auf der gegenüberliegenden Seite sind die >persische< Sibylle, eine Greisin in orientalischem Gewand, die ein Buch nah vor die Augen hält - in ihre Lektüre der Heiligen Texte versunken sowie der alttestamentarische Prophet Hesekiel, der sich brüsk umdreht, als führe er eine Auseinandersetzung. Die Marmorbänke, auf denen sie sitzen, sind mit Figuren spielender Kinder geschmückt,
darüber binden je zwei Akte, einer auf jeder Seite, vergnügt Medaillons an die Decke. In den dreieckigen Stichkappen zeigt er die Ahnen Christi, wie sie in der Bibel genannt werden, von weiteren verdrehten Korpern überragt. Diese erstaunlichen nackten Gestalten zeigen Michelangelos ganze Meisterschaft in der Darstellung des menschlichen Körpers, in jeder erdenklichen Stellung und von jedem nur möglichen Gesichtswinkel aus gesehen. Es sind junge Athleten mit wunderbarem Muskelspiel, die sich nach allen Seiten hin drehen und wenden, ohne doch jemals an Anmut zu verlieren. Nicht weniger als zwanzig von ihnen enthält die Decke, einer meisterhafter dargestellt als der andere, und es kann kaum ein Zweifel sein, dass viele der Ideen, die in den Marmorbrüchen von Carrara Gestalt hätten gewinnen sollen, sich in Michelangelos Bewusstsein drängten, als er an der sixtinischen Decke malte. Man fühlt, welche Freude er selbst an seiner Beherrschung aller Mittel hatte und wie sie sogar seine bittere Enttäuschung und seine Wut darüber, dass man ihn nicht in dem von ihm bevorzugten Material weiterarbeiten ließ, ein Ansporn wurde, seinen wirklichen
oder vermeintlichen Feinden zu zeigen, was Malen heißt,
wenn sie ihn schon zum Malen zwangen. Wir wissen, wie sorgfaltig Michelangelo jede Einzelheit studierte und wie eingehend er jede Gestalt in Skizzen vorbereitete. Abb. 199 zeigt ein Blatt aus einem Skizzenbuch, in dem er ein Modell für eine der Sibyllen studierte. Man sieht das Muskelspiel des Rückens, wie es niemand seit den alten Griechen beobachtet und dargestellt hat. Aber wenn Michelangelo in den Akten und Einzelgestalten sich als unerreichter Virtuose erwies, so erwies er sich als noch unendlich viel größer in den Illustrationen biblischer Szenen, die das Zentrum der Komposition bilden. Dort sehen wir Gottvater, der mit machtvollen Gebärden die Pflanzen, die Himmelskörper, die Tiere und den Menschen schafft. Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung, dass die Vorstellung von Gottvater wie sie in der Fantasie vieler Generationen lebt, und zwar nicht nur von Künstlern, sondern von anspruchslosen Leuten, die vielleicht den Namen Michelangelos nie gehört haben - direkt und indirekt durch
den Einfluss dieser Bilder geformt wurde, in denen Michelangdos großartige Vision von der Schöpfung Gestalt gewann. Vielleicht die allerberühmteste und eindrucksvollste dieser Szenen ist die Erschaffung
Adams auf einem der großen Felder (Abb. 200). Auch vor Michel-
angelo hatten Künstler Adam am Boden liegend gemalt, wie er durch die bloße Berührung von Gottes Hand zum Leben erweckt wird, aber keiner von ihnen hat die Größe und das Mysterium der Schöpfung auch nur annähernd mit solcher Einfachheit und Kraft zum Ausdruck gebracht. Nichts in dieser Darstellung lenkt unsere Aufmerksamkeit vom eigentlichen Gegenstand ab. Adam hegt auf der Erde in all der Schönheit und Jugendkraft, die dem ersten Menschen zukommt. Von der anderen Seite nähert sich Gottvater, von seinen Engeln getragen und gestützt, in einen weiten majestätischen Mantel gehüllt;, der^sich wie ein Segel im Winde bläht und uns die Schnelle und Leichtigkeit ahnen lässt, mit der Gott wie eine Wolke durch den Weltraum fliegt; Er streckt seine Hand aus, ohne Adams Finger, ganz zu berühren/ und wir sehen, wie der erste Mensch gleichsam aus einem tiefen Schlaf sterbende Sklave< im Louvre (Abb. 201) . Hätte jemand geglaubt, Michelangelos Fantasie sei nach der ungeheuren Anstrengung in der Sixtina erschöpft, so sollte er bald
eines Besseren belehrt werden. Denn als Michelangelo endlich zu seinem geliebten Marmor zurückkehrte, schien seine Schaffenskraft noch zu wachsen. Im >Adam< hatte er den Augenblick dargestellt, in dem das Leben in den schönen Körper eines kräftigen Jünglings einströmt, hier, in dem sterbenden Sklavenzu! m verschMndea: Maria», die in dem Mfien^öhu^>peai»i;ufluGht gefunden1! hat und jatitifromm vbr ihrem»KtofevkEietyiiind(Jss^feigenute s'i Wasser aus einem Ziehbrunnen schöpft und es vorsichtig in einen engen Krug gießt. Man muss genau hinsehen, um einen der betenden Hirten ich iHintergrund zu bemerken, und braucht beinahe eine Lupe, um unter dem Torbogen den Engel im Himmel zu entdecken, der der Welt die frohe Botschaft kündet. Und doch würde niemand ernstlich behaupten wollen, dass. es Dürer nur daran lag, mit seiner Fertigkeit in der Darstellung alten Gemäuers zu prunken. Von diesem alten, verlassenen Bauernhof mit seinen schlichten Gästen geht eine solche Stimmung» idyllischen iMedens^aus; dass wir das Wunder der, stillen HÄggh'Mächt mit derselben Andacht empfinden, die Dürer beiseiw; ner Arbeit erfüllt haben mag. 4 In diesen. Kupferstichen scheint Dürer die gesamte Überlieferung der gotischen Kunst des Nordens, seit sie sich der Nachahmung:
der Natur zuwandte, zusammenzufassen und zu vollenden. Aber gleichzeitig war sein Geist auch intensiv damit beschäftigt, die neuen Aufgaben zu bewältigen, die die italienischen Meister der Kunst gestellt hatten. Da gab es vor allem eine Aufgabe, von der die gotische Kunst beinahe nichts wissen wollte und die jetzt im Vordergrund des Interesses stand: die Darstellung des menschlichen Körpers in jener idealen Schönheit, die die antike Kunst ihm verliehen hatte. Hier musste Dürer bald die Erfahrung machen, dass auch die sorgfältigste Nachbildung eines lebenden Modells, selbst wenn sie so gewissenhaft und hingebungsvoll ausgeführt war wie van Eycks Adam und Eva (Abb. 156), niemals ausreichen kann, jene geheimnisvolle Schönheit zu erzielen, die den Werken der italienischen Künstler zu eigen war. Als man Raffael nach seinem Modell fragte, berief er sich auf eine >gewisse Idee< der Schönheit, die er in seinem Geiste vorfand (S. 243), und die er wohl in langen Jahren des Studiums antiker Bildwerke und schöner lebender Modelle in sich aufgenommen hatte. Für Dürer war die Frage nicht so leicht zu lösen. Ihm fehlten die Gelegenheit zu solchen Studien und der Halt einer festen Überlieferung und eines sicheren Instinkts, der ihn leiten konnte. Darum suchte er nach einem verlässlichen Rezept, nach einer lehrbaren Regel, auf die sich die Schönheit der menschlichen Figur gründete, und er glaubte schließlich, in den Lehren der antiken Schriftsteller über die Proportionen des menschlichen Körpers eine solche Regel gefunden zu haben. Es gab viele dunkle und schwierige Stellen in diesen Schriften, aber Dürer ließ sich nicht leicht abschrecken. Es war seine Absicht, wie er sagte, den alten Brauch, der >gewaltiglich aber unbedächtlich< schuf, auf einen >beweislichen< >rechten Grund< zu stellen. Es ist geradezu packend, Dürer zuzusehen, wie er mit verschiedenen Maßverhältnissen herumexperimentiert, wie er den menschlichen Körper absichtlich verzerrt und einmal überlange, dann wieder in die Breite gezogene Figuren konstruiert, um so die richtigen Verhältnisse und die rechte Harmonie herauszufinden.
Eines der ersten Resultate dieser Studien, die ihn sein Leben lang beschäftigten, war der Kupferstich >Adam und Eva< (Abb. 223), in dem er alle seine neuen Gedanken über das Wesen der Schönheit und Harmonie zur Anwendung bringen sollte und den er stolz mit seinem vollständigen Namen in Latein ALBERTUS DURER NORICUS FACIEBAT 1504 (Albrecht Dürer aus Nürnberg machte [diesen Stich] 1504) signierte. Die künstlerische Leistung, die in diesem Stich hegt, wird vielleicht nicht für jeden auf den ersten Blick zu erfassen sein. Denn der Künsder spricht hier eine Sprache, die ihm weniger vertraut ist als die des anderen Stichs mit Christi Geburt, der im selben Jahr entstand. Das Ebenmaß der Körper, das er durch emsiges Messen mit Zirkel und Lineal erzielte, ist nicht so unmittelbar schön und überzeugend wie bei Dürers italienischen und antiken Vorbildern. Sie wirken ein wenig gekünstelt, nicht nur in ihren Stellungen, sondern auch in der etwas starren Symmetrie der Komposition. Aber dieses leise Gefühl von Absichtlichkeit verschwindet bald, wenn man sich klar wird, dass Dürer durchaus nicht seinem eigenen Wesen untreu wurde, um fremden Göttern zu dienen, wie das weniger große Künstler taten. Lassen wir uns nur von ihm ins Paradies führen, wo die Maus ruhig neben der Katze hegt, wo der Hirsch, die Kuh, das Kaninchen und der Papagei den Tritt des Menschen nicht fürchten, verlieren wir uns tief in dem Hain, in dem der Baum der Erkenntnis steht, und werden wir Zeuge, wie die Schlange Eva die verhängnisvolle Frucht reicht, nach der Adam die Hand ausstreckt. Mit Bewunderimg werden wir erkennen, wie kunstvoll Dürer die klaren Umrisse der beiden hellen, durchmodellierten Körper sich gegen die dunklen• Schatten der knorrigen Bäume abheben lässt, und werden die Leistung ermessen, die in diesem ersten bewussten Versuch liegt, die Ideale des Südens nach dem Norden zu verpflanzen. Dürer selbst gab sich nicht so leicht zufrieden. Ein Jahr, nachdem er diesen Stich veröffentlicht hatte, reiste er wieder nach Venedig, um seinen Horizont zu erweitern und den Geheimnissen der südlichen Kunst noch mehr auf den Grund zu kommen. Die Ankunft
[eines solchen berühmten Konkurrenten passte nicht allen venezianischen Malern in den Kram, und in einem Brief Dürers an einen seiner Freunde heißt es: >Ich hah viel guter Freund unter den Walchen, die mich warnen, dass ich mit ihren Malern nit eß und trink. Auch sind mir ihr viel Feind und machen mein Ding in Kirchen ab und wo sie es mügen bekummen. Noch schelten sie es und sagen es sei nit antikisch Art, dorum sei es nit gut. Aber Sambelling (Giovanni Bellini) der hätt mich von viel Tzentillomen (Edelleuten) fast sehr gelobt. Er wollt gern etwas von mir haben und ist selber zu mir kummen und hat mich gebeten, ich soll ihm etwas machen, er wolls wohl zahlen. Und sagen mir die Leut alle, wie es so ein frummer Mann sei, dass ich ihm gleich gunstig bin. Er ist sehr alt und ist noch der Best im Gemal [in der Malerei]!< Einer dieser Briefe aus Venedig enthält den erschütternden Satz, der zeigt, wie sehr sich Dürer des Unterschiedes in der Stellung des Künstlers bewusst war, dort im starren Zunftwesen von Nürnberg, hier in der Freiheit, die die italienischen Maler genossen: >0, wie w i r d mich noch der Sunnen frieren, hie bin ich ein Herr, doheim ein Schmarotzern Aber Dürers weiterer Lebenslauf hat gezeigt, dass er d o c h etwas zu schwarz gesehen hatte. Anfangs freilich musste er sich n o c h mit den reichen Bürgern von Nürnberg und Frankfurt herumschlagen, die mit ihm feilschten wie mit irgendeinem Handwerker. Er musste sich vertraglich verpflichten, nur Farben der besten Qualität in seinen Gemälden zu verwenden und die Tafel gründlich zu untermalen. Aber mit der Zeit wuchs sein Ruhm, und Kaiser Maximilian, der sich gern von Künsdern verherrlichen Heß, nahm Dürer für seine hochgespannten Pläne in Anspruch. Als Dürer im Alter von fünfzig Jahren die Niederlande besuchte, wurde er dort beinahe wie ein Fürst empfangen. Er beschreibt selbst voll Rührung in seinem Tagebuch, w i e d i e Maler von Antwerpen ihn mit einem feierlichen Bankett in
der Zunfthalle ehrten: >Und do ich zu Tisch geführet ward, so stund das Volk auf beeden Seuten, als führet man einen großen Herren. Es waren unter ihnen gar trefflich Personen von Namen, die sich all mit tiefen Neugen auf das Allerdemütigste gegen mich erzeugten.< Es ist eine merkwürdige und verwunderliche Tatsache, dass der einzige deutsche Maler, der sich an Größe und künstlerischer Bedeutung mit Dürer vergleichen lässt, so vollkommen in Vergessenheit geraten war, dass wir ihn nicht einmal bei seinem eigenen Namen kennen. Ein deutscher Maler des siebzehnten Jahrhunderts, Joachim Sandrart, erwähnt in einem seiner Bücher ziemlich konfus einen gewissen Matthias Grünewald von Aschaffenburg. Er gibt eine begeisterte Beschreibimg einiger Gemälde dieses >deutschen Correggkx, wie er ihn nennt, und seither werden diese Bilder und andere, die offenbar von demselben bedeutenden Meister gemalt sind, allgemein unter dem Namen >Grünewald< geführt. Aber kein Kirchenbuch und keine Urkunde der Zeit erwähnt einen Maler dieses Namens, und so ist das Wahrscheinlichste, dass Sandrart eine Verwechslung unterlaufen ist. Da manche dieser Bilder mit dem Monogramm M. G. N. signiert sind, und da man weiß, dass ein Maler namens Mathis Gothardt Nithardt ungefähr zu Dürers Zeiten in Aschaffenburg und Mainz arbeitete, glaubt man jetzt, dass er der große Meister war, den wir fälschlich Grünewald nennen. Aber selbst damit ist noch nicht sehr viel gewonnen. Denn auch über Meister Mathis wissen wir nicht viel Wesentliches. Kurz gesagt, während Dürer als lebendiger Mensch vor uns steht, dessen Gewohnheiten, Anschauungen, Geschmack und Eigenheiten wir kennen, ist die Persönlichkeit Grünewalds genauso schattenhaft wie etwa die Shakespeares. Wahrscheinlich ist das kein reiner Zufall. Wir wissen ja darum so viel über Dürer, weil er sich und anderen über seine Sendung als Reformator der deutschen Kunst Rechenschaft geben wollte. Er wollte ein Lehrer seines Volkes sein und schrieb Bücher über die neuen Grundprinzipien der Kunst» die seinen Namen in alle Länder trugen. Man hat nicht den Eindruck,
dass sich der Maler von >Grünewalds< Meisterwerken in einem ähnlichen Lichte sah. Im Gegenteil: Die wenigen Gemälde, die wir von ihm besitzen, sind Altarbilder der herkömmlichen Art in größeren oder kleineren Provuizkirchen, vor allem die vielen Flügel des großen Altars für das Hospital der Priorei Isenheim im Elsass. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass er wie Dürer etwas anderes sein wollte als ein Handw erker oder dass er etwa die Überlieferungen der religiösen Kunst der Spätgotik als Hemmnis empfand. Obwohl er zweifellos mit einigen der großen Errungenschatten der italienischen Kunst vertraut war. machte er sich nur die zu Nutze, die mit seinen Ansichten über die Aufgabe der Kunst in Einklang zu bringen waren. Er scheint nie darüber gegrübelt zu haben, wonach der Künstler eigentlich streben solle. Für ihn bedeutete Kunst nicht die Suche nach den verborgenen Gesetzen der Schönheit, für ihn konnte sie nur em einziges Ziel haben, und zwar das Ziei aller religiösen Kunst des Mittelalters, nämlich eine Predigt in Bildern zu sein und die heiligen Wahrheiten zu künden, die die Kirche lehrte. Das Mittelbild des Isenheimer Altares (Abb. 224) zeigt, dass er bereit war, diesem einen Ziel alles zu opfern. Schönheit, wie die italienischen Künstler sie verstanden, gibt es in diesem krassen, schonungslosen Bild nicht. Wie ein Prediger eur Fastenzeit lässt Grunewald nichts ungetan, uns die Schrecken dieser Leide nsszeaae eindringlich vor Augen zu stellen. Der Leib des sterbenden Christus am Kreuze krümmt sich unter der Qual; von der Geißelung stecken noch die Dornen überall in den schwärenden \Yunden. Durch seme Züge und die ausdrucksvolle Gebärde seiner Hände spricht der Schmerzensmann zu uns über den Sinn seines Leidensweges. Sein Leiden spiegelt sieh wider in der herkömmlichen Gruppe von Maria im Witwenkleid, die ohnmächtig m die Arme des L leblmgsjüngers Johannes sinkt, und in der kleineren Gestalt der Maria Magdalena mit dem S a l b g e i i l l die verzweifelt die Hände ringt Aut ctear anderen Seites des Kreuzes steht die mächtige Gestalt Johannes des Täufers mit dem alten Sinnbild des l a m m « , das das k m u tragt
u n d sein Blut i n d e n A b e n d m a h l s k e l c h s t r ö m e n lässt. Er w e i s t mit g e b i e t e r i s c h e r G e b ä r d e a u f d e n H e i l a n d , u n d ü b e r i h m stehen die W o r t e , d i e er s p r i c h t ( n a c h J o h a n n e s 3,30): >Er m u s s w a c h s e n , i ch aber m u s s a b n e h m e n d D e r K ü n s d e r w o l l t e w o h l , dass der Betrachter des Altars sich i n d e n Sinn dieser W o r t e versenke, die d u r c h die w e i s e n d e H a n d des Täufers so d e u t l i c h u n t e r s t r i c h e n sind. Vielleicht w o l l t e er sogar, dass w i r m i t e i g e n e n A u g e n s e h e n , w i e Christus w a c h s e n m u s s u n d w i r a b n e h m e n . D e n n i n d i e s e m G e m ä l d e , i n d e m die W i r k l i c h k e i t m i t g r a u e n h a f t e m R e a l i s m u s abgebildet ist, gibt es einen u n w i r k l i c h e n u n d fantastischen Z u g : D i e F i g u r e n sind g a n z v e r s c h i e d e n g r o ß . W i r b r a u c h e n n u r d i e H ä n d e der Maria Magdalena u n t e r - d e m K r e u z m i t jenen Christi z u v e r g l e i c h e n , u m u n s dieser erstaunlichen U n s t i m migkeit v o ll b e w u s s t zu w e r d e n . Es ist klar, dass G r ü n e w a l d in dieser Hinsicht d i e R e g e l n der n e u e r e n Kirnst, w i e sie sich seit der Renaissance e n t w i c k e l t hatten, a u ß e r A c h t ließ u n d m i t voller A b s i c h t a u f die Prinzipien der mittelalterlichen u n d p r i m i t i v e n Künstler z u r ü c k griff, die d i e A u s m a ß e einer Figur v o n ihrer B e d e u t i m g a b h ä n g e n ließen. S o w i e e r d i e ä u ß e r l i c h e S c h ö n h e i t d e m geistigen Inhalt z u l i e b e a u f g e g e b e n hatte, s o l i e ß e r a u c h d i e n e u m o d i s c h e F o r d e r i m g der einheitlichen Maßverhältnisse a u ß e r A c h t , u m a u f diese Weise d e n mystischen Sinn der W o r t e des Täufers z u veranschaulichen. Das W e r k des G r ü n e w a l d kann u n s d a m i t n o c h e i n m a l a n d i e alte W a h r h e i t e r i n n e r n , dass n i c h t jeder g r o ß e Kün s de r a u c h >fortschrittlich< sein m u s s u n d dass e i n Kü n sd er d u r c h a u s n i c h t m i t der Zeit z u g e h e n hat. Dass G r ü n e w a l d m i t d e n k ü n s d e r i s c h e n Fortschritten seiner E p o c h e vertraut war, s e h e n w i r daran, w i e er sie v e r w e n d e te, w e n n sie i h m g e l e g e n k a m e n . G e r a d e s o w i e e r i n der Darstellung des g e m a r t e r t e n K ö r p e r s Christi sein ganzes m a ler is ch es K ö n n e n verwendete, b o t e r e s a u c h auf, u m d e n verklärten Leib des Auferstandenen in seiner G l o r i e z u r A n s c h a u u n g zu b r i n g e n (Abb. 225). Es ist n i c h t leicht, m i t W o r t e n o d e r selbst A b b i l d u n g e n e i n e Vorstellung v o n d i e s e m Bild z u g e b e n , w e i l a u c h hier w i e d e r s o v iel v o n d e n
Farben abhängt. M a n sieht, dass Christus gerade aus d e m steinernen Grab a u f g e f a h r e n ist, die Leichentücher m i t sich e m p o r r e i ß e n d . Der strahlende Glanz, der v o n der Erscheinung ausgeht, lässt sie w i e einen L i c h t s c h w e i f in allen Farben schillern. W i e erschütternd w i r k t der Gegensatz z w i s c h e n der entkörperlichten Gestalt, die d e n Tod überw u n d e n hat, u n d d e n hilflosen Gebärden der Kriegsknechte, die von dieser Lichterscheinung geblendet u n d ü b e r w ä l t i g t am B o d e n liegen u n d sich in ihren R ü s t u n g e n h e r u m w e r f e n . Da uns jeder Anhaltsp u n k t fehlt, u m die Entfernung z w i s c h e n Vordergrund u n d Hinterg r u n d abzuschätzen, m a c h e n die b e i d e n Kriegsknechte hinter dem Grab d e n Eindruck v o n Marionetten, die u m g e p u r z e l t sind, u n d ihre verzerrten Gestalten tragen dazu bei, die verklärte, überirdische Ruhe des Auferstandenen n o c h eindringlicher z u betonen. N e b e n Dürer u n d G r ü n e w a l d ist Lucas Cranach (i472-i5'$'3) der berühmteste deutsche Maler dieser Generation. In seiner Jugend verbrachte er einige Jahre in Süddeutschland u n d Österreich. Zur g l e i c h e n Zeit, als Giorgione, der aus d e m südlichen Alpenvorland stammte, die Schönheit der Landschaft entdeckte (Abb. 209), war der j u n g e Cranach v o m Reiz des nördlichen Alpenvorlandes mit seinen alten W a l d e r n u n d schönen Aussichten fasziniert. In einem 1504 datierten G e m ä l d e - im selben Jahr, als Dürer seine Kupferstiche (Abb. 222 und 223) veröffentlichte — stellte Cranach die Heilige Familie a u f d e r Flucht n a c h Ä g y p t e n dar (Abb. 226). Sie r u h e n gerade bei einer Q u e l l e in einer bewaldeten Berglandschaft aus. Es ist eine entzückende W a l d l i c h t u n g m i t flechtenbewachsenen Bäumen u n d einer weiten A u s s i c h t in ein liebliches grünes Tal. Eine Schar v o n kleinen Engeln ist um d i e Reisenden beschäftigt; einer bietet d e m Jesuskind Beeren an, e i n anderer ho l t Wasser in einer Muschel, w ä h r e n d andere die F l ü c h t l i n g e m i t Flötenspiel unterhalten. Etwas v o n d e m Geiste Stefan L o c h n e r s (Abb. 176) hat sich diese poetische Schilderimg bewahrt. In s ei n e n späteren Lebensjahren w u r d e Cranach z u m etwas o b e r f l ä c h l i c h e n u n d glatten H o f m a l e r a m sächsischen H o f und war v o r a l l e m w e g e n seiner Freundschaft m i t Luther berühmt. Aber sein
kurzer A u f e n t h a l t i m D o n a u g e b i e t s c h e i n t d e n B e w o h n e r n des A l p e n landes d i e A u g e n g e ö f f n e t z u h a b e n . D i e Meister des s o g e n a n n t e n >Donaustils< g i n g e n i n d i e B e r g e u n d Walder, u m d i e m a l e r i s c h e n F o r m e n v e r w i t t e r t e r Felsen u n d k n o r r i g e r N a d e l b ä u m e z u studieren. Der g r ö ß t e v o n i h n e n w a r A l b r e c h t A l t d o r f e r aus R e g e n s b u r g ( 1 4 8 0 ? 1538). V i e l e s e i n e r A q u a r e l l e u n d R a d i e r u n g e n u n d w e n i g s t e n s eines seiner Ö l g e m ä l d e (Abb. 227) s i n d r e i n e Landschaften. Ein Bild o h n e M e n s c h e n w a r e t w a s n i e D a g e w e s e n e s . Selbst d i e G r i e c h e n m i t i h r e m tiefen Verständnis f ü r d i e S c h ö n h e i t der N a t u r m a l t e n L a n d s c h a f t e n nur als Kulissen f ü r i h r e Sc h ä fe r i d yl l en (Abb. 72). D e m Mittelalter w a r ein Bild, das k e i n b e s t i m m t e s T h e m a , sei es k i r c h l i c h o d e r w e l t l i c h , z u m G e g e n s t a n d hatte, g e r a d e z u unvorstellbar. Erst als m a n sich in der Renaissance f ü r d i e k ü n s d e r i s c h e n P r o b l e m e der Malerei an s i c h z u interessieren b e g a n n , w u r d e das m ö g l i c h . Erst damals k o n n t e e i n Maler K ä u f e r f ü r e i n Bild f i n d e n , das z u k e i n e m a n d e r n Z w e c k g e m a l t war, als seiner F r e u d e a n e i n e m s c h ö n e n M o t i v A u s d r u c k z u g e b e n . In dieser g r o ß e n Zeit d e r ersten Jahrzehnte d e s s e c h z e h n t e n Jahrhunderts b r a c h t e n d i e N i e d e r l a n d e n i c h t s o viele b e d e u t e n d e Maler h e r v o r w i e i m f ü n f z e h n t e n Jahrhundert, d a Meister w i e Jan v a n Eyck (S. 175—180), R o g i e r v a n der W e y d e n (S. 205) u n d H u g o v a n der Goes (S. 206) in g a n z Europa b e r ü h m t w a r e n . Gerade d i e Künsder, die s o w i e D ü r e r i n D e u t s c h l a n d b e m ü h t w a r e n , sich das n e u e W i s sen z u e i g e n z u m a c h e n , w u r d e n o f t h i n - u n d hergerissen z w i s c h e n ihrer l i e b e z u m A l t e n u n d ihrer B e w u n d e r u n g f ü r das N e u e . Abb. 228 zeigt e i n charakteristisches Beispiel v o n Jan Gossaert, g e n a n n t M a b u se (1478-15-32). N a c h d e r L e g e n d e w a r der Evangelist Lukas Maler v o n Beruf, u n d s o stellt i h n M a b u s e dar, w i e e r gerade ein Bildnis der Maria m i t d e m K i n d e malt. D i e Art, w i e M a b u s e diese Gestalten abbildet, w i d e r s p r i c h t i n k ein er W e i s e d e n Ü b e r l i e f e r u n g e n der Schule van Eycks, aber d i e Szen e ist d u r c h a u s v e r s c h i e d e n . M a n hat d e n Eindruck, dass d e r M a l e r m i t seiner Kenntnis der italienischen Errungenschaften, m i t seiner G e s c h i c k l i c h k e i t in der Perspektive, seiner Vertrautheit m i t antik en A r c h i t e k t u r f o r m e n u n d seiner B e h e r r s c h u n g
von Licht und Schatten prunken wollte. Was herauskam, war ein Bild, das sicher nicht ungefällig ist, aber dem doch die selbstverständliche Harmonie sowohl seiner nördlichen als seiner italienischen Vorbilder fehlt. Man fragt sich, ob Lukas keinen besseren Platz finden konnte, um die Madonna zu malen, als diesen prunkvollen, aber wahrscheinlich sehr windigen Schlosshof. So kam es, dass der größte niederländische Künstler dieser Zeit nicht unter den Anhängern des neuen Stils zu finden ist, sondern unter denen, die wie Grünewald in Deutschland sich den Modeströmungen aus dem Süden nicht so leicht hingaben. Es war Hieronymus Bosch, der in s-Hertogenbosch im Süden von Holland lebte. Über seine Person ist nur sehr wenig bekannt. Wir wissen nicht, wie alt er war, als er im Jahre 15-16 starb, aber er muss schon lange tätig gewesen sein, da er bereits im Jahre 1488 als Meister erwähnt wird. Bosch bewies, dass die Überlieferungen und Errungenschaften der Malerei, die ursprünglich der Absicht dienten, die Wirklichkeit möglichst überzeugend darzustellen, sozusagen umgekehrt verwendet werden konnten, um ein ebenso anschauliches Bild von den Dingen zu geben, die kein menschliches Auge je erblickt hatte. Er wurde durch seine erschreckenden Darstellungen der Mächte des Bösen berühmt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der düstere König Philipp II. von Spanien eine besondere Vorliebe für diesen Maler hatte, den die Bosheit des Menschen so sehr beschäftigte. Abb. 229-230 zeigen zwei Flügel eines Triptychons, das er kaufte und das man noch heute in Spanien sehen kann. Auf dem linken Flügel sehen wir, wie das Böse in die Welt eindringt. Der Erschaffung Evas folgt die Versuchung Adams, und beide werden nach dem Sündenfall aus dem Paradies vertrieben, während hoch oben in den Lüften der Sturz der rebellischen Engel zu sehen ist, die wie ekelhafte Insekten aus dem Himmel herabfallen. Auf dem anderen Flügel wird eine Vision der Hölle gezeigt. Da sieht man Schrecken über Schrecken, Flammen und Qualen und alle möglichen Arten von fürchterlichen Teufeln, halb Mensch, halb Tier, oder belebte Folterwerkzeuge, die die armen Seelen der Verdammten in alle
Ewigkeit quälen und strafen. Es war das erste und vielleicht das einzige Mal, dass es einem Künstler gelang, die Ausgeburten einer gequälten Fantasie, die die Menschen im Mittelalter ängstigten, konkret und anschaulich darzustellen. Mag sein, dass das nur zu diesem Zeitpunkt möglich war, da die alten Vorstellungen noch lebendig waren, während zugleich der neue Geist den Künstlern die Mittel in die Hand gab, darzustellen, was sie sahen. Vielleicht hätte Hieronymus Bosch auf eines seiner Höllenbilder schreiben können, was Jan van Eyck in die friedliche Verlobungszene der Arnolfinis schrieb: >Ich war dort.
ManierismusArmselig der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft?< Bis zu einem gewissen Grad waren es tatsächlich die großen klassischen Meister selbst gewesen, die mit dieser Suche nach neuen, nie da gewesenen Effekten begonnen hatten; gerade ihr Ruhm und das Ansehen, das sie in ihrem späteren Alter genossen, ermöglichte ihnen ein ständiges Experimentieren mit neuen Formen und Farbzusammenstellungen; denn ihr Werk war über alle Kritik erhaben. Vor allem Michelangelo zeigte kein Bedenken, sich über die Tradition kühn hinwegzusetzen, besonders in seinen architektonischen Entwürfen, wo er manchmal den heilig gehaltenen Regeln der antiken Baukunst zum Trotz seinen eigenen Launen und Eingebungen folgte. Bis zu einem gewissen Grad war er es gewesen, der das Publikum daran gewöhnt hatte, die geistvollen Einfälle und >Capricen
originellen< Einfalle betrachteten. Einige amüsante Ideen Waren das Ergebnis. Das Fenster in der Form eines Gesichts. (Abb. 231), das der Maler und Architekt Federico' Zuccaro (1543 ?-1609) für sein eigenes Wohnhaus entworfen hat, gibt einen guten Begriff davon. Andere Architekten wieder waren mehr darauf aus, ihre gelehrte Bildung und ihre gründliche Kenntnis der antiken Autoren unter Beweis zutstellengdie tatsächlich größer war als in Bramantes Generation, Der bedeutendste, und gelehrteste unter ihnen war Andrea Palladio (1508-1580).
Abbs .2^2 zeigt seine berühmte Villa Rotonda
(die runde Villa) bei Vicenza. In gewissemi Sinn, ist auch dieser Bau n ein kapriziöser Einfall; denn. er.hat vier ganz gleidhejSeiten, deren jeder eine Säulenhalle in Form einer Tempelfassade vorgelegt ist, ., während die Mitte von einem, Kupptelsaal gebildet wird, der an das römische Pantheon.(Abb.;erinnert. Sq-schön auch diese Zusammenstellung s^n mag, so (Wip^man sich doch kaum wünschen, in diesem Haus, zu wohnen. Der Gebrauchszweck, eines Landhauses war der Sucht nach neuen Effekten geopfert worden! /-< Eine typische Künsderfigur dieser Zeit war der florentinische Bildhauer und Goldschmied Benvenuto Gellini (1500-1571). Gellini hat sein eigenes Leben in einem berühmten Buch geschildert, das ein ungemein buntes Bild seiner Zeit gibt. Er war ein Prahlhans und gewaltiger Egoist, aber man kann ihm nicht böse werden, d e n n ^ erzählt so naiv von seinen Heldentaten und Abenteuern; dass man einen Roman von Dumas zu lesen glaubt. Mit seiner Eitelkeit und seinem ruhelosen Temperament, das ihn von Stadt zu Stadt und von Hof. zu Hof trieb, ist Cellini ein rechtes Kind seiner Zeit; Ein Künstler zu sein bedeutet für ihn nicht mehr, den geachteten und sesshaften
Besitzer einer Werkstatt zu spielen; er sah sich als Virtuosen, um dessen Gunst Fürsten und Kardinäle buhlten. Eines der wenigen Werke seiner Hand, das erhalten blieb, ist ein goldenes Salzfass, das er im Jahre 1543 für den König von Frankreich verfertigte (Abb. 233). Cellini erzählt die Geschichte dieses Werkes mit großer Ausführlichkeit. Er beschreibt, wie er zwei berühmte Gelehrte abfertigte, die sich herausnahmen, ihm ein Thema für sein Kunstwerk vorzuschlagen, und wie er selbst ein Wachsmodell nach eigener Erfindimg anfertigte, das die Erde und das Meer darstellte. Um zu zeigen, wie Erde und Meer meinander dringen, ließ er die beiden Figuren mit verschränkten Füßen gegeneinander sitzen. >Das Meer, als Mann gebildet, hielt ein reich gearbeitetes Schiff, welches Salz genug fassen konnte; darunter hatte ich vier Seepferde angebracht und der Figur in die rechte Hand einen Dreizack gegeben; die Erde hatte ich weiblich gebildet, von so schöner Gestalt und so anmutig, als ich nur wusste und konnte; ich hatte neben sie einen reichen, verzierten Tempel auf den Boden gestellt,, der den. Pfeffer enthalten sollten Aber die Beschreibung dieser ausgeklügelten Erfindung liest sich lange nicht so interessant wie die Geschichte, wie Cellini das Gold vom Schatzmeister des Königs abholte und auf dem Heimweg von vier Banditen überfallen wurde, die er alle ganz allein in die Flucht schlug. Vielleicht mag mancher die glatte Eleganz von Cellinis Gestalten' etwas überfeinert finden. Da ist es dann vielleicht ein Trost, dass ihr Schöpfer genügend Robustheit besaß, die seinem Werk abzugehen scheint. Gellmis Einstellung ist charakteristisch für die ruhelosen und fieberhaften Versuche seiner Zeit, etwas Interessanteres und Ungewöhnlicheres zu schaffen, als je da gewesen war. Wir finden denselben Geist in den Gemälden eines der Schüler Corregglos, Parmigianino ( 1 5 0 3 - 1 5 4 0 ) , Ich kann mir vorstellen, dass manche Leute seine Madonna (Abb. 234) eher abstoßend finden werden, weil der heilige Gegenstand hier mit solchem affektierten Raffinement belian delt ist. Diese Madonna hat nichts von der schlichten Selbstverständlichkeit, mit der Raffael das überkommene Thema gestaltet hat. Sie
ist unter dem Namen >Die Madonna mit dem langen Hals< bekannt, weil ihr der Künstler geradezu einen Schwanenhals gegeben hat, um sie nur ja anmutig und elegant wirken zu lassen. Er hat die Verhältnisse des menschlichen Körpers in einer erstaunlich gesuchten Weise gestreckt. Die Hand der Madonna mit ihren langen, zarten Fingern, das lange Bein des Engels im Vordergrund, der hagere Prophet mit seiner Pergamentrolle wirken wie im Zerrspiegel gesehen. Und doch hat der Künstler diesen Eindruck gewiss nicht aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit geschaffen. Er hat alles getan, um uns zu zeigen, dass er diese unnatürlich lang gezogenen Formen mit Absicht verwendete; so stellte er eine seltsam geformte hohe Säule von genauso ungewöhnlichen Ausmaßen in den Hintergrund. Auch in der Verteilung der Figuren zeigt er uns, dass es ihm nicht um die hergebrachte Harmonie zu tun war. Statt seine Gestalten zu beiden Seiten der Madonna zu gruppieren, presst er eine sich drängende Schar von Engeln in eine Ecke und lässt die andere Seite weit offen, um im Hintergrund die ragende Gestalt des Propheten zu zeigen, die aber so weit hinten steht, dass sie kaum bis zum Knie der Madonna zu reichen scheint. Es kann gar kein Zweifel sein, dass in dieser Tollheit, wenn es eine ist, doch Methode steckt. Der Maler wollte seine eigenen Wege gehen. Er wollte zeigen, dass es neben der klassischen Lösung noch andere Lösungen gibt, dass die schlichte Natürlichkeit zwar zur Schönheit führt, aber dass es auch andere Wege gibt, auf denen interessante Effekte für Kenner zu erzielen sind. Gleichviel ob wir seine Einstellung teilen oder nicht, wir müssen zugeben, dass er konsequent war. Man kann geradezu sagen, dass Parmigianino und alle die Künstler seiner Zeit, die bewusst darauf aus waren, selbst auf Kosten der natürlichen Schönheit der alten Meisterwerke etwas Neues und Unerwartetes zu schaffen, vielleicht die ersten >modernen< Künstler waren. Wir werden noch sehen, dass die Kunst, die wir heute >modern< nennen, zum Teil in demselben Bedürfnis wurzelt, das allzu Gefallige und Selbstverständliche zu vermeiden und Wirkungen zu erzielen, die von der Konvention der ungekünstelten Schönheit abweichen.
Andere Künstler aus dieser eigenartigen Zeit im Schatten der Titanen trauten es sich zu, die anerkannten Meister sogar auf ihrem eigenen Gebiet schlagen zu können. Auch wenn man nicht der Meinung ist, es sei ihnen gelungen, müssen wir doch zugeben, dass sie Erstaunliches geleistet haben. Ein typisches Beispiel solcher Virtuosität ist die Statue des Götterboten Merkur von dem flämischen Bildhauer Jean de Boulogne (1529-1608), der in Italien, wo er lebte, Giovanni da Bologna oder Giambologna genannt wurde (Abb. 235). Er hatte sich bewusst eine unmögliche Aufgabe gestellt: eine Statue, die gegen alle Gesetze der Schwerkraft von der Erde wegzufliegen scheint. Bis zu einem gewissen Grad hat er das Unmögliche möglich gemacht. Nur mit einer Fußspitze berührt sein berühmter Merkin: den Boden — oder eigentlich nicht den Boden, sondern einen Luftstrom, der aus dem Mund einer Maske kommt, die den Westwind darstellt. Die ganze Figur ist so sorgfaltig ausbalanciert, dass sie tatsächlich zu schweben — ja, davonzufliegen scheint. Vielleicht hätte ein antiker Bildhauer oder selbst Michelangelo gefunden, dass ein solches Schweben dem Wesen der Plastik zuwiderläuft; denn eine Statue soll uns ja an den Marmorblock oder das schwere Metall gemahnen, aus dem sie geschaffen wurde; aber Giambologna zog es so wie Parmigianino vor, derartige allgemein anerkannte Konventionen beiseite zu schieben. Vielleicht der größte dieser Meister aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts lebte in Venedig. Er hieß Jacopo Robusti, hatte aber den Spitznamen Tintoretto, >das Färberchen< (1518-1594). Auch er war der einfachen Schönheit in Form und Farbe, wie sie Tizian in Venedig verkörpert hatte, müde geworden; aber bei ihm steckte mehr dahinter als der bloße Wunsch, originell zu sein. Er scheint gefühlt zu haben, dass Tizians Bilder, so unerreicht ihre Schönheit auch ist, mehr gefallen als erschüttern, dass ihnen die innere Erregung abgeht, durch die allein die großen Ereignisse der biblischen Geschichte und Heiligenlegenden für uns zum Leben erweckt werden können. Ob das nun richtig war oder nicht, jedenfalls muss er den Entschluss gefasst haben, diese Geschichte in einer Weise zu
erzählen, die den Beschauer etwas von der Dramatik der dargestellten Ereignisse ahnen lässt. Abb. 236 zeigt* wie sehr er es verstand, den 1 Beschauer in Bann zu schlagen. Auf den ersten Bhck wirkt dasGemälde etwas verwirrend und verworren. Hier gibt es keine übersichthche Gruppe von Gestalten in der Bildfläche wie bei Raffael, sondern wir bhcken in die Tiefe eines eigenartigen Gewölbes. Ein hoch aufgerichteter Mann mit einem Heiligenschein steht in der linken Ecke und erhebt seinen Arm, als ob er gerade einem Vorgang Einhalt?gebieten wollte. Wenn wir seiner Gebärde folgen, sehen wir, dass sie sich auf ein Ereignis bezieht, das knapp unter der Decke, des Gewölbes
s
auf der anderen Seite dies Bildes stattfindet.-Dort sind gerade zwei Männer damit beschäftigt, einen Leichnam,aus einem Grab herun^ terzulassen; ein dritter mit eiriem Turban1 halft ihnen dabei, während ein Edelmann im Hintergrund isich ^eben b e m Ä t , beimSchein.einer; Fackel (die Inschrift auf einfem anderen Sarkophag zu lesen. Was h i e r ' v vorgeht, ist anscheimen4 (he iPlünderinitgJeiner. Katakombe. Eine der Leichen Hegt auf einem Teppich in' seltsamer Verkürzung dargestellt, während ein würdiger älter* Mann* in kostbarer Gewandung neben ihr kniet undisie betrachtet. In der rechten Eckendes Bildes sieht man eine Gruppe von Männern und Frauen, die den Heiligen erschreckt und verwundert -anblicken - denn ein Heiliger müsssja die Gestalt mit dem Heiligenschein sein. Sehen wir näher zu, so bemerken wir, dass er ein Buch in der Hand trägt Eg es ist der-heilige Markus, der Evangelist, der Schutzpatron von Venedig. Das Gemälde erzählt, w i e die irdischen Überreste des heiligen' Markus aus Alexandrien - der Stadt der >heidnischen< Moslems - nach Venedig gebracht wurden, wo die berühmte Markuskirche erbaut worden war, um sie würdig zu empfangen; Nach der Legende war der heilige Markus Bischof von Alexandria gewesen und w u r d e dort in einer Katakombe bestattet. Die Venezianer brachen in die Katakombe ein, um den Leichnam des Heiligen zu entführen, doch wussten sie natürlich nicht, welches der vielen Gräber diese kostbaren Reliquien enthielt. Aber als sie zum richtigen kamen, stand der Heilige plötzlich selbst vor ihnen
und zeigte ihnen seine irdischen Überreste. Das ist der Augenblick, den Tintoretto zur Darstellung gewählt hat. Der Heilige bedeutet den Männern, die Gräber nicht weiter abzusuchen. Sein wunderbar erhaltener Leichnam ist ja gefunden. Er liegt in Licht getaucht vor ihm auf dem Teppich und hat schon ein Wunder gewirkt: Die Gruppe zur Rechten zeigt einen Besessenen in Krämpfen, dem der böse Geist gerade in Gestalt einer Rauchwolke aus dem Mund entweicht. Der kniende Edelmann im Hintergrund ist der vornehme Stifter, der das Bild für eine fromme Vereinigung bestellt hatte. So ein Gemälde muss den Zeitgenossen gewiss exzentrisch vorgekommen sein. Sie waren wahrscheinlich vor den Kopf gestoßen durch die grellen Kontraste von Licht und Schatten, von Nah und Fern und durch den Mangel an Harmonie in Bewegung und Gebärden. Selbst in seiner Farbgebung verzichtete Tintoretto auf die lautere Schönheit von Giorgiones und Tizians frühen Werken. Sein Gemälde >Der Kampf des hl. Georg mit dem Drachen< (Abb. 237) zeigt, wie viel die unheimliche Beleuchtung und die gebrochenen Farbtöne noch dazu beitragen, das Gefühl von Spannung und Erregimg zu verstärken. Wir fühlen, dass das Drama seinen Höhepunkt erreicht hat. Die Prinzessin scheint aus dem Bilde geradezu auf uns loszustürzen, während der Held selbst gegen alle Regeln weit in den Hintergrund der Szene zurückversetzt ist. Giorgio Vasari (1511-1574) , ein großer Florentiner Kritiker ipnd Biograph dieser Zeit, schrieb über Tintoretto, dass er einer der •größten Maler hätte werden können, die Venedig je sah, wenn er dem schönen Stil seiner Vorgänger gefolgt wäre, statt die gewohnte Bahn zu verlassen. So wie die Dinge lagen, fand Vasari, dass Tintoretto sich durch mangelnde Sorgfalt in der Ausführung und exzentrischen Geschmack selber schade. Er war erstaunt, wie >unfertig< Tintorettos Bilder wirkten. >Seine Skizzensind so roh gemalt, dass seine Pinselstriche mehr Kraft als Urteil zeigen und wie vom Zufall hingeworfen scheinend Das ist ein Vorwurf, der von da an oft gegen moderne Künsder erhoben wurde. Eigentlich ist das nicht besonders überraschend. Denn große Neuerer in der Kirnst haben sich oft auf
das Wesentliche konzentriert und sich um die technische Vollendung im üblichen Sinn nicht allzu viel Sorgen gemacht. In Zeiten wie denen des Tintoretto hatte die Technik des Malens einen so hohen Stand erreicht, dass jeder,, der nur einigermaßen geschickt war, das Handwerkliche daran erlernen konnte. Ein Mann wie Tintoretto aber wollte die Dinge in einem neuen Lichte zeigen, er wollte die Legenden und Mythen der Vergangenheit in ganz neuer Auffassung darstellen; und so betrachtete er ein Gemälde als fertig, wenn es ihm gelungen war, zu zeigen, wie ein Ereignis in seiner Fantasie lebte. Eine glatte und sorgfaltige Ausarbeitung interessierte ihn dann nicht mehr, denn sie trug nichts mehr zur Verwirkhchung seiner künstlerischen Absicht bei. Im Gegenteil — sie konnte sogar den Betrachter von dem dramatischen Geschehen ablenken. Und so blieb er dabei und ließ die Leute reden. Kein Meister des sechzehnten Jahrhunderts ging darin weiter als ein Maler aus Kreta, Domenikos Theotokopoulos (1541 ?—1614),, den man allgemein >E1 Greco« (den Griechen) nannte. Er war aus einem abgelegenen Winkel der Welt, der seit dem Mittelalter keine neue Kunst entwickelt hatte, nach Venedig gekommen. Er war an Heiligenbilder im alten byzantinischen Stil gewöhnt gewesen — feierlich, steif und ohne jeden Anspruch auf Naturtreue. Da er Bilder nicht auf ihre richtige Zeichnung hin anzusehen pflegte, fand er nichts Anstößiges in Tintorettos Kunst, sondern vieles, das ihn anzog. Auch er, so will es scheinen, war ein frommer und leidenschaftlicher Mensch, der in sich den Drang fühlte, die heiligen Geschichten in einer neuartigen und tief ergreifenden Art zu erzählen. Nach dem Aufenthalt in Venedig ließ er sich wieder in einem endegenen Teil Europas, in Toledo in Spanien, nieder, wo ihn die Kritiker kaum mit der Forderung nach richtiger Zeichnimg quälen würden: denn auch in Spanien war die mittelalterliche Kunstauffassimg noch bis zu einem gewissen Grade lebendig gebheben. So erklärt es sich vielleicht, wieso El Greco sogar Tintoretto in der kühnen Missachtung naturgetreuer Formen und Farben übertreffen konnte, wenn er seine ergreifenden und
vj dramatischen Visionen malte. Abb. 238 illustriert eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes und ist eines seiner erstaunlichsten Bilder. Die große Gestalt am Rande des Bildes ist der heilige Johannes selbst, der in visionärer Verzückung nach oben blickt und die Arme mit prophetischer Gebärde gen Himmel hebt. Es handelt sich um die Stelle, wo das Lamm dem Johannes mit Donnerstimme befiehlt, zu kommen und die Eröffnung der sieben Siegel zu sehen: »Und da es das fünfte Siegel auftat, sah ich Vinter dem Altar die Seelen derer; die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen und tun des Zeugnisses willen, das sie hatten. Und sie schrien mit großer Stimme und sprachen: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du und rächest nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weißes Kleid< (Offenbarung des Johannes, 6,9—11). Die nackten Gestalten mit ihren erregten Gebärden sind also die Märtyerer, die aus den Gräbern steigen, zum Herrn um Rache schreien und die Hände ausstrecken, um die himmlische Gabe der weißen Gewänder zu empfangen. Um die unheimliche Vision des Jüngsten Tages, an dem die Heiligen selbst die Vernichtung der Welt fordern, überzeugend darzustellen, hätte gewiss eine naturgetreue Darstellungsweise nicht ausgereicht. Man sieht leicht, dass H Greco viel vonTintorettos neuartiger Methode unsymmetrischer Komposition gelernt hatte und dass er sich auch die überlangen Figuren des Manierismus, wie wir sie bei Parmigianino (Abk. 254 j sahen, zu eigen machte. Aber man fühlt, dass Greco diese künstlerischen Mittel in einem neuen Sinn verwendet. Er lebte in Spanien, wo das religiöse Leben vielleicht inbrünstiger und mystischer war als sonst in Europa. In dieser Umgebung verlor die raffinierte manieristische Kunst viel von ihrem Charakter einer Kunst für Kenner und Liebhaber. Obwohl sein Werk uns unglaublich >modern< vorkommt und vor allem seine Bildnisse so unkonventionell und packend sind, dass sie wie erst gestern gernalt wirken, scheint in Spanien niemand pinpn Einwand dagegen erhoben zu haben, so wie etwa Vasari gegen Tintorettos Maiweise. Seine größten Porträts
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Europa im späteren 1 6 . Jahrhundert
(Abb. 239) können in der Tat neben denen Tizians (Abb. 212) bestehen. Seine Werkstatt war immer voll beschäftigt. Er scheint eine große Anzahl von Gehilfen gehabt zu haben, um mit den vielen Aufträgen fertig zu werden, und das erklärt vielleicht, warum nicht alle Bilder, die seinen Namen tragen, gleich gut sind. Erst eine Generation später begann man, seine unnatürlichen Formen und Farben zu kritisieren und seine Bilder als eine Art schlechten Witz abzutun. Und es ist noch keine hundert Jahre her, dass eine neue Bewegung in der Malerei uns dazu gebracht hat, nicht den gleichen Maßstab von Korrektur an alle Kunstwerke anzulegen; dadurch erst konnte El Grecos Kunst wiederentdeckt und verstanden werden. In den nördlichen Ländern Europas, in Deutschland, Holland und England, hatten sich die Künstler mit noch viel kritischeren Problemen auseinanderzusetzen als ihre Kollegen in Italien und Spanien. Für die Südländer ging es schließlich nur darum, wie sie etwas Neuartiges und Originelles zustande brächten. Im Norden dagegen begann man zu fragen, ob die Malerei überhaupt eine Existenzberechtigung habe. Diese große Krise war eine Folge der Reformation. Viele Protestanten wollten keine Bilder oder Statuen von Heiligen in ihren Kirchen dulden; denn für sie war das römischer Götzendienst. Damit verloren die Maler in protestantischen Gegenden ihre Haupteinnahmequelle, das Malen von Altarbildern. Die strengsten Calvinisten verwarfen sogar alle Art Luxus wie die Ausschmückung von Wohnungen, und selbst wo das erlaubt war, waren das Klima und der Baustil gewöhnlich ungeeignet für große Wandmalereien, wie sie die vornehmen Italiener in ihren Palästen anbringen heßen. So blieb den Künsdern als einzige regelmäßige Einnahmequelle das Illustrieren von Büchern und Malen von Porträts; und damit allein Heß sich gewiss nicht leicht ein Auskommen finden. Wir können die Auswirkungen dieser Krise in der Laufbahn des größten deutschen Malers dieser Generation, im Leben Hans Holbeins des Jüngeren ('497-1543 ) verfolgen. Holbein war sechsundzwanzig Jahre jünger als Dürer und nur drei Jahre älter als Cellini. Er war als Sohn eines
angesehenen Malers in Augsburg, der Stadt der Fugger, mit ihren engen Handelsbeziehungen zu Italien, geboren. Aber schon in jungen Jahren siedelte er nach Basel über, einem berühmten Zentrum der Gelehrsamkeit und des neuen Kunststils. Die Kenntnisse, um die Dürer sein ganzes Leben lang so leidenschaftlich gerungen hatte, fielen Holbein viel leichter zu. Da er aus einer Malerfamilie stammte und ungewöhnlich aufnahmefähig war, machte er sich bald die Errungenschaften sowohl der nördlichen als auch der italienischen Künsder zu eigen. Er war kaum dreißig, als er das wunderbare Altargemälde der Madonna mit der Familie des Basler Bürgermeisters Meyer malte (Abb. 240). Die Form der Madonna mit Stiftern war allgemein herkömmlich, und wir sind ihr beim Wilton-Diptychon (Abb. 143) und bei Tizians >Madonna mit Heiligen und Mitgliedern der Familie< (Abb. 210) begegnet. Aber Holbeins Gemälde bleibt eines der vollkommensten Beispiele seiner Art. Die Anordnung der Stifter in scheinbar zwanglosen Gruppen zu beiden Seiten der Madonna, die in ruhiger und majestätischer Haltung in einer antikisch geformten Nische steht, gemahnt an die harmonischsten Kompositionen der italienischen Renaissance, an Giovanni Bellini (Abb. 208) und Raffael (Abb. 203). Andererseits beweisen uns die sorgfaltige Beobachtung aller Einzelheiten und eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem konventionellen Schönheitsbegriff, dass Holbein seine Kunst im Norden gelernt hat. Er war auf dem besten Weg, der führende Meister des deutschen Sprachgebietes zu werden, als die Wirren der Reformation allen solchen Hoffnungen ein Ende bereiteten. Im Jahre 1^26 verließ er die Schweiz und reiste mit einem Empfehlungsbrief des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam nach England. >Die Künste erfrieren hierDat poenas laudata fidesGepriesene Treu bringt Schmerz und Reugepriesene Treu< endlich belohnte. Eigentlich gab es nur ein protestantisches Land in Europa, in dem die Kunst die Krise der Reformation unbeschadet überstand, und das waren die Niederlande. Hier, wo die Malerei schon so lange geblüht hatte, gelang es den Künstlern, sich einen Ausweg aus all den Schwierigkeiten zu bahnen. Statt sich nur auf die Porträtmalerei zu konzentrieren, suchten und fanden sie andere Themen für ihre Kunst, gegen die die protestantische Kirche keinen Einwand erheben konnte.
Seit alters h e r u n d j e d e n f a l l s seit der Zeit Jan v a n Eycks (Abb. | | f |
galten d i e n i e d e r l ä n d i s c h e n Künstler als d i e anerkannten Meister der Naturnachahmung. W e n n d i e Italiener i h r e n Stolz in die v o l l e n d e t e Darstellung d e s s c h ö n e n m e n s c h l i c h e n Körpers in R u h e u n d B e w e gung setzten, so w a r e n sie andererseits bereit z u z u g e b e n , dass die Flamen sie a n b l o ß e r G e d u l d u n d G e n a u i g k e i t übertrafen, w e n n sie eine B l u m e o d e r e i n e n B a u m , e i n e S c h e u n e o d e r eine H e r d e Schafe getreulich a b k o n t e r f e i t e n . So w a r es g a n z natürlich, dass die Künstler i m N o r d e n , d i e k e i n e Besteller m e h r f ü r Altarbilder u n d andere religiöse G e m ä l d e f a n d e n , s i c h n a c h e i n e m Markt f ü r ihre anerkannten Spezialitäten u m s a h e n u n d Bilder malten, deren H a u p t z w e c k einfach darin b e s t a n d , i h r e erstaunliche Künst in der W i e d e r g a b e der Oberfläche der D i n g e z u r S c h a u z u stellen. Eine Spezialisierung a u f ein b e s t i m m t e s T h e m e n g e b i e t w a r n i c h t ei n m a l etwas ganz N e u e s für die Niederländer. W i r e r i n n e r n uns, dass n o c h vor der Krise der Kunst H i e r o n y m u s B o s c h (Abb. 229, 230) sich a u f das Malen v o n H ö l lenszenen spezialisiert hatte. Jetzt, wo der Themenkreis der Malerei s o beschränkt w o r d e n war, g i n g e n d i e Maler a u f diesem W e g e n o c h weiter. Sie v e r s u c h t e n , an d i e Ü b e r l i e f e r u n g der nördlichen Kunst anzuknüpfen, d i e bis a u f d i e k o m i s c h e n Randleisten mittelalterlicher Handschriften (Abb. 140) u n d a u f die Szenen aus d e m täglichen Leben in den Darstellungen des f ü n f z e h n t e n Jahrhunderts zurückreicht (Abb. 177). S o l c h e Darstellungen, in d e n e n die Künstler sich ganz bewusst a u f e i n e b e s t i m m t e Gattimg v o n T h e m e n , vor allem auf Szenen aus d e m Alltagsleben beschränkten, w u r d e n später >Genre-Bilder< genannt ( n a c h d e m f r a n z ö s i s c h e n W o r t genre, Gattung). Der g r ö ß t e der niederländischen Genremaler des sechzehnten Jahrhunderts w a r Pieter B r u e g e l der Ältere (1525-15-69). Über sein Leben w e i ß m a n n i c h t viel, außer dass er, w i e so viele Künstler seiner Zeit, e i n e Italienreise m a c h t e u n d dass er in A n t w e r p e n u n d Brüssel lebte u n d w i r k t e . D i e m e i s t e n seiner Bilder entstanden dort in den sechziger Jahren, in d e m Jahrzehnt also, in d e m der gefürchtete Herzog v o n Alba in d e n N i e d e r l a n d e n eintraf. Die W ü r d e der Kunst
und der Künstler war für ihn vielleicht ebenso wichtig wie für Dürer und Cellini, denn in einer seiner blendenden Zeichnungen zeigt er deudich den Kontrast zwischen dem stolzen Maler und dem töricht dreinschauenden bebrillten Mann, der in seiner Börse kramt, während er dem Künsder über die Schulter blickt (Abb. 245). Die Gattimg von Bildern, auf die sich Bruegel verlegte, waren Szenen aus dem Leben der Bauern. Er malte die Bauern im Wirtshaus, beim Tanz und bei der Arbeit, und so lebte er schließlich in der Vorstellung der Leute selbst als ein holländischer Bauer. Solche Trugschlüsse über Künsder sind gar nicht selten. Man verwechselt ihre Werke mit ihrem Leben. Wäre Bruegel selbst ein Bauer gewesen, hätte er den Bauern nicht so malen können. Er war zweifellos Städter und betrachtete das Dorfleben vermudich ähnlich wie Shakespeare, der Zettel den Weber und Squenz den Zimmermann als eine Art Clownfiguren dargestellt hat. Es war damals üblich, den Bauerntölpel als Witzfigur hinzustellen. Vermudich folgten Shakespeare und Bruegel diesem Brauch nicht aus Überheblichkeit, sondern weil die Menschen im bäuerlichen Leben weniger hinter der Künstlichkeit der Sitten und Konventionen verborgen waren als die gezierten und manierierten Adligen, die Hilliard porträtierte. Deshalb wählten Dramatiker und Maler oft Szenen aus dem ländlichen Bereich, um die Torheit der Menschen darzustellen. Eine der unvergesslichsten von Bruegels menschlichen Komödien ist die berühmte >Bauernhochzeit< im Kunsthistorischen Museum in Wien (Abb. 246). Wie die meisten Bilder verliert es stark in der Abbildung, denn die Einzelheiten schrumpfen zu sehr zusammen, und die Farben fehlen. Abb. 247 gibt zumindest eine Vorstellung von seiner bunten Farbigkeit. Das Fest spielt sich in einer großen Scheune ab, in deren Hintergrund das Stroh hoch aufgestapelt ist. Die Braut sitzt vor einem blauen Vorhang, und eine Art Krone hängt über ihrem Kopf. Mit einem zufriedenen Grinsen auf ihrem dummen Gesicht sitzt sie ganz ruhig mit gefalteten Händen da (Abb. 247). Der alte Mann weiter oben an der Tafel und seine Nachbarin sind
w a h r s c h e i n l i c h i h r e Eltern, w ä h r e n d d e r M a n n w e i t e r unten, der s o gierig in s i c h h i n e i n l ö f f e l t , w o h l d e r B r ä u t i g a m ist. Fast alle Gäste w i d m e n s i c h m i t Eifer d e m Essen u n d T r i n k e n , u n d m a n lässt u n s merken, dass das erst d e r A n f a n g ist. Links i n d e r E c k e s c h e n k t e i n M a n n Bier aus, e i n H a u f e n leerer K r ü g e l i e g t n o c h i n e i n e m K o r b § w ä h r e n d z w e i M ä n n e r m i t w e i ß e n S c h ü r z e n i m V o r d e r g r u n d w e i t e r e z e h n N ä p f e m i t Brei o d e r Mus auf e i n e r a u s g e h ä n g t e n Tür h er b ei tr a gen . Einer der Gäste reicht die g e f ü l l t e n Teller h e r u m . A b e r das ist natürlich n i c h t alles: im H i n tergrund d r ä n g t s i c h e i n e M e n s c h e n m e n g e , die Einlass b e g e h r t , u n d einer der M u s i k a n t e n w i r f t e i n e n traurigen, h u n g r i g e n u n d sehnsüchtigen B l i c k a u f d i e v o r b e i g e t r a g e n e n Schüsseln. Z w e i Gäste fallen auf: der M ö n c h u n d d e r A m t m a n n , die i n der Ecke i n ein ernstes Gespräch v e r t i e f t sind. Das K i n d i m V o r d e r g r u n d m i t einer Pfauenfeder a u f seiner v i e l z u g r o ß e n H a u b e hat e i n e n Teller erwischt u n d leckt sich d i e F i n g e r ab — e i n Bild der g e f r ä ß i g e n Unschuld. A b e r b e w u n d e r n s w e r t e r n o c h als diese Fülle w i t z i g e r u n d gut beobachteter Episoden ist d i e Ar t, w i e B r u e g e l sein Bild aufgebaut hat, sodass es weder ü b e r f ü l l t n o c h v e r w i r r e n d w i r k t . Selbst Tintoretto hätte eine solche M e n s c h e n m e n g e i n e i n e m Saal n i c h t ü b e r z e u g e n d e r w i e d e r geben k ö n n e n als B r u e g e l . D i e l a n g e Tafel führt unsere A u g e n nach rückwärts, u n d d i e B e w e g u n g der M e n s c h e n m a s s e b e i m Scheuneneingang f ü h r t u n s w i e d e r n a c h v o r n e z u d e n b e i d e n Speiseträgern; die Gestalt des M a n n e s , der die Speisen zurückreicht, aber z w i n g t unseren Blick v o n i h n e n g e r a d e w e g s a u f die kleine Hauptfigur der grinsenden Braut h i n . Mit s e i n e n h u m o r v o l l e n , aber keineswegs unkomplizierten Bildern hat B r u e g e l e i n n e u e s fruchtbares Gebiet f ü r die Kirnst erobert, das v i e l e n G e n e r a t i o n e n v o n niederländischen Malern Arbeit und Brot gab. In Frankreich n a h m d i e Kunstkrise des sechzehnten Jahrhunderts w i e d e r e i n e n a n d e r e n Verlauf. S c h o n rein seiner g e o grafischen Lage n a c h stand e s s o w o h l d e m italienischen w i e d e m
niederländischen Einfluss offen. Die lebendigen Überlieferungen mittelalterlicher Kunst in Frankreich wurden zuerst durch den Einbruch eines modernen Italienertums bedroht, dem sich die französischen Maler genauso schwer fügten wie ihre niederländischen Kollegen (Abb. 228). Die Form, in der die italienische Kunst schließlich von der vornehmen Gesellschaft akzeptiert wurde, war die des verfeinerten und raffinierten italienischen Manierismus von der Art des Cellini (Abb. 233). Man sieht diesen Einfluss an den schönen Brunnenreliefs des französischen Bildhauers Jean Goujon (gestorben 1566?, Abb. 248). Es hegt etwas von Parmigianinos hochgezüchteter Eleganz und von Giambolognas Virtuosität in der schlanken Grazie dieser Gestalten, die sich so kunstvoll in das schmale Feld einfügen, das ihnen zugedacht ist. Eine Generation später wirkte ein Künstler in Frankreich, in dessen Radierungen die bizarren Einfalle der italienischen Manieristen mit bruegelschem Humor behandelt sind: der Lothringer Jacques Callot (1592—1635). So wie Tintoretto oder El Greco hatte er eine Vorliebe für das überraschende Nebeneinander von überlangen und hageren Figuren und weiten unerwarteten Ausblicken, aber wie Bruegel benützte auch er diese Effekte, die Darstellung von Ausgestoßenen, von Landsknechten, Krüppeln, Bettlern und fahrenden Komödianten, um ein Bild der menschlichen Narrheit zu geben (Abb. 249). Zu der Zeit, als Callot seine Fantasiestücke vor das Publikum brachte, hatten die meisten Künstler ihre Aufmerksamheit bereits neuen Problemen zugewandt.
Das Ideal und das Leben Katholisches
Europa, erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
Die Geschichte der Kunst wird manchmal als eine Aufeinanderfolge von verschiedenen Stilen dargestellt. Wir hören, wie der romanische Stil des zwölften Jahrhunderts mit seinen Rundbögen von dem gotischen Spitzbogenstil abgelöst und wie dieser wieder durch den Renaissancestil verdrängt wurde, der in Italien im frühen fünfzehnten Jahrhundert begann und sich langsam über Europa verbreitete. Der Stil, der auf die Renaissance folgt, wird gewöhnlich Barockstil genannt. Aber während es ganz leicht ist, Erkennungszeichen für die früheren Stilarten anzugeben, ist das hier nicht so einfach. Von der Renaissance bis in unsere Tage hinein haben die Architekten dieselben Bauelemente, Säulen, Pilaster, Gesimse, Architrave und Friese benutzt, die alle ursprünglich aus dem Formenschatz der Antike stammen. In einem gewissen Sinn kann man daher sagen, dass der Renaissancestil von den Tagen Brunelleschis bis heute herrscht. Andererseits ist es selbstverständlich, dass sich im Laufe einer so langen Zeit Geschmack und Mode mehrfach wandelten, und es ist nützlich, verschiedene Ausdrücke bei der Hand zu haben, um die einzelnen Zeitabschnitte zu kennzeichnen. Merkwürdigerweise wurden viele dieser Ausdrücke, die für uns einfach Stilbezeichnungen sind, ursprünglich als Schimpfnamen geprägt. Das Wort >gotisch< wurde von den italienischen Kunstschriftstellern der Renaissance geprägt, um einen Stil zu bezeichnen, den sie für barbarisch hielten und von dem sie glaubten, dass Italien ihn den Goten verdanke, die der römischen Herrlichkeit ein Ende gesetzt hatten. Das Wort >Manierismus< hat auch heute noch einen Unterton von Affektation und seichter Nachahmung, ein Vorwurf, den die Kunstschriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts gegen Künstler des späten sechzehnten erhoben hatten. Das Work >barock< schließlich war ein Ausdruck, den die Kritiker einer späteren Kunstepoche im Kampf gegen bestimmte Tendenzen des siebzehnten Jahrhunderts verwendeten, die sie lächerlich machen wollten. Barock bedeutet eigentlich absurd oder grotesk. Kritiker des achzehnten Jahrhunderts, die von der Überzeugung durchdrungen waren, dass die Bauformen des klassischen Altertums einzig und
allein in der Art verwendet werden durften, wie es die alten Griechen und Römer selbst getan hatten, bezeichneten mit diesem Ausdruck alle, die die strengen Regeln der antiken Architektur verletzten. Eine solche Geschmacksverirrung Sellien ihnen geradezu absurd, das heißt barock. Es ist vielleicht nicht ganz leicht für uns, diese Entrüstung zu verstehen. Wir sind abgestumpft, denn in den Straßen unserer Städte sehen wir so viele Gebäude, in denen die Regeln der klassischen Baukunst missachtet oder missdeutet werden, dass wir das Gefühl für diese Feinheiten verloren haben. Eine Kirchenfassade wie die auf Abb. 2$o würden wir kaum als aufregende Neuerung empfinden, denn wir haben zu viele gute und schlechte Nachahmungen dieser Art Bauten gesehen, um uns noch nach ihnen umzudrehen. Aber im Jahre 1575 muss diese Fassade geradezu revolutionär gewirkt haben. Es war nicht einfach noch eine Kirche mehr in Rom, wo es schon so viele Kirchen gab. Es war die Kirche des neu gegründeten Jesuitenordens, der, wie man hoffte, die Reformation in ganz Europa erfolgreich bekämpfen würde. Der Renaissaneegedanke eines runden, symmetrischen Kirchenbaus war als ungeeignet für den Gottesdienst verworfen worden, und man kehrte wieder zur Form des Langhauses mit dem Altar im Chor zurück. Wo das Querschiff sich mit dem Mittelschiff kreuzte, erhob sich eine Kuppel, durch die das Licht in das geräumige Kircheninnere strömte. Die Anlage dieser ersten Jesuitenkirche wurde bald überall im katholischen Europa übernommen. Bei einem genauen Blick auf die Fassade von II Gesü, die von dem berühmten Architekten Giacomo della Porta (1541 ?—1602) gebaut wurde, wird schnell deutlich, worin das Neue lag. Ohne Schwierigkeit erkennen wir die Elemente der klassischen Architektur, die SauJen oder richtiger Halbsäulcn und Pilaster, die ein regelrechtes Gebalk trafen, das wieder gekrönt ist von einer hohen Attika, auf der das nächste Stockwerk ruht. Auch in der Verteilung dieser Elemente wirkt dje antike Architektur nach. Das große von Säulen gerahmte Mmeltor /wischen den zwei kleineren Seitentüren erinnert an das Schema drr Triumphbogen (Abb. 74), das in der Baukunst
eine ähnliche elementare RoHe spielt wie etwa der Dur-Dreiklang in der Musik. Die schlichte und majestätische Fassade zeigt nichts von der absichfhchein Effekttshascherei, wie wir sie aus der Zeit des Manierismus kennen, aber die Art, wie die klassischen Elemente hier verwendet sind, ist doch sehr verschieden von der Bauweise der Antike und Renaissance. Der auffallendste Zug an der Fassade ist vielleicht die Verdoppelung jeder Säule und jedes Pilasters, eine Bereicherung, die dem Bauwerk eine gewisse getragene Feierlichkeit verleiht. Zweitens bemerkt man die Sorgfalt, mit der der entwerfende Architekt die einzelnen Bauglieder so abgestuft hat, dass die Mitte mit dem Hauptportai besonders betont ist: erst hier erhöhen sich die Pilaster zu Halbsäulen. Erinnern wir uns, wie vergleichsweise einfach alle früheren Gebäude im klassischen Stil dagegen wirken, wie unendlich leicht und schlicht Brunelleschis Cappella Pazzi (Abb. 147) und v#ie übersichtlich Bramantes Tempietto (Abb. 187) daneben aussieht. Sogar die reich gegliederte Fassade von Sansovinos Markusbibliothek (Abb. 207j wirkt daneben unkompliziert, weil sich auch dort dieselbe Anordnung immer von neuem wiederholt. Wenn man einen Ausschnitt gesehen hat, hat man das Ganze gesehen. Bei della Portas Fassade der ersten Jesuitenkirche hangt alles von der Wirkung des Ganzen ab. Und dieses Ganze bestimmt die Rolle aller einzelnen Teile. Am deutlichsten erkennt man das vielleicht an der Sorgfalt, mit der der Architekt die beiden Stockwerke miteinander zu verbinden sucht. Er verwendet dazu eine Form von Voluten, für die es in der ganzen antiken Baukunst keinerlei Vorbild gab. An einem griechischen Tempel oder einem römischen Theater könnte man sie sich auch nicht vorstellen. Gerade um solcher Schnörkel willen sind auch die Architekten der Barockzeit von den Verfechtern der rein klassischen Überlieferung am heftigsten angegriffen worden. Aber wenn wir diese anstößigen Schnörkel auf der Abbildung mit einem Stück Papier zudecken und versuchen, uns die Fassade ohne sie vorzustellen, so merken wir bald, wie wesentlich sie sind. Ohne sie würde der Bau >auseinanderfallenideale Schönheit< w a r i h m g a n z g l e i c h g ü l t i g E r w o l l t e m i t a l le m K o n v e n t i o n e l l e n aufr ä u m e n u n d die Fragen der Kunst g a n z n e u d u r c h d e n k e n (Abb. 15,16). M a n c h e glaubten, dass er darauf aus, war, das P u b l i k u m vor d e n K o p f z u s t o ß e n , u n d dass i h m jede Ehrfurcht v o r der S c h ö n h e i t u n d der Tradition fehlte. Er w a r einer der ersten Maler, g e g e n die m a n eine de r ar t ig e A n k l a g e erhob, u n d der Erste, der v o n seinen Kritikern als >Naturalist< verurteilt w u r d e . In W i r k l i c h k e i t w a r Caravaggio ein viel z u g r o ß e r u n d ernster Künsder, u m seine Zeit m i t Sensationshascherei zu v e r g e u d e n . W ä h r e n d di e Kritiker redeten, malte er. In drei Jahrh u n d e r t e n hat sein Werk nichts an Unmittelbarkeit e i n g e b ü ß t . Abb. 252 stellt d e n u n g l ä u b i g e n T h o m a s dar: Die drei Apostel, die Jesus anstarren, w ä h r e n d einer d e n Finger i n di e S e i t e n w u n d e steckt, w i r k e n g e w i s s unkonventionell. M a n k a n n sich leicht vorstellen, dass ein solc h e s Bild f r o m m e n G e m ü t e r n ehrfurchtslos u n d g e r a d e z u lästerlich v o r k a m . Sie w a r e n g e w o h n t , die Apostel als w ü r d e v o l l e Gestalten in w a l l e n d e n Mänteln zu sehen - hier w a r e n es einfache Tagelöhner mit v e r w i t t e r t e r u n d gerunzelter Stirn. A b e r Caravaggio hätte geantwortet, dass d i e A po s t e l ja e b e n alte Tagelöhner w a r e n , Leute aus d e m Volk, u n d w a s d i e z u d r i n g l i c h e Geste des u n g l ä u b i g e n T h o m a s betrifft, s o lässt d i e H e i l i g e Schrift da gar k e i n e n Z w e i f e l zu. Jesus sagt zu i h m : >Reiche d e i n e n Finger her u n d siehe m e i n e Hände, u n d r e i c h e deine H a n d h e r u n d l e g e sie i n m e i n e Seite, u n d sei n i c h t u n g l ä u b i g , sond e r n gläubig!< (Johannes 2 0 , 2 7 ) . D e r >Naturalismus< des Caravaggio, das h e i ß t seine A bsi cht, d i e u n g e s c h m i n k t e Natur s o getreu w i e m ö g l i c h z u k o p i e r e n , w a r d a r u m v i e l l e i c h t f r ö m m e r als Carraccis Streben n a c h Schönheit. Carav a g g i o m u s s t e di e Bibel i m m e r w i e d e r u n d w i e d e r ge les en haben, u m s i c h i h r e n Inhalt z u v e r g e g e n w ä r t i g e n . E r w a r einer v o n d e n
großen Künstlern, w i e vor i h m Gi otto u n d Dürer, die d i r heiligen Geschichten m i t e i g e n e n A u g e n sehen wollten, als ob sie sich eben im N a c h b a r h a u s z u t r ü g e n . Es lag i h m daran, die Gestalten der alten Erzählungen g r e i f b a r u n d plastisch vor uns hinzustellen. Auch seine Beliandlung v o n Licht u n d Schatten dient d i e s e m Ziel. Sein Llchl modelliert d e n K ö r p e r nicht s o weich w i e a u f d e m Bild des Annibale Carracci. Es ist hart u n d fast grell g e g e n die dunklen Schatten gesetzt. Aber es beleuchtet die g a n z e Szene mit einer rücksichtslosen Wahr heitsliebe, d i e n u r w e n i g e Zeitgenossen zu schätzen wussten, die a b e r einen e n t s c h e i d e n d e n Einfluss auf spätere Maler hatte. Annibale Carracci u n d Caravaggio kamen beide im neunzehnten Jahrhundert aus der Mode, u n d erst jetzt beschäftigt m a n sich w i e d e r m i t ihnen. Aber m a n kann sich heute kaum einen B e g r i f f davon m a c h e n , w a s ihr Einfluss für die Geschichte der Malerei bedeutete. Beide arbeiteten in R o m , u n d R o m war damals der Mittelpunkt der Kulturwelt. Dort strömten die Künstler aus allen Teilen Europas zusammen, beteiligten sich an den Diskussionen über Malerei, ergriffen Partei im Streit der Schulen u n d Cliquen und kehrten in ihre Heimat m i t Erzählungen über die letzten Richtungen zurück - ungefähr w i e das die m o d e r n e n Maler tun, wenn sie aus Paris k o m m e n . Je nach ihren nationalen Überlieferungen und ihrem Temperament bevorzugten die Künstler die eine oder die andere der wetteifernden römischen Schulen, u n d die größten unter ihnen entwickelten aus all dem, w a s sie dort lernten, ihren eigenen persönlichen Stil. So ist Rom die beste Warte, von der aus man das glänzende Panorama der Malerei im katholischen Europa überblicken kann. Unter den vielen italienischen Künstlern, die ihren Stil in Rom bildeten, ist Guido Rem
( S7S-i642) vielleicht der berühmteste. Er kam aus Bologna und l
ging nach kurzem Zögern ins Lager des Carracci. So wie sein Lehrer war auch er einst wesendich berühmter, als er es heute ist (Abb, 7). Es gab eine Zeit, wo m a n ihn Raffael gleichsetzte, und wenn wir Äh Sfif ansehen, verstehen wir vielleicht, warum. Reni malte dieses Deckengemälde in einem römischen Palazzo im Jahre 1614. Es stellt
großen Künstlern, wie vor ihm Giotto und Dürer, die die heiligen Geschichten mit eigenen Augen sehen wollten, als ob sie sich eben im Nachbarhaus zutrügen. Es lag ihm daran, die Gestalten der alten Erzählungen greifbar und plastisch vor uns hinzustellen. Auch seine Behandlung von Licht und Schatten dient diesem Ziel. Sein Licht modelliert den Körper nicht so weich wie auf dem Bild des Annibale Carracci. Es ist hart und fast grell gegen die dunklen Schatten gesetzt. Aber es beleuchtet die ganze Szene mit einer rücksichtslosen Wahrheitshebe, die nur wenige Zeitgenossen zu schätzen wussten, die aber einen entscheidenden Einfluss auf spätere Maler hatte. Annibale Carracci und Caravaggio kamen beide im neunzehnten Jahrhundert aus der Mode, und erst jetzt beschäftigt man sich wieder mit ihnen. Aber man kann sich heute kaum einen Begriff davon machen, was ihr Einfluss für die Geschichte der Malerei bedeutete. Beide arbeiteten in Rom, und Rom war damals der Mittelpunkt der Kulturwelt. Dort strömten die Künsüer aus allen Teilen Europas zusammen, beteiligten sich an den Diskussionen über Malerei, ergriffen Partei im Streit der Schulen und Cliquen und kehrten in ihre Heimat mit Erzählungen über die letzten Richtungen zurück - ungefähr wie das die modernen Maler tun, wenn sie aus Paris kommen. Je nach ihren nationalen Überlieferungen und ihrem Temperament bevorzugten die Künsder die eine oder die andere der wetteifernden römischen Schulen, und die größten unter ihnen entwickelten aus all dem, was sie dort lernten, ihren eigenen persönlichen Stil. So ist Rom die beste Warte, von der aus man das glänzende Panorama der Malerei im katholischen Europa überblicken kann. Unter den vielen italienischen Künstlern, die ihren Stil in Rom bildeten, ist Gmdo Reni (1575"—1642) vielleicht der berühmteste. Er kam aus Bologna und ging nach kurzem Zögern ins Lager des Carracci. So wie sein Lehrer war auch er einst wesendich berühmter, als er es heute ist (Abb. 7). Es gab eine Zeit, wo man ihn Raffael gleichsetzte, und wenn wir 4bb. 253 ansehen, verstehen wir vielleicht, warum. Reni malte dieses Deckengemälde in einem römischen Palazzo im Jahre 1614. Es stellt
die Morgenröte und den jugendlichen Sonnengott Apollo in seinem Wagen dar, um den die Hören (Stunden), angeführt von einem fackeltragenden Kind, dem Morgenstern, ihren Reigen tanzen. Anrnm und Schönheit dieses Sinnbilds eines strahlenden Tagesanbruchs machen es verständlich, dass sich die Kritiker an Raffaels Fresko in der Villa Farnesina (Abb. 204) erinnert fühlten. Gerade das wollte Rem wahrscheinlich, und wenn Kritiker ihn heute oft nicht so hoch einschätzen, so tun sie das vielleicht aus eben diesem Grund. Sie
fühlen
oder sie fürchten, dass gerade diese Nachahmung eines anderen Malers Reni zu absichtlich und ein bisschen zu bewusst nach idealer Schönheit streben ließ. Wir können das auf sich beruhen lassen.
Wahr
ist jedenfalls, dass Renis Einstellung zu seiner Kunst von der Raffaels grundverschieden ist. Bei Raffael hat man das Gefühl, dass in der heiteren Schönheit seiner Werke ein natürlicher Ausdruck des Wesens hegt; bei Reni, dass er aus theoretischer Überzeugung so malte, wie er malte, und dass er, falls zufallig Caravaggios Schüler ihn für
sich
gewonnen hätten, auch ebenso gut anders hätte malen können. Aber es war nicht Renis Schuld, dass so prinzipielle Fragen aufs Tapet gebracht worden waren und dass sie damals die Geister der Künsder bewegten. Von >Schuld< kann man da überhaupt nicht sprechen. Die Kunst hatte sich eben in einer Weise entwickelt, die jeden Künstler zwang, bewusst Stellung zu nehmen und sich mit verschiedenen Richtungen auseinanderzusetzen. Sobald man sich damit abfindet, kann man auch rückhaltlos die Konsequenz bewundern, mit der Reni sein Programm ausführte und alles verwarf, was er in der
1 Jana?
als gemein, hässlich oder ungeeignet für seine hochgespannten Ideale ansah. Es war der Kreis um Annibale Carraca, um Fem und ihre Nachfolger, die die Forderung erhoben, dass der Künstler cht Natur »idealisieren^ das heißt verschönern und alles weglassen mumt, was nicht den Formgesetzen der antiken Plasok entsprach- Man nennt die Richtung, die sich dieser Lehre verschrieb^ die »oeokiamzistische< oder >akademische< zum Umerachied von der kkmmkm Kunst, die kein solches philosophisches Programm kMum Über Schuld< kann m a n da überhaupt nicht sprec h e n . D i e Kunst hatte sich eben in einer Weise entwickelt, die jeden Künstler z w a n g , bewusst Stellung zu n e h m e n u n d sich m i t verschiedenen Pachtungen auseinanderzusetzen. Sobald m a n sich damit abfindet, kann m a n auch rückhaklos die Konsequenz b e w u n d e r n , m i t der ?jeEi sein Programm ausführte u n d alles verwarf, w a s er in der Natur als g e m e i n , hasslich oder ungeeignet für seine hochgespannten Ideale ansah. Es war der Kreis tun Annibale Carracci, t u n Reni und ihre N a c h f o l g e ^ die die Forderung erhoben, dass der Künsder die Natur •idealisieren^, das heißt verschönern u n d alles weglassen müsse, was nicht den Formgesetzen der antiken Plastik entsprach. M a n nennt d i e Richtung, die sich dieser Lehre verschrieb, die >neoklassizisüsche'
oder ^akademische« z u m Unterschied von der klassischen
Z m m , die kein solches philosophisches Programm kannte. Über den
Klassizismus wird man noch lange diskutieren, doch es ist unbestritten, dass große Künstler unter seinen Vertretern uns eine Welt der Reinheit und Schönheit eröffnet haben, ohne die wir ärmer wären. Der größte von den >akademischem Meistern war der Franzose Nicolas Poussin (1594—166^) , dem Rom zur zweiten Heimat wurde. Poussin studierte die Meisterwerke der antiken Plastik, die er in den römischen Sammlungen sah, mit leidenschaftlicher Bewunderung. Ihre schönen Formen sollten ihm dazu verhelfen, seinen Traum von einem verflossenen Zeitalter des Adels und der Unschuld Gestalt zu geben. Abb. 254 zeigt eine Frucht dieser intensiven Studien. In einer sonnigen, südlichen Landschaft haben sich schöne junge Menschen um einen großen Grabstein versammelt. Einer der Hirten - denn dass es Hirten sind, erkennt man an den Stäben und Kränzen - ist niedergekniet, um die Inschrift auf dem Grab zu entziffern, ein zweiter zeigt sie der schönen Frauengestalt, die wie der dritte Gefahrte im Hintergrund in ruhiger Trauer dasteht. Die Inschrift ist lateinisch: ET IN ARCADIA EGO (Auch in Arkadien bin ich): >Ich, der Tod, herrsche auch über Arkadien, das friedliche Selmsuchtsland der Schäferidyllen.< Nun verstehen wir auch, warum die beiden äußeren Gestalten, von Wehmut überkommen, schweigend den Kopf senken, und bewundern die Schönheit der zwei lesenden Gestalten noch mehr, deren Gebärden aufeinander abgestimmt sind. Die Anordnung wirkt denkbar einfach, aber es ist eine Einfachheit, die einer ungeheuren künsderischen Erfahrung entspringt. Ohne seine >akademischenc Studien hätte Poussin niemals das entschwundene Land seiner Träume darstellen können, in dem selbst der Tod seinen Schrecken verloren hat. Gerade dieses Traumbild war es auch, das die Werke eines anderen Franzosen, der in Italien heimisch wurde, berühmt gemacht hat. Claude Gellee (1600—1682), ein jüngerer Zeitgenosse Poussins, wurde nach seiner lothringischen Heimat Lorrain genannt. Lorrain studierte die Landschaft der römischen Campagna, die Ebene u
nd das Hügelland in der Umgebung von Rom, die Farben und
B e l e u c h t u n g e n des südlichen H i m m e l s u n d die verlassenen Ruinen, die Z e u g e n einer großen Vergangenheit. W i e Poussin b e w i e s auch er in seinen Skizzen, dass er ein Meister der N a t u r b e o b a c h t u n g e n war, u n d seine Baumstudien gehören z u m Schönsten dieser Art. A ber für seine fertigen Bilder wählte er nur solche Motive, die er f ü r w ü r d i g hielt, einen Platz im Märchenland seiner Sehnsucht e i n z u n e h m e n , u n d tauchte sie in ein goldenes Licht oder in eine silberne Luft, die d i e ganze Landschaft verklärten u n d entrückten (Abb. 255). Claude Lorrain w a r der Erste, der den Menschen die A u g e n für die Schönheiten der Natur eröffnete, und ein ganzes Jahrhundert n a c h seinem Tode pflegten Reisende eine wirkliche Landschaft danach zu beurteilen, ob sie den Bildern des Claude ähnelte. W e n n die Aussicht sie an eines seiner Bilder erinnerte, waren sie entzückt u n d packten ihre Esskörbe aus. Reiche Engländer gingen n o c h weiter u n d versuchten, das Stück Natur, das ihnen gehörte, ihre Güter u n d Landsitze, nach Claudes Vorbild u m z u m o d e l n . Was w i r den >englischen Garten< nennen, die malerische Verteilung v o n Baumgruppen über ein liebliches Wiesengelände, stammt letzten Endes v o n diesem Franzosen, der sich in Italien niedergelassen und sich die Ideale des Carracci zu eigen gem a ch t hat. Der bedeutendste Künsder des Nordens, der m i t der r ö m i schen Atmosphäre in den Tagen des Caravaggio u n d des Carracci in direkten Kontakt kam, war eine Generation älter als Poussin u n d Claude Lorrain u n d ungefähr so alt w i e Guido Reni. Es w a r der Flame Peter Paul Rubens (1577—1640), der im Jahre 1600 m i t dreiu n d z w a n z i g Jahren nach R o m kam. Er w a r n o c h jung u n d o f f e n f ü r n e u e Eindrücke u n d muss an vielen leidenschaftlichen Debatten ü b e r Kunst teilgenommen u n d eine große Anzahl antiker u n d neuzeitlicher Kunstwerke sowohl in R o m als auch in Genua u n d Mantua ( w o er sich eine Zeit lang aufhielt) studiert haben. O b w o h l all dies gewiss einen tiefen Eindruck auf ihn machte, scheint er sich keiner b e s t i m m m t e n Richtung oder Clique angeschlossen zu haben. Im H e r z e n blieb er ein flämischer Maler, ein Maler aus d e m Lande, in
Klassizismus wird man noch lange diskutieren, doch es ist unbestritten, dass große Künstler unter seinen Vertretern uns eine Welt der Reinheit und Schönheit eröffnet haben, ohne die wir ärmer wären. Der größte von den >akademischen< Meistern war der Franzose Nicolas Poussin (1594-1665), dem Rom zur zweiten Heimat wurde. Poussin studierte die Meisterwerke der antiken Plastik, die er in den römischen Sammlungen sah, mit leidenschaftlicher Bewunderung. Ihre schönen Formen sollten ihm dazu verhelfen, seinen Traum von einem verflossenen Zeitalter des Adels und der Unschuld Gestalt zu geben. Abb. 254 zeigt eine Frucht dieser intensiven Studien. In einer sonnigen, südlichen Landschaft haben sich schöne junge Menschen um einen großen Grabstein versammelt. Einer der Hirten - denn dass es Hirten sind, erkennt man an den Stäben und Kränzen - ist niedergekniet, um die Inschrift auf dem Grab zu entziffern, ein zweiter zeigt sie der schönen Frauengestalt, die wie der dritte Gefahrte im Hintergrund in ruhiger Trauer dasteht. Die Inschrift ist lateinisch: ET IN ARCADIA EGO (Auch in Arkadien bin ich): >Ich, der Tod, herrsche auch über Arkadien, das friedliche Sehnsuchtsland der Schäferidyllen.< Nun verstehen wir auch, warum die beiden äußeren Gestalten, von Wehmut überkommen, schweigend den Kopf senken, und bewundern die Schönheit der zwei lesenden Gestalten noch mehr, deren Gebärden aufeinander abgestimmt sind. Die Anordnung wirkt denkbar einfach, aber es ist eine Einfachheit, die einer ungeheuren künstlerischen Erfahrung entspringt. Ohne seine >akademischen< Studien hätte Poussin niemals das entschwundene Land seiner Träume darstellen können, in dem selbst der Tod seinen Schrecken verloren hat. Gerade dieses Traumbild war es auch, das die Werke eines anderen Franzosen, der in Italien heimisch wurde, berühmt gemacht hat. Claude Gellee (1600-1682), ein jüngerer Zeitgenosse Poussins, wurde nach seiner lothringischen Heimat Lorrain genannt. Lorrain studierte die Landschaft der römischen Campagna, die Ebene und das Hügelland in der Umgebung von Rom, die Farben und
dem einst Jan van Eyck, R o g i e r v a n der W e y d e n u n d Pieter B r u e g e l gewirkt hatten. D i e n i e d e r l ä n d i s c h e n Maler hatten sich seit jeher in erster Linie für die b u n t e O b e r f l ä c h e der D i n g e interessiert. Sie hatten alle Register der Maltechnik g e z o g e n , um Stoffe, J uwe le n, Pelze u n d atmende Haut, kurz, die g e s a m t e sichtbare Welt so getreu w i e m ö g lich zu schildern. Ü b e r das Schönheitsideal, das d e n Italienern h e i l i g war, zerbrachen sie si ch n i c h t d e n Kopf, u n d selbst in der W a h l ihrer Themen w a r e n sie n iema ls heikel. In dieser Tradition w a r R u b e n s a u f gewachsen, u n d all seine B e w u n d e r u n g für die n e u e Kunst, die er in Italien kennen lernte, scheint seine künstlerische Ü b e r z e u g u n g n i c h t erschüttert zu haben, dass ein Maler vor allem m a l e n soll, dass es seine Aufgabe sei, die bunte Welt im Bilde festzuhalten u n d u n s seine eigene Freude an der Vielfalt u n d Schönheit des Lebens zu vermitteln. Diese Auffassung stand zu d e n Ideen Caravaggios u n d Carraccis n i c h t in Widerspruch. Rubens b e w u n d e r t e die Art, w i e Annibale Carracci und seine Schule die antiken Sagen u n d M y t h e n n e u belebten u n d eindrucksvolle Altargemälde zur Erbauung der Gl äu b ig en k o m p o n i e r ten; das hinderte i h n aber nicht, a u c h die k o m p r o m i s s l o s e Ehrlichkeit zu bewundern, m i t der Caravaggio die Natur beobachtete. Als Rubens im Jahre 1608 im Alter v o n einun ddreißi g Jahren nach A n t w e r p e n zurückkehrte, hatte er alles gelernt, w a s sich erlernen Heß; er hatte eine solche Leichtigkeit in der H a n d h a b u n g von Pinsel u n d Farbe, v o n Figuren u n d Draperien u n d im Entwerfen von monumentalen K o m p o s i t i o n e n e r w o r b e n , dass er n ö r d l i c h der Alpen keinen Rivalen besaß. Seine Vorgänger in Flandern hatten meist ziemlich kleine Bilder gemalt. Er hatte aus Italien den G e s c h m a c k für riesige Leinwandflächen mitgebracht, um Kirchen u n d Paläste zu schmücken, u n d gerade so etwas brauchten die Fürsten u n d kirchlichen Würdenträger dieser Zeit. Er hatte gelernt, w i e m a n ü b e r d i m e n sionale Gestalten über ganze W ä n d e verteilt u n d w i e Licht u n d Farbe dazu verwendet w e r d e n k ö n n e n , den Gesamteindruck n o c h zu e r h ö hen. Abb. 256 zeigt eine Skizze für d e n Hochaltar einer Kirche in Antwerpen, die uns beweist, w i e g r ü n d l i c h Rubens seine italienischen
Vorgänger studiert hat u n d w i e k ü h n er ihre Ideen weiterentwickelte. Es ist w i e d e r das altehrwürdige T h e m a der Maria mit Heiligen, m i t d e m sich d i e Künstler seit d e n Tagen des Wilton-Diptychons (Abb. 143), Bellinis >Madonna< (Abb. 208) oder Tizians >Madonna mit H e i l i g e n u n d Mitgliedern der Familie Pesaro< (Abb. 210) beschäftigt hatten. Vielleicht ist es der M ü h e wert, wieder einen Blick auf diese A b b i l d u n g e n zu w e r f e n , um daran die Freiheit u n d Leichtigkeit zu ermessen, m i t der Rubens an die alte Aufgabe herangeht. Eines sieht m a n auf d e n ersten Blick: Bei Rubens gibt es mehr Bewegung, mehr Licht, m e h r R a um u n d auch mehr Figuren als in irgendeinem früh e r e n Bild dieser Art. In bunten Scharen drängen sich die Heiligen um d e n h o h e n Thronsitz der Jungfrau. Im Vordergrund weisen der hl. Augustinus im Bischofsgewand, der hl. Lorenz mit d e m Rost, auf d e m er das Martyrium erlitt, u n d der hl. Dominik in der Mönchskutte d e n Beschauer auf den Gegenstand ihrer Verehrimg. Der hl. Georg mit d e m Drachen u n d der hl. Sebastian mit Köcher u n d Pfeilen blicken einander tief b e w e g t in die Augen, während ein Krieger mit der Märtyrerpalme hinter ihnen an den Stufen des Thrones kniet. Eine Gruppe v o n Frauen, unter ihnen eine Nonne, blickt verzückt auf die Hauptszene, wo ein junges Mädchen, v o n einem kleinen Engel begleitet, in d i e Knie sinkt, um einen Ring v o n d e m kleinen Jesusknaben zu empf a n g e n , der sich v o m Schoß seiner Mutter hinunterbeugt. Es ist die L e g e n d e v o n der Verlobung der hl. Katharina, die sich in einer Vision d e m Christkind angetraut sah. Der hl. Josef schaut freundlich v o n sein e m Platz hinter d e m Thron zu, u n d die Heiligen Petrus und Paulus der e i n e am Schlüssel, der andere am Schwert kenndich - stehen in tiefe Betrachtung versunken daneben. Sie bilden einen wirksamen Gegensatz zu der eindrucksvollen Gestalt Johannes des Täufers auf der anderen Seite, der allein, in Licht gebadet, dasteht und in ekstatischer Verzückung die A r m e emporwirft, während z w ei Englein sein widerstrebendes L a m m die Stufen des Thrones hinaufzerren. Aus dem H i m m e l herab stürzt sich ein zweites Paar Englein herunter, um einen Lorbeerkranz ü b e r das Haupt der Maria zu halten.
Haben w i r alle Einzelheiten betrachtet, so müssen w i r n o c h einmal das Ganze auf uns w i r k e n lassen u n d d e n g r o ß e n S c h w u n g bewundern, mit d e m Rubens all die vielen Gestalten zusammenhält und dem Gemälde eine St i mm u n g rauschender Fesdichkeit verleiht. Es ist nicht zu v e r w u n d e r n , dass ein Meister, der imstande war, ein so gewaltiges Werk mit unfehlbarer Sicherheit zu entwerfen, bald m e h r Aufträge hatte, als er bewältigen konnte. A b e r das machte i h m keine Sorgen. Rubens w a r ein Mann v on großer organisatorischer Begabung und äußerst g e w i n n e n d e n Manieren; viele talentierte Maler in Flandern waren stolz darauf, unter seiner Leitung arbeiten zu dürfen u n d dabei von i h m zu lernen. W en n w i e d e r ein Auftrag für ein Gemälde von einem Kirchenfürsten oder einem der Könige u n d Prinzen Europas eintraf, beschränkte sich Rubens oft darauf, eine kleine farbige Skizze zu malen. (Auch Ahk 256 ist so eine Ölskizze für eine g r o ß e Komposition.) Es w a r dann die Aufgabe seiner Schüler u n d Gehilfen, den Entwurf auf eine große Leinwand zu übertragen, u n d erst w e n n sie mit d e m Untermalen un d der Ausführung nach seiner Vorlage weit gediehen waren, n a h m er vielleicht selbst den Pinsel zur Hand, um hier über einen Kopf, dort über ein Seidenkleid zu g e h e n oder etwaige Härten zu beseitigen. Er vertraute darauf, dass ein paar Pinselstriche v o n seiner Hand alles beleben könnten, u n d er hatte Recht. Denn gerade darin liegt das größte Geheimnis v o n Rubens' Kunst — er besaß die Zauberkraft, allem Leben einzuhauchen, atmendes, w a r m e s Leben. Man kann diese Zauberkraft am besten an einigen schlichten Studien beurteilen u n d b e w u n d e r n ( A b b . 1), die er für sich z u m Vergnügen gemalt hat. A b b . 257 zeigt den Kopf eines kleinen Mädchens, wahrscheinlich einer seiner Töchter. Hier gab es keine Gelegenheit für kompositorische Kunstgriffe, keine Prunkgewänder oder Ströme von Licht, nichts als ein schlichtes Kinderbildnis en face. U n d d o c h scheint es so l e b e n s w a r m zu atmen u n d zu pulsieren. Im Vergleich damit wirken die Bildnisse früherer Jahrhunderte i r g e n d w i e kühl u n d leblos, so g r o ß sie auch als Kunstwerke sein m ö g e n . M a n w ü r d e vergeblich versuchen, herauszufinden, w i e Rubens im Einzelnen diesen
Eindruck f r o h e r Lebensfülle erzielt hat, aber g e w i s s spielen dabei die k ü h n e n u n d z u g l e i c h zarten Glanzlichter eine Rolle, m i t denen er d i e f e u c h t e n Lippen, die s c h w e l l e n d e n W a n g e n u n d das w e i c h e Haar m o d e l l i e r t hat. Für i h n w a r der Pinsel n o c h m e h r als vor i h m f ü r Tizian das w e s e n t l i c h e Handwerkszeug. Seine G e m ä l d e sind nicht m e h r sorgfaltig kolorierte Z e i c h n u n g e n , er erreicht alles m i t maleris c h e n Mitteln, u n d gerade das erhöht d e n Eindruck temperamentvoller Unmittelbarkeit. Seiner einzigartigen Begabimg, g r o ß e farbenprächtige Komp o s i t i o n e n zu e n t w e r f e n u n d sie m i t sprühender Energie zu erfüllen, v er da nk te R u b e n s einen R u h m u n d Erfolg, w i e sie vielleicht keinem M a l e r v o r i h m je zuteil w u r d e n . Seine Kunst w a r so w u n d e r b a r g e e i g n e t , d e n Prunk u n d die Pracht v o n Palästen zu erhöhen und die M a c h t h a b e r dieser Welt zu verherrlichen, dass er in den Kreisen, in d e n e n er sich b e w e g t e , eine Art v o n M o n o p o l genoss. Es w a r die Zeit, in der di e religiösen u n d sozialen Spannungen in Europa im Dreißigj ä h r i g e n Krieg u n d i m englischen Bürgerkrieg z u m Ausdruck kamen. A u f der einen Seite standen die absoluten Monarchen u n d ihre Höfe, m e i s t v o n der katholischen Kirche gestützt," auf der anderen die a u f s t r eb e n de n Handelsstädte mit ihrer größtenteils protestantischen Bevölkerung. Die Niederlande selbst w a r e n in z w e i Lager gespalten: das protestantische Holland, das sich g e g e n die spanisch-katholische H e r r s c h a f t e r h o b e n hatte, u n d das katholische Flaiidern, das von Antw e r p e n aus v o n spanischen Statthaltern regiert w u r d e . Rubens machte als M a l e r der katholischen Welt Karriere. Er bekam Aufträge v o n den Jesuiten in A n t w e r p e n u n d v o n den Regierungskreisen in Flandern, v o n K ö n i g L u d w i g XIII. in Frankreich u n d seiner herrschsüchtigen M u t t e r Maria v o n Medici, v o n König Philipp III. v o n Spanien und K ö n i g Karl L v o n England, der ihn in d e n Adelsstand erhob. Auf sein e n Reisen v o n H o f zu H o f als geehrter Gast w u r d e er oft mit heiklen p o l i t i s c h e n u n d diplomatischen Missionen beauftragt. Die wichtigste w a r e i n Versuch, eine Versöhnung z w i s c h e n England u n d Spanien z u s t a n d e zu b r i n g e n , u n d z w a r zur Bildung eines >reaktionären
dicken Frauen< kritisiert. Dieser Einwand hat natürlich sehr w e n i g m i t Kunst zu tun, u n d m a n braucht i h n nicht ganz ernst zu n e h m e n . A b e r da er so oft erhoben w i r d , sollte m a n sich d o c h k lar ma chen , dass seine Freude am üppigen u n d m a n c h m a l schon u n g e s t ü m e n Leben in all seinen Ä u ß e r u n g e n Rubens davor b e w a h r t hat, ein purer Virtuose zu w e r d e n . Sie w a r es, die seine Gemälde aus b l o ß e n Barockdekorationen festlicher Säle in bleibende Meisterwerke verwandelte, die selbst in der kalten Museumsluft ihre Glut nicht verlieren. Der unabhängigste und größte unter den vielen Schülern und Gehilfen des Peter Paul Rubens w a r Anthony van Dyck ( 1 5 9 9 - 1 6 4 1 ) , der zweiundzwanzig Jahre jünger war als sein Lehrer, also ein Altersgenosse des Poussin u n d Claude Lorrain. Er hatte bald die Virtuosität des Rubens in der Wiedergahe der Oberfläche der Dinge erworben, ob es n u n Seide war oder Haut, aber sein Temperament w a r durchaus verschieden. Van Dyck scheint kränklich gewesen zu sein, u n d eine gewisse m ü d e Wehmut lastet oft auf seinen Gestalten. Vielleicht w a r es gerade diese Eigenschaft, die ihn dem strengen genuesischen A d e l u n d den Kavalieren am Hofe Karl I. von England empfahl. Im Jahre 1632 ernannte ihn dieser z u m Hofmaler, u n d so lebt in seinen Bildern die U m g e b i m g dieses unglücklichen Königs, ähnlich w i e der H o f Heinrichs VIII. in den Werken Holbeins. Das Bildnis Karl I. (Abb. 2 6 1 ) , der soeben bei der Jagd v o m Pferde abgestiegen ist, zeigt d e n Vertreter des Hauses Stuart, w i e er gewünscht hätte, der Nachwelt zu erscheinen: eine Gestalt v o n makelloser Eleganz, selbstverständlicher Autorität u n d h oher Bildimg, der Schutzherr der Künste und
der Verfechter d e r M o n a r c h i e v o n Gottes Gnaden, ein König auch ohne Krone u n d Zepter. Es ist kein Wunder, dass ein Maler, der diese Eigenschaften in seinen Bildnissen so vollendet z u m Ausdruck bringen konnte, bald m i t Aufträgen überhäuft w u r d e . So w i e einst Rubens war auch er n i c h t imstande, sie alle eigenhändig auszuführen. Er hatte eine A n z a h l v o n G e h i l f e n u n d ließ sie die Staatsgewänder seiner Autraggeber m a l e n , d i e m a n a u f Kleider puppen g e z o g e n hatte. Er selbst malte n i c h t e i n m a l i m m e r den ganzen K o p f Einige v o n diesen Bildnissen k o m m e n d e n leeren M o d e p u p p e n späterer Zeiten bedenklich nahe. A b e r das k a n n der G r ö ß e seiner Porträts keinen A b b r u c h tun. M a n d a r f n i c h t vergessen, dass er es war, der die Gestalt des echten Aristokraten m i t seiner edlen Lässigkeit u n d seiner überzüchteten Vornehmheit (Abb. 262) erst in seinen Gemälden schuf und dadurch unser Bild des M e n s c h e n ebenso bereicherte w i e Rubens mit seinen robusten T y p e n v o n überströmender Vitalität. A u f einer seiner Reisen n a c h Spanien hatte Rubens einen jungen Maler k e n n e n gelernt, der ein Altersgenosse seines Schülers van Dyck w a r u n d am H o f e K ö n i g Philipps IV in Madrid eine ähnliche | Stellung e i n n a h m w i e v a n D y c k am H o f e Karl I. Es wa r der Maler D i e g o V e l a z q u e z ( 1 5 9 9 - 1 6 6 0 ) . O b w o h l i h n der W e g n o c h n i c h t nach Italien g e f ü h r t hatte, w a r er tief v o n den Entdeckungen u n d der Arbeitsweise des Caravaggio beeindruckt, die er aus den Werken v o n Nachahmern k e n n e n gelernt hatte. Er machte sich das Programm der >Naturalisten< zu e i g e n u n d begeisterte sich für die N a c h a h m u n g der ungeschminkten Natur. Abb. 265 zeigt eines seiner früheren Werke, einen alten Wasserverkaufer v o n Sevilla. Es ist ein Genrebild der Art, w i e es die Niederländer e r f u n d e n hatten, um ihre Geschicklichkeit zur Schau zu stellen; aber es ist m i t derselben Intensität u n d Eindringlichkeit gemalt w i e Caravaggios >Ungläubiger Thomas< (Abb. 252). Der alte M a n n m i t s e i n e m verwitterten Gesicht u n d seinem zerfetzten R o c k , der g r o ß e irdene K r u g m i t seinem r u n d e n Bauch, die Glasur des z w e i t e n Kruges u n d die Glanzlichter auf d e m durchsichtigen Trinkglas sind so ü b e r z e u g e n d w i e d e r g e g e b e n , dass man das
Gefühl hat, danach greifen zu können. Niemandem, der vor diesem Bild steht, wird es einfallen, zu fragen, ob die dargestellten Dinge schön oder hässlich sind oder ob der Vorgang wichtig oder trivial ist. Selbst die Farben sind nicht eigentlich schön. Graue, braune und grünliche Töne herrschen vor, und doch fügt sich das Ganze zu einer so reichen, satten Harmonie, dass niemand, der einmal davor stehengeblieben ist, das Bild wieder vergessen kann. Auf den Rat des Rubens' erbat Velazquez Urlaub, um nach Rom zu gehen und dort die Gemälde der berühmten Meister zu studieren. Er reiste im Jahre 1630 dorthin, kam aber bald zurück nach Madrid, wo er, abgesehen von einer zweiten Italienreise, als ein berühmtes und geachtetes Mitglied des Hofes Philipps IV blieb. Seine Hauptaufgabe war, die Bildnisse des Königs und seiner Familie zu malen. Obwohl nur wenige dieser Leute ein interessantes oder auch nur angenehmes Gesicht hatten, waren sie sehr auf ihre Würde bedacht und trugen steife, unkleidsame Hofbracht. An sich keine sehr einladende Aufgabe. Aber Velazquez verstand es, aus einem solchen Bild das hinreißendste Stück Malerei hervorzuzaubern, das die Welt je gesehen hat. Die Manier des Caravaggio war längst abgestreift. Er hatte die Malweise des Rubens 1 und des Tizian eingehend studiert, aber in der Art, wie er an die Natur herangeht, wirkt er ganz unmittelbar. Abb. 264 zeigt sein Porträt des Papstes Innozenz XL, gemalt in Rom 1649-165-0, rund hundert Jahre nach Tizians Paul HL {Abb. 214V Es erinnert uns daran, dass in der Geschichte der Kirnst der Wandel der Zeiten nicht immer zwingend zu einer Änderung der Auflassung führen muss. Velazquez hat bestimmt die Herausforderung jenes Meisterwerkes verspürt, genauso wie Tizian seinerzeit auch durch Raffaels Gruppe (Abb. 206) angeregt worden war. Wie viel ihm auch die Meisterhaftigkeit Tizians bedeutet haben mag, die .Art, wie Velazquez mit seinem Pinselstrich den Glanz und Schimmer des Materials wiedergibt, ebenso die Sicherheit, mit welcher er den Ausdruck des Papstes gestaltet, offenbaren einen ausgereiften Maler und seine eigene Darstellungsweise. Niemand, der Rom besucht, sollte sich
die Gelegenheit entgehen lassen, dieses einzigartige Meisterwerk im Palazzo Doria Pamphilii zu b e w u n d e r n . Mit ein paar Pinselstrichen kann er uns jede b e h e b i g e F o r m oder Oberfläche vor Augen stellen. Die reifsten Werke seiner Hand beruhen in einem solchen M a ß auf der W i r k u n g dieser Pinselstriche u n d der feinfühlig abgewogenen Farbenharmonie, dass uns eine Abbildung nur eine schwache Vorstellung davon g e b e n kann, w i e das Original wirklich aussieht. Dies gilt vor allem f ü r sein gewaltiges (über drei Meter hohes) Gemälde, das unter d e m N a m e n Las Meninas (die Hofdamen) bekannt ist (Abb. 266). W i r sehen Veläzquez selbst bei der Arbeit an einem sehr großen Gemälde, u n d w e n n w i r genauer hinsehen, erspähen w i r auch, w a s er malt. Der Spiegel an der Rückwand zeigt den König u n d die Königin (Abb. 265), die porträtiert werden. W i r sehen also, was sie sehen — v i e l e Menschen, die ins Atelier g e k o m m e n sind. Eine davon ist ihr Töchterchen, die Infanta Margarita, u m g e b e n von z w ei Hofdamen, eine reicht ihr eine Erfrischung, während die zweite vor d e m Königspaar knickst. W i r kennen ihre Namen, und w i r wissen auch über die z w e i Z w e r g e Bescheid (die hässliche Frau und den Jungen, der den H u n d neckt), die m a n sich bei H o f e zur Belustigung hielt. Die ernsten Erwachsenen im Hintergrund scheinen sicherzustellen, dass sich die Besucher angemessen benehmen. Was bedeutet das Bild? W i r werden es möglicherweise niemals erfahren, aber i c h stelle mir gern vor, dass Veläzquez lange vor Erfindung der Fotografie eine echte Momentaufnahme gelungen ist. Vielleicht w u r d e die Prinzessin ins Atelier gerufen, um die Eintönigkeit der Sitzung zu beleben, u n d der König oder die Königin sagten zu Veläzquez, dies sei ein lohnendes Motiv für seinen Pinsel. Die Worte eines Herrschers gelten i m m e r als Befehl, u n d so verdanken wir dieses Meisterwerk möglicherweise einem beiläufig geäußerten Wunsch, den nur Veläzquez erfüllen konnte. Aber natürlich verließ Veläzquez sich üblicherweise nicht auf derartige Ereignisse, um seine Abbilder der Realität zu großen Kunstwerken zu machen. Sein Bildnis des zweijährigen Prinzen
Philipp Prosper v o n Spanien (Abb. 267) hat n i c h t s Unkonventionelles, jedenfalls nichts, w a s u n s a u f d e n ersten Blick auffiele. I m Original v e r s c h m e l z e n die verschiedensten Schattierungen v o n R o t ( v q n der d u n k l e n Farbe des Perserteppichs zu der des Samtstuhls, des Vorhangs, der Ä r m e l u n d der r u n d e n W a n g e des K i n d e s ) m i t d e n kühlen, silbrigen T ö n e n v o n Grau u n d W e i ß i m H i n t e r g r u n d z u e i n e m einzigartigen Akkord. Selbst ein u n a u f d r i n g l i c h e s M o t i v w i e das H ü n d c h e n a u f d e m roten Sessel ist ein w a h r e s W u n d e r a n Malerei. W e n n w i r uns an d e n kleinen H u n d a u f Jan van Eycks Bildnis der A r n o l f i n i s (Abb. 160) erinnern, so sehen w i r wieder, w i e v e r s c h i e d e n d i e Mittel sind, m i t denen so g r o ß e Künsder ihre W i r k u n g e n erzielen können. Van Eyck m a c h t e sich die M ü h e , jedes einzelne Haar a b z u m a l e n , Veläzquez, zw ei hu nd er t Jahre später, w o l l t e nur d e n Gesamteindruck einfangen. So w i e einst Leonardo, aber in n o c h h ö h e r e m Grade, verließ er sich darauf, dass w i r in der Fantasie e r g ä n z e n w ü r d e n , w a s er ausgelassen hatte. O b w o h l er kein Haar einzeln g e m a l t hat, schaut sein kleiner H u n d w o l l i g e r u n d natürlicher aus als der v a n Eycks. Es w a r um dieser Mittel willen, dass die B e g r ü n d e r des Impressionismus im Paris des neunzehnten Jahrhunderts Veläzquez h ö h e r stellten als alle anderen Maler der Vergangenheit. Die Natur mit stets n e u e n A u g e n z u sehen u n d i m m e r n e u e Z u s a m m e n s t e l l u n g e n v o n Licht u n d Farbe z u e n t d e c k e n u n d z u g e n i e ß e n w a r i m siebzehnten Jahrhundert zur w e s e n t l i c h e n A ufgab e d e s Malers g e w o r d e n . In diesem n e u e n Streben w a r e n d i e g r o ß e n Meister des katholischen Europa eines Herzens m i t d e n Malern jenseits d e r pohtischenTrennimgslinie, m i t d e n g r o ß e n K ü n s d e r n der protestantische n Niederlande.
Spiegel der Natur Holland im 17. Jahrhundert
Der Zerfall Europas in ein katholisches und ein protestantisches Lager wirkte sich selbst auf die Kunst kleiner Gebiete wie die der Niederlande aus. Die südlichen Niederlande, die wir heute Belgien nennen, waren katholisch gebheben, und wir erinnern uns, wie Rubens in Antwerpen zahllose Aufträge von Königen, Prinzen und Kirchenfürsten erhielt, riesige Gemälde zur Verherrlichung ihrer Macht zu hefern. Die nördlichen Provinzen der Niederlande hatten sich jedoch gegen die katholische Oberherrschaft der Spanier erhoben, und die meisten Einwohner ihrer blühenden Handelsstädte waren Protestanten. Der Geschmack dieser protestantischen holländischen Kaufleute war denkbar verschieden von dem, der jenseits der Trennungslinie herrschte. Es waren fromme, fleißige, sparsame Männer, die für den Prunk des Südens nicht viel übrig hatten. Obwohl sich diese puritanische Strenge mit dem wachsenden Reichtum und der steigenden Macht ihres Staates etwas milderte, haben die holländischen Bürger des siebzehnten Jahrhunderts doch nie den eigentlichen Barockstil übernommen, der damals im katholischen Europa herrschend war. Selbst in der Baukunst blieben sie verhalten und etwas nüchtern. Als die Bürger von Amsterdam beschlossen, zur Besiegelung der Unabhängigkeit Hollands ein großes Rathaus zu errichten, wählten sie einen Entwurf, der bei aller Großzügigkeit einfach im Umriss und zurückhaltend in der Dekoration ist (Abb. 268). Auf die Malerei hatte, wie wir wissen, der Sieg des Protestantismus eine noch nachhaltigere Wirkung (S. 283). Wir erinnern uns daran, dass er zu einer Katastrophe führte, von der sich die Künste in Deutschland und England jahrhundertelang nicht erholten. Nur in den Niederlanden war die Handwerksüberlieferung so, lebendig, dass die Maler sich auf bestimmte Gattungen ihrer Kunst verlegen konnten, gegen die vom religiösen Standpunkt aus nichts j einzuwenden war. Die wichtigste dieser Bildgattungen, die auch in einer protestantischen Umgebung weiter bestehen konnte, war die Porträtmalerei. Viele erfolgreiche Kaufherren wollten ihren Nachkommen ihr Bildnis
hinterlassen, viele ehrbare Bürger, die z u m Ratsherrn oder Bürgermeister g e w ä h l t w o r d e n w a r e n , w ü n s c h t e n m i t d e m A b z e i c h e n ihrer W ü r d e v e r e w i g t z u w e r d e n . A u c h g a b e s viele Ausschüsse u n d Vereine, d ie im Leben der holländischen Städte eine g r o ß e Rolle spielten u n d die glüc kli cher weise die G e w o h n h e i t hatten, Gruppenporträts für die Sitzungssäle u n d Versammlungsräume ihrer l ö b l i c h e n Kompanien m a l e n zu lassen. Ein Künstler, dessen Art d e m P u b l i k u m zusagte, k o n n t e daher mit e i n e m z i e m l i c h r e g e l m ä ß i g e n E i n k o m m e n rechnen. Freilich w a r er ruiniert, w e n n er aus der M o d e kam. Der erste g r o ße Meister des u n a b h ä n g i g e n Holland, Frans Hals (1580?-1666), musste so eine prekäre Existenz führen. Hals war ungefähr Altersgenosse v o n Rubens. Seine Eltern w a r e n aus Glaubensg r ü n d e n aus den südlichen Niederlanden ausgewandert u n d hatten sich in der wohlhabenden Handelsstadt Haarlem niedergelassen. Uber sein Leben wissen w i r nur wenig, außer dass er seinem Bäcker und seinem Schuster oft Geld schuldig blieb u n d m a n ihn d a r u m oft vor Gericht zitierte. Er w u r d e mehr als achtzig Jahre alt, u n d g e g e n Ende seines Lebens bewilligte i h m das städtische Armenhaus, dessen Vorstand er malte, eine ärmliche Pfründe. Das Bildnis v o n Abb. 269, das zu Beginn seiner Laufbahn entstand, zeigt, mit welcher Brillanz und Eigenständigkeit er solche Aufgaben anging. Die Bürger der selbstbewussten unabhängigen Städte der Niederlande mussten in Bürgergarden dienen, meist unter d e m K o m m a n d o der wohlhabenderen Einwohner. In der Stadt Haarlem w a r es Sitte, die Offiziere dieser Gilden nach absolvierter Dienstzeit mit einem ü p p i g e n Bankett zu ehren, u n d es w u r d e auch Tradition, dieses frohe Ereignis in ei n em großen Gemälde festzuhalten. Es w a r für einen Maler keine leichte Aufgabe, die Porträts so vieler Männer auf eine einzige Leinwand zu bringen, o h n e das Ergebnis steif oder gestellt wirken zu lassen - ein Eindruck, d e n frühere Bilder dieser Art unweigerlich vermittelten. Hals verstand es von Anfang an, die Stimmung dieses ausgelassenen Festes einzufangen und Leben in eine solch zeremonielle Gruppe zu bringen, ohne dabei den eigentlichen Sinn zu
vernachlässigen, jeden der zwölf anwesenden Männer so lebensnah darzustellen, dass wir sie persönlich zu kennen glauben: vom beleibten Hauptmann, der am Tischende präsidiert und sein Glas erhebt, bis zum jungen Fähnrich am entgegengesetzten Tischende, dem kein Sitzplatz zugewiesen wurde, der aber stolz aus dem Bild herausschaut, als hoffe er, dass wir seine prächtige Uniform bewundern. Unsere Bewunderung für Hals' Können mag sogar noch wachsen, wenn wir uns eines der vielen Einzelporträts ansehen, die ihm und seiner Familie so wenig Geld einbrachten (Abb. 270). Verglichen mit älteren Werken der Bildniskunst wirkt es beinahe wie eine Momentaufnahme. Man glaubt diesen Pieter van den Broecke, den er nach der Rückkehr von einer seiner abenteuerlichen Handelsreisen malte, geradezu zu kennen. Erinnern wir uns an Holbeins Bildnis von Sir Richard Southwell (Abb. 242), das kaum ein Jahrhundert früher entstanden ist, oder selbst an die Bildnisse, die Rubens, van Dyck oder Veläzquez zu dieser Zeit im katholischen Europa malten. Bei aller Lebendigkeit und Naturwahrheit dieser Porträts fühlt man doch immer, dass der Maler die Pose seines Modells sorgfaltig arrangiert hat, um uns die Vorstellung einer würdevollen, aristokratischen Persönlichkeit zu geben. Die Porträts von Frans Hals dagegen wirken, als hätte der Maler sein Modell in einem charakteristischen Augenblick >erwischt< und für immer auf der Leinwand festgehalten. Wie kühn und unkonventionell müssen diese Bilder damals gewirkt haben! Schon die Art, wie Frans Hals den Pinsel führte, erweckt den Eindruck, dass es ihm darum zu tun war, einen kostbaren Moment zu erhaschen. Früheren Bildnissen merkt man es an, dass sie mit Fleiß und Geduld gemalt sind; man kann sich denken, dass der Porträtierte in vielen Sitzungen hat stillhalten müssen, während der Maler gewissenhaft eine Einzelheit nach der anderen abmalte. Hals hat scheinbar nie Müdigkeit oder Langeweile aufkommen lassen. Man glaubt ihn vor sich zu sehen, wie er schnell und gewandt seinen Pinsel fuhrt und damit hier das zerraufte Haar, dort einen zerdrückten Ärmel mit ein paar hellen und dunklen Strichen auf die Leinwand
zaubert. Natürlich könnte dieser Eindruck des unmittelbaren
Erfassens
eines glücklichen Augenblicks nie ohne sorgfältige Vorbereitung und Überlegung zustande kommen. Obwohl die Gestalt eine ganz zufällige Pose einzunehmen scheint, ist die Komposition doch ausgewogen. So wie die anderen großen Meister der Barockzeit verstand es Hals, auch ohne starre Symmetrie harmonische Wirkung zu erzielen. Die Maler des protestantischen Holland, die kerne Neigung oder kein Talent für die Portätmalerei hatten, mussten darauf verzichten, von Aufträgen zu leben. Im Gegensatz zu den Meistern des Mittelalters und der Renaissance mussten sie ihre Bilder zuerst malen und dann eben versuchen, sie an den Mann zu bringen. Heutzutage sind wir so daran gewöhnt, wir finden es so selbstverständlich, dass ein Künsder in seinem Atelier sitzt, drauflosmalt und überall Bilder herumstehen hat, die er für sein Leben gerne verkaufen würde, dass wir uns kaum vorstellen können, wie tiefgreifend dieser Umschwung damals war. In einer Hinsicht mögen die Künsder vielleicht froh gewesen sein, nichts mehr mit Auftraggebern zu tun zu haben, die ihnen Vorschriften machten un^ sie oft von oben herab behandelten. Aber diese Freiheit war teuer erkauft. Denn statt mit einem einzigen Auftraggeber hatte es der Künstler jetzt mit einem noch launenhafteren Brotherrn zu tun — mit dem Bilder kaufenden Publikum. Er musste entweder selbst auf den Marktplatz oder zu Messen gehen, um dort seine Ware loszuwerden, oder er musste sich auf Bilderhändler verlassen, die ihm diese Mühe abnahmen, die aber natürlich selbst so billig wie möglich kaufen wollten, um die Bilder dann mit Nutzen weiterzuverkaufen. Dabei war die Konkurrenz sehr scharf; es gab in jeder holländischen Stadt eine Menge Künstler, die ihre Bilder in den Verkaufsbuden anbaten, und die einzige Chance für einen kleineren Künstler, sich einen Namen zu machen, bestand in der Spezialisierung auf ein bestimmtes Gebiet. Denn damals wie heute ging das Publikum nach einer bestimmten Marke. Wenn ein Maler einmal für seine Schlachtenszenen bekannt geworden war, konnte er Schlachtenszenen am ehesten verkaufen. Wenn er mit Landschaften
im Mondlicht Erfolg gehabt hatte, so w a r es das Sicherste, dabei zu bleiben. So k a m es, dass der Z u g zur Spezialisierung, der in den nördlichen Ländern im s e c h z e h n t e n Jahrhundert b e g o n n e n hatte (S. 286/287), im siebzehnten Jahrhundert n o c h w e i t stärker in Erscheinung trat. Es gab kleine Meister, die sich d a m i t z u f r i e d e n gaben, i m m e r w i e d e r dasselbe Bild zu m a c h e n . Freilich e n t w i c k e l t e n sie dabei eine solche Fertigkeit in i h r e m Spezialfach, dass w i r i h n e n unsere B e w u n d e r i m g n i c h t versagen k ö n n e n . Die Fischmaler verstanden es, den silbrigen Glanz nasser S c h u p p e n 'mit solcher Virtuosität darzustellen, dass sie darin w i r k l i c h m a n c h e g r ö ß e r e n u n d vielseitigeren Meister übertrafen; die Marinemaler erreichten nicht n u r eine große Kunstfertigkeit in der Darstellung v o n s t ü r m i s c h e m H i m m e l und bewegter See, sondern w a r e n a u c h so g r ü n d l i c h vertraut m i t der Konstruktionsart u n d Takelung v o n Segelschiffen, dass ihre Bilder heute n o c h als wertvolle U r k u n d e n für die Geschichte der Seefahrt betrachtet werden. Abb. 271 zeigt ein Bild v o n e i n e m der ersten Spezialisten in Seestücken, S im on de Vlieger (1601—1653). Mit anspruchsloser Schlichtheit verstanden es die holländischen Künsder, das M e e r in allen seinen Stimmungen darzustellen. A u c h die Schönheit des bewölkten H i m m e l s w u r d e damals fü r die Kunst entdeckt. Diese Maler konnten o h n e dramatische Effekte a u s k o m m e n ; sie malten einfach ein Stück Welt, w i e sie es sahen, u n d entdeckten dabei, dass sich daraus genauso gut ein Bild m a c h e n ließ w i e aus einer Episode der Heldensage oder einer Anekdote. Einer der ersten Bahnbrecher dieser Art w a r Jan va n G o y e n (1596-165-6) aus D e n Haag, ungefähr ein Altersgenosse des Landschaftsmalers Claude Lorrain. Es lohnt die M ü h e , eine der b e r ü h m testen Landschaften Claude Lorrains, sein Traumland unvergänglicher Schönheit (Abb. 255), mit d e m einfachen u n d ungekünstelten Bild Jan van Goyens (Abb. 272) zu vergleichen. Die Verschiedenheiten b e d ü r f e n kaum besonderer Erwähnung: statt lockender Haine die flache, kahle Landschaft seiner Heimat. A b e r v an G o y e n entdeckt in dieser langweiligen Gegend eine Stimmung w u n d e r b a r e n Friedens. Er verklärt
das vertraute Bald und fuhrt unseren Blick in den Dunst der Ferne, sodass wir mit ihm auf der Anhöhe zu stehen und ins abendliche Land zu schauen meinen. Wir erinnern uns, dass die Traumlandschaften des Claude Lorram seine englischen Bewunderer so in ihren Bann schlugen, dass sie ihre heimatliche Landschaft nach diesem Ideal umzugestalten versuchten. Eine Landschaft oder einen Park, die ste an Lorram denken ließen, nannten sie >malerischwenn es seinen Z w e c k erfüllu, u n d so blieb die linke H a n d m i t d e m H a n d s c h u h skizzenhaft. A b e r das m a c h t die Figur nur n o c h lebendiger. A n d e r e Bildnisse großer Meister m ö g e n l e b e n d i g w i r k e n , sie m ö g e n sogar die Persönlichkeit des Dargestellten d u r c h eine charakteristische W e n d u n g enthüllen. M a n c h m a l erinnern sie aber an F i g u r e n aus e i n e m R o m a n oder Gestalten aus e i n e m Theaterstück. Sie sind eindrucksvoll u n d ü b e r z e u g e n d , u n d d o c h e m p f i n d e n wir, dass sie nur eine Seite des Porträtierten darstellen. N i c h t einmal Mona l i s a k a n n i m m e r gelächelt haben. Betrachten w i r j e d o c h Rembrandts g r o ß e Porträts, stehen w i r Menschen in aller Unmittelbarkeit gegenüber, so w i e sie das Schicksal gezeichnet hat. Sein ruhiges Malerauge blickt geradewegs in die Tiefen der menschlichen Seele. Ich w e i ß , dass das sentimental klingt, aber i c h kenne keinen anderen Ausdruck, u m Rembrandts geradezu unheimliches Wissen u m menschliches Empfinden u n d Verhalten z u kennzeichnen. W i e Shakespeare scheint auch er die Fähigkeit gehabt zu haben, sich in jeden Charakter einzufühlen u n d genau zu wissen, w i e er sich in einer bestimmten Situation verhalten würde. Dank dieser Gabe sind Rembrandts Illustrationen zur biblischen Geschichte so grundverschieden v o n allem, was vorangegangen war. Als f r o m m e r Protestant m u s s er die Bibel i m m e r w i e d e r gelesen haben. Er versenkte sich in d e n Geist dieser Geschichten u n d versuchte, sich genau auszumalen, w i e sie sich abgespielt haben m oc hte n u n d w i e sich Menschen in einer solchen Situation b e we ge n und b e n e h m e n w ü r d e n . .Abb. 2 1 | zeigt e i n e Handzeichnung, in der Rembrandt das Gleichnis v o m G r o ß e n Schuldner (Matthäus 18,21—35) darstellt. Eine solche Zeichn u n g bedarf keiner langen Erklärung, denn m a n sieht, was sich da
abspielt. Wir sehen den Herrn am Tage der Abrechnung, während sein Verwalter die Schulden der Knechte in einem dicken Kontobuch nachschlägt. Man sieht an der Art, wie der Knecht mit gesenktem Kopf dasteht und mit der Hand tief in seiner Tasche herumsucht, dass er nicht zahlen kann. Ein paar Federstriche genügen, um die drei Figuren in diesem Drama darzustellen und aus der häuslichen Szene wirklich ein Gleichnis vom Jüngsten Gericht zu machen. Rembrandt b e d a r f keiner lauten Gebärden, um den innern Sinn eines G e s c h e h n i s s e s a u s z u d r ü c k e n . Er ist n i e theatralisch. Abb. 276 z e i g t s e i n e D a r s t e l l u n g e i n e r a n d e r e n b i b l i s c h e n Szene, d i e kaum j e z u v o r i l l u s t r i e r t w o r d e n w a r : d i e V e r s ö h n i m g z w i s c h e n K ö n i g David u n d s e i n e m u n g e r a t e n e n S o h n A b s a l o m . W e n n R e m b r a n d t i m Alten Testament las u n d d i e K ö n i g e u n d Patriarchen des H e i l i g e n Landes vor s e i n e m g e i s t i g e n A u g e v o r ü b e r z i e h e n l i e ß , d a c h t e e r a n d i e Orientalen, d i e e r i m H a f e n v i e r t e l v o n A m s t e r d a m z u s e h e n g e w o h n t war. D a r u m k l e i d e t e e r D a v i d i n das G e w a n d eines Inders o d e r Türken mit e i n e m g r o ß e n T u r b a n u n d g a b A b s a l o m e i n e n k r u m m e n Türkensäbel. Sein A u g e f r e u t e s i c h a n d e r Pracht dieser K o s t ü m e , d i e i h m Gelegenheit g a b e n , das Spiel d e s Lichtes a u f kostbaren G e w e b e n u n d das Funkeln v o n G o l d u n d G e s c h m e i d e z u m a l e n . M a n sieht, dass Rembrandts M e i s t e r s c h a f t i n der W i e d e r g a b e dieser Effekte e b e n s o groß w a r w i e d i e d e s R u b e n s u n d des Veläzquez. D abei v e r w e n d e te Rembrandt w e n i g e r l e b h a f t e Farben als diese b e i d e n . Der erste Eindruck v o n v i e l e n R e m b r a n d t b i l d e r n ist o f t ein dunkles, samtiges Braun. A b e r g e r a d e dieser d u n k l e G e s a m t t o n verleiht d e n w e n i g e n lichten, a u s g e s p r o c h e n e n Farben u m s o m e h r Kraft u n d Glanz. S o kommt es, dass b e i m a n c h e n seiner Bilder das Licht g e r a d e z u die Augen blendet. D a b e i hat sich R e m b r a n d t der M a g i e v o n Licht u n d Schatten n i e u m ihrer selbst w i l l e n b e d i e n t , s o n d e r n i m m e r nur, u m den Gehalt des Dargestellten zu unterstreichen. Was k ön n t e erschütternder sein als d i e H a l t u n g des j u n g e n Prinzen in seiner stolzen Pracht, der sein G e s i c h t an der Brust seines Vaters birgt, oder König David selbst, w i e er d i e U n t e r w e r f u n g seines Sohnes gefasst u n d
traurig entgegennimmt? Wir sehen Absaloms Gesicht nicht, und doch ahnen wir, was er empfindet. So wie vor ihm Dürer war Rembrandt nicht nur ein großer Meister, sondern auch ein großer Graphiker. Die Technik, derer er sich bediente, war nicht mehr die des Holzschnittes oder die des Kupferstichs (S. 210/211), sondern ein Verfahren, das ihm erlaubte, schneller und müheloser zu arbeiten als mit dem Grabstichel: es ist die Technik der Radierung. Im Prinzip ist sie ganz einfach. Statt die Oberfläche der Kupferplatte mühselig mit dem Stichel zu ritzen, überzieht der Künstler die Platte mit Wachs und zeichnet darauf mit einer Nadel. Diese Nadel macht natürlich Striche in das Wachs, unter denen das Kupfer hervorschaut. Er braucht dann nur seine Platte in ätzende Säure zu tauchen, die sich in das bloßgelegte Kupfer hineinfrisst. Die Platte kann dann in derselben Art abgezogen werden wie ein Kupferstich. Um eine Radierung von einem Kupferstich zu unterscheiden, muss man auf den Charakter der Striche achten. Es besteht ein ganz deutlicher Unterschied zwischen der mühseligen und langsamen Arbeit des Grabstichels und der lockeren Bewegungsfreiheit der Radiernadel. Abb. 277 zeigt eine Reihe von Rembrandts Radierungen wieder eine biblische Darstellung. Christus predigt, und die Mühsehgen und Beladenen haben sich um ihn versammelt, um ihn zu hören. Dieses Mal hat Rembrandt seine Modelle in seiner Heimat gefunden. Er lebte viele Jahre am Rande des Amsterdamer Judenviertels und studierte dort das Aussehen und die Tracht der Juden, um sie in seine Darstellung der biblischen Geschichte einführen zu können. Da stehen und sitzen sie nun, dicht gedrängt, einige verzückt zuhörend, andere über Jesu Worte nachsinnend, manche, wie der dicke Mann im Hintergrund, vielleicht entrüstet über Christi Ausfalle gegen die Pharisäer. Wer die schönen Gestalten der italienischen Kunst gewohnt ist, dem wird manchmal die erste Begegnung mit Rembrandt einen Schock bedeuten. Er scheint sich so gar nichts aus Schönheit zu machen und nicht einmal vor ausgesprochener Hässlichkeit zurückzuschrecken. Daran ist etwas Wahres. Wie andere Künsder seiner Zeit
hatte sich Rembrandt di e A n s c h a u u n g e n des Caravaggio, die er durch hollandische N a c h a h m e r k e n n e n gelernt hatte, zu ei g en gemacht. Wahrheit u n d Natürlichkeit w a r e n i h m w i c h t i g e r als Schönheit u n d Harmonie. Christus hatte f ü r die A r m e n , die Erniedrigten u n d Beleidigten gepredigt, u n d A r m u t , H u n g e r u n d Tränen sind mm einmal nicht schön. Natürlich k o m m t es a u c h sehr darauf an, was m a n unter Schönheit versteht. Ein K i n d w i r d o f t das freundliche, runzlige Gesicht seiner G r o ß m u t t e r schöner finden als die regelmäßigen Z ü g e eines Filmstars, u n d w a r u m auch nicht? Wenn m a n will, kann m a n sagen, dass der ausgemergelte Greis ganz rechts in der Radierung, der mit der Hand v o r d e m Gesicht am Boden hockt u n d ganz selbstvergessen zu Christus hinbückt, eine der schönsten Gestalten ist, die je erfunden w u r d e n . Rembrandts ganz unkonventionelle Art, an eine Szene heranzugehen, lasst uns m a n c h m a l vergessen, m i t w i e viel künstlerischer Erfahrung u n d m i t w e l c h e m Geschick er seine Gruppen anordnet. Nichts könnte sorgfaltiger ausgewogen sein als die Menge, die einen Kreis um Jesus bildet u n d sich dabei d o c h in respektvoller Entfernung hält. Diese Meisterschaft, eine M e n g e Menschen auf scheinbar zufallige und d o c h v o l l k o m m e n gegeneinander abgestimmte Gruppen zu verteilen, zeigt Rembrandt in h o h e m Maße als einen Schüler der Italiener, die er keineswegs missachtete. Man darf sich diesen hervorragenden Meister durchaus nicht als einen einsamen Revolutionär vorstellen, dessen G r ö ß e v o n d e m zeitgenössischen Europa verkannt wurde. Es ist richtig, dass er als Porträtmaler weniger gesucht wurde, als seine Kunst an Tiefe z u n a h m und er sich offenbar weigerte, dem Publikumsgeschmack Konzessionen zu machen. Aber was immer auch die Ursache f ü r die Tragödie seines Lebens und für seinen Bankrott gewesen sein mag, sein R u h m als Künstler stand jedenfalls weiter sehr hoch. Die eigentliche Tragik, damals w i e häufig auch heute, lag darin, dass m a n v o m R u h m allein nicht leben kann. Die Gestalt Rembrandts ist v o n so überragender Bedeutung für alle Gebiete der hollandischen Malerei, dass kein anderer
Künstler des Jahrhunderts d e n V e r g l e i c h m i t i h m aushält. Das besagt aber n i c h t , dass e s n i c h t d o c h v i e le Meister i n d e n protestantischen N i e d e r l a n d e n g e g e b e n hätte, d i e v e r d i e n e n , studiert u n d geliebt z u w e r d e n . V i e l e v o n i h n e f o l g t e n d e n Ü b e r l i e f e r u n g e n der nördlichen M a l e r e i u n d m a l t e n das Volksleben in heiteren, anspruchslosen Bild e r n . W i r w i s s e n , dass diese Ü b e r l i e f e r u n g bis z u d e n mittelalterlic h e n B u c h m a l e r e i e n z u r ü c k r e i c h t (Abb. 140 und Abb. 177), u n d dass sie d a n n v o n B r u e g e l (Abb. 246) a u f g e g r i f f e n w u r d e , der sein maleris c h e s G e s c h i c k u n d seine M e n s c h e n k e n n t n i s i n h u m o r v o l l e n Szenen aus d e m B a u e r n l e b e n b e w i e s . Der Maler, der diese Schilderungen im s i e b z e h n t e n Jahrhundert vollendet beherrschte, w a r Jan Steen (1626—1679), & & S c h w i e g e r s o h n v o n Jan van Goyen. W i e m a n c h er M a l e r seiner Zeit k o n n t e sich Jan Steen m i t d e m Pinsel allein nicht e r n ä h r e n u n d f ü h r t e n e b e n b e i ein Wirtshaus. M a n kann sich sogar vorstellen, dass i h m das Vergnügen m achte, d e n n es gab i h m Geleg e n h e i t , d i e f r ö h l i c h e n Trinker in der Wirtsstube zu b e o b a c h t e n und s i c h e i n e n Vorrat an k o m i s c h e n Typen anzulegen. Abb. 278 zeigt eine f r ö h l i c h e Szene aus d e m Völksleben - eine Kindtaufe. W i r blicken in e i n bürgerliches G e m a c h m i t e i n e m Alkoven f ü r das Bett, in d e m die Mutter hegt. Freunde u n d Verwandte drängen sich um den Vater, der d e n Säugling im A r m hält. Es lohnt sich, die .verschiedenen Typen gut a n z u s e h e n , aber w e n n w i r damit fertig sind, sollten w i r nicht versäum e n , di e Kunst zu b e w u n d e r n , m i t der all diese heiteren Episoden zu e i n e m einheitlichen Bild z u s a m m e n g e f ü g t sind. D i e Frauengestalt im Vordergrund, die ins Bild hineinblickt, ist ein wunder bares Stück Malerei, das bei aller Buntheit so w a r m u n d h a r m o n i s c h ist, dass man es n i c h t so leicht vergisst, w e n n m a n das Original gesehen hat. M a n verbindet d e n B e g r i f f der h ollän dischen Kunst des s i e b z e h n t e n Jahrhunderts o f t m i t der Vorstellung dieses fröhlic h e n Wirtshaustreibens. A b e r es gab z u r selben Zeit in Holland a u c h Künstler, d ie e i n e g a n z andere S t i m m u n g verkörperten, eine S t i m m u n g , d i e d e m Geiste Rembrandts viel näher steht. Das beste B e i s p i e l ist e i n anderer >SpezialistSpiegel d e r Natur< ü b e r s c h r i e b e n habe, w o l l t e i c h d a m i t j a n i c h t n u r sagen, dass d i e h o l l ä n d i s c h e n Maler gelernt h a t t e n , d i e N a t u r s o g e t r e u n a c h z u b i l d e n , w i e e s e i n Spiegel tut. S i n d d o c h w e d e r d i e Kunst n o c h d i e N a t u r j e s o glatt u n d kalt w i e Glas. D i e Natur, d i e s i c h i n der Kunst w i d e r s p i e g e l t , spiegelt gleichzeitig a u c h d e n Geist des K ü n s d e r s m i t , w a s e r liebt, w o r a n seine A u g e n s i c h f r e u e n , w i e e r g e s t i m m t ist. G e r a d e das m a c h t d e n a m h ö c h s t e n >spezialisierten< Z w e i g d e r h o l l ä n d i s c h e n Malerei s o interessant, das Stillleben. D i e h o l l ä n d i s c h e n Stillleben stellen m e i s tens s c h ö n e G e f ä ß e , K r ü g e u n d W e i n g l ä s e r o d e r kostbare Porzellanschüsseln m i t v e r l o c k e n d e n F r ü c h t e n u n d a n d e r e n Leckerbissen dar. Solche Bilder pa ssten g u t i n e i n S p e i s e z i m m e r u n d f a n d e n d a r u m leicht e i n e n Kaufer. A b e r sie s i n d m e h r als b l o ß e K ü n d e r v o n Tafelf r e u d e n . I n s o l c h e n Stillleben k o n n t e der Künstler s i c h a u s s u c h e n , was e r g e r n e m a l e n w o l l t e , u n d d i e G e g e n s t ä n d e s o a u f d e m T i s c h anordnen, w i e e s i h m passte. S o w u r d e diese Bildgattung z u e i n e m
wunderbaren Experimentierfeld für malerische Probleme. Willem Kalf t€§s) z^B. studierte mit Vorliebe die Reflexe und Brechungen des Lichts in farbigen Gläsern. Er freute sich an den Kontrasten und dem Zusammenklang von Farben und Formen und bemühte sich, immer neue Harmonien zwischen prunkvollen Perserteppichen, hellblauem Porzellan und den satten Farben von Früchten und poliertem Metall zu erzielen (Abb. 280). Ohne es selbst zu wissen, begannen diese Spezialisten den Beweis zu fuhren, dass die Gegenstände der Maierei viel weniger wichtig sind, als man denken sollte. So wie banale Worte den Text für ein wunderbares Lied hefern, können ganz uninteressante Gegenstände ein vollendetes Bild ergeben. Vielleicht klingt das sonderbar, nachdem ich gerade den Gegenstanden von Rembrandts Bildern eine so hervorragende Bedeutung eingeräumt habe Aber ich glaube nicht, dass darin ein Widerspruch liegt. Ein Komponist, der keinen banalen Text, sondern ein bedeutendes Gedicht vertont, erwartet natürlich, dass wir das Gedicht auch verstehen, rnn seine Auffassung voll würdigen zu können. Genauso erwartet ein Maler, der eine Geschichte aus der Bibel darsteffr, dass wir uns über das Dargestellte klar werden, um sein Bild ganz ÜS erfassen. Aber so wie es geniale Kompositionen ohne Worte gibt, gibt es auch große Kunstwerke in der Malerei ohne bedeutsame Tibrwürte. Die Maler des siebzehnten Jahrhunderts ahnten dunkel diese künstlerischen Möglichkeiten, als sie die Schönheit der sichtbaren Erscheinung entdeckt hatten (Abb. 4). Und die holländischen Spezialisten^ die ihr Leben lang ein und denselben Gegenstand malten, bewiesen schließlich, dass es eigentlich auf den Gegenstand gar nicht so sehr ankam. Der größte dieser Meister war eine Generation jünger als RemfaraiHk- Es war JanVermeer van Delft (1632-1675). Vermeer schont ein bedächtiger und überaus sorgfaltiger Arbeiter gewesen zu sein. Er hat in seinem ganzen Leben nicht viele Bilder gemalt. Nur ^ e i i g e von ihnen stellen einen bedeutsamen Gegenstand dar. Die meisten zeigen
schlichte Gestalten in einem typischen holländischen
Zimmer. Manche bestehen aus einer einzigen Figur, die mit etwas Alltäglichem beschäftigt ist, wie z.B. ein Mädchen, das Milch aus einem Krug ausgießt (Abb. 281). Bei Vermeer hat die Genremalerei den letzten Rest humorvoller Lebensschilderung abgestreift. Seine Bilder sind in Wirklichkeit Stillleben mit menschlichen Gestalten. Man kann eigentlich nicht sagen, was ein so schlichtes, anspruchsloses Bild zu einem der größten Meisterwerke aller Zeiten macht. Aber wenige, die das Glück hatten, das Original zu sehen, werden mir widersprechen, wenn ich sage, dass es wie ein Wunder ist. Etwas von dem Wunder lässt sich vielleicht beschreiben, wenn auch kaum erklären. Es ist die Sicherheit und Präzision, mit der Vermeer alle Abstufungen der Farbtöne und Formen wiederzugeben vermag, ohne dass sein Bild jemals kleinlich oder trocken wirkt. Wie ein Fotograf, der die starken Kontraste seines Bildes absichtlich mildert, ohne die Formen verschwimmen zu lassen, ließ Vermeer die Kontinren verschwinden, ohne dabei den Eindruck greifbarer Körperlichkeit aufzuopfern. (Gerade diese einzigartige Verquickung von Weichheit und Klarheit macht seine größten Meisterwerke so unvergesslich. Sie lehren uns, die stille Schönheit einer alltäglichen Handlung mit neuen Augen zu sehen, und lassen uns ahnen, was der Künstler empfand, als er sah, wie das Licht durchs Fenster strömte und eine bunte Schürze aufleuchten ließ wie ein Juwel.
Macht und Herrlichkeit Italien, spätes 17. und 18. Jahrhundert
Wir erinnern uns an die Anfänge der Barock-Baukunst, für die ein Werk wie della Portas Jesuitenkirche (Abb. 250) als Beispiel diente. Deila Porta hat sich über die sogenannten Regeln klassischer Architektur hinweggesetzt, um größere Abwechslung und eindrucksvollere Wirkungen zu erzielen. Hat die Kunst erst einmal diesen Weg eingeschlagen, so liegt es in der Natur der Sache, dass es zunächst kein Zurück mehr gibt. Sobald das Hauptgewicht auf Originalität und Effekt gelegt wird, muss jeder Künstler immer reichere Verzierungen und überraschendere Wirkungen erfinden, um Eindruck zu machen. In der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts war in Italien die Steigerung zu immer erstaunlicheren Baugedanken und immer blendenderen Dekorationen stetig fortgeschritten, und um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts war der Stil, den wir Barock nennen* tvoll entwickelt. Abb. 282' zeigt eine typische Barockkirche, die von dem berühmten Architekten . Franciesco Borromini (1599—1667) und seinen Mitarbeitern gebaut wurde. Man sieht ohne weitrares, dass sogar die Formen, die Börromini verwendet hat, eigentlich Renaissanceformen sind. Wie della' Porta umrahmte er den Haupteingang mit einer Art Tempelfront, und wie' della Porta verdoppelt er die Pfeiler zu beiden Seiten, um eine 'reichere Wirkung zu erzielen. Aber mit der Fassade Borrominis- verglichen,, sieht ,die, della Portas beinahe streng und zurückhaltend aus. Borromini genügte:esiniäht mehr,, die Wand mit Säulenordnungen des klassischen Altertums zu verkleiden. Er komponierte seine Kirche aus Kuppel,: Seitentürmen und Fassaden. Diese Fassade krümmt sich dabei, als wäre sie aus» knetbarem Ton» und die Details weisen noch erstaunlichere Effekte auf: Das erste Stockwerk der beiden Türme ist viereckig, das zweite aber .rund, und die Verbindung zwischen ihnen wird durch ein seltsam gebrochenes oder >verkröpftes< Gebälk hergestellt, das seinen Zweck ausgezeichnet erfüllt, obwohl es jeden gesetzestreuen Lehrer der Baukunst entsetzen musste.:Noch überraschender ist die Umrahmung der Seitenportale: Die Art, wie in den Giebel oberhalb des Eingangs ein ovales Fenster
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Macht nod Herrlichkeit: I
einbezogen ist. hat in der Geschichte der Baukunst nicht ihresgleichen. Die Schnörkel und Kurven des Barockstils beherrschen nun sowohl die Gesamtanlage wie die einzelnen Zierformen. Man hat von Barockbauten wie von denen Borrominis behauptet, dass sie überladen und theatralisch wirken. Borromini selbst hätte einen solchen Vorwurf kaum verstanden. Er wollte ja gerade, dass eine Kirche festlich sei, ein Bau voll Glanz und Bewegung. Wenn das Theater es darauf abgesehen hat, uns in eine Märchenwelt strahlender Schönheit zu entrücken, warum sollte ein Erbauer einer Kirche nicht das Recht haben, uns eine Ahnung von noch größerer Pracht und Herrlichkeit zu geben, um uns an den Himmel zu gemahnen! Wenn wir in so eine Kirche eintreten, verstehen wir noch besser, wie all der Prunk, die Edelsteine, das Gold, die Stukkatur absichtlich dazu verwandt wurden, um eine Vision himmlischer Herrlichkeit heraufzubeschwören, die noch konkreter und anschaulicher war als die der mittelalterlichen Kathedralen. Abb. 283 zeigt das Innere von Borrominis Kirche. Wer an das Innere der Gotteshäuser im Norden gewöhnt ist, dem mag dieser sinnbetäubende Prunk zu weltlich erscheinen. Aber die katholische Kirche der damaligen Zeit war anderer Ansicht. Je lauter die Protestanten gegen äußere Prachtentfaltung in der Kirche predigten, desto eifriger w a r die katholische Kirche darauf bedacht, die Macht der Kunst in ihren Dienst zu stellen. So hatte die Reformation und die ganze heikle Frage der Bilder und ihrer Verehrung, die schon vorher in der Geschichte der Kunst oft eine Rolle spielte, auch indirekt Einfluss auf die Entstehung des Barockstils. Die katholische Welt hatte entdeckt, dass Kunst im Dienste der Religion noch andere Aufgaben erfüllen konnte, als nur dem leseunkundigen Volk die Heilsgeschichte zu erzählen (S. 132). Sie vermochte gerade die zu überzeugen und zu bekehren, die vielleicht zu viel gelesen hatten. So wurden Architekten, Maler und Bildhauer herangezogen, um die Kirche in ein großartiges Schaugepränge zu verwandeln, dessen Pracht und Herrlichkeit einen geradezu berauscht. Dabei kommt es nicht mehr auf Einzelheiten an. sondern
auf den Gesamteindruck. Man kann dem Innern dieser Kirchen nicht gerecht werden, solange man sie nicht als Rahmen für die glanzvolle Liturgie der katholischen Kirche auffasst. Man muss sie während eines Hochamtes gesehen haben, wenn die Kerzen am Altar brennen, wenn Weihrauchduft die Kirche füllt und Orgelklang und Chorgesang uns in eine andere Welt versetzen. Diese hohe Ausstattungskunst wurde vor allem von einem Künstler entwickelt, von Gian Lorenzo Bernini (1598-1680). Bernini gehörte der gleichen Generation an wie Borromini. Er war ein Jahr älter als van Dyck und Veläzquez und acht Jahre älter als Rembrandt. Wie diese Maler war auch er ein Meister der Bildniskunst. Abb. 284 zeigt seine Büste einer jungen Frau, die die ganze Frische und Originalität seiner besten Werke besitzt. Als ich die Büste das letzte Mal in Florenz sah, spielte gerade ein Sonnenstrahl darauf, und die ganze Figur schien zu atmen und zu leben. Bernini hat den Ausdruck eines Augenblicks erfasst, der gewiss für die junge Frau besonders charakteristisch war. Bernini war ein unerreichter Meister in der Darstellung des Mienenspiels, und er nutzte das aus, wie Rembrandt seine tiefe Kenntnis menschlichen Wesens, um seinen religiösen Gefühlen sichtbare Formen zu verleihen. Abb. 285 zeigt einen Altar Berninis für eine Seitenkapelle in einer kleinen römischen Kirche. Er ist der spanischen hl. Theresa gewidmet, einer Nonne aus dem sechzehnten Jahrhundert, die ihre mystischen Visionen in einem berühmten Buch beschrieben hat. Sie erzählt dort von einem Augenblick der Verzückung, als ein Engel des Herrn ihr Herz mit einem brennenden goldenen Pfeil durchbohrte und sie mit Schmerz und zugleich mit unsagbarer Wonne erfüllte. Diese Vision ist es, die Bernini gewagt hat darzustellen. Wir sehen, wie die Heilige auf einer Wolke zum Himmel aufsteigt auf einen Lichtstrom zu, der in Form goldener Strahlen auf sie herniederfließt. Wir sehen, wie der Engel sich ihr sanft nähert und wie der Heiligen die Sinne schwinden. Die Gruppe ist so angebracht, dass es scheint, als ob sie ohne Stütze in dem prachtvollen Rahmen schwebte, den
der Altar bildet, der sein Licht v o n e i n e m u n s i c h t b a r e n Fenster erhält Der B es ch a uer aus d e m N o r d e n m a g sich zuerst v o n der ganzen Aula, g e allzusehr a n B ü h n e n e f f e k t e erinnert f ü h l e n u n d ihr U b e r m a ß a n G e f ü h l als Kitsch abtun. So etwas ist natürlich eine Frage des persönl i c h e n G e s c h m a c k s u n d der Erziehung, ü b e r die sich k a u m streiten lässt. W e n n m a n a b er bereit ist z u z u g e b e n , dass ein Werk religiöser Kunst w i e Berninis Altar dazu v e r w e n d e t w o r d e n w a r , auf das Gefühl zu w i r k e n , m i t z u r e i ß e n u n d zur m y s t i s c h e n H i n g a b e zu zwingen, w i e e s die A b s i e h t der Barockkünsder w a r , d a n n m u s s m a n gestehen, dass B e r n i n i sein Ziel w i r k l i c h m e i s t e r h a f t erreicht hat. Er hat ganz b e w u s s t alle Z u r ü c k h a l t u n g fallen gelassen u n d u n s einen Grad der E r r e g u n g v o r g e f ü h r t , d e m die Künstler v o r i h m a u s g e w i c h e n waren. Vergleicht m a n d e n K o p f der verzückten H e i l i g e n mit j e d e m belieb i g e n Werk aus e i n e m f r ü h e r e n J a h r h u n d e r t , so sieht m a n , dass dem Künstler eine Intensität des Gesichtsausdrucks g e l u n g e n ist, w i e sie v o r h e r nie a u c h n u r versucht w o r d e n war. Ein Blick v o n Abb. 286 auf d e n K o p f des Laokoon (Abb. 69) o d e r d e n v o n M i c h e l a n g e l o s »Sterb e n d e m Sklaven< (Abb. 201) macht d e n U n t e r s c h i e d klar. A u c h Berninis G e w a n d b e h a n d l u n g w a r damals völlig neu. Anstatt d e n Stoff nach a n e r k a n n t e r klassischer Manier in w ü r d i g e Falten zu legen, ließ er ihn sich d r e h e n u n d w i r b e l n , u m damit den Eindruck v o n B e w e g u n g und E r r e g u n g n o c h zu steigern. Alle diese E f f e k t e w u r d e n sehr bald in ganz Europa nachgeahmt. W e n n es richtig ist, dass Skulpturen w i e Berninis hL Theresa n u r i m d e m R a h m e n beurteilt w e r d e n k ö n n e n , f ü r den sie g e s c h a f f e n w u r d e n , so gilt das in n o c h g r ö ß e r e m Maße v o n der malerischen A u s s c h m ü c k u n g der Barockkirchen. Abb. 287 zeigt ein Deckengem ä l d e in der JesuitenkirGhe in R o m v o n der H a n d eines Malers aus der S ch ul e Berninis, des G i o v a n n i Battista Gaulli ( 1 6 3 , 9 - 1 7 0 9 ) . Der Künstler w i l l die Illusion h e r v o r r u f e n , dass sich das K i re h e n g e w ö l be g e ö f f n e t hat u n d w i r g e r a d e w e g s in die h i m m l i s c h e Herrlichkeit h i n e i n s e h e n . C o r r e g g i o hatte s c h o n v o r Gaulli die Idee gehabt, d e n H i m m e l a u f die K i r c h e n d e c k e zu malen aber Gaulis
Effekte sind ungleich theatralischer. Das Thema ist die Verehrung des heiligen Namens Jesu, der in leuchtenden Lettern im Mittelpunkt der Decke geschrieben steht und von unendlichen Scharen von Engelskindern, Engeln und Heiligen umgeben ist, die alle verzückt ins Licht schauen, während ganze Legionen von Teufeln oder gefallenen Engeln mit verzweifelten Gebärden aus dem Himmel vertrieben werden. Die dicht gedrängte Szene scheint den Rahmen der Decke zu sprengen, die von Wolken überfließt, auf denen die Heiligen und Sünder bis in die Kirche hinunterschweben. Indem er so das Bild über den Rahmen hinausgreifen lässt, will der Künstler uns überrumpeln und überwältigen, damit wir zwischen Wirklichkeit und Illusion nicht mehr unterscheiden können. Ein solches Gemälde ist nur an dem Platz, für den es geschaffen wurde, verständlich. Es ist daher vielleicht kein bloßer Zufall, dass Malerei und Bildhauerkunst nach der vollen Entfaltung des Barockstils, in dem alle Künsder gemeinsam auf eine bestimmte Wirkung hinarbeiteten, als unabhängige Künste in Italien und im ganzen katholischen Europa in Verfall gerieten. Im achtzehnten Jahrhundert waren die italienischen Künstler in erster Linie glänzende Innenarchitekten, und ihre Meisterschaft in Stuckarbeit und dem Malen von großen Fresken, die jede Schlossund Klosterhalle in einen Schauplatz strahlender Festlichkeit und Feierlichkeiten zu verwandeln vermochten, hatte sie in ganz Europa bekannt gemacht. Einer der berühmtesten Meister war der Venezianer Giovanni Battista Tiepolo (1696-1770), der nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland und Spanien arbeitete. Abb. 288 zeigt eines seiner Wandgemälde in einem venezianischen Palast, gemalt um 1750. Es stellt eine Szene dar, die Tiepolo Gelegenheit gab, heitere Farben und prachtvolle Kostüme zu zeigen: Das Bankett der Kleopatra. Marcus Antonius gab einst ein Fest zu Ehren der ägyptischen Königin, das an Luxus alles Dagewesene übertreffen sollte. Die kostbaren Gerichte wurden in endloser Folge aufgetragen; aber das macht auf die Königin keinen besonderen Eindruck. Sie forderte ihren stolzen Gastgeber mit der Behauptung heraus, dass sie ein weit
kostbareres Gericht herstellen würde als alle, die er ihr angeboten hatte nahm eine wundervolle Perle aus ihrem Ohrring, löste sie in Essig auf und leerte den Becher. In Tiepolos Fresko sehen wir, wie sie Marcus Antonius die Perle zeigt, während ein schwarzer Sklave ihr ein Glas reicht. Es muss vergnüglich gewesen sein, derartige Fresken zu malen, und sie sind auch ein erfreulicher Anblick. Und doch mag mancher das Gefühl haben, dass diese geistsprühende Kunst weniger bleibenden Wert hat als die verhalteneren Schöpfungen früherer Zeiten. Das große Zeitalter der itaüenischen Kunst ging zu Ende. Nur auf einem Spezialgebiet hat die italienische Kunst des frühen achtzehnten Jahrhunderts etwas Neues geschaffen. Das war bezeichnenderweise das Malen und Stechen von Ansichten. Die Reisenden, die aus ganz Europa nach Italien kamen, um die Schätze seiner großen Vergangenheit zu bewundern, wollten sich oft eine Erinnerung mit nach Hause nehmen. Besonders in Venedig, das so viele malerische Motive bietet, war eine ganze Schule von Malern entstanden, die diese Nachfrage befriedigten. Abb. 290 zeigt eine Ansicht von Venedig, die einer von ihnen, Francesco Guardi (1712—1793), gemalt hat. So wie Tiepolos Fresko beweist auch sie, dass die venezianische Kunst ihren Sinn für buntes Leben, für Licht und Farbe nicht verloren hatte. Es ist interessant, Guardis Ansicht der venezianischen Lagune mit den nüchternen, naturgetreuen Seestücken des Simon de Vlieger (Abb. 271) zu vergleichen, die ein Jahrhundert früher gemalt worden waren. Man sieht dairn, dass der Geist des Barocks, der Sinn für Bewegimg und kühne Effekte, sogar in der einfachen Ansicht einer Stadt zum Ausdruck kommen kann. Guardi beherrschte vollendet alle malerischen Kniffe, auf deren Studien sich die Künsder im siebzehnten Jahrhundert verlegt hatten. Er wusste, dass unsere Fantasie jederzeit bereit ist, die Einzelheiten einer Szene zu ergänzen, wenn uns der Maler nur den Gesamteindruck vermittelt. Sieht man einen von Guardis Gondolieren näher an, so bemerkt man überrascht, dass er einfach aus ein paar geschickt hingesetzten
Farbflecken besteht 1 tritt man aber weiter zurück, so ist die Täuschung vollkommen. Diese Errungenschaften des Barockstils, die in den herbstlichen Früchten der italienischen Kunst weiterlebten, sollten später noch neue Bedeutung gewinnen.
Macht und Herrlichkeit: II Frankreich, Deutschland und Österreich, spätes 17.und frühes 18. Jahrhundert
Die römische Kirche stand nicht allein mit ihrer Entdeckung, dass man die Kunst dazu verwenden kann, Menschen zu beeindrucken, ja zu überwältigen. Die Könige und Fürsten im Europa des siebzehnten Jahrhunderts waren ebenso sehr darauf aus, ihre Macht zur Schau zu stellen, um der Menge zu imponieren. Auch sie wollten sich als Wesen besonderer Art geben, die von Gottes Gnaden über die gewöhnlichen Sterblichen hinausgehoben waren. Das gilt vor allem von dem mächtigsten Herrscher des späten siebzehnten Jahrhunderts, von König Ludwig XIV. von Frankreich, der seine Prunkentfaltung bewusst zu politischen Zwecken einsetzte. Es ist gewiss kein Zufall, dass Ludwig XIV. gerade Bernini nach Paris einlud, damit er ihn beim Neubau des Louvre beraten sollte. Berninis grandioser Entwurf für diesen Neubau wurde zwar nie ausgeführt, aber Ludwig XIV. hinterließ ein anderes Schloss als sichtbares Denkmal seiner ungeheuren Macht: das Schloss von Versailles, das ungefähr 1660—1680 errichtet wurde (Abb. 291). Keine Fotografie kann ein richtiges Bild von der ungeheuren Größe Versailles' vermitteln. Jedes der Stockwerke hat nicht weniger als 123 Fenster, die auf den Park hinausblicken. Der Park selbst mit seinen geschnittenen Bäumen, seinen Urnen und Statuen (Abb. 292)p.seinen Terrassen und Teichen erstreckt sich meilenweit. >Barock< ist Versailles eher in seiner ungeheuren Ausdehnung als in den eigentlichen Bauformen. Die Architekten waren hauptsächlich darauf bedacht, die gewaltigen Massen des Baues klar und deutlich zu gliedern und die einzelnen Flügel grandios und doch vornehm zu gestalten. Sie betonten den Mittelteil des Hauptstockwerks durch eine Reihe hoher ionischer Säulen, die ein Gebälk mit einer Reihe von Statuen tragen, und wiederholten das Motiv verkleinert auf beiden Seiten. Mit einer bloßen Kombination reiner Renaissanceformen wäre es ihnen kaum gelungen, die Einförmigkeit einer so lang gedehnten Fassade aufzulockern, aber mit Hilfe von Statuen, Urnen und Trophäen brachten sie eine gewisse Abwechslung hinein. Gerade an Gebäuden wie Versailles kann man
daher die wahre Funktion und den eigentlichen Zweck barocker Formen verstehen lernen. Wären die Architekten von Versailles etwas kühner gewesen und hätten sie gewagt, originellere Mittel zu verwenden, um den gewaltigen Bau zu gliedern und mehr Bewegung hineinzubringen, so hätten sie vielleicht künstlerisch noch mehr Erfolg gehabt. Erst in der nächsten Generation waren die Architekten so weit, die Konsequenz aus dieser Tatsache zu ziehen. An den römischen Kirchen und den französischen Schlössern hatte sich die Fantasie des Zeitalters entzündet. Jeder Duodezfürst in Süddeutschland wollte sein Versailles haben; jedes kleine Kloster in Österreich oder in Spanien wollte mit der Pracht der Bauten Borrominis und Berninis wetteifern. Die Zeit um 1700 ist eine der glänzendsten Epoche der Baukunst — und nicht der Baukunst allein. Diese Schlösser und Kirchen waren nicht nur als architektonische Schöpfungen gedacht — alle Künste sollten dazu beitragen, eine unwirkliche, künstliche Welt zu schaffen. Ganze Städte wurden in Kulissen verwandelt, Landstriche in Parks, Bäche in Kaskaden. Den Künstlern wurde freie Hand gelassen, sie durften nach Herzenslust planen und die unwahrscheinlichsten Visionen in vergoldeten Stuck und Marmor umsetzen. Oft ging das Geld aus, bevor ihre Pläne verwirklicht wurden, und doch hat diese Zeit des ungezügelten Schaffens das Gesicht manch einer Stadt oder Landschaft im katholischen Europa neu geprägt. In Österreich, Böhmen und Süddeutschland wurden die Gedanken des italienischen und französischen Barock am konsequentesten und kühnsten zu einem einheitlichen Stil verschmolzen. Abb. 293 zeigt das Schloss Belvedere, das der österreichische Baumeister Lucas von Hildebrandt (1668—1745) in Wien für Prinz Eugen erbaut hat. Das Schloss steht auf einer Anhöhe und scheint geradezu über den Terrassen des Gartens mit seinen Springbrunnen und zugeschnittenen Hecken zu schweben. Hildebrandt hat den Bau in sieben Abschnitte gegliedert, die entfernt an Gartenpavillons erinnern: Ein fünffenstriges Mittelstück, das aus
dtt Fassade hervorragt, ist von zwei etwas niedrigeren Flügeln flankiert, tät ihrerseits zu zwei noch niedrigeren Bauteilen hinüberleiten, die schließlich in vier turmartigen Eckpavillons ausklingen. Der Mitteltrakt und die Eckstöcfce sind am reichsten geschmückt, und das Ganze Ist bei aller Vielfalt so klar und übersichtlich wie möglich, Diese Klarheit wird auch durch die kapriziösen und grotesken ömamentformen nicht gestört, die Hildebrandt über die Fassade verteilte, die nach unten zulaufenden Püaster, die verschnörkelten Fenstergiebel und die Statuen und Trophäen, die das Dach säumen. Aber erst wenn wir in so ein Schloss selbst eintreten, empfinden v/ir die Wirkung dieses fantastischen Dekorationsstils mit voller Stärke, Abb. 294 zeigt die Eingangshalle von Prinz Eugens V/iener Palast und Abb. 295 das prachtvolle Treppenhaus von Hildebrandts Schloss in Pornrnersfelden. Man kann diesen Räumen kaum gerecht werden, v/erm man sie sich nicht belebt vorstellt — an einem Tag, wenn der Besitzer ein Fest oder einen Empfang gab, wenn die Laternen angezündet waren und die Besucher in Damast und Spitzen die Treppen hinauf rauschten. Dann muss der Gegensatz zwischen den finsteren, unbeleuchteten Straßen, die von Schmutz und Elend stanken, und der glanzenden Märchenwelt in den Sälen des Adels überv/ältigend gewesen sein. Und wie die Schlösser, so die Kirchen. Abb. 296 zeigt das österreichische Benediktinerstift Melk an der Donau. Wenn man die Donau hinunterfährt, taucht dieser Bau mit seiner Kuppel und seinen seitsam geformten Türmen wie eine unwirkliche Erscheinung in der Höhe auf Der Baumeister war Jakob Prandtauer (gestorben 1726), rkr aus der Umgebung Melks stammte, und die Ausschmückung wurde von ein paar reisenden italienischen Dekorateuren besorgt, deren Musterbücher voll der erstaunlichsten Einfälle und Windungen waren. Wie gut hatten diese anspruchslosen Künstler '•>e schwere Kunst gemeistert, ein Gebäude so durchzugliedern, dass Ä Süchtig aussah, ohne schwerfällig zu wirken! Sie verwendeten
große Sorgfalt auf die Abstufung der Schmuckformen und brachten die wildesten Schnörkel mit Maß, aber umso effektvoller an, um die Akzente des Gebäudes richtig zu setzen. Im Innern freilich kannten sie kein Maß. Selbst Bernini oder Borromini sind in ihren wildesten Träumen nie so weit gegangen. Man muss sich auch hier wieder vorstellen, was es für einen einfachen österreichischen Bauern bedeutet haben muss, seinen Hof zu verlassen und in diese Wunder weit einzutreten (Abb. 297). Alles ist voll strahlender Wolken, auf denen Engel musizieren und in seliger Verzückung zum Himmel blicken. Einige sitzen auf der Kanzel, alles scheint sich zu bewegen und zu tanzen - die den verschwenderisch ausgeführten Hochaltar rahmenden Wände scheinen sich jubelnd im Takt zu schwingen. In einer solchen Kirche ist nichts >natürlich< oder >normal< und will es auch nicht sein. Wir sollen einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit bekommen. Vielleicht stellt sich nicht jeder die Seligkeit so vor, ist man aber einmal mitten hineingeraten, so hüllt sie einen gänzlich ein, und alles Argumentieren hört auf. Man ist in eine Welt entrückt, auf die sich unsere gewöhnlichen Maßstäbe einfach nicht anwenden lassen. Man kann begreifen, dass damals sowohl nördlich als südlich der Alpen die Einzelkünste so stark in den Dienst des Gesamteffekts gestellt wurden, dass sie viel von ihrer Unabhängigkeit einbüßten. Natürlich gab es auch in dieser Zeit, d. h. um das Jahr 1700, bedeutende Maler und Bildhauer, aber vielleicht nur einen einzigen Meister, der sich an Größe mit den führenden Meistern der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts messen kann. Dieser Maler war Antoine Watteau (1684-1721). Watteau kam aus einem Teil Flanderns, der wenige Jahre vor seiner Geburt von Frankreich erobert worden war. Er ließ sich in Paris nieder, wo er im Alter von siebenundreißig Jahren starb. Auch er stellte seine Kunst in den Dienst der Ausschmückung von Innenräumen, um für die Festlichkeit der Hofgesellschaft und des Adels den geeigneten Rahmen zu schaffen. Aber man hat den Eindruck, dass die Wirklichkeit seiner
Fantasie nie genugtun konnte. So begann er seine eigenen Traumbilder zu malen. Er träumte von einem Leben fern von banalen Sorgen, von nie verregneten Landpartien, von Konzerten im Grünen, wo alle Damen schön und alle Liebhaber anmutig sind, von einer Gesellschaft, in der jedermann glänzende Seide trägt, die nie protzig wirkt, und wo der Tag der Schäfer und Schäferinnen eine ununterbrochene Reihe von entzückenden Menuetten ist. Diese Beschreibung mag den Eindruck erwecken, die Kunst des Watteau sei geziert und affektiert. Er gilt vielen als ein Vertreter des Geschmacks der französischen Aristrokratie zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, einer Geschmacksrichtung, die man als Rokoko bezeichnet. Es ist die Mode der Pastellfarben und leichten Zierformen, die auf den vollblütigen und schweren Prunk des Barocks folgte und ebenso geistvoll wie leichtsinnig war. Aber Watteau war ein viel zu großer Künstler, als dass man ihn bloß als Vertreter einer Mode ansehen könnte. Eigentlich war er es vor allem, dessen Träume und Lieblingsvorstellungen zur Entstehung der Moderichtung beitrugen, die wir Rokoko nennen. So wie van Dyck das Ideal adeliger Gelassenheit schaffen half, das wir mit dem Bild des hochgezüchteten Aristokraten verbinden (Abb. 262), hat auch Watteau unseren Vorstellungsschatz um einen Traum anmutiger Galanterie bereichert. Abb. 298 zeigt eines seiner Bilder, das eine Festlichkeit im Freien darstellt. Hier gibt es keine laute Fröhlichkeit wie in Jan Steens Zechgelagen (Abb. 278). Hier geht es leise zu. Diese jungen Männer und Frauen sitzen beieinander und träumen. Das Licht spielt auf ihren schillernden Gewändern und verklärt den Hain zum irdischen Paradies. Eine Reproduktion kann kaum etwas von der eigentlichen Größe von Watteaus Kunst verraten, von der Zartheit seiner Pinselführung und den subtilen Nuancen seiner Farbgebung. Man muss seine ungeheuer sensitiven Gemälde, vor allem seine Zeichnungen, im Original sehen. So wie Rubens, den er aufs Höchste bewunderte, hatte auch Watteau die Gabe, mit einem bloßen Hauch von Rötel oder Farbe den Eindruck atmenden Lebens zu geben. Aber
die Grundstimmung seiner Kunst ist so verschieden von der des Rubens wie von der des Jan Steen. Ein schwer zu beschreibender Hauch von Traurigkeit liegt über Watteaus Bildern und bewahrt sie davor, ins Süßliche zu verfallen. Watteau war ein kränklicher Mensch, der in jungen Jahren an Schwindsucht gestorben ist. Vielleicht war es dieses Bewusstsein von der Vergänglichkeit irdischer Schönheit, das seiner Kunst die Intensität verlieh, die seinen vielen Nachahmern und Bewunderern versagt blieb.
Das Zeitalter der fiyg!
Vernunft England und Frankreich im 18. Jahrhundert
Der eigentliche Barockstil blieb im siebzehnten Jahrhundert im Wesentlichen auf das katholische Europa beschränkt. Die protestantischen Länder konnten sich zwar dem Eindruck dieses alles durchdringenden Stils nicht entziehen, trotzdem übernahmen sie ihn nicht eigentlich. Das gilt auch für England während der Restauration, als der Hof der Stuarts sich an Frankreich orientierte und den Geschmack und die Art der Puritaner verabscheute. Während dieser Periode brachte England seinen größten Architekten, Sir ChristopherWren (1632-1723), hervor, der mit der Aufgabe betraut wurde, die Kirchen Londons nach dem verheerenden Brand von 1666 wieder aufzubauen. Es ist interessant, seine St. Pauls Cathedral (Abb. 299) mit einer Kirche des römischen Barock zu vergleichen (Abb. 282), die etwa 20 Jahre früher entstanden ist. Wir sehen, dass auch Wren entschieden von den Gruppierungen und Effekten der Barockarchitektur beeinflusst war, wenngleich er selbst nie in Rom war. Wie Borrominis Kirche ist auch Wrens Kathedrale, deren Umfang weit größer ist, ein Kuppeldom mit einer zweitürmigen Fassade und einem tempelartigen Portal. Selbst die Form der Türme, besonders die Gestaltung des zweiten Stockwerks, ist in beiden Kirchen überraschend ähnlich. Und doch ist der Gesamteindruck denkbar verschieden. Die Fassade von St. Paul s ist nicht geschwungen, sie wirkt nicht bewegt, sondern schlicht und groß. Die Verwendimg von hohen Säulenpaaren, um der Fassade würdige Pracht zu verleihen, gemahnt uns eher an Versailles (Abb. 291) als an den römischen Barock. Und wenn man sich vollends in die Einzelformen vertieft, in die Gestaltung der Gesimse, Kapitelle und Fensterumrahmungen, fragt man sich bald, ob man Wrens Bauweise eigentlich >barock< nennen soll. Wren hat sich offenbar ganz bewusst an die besten Vorbilder der Antike und der italienischen Renaissance gehalten. Jedes Bauglied und jedes Ornament sollte für sich allein gesehen seine Wirkung tun. Verglichen mit dem Uberschwang eines Borromini oder der Kirche von Melk wirkt Wrens Stil abgezirkelt und nüchtern. Der Kontrast zwischen protestantischer und katholischer Architektur tritt noch deutlicher hervor, wenn wir das Innere von
Wrens Kirche betrachten - zum Beispiel St. Stephen Walbrook in London (Abb. 300). Eine solche Kirche ist eigentlich als Halle entworfen, in der sich die Gläubigen zum Gottesdienst versammeln. Sie hat nicht die Aufgabe, die Vision einer anderen Welt hervorzurufen, sie soll vielmehr zur Sammlung der Gedanken anregen. In den zahlreichen Kirchen, die Wren entwarf, ging es ihm um immer neue Variationen dieses Themas der Halle. Was für den Kirchenbau gilt, trifft auch für die Schlösser zu. Kein englischer König hätte je die ungeheuren Geldsummen aufgebracht, derer es bedurfte, Versailles zu bauen, und kein englischer Adel hätte es mit dem Luxus und den Extravaganzen der deutschen Duodezfürsten aufnehmen können. Auch England wurde damals von der Bauwut ergriffen, und Duke of Marlboroughs Blenheim Palace ist sogar größer als das Belvedere des Prinzen Eugen; doch handelt es sich dabei um eine Ausnahme, denn das englische Ideal des achzehnten Jahrhunderts war nicht der Palast, sondern der wohnliche Landsitz. Die Architekten solcher Landsitze lehnten üblicherweise die Extravaganzen des Barockstils ab. Sie waren vielmehr darauf bedacht, keine der Regeln des »guten Geschmacks< zu verletzen, und so trachteten sie stets danach, die wirklichen oder vermeintlichen Gesetze des antiken Bauens zu respektieren. Diese Gesetze und Vorbilder waren in den Büchern und Stichwerken über die Ruinen Roms zu finden, die meist von italienischen Architekten der Renaissancezeit stammten. Das berühmteste dieser Werke stammte von Andrea Palladio, S.
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dem Meister des sechzehnten Jahrhunderts, der sich auch selbst in seinen Bauten so gewissenhaft an antike Vorbilder gehalten hatte. Seine Bücher wurden im achtzehnten Jahrhundert in England neu aufgelegt und galten als die höchste Autorität in allen Fragen der Baukunst. Bald musste jeder, der mit der Mode ging, sich eine >palladianische Villa< bauen. Abb. 301 zeigt eine solche palladianische Villa, Chiswick House bei London. Entworfen zum eigenen Gebrauch durch den
tonangebenden Führer von Geschmack und Mode, Lord Burlington (1695-175$)>
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von
seinem Freund William Kent (i685--i748)
ausgestattet, ist sie tatsächlich eine getreue Imitation von Palladios > Villa Rotonda< (Abb. 232). Ganz anders als Hildebrandt und die anderen Architekten des katholischen Europa verstoßen die Entwerfer der britischen Villa nirgends gegen die strengen Regeln des klassischen Stils. Der stattliche Portikus hat die korrekte Form einer antiken Tempelfront korinthischer Ordnung (S. 86/87). Die Mauern des Bauwerks sind schlicht und flach, es gibt keine Kurven und Voluten, keine Statuen krönen das Dach, Burlington und Kent verzichten auf alle Schnörkel und Zieraten. Die Herrschaft des Geschmacks im England eines Lord Burlington und Alexander Pope war nämlich zugleich eine Herrschaft der Vernunft. Das Temperament dieses Landes widerstrebte den Höhenflügen der barocken Entwerfer und jener Kunst, die darauf zielte, das Gefühl zu überwältigen. Die regelmäßigen Parkanlagen im Stil von Versailles, deren endlose gestutzte Hecken und Alleen den architektonischen Entwurf weit über das eigendiche Bauwerk hinaus in das umgebende Gelände fortgesetzt hatten, wurden jetzt als absurd und gekünstelt verdammt. Ein Garten oder Park sollte die Schönheiten der Natur widerspiegeln und- eine Auswahl hübscher Ansichten bieten, wie sie das Auge des Malers entzückten. Männer wie Kent erfanden den englischen >Landschaftsgarten< als die ideale Umgebimg für ihre palladianischen Villen. Wie sie sich für die Regeln der Vernunft und des guten Geschmacks in der Baukunst auf die Autorität eines italienischen Architekten beriefen, so zogen sie einen Maler des Südens zurate auf der Suche nach dem idealen Maß für die Schönheit der Szenerie. Ihre Idee, wie die Natur aussehen sollte, wurde im Wesentlichen aus den Gemälden Claude Lorrains abgeleitet. Es ist interessant, den Blick auf das liebliche Gelände von Stourhead in Wiltshire (Abb. 302), das vor der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts angelegt wurde, mit Werken der beiden Meister zu vergleichen. Der >Tempel< im Hintergrund erinnert wieder an Palladios >Villa
Rotonda< (Abb. 232), die ihrerseits nach dem Vorbild des Pantheons in Rom konzipiert wurde, wahrend die Gesamtanlage mit dem See, der Brücke und der Erinnerimg an römische Monumente meine eigenen Beobachtungen über den großen Einfluss bestätigt, den die Gemälde des Claude Lorrain (Abb. 255) für die Schönheit der englischen Landschaft hatten.
Die Situation der englischen Maler und Bildhauer unter der Herrschaft von Geschmack und Vernunft war nicht immer beneidenswert. Wir haben gesehen, dass der Sieg des Protestantismus in England, die puritanische Feindlichkeit gegen Bilder und allen Luxus, der Tradition der Kunst in England einen schweren Schlag versetzt hat. Fast die einzige Aufgabe, für die man noch immer die Malerei begehrte, war es, Porträts zu schaffen, und selbst diese Funktion war großenteils von ausländischen Künstlern wie Holbein (S. 283) und van Dyck (S. 308) übernommen worden, die man erst nach England berief, nachdem sie ihren Ruf draußen schon begründet hatten. Die modebewussten Gentlemen zu Lord Burlingtons Zeiten hatten nicht aus puritanischen Gründen Einwände gegen Gemälde oder Skulpturen, aber sie brannten nicht darauf, einheimischen Künsdern Aufträge zu erteilen, die sich nicht schon im Ausland einen Namen erworben hatten. Wer ein Gemälde für sein hübsches Landhaus erwerben wollte, griff lieber auf ein Werk zurück, das den Namen eines berühmten italienischen Meisters trug. Man gab sich gerne als Kenner, und so wurden damals bewundernswerte Sammlungen alter Meister zusammengebracht, während für die Künstler der eigenen Zeit nur wenig Aufträge abfielen. Dieser Lauf der Dinge machte einem jungen englischen Kupferstecher viel zu schaffen, der sein Brot durch Buchillustrationen verdienen musste. Er hieß William Hogarth ( 1 6 9 7 - 1 7 6 4 ) , und er fand, dass er ein ebenso guter Maler sei w i e jene, deren Werke für viel Geld im Ausland eingekauft wurden, aber er merkte auch, dass es in England kein Publikum für die zeitgenössische Kunst gab. Daher machte er sich daran, einen neuen Typus von Malerei zu schaffen, der
seinen Landsleuten eigentlich gefallen müsste. Er wusste genau, dass das englische Bürgertum, in der puritanischen Tradition aufgewachsen, die Kirnst mit Misstrauen betrachtete, weil sie ein zweckloser und darum unmoralischer Luxus schien, und er beschloss, auf dieses Vorurteil Rücksicht zu nehmen. So plante er eine Bilderfolge, die den Lohn der Tugend und die Bestrafung des Lasters zeigte. Er wollte den >Weg eines Liederlichen^ von Ausschweifung und Müßiggang bis zum Verbrechen und Tod zeigen, oder >Die vier Etappen der Grausamkeit^ wie der Junge eine Katze quält und wie später ein Mörder aus ihm wird. Er wollte diese erbaulichen Geschichten und abschreckenden Beispiele so malen, dass jeder Beschauer der Bilderreihe alle Episoden und ihre Moral verstehen musste. Seine Bilder sollten wie eine Art Scharade wirken, in der alle Personen eine bestimmte Rolle spielen, deren Bedeutung durch Gebärden und entsprechende Attribute erklärt wird. Hogarth verglich diese neue Art Malerei selbst mit der Kunst des Dramatikers und des Regisseurs. Er tat, was er konnte, um jede Figur nicht nur durch die Gesichtszüge, sondern auch durch Kleidung und Benehmen zu charakterisieren. Man kann seine Bilderfolgen wie einen Roman oder besser wie eine Predigt lesen. In dieser Hinsicht war seine Art Kunst vielleicht nicht ganz so neu, wie Hogarth glaubte. Wir wissen, dass die Kirche des Mittelalters sich immer der Bilder bediente, um zu belehren, und die Überlieferung solcher Bilderpredigten hatte sich in der volkstümlichen Kunst bis auf die Tage Hogarths erhalten. Auf den Jahrmärkten konnte man primitive Holzschnitte kaufen, die das Schicksal des Trunkenbolds oder die Gefahren des Kartenspiels behandelten, und auch die Moritaten der Bänkelsänger waren oft ähnlich illustriert. Trotzdem waren die Bilder Hogarths nicht eigendich Volkskunst in diesem Sinn. Er selbst war ein gründlicher Kenner der alten Meister, er kannte die volkstümliche Charakteristik eines Jan Steen (Abb. 278) so gut wie die malerischen Darstellungsmittel der italienischen Künsder seiner Zeit. Venezianischen Meistern von der Art des Guardi (Abb. 290) hatte er es abgelauscht, wie man eine Gestalt mit ein paar Pinselstrichen zaubert.
Abb. 303 zeigt eine Episode aus dem >Weg eines liederlichem, in der der arme Liederliche tobsüchtig geworden ist und im Irrenhaus Bedlam in Ketten gelegt werden muss. Es ist eine krasse und grausame Szene, in der alle Formen des Wahnsinns dargestellt sind: Der vom religiösen Wahnsinn Erfasste in der ersten Zelle, der wie eine Parodie eines Barockheiligen wirkt, der Größenwahnsinnige mit der Königskrone in der nächsten Zelle, der Kretin, der das Bild der Welt auf die Wand des Irrenhauses kritzelt, der Blinde mit seinem Papierfernrohr, das groteske Trio bei der Stiege - der grinsende Geiger, der blöde Sänger und die erschütternde Figur des apathischen Mannes, der einfach dasitzt und vor sich hin starrt - und dann schließlich die Hauptgruppe: der Tod des armen Helden, um den niemand trauert als das Dienstmädchen, das er einst so schnöde sitzen gelassen hat. Man nimmt ihm die Ketten ab, denn er wird nie mehr toben. Ein tragischer Aktschluss, der durch den grotesken Zwerg, der sich darüber lustig macht, und durch den Gegensatz zu den beiden eleganten Besucherinnen, die den Liederlichen in den Tagen seines Wohlstandes kannten, noch tragischer wirkt. Jede Figur und jedes Detail in dem Bild hat eine Bedeutung in der Geschichte, die Hogarth erzählt, aber das allein würde nicht genügen, um daraus ein gutes Bild zu machen. Das Besondere an Hogarth ist, dass er bei aller Erzählerfreude doch immer Maler bleibt, nicht nur in der Pinselführung und Verteilung von Licht und Farbe, sondern auch in der überaus geschickten Anordnung seiner Gestalten. Die groteske Gruppe um den Liederlichen sieht so sorgsam komponiert aus wie ein italienisches Gemälde der klassischen Zeit. Hogarth war tatsächlich sehr stolz auf sein Verständnis für diese Tradition. Er war sicher, das Gesetz gefunden zu haben, das die Schönheit bestimmt. Er schrieb ein Buch, das er >The Analysis of Beauty< nannte, um die Idee zu erläutern, eine wellenförmige Linie sei immer schöner als eine gerade. Auch Hogarth gehörte dem Zeitalter der Vernunft an, und er glaubte an lehrbare Regeln des Geschmacks, hatte aber keinen Erfolg dabei, seine Landsleute von ihrem Hang zu den alten Meistern abzubringen. Seine Bildfolgen
brachten ihm zwar großen Ruhm und eine ganze Menge Geld ein, aber sein Ruf gründete weniger auf seinen Gemälden, sondern vielmehr auf den Kupferstichen, die das Publikum gerne kaufte. Als Maler nahmen ihn die Kunstkenner der Zeit nicht ernst, und so führte er bis an sein Ende einen erbitterten Kampf gegen den Modegeschmack, Erst eine Generation später wurde ein englischer Maler geboren, dessen Kunst der eleganten englischen Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts entsprach: Sir Joshua Reynolds (1723-1792), Anders als Hogarth war Reynolds nach Italien gegangen, und er stimmte mit den Kunstkennern seiner Zeit darin überein, dass die großen Meister der italienischen Renaissance - Raffael, Michelangelo, Correggio und Tizian - die unvergleichlichen Leitbilder der wahren Kunst seien. Er übernahm jene Lehre, die den Carracci (S. 297-299) zugeschrieben wurde, dass das Heil für einen Künsder einzig im sorgfaltigen Studium und der Nachahmimg dessen hege, was man die Unübertrefflichkeit der alten Meister nannte — der Zeichnung Raffaels, der Farbe Tizians und so fort. Später im Leben, als Reynolds in England Karriere gemacht hatte und der erste Präsident der neu gegründeten Royal Academy of Art geworden war, baute er diese akademische Doktrin in einer Serie von Abhandlungen aus, die noch immer lesenswert sind. Sie zeigen, dass Reynolds, wie seine Zeitgenossen (etwa Dr. Johnson), an feste Regeln des Geschmacks und an die Notwendigkeit von Autoritäten in der Kirnst glaubte. Reynolds meinte, dass das richtige Vorgehen in der Kunst in großem Maß gelehrt werden könne, wenn man es den Studenten nur ermögliche, die anerkannten Meisterwerke der italienischen Malerei gründlich zu studieren. Seine Darlegungen enthalten die Ermahnung, stets erhabenen und würdigen Vorbildern nachzueifern, denn Reynolds war überzeugt, dass nur das Große und Eindrucksvolle den Namen der großen Kunst verdiene. »Anstatt sich zu bemühen, die Menschen mit der korrekten Nettigkeit seiner Nachahmung zu unterhalten, muss der wirkliche Maler danach streben, sie' durch die Größe seiner Ideen zu bessern«, schrieb Reynolds in seinem dritten Discourse.
Ein solches Zitat könnte leicht de® Eindruck erwecken, Reynolds sei ziemlich pompös und langweilig gewesen, aber wenn wir seine Abhandlungen lesen und seine Bilder betischten, geben wir dieses Vorurteil bald auf. Die Tatsache besteht allerdings, dass er die Meinungen über die Kunst anerkannte, die er in den Schriften der maßgebenden Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts fand, die sich sehr mit der Würde des sogenannten »Historienbildes« beschäftigten. Wir sahen, wie entschieden die Künstler gegen soziale Vorurteile anzukämpfen hatten, die viele Menschen veranlassten, auf die Maler und Bildhauer verächtlich hinabzusehen, nur weil sie Handarbeit verrichteten jp ii^/iiS), und wir wissen, wie die Künsder darauf bestehen nrussten, ihre eigentliche Leistung sei nicht Handwerk, sondern geistiger Art, und dass sie daher nicht weniger zur besten Gesellschaft gehörten als Dichter und Gelehrte. Solche Diskussionen veranlassten die bildenden Künsder dazu, die Wichtigkeit der poetischen Erfindung in der Kunst hervorzukehren und die erhabenen Gegenstände, mit denen ihr Geist sich abgab. Sie argumentierten: »Zugegeben, dass es etwas knechtisch sein kann, ein Bildnis oder eine Landschaft nach der Islatur zu malen, indem die Hand nur das kopiert, was das Auge sieht, und doch bedarf es dazu mehr als bloßer Handfertigkeit. Man braucht Wissen und Imagination, um einen Gegenstand wie Renis »Aurora* oder Poussins «üt in Arcadia ego ! zu malen« (Abb. 253, 254,). Wir wissen heute, dass dieses Argument einen Trugschluss enthält. Wir anerkennen den Wert des Handwerks und geben zu, dass es mehr braucht als ein gutes Auge und eine sichere Hand, um ein gutes Porträt oder eine Landschaft zu malen. Doch jede Epoche und jede Gesellschaft hat ihre eigenen Vorurteile in Sachen Kunst und Geschmack, unsere eigene inbegriffen. Der eigentliche Reiz, diesen Ideen nachzugehen, die gescheite Leute in der Vergangenheit für so unumstößlich hielten, liegt darin, dass wir auf diese Weise lernen, auch uns selbst zu prüfen. Reynolds waa: ein Intellektueller, ein Freund von Dr. Johnson und seinem Kreis, doch ebenso willkommen in den eleganten
Landhäusern u n d S t a d t w o h n u n g e n der M ä c h t i g e n u n d Reichen. O b w o h l er a u f r i c h t i g an die Ü b e r l e g e n h e i t der Historienmalerei glaubte u n d an d e r e n W i e d e r a u f l e b e n in England, anerkannte er d o c h die Tatsache, dass die e i n z i g e Art Kunst, die w i r k l i c h in diesen Kreisen verlangt w u r d e , d i e Porträtmalerei war. Van D y c k hatte e i n e n Standard der Gesellschaftsmalerei etabliert, d e n alle m o d e b e w u s s t e n Maler der folgenden G e n e r a t i o n e n z u e r r e i c h e n versuchten. Reynolds k o n n t e ebenso s c h m e i c h e l n d u n d elegant sein w i e die besten v o n i h n e n , aber er w o l l t e s e i n e n Bildern jeweils n o c h etwas g a n z Besonderes mitgeben, u m d e n Charakter u n d die gesellschaftliche Stellung der porträtierten Persönlichkeiten zu kennzeichnen. Abb. 304 z u m Beispiel zeigt e i n e n Intellektuellen aus d e m Kreis Dr. Johnsons, d e n italienischen G e l e h r t e n Baretti, der ein englisch-italienisches W ö r t e r b u c h zusammenstellte u n d R e y n o l d s Discourses ins Italienische übersetzt hat. Es handelt s i c h um einen wirklichkeitstreuen Bericht, i n ti m , o h n e aufdringlich z u sein, u n d überdies u m vortreffliche Malerei. A u c h w e n n e r ein K i n d z u m a l e n hatte, versuchte Reynolds mehr daraus zu m a c h e n als ein bloßes Porträt, i n d e m er sorgfaltig auch die U m g e b i m g auswählte. Abb. 305 zeigt sein >Bildnis v o n Miss Bowles m i t i h r e m Hunde, u n d w i r erinnern uns daran, dass s c h o n Veläzquez das Porträt eines Kindes m i t e i n e m H u n d gemalt hat (Abb. 267). Veläzquez w a r v o r allem an der Textur u n d Farbe dessen interessiert, w a s er sah, w ä h r e n d Reynolds z u d e m die r ü h r e n d e Liebe des kleinen M ä d c h e n s zu s e i n e m Liebling z e i g e n w i l l . Es ist überliefert, w i e viel M ü h e er sich gab, das Vertrauen des Kindes zu g e w i n nen, bevor er ans M a l e n ging. Er w u r d e in die Familie eingeladen u n d saß b e i m Essen n e b e n d e m K in d u n d scherzte u n e n t w e g t m i t i h m , um sein Vertrauen zu g e w i n n e n . Am nächsten Tag ließ sich die k l e i n e Miss B o w l e s g e r n e ins Atelier des Künsders bri ngen, wo er treffsicher die natürliche Pose f r ö h l i c h e r Erwartung skizzierte. Kein Wunder, dass das Ergebnis selbstbewusster u n d durchdachter erscheint, als Veläzquez' höfisches Porträt. Sicher ist Veläzquez der g r ö ß e r e Maler, w i e er etwa das flaumige Fell des H ü n d c h e n s w i e d e r g i b t , ist unerreicht.
Reynolds geschickte Maltechnik erscheint dagegen vielleicht enttäuschend. Aber es wäre nicht fair, Effekte vorn ihm gu erwarten, Schönheit< sei, und ob es genügte, sich an der geschickten Naturnachahmung zu erfreuen, für die Caravaggio, die Holländer oder Maler wie Gainsborough berühmt geworden waren, oder ob nicht vielmehr die wahre Schönheit von der Fähigkeit des Künsders abhänge, die Natur zu >idealisierenIdealisten> stimmen zu, dass
der Künstler die Natur studieren u n d a u c h das Aktzeichnen lernen müsse, w i e a u c h die >Naturalisten< z u g a b e n , die klassischen Werte seien v o n unübertroffener Schönheit. G e g e n Ende des a c h t z e h n t e n Jahrhunderts schien dieser g e m e i n s a m e B o d e n s c h r i t t w e i s e a b z u b r ö c k e l n . Die Neuzeit brach w i r k l i c h an, als die Französische R e v o l u t i o n v o n 1789 so vielen K o n v e n t i o n e n e i n Ende bereitete, di e w ä h r e n d Jahrhunderten, wenn n i c h t Jahrtausenden i h r e Gültigkeit besessen hatten. G e n a u w i e die G r o ß e R e v o l u t i o n i h r e W u r z e l n i m Zeitalter der V e r n u n f t hat, s o gilt das a u c h f ü r die V e r ä n d e r u n g e n der Vorstellung der Menschen ü b e r di e Kunst. D i e erste dieser V e r ä n d e r u n g e n b e t r a f die Haltung d er Künstler z u r Frage des >Stilsrichtigen< Stil f ü r elegantes Bauen garantierten. D o c h sobald m a n T e x t b ü c h e r als G r u n d l a g e solcher Urteile heranzieht, ist es s o g u t w i e u n a u s w e i c h l i c h , dass der e i n e o d e r andere k o m m t u n d sagt: W a r u m m u s s es d e n n gerade der Stil Palladios sein? Genau das g e s c h a h i n England i m Lauf des a c h t z e h n t e n Jahrhunderts. Unter d e n g e l e h r t e n K e n n e r n gab e s einige, d i e sich v o n d e n an d er e n a b h e b e n w o l l t e n . T y p i s c h f ü r diese e n g l i s c h e n G e n t l e m e n , die ihre M u ß e s t u n d e n d a m i t verbrachten, ü b e r Stilfragen u n d Geschmacksr e g e l n n a c h z u d e n k e n , w a r der b e r ü h m t e H o r a c e W a l p o l e , Sohn des e r s t e n e n g l i s c h e n P r e m i e r m i n i s t e r s . W a l p o l e fand, es sei unauss t e h l i c h , w e n n sein Landhaus S t r a w b e r r y H i l l g e n a u s o aussehen
würde w i e i r g e n d e i n e a n d e r e k o r r e k t e p a l l a d i a n i s c h e Villa. Er hatte eine N e i g u n g z u m A u s g e f a l l e n e n u n d R o m a n t i s c h e n u n d galt als ziemlich schrullig. Zu d i e s e r Charakteristik passt s e i n Entschluss, Strawberry H i l l i n g o t i s c h e m Stil e r b a u e n z u lassen w i e e i n Schloss der r o m a n t i s c h e n V e r g a n g e n h e i t (Abb. 311). Zu der Zeit um 1 7 7 0 galt Walpoles g o t i s c h e V i l l a n o c h als die w u n d e r l i c h e L a u n e e i n e s spleenigen Lords, d e r sei n e a n t i q u a r i s c h e n Interessen z u r Schau stellen w i l l . A b e r i m R ü c k b l i c k a u f das, w a s f o l g e n sollte, w a r e s entschieden m e h r , n ä m l i c h das A n z e i c h e n e i n e r t i e f g r e i f e n d e n Veränderung i n der Einstellung des M e n s c h e n z u m Stil. W a l p o l e hatte sich d e n Stil seines Landhauses s o ausgesucht, w i e m a n sich e i n Tapetenmuster aussucht. Es gab v e r s c h i e d e n e A n z e i c h e n dieser n e u e n G e s i n n u n g . W ä h r e n d W a l p o l e d e n g o t i s c h e n Stil f ü r sein Landhaus w ä h l t e , studierte der A r c h i t e k t W i l l i a m C h a m b e r s (1726—1796) d e n c h i n e sischen Stil des Bauens u n d der Gartenkunst u n d baute d a n n seine chinesische P a g o d e in K e w Gardens. Die Mehrheit der A r c h i t e k t e n allerdings h i n g w e i t e r h i n d e n klassischen F o r m e n der Renaissancebaukunst an, aber a u c h sie m a c h t e n sich z u n e h m e n d G e d a n k e n über d e n >richtigen< Stil. Sie betrachteten die Praxis u n d Tradition der Architektur, die sich seit der Renaissance entwickelt hatte, nicht o h n e A r g w o h n u n d f a n d e n heraus, dass viele der g e w ä h l t e n Lösungen sich n i c h t auf d i e Bauwerke des klassischen G r i e c h e n l a n d s berufen könnten. Sie b e m e r k t e n m i t Erschrecken, dass das, w a s m a n seit d e m f ü n f z e h n t e n Jahrhundert f ü r die Regeln der klassischen Architektur hatte d u r c h g e h e n lassen, v o n ein paar r ö m i s c h e n Ruinen einer m e h r o d e r m i n d e r dekadenten Periode abstammte. Jetzt wurden die T e m p e l des p e r i k l e i s c h e n A t h e n v o n eifrigen R e i s e n d e n wiederentdeckt, u n d m a n sah, w i e verschieden sie w a r e n v o n d e n klassischen E n t w ü r f e n , d i e in Palladios Büchern zu finden w a r e n . So w u r d e die Frage des >korrekten< Stils z u m Hauptanliegen. D e m >Gothic Revival< eines W a l p o l e antwortete ein >Greek RevivalRegency Period< v o n
1 8 1 0 - 1 8 2 0 erlebte. Zu jener Zeit florierten e i n i g e der f ü h r e n d e n Badeorte Englands besonders, u n d in d i e s e n Städten k a n n m a n noch heute die F o r m e n des Greek Revival am besten studieren. Abb. 312 z e i g t e i n H a us i m Badeort C h e l t e n h a m , das i m r e i n i o n i s c h e n Stil g r i e c h i s c h e r T e m p e l (Abb. 60) a n g e l e g t ist. Abb. 315 ist e i n Beispiel der W i e d e r b e l e b u n g der d o r i s c h e n O r d n u n g i n j e n e r Fo r m , die wir u r s p r ü n g l i c h v o m P a r t h e n o n k e n n e n (Abb. 50). Es handelt sich um d e n E n t w u r f e i n e r Villa v o n d e m b e r ü h m t e n A r c h i t e k t e n Sir John S o a n e (17^2—1837)» D e r Vergleich m i t der p a l l a d i a n i s c h e n Villa des W i l l i a m Kent, d i e r u n d 80 Jahre f r ü h e r entstand (Abb. 301), zeigt b e i aller o b e r f l ä c h l i c h e n Ä h n l i c h k e i t m e r k l i c h e Unterschiede. Kent v e r w a n d t e die z u f i n d e n d e n traditionellen F o r m e n f r e i z u r K o m p o sition seines Bauwerks, Soanes Projekt d a g e g e n w i r k t w i e e i n Muster f ü r d e n k o r r e k t e n G e b r a u c h der Elemente des g r i e c h i s c h e n Stils. Eine derartige K o n z e p t i o n v o n Architektur als B e f o l g u n g strikter u n d schlichter Regeln musste d e n V o r k ä m p f e r n der Vernunft zusagen, deren M a c h t u n d Einfluss allenthalben w e i t e r z u n a h m . So überrascht es nicht, dass ein M a n n w i e T h o m a s Jefferson (1743— 1826), einer der B e g r ü n d e r der Vereinigten Staaten u n d deren dritter Präsident, seinen e i g e n e n W o h n s i t z in M o n t i c e l l o in d i e s e m klaren neoklassischen Stil e n t w a r f (Abb. 314) , w i e a u c h d i e Stadt Washington, m i t ih r e n ö f f e n t l i c h e n Gebäuden , in d e n neoklassischen F o r m e n des >Greek Revival< geplant w u r d e . A u c h in Frankreich setzte sich nach d e r Französischen Revolution dieser, Stil d u r c h . D i e alte >frivole< Tradit i o n der Baumeister u n d Dekorateure des Barock u n d R o k o k o w u r d e m i t j e n e r Vergangenheit identifiziert, die m a n gerade h i n w e g g e f e g t hatte, der Stil der Schlösser des Königs u n d des Adels. D i e Männer der R e v o l u t i o n w o l l t e n sich als freie Bürger eines w i e d e r g e b o r e n e n Athen e m p f i n d e n . Als N a p o l e o n in der Pose des K ä m p f e r s f ü r die Ideen der R e v o l u t i o n i n Europa z u r M a c h t aufstieg, w u r d e der neoklassische Stil z u r A r c h i t e k t u r des Empire. A u f d e m Kontinent g a b es ebenso ein n e o g o t i s c h e s E r w a c h e n , Seite an Seite m i t der W i e d e r b e l e b u n g des r e i n e n g r i e c h i s c h e n Stils. Das entsprach v o r allem j e n e n romantischen
Gemütern, die am V e r m ö g e n der Vernunft zur N e u o r d n u n g der Welt zweifelten u n d sich n a c h einer Rückkehr z u m sogenannten Zeitalter des Glaubens sehnten. In der Malerei u n d Bildhauerei w a r der B r u c h m i t d e m Hergekommenen vielleicht n i c h t ganz so deutlich w i e in der Bildkunst, aber auf d i e Dauer n o c h folgenschwerer. A u c h hier r e i c h e n die Anfänge der Stilunsicherheit w e i t ins achtzehnte Jahrhundert z u r ü c k . Wir erinnern uns, w i e u n b e f r i e d i g t etwa Hogarth v o n d e n Ü b e r l i e ferungen der Kunst war, die er vorfand (S. 350), u n d w i e b e w u s s t er danach strebte, eine g a n z n e u e Art Malerei f ü r ein neues P u b l i k u m zu schaffen. W i r erinnern uns andererseits, w i e ängstlich z u m Beispiel Reynolds besorgt war, die Tradition zu hüten, als fühlte er, dass sie gefährdet sei. Die G e f a h r d u n g lag gerade in d e m U m s t a n d , dass wie gesagt die Malerei a u f g e h ö r t hatte, ein gewöhnliches H a n d w e r k zu sein, in d e m der Meister d e m Lehrling sein Können u n d seine Kunstgriffe überlieferte. Stattdessen war sie zu einem Studium w i e Philosophie g e w o r d e n , das an Akademien betrieben w u r d e . S c h o n das Wort >Akademie< offenbart diese neue Haltung. Es leitet sich her vom Namen des Hains, wo der griechische Philosoph Plato seine Schüler unterrichtete, u n d w u r d e allmählich auf die Versammlungen gelehrter Männer auf der Suche nach Weisheit übertragen. Die italienischen Künsder des sechzehnten Jahrhunderts nannten zuerst ihre Versammlungsorte >AkademienEindruck zu schindem. Kein Wunder, dass manche echten Künstler die >offizielle< Kunst der Akademien zu verachten begannen und dass der Streit der Meinungen zwischen denen, deren Talent dem Geschmack des Publikums zusagte, und denen, die sich abgewiesen fühlten, den gemeinsamen Boden zu vernichten drohte, auf dem sich bisher alle Kunst entwickelt hatte. Vielleicht der unmittelbarste und offensichtlichste Effekt dieser tiefen Krise war es, dass die Künstler nun allenthalben nach
neuen T h e m e n A u s s c h a u hielten. W e n n w i r d u r c h unsere M u s e e n u n d Bildergalerien g e h e n , b e m e r k e n w i r bald, w i e viele Bilder dasselbe darstellen. D i e M e h r z a h l d er älteren Bilder g i b t natürlich Szenen aus der Bibel u n d d er H e i l i g e n l e g e n d e w i e d e r . A b e r sogar die w e l t l i c h e n Bilder b e sc h r ä n k e n s i c h in der R e g e l a u f e i n i g e w e n i g e T h e m e n . D a sieht m a n i m m e r w i e d e r di e antiken Göttersagen m i t ihren G e s c h i c h ten v o n d e n L i e b s c h a f t e n des Zeus, die b e r ü h m t e n Beispiele v o n Römertugend u n d H e l d e n m u t aus der alten Geschichte u n d sch li eßlich die a l l e g o r i s c h e n Bilder, d ie i r g e n d e i n e Moral v e r k ö r p e r n w o l l e n . Es ist erstaunlich, w i e selten Maler v o r der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts diese e n g e n T h e m e n k r e i s e verließen, w i e selten es i h n e n einfiel, e t w a e i n e Szene aus e i n e m R o m a n oder e i n en Vorfall aus der mittelalterlichen o d e r z e i tg e n ös s i s c h en Geschichte zu malen. All das änderte sich sehr rasch im Zeitalter der Französischen Revolution. Plötzlich f ü h l t e n sich d ie Künsder berechtigt, jeden Gegenstand zu malen, a n g e f a n g e n v o n einer Szene aus Shakespeare oder Dante bis zu e i n e m aktuellen Ereignis, das heißt alles, w a s an das G e f ü h l appellierte u n d das P u b l i k u m interessieren konnte. Dieses A b w e i c h e n von den h e r k ö m m l i c h e n Sujets w a r vielleicht das Einzige, w a s die erfolgreichen K ü n s d e r jener Zeit m i t d e n rebellischen Einzelgängern gemeinsam hatten. Es ist k a u m e i n Zufall, dass dieser B r u c h m i t d e m k ü n s d e rischen Ü b e r l i e f e r u n g e n Europas zuerst v o n Künsdern v o l l z o g e n wurde, die selbst n i c h t in Europa a u f g e w a c h s e n w a r e n — v o n A m e r i kanern, die in E n g l a n d arbeiteten. Diese Künsder fühlten sich b e g r e i f licherweise w e n i g e r an die Ü b e r l i e f e r i m g der Alten Welt g e b u n d e n und w a r e n e h e r z u m E x p e r i m e n t i e r e n bereit. Der A m e r i k a n e r John Singleton C o p l e y (1737—1815") ist einer v o n ihnen. Abb. 31 s z e i g t eines seiner g r o ß e n Bilder, das z u r Sensation w u r d e , als er es im Jahre 178^ ausstellte. D e r G e g e n s t a n d w a r w i r k l i c h u n g e w ö h n l i c h ; C o p l e y hatte ihn a u c h n i c h t e r f u n d e n . Er verdankte die A n r e g u n g d e m Gelehrten M a l o n e , e i n e m F r e u n d des Politikers E d m u n d Burke, der ihm die g e s c h i c h t l i c h e n Tatsachen erklärte. Es handelte sich um
die historische Szene im englischen Unterhaus, als der Stuartkönig Karl I. die Verhaftung v o n f ü n f Parlamentsmitgliedern verlangte und der Vorsitzende ihre Auslieferung verweigerte. Ein derartiges Ereignis aus der jüngeren Vergangenheit w a r w o h l k a u m je vorher z u m Gegenstand eines gr oß en Gemäldes g em a c ht w o r d e n , u n d auch die Mittel der Darstellung w a r e n durchaus u n g e w ö h n l i c h . Copleys Ehrgeiz ging dahin, den Vorfall so zu rekonstruieren, w i e er sich einem A u g e n z e u g e n tatsächlich geboten hätte. Er scheute keine Mühe, um die geschichtlichen Tatsachen ausfindig zu machen. Er befragte Sachverständige über die Anlage des Unterhauses im siebzehnten Jahrhundert u n d über die damalige Kleidung; er reiste v o n einem Landhaus z u m anderen, um die authentischen Bildnisse v o n m ö g lichst vielen Parlamentsmitgliedern der Zeit zu sammeln. Kurz, er tat alles, was heute ein gewissenhafter Regisseur tun w ü r d e , wenn er die Aufgabe hätte, einen historischen Film zu drehen. Mag sein, dass uns das Ergebnis dieser M ü h e nicht überzeugt. Aber Tatsache ist, dass ein ganzes Jahrhundert nach Copley viele, darunter auch bedeutende, Künsder ihre Aufgabe in eben dieser Art historischer Forschung sahen, die das Publikum in den Stand setzen sollte, sich die entscheidenden Ereignisse der Vergangenheit in allen Einzelheiten z u vergegenwärtigen. Im Falle Copleys w a r dieser Versuch, den dramatischen Zusammenstoß des englischen Königs m i t d e m Volksvertretern im Bild zu beschwören, sicherlich nicht einfach aus d e m W u n s c h geboren, ein behebiges Stück Vergangenheit lebendig zu m achen. Es war k a u m z w e i Jahre her, seit Georg III. v o n England g e z w u n g e n wurde, di e Grenzen der königlichen Macht anzuerkennen u n d m i t den neu g e g r ü n d e t e n Vereinigten Staaten Frieden zu schließen. A u c h sonst verdächtigte m a n vielfach den König absolutistischer N e i g u n g e n , u n d die Freunde Copleys, die die Anregung zu diesem Bilde gaben, w a r e n die eifrigsten Verfechter der Rechte des Parlaments; jederm a n n verstand d e n n auch, w a r u m Copley gerade damals den Sieg des Parlaments über den absolutistischen König malte. Es heißt, dass
die e n g l i s c h e K o n i g i n s i c h b e t r o f f e n v o n d e m Bilde abwandte u n d nach l a n g e m , p e i n l i c h e m S c h w e i g e n z u d e m j u n g e n amerikanischen Künstler sagte: >Herr Copley, Sie h a b e n ein h ö c h s t u n gl üc k l i ch es Thema f ü r d i e B e t ä t i g u n g Ihres Pinsels g e w ä h l t e Dabei konnte sie gar nicht w i s s e n , w i e u n g l ü c k s e l i g sich d ie Erinnerung a n diesen Vorfall n o c h e r w e i s e n sollte. W e r d i e G e s c h i c h t e jener Zeit i m K o p f hat, w e i ß , dass s i c h n u r v i er Jahre später b e i n a h e die gleiche Szene in Frankreich abspielte. D i e s m a l w a r es Mirabeau, der d e m K ö n i g das R echt a b s p r a c h , s i c h an d e n Privilegien der Volksvertreter zu vergreifen, u n d d e r d a m i t das Signal zur Französischen Revolution des Jahres 1789 gab. D i e F r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n selbst gab dieser Art v o n historischem Interesse u n d der Malerei heroischer Gegenstände einen u n g e h e u r e n Auftrieb. C o p l e y hatte sich in der Geschichte Englands nach Beispielen u m g e s e h e n . Seine historischen Bilder hatten einen romantischen Z u g , d e n m a n m i t der W i e d e r b e l e b u n g der Gotik i n der Architektin: v e r g l e i c h e n kann. D i e Vorkämpfer der Französischen Revolution h e b t e n es, sich als die n e u e n Griechen u n d Römer zu sehen, u n d i h r e Malerei g e n a u s o w i e ihre Architektur spiegelte diesen Enthusiasmus w i d e r . D e r f ü h r e n d e Künsder dieses neoklassischen Stils w a r der Maler Jacques-Louis David (1748—1825), der der >offizielle< Künsder der revolutionären R e g i e r u n g w a r un d die Kostüme und Dek oration en f ü r i h r e Propaganda-Aufzüge, w i e z u m Beispiel das >Fest des H ö c h s t e n s WesensVolksfreundes< - w i e Marat sich g e r n e nannte
der das Schicksal des Märtyrers erlitt, w ä h r e n d er f ü r das
V o l k s w o h l tätig war. Unter d e n Künsüern der g l e i c h e n Generation w i e David, d i e die h e r k ö m m l i c h e n T h e m e n der Malerei v e r w a r f e n , w a r auch der g r o ß e spanische Maler Francisco Goya ( 1 7 4 6 - 1 8 2 8 ) . G o y a war zutiefst in der besten Tradition der spanischen Malerei verwurzelt, d i e e i n e n El Greco (Abb. 238) u n d einen Veläzquez (Abb. 264) hervorgebracht hatte. Goyas G r u p p e auf e i n e m Balkon (Abb. 317) zeigt, dass er im Gegensatz zu David nicht a u f die l e u c h t e n d e n Farben seiner klassischen Vorgänger verzichtete. Der g r o ß e venezianische Maler des achtzehnten Jahrhunderts, Giovanni Battista T i e p o l o (Abb. 288), hatte seine Tage als H o f m a l e r in Ma drid beschlossen, u n d etwas v o n seiner Strahlkraft ist in Goyas Malerei w i e d e r z u f i n d e n . U n d d o c h g e h ö r e n Goyas Gestalten einer anderen Welt an. D i e z w e i Frauen, d i e d e n V o r ü b e r g e h e n d e n herausfordernd ansehen, w ä h r e n d sich die b e i d e n z i e m l i c h finsteren Galane im Hin tergrun d halten, stehen der W e l t eines H o g a r t h näher. A u f d e n ersten Blick sehen Goyas Bildnisse (Abb. 318), d i e i h m eine geachtete Stellung am spanischen H o f einb r a c h t e n , d e n Repräsentationsbildern des van D y c k (Abb. 2 61) oder d e s V e l ä z q u e z ähnlich. A b e r nur auf d e n ersten Blick, d e n n sobald w i r d i e s e n G r a n d e n g e n a u e r ins Gesicht sehen, k ö n n e n w i r uns des G e f ü h l s n i c h t e r w e h r e n , dass G o y a ihre anspruchsvolle Eleganz verachtet. Er m a ß diese D a m e n u n d H e r r e n m i t e r b a r m u n g s l o s e m Blick
und enthüllte ihre ganze Eitelkeit und Gemeinheit, ihre Brutdlitit und innere Leere (Abb. 319). Nie hatte ein Hofmaler »einen Auftraggeber ein solches Zeugnis ausgestellt. Goya machte seine Unabhängigkeit von den Knnvi'in Jonen der Vergangenheit nicht nur als Porträtmaler gellend, Wie Kembrandi vor ihm war auch er als Graphiker tätig, und zwar speziallsieru* er sieh hauptsächlich in einer neuen Technik, Aquatlnta genannt, nnt der man sieht nur Linien, sondern auch verschiedene getönte Fliehen ätzen kann. Das Bemerkenswerteste an Goyas Blättern ist die Tat),acJ)Europa, e i n e P r o p h e z e i u n g ^ Es heißt, dass Blake diese u n h e i m l i c h e Gestalt eines alten Mannes, der sich h i n u n t e r b e u g t , u m die Erdkugel m i t e i n e m Zirkel z u m e s s e n , i n einer V i s i o n geschaut hat, die er a u f der Stiege seines Hauses s c h w e b e n sah. Es gibt eine Stelle im Alten Testament (Sprüche 8 , 2 2 - 2 7 ) , in der die Weisheit spricht:
>Der Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege; ehe er was machte, war ich d a . . . ehe denn die Berge eingesenkt waren vor den Hügeln, war ich bereit... da er die Himmel bereitete, war ich daselbst; da er die Tiefen mit seinem Ziel verfassete. Da er die Wolken droben festete, da er befestigte die Brunnen der Tiefe. < D i e s e großartige Vision v o n Gott, der die T i e f en m i t s ei ne m >Ziel< (das heißt m i t seinem Zirkel)[feverfassete< o d e r a b m a ß , veranschaul i c h t Blake hier. Etwas v o n Michelangelos Gottvater (Abb. 200) lebt in d i e s e m Bild des Schöpfungsaktes, u n d Blake w a r a u c h w i r k l i c h ein g r o ß e r B e w u n d e r e r Michelangelos. A b e r unter seinen H ä n d e n ist die Gestalt traumhaft u n d fantastisch g e w o r d e n . Blake hatte sich eine e i g e n e M y t h o l o g i e zurechtgelegt, u n d die Gestalt, die er schaute, war streng g e n o m m e n gar nicht Gottvater, sondern ein Fantasieprodukt, das er >Urizen< nannte. Diesen U r i z e n hielt Blake z w a r f ü r d e n Schöpfer der Welt, aber w e i l er d i e S c h ö p f u n g f ü r b ö s e hielt, so galt er ihm als b ö s e r D ä m o n . Das erst erklärt die düstere, gewitterhafte Stimmung d e r Illustration, in der der Zirkel, m i t d e m U r i z e n die Tiefen misst, w i e e i n Blitz i n einer finsteren u n d stürmischen Na ch t wirkt.
Blake lebte so v ö l l i g in seiner Fantasiewelt, dass er es ablehnte, nach der Natur zu z e i c h n e n , u n d s i c h v o l l k o m m e n a u f sein geistiges Auge verließ. Es ist l e i c h t , i h m Z e i c h e n f e h l e r n a c h z u w e i s e n , aber das trifft k a u m das W e s e n seiner Kunst. So w i e einst die mittelalterlichen Künstler k ü m m e r t e a u c h er sich n i c h t um die Korrektheit der Darstellung, w e i l d i e B e d e u t u n g jeder seiner Traumgestalten f ü r i h n v o n so brennender W i c h t i g k e i t war, dass i h m Fragen b l o ß e r Genauigkeit ganz nebens ächl ich v o r k a m e n . Er w a r der erste Künstler seit der Renaissance, der sich in dieser Hin sicht b e w u s s t g e g e n die weitverbreiteten Werturteile auflehnte, u n d so k ö n n e n w i r es seinen Z e i t g e nossen k a u m ü b e l n e h m e n , dass sie n i c h t recht w u s s t e n , w o r a u f er hinauswollte. War es d o c h n o c h fast ein Jahrhundert vor der Zeit, in der er allgemein als eine der bedeutendsten Gestalten der en gli schen Kunst anerkannt w u r d e . Besonders e i n Z w e i g der Malerei profitierte v o n der n e u e n Freiheit des Künsders b e i der W ahl seines Bildgegenstandes, n ä m l i c h die Landschaftsmalerei. Bisher hatte m a n a u f sie als einen N e b e n zweig der Kunst herabgesehen, u n d d i e j e n i g e n Maler, die ihren Lebensunterhalt verdienten, i n d e m sie Veduten v o n Landsitzen, Parks oder malerischen Szenerien malten, w u r d e n nicht als vollwertige Künstler angesehen. Diese Ha lt un g änderte sich etwas d u r c h d e n romantischen Geist des späten achtzehnten Jahrhunderts, u n d g r o ß e Künstler sahen es n u n als eine Lebensaufgabe an, dieser Gattung v o n Malerei eine n e u e W ü r d e zu verleihen. A u c h hier konnte die Tradition sich sowohl als Hilfe w i e als Hindernis auswirken, u n d so ist es faszinierend z u sehen, w i e unterschiedlich z w e i englische Landschaftsmaler derselben Generation sich m i t dieser A u f g a b e auseinandersetzten: l M . W Turner
(1775—1851)
u n d John Constable ( 1 7 7 6 - 1 8 3 7 ) . Der
Gegensatz, der die b e i d e n trennte, lässt sich w ei t in der Geschichte der englischen Malerei, ja der Malerei Europas zurückverfolgen. Man *nag an den Gegensatz z w i s c h e n Reynolds u n d Gainsborough denken, doch in d e n 50 Jahren, d i e b e i d e Generationen trennen, hatte sich der m e t h o d i s c h e U n t e r s c h i e d der Rivalen erheblich vergrößert.
William Turner war, so wie einst Reynolds, ein ungeheuer erfolgrei eher Künsder, dessen Bilder in den Ausstellungen der Akademie in London oft Aufsehen erregten. Wie Reynolds war auch er geradezu besessen von dem Problem der Tradition. Der Ehrgeiz seines Lebens war, es Claude Lorrain (Abb. $55) gleichzutun oder ihn sogar zu übertreffen. Als er seine Bilder und Entwürfe den englischen Staat hinterließ, tat er das unter der ausdrücklichen Bedingung, dass eines seiner Gemälde, Abb. 322, neben einem Werk des Claude Lorrana ausgestellt werden müsse. Freilich fragt es sich, ob Turner gut daran tat, diesen Vergleich herauszufordern. Die Schönheit von Claude Lorrains Bildern hegt in ihrer tingetrübten Stille und Schlichtheit, in der Greifbarkeit seiner Traumwelt und in seinem Verzicht auf Effekte. Auch Turner träumte von einer fkntastäschen, von Licht und Schönheit strahlenden Welt, aber es war keine Welt der Ruhe, sondern der Bewegung, keine Welt? schhchter~Harmonien, sondern rauschende: Pracht. La seinen Bildern drängte er alles zusammen, was sie eindrucksvoller und dramatischer gestalten konnte, und wäre er ein weniger bedeutender Künsder gewesen, s© häfitte diese Jagd nach dem Effekt leicht katastrophale Folgen haben können. AberTurner war ein so ausgezeichneter Regisseur^ er arbeitete mit s© viel Verve und Virtuosität, dass er 9ch das alles leisten konnte; denn seine besten Bilder lassen uns wirklich etwas von der romantischen Erhabenheit der Natur ahnen. Afefe. 525 zeigt eines der kühnsten Bilder Turners — einen Dampfer in enagrat Sehneesturn. Man braucht nur diesen Farbenwirbel etwas mit de Fliegers Seestück (Abb. 2fr')' zu vergleichen, um einen Maßstab für Turners Kühnheit zu gewinnen. Der niederländische Künstler des siebzehnten Jahrhunderts malte nicht nur, was er auf einen Blick sehen konnte, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Dinge, von deren Vorhandensein er wusste. Er wusste, wie ein Schiff gebaut und getakelt ist, und wir können sogar nach seinen Bildern ein Modell eines Segelschiffes konstruieren. Niemand könnte nach Turners Seestöck«» Dampfschiff der Zeit rekonstruieren. Er gibt uns gerade nur den landruck des dunklen Schiffskörpers und der Flagge, die vom Signabos6*
f l a t t e r t , d e n E i n d r u c k e i n e s K a m p f e s m i t d e n E l e m e n t e n . M a n glaubt, das Brausen d e s W i n d e s u n d das T o b e n d e r W e l l e n z u s p ü r e n . N a c h Einzelheiten A u s s c h a u z u h a l t e n , h a t m a n k e i n e Zeit. Sie s i n d v o m grellen L i c h t s c h e i n v e r s c h l u c k t u n d v o n d e n s c h w a r z e n Schatten der Wetterwolke a u s g e l ö s c h t . I c h w e i ß n i c h t , o b T u r n er j e e i n e n s o l c h e n Sturm g e s e h e n h a t , n i c h t e i n m a l , o b e i n U n w e t t e r a u f h o h e r See wirklich s o a u s s i e h t . A b e r i c h w e i ß , dass m a n s i c h e i n e n S t u r m gerad e s o vorstellt, w i e i h n T u r n e r m a l t e . B e i T u r n e r ist d i e N a t u r i m m e r Widerschein u n d Ausdruck menschlicher Gefühle; W i r fühlen uns angesichts v o n M ä c h t e n , d i e w i r n i c h t k o n t r o l l i e r e n k ö n n e n , k l e i n und ü b e r w ä l t i g t u n d s t e h e n b e w u n d e r n d v o r d e m Künstler, d e r d i e Naturkräfte z u b e h e r r s c h e n s c h e i n t .
Constable hatte ganz andere Absichten. Die Tradition der Vergangenheit, mit der Turner wetteifern wollte, war ihm vor allem lästig. Er wollte neu beginnen und einfach malen, was er mit eigenen Augen sah — und nicht mit denen des Claude Lorrain. Die Modemaler, die immer noch Claude Lorrain zum Vorbild nahmen, bedienten sich einer Reihe von Kunstkniffen, mit deren Hilfe jeder Dilettant ein gefalliges Landschaftsbild komponieren konnte. Sie stellten in den Vordergrund einen malerischen Baum mit breiter Krone, dessen dunkle Silhouette einen wirkungsvollen Kontrast zu dem Fernblick abgab, der sich in der Mitte auftat. Auch die Farbenskala war von vornherein festgelegt. Für den Vordergrund sollte man vor allem warme Farben, das heißt braune und goldene Töne, verwenden, während der Hintergrund in der kühlen, blauen Ferne verschwamm. Es gab einfache Rezepte, wie man Wolken malen konnte, und leicht lehrbare Tricks für das Malen knorriger Eichenstämme. Constable verachtete diesen Leerlauf. Man erzählt sich, dass ein Freund ihm vorwarf, er habe einem seiner Vordergründe nicht den vorschriftsmäßigen warmen Ton einer alten Geige gegeben, worauf Constable eine Geige nahm und sie vor sich aufs Gras legte, um seinem Freund den Unterschied zwischen dem frischen Grün, das wir sehen, und dem Goldton der Rezepte vorzuführen. Dabei war es gar nicht Constables
Absicht, das P u b l i k u m vor d e n K o p f zu stoßen. Er w o l l t e sich und andern nichts v o r m a c h e n . Er g i n g ins .Freie*- um nach der Natur zu skizzieren, u n d arbeitete d a n n seine Skizzen im Atelier aus. Diese u r s p r ü n g l i c h e n Skizzen (Abb. 324) w i r k e n o f t n o c h kühner als seine ausgeführten Bilder, d e n n die Zeit w a r n o c h nicht g e k o m m e n , in der die Öffentlichkeit die b l o ß e Niederschrift des Augenblickeindrucks als ausstellungsreif ansah. A b e r selbst seine ausgeführten Bilder erregten Aufsehen, als sie zuerst ausgestellt w u r d e n . Abb. 325 zeigt das Bild, das Constable in Paris b e r ü h m t machte, als es dort im Jahre 1824 ausgestellt w u r d e . Es gibt eine einfache ländliche Szene wieder, einen H e u w a g e n , der eine Furt passiert. M a n muss sich in so ein Bild versenken. M a n muss das Sonnenlicht auf den W i e s e n im Hintergrund e m p f i n d e n u n d das Ziehen der W o l k e n am H i m m e l ; m a n muss den W i n d u n g e n des Baches n a c h g e h e n u n d bei der M ü h l e verweilen, di e m i t so anspruchsloser Schlichtheit gemalt ist, um die unbedingte künstlerische Aufrichtigkeit zu verstehen, den Verzicht des Künsders, effektvoller zu sein als die Natur, u n d das Fehlen jeglicher Pose. Der B r u c h in der Tradition hatte den Künsdern eigentlich nur z w e i Möglichkeiten gelassen, die d u r c h Turner u n d Constable verkörpert waren. Entweder konnten sie malende Dichter w e r d e n oder sich g a n z der Aufgabe w i d m e n , ein Stück sichtbare Welt wiederzugeben. Gewiss gab es gr o ß e Künsder unter den romantischen Malern Europas, Männer w i e Turners Zeitgenossen, den Deutschen Caspar David Friedrich ( 1 7 7 4 - 1 8 4 0 ) , dessen Landschaftsbilder die Stimmimg der r o m a n t i s c h e n Dichtung der Zeit wiedergeben, die uns aus Schuberts Liedern vertraut ist. Sein Gemälde einer einsamen Gebirgslandschaft (Abb. 326) m a g uns an den Geist chinesischer Landschaftsbilder g e m a h n e n (Abb. 98), der ebenfalls den Ideen der Dichtkunst so nahe k o m m t . A b e r auf die Dauer konnte die Malerei nicht v o m literar i s c h e n Reiz leben. Ich m e i n e , dass die Maler, die Constables Weg e i n s c h l u g e n u n d sich gan z der Erforschung der Welt des Sichtbaren h i n g a b e n , statt lyrische S t i m m u n g e n zu b e s c h w ö r e n , etwas schufen, das letztlich viel w i c h t i g e r sein sollte.
Revolution in Permanenz Das 19. Jahrhundert
Das A b r e i ß e n der Tradition z u r Zeit der Französischen Revolution musste di e Lage des Künstlers u n d der Kunst v o n G r u n d auf ändern. Das A k a d e m i e n - u n d A u s s t e l l u n g s w e s e n , die Kunstkenner und Kunstkritiker hatten es d a h i n gebracht, dass sich e i n e K l u f t z w i s c h e n d e n s o g e n a n n t e n >schönen Künsten< u n d d e m H a n d w e r k aufgetan hatte. Bald w a r die althergebrachte h a n d w e r k l i c h e G r u n d lage der M a l e r e i u n d B au ku nst auch n o c h v o n einer anderen Seite gefährdet: m i t der i n d u s t r i e l l e n Revolution w u r d e n H a n d w e r k s traditionen vernichtet, u n d statt der g e d i e g e n e n Werkstattarbeit kam Fabrikware. A m stärksten m a c h t e sich dieser U m s c h w u n g i n der Baukunst b e m e r k b a r . Das Aussterben h a n d w e r k l i c h e n K ö n n e n s u n d der Nachdruck a u f B e g r i f f e w i e >Stil< u n d >Schönheit< richteten die Baukunst b e i n a h e z u g r u n d e . W a s i m n e u n z e h n t e n Jahrhundert gebaut w u r d e , ü b e r t r a f an Masse w a h r s c h e i n l i c h die Bauten aller f r ü h e r e n Zeiten z u s a m m e n . Es w a r ja di e Periode des u n g e h e u r e n W a c h s tums der Städte in Europa u n d A m e r i k a , in der g a n z e Landstriche verbaut w u r d e n . A b e r diese Zeit einer h e m m u n g s l o s e n Bautätigkeit hatte k e i n e n e i g e n e n g e w a c h s e n e n Stil. Der H a n d w e r k s b r a u c h und die Vorlagenbücher, die bis z u r Zeit des Klassizismus so gute Dienste getan hatten, s c h i e n e n d e n Leuten zu simpel. D e n n die Fabrikanten o d e r G e m e i n d e r ä t e , die e i n e n n e u e n Bahnhof, eine neue Fabrik, e i n e Schule o d e r e i n M u s e u m bauen wollten, w o l l t e n f ü r i h r G e l d auch >Kunst< b e k o m m e n . N a c h d e m die praktischen Fragen h a l b w e g s gelöst w a r e n , musste der Architekt d e m Gebäude eine Fassade im g o t i s c h e n Stil vorlegen oder es als r o m a n i s c h e Burg, als Renaissancepalast o d e r gar als M o s c h e e verkleiden. Es gab gewisse K o n v e n t i o n e n , aber sie m a c h t e n die Sache nicht v iel besser. So w u r d e f ü r K i r c h e n m i t Vorliebe der gotische Stil g e w ä h l t , w e i l das Mittelalter d o c h e i n e Blütezeit der Religion g e w e s e n war. Der theatralische Barockstil galt als besonders geeignet f ü r Theater u n d Opernhäuser, w ä h r e n d sich Schlösser u n d Ministerien a m w ü r d i g s ten in den F o r m e n der italienischen Renaissance ausnahmen.
Natürlich wäre es ungerecht zu sagen, dass im neunzehnten Jahrhundert keine begabten Architekten existierten. Sie existierten aber die Situation, in der sich ihre Kunst befand, machte ihnen ihre Aufgabe besonders schwer. Je gewissenhafter sie versuchten, die alten Stile nachzuahmen, desto weniger eigneten sich ihre Entwürfe für den praktischen Zweck, für den sie bestimmt waren. Auch ein stilreiner romanischer Bahnhof ist ein Monstrum. Aber wenn sie gegen die Gesetze des alten Stils, den sie anzuwenden hatten, verstießen, so war das Resultat vielleicht noch ärger. Trotzdem gab es Architekten im neunzehnten Jahrhundert, denen es gelang, diese beiden Klippen zu umschiffen und Bauten zu errichten, die weder pedantisch altertümelnde Anachronismen noch stillose Ausgeburten der Fantasie waren. Ihre Gebäude wurden zu Wahrzeichen der Städte, in denen sie stehen, und man könnte sie sich kaum aus dem Stadtbild wegdenken. Das gilt z. B. für das Londoner Parlament (Abb. 327). Seine Baugeschichte ist charakteristisch für die Schwierigkeiten, mit denen die Architekten jener Zeit zu kämpfen hatten. Als das alte Parlamentsgebäude im Jahre 1834 abbrannte, wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, und die Wahl fiel auf den Entwurf des Sir Charles Barry (1795-1860), der sich auf den Renaissancestil spezialisiert hatte. Man fand jedoch, dass Englands bürgerliche Freiheiten in das Mittelalter zurückreichten und dass es darum nicht anginge, das Heiligtum der englischen Freiheit in einem anderen als dem gotischen Stil zu errichten — ein Standpunkt, der übrigens ganz allgemein geteilt wurde, als man über den Wiederaufbau des Gebäudes nach seiner Zerstörung im letzten Krieg durch deutsche Bomben debattierte. So musste Barry einen Spezialisten in gotischen Details, A. W. N. Pugin (1812-185*2), heranziehen, den Sohn der bedeutendsten Vorkämpfer der Neugotik. Die Zusammenarbeit ging ungefähr so vor sich, dass es Barry überlassen war, die Umrisse und Gruppierung festzulegen, während sich Pugin mit der Ausschmückung der Fassade und der Innenräume beschäftigte. Heute würde uns eine solche Arbeitsteilung
kaum zusagen, u n d d o c h w a r das Endresultat g a n z erträglich. Von Weitem z e i c h n e t sich d i e Silhouette Barrys i m L o n d o n e r D u n s t recht stattlich ab, u n d v o n der N ä h e w i r k t das go ti sc h e Detail n o c h romantisch u n d s t i m m u n g s v o l l . In der M a l e r e i u n d Plastik spielt der Stil keine so a u f d r i n g liche Rolle w i e i n der A r c h i t e k t u r , u n d s o k ö n n t e m a n vielleicht meinen, dass das A b r e i ß e n der Tradition diese Künste w e n i g e r traf; aber das w a r n i c h t der Fall. A u c h f r ü h e r gab es g e n u g Sorgen im Leben des Künstlers, aber eines k o n n t e m a n der >guten alten Zeit< n a c h s a g e n - d a m a l s musste sich k e i n Maler o d er Bildhauer die Frage stellen, w o z u er ü b e r h a u p t da sei. Er w u s s t e gen a us o gut, w a s v o n i h m e r w a r t e t w u r d e , w i e jeder andere arbeitende Mensch. Es gab i m m e r Altarbilder o d e r Porträts zu m a l en ; die Leute w o l l t e n G e m ä l d e f ü r i h r e g u t e n Stuben, o de r sie bestellten Wandbilder f ü r i h r Landhaus. Es lag b e i i h m , ob er diese A u f t r ä g e i n m e h r o d e r w e n i g e r hergebrachter W e i s e a u s f ü h r e n wol lte. Er lieferte d i e W a r e , d i e sein A u f t r a g g e b e r erwartete. Natürlich konnte er m i t t e l m ä ß i g e Arbeit leisten o d e r auch so Hervorragendes schaffen, dass der u r s p r ü n g l i c h e A u f t r a g b l o ß z u m Anlass f ü r e i n j
großartiges M e i s t e r w e r k w u r d e . A b e r seine Stellung im Leben w a r doch m e h r o d e r w e n i g e r festgegelegt. Gerade dieses G e f ü h l , e i n e n angestammten Platz in der Gesellschaft zu haben, g i n g n u n d e n
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Künstlern im n e u n z e h n t e n Jahrhundert verloren. Das A b r e i ß e n der Tradition befreite sie v o n allen B i n d u n g e n u n d gab i h n e n u n b e schränkte M ö g l i c h k e i t e n . I h n e n allein w a r es überlassen, ob sie lieber Landschaften o d e r Szenen aus der Geschichte m a l e n wollten, ob sie ihre T h e m e n aus G o e t h e s W e r k e n o d e r der Antike n e h m e n
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wollten u n d ob sie sich der v o r n e h m zurückhaltenden Richtung der klassizistischen Meister o d e r der p o e t i s c h e n Empfindsamkeit der romantischen S c h u l e n v e r s c h r e i b e n wollten. A b e r je weiter
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das Feld w u r d e , desto u n w a h r s c h e i n l i c h e r w u r d e es auch, dass der Geschmack des Künstlers m i t d e m seines Publikums übereinstimmen w ü r d e . W e r e i n Bild k a u f e n w i l l , stellt sich meist etwas
Bestimmtes vor, w o n a c h er sucht. In der Regel w i l l er ungefähr da< haben, w a s i h m a n d e r s w o gefallen hat. In f r ü h e r e n Zeiten f iel e s d e n Künstlern nicht schwer, dieses B e d ü r f n i s zu befriedigen, denn so verschieden ihre Werke auch an künstlerischem Wert waren, so ähnlich w a r e n sich doch die Bilder der gleichen Zeit in vieler Beziehung. Seit diese einheitliche Bindung der Kunst zusammenge^ b r o c h e n war, w a r e n die Beziehung z w i s c h e n Künstlern und Auf« traggebern oft recht gespannt. Der G e s ch ma ck des Bestellers ging in eine bestimmte Richtung, w ä h r e n d der Künstler fühlte, dass diese seinem Wesen nicht entsprach. Trieb i h n die Not dazu, den Auftrag anzunehmen, so e m p f a n d er, dass er >Konzessionen< machte, u n d verlor seine Selbstachtung und die Achtung der Kollegen. Entschied er sich dafür, nur seiner inneren Stimme zu folgen und jeden Auftrag abzulehnen, der mit seinem Kunststil unvereinbar w a r , so lief er buchstäblich Gefahr, zu verhungern. So öffnete sich im neunzehnten Jahrhundert eine stets w a c h s e n d e Kluft zwischen den Künstlern, deren Veranlagung oder Überzeugung es ihnen erlaubte, dem Geschmack des Publikums zu folgen, und den anderen, die auf ihre selbst gewählte Einsamkeit stolz waren. Dazu kam n o c h , dass die industrielle Revolution, der Verfall des Handwerks mit d e m damit verbundenen Aufstieg eines rasch emporkommenen Bürgertums und die Ü b e r s c h w e m m u n g des Marktes mit schäbiger Fabrikware, die sich als >Kunst< gebärdete, den Geschmack des Publikums verdorben hatten. Dabei beruhte das Misstrauen z w i s c h e n Künstler und Publik u m zumeist auf Gegenseitigkeit. Für den erfolgreichen Geschäftsm a n n w a r ein Künstler eine Art Hochstapler, der fantastische S u m m e n f ü r etwas verlangte, das m a n k a u m als redliche Arbeit bezeichnen konnte. Andererseits w u r d e es z u m Lieblingssport der Künstler, die Philister vor den Kopf zu stoßen u n d sie aus ihrer w i r k l i c h e n oder angeblichen Selbstzufriedenheit aufzustören. D*e Künstler begannen sich f ü r eine besondere Menschengattung f l halten, sie trugen langes Haar, wüste Bärte, breitkrempige Hüte
und f l a t t e r n d e K r a w a t t e n , k l e i d e t e n sich i n Samt u n d g a b e n sich s o u n k o n v e n t i o n e l l w i e m ö g l i c h . Dieser Zustand w a r k a u m sehr gesund, aber e r w a r v i e l l e i c h t u n v e r m e i d l i c h . U n d m a n m u s s zugeben, dass b e i a l l e n G e f a h r e n , d i e d e m Künstler drohten, seine veränderte Lage a u c h i h r Gutes hatte. D i e G e f a h r e n l i e g e n auf der Hand. Der Künstler, der s i c h k a u f e n l i e ß u n d sich d e m G e s c h m a c k der G e s c h m a c k l o s e n anpasste, w a r verloren. G e n a u s o e r g i n g es aber auch d e m Künstler, der sich selbst z u tragisch n a h m u n d sich nur deshalb f ü r e i n verk anntes G e n i e hielt, w e i l n i e m a n d seine Bilder kaufte. A b e r diese G e f a h r e n b e d r o h t e n n u r s c h w ä c h l i c h e Naturen. D e n n die Vielfalt der M ö g l i c h k e i t e n u n d die teuer erkaufte Unabhängigkeit v o n der Bestellerlaune hatte auch i h r e Vorteile. Erst s o w u r d e d i e Kunst z u m ersten Mal z u m v o l l k o m m e n e n A u s d r u c k der Persönlichkeit - vorausgesetzt natürlich, dass der Künstler Persönlichkeit hatte. Vielleicht k o m m t das m a n c h e m w i e ein Paradox vor. M a n hört o f t sagen, dass d i e K u n s t i h r e m W e s e n n a c h A u s d r u c k ist, u n d bis zu e i n e m g e w i s s e n Grad m a g das auch richtig sein. A b e r die Sache ist d o c h nicht so einfach. Es versteht sich b e i n a h e v o n selbst, dass ein ägyptischer Künstler nicht viel Gelegenheit hatte, seine Persönlichkeit auszudrücken. Die Regeln u n d Ü b e r l i e f e r u n g e n seines Stils w a r e n so stark, dass i h m selbst n u r w e n i g Spielraum blieb und dass n u r g a n z w e n i g seiner Entscheidung i h m überlassen w a r . Und darauf k o m m t es gerade an: O h n e Entscheidungsmöglichkeiten k a n n es auch k e i n e n A u d r u c k geben. M a c h e n w i r uns dies an einem Beispiel aus d e m täglichen Leben klar. W e n n m a n sagt, dass r die Persönlichkeit einer Frau in der Art, w i e sie sich anzieht, z u m Ausdruck k o m m t , so m e i n t m a n d a m i t gerade, dass die W a h l ihrer Kleider i h r e n G e s c h m a c k u n d ihre Vorlieben zeigt. W i r brauchen nur einer B e k a n n t e n z u z u s c h a u e n , w i e sie einen Hut kauft. W e n n w i r dabei d e n Versuch m a c h e n , herauszufinden, w a r u m sie sich für einen entscheidet u n d die anderen w e g l e g t , s o w e r d e n w i r bemerken, dass das alles d a m i t z u s a m m e n h ä n g t , w i e sie sich selbst
sieht u n d w i e sie g e s e h e n w e r d e n w i l l . G e r a d e d a r u m k a n n jede s o l c h e E n t s c h e i d u n g u n s ü b e r i h r e P e r s ö n l i c h k e i t A u f s c h l u s s geben. M ü s s t e si e e i n e U n i f o r m t r a g e n , s o b l i e b e i h r n o c h i m m e r etwas G e l e g e n h e i t z u m A u s d r u c k , a b e r o f f e n s i c h t l i c h v i e l w e n i g e r . Ein Stil ist s o e i n e U n i f o r m . F r e i l i c h w i s s e n w i r , dass e r i m Laufe der Z e i t d e m K ü n s t l e r i m m e r m e h r S p i e l r a u m g a b u n d dass d a m i t die A u s d r u c k s m ö g l i c h k e i t e n d e s K ü n s t l e r s z u n a h m e n . E s ist o f f e n k u n d i g , da s s Fra A n g e l i c o e i n g a n z a n d e r e r M e n s c h w a r als Masaccio, o d e r dass R e m b r a n d t s i c h s e h r v o n V e r m e e r v a n D e l f t unterschied. D e n n o c h t r a f k e i n e r dieser K ü n s t l e r b e w u s s t e i n e W a h l , u m seine P e r s ö n l i c h k e i t d a d u r c h z u m A u s d r u c k z u b r i n g e n . E s g e s c h a h ganz u n w i l l k ü r l i c h , w e i l w i r uns eben in allem ausdrücken, was wir t u n — o b w i r n u n e i n e Ziga rette a n z ü n d e n o d e r e i n e m A u t o b u s n a c h l a u f e n . A b e r d e r G e d a n k e , dass e s d e r w a h r e Z w e c k der Kunst s e i , d e r P e r s ö n l i c h k e i t A u s d r u c k z u g e b e n , k o n n t e erst a u f k o m m e n , als d i e K n u s t j e d e n a n d e r e n Z w e c k v e r l o r e n hatte. W i e d i e Dinge lagen, w a r es durchaus ein w a h r e r u n d wichtiger Gedanke. Denn w a s d i e w i r k l i c h e n K u n s t l i e b h a b e r i n A u s s t e l l u n g e n u n d Ateliers s u c h t e n , w a r g a r n i c h t e i n f a c h e s K ö n n e n — das w a r v i e l z u verb r e i t e t , u m a n s i c h B e a c h t u n g z u v e r d i e n e n — ; sie w o l l t e n d u r c h d i e K u n s t m i t M e n s c h e n i n B e r ü h r u n g k o m m e n , d i e i h n e n etwas g e b e n konnten, m i t Menschen, deren Arbeit v o n unbestechlicher A u f r i c h t i g k e i t z e u g t e , m i t K ü n s t l e r n , d i e n i c h t m i t g e b o r g t e n Effekt e n z u f r i e d e n w a r e n u n d d i e k e i n e n e i n z i g e n Pinselstrich t u n w ü r d e n , o h n e s i c h z u f r a g e n , o b e r m i t i h r e m k ü n s t l e r i s c h e n Gewissen v e r e i n b a r s e i D i e G e s c h i c h t e d e r M a l e r e i des n e u n z e h n t e n Jahrh u n d e r t s u n t e r s c h e i d e t si ch d a r u m r e c h t w e s e n t l i c h v o n der G e s c h i c h t e d e r K u n s t f r ü h e r e r E p o c h e n . I n d e r älteren Zeit w a r e n e s d o c h m e i s t d i e f ü h r e n d e n Meister, d i e g r ö ß t e n Könner, die auch d i e g r ö ß t e n A u f t r ä g e e r h i e l t e n u n d d e n h ö c h s t e n R u h m erlangten. V i e l l e i c h t g a b e s a u c h d a m a l s i r g e n d w o e i n v e r k a n n t e s Genie, aber d a * i f t n i c h t a l l z u w a h r s c h e i n l i c h , w e i l j a K ü n s t l e r u n d Publi-
cum dieselbe E i n s t e l l u n g z u r K u n s t hatten. Erst i m n e u n z e h n t e n
Jahrhundert gibt e s e i n e w i r k l i c h e K l u f t z w i s c h e n d e m , w a s m a n die o f f i z i e l l e Kunst< n e n n t , u n d d e n Meis ter n, f ü r die sich die Nachwelt interessiert. Selbst heute gibt es n u r w e n i g e Ex perten, die in der o f f i z i e l l e n Kunstx des n e u n z e h n t e n Jahrhunderts w i r k lich b e w a n d e r t sind. W i r k e n n e n n a t ü r l i c h e i n i g e i h r e r P r o d u k t e , wie die Standbilder b e r ü h m t e r M ä n n e r a u f ö f f e n t l i c h e n Plätzen, die W a n d m a l e r e i e n in R athä usern o d e r die b u n t e n Glasfenster in Kirchen oder Universitäten, aber die m e i s t e n v o n u n s e m p f i n d e n sie als so verstaubt, dass w i r i h n e n e b e n s o w e n i g A u f m e r k s a m k e i t schenken w i e d e n Stichen e h e m a l s b e r ü h m t e r M u s e u m s s c h ä t z e , die w i r n o c h i n a l t m o d i s c h e n H o t e l h a l l e n a n t r ef f en . Vielleicht hat diese verbreitete G e r i n g s c h ä t z u n g i h r e n Grund. Als i ch C o p l e y s G e m ä l d e v o n Karl I. vor d e m Parlament (Abb. 315) besprach, e r w ä h n t e ich, dass sein Versuch, e i n e n dramatischen historischen M o m e n t s o präzise w i e m ö g l i c h w i e d e r z u geben, einen n a c h h a l t i g e n Eindruck machte, u n d dass ein g a n z e s Jahrhundert lang viele Künstler viel M ü h e d a r a u f v e r w a n d t e n , historische Kostümbilder zu m a l e n , die b e r ü h m t e M ä n n e r der Vergangenheit — Dante, N a p o l e o n o d e r G e o r g e W a s h i n g t o n — an d i e s e m oder jenem dramatischen W e n d e p u n k t ihres Lebens darstellten. Ich hätte n o c h e r w ä h n e n k ö n n e n , dass solche theatralischen Bilder bei Ausstellungen in aller Regel h ö c h s t erfolgreich w a r e n , ihren Reiz aber schon bald verloren. Unsere Vorstellungen v o n der Vergangenheit verändern sich meist sehr rasch. D i e a u f w e n d i g e n Kostüme u n d Schauplätze verloren schnell an Ü b e r z e u g u n g s k r a f t , und die heroischen Gesten w i r k t e n allzu pathetisch. Mit g r o ß e r Wahrscheinlichkeit w i r d die Zeit k o m m e n , die diese offizielle Kunst wieder zu Ehren bringt, u n d z w e i f e l l o s ist nicht alles davon so schlecht, w i e m a n behauptet. U n d d o c h bleibt die Tatsache bestehen, dass seit der G r o ß e n Revolution >Kunst< f ü r un s etw as anderes bedeutet u n d dass die Geschichte der Kunst im n e u n z e h n ten Jahrhundert f ü r u n s n i c h t die Geschichte der damals b e r ü h m testen und bestbezahlten Meister ist, sondern eher die Geschichte
einer Handvoll von Einzelgängern, die den Mut hatten, die Fragen, die sie bewegten, ganz neu durchzudenken, den konventionellen Auffassungen zu trotzen und dadurch neue Möglichkeiten für die Kunst zu erobern. Am dramatischsten spielten sich diese Zusammenstöße in der Pariser Kunstwelt ab, Denn im neunzehnten Jahrhundert wurde Paris zur Hauptstadt der Malerei, ähnlich wie es Florenz ian fünfzehnten und Rom im siebzehnten Jahrhundert gewesen war. Dorthin strömten die Künstler aus der ganzen Welt, um in den Ateliers der anerkannten Meister zu studieren und vor allem, um in den Kaffeehäusern am Montmartre an den Diskussionen über Kunst teilzunehmen, im denen der neue Kunstbegriff langsam Gestalt gewann. Der führende Meister der >offiziellen Kunst< zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780—1867). Ingres hatte sich in Rom die Ideale des Canova angeeignet und folgte in Paris der Schule des David (S. 369/370). Er war berühmt für seine Beherrschung des Aktzeichnens und für seine Kenntnis der antiken Plastik. Abb. 328 zeigt seine Meisterschaft in der Modellierung der Formen und die kühle Klarheit seiner Komposition. Man kann gut verstehen, dass viele Künstler Ingres um seine technische Sicherheit beneiden und kein Wort gegen ihn hören wollen. Aber man versteht auch, warum diese glatte Vollendung auf seine temperamentvollen Zeitgenossen beinahe aufreizend wirkte. Sein größter Gegenspieler in Frankreich war Eugene Delacroix (1798-1863), vielleicht der erste in einer langen Reihe großer Revolutionäre, die das klassische Land der Revolutionen hervorbrachte. Delacroix rebellierte gegen die Schule des Ingres, dessen Anhänger damals die Akademie beherrschten. All das Gerede über die erhabenen Griechen und Römer, die Forderung nach korrekter Zeichnung in den Aktsälen und die sklavische Nachahmung antiker Statuen langweilten ihn. Er war der Ansicht, dass es in der
Malerei m e h r a u f Farbe a n k o m m t als a u f z e i c h n e r i s c h e s K ö n n e n und m e h r a u f Fantasie als a u f Intellekt. W ä h r e n d di e A k a d e m i k e r nach klassischer G r ö ß e s t r e b t e n u n d P o u s s i n u n d R a f f a e l a n b e t e t e n , entsetzte D e l a c r o i x d i e K u n s t l i e b h a b e r d u r c h s e i n e P a r t e i n a h m e für die V e n e z i a n e r u n d R u b e n s u n d g i n g i n s e i n e r K e t z e r e i s o w e i t , dass e r R e m b r a n d t f ü r e i n e n g r ö ß e r e n K ü n s t l e r h i e l t als R a f f a e l . Er hatte d i e a u s g e k l ü g e l t e n T h e m e n satt, 'die d i e A k a d e m i e d e n Künstlern v o r s c h r i e b , u n d g i n g n a c h M a r o k k o , u m d i e l e u c h t e n den Farben u n d d i e r o m a n t i s c h e Staffage der W e l t des Islam z u studieren. Abb. 329 z e i g t e i n e F r u c h t s e i n er Reise v o n 1832. D i e g a n z e A u f f a s s u n g steht i m W i d e r s p r u c h z u a l l e m , w a s Ingres u n d seine S c h u l e p r e d i g t e n . H i e r g i b t e s k e i n e k l a r e n U m r i s s e , k e i n e sorgfaltig m o d e l l i e r t e n i d e a l i s i e r t e n A k t e , k e i n e e d l e Z u r ü c k h a l tung i n d e r K o m p o s i t i o n , u n d n i c h t e i n m a l das T h e m a a p p e l l i e r t a n p a t r i o t i s c h e o d e r a n d e r e e r h e b e n d e G e f ü h l e . Der M a l e r w i l l uns z u Z e u g e n des a u f r e g e n d e n Schauspiels m a c h e n , w i e di e arabische Kavallerie w i l d d u r c h d i e W ü s t e s p r e n g t u n d w i e sich der Vollbluthengst h o c h a u f b ä u m t , e i n Bild u n g e z ü g e l t e r B e w e g u n g . S o w u r d e D e l a c r o i x d e r A b g o t t der J ün ge r e n , u n d e r seinerseits z e i g t e tiefes Verstä ndnis f ü r d i e B e s t r e b u n g e n der ersten Neuerer. S o w a r er es, der Co ns ta bles G r ö ß e erkannte, als der >Heuwagen< (Abb. 325) in Paris ausgestellt w u r d e . W i e d e m a u c h sei, w i r w i s s e n ; dass D e l a c r o i x e i n e n e t w a gleichaltrigen f r a n z ö s i s c h e n L a n d s c h a f t s m a l e r tief b e w u n d e r t e , ' dessen Kunst als B r ü c k e z w i s c h e n d i e s e n g e g e n s ä t z l i c h e n A n n ä h e r u n g s w e i s e n a n d i e N a t u r b e z e i c h n e t w e r d e n k a n n . E s handelt sich u m Jean-Baptiste C a m i l l e C o r o t ( 1 7 9 6 - 1 8 7 5 ) . Gorot b e g a n n , w i e Gonstable, m i t d e m Ziel, d i e N a t u r s o w a h r h e i t s g e m ä ß w i e möglich abzubilden, die Wahrheit jedoch, die er einfangen wollte, w a r e t w a s anders geartet. Abb. 330 zeigt, dass er sich w e n i g e r um Details als u m d i e g e n e r e l l e F o r m u n d d e n G r u n d t o n seines M o t i ves b e m ü h t e , u m d i e H i t z e u n d Stille eines S o m m e r t a g e s i m Süden zu vermitteln.
Der Zufall will es, dass etwa hundert Jahre zuvor auch Fragonard ein Motiv aus dem Park der Villa d'Este bei Rom gemalt hat (Abb. 310), und es lohnt sich, hier einen Augenblick innezuhalten, um diese beiden und weitere Bilder zu vergleichen, umso mehr, als sich die Landschaftsmalerei zum wichtigsten Zweig der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts entwickeln sollte. Fragonard suchte ganz offensichtlich die Vielfalt, während Corot sich um Klarheit und Ausgewogenheit bemühte, die entfernt an Poussin (Abb. 254) und Claude Lorrain (Abb. 2ss) erinnern mögen, doch das strahlende Licht und die Atmosphäre von Corots Bild sind mit völlig anderen Mitteln erreicht. Auch hier kann uns ein Vergleich mit Fragonard helfen, da Fragonard durch sein Medium gezwungen war, sich auf feine Abstufungen der Schattierung zu konzentrieren. Als Zeichner hatte er nichts als das Weiß des Papiers und Brauntöne von unterschiedlicher Intensität; aber wenn wir die Wand im Vordergrund betrachten, sehen wir, dass ihm das genügte, um den Kontrast von Schatten und Sonnenlicht zu vermitteln. Corot erreichte ähnliche Effekte mit seiner Palette, und Maler wissen, dass dies keine leichte Aufgabe ist, denn Farbe gerät häufig in Konflikt mit der fein abgetönten Schattierung, mit der Fragonard arbeitete. Denken wir an den Rat, den Constäble erhielt und verwarf (S. 375), den Vordergrund in Braun- und Goldtönen zu malen, wie Claude und andere es getan hatten. Diese Lehrmeinung beruhte auf der Beobachtung, dass sich starke Grüntöne selten mit anderen Farben gut vertragen. So wahrheitsgetreu uns eine Fotografie auch vorkommen mag (z. B. Abb. 302), ihre starken Farben würden die Wirkung jener sanft abgestuften Farbschattierungen beeinträchtigen, mit denen auch Caspar David Friedrich den Eindruck von Ferne erzeugte (Abb. 326). Und wenn wir Constables >Heuwagen< (Abb. 325) betrachten, wird uns vermutlich auffallen, dass auch er die Farbe des Vordergrunds und des Laubs dämpfte, um innerhalb einer einheitlichen Farbskala zu bleiben. Corot hingegen fing das grelle Licht und das dunstige Leuchten des Motivs
mit seiner Palette a u f n e u a r t i g e W e i s e e i n . E r arbeitete m i t e i n e m silbrig-grauen G r u n d t o n , d e r d i e F a r b e n n i c h t g a n z s c h l u c k t , sie aber a u f e i n a n d e r a b s t i m m t , o h n e d a b e i v o n der v i s u e l l e n W a h r h e i t abzuweichen. U n d w i e Claude u n d w i e Turner zögerte auch er nicht, seine B ü h n e m i t F i g u r e n aus der k l a s s i s c h e n o d e r b i b l i s c h e n V erga ngen heit z u b e v ö l k e r n , j a e s w a r e b e n d i e s e N e i g u n g z u m Poetischen, d i e i h m s c h l i e ß l i c h i n t e r n a t i o n a l e n R u h m b e s c h e r t e . D o c h o b w o h l C o r o t s stille M e i s t e r s c h a f t v o n s e i n e n j ü n g e ren K o l l e g e n g e l i e b t u n d b e w u n d e r t w u r d e , w o l l t e n sie i h m n i c h t auf s e i n e m W e g f o l g e n . D i e z w e i t e W e l l e der R e v o l u t i o n l i e f v o r allem g e g e n d i e k o n v e n t i o n e l l e n T h e m e n S t u r m . I n d e n A k a d e m i e n h e r r s c h t e n o c h i m m e r d i e V or st ellu ng, dass d i e h o h e K u n s t sich n u r m i t h o c h g e s t e l l t e n P e r s ö n l i c h k e i t e n b e s c h ä f t i g e n d a r f u n d dass d i e D a r s t e l l u n g v o n a r b e i t e n d e n M e n s c h e n h ö c h s t e n s i n G e n rebildern n a c h A r t d e r N i e d e r l ä n d e r zulässig sei (S. 287, 326). Z u r Zeit der R e v o l u t i o n v o n 1848 f a n d s i c h e i n e G r u p p e v o n M a l e r n i n d e m f r a n z ö s i s c h e n D o r f B a r b i z o n z u s a m m e n , u m a u f Constables Spuren d i e N a t u r i n d e n u m l i e g e n d e n W ä l d e r n m i t n e u e n A u g e n zu studieren. Einer v o n i h n e n , Jean-Fran^ois M i l l e t (1814—1875), beschloss, d i e s e n e u e A u f f a s s u n g v o n der L a n d s c h a f t a u f F i g u r e n z u ü b e r t r a g e n . E r w o l l t e d i e B a u e r n m a l e n , w i e sie w i r k l i c h w a r e n , Männer u n d Frauen b e i d e r Feldarbeit. M a n k a n n sich n u r m e h r schwer v o r s t e l l e n , w i e r e v o l u t i o n ä r das e m p f u n d e n w u r d e , a b e r die Kunst der V e r g a n g e n h e i t stellte tatsächlich a r b e i t e n d e M e n schen n u r d a n n dar, w e n n sie als Statisten f ü r e i n a n d e r e s T h e m a gebraucht w u r d e n . Abb. 331 z e i g t Millets b e r ü h m t e >Ährenleserin~ nenRealismus< sollte d i e K u n s t r e v o l u t i o n i e r e n . E r hatte n i c h t s f ü r di e A l t e r t ü m e l e i der A k a d e m i e übrig. D e r C h a r a k t e r u n d das P r o g r a m m C o u r b e t s erinn e r t e n in m a n c h e r B e z i e h u n g an C a r a v a g g i o (Abb. 252). D e n n auch i h m g i n g e s n i c h t u m das G e f ä l l i g e , s o n d e r n u m d i e W a h r h e i t . E r m a l t e s i c h selbst, w i e e r m i t s e i n e n M a l g e r ä t e n a u f d e m R ü c k e n ü b e r Land w a n d e r t u n d v o n s e i n e m F r e u n d u n d Förderer verbindl i c h g e g r ü ß t w i r d (Abb. 332). Er n a n n t e das Bild >Bonjour, Monsieur CourbetÄhrenleserinnen< absichtlich. S c h o n d er G e d a n k e , dass e i n M a l e r s i c h fast w i e e i n Landstreicher i n H e m d s ä r m e l n darstellte, m u s s a u f di e k o n v e n t i o n e l l e n M a l e r u n d i h r e F r e u n d e w i e e i n S c h l a g i n s G e s i c h t g e w i r k t h a b e n . Jedenfalls w a r dies Courbets A b s i c h t . S e i n e Bilder sollten der K o n v e n t i o n i n s G e s i c h t schlagen, er w o l l t e ein Philisterschreck sein u n d den W e r t kompromissloser künstlerischer Aufrichtigkeit gegenüber der geschickten Handhab u n g h e r k ö m m l i c h e r G e m e i n p l ä t z e d e m o n s t r i e r e n . Ehrlich sind C o u r b e t s B i l d e r g a n z sicher. >Ich hoffemein L e b e n lang v o n m e i n e r K u n s t z u l e b e n , o h n e m i c h j e u m e i n e n Strich von meinen Grundsätzen zu entfernen, ohne einen einzigen Augenblick g e g e n m e i n G e w i s s e n zu handeln, u n d auch nur eine Handbreit z u m a l e n , u m i r g e n d j e m a n d e m z u g e f a l l e n o d e r u m besser z u v e r k a u f e n / C o u r b e t s b e w u s s t e r V e r z i c h t a u f b i l l i g e Effekt e u n d s e i n Entschluss, s i c h n u r a u f s e i n e A u g e n z u verlassen, g a b v i e l e n a n d e r e n d e n M u t , e s i h m g l e i c h z u t u n u n d k e i n e Autorität a n z u e r k e n n e n als i h r e i g e n e s k ü n s t l e r i s c h e s G e w i s s e n . D as g l e i c h e S t r e b e n n a c h W a h r h e i t , d i e s e l b e U n z u f r i e d e n heit m i t d e r t h e a t r a l i s c h e n Prätention der o f f i z i e l l e n Kunst, d i e d i e >Schule v o n Barbizon< u n d C o u r b e t z u m >Realismus< g e t r i e b e n hatten, f ü h r t e e i n e G r u p p e e n g l i s c h e r M a l e r a u f e i n e n g a n z a n d e r e n W e g . Sie stellten E r w ä g u n g e n d a r ü b e r an, w a s d i e Kunst e i g e n t l i c h in di e Sackgasse g e f ü h r t h a b e . Sie w u s s t e n , dass di e A k a d e m i e n den A n s p r u c h e r h o b e n , di e Tradition Raffaels z u vertreten, u n d sie m e i n t e n , dass d u r c h d i e sklavische N a c h a h m u n g dieses A b g o t t e s die Kunst a u f I r r w e g e g e l a n g t sei (S. 243/244), M a n m ü s s e d o r t a n k n ü p f e n , w o e r d i e Kunst verlassen hatte, d . h . b e i d e n >primitiven MeisternZeitalter des Glaubens< z u r ü c k k e h r e n . Diese e n g l i s c h e n M a l e r g r ü n d e t e n d a h e r einei >BruderschaftPräraffaeliten< n a n n t e . D e r N a m e w a r n a t ü r l i c h e i n P r o g r a m m . Eines der b e g a b t e s t e n M i t g l i e d e r dieses Kreises w a r Dante Gabriel Rossetti (1828^-1882), d er S o h n eines g e f l ü c h t e t e n i t a l i e n i s c h e n Revolutionärs. Abb. 333 z e i g t seine Darstellung der >VerkündigungGegrüßest seist du, v o l l der Gnadex - >Da sie aber i h n sähe, erschrak sie ü b e r seine Rede, u n d
gedachte: Welch ein Gruß ist das?< (Lukas 1,29). Er nannte das gg§* >Ecce Ancilla Domini< (>Siehe, ich bin die Magd des Herrnaussah< und sie fügten diese Teile zusammen, um daraus einen vollständigen Menschen aufzubauen. Wir erinnern uns weiter, dass es die Griechen waren, denen es gelang, dieses Vorurteil zu durchbrechen und die Verkürzung einzuführen (Abb. 49). Wir erinnern uns auch, welche Rolle das Wissen wieder in der frühchristlichen und mittelalterlichen Kunst (Abb. 87) spielte. Selbst in der Renaissance war die Bedeutung des theoretischen Wissens, wie die Welt aussehen sollte,
durch die Entdeckung der wissenschaftlichen Perspektive und der Betonung der Anatomie eher noch gestiegen (S. 170—172). Ein großer Meister nach dem anderen hatte neue Entdeckungen gemacht, durch die er ein noch überzeugenderes Bild der sichtbaren Welt hervorzaubern konnte; aber keiner von ihnen hatte ernstlich daran gezweifelt, dass jedes Ding in der Natur eine bestimmte Form und Farbe hat, die in einem Bild klar erkennbar sein muss. Man kann sagen, dass Manet und sein Kreis eine Revolution in der Wiedergabe der Farbe herbeigeführt haben, die sich beinahe mit der Revolution in der Darstellung der Formen vergleichen lässt, die sich bei den Griechen abgespielt hatte: Sie entdeckten, dass wir in der freien Natur jeden einzelnen Gegenstand gar nicht in seiner charakteristischen Farbe sehen, sondern ein buntes Gemisch von flimmernden Farben, die in unserem Auge verschmelzen. Diese Entdeckungen wurden nicht alle auf einmal gemacht und auch nicht alle von einem Mann, aber sogar die ersten Bilder von Manet, in denen er die herkömmliche Methode sorgfältiger Schattierung durch starke, harte Kontraste ersetzte, rief helle Empörung unter den konservativen Künstlern hervor. Im Jahre 1863 weigerten sich die akademischen Maler, seine Arbeiten in der offiziellen Ausstellung, dem Salon, zu zeigen. Die Jugend ließ sich das nicht mehr so einfach gefallen, und unter ihrem Druck beschlossen die Behörden, die von der Jury nicht angenommenen Arbeiten in einer eigenen Ausstellung zu zeigen* die der >Salon der Abgewiesenem genannt wurde. Das Publikum ging hauptsächlich hin, um sich über die armen, verblendeten Stümper lustig zu machen, die sich geweigert hatten, sich dem Urteil der Fachleute zu beugen. Es war der Auftakt zu einem Kampf, der fast dreißig Jahre lang tobte. Heute können wir nur schwer die Erbitterung, mit der Künstler und Kritiker miteinander stritten, verstehen, umso mehr als wir heute sehen, wie sehr die Bilder von Manet an die Tradition der größten Maler der Vergangenheit, vor allem an Meister wie Frans Hals (Abb. 270) anknüpfen. Tatsächlich leugnete
Manet leidenschaftlich, ein Revolutionär sein zu wollen. Er suchIg jedoch Anregungen bei den großen Meistern des Pinsels, die von den Präraffaeliten nicht beachtet worden waren, bei jener Tradition, die von den großen Venezianern Giorgione und Tizian begonnen und in Spanien glorreich von Veläzquez (Abb. 264-267) bis zu Goya fortgesetzt worden war. Es war offensichtlich ein Bild von Goya (Abb. 317), das ihn dazu anregte, eine ähnliche Gruppe auf einem Balkon zu malen und den Kontrast zwischen dem hellen Tageslicht und dem Dunkel des Raumes im Hintergrund zu erforschen (Abb. 334). Aber der Manet von 1869 trieb diese Erforschung viel weiter als Goya 60 Jahre früher. Anders als bei Goya ist einfach eine Gruppe von Leuten auf einem Balkon dargestellt. Man sieht, dass den Künstler der Gegensatz zwischen dem vollen Licht im Freien und dem Halbdunkel des Zimmers dahinter, das die Gestalten verschluckt, interessiert hat. Die Köpfe sind nicht nach der herkömmlichen Art mit Licht und Schatten modelliert - wir brauchen sie nur mit irgendeinem früheren Bild zu vergleichen, sei es mit Leonardos »Mona Lisa< (Abb. 193), Rubens' >Kopf eines Kindes< (Abb. 257) oder Gainsboroughs >Miss Haverfield< (Abb. 306). So verschieden alle diese Meister auch in ihrer. Malweise waren, so ging es ihnen doch immer darum,:'den Eindruck von greifbarer Körperlichkeit zu schaffen, und^ gerade das erreichten sie durch die Abstufung von Licht und Schatten. Im Vergleich mit solchen Werken wirken Manets Formen flach. Die: Dame im Hintergrund hat nicht einmal eine richtige Nase. Man kann sich leicht denken, dass diese Art zu malen auf alle, die Manets Absichten nicht verstanden, wie die reinste Stümperei wirkte. Aber es ist eine Tatsache, dass im Freien und im vollen Tageslicht Körper manchmal flach aussehen wie farbige Flecken, und gerade das war die Wirkung, die Manet interessierte. Und so sehen seine Bilder unmittelbarer und natürlicher aus als irgendein alter Meister. Vor dem Original hat man das Gefühl, wirklich dieser Gruppe auf dem Balkon gegenüberzustehen. Der Gesamteindruck ist alles eher als flach. Einer der Gründe
für diesen starken Eindruck räumlicher Tiefe liegt in der Farbigkeit des Geländers. Sein grelles Grün schneidet quer durch das Bild ohne jede Rücksicht auf die überkommenen Regeln der Farbenkombination, mit dem Resultat, dass das Geländer sich geradezu körperlich von der Szene dahinter abhebt und sie dadurch in die Tiefe schiebt. Die neuen Theorien betraf nicht nur die Behandlung von Farben in der Freiluftmalerei (plein air), sondern auch die Darstellung der Bewegung. Abb. 33s zeigt eine von Manets Lithographien. Das ist eine graphische Technik, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erfunden wurde und es dem Künstler erlaubt, mit eigens präparierten Stiften direkt auf einen Stein zu zeichnen, sodass seine Zeichnung unverändert reproduziert werden kann. Auf den ersten Blick wirkt Manets Lithographie vielleicht nur wie eine wüste Kritzelei. Das Blatt stellt ein Pferderennen dar. Manet will uns den Eindruck von Licht, Tempo und Bewegung vermitteln, indem er die Formen, die sich aus dem Wirrwarr lösen, nur ganz flüchtig andeutet. Die Pferde kommen im vollen Galopp auf uns zu, und die Tribünen sind gesteckt voll von aufgeregten Zuschauern. Das Beispiel zeigt besonders klar, wie wenig sich Manet in seiner Darstellung der Form von seinem Wissen über die Natur des Dargestellten leiten ließ. Keines der Pferde hat vier Beine. Kein Mensch sieht genau vier . Beine auf einen Blick, wenn er einem Rennen zuschaut. Ebenso wenig kann man alle Einzelheiten auf der Zuschauertribüne in sich aufnehmen. Auch andere Maler der Zeit haben Rennen gemalt. Ein Zeitgenosse Dickens', William Powell Frith (1819—1909), hat etwa vierzehn Jahre zuvor ein Bild des englischen >Derby Day< (Abb. 336) gemalt, in dem die verschiedenen Typen, die da zusammenströmen, mit viel Liebe und Humor verewigt sind. Ein Bild dieser Art regt uns an, uns in Ruhe die verschiedenen Zwischenfälle auszumalen, die sich bei so einem Volksfest abspielen. Aber im wirklichen Leben können wir niemals so vielerlei auf einen Blick in uns aufnehmen. In jedem einzelnen
Augenblick können wir nur einen Punkt ins Auge fassen - alles Übrige erscheint uns als verschwommener Wirrwarr von Farben und Formen. Wir wissen vielleicht, was dort ist, aber sehen können wir es nicht. In diesem Sinn ist Manets Lithographie von einem Rennplatz wirklich viel wahrheitsgetreuer als das Bild des volkstümlichen Engländers. Er versetzt uns für einen Augenblick in das aufgeregte Getriebe, bei dem der Künstler dabei war und von dem er nur so viel aufs Papier brachte, als er in einem Augenblick überschauen konnte. Unter den Malern, die sich Manet anschlössen und die zum Ausbau dieser Theorien beigetragen haben, war ein zielbewusster, armer junger Mann aus Le Havre, Claude Monet (1840-1926). Es war Monet, der seine Freunde drängte, ihre Ateliers zu verlassen und keinen einzigen Strich zu malen, wenn sie nicht das Motiv direkt vor Augen hatten. Er hatte sich ein kleines Boot zum Malen eingerichtet, um so die Stimmungen und Beleuchtungen an der Seine unmittelbar studieren zu können. Manet, der ihn besuchte, wurde zu den Methoden des jüngeren Kollegen bekehrt und drückte seine Anerkennung dadurch aus, dass er Monet bei der Arbeit in diesem Freiluftatelier malte (Abb. 337). Es ist gleichzeitig ein Bekenntnis zu der neuen, von Monet propagierten Malweise. Denn die Forderung Monets, dass jedes Bild nach der Natur sofort an Ort und Stelle fertig gemalt werden müsse, bedingt nicht nur eine andere und unbequemere Lebensweise für den Maler, sie musste auch zur Entwicklung einer neuen Technik führen. Die Natur oder das Motiv schaut jede Minute anders aus, sie verändern sich, wenn die Sonne hinter die Wolken tritt oder ein Windstoß die Spiegelung im Wasser bricht. Der Maler, der einen bestimmten Natureindruck einfangen will, hat keine Muße, seine Farben sorgfältig auf die Palette zu mischen und sie genau aufeinander abzustimmen, geschweige denn, sie in mehreren Schichten auf einer braunen Untermalung aufzutragen, wie das die alten Meister getan haben. Er muss die Farbe mit schnellen Strichen direkt auf
die Leinwand setzen und kann dabei weniger auf Details als auf das Ganze abzielen. Es w a r dieser Mangel an Ausführung, diese anscheinend schlampige Arbeitsweise, die die Kritiker buchstäblich in Raserei versetzte. Sogar nachdem sich Manet selbst durch seine Bildnisse u nd seine monumentalen Gruppen bis zu einem gewissen Grad durchgesetzt hatte, stießen die jungen Landschaftsmaler aus d e m Kreise Monets auf die größten Schwierigkeiten, w e n n sie ihre unkonventionellen Bilder im >Salon< ausstellten. So taten sie sich im Jahre 1874 z u s a m m e n un d veranstalteten eine Ausstellung in e i n e m Fotografenatelier. Sie enthielt ein Bild v o n Monet, das im Katalog als >Impression: Sonnenaufgang< beschrieben w a r — das Bild eines Haf ens im Morgennebel. Ein Kritiker f a n d diesen Titel besonders lächerlich u n d nannte die ganze G r u p p e in seinem Artikel >Die Impressionistengotisch< o d e r >Manierismus< i n z w i s c h e n vergessen ist N a c h e i n e r Zeit n a h m di e G r u p p e selber d e n N a m e n >lmpressionis ten< a n , u n d als s olche s i n d sie seither b e k a n n t .
Es ist interessant, die Pressestimmen zu lesen, mit denen die ersten Ausstellungen der Impressionisten aufgenommen wurden. Eine humorige Wochenzeitung schrieb im Jahre 1876: >Die Rue le Peletier ist eine Unglücksstraße. Auf den Brand der Oper ist ein neues Unglück gefolgt. Soeben ist bei Durand-Ruel eine Ausstellung eröffnet worden, die angeblich Bilder enthalten soll. Ich trete ein, und meinen entsetzten Augen zeigt sich etwas Fürchterliches. Fünf oder sechs Wahnsinnige, darunter eine Frau, haben sich zusammengetan und ihre Werke ausgestellt. Ich sah Leute vor diesen Bildern sich vor Lachen walzen. Mir blutete das Herz bei dem Anblick. Diese sogenannten Künstler nennen sich
Revolutionäre, »Impressionisten'. Sie nehmen ein Stück Leinwand, Farbe und Pinsel, werfen auf gut Glück einige Farbkleckse hin und setzen ihren Namen unter das Ganze. Es ist eine ähnliche Verblendung, als wenn die Insassen einer Irrenanstalt Kieselsteine aufheben und sich einbilden, sie hätten Diamanten gefundene
Es war nicht nur die Technik, die die Kritiker empörte, es waren auch die Motive, die diese Maler wählten. Früher hatte man von dem Künstler erwartet, dass er sich einen Naturausschnitt suchte, der nach allgemeiner Ansicht >malerisch< war. Es ist nicht allen Leuten klar, dass diese Forderung wenig logisch war. Wir nennen doch Motive deshalb malerisch, weil sie uns an Malereien erinnern, die wir gesehen haben. Wenn sich die Maler auf die beschränken wollten, müssten sie sich gegenseitig endlos wiederholen. Erst Claude Lorrain war es, der die römischen Ruinen >malerisch< gemacht hat (Abb. 255), und erst Jan van Goyen hat holländische Windmühlen in Motive verwandelt (Abb. 272). Constable und Turner in England hatten jeder in seiner Art neue Motive für die Kunst erobert. Turners >Dampfer im Schneesturm< (Abb. 323) war so neuartig im Gegenstand wie in der Malweise. Claude Monet kannte Turners Bilder. Er hatte sie in London gesehen, wohin er während des deutsch-französischen Krieges (1870-1871) geflüchtet war, und sie hatten ihn in der Überzeugung bestärkt, dass Beleuchtungseffekte und Atmosphäre wichtiger sind als das Motiv. Aber ein Bild wie Abb. 338, das einen Pariser Bahnhof darstellt, kam den Kritikern doch wie reine Unverschämtheit vor. Hier haben wir eine wirkliche >Impressionx, einen Eindruck aus dem damaligen Alltagsleben. Monet interessiert der Bahnhof nicht als ein Treffpunkt von Reisenden und ein Schauplatz von Abschiedsszenen - ihn fasziniert das Licht, das durch das Glasdach auf den Maschinendampf strömt, und die Silhouetten der Lokomotiven und Waggons, die aus den Dampfwolken auftauchen. Und doch hat diese sachliche Berichterstattung eines Malers nichts Zufälliges
an sich. Monet hat seine Farbnuancen so bewusst abgewogen wie alle Landschaftsmaler der Vergangenheit. Die jungen Maler, die sich zu der Gruppe der Impressionisten zählten, waren bestrebt, das moderne Leben der Großstadt zu malen, wie sie es sahen; und in dieser Hinsicht führten sie aus, was Courbet gefordert hatte. Abb. 339 zeigt ein Bild von Pierre Auguste Renoir (1841-1919), das im Jahre 1876 gemalt ist und ein bekanntes Pariser Tanzlokal darstellt. Als Jan Steen (Abb. 278) solche Volksbelustigungen wiedergab, kam es ihm darauf an, die verschiedenen komischen Typen zu erfassen. Watteau wollte in seinen Traumbildern höfischer Feste (Abb. 298) eine Stimmung sorglosen Lebens zum Ausdruck bringen. Bei Renoir ist etwas von beidem da. Auch er hat Sinn für die vergnügte Stimmung der Leute, und auch ihn entzückt der Anblick von Jugend und Schönheit. Aber sein eigentliches Interesse liegt anderswo. Er will das bunte Durcheinander mit dem Pinsel festhalten; ihn reizt das Sonnenlicht, in dem sich die Paare drehen. So wirkt das Bild, verglichen mit Manets Porträt von Monet, skizzenhaft und unfertig. Nur die Köpfe mehrerer Gestalten im Vordergrund sind einigermaßen ausgeführt; aber auch sie sind in höchst unkonventioneller und kühner Weise gemalt. Die Augen und die Stirne der sitzenden Mädchen liegen im Schatten, während die Sonne um ihren Mund und ihr Kinn spielt. Ihr helles Seidenkleid ist mit lockeren Pinselstrichen gemalt, die noch kühner sind als die des Frans Hals (Abb. 270) oder des Veläzquez (Abb. 267). Dabei sind das die Gestalten, auf denen das Auge des Malers ruht. Dahinter lösen sich die Formen mehr und mehr in Sonnenlicht und Luft auf. Wir erinnern uns an die Art, wie Francesco Guardi (Abb. 290) die Gestalten seiner venezianischen Ruderer mit ein paar Farbflecken hinzauberte. Nach rund hundert Jahren ist es schwer für uns, zu begreifen, warum diese Bilder einen solchen Sturm der Empörung hervorriefen. Wir verstehen ohne weiteres, dass diese scheinbare Skizzenhaftigkeit nicht das Geringste mit Schlamperei zu tun hat, sondern das Resultat reifer künstlerischer Erfahrung ist. Hätte
Renoir jedes Detail gemalt, so würde das Bild steif und leblos wirken. Wir erinnern uns, dass die Künstler schon einmal zuvor einem ähnlichen Problem gegenüberstanden: im fünfzehnten Jahrhundert, als sie die neuen Mittel erfanden, die Natur getreu wiederzugeben. Wir erinnern uns, dass gerade die Errungenschaften des Naturalismus und der Perspektive dazu geführt hatten, dass ihre Gestalten eher steif und hölzern wirkten und dass es erst dem Genie Leonardos gelang, diese Schwierigkeit durch die Erfindung des Sfumato (Abb. 193, 194) zu überwinden, in dem er die Formen absichtlich im Dunkel verschwinden ließ. Aber die Entdeckung der Impressionisten, dass dunkle Schatten von der Art, wie sie Leonardo zum Modellieren benutzte, im Sonnenlicht und im Freien nicht vorkommen, versperrte ihnen diesen herkömmlichen Ausweg. Gerade darum mussten sie mit dem absichtlichen Verwischen der Konturen noch viel weitergehen als frühere Generationen. Sie wussten, dass das menschliche Auge ein wunderbares Instrument ist. Es kann sich aus ein paar Andeutungen die ganze Form aufbauen, von der es weiß, dass sie vorhanden ist. Aber man muss wissen, wie man so ein Bild anzusehen hat. Die Leute, die die Ausstellungen der Impressionisten zuerst besuchten, bohrten offensichtlich ihre Nase in die Bilder und sahen nichts als ein Chaos von Pinselstrichen. Das muss auch der Grund gewesen sein, weshalb sie die Maler für verrückt hielten. Angesichts solcher Bilder wie Abb. 340, auf dem einer der ältesten und zielbewusstesten Vertreter der Bewegung, Camille Pissarro (1830-1903), die Impression eines Pariser Boulevards im Sonnenschein wiedergab, fragten die empörten Ausstellungsbesucher: >Schau ich auch so aus, wenn ich auf dem Boulevard spazieren gehe? Verliere ich dann plötzlich meine Augen, meine Nase und sogar meine Beine und werde ein unförmiger Klecks?< Auch hier war es also ihr Wissen, woraus ein Mensch >bestehtkorrekter Zeichnung< war wie weggefegt. Der Künstler war niemandem als seinem eigenen künstlerischen Gewissen dafür verantwortlich, was er malte und wie er es malte. Vielleicht hätten die Maler diese neue Freiheit nicht so schnell erreicht ohne zwei Verbündete, die das Publikum im neunzehnten Jahrhundert die Welt mit anderen Augen sehen lehrten. Da war erstens die Fotogafie. Anfänglich war diese Erfindung hauptsächlich für Porträts benützt worden. Man brauchte lange Belichtungszeiten, und wer sich fotografieren ließ, musste so lange stillhalten, dass man einige Kopfstützen verwendete, um das zu ermöglichen. Handlichere Apparate und Momentaufnahmen kamen in denselben Jahren auf, in denen die impressionistische Malerei an Boden gewann. Die Fotografie trug dazu bei, dass man den Reiz eines zufälligen Naturausschnitts und ungewöhnlicher Perspektive sehen lernte. Überdies musste die Erfindung der Fotografie die Maler zum Experimentieren anregen. Denn nun gab es ein mechanisches Mittel, das gewisse Aufgaben besser und billiger lösen konnte als die Malerei. Man darf ja nie vergessen,
dass die Malerei früher einer ganzen Anzahl praktischer Zwecke gedient hat: Nur sie konnte das Aussehen einer Person oder die Ansicht einer Stadt festhalten. Damals war der Mater der Einzige, der über die Vergänglichkeit alles Irdischen obsiegen und die äußere Erscheinung jedes beliebigen Gegenstandes der Nachwelt überliefern konnte. Wir wüssten heute nicht, wie der Vogel Dodo ausgesehen hat, hätte nicht ein niederländischer Maler des siebzehnten Jahrhunderts seine Kunst darauf verwandt, eines dieser Tiere kurz vor ihrem Aussterben zu malen. Im neunzehnten Jahrhundert aber begann die Fotografie diese wesentliche Funktion der bildenden Kunst zu übernehmen. Es war aber ein schwerer Schlag für die Lebensmöglichkeiten der Künstler wie einst das Verbot kirchlicher Malerei durch die Protestanten (S. 283). Vorher hatte sich nämlich jedermann, der etwas auf sich hielt, wenigstens einmal im Leben malen lassen. Jetzt ließ sich kaum jemand auf so eine lange Marter ein, außer wenn er einem befreundeten Maler einen Gefallen tun wollte. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Künstler sich immer mehr gedrängt fühlten, Möglichkeiten zu erforschen, die der Fotografie nicht so leicht offenstanden. Tatsächlich wäre die moderne Kunst ohne diesen Anreiz kaum das geworden, was sie ist. Der zweite Verbündete,-den die Impressionisten auf ihrer Suche nach neuen Motiven und neuen Farbzusammenstellungen fanden, war der japanische Farbholzschnitt. Die Kunst Japans hatte sich aus der chinesischen Kunst entwickelt (S. ii 6) und war fast ein Jahrtausend lang in den gleichen Bahnen geblieben. Aber im achtzehnten Jahrhundert hatten japanische Künstler, möglicherweise unter dem Eindruck europäischer Grafik, die überkommenen Motive der orientalischen Kunst über Bord geworfen und Szenen aus dem Alltagsleben für ihre farbigen Holzschnitte gewählt, die große Frische der Beobachtung mit technischer Vollendung verbanden. Japanische Kenner schätzten diese billigen Erzeugnisse nicht sehr hoch ein; sie zogen die strenge Zurückhaltung der traditionsgebundenen Kunst vor. Als Japan
um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gezwungen wurde, mit Europa und Amerika Handelsbeziehungen einzugehen, wurden diese Drucke oft zur Verpackung verwendet und gelangten so in die Kolonialwarengeschäfte Europas, wo man sie ganz billig kaufen konnte. Die Künstler aus dem Kreis Manets waren die Ersten, die ihre Schönheit entdeckten und sie eifrig zu sammeln begannen. In ihnen fanden sie eine Kunst, die nichts von all den akademischen Regeln und Formeln wusste, von denen auch sie sich frei zu machen suchten. Die japanischen Holzschnitte zeigten ihnen, wie befangen sie trotz allem noch waren und wie sehr ihnen gewisse Konventionen der europäischen Überlieferung noch im Blut steckten. Den Japanern war jeder überraschende und frappante Naturausschnitt willkommen. Ihr Meister Hokusai (1760-1849) zeigte den Fujiyama gleichsam zufällig hinter einem Gerüst aufragen (Abb. 341); Utamaro (1753-1806) zögerte nicht, manche seiner Gestalten vom Rand des Blattes oder von einem Bambusvorhang überschneiden zu lassen (Abb. 342). Diese kühne Missachtung einer geheiligten Regel der europäischen Malerei beeindruckte die Impressionisten zutiefst. Hier war ein letzter Schlupfwinkel der alten Vorherrschaft des Wissens über das Sehen. Warum sollte ein Bild alle wesentlichen Teile jeder Gestalt in einer Szene zeigen? Der Maler, auf den diese neu entdeckte Freiheit der Darstellung den größten Eindruck machte, war Edgar Degas (1834—1917). Degas war etwas älter als Monet und Renoir. So wie sein Altersgenosse Manet hielt auch er sich ein wenig abseits von d e m eigentlichen Kreis der Impressionisten, w e n n er auch viele ihrer künstlerischen Ziele billigte. Er interessierte sich leidenschaftlich f ü r die herkömmlichen Formprobleme der Akademiker, f ü r die Zeichnung und die Komposition, und er bewunderte Ingres sehr. Man sieht es seinen Bildnissen (Abb. 343) an, dass er sich f ü r das Modellieren in Licht und Schatten un d f ü r die feste Körperlichkeit alles Sichtbaren interessiert. Er wählte oft den unerwartetsten Standpunkt, von dem aus sich die Gestalten des
Bildes überraschend überschneiden, um so die Illusion der wirklichen Räumlichkeit noch zu erhöhen. Darum nahm er auch seine
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Themenideen lieber vom Ballett als aus der freien Natur. Bei den
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Proben hatte er Gelegenheit, den menschlichen Körper in allen Stellungen und von allen Seiten zu beobachten. Er sah etwa von oben auf die Bühne herunter, wo die Mädchen tanzten oder sich ausruhten, und konnte die kompliziertesten Verkürzungen und den Effekt der Bühnenbeleuchtung auf die Modellierung der menschlichen Gestalt studieren. Abb. 344 zeigt eines von Degas' Pastellen. Die Anordnung könnte nicht zwangloser aussehen. Worauf es ihm ankam, war das Spiel von Licht und Schatten auf dem menschlichen Körper und die Art, wie er den Eindruck von Körperlichkeit und Bewegung hervorrufen konnte. Er bewies der Welt der Akademien, dass die neuen Grundsätze der jungen Künstler durchaus nicht unvereinbar mit korrekter Zeichnung waren. Die eigentlichen Grundprinzipien der neuen Richtung konnten nur in der Malerei voll zum Ausdruck kommen, aber auch die Bildhauerei wurde bald in den Kampf für oder gegen die junge Kunst hineingezogen. Der große französische Bildhauer Auguste Rodin (1840—1917) war im gleichen Jahr geboren wie Monet. Er war ein glühender Verehrer der antiken Plastik und der Kunst des Michelangelo, und insofern stand seine Kunst auch nicht im Gegensatz zur Überlieferung. Tatsächlich wurde Rodin bald als großer Meister anerkannt, und sein Ruhm stieg so hoch wie der irgendeines seiner Zeitgenossen. Und doch wurden seine Werke zum Gegenstand heftiger Polemik unter den Kritikern und wurden oft mit der revolutionären Kunst der Impressionisten in einen Topf geworfen. Das wird verständlich, wenn man eines seiner Bildnisse ansieht (Abb. 34s). So wie den Impressionisten kam es Rodin nicht auf eine glatte Oberfläche an. Auch er zog es vor, etwas der Fantasie des Beschauers zu überlassen. Manchmal ließ er sogar ein Stück des Blockes unbehauen, um den Eindruck zu erwecken, dass seine Figur sich gerade aus dem Stein löste und Gestalt annahm (Abb. 346).
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Dem breiten Publikum kam das wie eine irritierende Absonderlichkeit oder einfach wie Faulheit vor. Es war dies der gleiche Einwand der schon gegen Tintoretto erhoben worden war (S. 280/281). Unter Vollendung verstanden diese Leute immer noch, dass alles bis ins Kleinste ausgearbeitet und fertig gemacht sein musste. Indem Rodin diese engstirnigen Kriterien außer Acht ließ, um seiner Vorstellung vom göttlichen Schöpfungsakt Gestalt zu geben, verhalf er dem Recht des Künstlers zur Geltung, seine Arbeit für fertig zu erklären, wenn er sein künstlerisches Ziel erreicht hatte. Gerade weil niemand ihm mangelndes Können nachsagen konnte, trug sein Einfluss dazu bei, dem Impressionismus außerhalb des engen Kreises seiner französischen Bewunderer den Weg zu bahnen. Die impressionistische Bewegung hatte Paris vollends zum künstlerischen Mittelpunkt Europas gemacht. Maler aus aller Herren Länder kamen dorthin, um zu studieren, und brachten nicht nur die neuen Entdeckungen heim, sondern auch oft die neue Einstellung des Künstlers - auch sie sahen sich als Revolutionäre, die gegen die Vorurteile der bürgerlichen Welt Sturm liefen. Einer der einflussreichsten Apostel dieses Evangeliums außerhalb Frankreichs war der Amerikaner James Abbott MacNeill Whistler (1834-1903). Whistler hatte an der ersten Schlacht der neuen Bewegung teilgenommen; er hatte im Jahre 1863 mit Manet im Salon der Zurückgewiesenen ausgestellt, und er teilte die Begeisterung seiner französischen Kollegen für japanische Holzschnitte. Zwar war er kein Impressionist im engsten Sinne des Wortes, genauso wenig wie es Degas oder Rodin waren. Was ihn beschäftigte; waren nicht so sehr die Probleme der Freilichtmalerei als die Komposition in der Fläche. Von den Pariser Malern hatte er gelernt, das Interesse des Publikums an sentimentalen Anekdoten zu verhöhnen. Er betonte immer wieder, dass es in der Malerei nicht auf den Gegenstand ankomme, sondern auf die Art, wie er in Farben und Formen umgesetzt werde. Eines der berühmtesten Bilder Whistlers, vielleicht eines der bekanntesten Gemälde aller Zeiten, ist das Bildnis seiner Mutter (Abb. 347), Es ist
sehr bezeichnend, dass er dieses Bild im Jahre 1872 als Arrangement in Grau und Schwarze ausstellte. Er fürchtete sich vor dem bloßen Anschein von Sentimentalität oder Interesse am rein Inhaltlichen. Eigentlich steht die Harmonie von Formen und Farben, nach der er strebte, in keinerlei Gegensatz zu dem Gefühlsinhalt der Darstellung. Gerade die sorgfältige Ausgewogenheit großflächiger Formen und die gedämpften Töne in Grau und Schwarz, vom Haar und Kleid der alten Dame angefangen bis zur Wand und dem Vorhang, verleiht dem Bild seine Ruhe und erhöht so die Stimmung von resignierter Einsamkeit, die es so allgemein beliebt gemacht hat. Es ist seltsam, dass der Maler eines so empfindsamen und stillen Bildes wegen seines herausfordernden Auftretens berüchtigt war. Er selbst sprach von der >edlen Kunst des Sich-Feinde-MachensNocturnos< (Abb. 348) nannte und für die er je 200 Guineas verlangte. Ruskin schrieb: >Ich hätte nie geglaubt, dass ein Geck zweihundert Guineas dafür verlangen könnte, dass er dem Publikum einen Farbtopf ins Gesicht wirftx Whistler klagte auf Ehrenbeleidigung, und der Prozess zeigte wieder einmal die tiefe Kluft, die den Standpunkt des Publikums von dem des Künstlers trennte. Die Frage des >Ausgeführtseins< kam dabei wieder zur Sprache, und der Anwalt der Gegenseite fragte Whistler, ob er diesen enormen Betrag wirklich für die Arbeit zweier Tage verlange, worauf er antwortete: >Nein, ich verlange ihn für die Erfahrung eines ganzen Lebensx Es ist seltsam, wie viel die Opponenten in diesem unglücklichen Prozess tatsächlich gemeinsam hatten. Beide waren sie
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Revolution in Permanenz
zutiefst unzufrieden mit den Torheiten ihrer Umgebung. Ruskin, der Ältere, hoffte, seine Landsleute zu einer stärkeren Wahrnehmung der Schönheit zu führen, durch den Appell an ihre Moral. Whistler dagegen wurde zu einer führenden Gestalt der sogenannten ästhetischen BewegungKunst< aus einem der Musterbücher >historischer Stile< auf die Fassade gekleistert wurde. Es ist eigenartig, wie lange die Mehrzahl der Architekten sich mit diesem Verfahren zufrieden gab. Das Publikum verlangte eben Säulen, Pilaster, Gesimse und Profile, und genau das lieferten ihm die Architekten. Aber gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts fiel die Unsinnigkeit dieser Mode immer mehr Leuten auf. Vor allem in England beunruhigten sich Künsüer und Kritiker zutiefst über den Verfall handwerklichen Könnens, den die industrielle Revolution mit sich gebracht hatte; der Anblick der schäbigen Fabrikware mit ihren sinnlosen und seelenlosen gestanzten Ornamenten war ihnen verhasst. Männer wie John Ruskin und William Morris träumten von einer Wiederbelebimg der alten Handwerkskunst. Sie wollten die billige Fabrikware durch hebevolle Handarbeit ersetzen. Ihre Kritik machte tiefen Eindruck, obwohl es sich herausstellte, dass unter den heutigen Verhältnissen die schlichte Handarbeit der größte Luxus ist. Natürlich konnte die Propaganda die Fabrikarbeit nicht verdrängen, aber sie öffnete vielen die Augen für die bestehenden Probleme und machte das Echte, Einfache und >Selbstgesponnene< modern. Junge Künsüer betrachteten es nicht mehr als unter ihrer Würde, Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, Tapeten, Stoffmuster, Keramik und Möbel, zu entwerfen. Der
Präraffaelit William Morris (1834-1896), der auch als Dichter und Befürworter des Sozialismus berühmt war, beschritt als einer der Ersten diesen Weg, und sein Beispiel wurde in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts in vielen Ländern Europas nachgeahmt. Morris und Ruskin hatten noch gehofft, die Kunst durch eine Rückkehr zu mittelalterlichen Arbeitsweisen zu retten. Aber die meisten Künsder erkannten die Unmöglichkeit solchen Strebens. Sie fühlten die Zeit gekommen, dass endlich ein neuer Stil, eine neue Kunst entstehe. Der Schlachtruf >neue KunstJugendstil< bekannt, und zwar nach der Münchner Wochenschrift >ie Jugend, die nach dem Vorbild englischer Kunstzeitschriften eine eue Kunst für eine neue Lebensform predigte. Die Beschäftigung mit der Frage des >Stils< und die Hoffnung, ass Japan Europa dabei behilflich sein könne, aus dem Engpass herauszukommen, blieb nicht alleine auf die Architektur beschränkt, doch das Gefühl der Unzufriedenheit mit der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts, das die Künstler gegen Ende dieser Periode ergriff, lässt sich weniger leicht erklären. Doch sollten wir nach seinen Wurzeln fragen, da aus ihnen Antriebe hervorgingen, die zu jenem Phänomen hinführen, das wir >Moderne Kunst< nennen. Mitunter betrachtet man die Impressionisten als die ersten >modernen< Künstler, da sie sich gegen gewisse Regeln wandten, die in den Akademien gelehrt
wurden. Doch sollten wir uns daran erinnern, dass die Impressionisten in ihrer Zielsetzimg nicht grundsätzlich von den künstlerischen Traditionen abwichen, die seit der Entdeckung der Natur in der Renaissance entwickelt worden waren. Auch sie wollten die Natur so malen, wie wir sie sehen, und sie stritten mit der älteren Generation nicht so sehr um das Ziel, als um die Methoden. Sie beabsichtigten eine noch perfektere Wiedergabe der visuellen Impression. Vielleicht war es gerade der völlige Triumph ihrer Methoden, der einige Künstler zögern ließ, sie anzuerkennen. So konnte es für einen Augenblick so erscheinen, als seien alle Probleme einer Kunst gelöst, die nach der Wiedergabe des optischen Eindrucks strebte, und als könne durch weitere Verfolgung dieses Ziels nichts mehr weiter gewonnen werden. Aber wir wissen schon: Sobald in der Kunst ein Problem gelöst ist, treten eine Unzahl neuer an seine Stelle. Einer der ersten Künsder, der die deudiche Ahnung von dem Wesen dieser neuen Probleme hatte, war ein Maler, der noch zur selben Generation gehörte wie die führenden Impressionisten. Es war Paul Cezanne (1839-1906), der nur sieben Jahre jünger war als Manet und sogar zwei Jahre älter als Renoir. In seiner Jugend hatte Cezanne sich an den Ausstellungen der Impressionisten beteiligt, aber er war so angewidert von ihrer Aufnahme durch das Publikum, dass er sich in seine Vaterstadt Aix-en-Provence in Südfrankreich zurückzog, wo er sich ungestört von dem Geschrei der Tagespresse dem Studium der Probleme seiner Kunst hingab. Als Sohn eines Bankiers war er nicht darauf angewiesen, Käufer für seine Bilder zu finden. So konnte er sein Leben lang mit den künsderischen Problemen ringen, die er sich gestellt hatte, und immer streben, den höchsten Ansprüchen zu genügen. Äußerlich lebte er geruhsam und zurückgezogen, aber innerlich war er die ganze Zeit in leidenschaftlichem Kampf begriffen, um das Ideal künsderischer Vollendung zu erreichen, das ihm vorschwebte. Er war kein Freund der Theorie, aber als sein Ruhm in einem kleinen Kreis von Bewunderern wuchs, ließ er sich manchmal herbei, mit ein paar Worten anzudeuten, worum es ihm ging. Einer seiner berühmten
Aussprüche ist, dass er versuche, >Poussin nach der Natur< zu malen Er wollte damit sagen, dass die klassischen Meister wie Poussin ihren Bildern eine wunderbare Geschlossenheit und Vollendung zu geben wussten. Ein Bild wie Poussins >Et in Arcadia ego< (Abb. 254) ist durchaus harmonisch, da jede Form gegen eine andere abgewogen ist. Man hat das Gefühl, dass nichts dem Zufall überlassen, sondern dass alles an seinem Platz ist. Jede Einzelheit zeichnet sich klar ab, und man fühlt, dass jedes Ding einen Raum einnimmt. Dabei hat das Ganze eine natürliche Schlichtheit, die den Eindruck der Ruhe und des Friedens vermittelt. Cezanne sehnte sich nach einer Kunst, in der etwas von dieser stillen Größe lebte. Er glaubte aber nicht, dass dies noch immer mit den Mitteln Poussins erreichbar war. Schließlich hatten die alten Meister ihre Ausgewogenheit und Klarheit auf Kosten der Wirkhchkeitsnähe erreicht. Poussins Bilder sind genau genommen aus Motiven komponiert, die' er dem Studium antiker Plastiken verdankt. Selbst den Eindruck von Raum und Solidität erreichten die alten Meister eher durch die Anwendimg erlernter Regeln als dadurch, die Dinge wirklich anzuschauen. Cezanne teilte die Meinung seiner Freunde unter den Impressionisten, dass diese Methoden der akademischen Kunst der Natur zuwiderliefen. Er bewunderte die neuen Entdeckungen auf dem Gebiet der Farbengebung und Modellierung. Auch er wollte sich gänzlich dem Natureindruck hingeben und Formen und Farben malen, wie er sie sah unid nicht wie er sie verstandesmäßig kannte und darzustellen gelernt hatte. Aber er war beunruhigt über die Richtung, in der sich die Malerei bewegte. Die Impressionisten waren Meister im Malen der >Naturkomponierten< Landschaft zurückkehren wollte, um eine ausgewogene Komposition zu schaffen. Wenn er über Farbengebung nachgrübelte, sah er sich noch: dringender vor die Notwendigkeit einer Entscheidung gestellt: Cezainne sehnte sich ebenso sehr nach leuchtenden, starken Farben wie nach klaren Formen: Wir wissen, dass die mittelalterlichen Künsder, ein solches Verlangen nicht befriedigen konnten, da sie sich nicht verpflichtet fühlten, das wirkliche Aussehen der Dinge zu respektieren (S. 135/136). Aber seit die Kunst zur Naturbeobachtung zurückgekehrt war, mussten die klaren, leuchtenden Farben mittelalterlicher Glasgemälde oder Buchmalereien den abgestimmten Farbtönen weichen, mit: denen die-größten venezianischen und holländischen Maler (S. 247 ff. und 323) Licht: und Lufti f hervorzuzaubern verstanden. Die Impressionisten waren davon abge-
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kommen, die Farben auf der Palette zu mischen, und hatten sie ungemischt in kleinen Flecken und Strichen auf die Leinwand gesetzt, UmY das Farbengeflimmer in der freien Natur wiederzugeben. Ihre Bilder wirkten viel lichtstärker als die ihrer Vorgänger, aber dies genügte Cezanne noch nicht. Er wollte satte, Tingebrochene Töne wiedergeben, wie man sie in der Natur unter einem südlichen Himmel findet, aber
er musste die Erfahrung machen, dass es den Eindruck der Wirklichkeit zerstört, wenn man größere Flächen in einfachen, ungemischten Farben anlegt. Derart gemalte Bilder wirken wie Muster in der Fläche und können nie den Eindruck von Raumtiefe erwecken. So schien Cezanne sich überall in Widersprüche zu verwickeln. Seine Absicht, dem Sinneseindruck vor der Natur unbedingt treu zu bleiben, schien im Widerspruch zu seinem Wunsch zu stehen, >den Impressionismus^ wie er sagte, >in etwas Gefestigteres und Beständigeres zu verwandeln, wie die-Kunst der MuseenSeht euch die Bilder im Original an! modernen Kunst< winde. In seinem gewaltigen Ringen, den Eindruck von Bildtiefe zu erzielen, ohne die Leuchtkraft der Farben zu opfern, eine Ordnung in der Fläche zu erreichen, ohne die Raumwirkung aufzugeben - in all diesem Tasten und Mühen gab es eines, das er bereit war, wenn nötig, zu opfern: die Konvention der richtigen Zeichnung. Er war nicht darauf aus, das Naturbild zu verzerren, aber es lag ihm nicht sehr viel daran, wenn es irgendwo ein wenig verzerrt wurde, falls ihm das half, die erstrebte Wirkung zu erzielen. Brunelleschis Erfindung der >Fluchtpunkt-Perspektive< (S. 169-171) interessierte ihn nicht besonders. Er verzichtete i auf sie, als er fand, dass sie ihn in der Arbeit behinderte. SchließI lieh war diese wissenschafdiche Perspektive erfunden worden, um I den Malern zur Schaffung einer Raumillusion zu verhelfen — wie |Masaccio das in seinem Fresko in Sta. Maria Novella (Abb. 149) getan hatte. Cezanne wollte keine Illusion erzeügen. Er wollte eher den indruck von Körperlichkeit und Raumtiefe geben, und er fand, dass r dies ohne die konventionelle Darstellungsweise vermochte. Er nte kaum, dass dieses Beispiel von Gleichgültigkeit der >richtigen Zeichnung< gegenüber einen völligen Umsturz in der Kunst auslösen würde. Während Cezanne nach einer Verbindungsmöghchkeit impressionistischer Arbeitsweisen und klarer Ordnung suchte, ging der viel jüngere Georges Seurat (185^9—1891) dieses Problem fast wie eine mathematische Gleichung an. Er studierte die Theorien über das Farbsehen und begann, seine Bilder wie ein Mosaik aus gleichmäßigen Pünktchen reiner Farbe aufzubauen, So würden sich, wie er hoffte, die Farben im Auge (genauer: im Gehirn) vermischen, ohne an
Intensität oder Leuchtkraft zu verlieren. Diese extreme Technik aber, die als Pointiiiismus bekannt wurde, gefährdete die Erkennbarkeit seiner Motive, da er jede Form in Ansammlung bunter Punkte auflöste. Um der Komplexität seiner Maltechnik Rechnung zu tragen, musste Seurat daher die Formen noch radikaler vereinfachen, als Cezanne es jemals erwogen hatte (Abb. 354). Seurats Betonung von Horizontale und Vertikale verleiht seinen Bildern etwas nahezu Ägyptisches. Im Winter des Jahres 1888, als Seurat in Paris für Aufsehen sorgte und Cezanne seine Landschaften und Stillleben in Aix malte, kam ein ernster junger Holländer nach Südfrankreich auf der Suche nach dem Licht und den Farben des Südens. Er hieß Vincent van Gogh; Van Gogh war im Jahre 1853 als Sohn eines Pastors geboren. Er war ein tief gläubiger Mensch, der als Laienprediger in England und unter den belgischen Grubenarbeitern gewirkt hatte. Die Kunst des Millet (S. 389/390) mit ihrer sozialen Tendenz hatten einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und er! beschloss, selbst Maler zu werden. Sein jüngerer Bruder Theo, .der in Paris in einer Kunsthandlung angestellt war, machte ihn mit impressionistischen Malern bekannt. Dieser Bruder war ein besonderer Mensch. Obwohl er selbst arm war, unterstützte er den älteren Vincent immer ohne zu zögern und gab ihm sogar Geld, um seinen Aufenthalt in Südfrankreich zu ermöglichen. Vincent hoffte, wenn er dort einige Jahre ungestört arbeiten könnte, würde er eines Tages imstande sein; seine Bilder zu verkaufen und seinem großzügigen Bruder das Geld zurückzuzahlen. In seiner selbst gewählten Zurückgezogenheit in Arles sprach Vincent in seinen Briefen an seinen Bruder, die wie ein Tagebuch wirken, von allen seinen Ideen und Hoffnungen. Diese Briefe eines bescheidenen Künsders, der nahezu ein Autodidakt war und nicht im Entferntesten ahnte, wie berühmt er eines Tages sein würde, gehören zu den erschütterndsten und aufregendsten Dokumenten der Literatin:. Man erlebt darin den Glauben des Künsders an seine Sendung, die Verzweiflung und die Freude, seine tragische Einsamkeit und seine Sehnsucht nach Kameradschaft, und man fühlt, unter welch ungeheurem Druck er
fieberhaft malte. Nach kaum einem Jahr, im Dezember 1888, brach er in einem Anfall von Wahnsinn zusammen. Im Mai 1889 ging er in eine Irrenanstalt, hatte aber immer noch Uchte Momente, in denen er weitermalte. Die Qual dauerte noch vierzehn Monate. Im Juli 1890 setzte van Gogh seinem Leben ein Ende, er war siebenunddreißig wie Raffael. Seine Laufbahn als Maler hatte kaum zehn Jahre gewährt, und die Bilder, die ihn heutzutage berühmt gemacht haben, stammen aus den letzten drei Jahren, als seine Arbeit so oft von Krisen und Verzweiflung unterbrochen war. Die meisten Leute kennen heutzutage wenigstens einige dieser Bilder: die Sonnenblumen, der leere Stuhl, die Zypresse, und einige seiner Bildnisse sind als Reproduktionen weit verbreitet, und man begegnet ihnen in vielen schlichten Zimmern. Genau das wollte van Gogh. Er wollte, dass seine Bilder die gleiche starke, unmittelbare Wirkimg ausüben sollten wie die japanischen Farbholzschnitte, die er so liebte (S. 404). Er sehnte sich nach einer volkstümlichen Kirnst, die nicht nur den reichen Kennern gefallen sollte, sondern jedem Menschen Freude und Trost spenden würde. Und doch, alles hat seine Schattenseiten. Keine farbige Reproduktion I ist vollkommen. Auf den billigen Ansichtskarten wirken van Goghs Bilder schreiender, als sie wirklich sind, und man wird ihrer manchmal satt. Wann immer einem das passiert, ist es geradezu eine Offenbarung, zu van Goghs Originalen zurückzukehren und zu entdecken, wie feinfühlig und gekonnt sie selbst in ihren stärksten Effekten sind. Denn auch van Gogh hatte die Lehren Seurats und des I Impressionismus in sich aufgenommen. Er experimentierte mit hellen, reinen Farben, die er nicht auf der Palette mischte, sondern in kleinen Strichen oder Punkten auf die Leinwand setzte, aber in seiner Hand bekam diese Technik eine ganz andere Bedeutimg. Bei ihm sind die Pinselstriche nicht nur dazu da, die Farbe zu zerlegen, sondern vor allem seine eigene Erregung zu vermitteln. In einem seiner Briefe aus Arles beschreibt er den Zustand der Inspiration, wenn >die Gefühle manchmal so stark sind, dass man malt, ohne es zu merken... und die Pinselstriche einander so zusammenhängend folgen wie die Worte
in der Rede oder in einem BriefIch habe eine neue Idee, und hier siehst du die Skizze dazu - diesmal will ich ganz einfach mein Zimmer malen, aber hier muss die Farbe alles tun und durch die Vereinfachung dem Ganzen mehr Stil
geben; es soll eine Wirkung von Ruhe und von Schlaf davon ausgehen.
Mit anderen Worten: Der Anblick des Bildes soll die Nerven und die Fantasie beruhigen. Die Wände sind blasslila. Der Fußboden ist aus roten Fliesen. Das Bett und die Sessel sind gelb wie Butter, das Bettlinnen und das Polster sind hellgrün wie eine Zitrone. Die Bettdecke ist rot. Das Fenster grün. Der Waschtisch orange, das Waschbecken blau. Die Türen violett. Und das ist alles — das Zimmer ist leer, die Lüden sind zu. Auch die rohen Umrisse der Möbel müssen eine tiefe Ruhe ausdrücken. Bildnisse an den Wanden, ein Spiegel, ein Handtuch und ein paar Kleidungsstücke. Der Rahmen — weil ja kein Weiß im Bild ist - wird weiß sein. Das wird meine Rache sein für die Zeit des Ausruhens, zu der ich gezwungen war. Ich werde heute den ganzen Tag daran arbeiten, und du siehst, wie einfach das Ganze in der Anlage ist. Die Schatten und Schlagschatten sind weggelassen, es soll in großen, ungebrochenen Flächen angelegt werden wie ein japanischer Holzschnitt.. .
stereoskopische Wirklichkeits-WiedergabfeSüdsee-InselnZeitalters des Glaubens< zu finden. Die Impressionisten bewunderten die Japaner. Aber auch das war eine verfeinerte Kunst im Vergleich mit der Naivität und Intensität, nach der sich Gauguin sehnte. Zuerst beschäftigte er sich mit der Volkskunst in der Bretagne, aber das genügte ihm nicht lange. Es trieb ihn fort aus Europa, zu den Südseeinsulanern, um mit ihnen zu leben und dort das Heil zu finden. Selbst seine alten Freunde schüttelten den Kopf über die Bilder, die er von dort mitbrachte. Sie kamen ihnen so roh und primitiv vor. Gerade das wollte Gauguin. Er war stolz darauf, dass man ihn einen >Barbaren< nannte. Selbst in der Farbe und Zeichnung wollte er barbarisch sein, um den unverdorbenen Naturkindern gerecht zu werden, die er in Tahiti bewundem und lieben gelernt hatte. Heute ist es uns vielleicht nicht ganz leicht, seine Bilder (Abb. 358) noch üi diesem Licht zu sehen. Wir haben uns an viel >barbarischere< Bilder gewöhnt. Und doch merkt man, dass Gauguin einen neuen Ton anschlägt. Nicht nur das Thema einer Gemälde ist fremdartig und exotisch. Er versucht, sich in die Anschauungen der Eingeborenen einzufühlen und die Dinge mit / ihren Augen zu sehen. Er studierte die Technik ihrer Bildschnitzer, und man sieht auch in seinen Bildern primitive Kunstwerke an den Wanden des Raumes. Auch seine Bildnisse der Eingeborenen sollten zu den >primitiven< Kunstwerken passen. Darum vereinfachte er die Umrisse der Gestalten und scheute sich auch nicht, große Flächen in starken Farben anzulegen. Im Gegensatz zu Cezanne lag ihm nichts daran, wenn diese vereinfachten Formen und Farben dem Bild die räumliche Wirkung nahmen. Er ignorierte mit Freuden die jahrhundertealten Probleme abendländischer Kunst, wenn er dachte, dass ihm
das dazu verhelfen könnte, die unverdorbene Frische dieser Naturkinder einzufangen. Vielleicht gelang es ihm nicht immer, dieses Ziel der Unmittelbarkeit und Schlichtheit auch zu erreichen, aber seine Sehnsucht danach war so leidenschaftlich und so echt wie die Cezannes nach einer neuen Harmonie und die van Goghs nach einer neuen Audrucksform; denn auch Gauguin opferte sein Leben seinem Ideal. Er fühlte sich in Europa verkannt und beschloss, auf immer in der Südsee zu leben. Nach Jahren der Enttäuschimg und Vereinsamung starb er dort im größten Elend. Cezanne, van Gogh und Gauguin waren drei Einsame, die zeit ihres Lebens wenig Hoffnung hatten, je verstanden zu werden. Aber die Probleme ihrer Kunst, die ihnen so ungeheuer viel bedeuteten, beschäftigen auch andere Künstler in zunehmendem Maße, die mit den Fertigkeiten nicht zufrieden waren, die ihnen die Kunstschulen vermitteln konnten. Sie hatten zwar gelernt, nach der Natur zu arbeiten, korrekt zu zeichnen und mit Farbe und Pinsel umzugehen, sie hatten sogar die Lehren der impressionistischen Revolution aufgenommen und achteten auf das Flimmern von Sonnenlicht und Luft. Einige große Künstler schritten auch tatsächlich auf diesem Weg weiter und kämpften für die neuen Methoden in den Ländern, in denen der Widerstand gegen den Impressionismus noch stark war, aber viele Maler der jüngeren Generation suchten neue Wege, um die Schwierigkeiten, die Cezanne erkannt hatte, zu lösen, zumindest aber zu umgehen. Die Schwierigkeiten entstanden im Wesentlichen durch die Unvereinbarkeit (von der schon die Rede war, siehe S. 375/376) zwischen der Notwendigkeit, mit abgestuften Nuancen den Eindrück von Tiefe zu erzeugen, und dem Wunsch, die Schönheit der Farben so zu erhalten, wie wir sie sehen. Die japanische Kunst hatte diesen Künstlern gezeigt, dass ein Bild sehr viel stärker wirken kann, wenn man Modellierung und andere Details einer kühnen Vereinfachung opferte. Van Gogh und Gauguin hatten diesen Weg beschritten:, als sie ihren Farben den Vorrang vor der Suggestion von Tiefe gaben. Seurat war in seinen Experimenten
mit dem Pointiiiismus sogar noch weiter gegangen. Pierre Bonnard (1867-1947) verstand es mit großem Talent und außerordentlichem Feingefühl, in seinen Bildern das Flimmern von Licht und Farbe so zu verweben, als seien sie Wandteppiche. Sein Bild eines gedeckten Tisches (Abb. fgjg§ zeigt, wie er auf Perspektive und Tiefe verzichtete, damit wir uns umso mehr an einem farbenfrohen Muster erfreuen. Der Schweizer Maler Ferdinand Hodler (1853-1918) erreichte mit der konsequenten Vereinfachung einer heimatlichen Landschaftsszene eine Klarheit, die an Plakate denken lässt (Abb. 360). Dass dieses Gemälde uns an ein Plakat erinnert, ist kein Zufall, denn die Techniken, die die Europäer von den Japanern erlernt hatten, erwiesen sich als außerordentlich gut geeignet für die Kunst der Reklame. Bereits vor der Jahrhundertwende bediente sich Degas' (S. 404/405) begabter Anhänger Henri de Toulouse-Lautrec (18641901) dieser Sparsamkeit der Mittel für die noch junge Kunst des Plakats (Abb. 361). Auch die Kunst der Illustration profitierte von derartigen neuen Effekten. Eingedenk der großen Liebe und Sorgfalt, mit der frühere Zeiten Bücher herstellten, wollten Männer wie William Morris keine nachlässig produzierten Bücher oder Illustrationen dulden, die lediglich eine Geschichte erzählten, ohne Rücksicht darauf, wie sie auf der gedruckten Seite wirkten. Von Whisder und den Japanern inspiriert, wurde das Wunderkind Aubrey Beardsley (1872-1898) mit seinen raffinierten Schwarzweiß-IUustrationen (Abb. 362) über Nacht in ganz Europa berühmt. Ein Wort, das während des Jugendstils häufig als Lob benutzt wurde, war >dekorativgnte alte Zeit« nnd lehnen die moderne Kunst rundweg ab. Aber die ganze Angelegenheit ist unendlich viel komplizierter, denn es lässt sich zeigen, dass auch die moderne Kunst einen Versuch darstellt, bestimmte Probleme zu lösen, vor die sich die Künsder gestellt sahen. Wem es nicht passt, dass die Kunst mit der Vergangenheit gebrochen hat, der müsste eigentlich die Französische Revolution von 1789 ungeschehen machen, und das ist nun einmal nicht möglich. Damals wurde, wie wir wissen, der >Stil< selbst den Künsdern zum Problem, sodass sie ganz neu beginnen wollten und immer neue Richtungen in der Kunst proklamiert wurden, die gewöhnlich irgendeinen >Ismus< als Schlachtruf wählten. Merkwürdigerweise war es schließlich der Kunstzweig, der am meisten unter dieser babylonischen Sprachverwirrungen gelitten hatte, der am erfolgreichsten zur Schaffung eines wirklich neuen und soliden Stils überging: Die moderne Baukunst entwickelte sich nur langsam, aber dafür sind ihre Prinzipien heute so klar und allgemein anerkannt, dass nur wenige sie ernstlich infrage stellen. Wir haben gesehen, wie das Streben nach einem neuen Stil für die Baukunst und das Ornament zu den Experimenten des Jugendstils führte, bei denen die neuen technischen Möglichkeiten der Eisenkonstruktion sich mit spielerischen Ornamenten verbanden (Abb. 349). Aber die Architektur des zwanzigsten Jahrhunderts sollte nicht aus solchen Experimenten hervorgehen. Die Zukunft gehörte vielmehr denjenigen, die entschlossen waren, ganz neu zu beginnen und sich nicht um diese Voreingenommenheit für Stil oder Ornament zu kümmern, seien sie alt oder neu. Statt sich nach neuen Zierformen umzusehen, verzichteten die jüngsten Architekten auf jedes Ornament und beschlossen, bei ihrer Aufgabe die Funktion eines Gebäudes zu bedenken. Diese
Lösung des gordischen Knotens mag an mehreren Stellen zugleich gefunden worden sein, aber nirgends mit größerer Zielsicherheit als in dem von Traditionen unbelasteten Amerika. Der Amerikaner Frank Lloyd Wright ( 1 8 6 9 - 1 9 5 9 ) war einer der Ersten, der die Konsequenzen daraus zog. dass es bei einem Haus auf die Räume und nicht auf die Fassade ankommt. Wenn es den Bedürfnissen der Bewohner entsprach und für ihre Lebensweise geplant war, konnte man sich darauf verlassen, dass es auch von außen annehmbar wirken würde. Heute mag uns dieses Programm nicht sehr revolutionär vorkommen, aber es führte dazu, dass Wright die vermeintlich unantastbaren Gesetze der Baukunst brach, Abb. 363 zeigt eines seiner frühesten Häuser. Dem Haus fehlt alles, was damals für unentbehrlich galt, die klassisch profilierten Gesimse und die Gliederung der Wand durch Ornamentik, vor allem aber die äußere Symmetrie der Anordnung. Trotzdem
sali
sich Wright nicht als Ingenieur. Er propagiert »organische Architektur und meint damit, dass sein Haus aus den Bedürfhissen des Volkes und aus dem Charakter der Landschaft herauswachsen muss wie ein lebendiger Organismus. Es widerstrebte Wright, den Alleinanspruch der Ingenieure anzuerkennen, die sich anschickten, ihre Anschauungen mit Überzeugungskraft zu propagieren. Denn wenn William Morris' Ansicht richtig war, dass keine maschinelle Methode je die Gediegenheit und Feinheit menschlicher Handarbeit ersetzen kann, blieb nichts anderes übrig, als zu untersuchen, worin die Stärke der maschinellen Erzeugung lag, und all unsere Entwürfe darauf abzustimmen. Auch hier gab es viele, die das empörend fanden. Man muss zugeben, dass der Verzicht der Architekten auf alle Schmuckformen tatsächlich einen Bruch mit einer jahrhundertealten Überlieferung darstellt. Das ganze fiktive System der Säulenordnungen, das seit Brunelleschi die Baukunst beherrschte, wurde aufgeopfert, und die Stuckfassaden mit ihren falschen Profilen, Pilastern und Schnörkelwerk w u r d e n weggefegt w i e Spinnweben. Im ersten Augenblick machten diese glatt gefegten Fassaden einen unerträglich unfertigen,
nackten Eindruck. Als der Wiener Architekt Loos es das erste Mal wagte, die Fensteröffnung ohne Gesims zu lassen, beklagte man sich über das >Haus ohne AugenbrauenFunktionalismus< oder >Zweckform< zusammengefasst. Man meinte damit, dass jede zweckentsprechende Form sozusagen von selbst schön sei. Daran ist sicher viel Wahres. Jedenfalls hat diese Anschauung uns dazu verholfen, viel überflüssiges Gerümpel und allerhand Kleinkram, die unsere Zimmer und unsere öffentlichen Plätze vollstellen, loszuwerden. Andererseits übertreiben natürlich alle derartigen Schlagworte; selbstverständlich gibt es Dinge, die zweckmäßig geformt und trotzdem hässlich oder zumindest indifferent sind. Die besten modernen Bauten sind nicht nur darum schön, weil sie zweckgerecht konstruiert wurden, sondern weil sie mit Feingefühl
und Geschmack so entworfen sind, dass die ganze Anlage nicht nur dem praktischen Zweck dient, sondern auch den Eindruck erweckt: >So ist es richtig, so soll es sein!< Dazu gehört viel Geduld und viel Experimentieren mit neuen Materiahen und ungewohnten Proportionen. Selbst wenn die Architekten dabei manchmal in eine Sackgasse geraten, kommt ihre Erfahrung dann doch allen zugute. Künstler können nun einmal nicht immer auf Nummer sicher gehen, und nichts ist wichtiger, als die Rolle zu erfassen, die selbst die scheinbar verrücktesten und extravagantesten Experimente in der Entwicklung neuer Gebrauchsformen gespielt haben, die uns heute ganz selbstverständlich vorkommen. Der Baukunst gestehen heute viele das Recht auf solche kühnen Experimente und Neuerungen zu, aber wenige sehen ein, dass die Situation in der Malerei und Plastik eigentlich dieselbe ist. Viele Leute, die nicht das Geringste für das >hypermoderne Zeug< übrig haben, wären höchst überrascht, zu erfahren, wie viel davon schon ihrem eigenen Alltag angehört und täglich dazu beiträgt, ihren Geschmack und ihre Vorheben zu bilden. Formen und Farbenzusammenstellungen, die von den >verrücktesten< hypermodernen Rebellen entwickelt wurden, sind inzwischen gang und gäbe geworden: Wir sehen sie auf Plakaten, Umschlagzeichnungen und Stoffmustern, und sie gefallen uns dort sehr gut. Fast könnte man sagen, dass die moderne Kunst dadurch, dass sie zum Experimentierfeld für neue Farben- und Formzusammenstellungen geworden ist, eine neue Funktion erlangt hat. Aber wie kommt der Maler überhaupt dazu, Experimente zu machen? Warum kann er sich nicht damit zufrieden geben, sich einfach in die Natur zu setzen und zu malen, so gut er eben kann? Darauf ist Folgendes zu antworten: Die Kunst hat gerade darum ihre Orientierung verloren, weil die Künsder die Erfahrung machten, dass die scheinbare schlichte Forderung >Malt, was ihr seht< unerfüllbar ist. Das klingt möglicherweise wie eines der Paradoxe, mit denen moderne Künsder und Kritiker das geduldige Laienpublikum so gern
zur Raserei bringen, aber wer diesem Buch von Anfang an gefolgt ist, wird wissen, was gemeint ist. Denken wir zurück an den primitiven Künstler, der z.B. ein Gesicht aus einfachen Formen aufbaute (Abb. 8g§ und gar nicht darstellte, was er sah. Wir haben auch oft an die Ägypter erinnert, die in ihren Darstellungen alles anbrachten, von dem sie wussten, dass es da sei, und sich um das Sehen nicht viel kümmerten. Die griechische und römische Kunst hauchte diesen schematischen Gestalten Leben ein, die mittelalterliche Kunst verwendete sie dazu, die heiligen Geschichten nachzuerzählen, den Chinesen war die Kunst Mittel zur Meditation. Keiner bedrängte die Künsder, zu malen, was sie sahen. Dieser Gedanke taucht erst in der Renaissance auf. Zunächst schien alles glänzend zu gehen. Wissenschaftliche Perspektive, sfumato, venezianische Farben, Bewegung, Ausdruck wurden den Darstellungsmitteln hinzugefugt und bereicherten des Künsders Fähigkeit, die Welt nachzubilden. Und doch musste jede Generation die Entdeckung machen, dass es noch immer unerwartete Widerstandsnester gab, Stützpunkte der Konvention, in denen die Künsder mit erlernten Schablonen hantierten, statt wirklich auf die Natur zu sehen. Das neunzehnte Jahrhundert wollte nun mit all diesen Konventionen aufräumen; eine nach der anderen musste daran glauben, bis die Impressionisten der Meinung waren, dass ihr Verfahren es ihnen ermöglichte, unser >Netzhautbild< mit wissenschaftlicher Akribie auf die Leinwand zu übertragen. Die Bilder, die nach dieser Theorie gemalt wurden, sind hinreißende Kunstwerke, aber das soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Theorie selbst nur zur Hälfte richtig war. Man weiß heute besser als damals, dass >sehen< und >wissen< sich nie völlig trennen lassen. Ein blind Geborener, der später sein Augenlicht erlangt, muss erst sehen lernen. Mit einiger Konzentration und Selbstbeobachtung können wir an uns selbst die Erfahrung machen, dass alles, was wir >Sehen< nennen, immer wieder davon beeinflusst wird, was wir zu sehen glauben (oder was wir wissen). Gewöhnlich stellt sich das heraus, wenn sich ein Widerspruch ergibt. Es kommt ja
vor, dass unser Auge sich täuscht. Irgendein kleiner Gegenstand, der ganz nahe ist, kann wie ein Berg am fernen Horizont wirken, oder ein vorbeiflatterndes Blatt Papier wie ein Vogel. Sobald wir bemerkt haben, dass wir einer Täuschung erlegen sind, ist es uns fast unmöglich, den Gegenstand weiterhin so zu sehen wie früher. Wären wir vor die Aufgabe gestellt, so einen Gegenstand zu malen, so müssten wir vor und nach unserer Entdeckung der Täuschung ganz verschiedene Farben und Formen verwenden. Im Grunde genügte es, wenn wir einen Bleistift zur Hand nehmen und zu zeichnen beginnen, um die Undurchführbarkeit einzusehen, wir sollten uns ganz passiv unseren >Wahrnehmungen< hingeben. Wenn wir einfach zum Fenster hinausschauen, können wir die Aussicht in der verschiedensten Weise sehen. Einmal blicken wir auf das, dann auf etwas anderes, [
und unser Sinneseindruck ist ein ganz anderer, wenn wir nach dem Briefträger Ausschau halten oder wenn wir abschätzen wollen, ob es regnen wird. Was nehmen wir da >wirklieh< wahr? Aber wenn wir eine Skizze machen wollen, müssen wir uns entscheiden. Wir müssen
I
irgendwo anfangen, mit einigen >konventionellen< Strichen anfangen, das Bild aufzubauen. Der >Agypter< in uns kann unterdrückt werden, aber ganz überwinden lässt er sich nicht. Ich glaube, darin liegt eine der Hauptschwierigkeiten, die von der Generation nach den Impressionisten dunkel empfunden wurde und sie schließlich dazu bewog, die ganze Überlieferung des Abendlandes radikal zu verwerfen. In den Jahren der künsderischen Umwälzung, die vor dem Ersten Weltkrieg ihrem Höhepunkt zustrebte, teilten viele junge Künsder eine Begeisterung für die sogenannte >NegerkunstIsmus< begrüßt, dem die Zukunft gehören würde. Diese Zukunft war selten von langer Dauer, und doch muss die Geschichte der Kunst unseres Jahrhunderts diese ruhelosen Experimente zur Kenntnis nehmen, denn viele der begabtesten Künstler jener Zeit schlössen sich dieser Suche an. Von diesen Experimenten lässt sich der >Expressionismus< vielleicht am leichtesten in Worte fassen. Expressionismus heißt Ausdruckskunst. Das Wort ist kaum sehr glücklich gewählt, denn wir wissen ja, dass wir uns letzten Endes in allem >ausdrückenPorträtähnlichkeit< war für ihn nur der Anfang, der Ausgangspunkt. Sobald er mit dem naturgetreuen Bildnis fertig war, begann er es absichtlich zu verändern:
>Ich übertreibe das Blond der Haare, nehme Orange, Chrom, Zitronengelb; hinter den Kopf male ich statt der banalen Zimmerwand die Unendlichkeit. Ich mache einen einfachen Hintergrund, aus dem reinsten Blau, so stark es die Palette hergibt. Der blonde, beleuchtete Kopf wirkt auf dem reichen Blau wie ein Stern auf blauem Himmel. Ach, lieber Freund, das Publikum wird in dieser Übertreibung nur die Karikatur sehen, aber was machen wir uns daraus?
expressionistischHohen Kunst< nahte. Aber van Gogh hatte richtig prophezeit, dass sein Versuch einer ernsten Karikatur, das heißt einer Darstellungsweise, die den Gegenstand verzerrt, nicht um Überlegenheit auszudrücken, sondern vielleicht Liebe, Bewunderimg oder Angst, allgemein Anstoß erregen würde. Und doch ist der Gedanke gar nicht abwegig. Es ist die reine Wahrheit, dass unsere Gefühle und Empfindungen, unsere Einstellung zu Menschen und Dingen, unsere Wahrnehmimg färben, und vor allem, dass sie unsere Erinnerungsbilder bestimmen. Jeder hat schon erlebt, wie verschieden sich dieselbe Gegend unserem Gedächnis einprägt, je nachdem, ob wir dort froh oder unglücklich waren. Unter den ersten Künsdern, die in der Erforschung dieser Wirkung noch weiter gingen als van Gogh, war der norwegische Maler Edvard Münch (1863—1944). Abb. 367 zeigt eine Lithografie von ihm aus dem Jahre 1895-, die er >Der Schrek nannte. Das Blatt will zeigen, wie eine plötzliche Erregung alle unsere Sinneseindrücke verändert. Alle Linien des Blattes führen zu dem Brennpunkt der Erregung, dem schreienden Kopf. Man hat den Eindruck, dass die ganze Umgebung die Angst und Aufregung teilt, die in diesem Schrei hegt. Das Gesicht der schreienden Person ist wirklich verzerrt wie eine Karikatur. Die starren, verdrehten Augen und hohlen Wangen erinnern an ein Totengesicht. Irgendetwas Furchtbares muss da passiert sein, und das Blatt wirkt umso beunruhigender, weil wir niemals wissen werden, was der Schrei bedeutet. Was das Publikum an der expressionistischen Kunst am meisten verstörte, war nicht so sehr, dass ein Naturvorbild verzerrt, als
dass die Schönheit dadurch bedroht wurde. Dass ein Karikaturist die Hässlichkeit der Menschen herausarbeitete, ließ man sich gefallen, schließlich gehörte das zu seinem Beruf. Aber es erboste die Leute, dass Künstler, die ernst genommen werden wollten, die Natur nicht veränderten, um sie zu verschönern, zu idealisieren, sondern um sie, wie man sagte, zu verhässlichen. Aber Münch hätte wohl geantwortet, dass ein Angstschrei eben nicht schön sei und dass es unaufrichtig und verlogen wäre, immer nur die erfreulichen Seiten des Lebens darzustellen. Die Expressionisten waren so tief vom menschlichen Leid, von Elend, Brutalität und Gewalt erschüttert, dass es ihnen wie ein Verrat an der Wahrheit erschien, in dieser Welt eine >schöne< Kunst schaffen zu wollen.
>Und keiner ahnt die klaffende Grimasse, Zu der das Lächeln einer zarten Rasse In namenlosen Nächten sich entstelle, schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke in seinem Stunden-Buch (1903). Den Expressionisten erschienen die Werke der klassischen Meister, die Kunst eines Raffael oder Correggio als unehrlich und süßlich, sie empfanden eine heillose Angst vor allem, was als >kitschig< verdächtigt war. Die Expressionisten wollten den harten Tatsachen unserer Existenz ins Auge schauen und ihr Mitgefühl für die Enterbten und Ausgestoßenen zum Ausdruck bringen. Es wurde für sie zur Ehrensache, alles zu vermeiden, was nur entfernt nach Niedlichkeit und Glätte aussah, und den >Spießer< aus seiner wirklichen oder vermeintlichen Selbstzufriedenheit aufzustören. Nun machte die Künsderin Käthe Kollwitz (1867-1945-) ihre bewegenden Lithografien und Zeichnungen nicht vor allem, um Aufsehen zu erregen. Sie empfand tiefes Mitgefühl mit den Armen und Geknechteten und wollte sich für sie einsetzen. Abb. 368 gehört zu einer Folge von Illustrationen aus den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, sie sind von Gerhart Hauptmanns Theaterstück
>Die Weber< inspiriert? das von der Not der schlesischen Weber in einer Zeit der Arbeitslosigkeit und des sozialen Aufstandes handelt. In dem Stück gibt es keine Szene mit einem sterbenden Kind, aber sie verleiht dem Zyklus zusätzliche Tragik. Als die Serie für eine Auszeichnung vorgeschlagen wurde, riet der zuständige Minister dem Kaiser, dieser Empfehlung nicht zu folgen, und wies dabei insbesondere auf das Thema des Werks und seine naturalistische Ausführung hin, dem es, wie er weiter begründete, an Vermittelndem oder Versöhnlichem gänzlich fehle. Genau dies hatte Käthe Kollwitz selbstverständlich beabsichtigt. Anders als Millet (Abb. 331), der uns mit seinen >Ährenleserinnen< ein Gefühl für die Würde der Arbeit vermitteln wollte, sah Kollwitz keinen anderen Ausweg als die Revolution. Kein Wunder, dass ihr Werk viele Künsder und Propagandisten im kommunistischen Osteuropa inspirierte, wo es viel bekannter wurde als im Westen. Damals wurde auch in Deutschland der Ruf nach einem radikalen Umschwung laut. 1906 gründete eine Gruppe von Malern eine Kunstvereinigung, die sie >Die Brücke< nannten. Sie wollten mit der Vergangenheit völhg brechen und für einen Neubeginn kämpfen. Dies waren auch die Ziele von Emil Nolde (1867—195-6), der allerdings der Brücke nur kurz angehörte. Abb. 369 zeigt einen seiner beeindruckenden Holzschnitte, >Der Prophetkleinen Mannest hervorzurufen. Als die Nationalsozialisten 1933 zur Macht kamen, wurde die moderne Kunst als entartet verfemt; die bedeutendsten Exponenten der neuen Kunstbewegung wurden ins Exil getrieben oder bekamen Arbeitsverbot. Dieses Schicksal teilte der expressionistische Bildhauer Ernst Barlach ( 1 8 7 0 - 1 9 3 8 ) , dessen
>Dle Webern inspiriert, das von der Not der schlesischen Weber in einer /Ährenleserinnen' ein Gefühl für die Würde der Arbeit vermitteln wollte, sah Kollwitz keinen anderen Ausweg als die Revolution. Kein Wunder, dass ihr Werk viele Künsder und Propagandisten im kommunistischen Osteuropa inspirierte, wo es viel bekannter wurde als im Westen. Damals wurde auch in Deutschland der Ruf •
nach einem radikalen Umschwung laut. 1906 gründete eine Gruppe
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von Malern eine Kunstvereinigung, die sie >Die Brücke< nannten.
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Sie wollten mit der Vergangenheit völlig brechen und für einen Neubeginn kämpfen. Dies waren auch die Ziele von Emil Nolde (1867—195-6), der allerdings der Brücke nur kurz angehörte. Abb. 369 zeigt einen seiner beeindruckenden Holzschnitte, >Der Prophetkleinen Mannes< hervorzurufen. Als die Nationalsozialisten 1933 zur Macht kamen, wurde die moderne Kunst als entartet verfemt; die bedeutendsten Exponenten der neuen Kunstbewegung wurden ins E x i l getrieben oder bekamen Arbeitsverbot. Dieses Schicksal teilte der expressionistische Bildhauer Ernst Barlach (1870-1938), dessen
holzgeschnitzte Skulptur >Barmherzigkeit< wir zeigen (Abb. 370). Sie besteht aus einer einzigen packenden Bittgebärde. Alles, was vom Ausdruck dieser flehenden Hände ablenken könnte, wird unterdrückt. Die Betderin hat den Mantel über das Gesicht gezogen, und diese momumentale Vereinfachung verstärkt den Appell an unser Gefühl. Die Frage, ob wir ein solches Werk als hässlich oder schön empfinden sollen, ist in diesem Fall genauso irrelevant wie sie angesichts von Rembrandt (S. 325) oder Grünewald (S. 265/266) war, oder der >primitiven< Werke, die von den Expressionisten hoch verehrt wurden. Unter den Malern, die damals das Publikum schockierten, weil sie die Welt nicht durch rosafarbene Brillen ansehen wollten, war der Österreicher Oskar Kokoschka (1886-1980). Als er im Jahr 1909 das erste Mal in Wien ausstellte, erregten seine Bilder einen Sturm der Entrüstimg. Abb. 371 zeigt eines dieser frühen Werke, ein Kinderbildnis. Heute wirkt es erstaunlich lebenswahr und überzeugend, und doch kann man sich gut vorstellen, was die Leute damals abschreckte. Man muss nur an die Kinderbildnisse eines Rubens (Abb. 257), Veläzquez (Abb. 267), Reynolds (Abb. 305) oder Gainsborough (Abb. 306) zurückdenken: So verschieden sie auch sind, die Kinder sahen damals immer hübsch und zufrieden aus. Die Erwachsenen wollten nichts von den Krisen und Qualen des Kindesalters wissen, und sie nahmen es dem Künsder übel, wenn er sie mit der Nase darauf stieß. Kokoschka konnte und wollte eben diese konventionelle Lüge nicht mitmachen. Man merkt, dass er diesen Kindern mit tiefer Einfühlung, mit wirklichem Mitempfinden gegenüberstand. Er sah ihre Unzulänglichkeit und Verträumtheit, die Dissonanzen ihrer unentwickelten Körper und das Linkische ihrer Bewegungen. Um all dies auszudrücken, genügten ihm die fix und fertigen Schablonen der Salonmaler nicht mehr, aber was das Bild an herkömmlicher Korrektheit einbüßte, gewann es an Lebensnähe. Die Kunst Barlachs und Kokoschkas kann man kaum als >experimentell< bezeichnen. Aber die Doktrin des Expressionismus hat sicher entscheidend zu neuen Experimenten angeregt. Wenn die
Doktrin richtig war, dass das, was in der Kunst zählt, nicht die Nachahmung der Natur ist, sondern der Ausdruck des Empfindens durch die Wahl der Farben und Linien, dann war auch die Frage legitim, ob man auf alle >Motive< verzichtete und sich ausschließlich auf die Wirkung von Farbtönen und Umrissen beschrankte. Das Beispiel der Musik, die ohne Worte und Anspielungen auskommt, hatte oft den Künstlern und Theoretikern den Traum einer rein >visuellen Musik< nahe gelegt. Erinnern wir uns daran, dass Whisder einen Schritt in dieser Richtung vollzog, indem er seinen Bildern musikalische Namen gab (Abb. 348), aber es ist ein Unterschied, ob man über diese Möglichkeiten spricht oder ob man ein Gemälde ausstellt, das kein erkennbares Objekt aufweist. Der erste Künsder, der mit solchen Bildern an die Öffentlichkeit trat, war vermutlich der Russe Wassily Kandinsky (1866—1944), der damals in München lebte. Kandinsky war ein Mystiker, der wie viele seiner deutschen Malerfreunde an Werten wie Fortschritt und Wissenschaft Zweifel hatte. Er sehnte sich nach einer Erneuerung der Welt durch eine neue Innerlichkeit, in seinem etwas wirren Bekenntnisbuch Uber das Geistige in der Kunst (1912) wies er auf die psychologische Wirkung der reinen Farbe hin, darauf, wie ein leuchtendes Rot auf uns wie der Ton einer Trompete wirkt. Er hatte die Überzeugung, es sei möglich, und nötig, eine neue unmittelbare geistige Kommunikation herzustellen, und das gab ihm den Mut, seine ersten Versuche einer Farbmusik (Abb. 372) auszustellen. Damit war der Grund zur >abstrakten Kunst< gelegt. Es wurde schon oft bemerkt, dass der Begriff >abstrakt< nicht sehr glücklich gewählt erscheint, und man hat dafür >ungegenständlich< oder >nonfigurativ< vorgeschlagen. Aber es ist eine Erfahrung, dass die meisten gängigen Begriffe der Kunstgeschichte, wenn sie sich erst einmal eingebürgert haben, zählebig sind (S. 398). Worauf es ankommt, ist das Kunstwerk selbst und nicht sein Etikett. Man kann daran zweifeln, ob Kandinskys erste Experimente zur Farbmusik ein voller Erfolg waren, doch ist das Interesse verständlich, das sie hervorriefen. Genauso ist es unwahrscheinlich, dass die >abstrakte Kunst
Schnappschüssen< der Impressionisten mit ihrem momentanen Eindruck, an das Verlangen nach mehr Ordnung, Struktur und dauerhaftem Bildaufbau, das sowohl die Illustratoren des Jugendstils zu ihrer >dekorativen< Vereinfachung angeregt hatte als auch die Meister wie Seurat und Cezanne beschäftigte. Vor allem ein Problem war bei dieser Suche zum Vorschein gekommen — der Konflikt von Muster und Solidität. Der Eindruck von Solidität in der Kunst wird, wie wir alle wissen, durch die sogenannte Modellierung erreicht, die den Lichteinfall anzeigt. Aus diesem Grund war die radikale Vereinfachimg des Dargestellten in den Plakaten eines Toulouse-Lautrec oder den Illustrationen eines Beardsley zwar ausgesprochen eindrucksvoll (Abb. 361 und 362), es wirkte aber durch den Mangel an Modellierung flach. Wir sahen bereits, dass Künsder wie Hodler (Abb. 360) oder Bonnard (Abb. 359) dies begrüßten, da sie die Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf die Komposition lenkten. Indem sie so jedoch den Eindruck von Solidität mieden, trafen sie zwangsläufig auf jenes Problem, das in der Renaissance durch die Einführung der Perspektive entstanden war: die Notwendigkeit, eine korrekte Wiedergabe der Wirklichkeit mit einer klaren Bildkomposition zu verbinden (S. 195).
Jetzt war das Problem umgekehrt; Sie räumten dein Dekora tiven den Vorrang ein und opferten dafür die jahrhundetealU; Praxis, jede Form durch Licht und Schatten zu modellieren. Dieses konnte durchaus auch als Befreiung erlebt werden. Endlich
Opfer wurde!
die Schönheit und Reinheit strahlender Farben, die früher einmal zur Pracht mittelalterlicher Glasfenster (Abb. 121) und Miniaturen beigetragen hatten, nicht mehr durch Schatten getrübt. Der Binfluss van Goghs und Gauguins winde spürbar, als man ihre Werke zunehmend beachtete. Beide hatten Künsder dazu ermutigt, die ausgetretenen Pfade einer überfeinerten Kunst zu verlassen und sich entschlossen den einfachen Formen und Farben zuzuwenden. Die Künstler begnügten sich nicht mehr mit gesuchter Subtilität, sondern sie hielten Ausschau nach intensiven Farben und nach gewagten >barbarischen< Harmonien. Im Jahre 1905 stellte eine Gruppe junger Künstler in Paris aus, die man > Wilde TiereLa DesserteHarmonie in RotWir haben längst aufgehört zu behaupten, dass wir die Dinge so darstellen wollen, wie wir sie sehen. Das war ein Irrlicht der Kunst, das einen nur in den Sumpf lockt. Wir wollen gar nicht den flüchtigen Augenblick auf der Leinwand festhalten. Da gehen wir lieber auf Cezannes Spuren und versuchen, unser Bild so gediegen und dauerhaft wie eben möglich aus Einzelformen aufzubauen. Warum nicht konsequent sein und zugeben, dass unser Ziel gar nicht die Naturnachahmimg ist, sondern die Konstruktion? Wenn wir an irgendeinen Gegenstand, z.B. an eine Geige, denken, so sehen wir ihn mit unserem geistigen Auge ganz anders, als wir ihn in Wirklichkeit sehen. Die verschiedenen Ansichten sind uns oft zugleich »gegenwärtig'. Manche schweben uns ,zum Greifen klar' vor Augen, andere verschwimmen. Und trotzdem enthält dieses sonderbare Formengemisch mehr von einer , wirklichen* Geige als eine einzelne Fotografie oder ein Gemälde, und wäre es noch so detailliert, je enthalten könnte.< Ungefähr so müssen die Gedankengänge gewesen sein, die zu Bildern wie Picassos Stillleben mit Geige und Trauben (Abb. 374) führten. In gewisser Hinsicht greift es auf die Methoden der alten Ägypter zurück, die von jedem Gegenstand die charakteristische Ansicht darstellten (S. 52). So sieht man die Schnecke und die Wirbel von der Seite, wie wir sie uns eben vorstellen, wenn wir an eine Geige denken. Die F-Löcher dagegen sieht man von vorne, denn von der Seite würde man sie gar nicht sehen. Die Krümmung der Zargen ist stark übertrieben, denn man neigt dazu, die Krümmimg solcher Kurven zu überschätzen, wenn man im Geist mit der Hand an der Seite des Instruments endangfahrt. Der Bogen und die Saiten tauchen in Bruchstücken irgendwo auf, die Saiten sogar zweimal, einmal auf die Ansicht bezogen, einmal nach der Schnecke zu verlaufend. Aber trotz dieses scheinbaren Durcheinanders beziehungsloser Fragmente - und es sind noch mehr auf dem Bild, als ich aufgezählt habe - wirkt das Ganze doch nicht chaotisch. Das hegt wohl daran, dass der Künstler sein Bild aus mehr oder weniger vergleichbaren und gleich geordneten Facetten aufgebaut hat, sodass
das Ganze ähnlich konsequent und geschlossen wirkt wie etwa der amerikanische Totempfahl (Abb. 26). Natürlich hat diese Methode, das Abbild eines Gegenstandes aus verschiedenen Ansichten aufzubauen, einen Nachteil, dessen sich die Erfinder des Kubismus bewusst waren: Das lässt sich nur mit mehr oder weniger allbekannten Gegenständen machen. Wer das Bild verstehen will, muss erst wissen, wie eine Geige aussieht, denn sonst kann es ihm nie gelingen, die verschiedenen Fragmente richtig aufeinander zu beziehen. Die Kubisten wählten aus diesem Grund auch gewöhnlich Gegenstände, die jeder kennt: Gitarren, Flaschen, Fruchtschalen und ausnahmsweise auch die menschliche Gestalt - um es dem Beschauer zu ermöglichen, die Teilansichten leicht zu erkennen und aufeinander zu beziehen. Nicht jeder hat Freude an diesem Spiel, und man darf es ruhig auch bleiben lassen. Was man aber nicht darf, ist, die Absicht des Künstlers dabei missverstehen. Auch hier hört man Leute fragen, ob der Maler sie wirklich für dumm genug hält, ihm zu glauben, dass eine Geige >so-ausschaut«.. Aber davon kann gar keine Rede sein. Der Künsder hält sie eben für ein bisschen gescheiter, er nimmt an, dass sie wissen, wie eine Geige ausschaut, und dass sie nicht auf sein Bilc| gewartet haben, um das zu erfahren. Er lädt sie ein, mit ihm das raffinierte Spiel zu spielen, bei dem man die Vorstellung, eines greifbaren körperlichen Dinges aus ein paar körperlosen Andeutungen auf der Leinwand aufbaut. Wir wissen ja, dass die Künsder aller Zeiten sich bemühten, mit dem Grundproblem der Malerei fertig zu werden: Tiefe auf der Fläche herzustellen. Der Kubismus war ein Versuch, diesen inneren Widerspruch nicht zu vertuschen, sondern ihn für neue Wirkungen auszunutzen. Doch während die Fauves die Technik des Modelherens gegen die Lust an der Farbe eingetauscht hatten, wählten die Kubisten den entgegengesetzen Weg: Sie verzichteten auf diese Lust und spielten ihr Versteckspiel lieber mit der traditonellen Technik des >formalen< Modelherens. Picasso hat nie behauptet, dass die Methoden des Kubismus alle anderen Mittel der Naturdarstellung ersetzen sollten. Ganz im
Gegenteil. Er änderte seine Methoden gern und liebte es, von Zeit zu Zeit nach den kühnsten Experimenten im Bilderbau zu den herkömmlichen Kunstformen zurückzukehren (Abb. n, 12). Man möchte es kaum glauben, dass sowohl Abb. 375 wie Abb. 376 Zeichnungen eines Kopfes von demselben Künsder sind. Um die zweite zu verstehen, sollten wir uns an unsere eigenen Kritzelexperimente erinnern (S. 43/44) und an den Fetisch auf Abb. 24 oder die Maske auf Abb. 25. Anscheinend wollte Picasso herausbekommen, wie weit sich das Prinzip treiben lässt, ein Gesicht aus den unwahrscheinlichsten Materiahen und Formen zusammenzusetzen. So legt er die schematischen Augen so weit voneinander wie möglich, er >macht< den Mund mit seiner Zahnreihe aus einer geknickten Form, die zwei Punkte stehen wohl für die Nasenlöcher und die Wellenlinie für den Umriss des Gesichtes. Aber von solchen abenteuerlichen Ausflügen an die Grenze des Möglichen kehrt er dann zu so fest gefügten, überzeugenden und packenden Bildern zurück wie etwa Abb. 375. Kein Darstellungsmittel und keine Technik befriedigte ihn lange. Einige Jahre lang hatte er das Malen aufgegeben, um sich der Töpferei zu widmen. Auf den ersten Blick würden wohl die wenigsten erraten, dass z.B. der Teller wie der auf Abb. 377 von einem der raffiniertesten Künsder unserer Zeit stammt. Vielleicht war es gerade seine unerhörte technische Fertigkeit, die Sicherheit seiner Hand und die früh erworbene Virtuosität im Zeichnen, die Picasso dazu trieben, sich am Schlichten und Unkomplizierten zu versuchen. Es befriedigte ihn irgendwie besonders, wenn er seine Geschicklichkeit und seine Routine vergessen und einen wirklichen Gegenstand mit der Hand machen konnte, der an das Schaffen von Kindern und Bauern erinnert! Picasso selbst sagte, dass er nicht experimentiere. Er sagte: >Ich suche nicht, ich finde/ Er machte sich gern über Leute lustig, die seine Kunst >verstehen< wollten. >Alle wollen sie die Kunst verstehen, warum versucht niemand, den Gesang der Vögel zu verstehen?< Natürlich hatte er Recht. Es gibt kein Bild, das sich ganz mit Worten >erklären< lässt. Aber Worte sind doch oft ganz nützliche
Wegweiser, sie können uns manchmal vor dem Verirren schützen, sie verhüten Missverständnisse und geben uns wenigstens ungefähr eine Vorstellung von der Situation, in der sich der Künstler befand. Es scheint mir, dass die Situation, die Picasso zu seinen verschiedenen Funden verhalf, für die Lage des modernen Künstlers höchst charakteristisch ist. Auch diese Lage lässt sich am besten verstehen, wenn wir uns wieder fragen, wie sie entstanden ist; In der >guten alten Zeit< ging der Künstler vom Thema aus. Er bekam den Auftrag, z.B. eine Madonna oder ein Bildnis zu malen, und führte ihn aus, so gut er eben konnte. Als Aufträge dieser Art seltener wurden, mussten sich die Künstler ihre Themen selber wählen. Manche verlegten sich auf solche, die Käufer anlocken würden, und malten den Klosterküfer bei der Weinprobe, das Ständchen im Mondschein oder irgendein bedeutendes Ereignis aus der vaterländischen Geschichte. Andere wieder wollten nicht bloße Illustratoren sein. Wenn sie sich schon das Thema aussuchen konnten, dann wollten sie eines wählen, an dem sie ein bestimmtes technisches Problem studieren konnten, das sie interessierte. So malten die Impressionisten, die Freilichteffekte für wichtig hielten, zum Ärger des Publikums lieber Vörstadtstraßen und Heuschober als literarisch interessante Themen. Als Whisder das Bildnis seiner Mutter (Abb. 347) >Arrangement in Grau und Schwarz< betitelte, wollte er das Publikum mit der Nase darauf stoßen, dass dem echten Künsder jedes Motiv zur Gelegenheit wird, die Harmonien von Formen und Farben zu studieren. Ein Meister wie Cezanne musste nicht einmal mehr das besonders betonen. Wir haben ja gesehen, dass man sein Stillleben (Abb. 35*3) nur verstehen kann, wenn man es eben als einen Versuch ansieht, verschiedene künsderische Probleme zu lösen. Die Kubisten setzten da an, wo Cezanne aufgehört hatte. Von da ab war es beinahe eine Selbstverständlichkeit für die meisten jungen Künsder, dass es in der Kunst vor allem auf die Lösung sogenannter Formprobleme ankommt. Das heißt, dass diese Künsder immer von der Form ausgehen und dass ihnen das Thema etwas Sekundäres zu sein scheint.
Die beste Beschreibung dieses Verfahrens hat der Schweizer Maler und Musiker Paul Klee (1879-1940) gegeben. Er war ein Freund Kandinskys, doch auch die Experimente der Kubisten, die er 1912 in Paris kennen gelernt hatte, beeindruckten ihn sehr. Für ihn waren die Experimente nicht so sehr der Weg zu neuen Methoden der Wirldichkeitsdarstellung als vielmehr zu neuen Möglichkeiten des Spiels mit Formen. In einem Vortrag am Bauhaus (S. 431), wo er lehrte, hat Klee das besonders klar und verständlich beschrieben: Das Erste sind für ihn die Elemente seiner Kunst, die Linien und Farbenskalen, die ihn so anregen wie etwa einen Musiker, der sich ans Klavier setzt, um zu improvisieren. >Wahrend der Künsder noch ganz Bestreben ist, die formalen Elemente so rein und logisch zueinander zu gruppieren, dass jeder an seinem Platze notwendig ist und keines dem anderen Abbruch tut, spricht irgendein Laie, von hinten zuschauend, schon die verheerenden Worte: Der Onkel ist aber noch sehr unähnlich! Der Maler denkt sich, wenn er disziplinierte Nerven hat: Onkel hin, Onkel her! ich muss nun weiterbauen... Dieser neue Baustein, sagt er sich, ist zunächst wohl etwas schwer und zieht mir die Geschichte zu sehr nach links; ich werde rechts ein nicht unbedeutendes Gegengewicht anbringen müssen, um das Gleichgewicht herzustellen.< Erst am Ende, so erzählt er uns, kann es dann geschehen, dass das Gebilde, das da unter seinen Händen >geworden< ist, ihn an einen wirklichen Gegenstand erinnert, und >wenn der Künsder Glück hat, dann lässt sich das Ganze so abrunden und ergänzen, dass es auch etwas >darstelltwie von selber im Gebilde ein uns vertrautes Gesicht auftauchtVernünftigkeit< der Erwachsenen loszuwerden und die unverdorbene Fantasie der Wilden und der Kinder wiederzugewinnen. Klees überschäumende Fantasiewelt lässt sich schwer anhand eines einzigen Bildes darlegen. Doch Abb. 378 gibt zumindest eine
Idee von seinem Geist und Einfallsreichtum. Er nannte es >Eine winzige Geschichte von einem winzigen Zwergwachsenabstrakten Malerei< führen musste, die Kandinsky in Deutschland vorgestellt hatte. Wir erinnern uns daran, dass seine Ideen aus dem Expressionismus hervorgegangen waren und dass sie eine Malerei zum Ziel hatten, die mit der Musik hinsichtlich ihrer Ausdrucksfähigkeit konkurrieren könnte. Durch das Interesse am Strukturellen,
das vom Kubismus gefördert worden war, beschäftigten sich bald die Maler in Paris, ta Kusslaud und auch in Holland mit der Frage, ob nu lit die Malerei /u einer Art Konstruktion verwandelt werden könne, wir die Architektur, Der Holländer Piet Mondrian (1872-1944) baute seine Bilder aus den einfachsten geometrischen Formen, aus geraden Linien und reinen Farben auf (Abb. 381). Er strebte nach einer Kunst der Klarheit und Disziplin, die auf ihre Weise die objektiven Gesetze des Universums spiegeln sollte. Denn auch Mondrian war, wie Kandinsky und Klee, ein Mystiker, der wünschte, seine Kunst solle die unveränderlichen Realitäten hinter den veränderlichen Formen der subjektiven Erscheinung offenbaren. Auf ähnliche Weise versenkte sich der englische Künstler Ben Nicholson (1894-1982) in das von ihm gewählte Problem. Doch während Mondrian das Verhältnis der Primärfarben zueinander ausprobierte, ging es Nicholson um das Verhältnis einfacher Figuren wie Kreise und Rechtecke. Er schnitzte sie in weiße Hartfaserplatten und gab dabei jeder Form eine geringfügig andere Tiefe (Abb. 382). Auch er sagte, dass er >die Wirklichkeit suche und dass Kunst und religiöses Erleben für ihn identisch seien. Was immer man von dieser Philosophie halten mag, es ist nicht so schwer, sich in einen Künstler hineinzudenken, der beschlossen hat, auf alle äußeren Effekte zu verzichten, um sich ganz dem Problem zu widmen, wie man ein paar elementare Formen und Farbtöne gegeneinander abwägen kann, bis sie zusammenstimmen (S. 30). Es kann sehr gut sein, dass ein Bild, auf dem nichts zu sehen ist als zwei Quadrate, den Künstler mehr Mühe gekostet hat, als es einen alten Meister kostete, eine Muttergottes zu malen. Der alte Meister wusste ja, worauf er abzuzielen hatte. Er konnte sich dem Überkommenen anvertrauen und hatte nur wenige Entscheidungen selbst zu treffen. Der moderne Maler mit seinen zwei Vierecken ist in einer weniger beneidenswerten Lage. Er kann sie auf seiner Leinwand herumschieben und unzählige neue Möglichkeiten ausprobieren, ohne je zu wissen, wann und wie er zu Ende kommen soll. Selbst
wenn uns sein Problem nicht besonders interessiert, sollten wir uns nic ht über seine Qual der Wahl lustig machen. Es g i b einen Künstler, der in dieser Situation einen sehr persönlichen Ausweg fand, der amerikanische Bildhauer Alexander Calder (1898-1976). Calder war als Ingenieur ausgebildet, und die Kunst Modrians, dessen Atelier er 1930 in Paris besuchte, hatte ihn sehr beeindruckt. Wie dieser strebte er nach einer Kunst, die die mathemalischen Gesetze des Universums spiegeln sollte, aber für ihn konnte eine solche Kunst nicht starr und statisch sein. Ist doch das Universum sowohl in dauernder Bewegung begriffen als auch von geheimnisvollen Kräften zusammengehalten, und es war diese Idee des Gleichgewichts, die Calder zur Konstruktion seiner Mobiles inspirierte (Abb. 383). Er fügte Formen unterschiedlicher Gestalt und Farben zusammen und ließ sie im Raum kreisen und schwingen. Hier ist das Wort >Balance< mehr als eine Formel. Natürlich, nachdem der >Trick< erst einmal erprobt war, ließ er sich auch für die Kreation modischen Spielzeugs auswerten. Nur wenige Menschen, die sich an einem Mobile erfreuen, denken dabei gleich an das Universum, genauso wenig wie jene, die Mondrians strenge Rechteckkompositionen auf Gardinenstoffe drucken, sich an seine Philosophie erinnern. Doch das ewige Kreisen um verschiedene Lösungsversuche solcher Fragen, so faszinierend und raffiniert sie auch sein mochten, hinterließ ein Gefühl der Leere, man suchte fast verzweifelt nach einem neuen Gehalt. So wie Picasso suchten auch andere Künsder nach etwas weniger Artifiziellem, weniger Behebigem. Aber wenn dieses weder im Inhalt lag — wie einst — noch in der Form — wie noch vor Kurzem —, was sollte der Sinn ihres Schaffens sein? Die Antwort auf diese Frage lässt sich leichter fühlen als formulieren, denn wenn man solche Dinge erklären will, landet man nur allzu leicht bei verschwommenem Tiefsinn oder schlichtem Blödsinn. Doch soweit sich so etwas überhaupt sagen lässt, ist die Antwort vielleicht, dass der moderne Künstler wieder Dinge schaffen will. Dabei kommt es sowohl auf das Schaffen an als auf
wenn uns sein Problem nicht besonders interessiert, sollten wi r ^ nicht über seine Qual der Wahl lustig machen. Es gab einen Künsder, der in dieser Situation einen sehr persönlichen Ausweg fand, der amerikanische Bildhauer Alexander Calder (1898-1976). Calder war als Ingenieur ausgebildet, und die Kunst Modrians, dessen Atelier er 1930 in Paris besuchte, hatte ihn sehr beeindruckt. Wie dieser strebte er nach einer Kunst, die die mathematischen Gesetze des Universums spiegeln sollte, aber für ihn konnte eine solche Kunst nicht starr und statisch sein. Ist doch das Universum sowohl in dauernder Bewegung begriffen als auch von geheimnisvollen Kräften zusammengehalten, und es war diese Idee des Gleichgewichts, die Calder zur Konstruktion seiner Mobiles inspirierte (Abb. 383). Er fügte Formen unterschiedlicher Gestalt und Farben zusammen und ließ sie im Raum kreisen und schwingen. Hier ist das Wort >Balance< mehr als eine Formel. Natürlich, nachdem der >Trick< erst einmal erprobt war, ließ er sich auch für die Kreation modischen Spielzeugs auswerten. Nur wenige Menschen, die sich an einem Mobile erfreuen, denken dabei gleich an das Universum, genauso wenig wie jene, die Mondrians strenge Rechteckkompositionen auf Gardinenstoffe drucken, sich an seine Philosophie erinnern. Doch das ewige Kreisen um verschiedene Lösungsversuche solcher Fragen, so faszinierend und raffiniert sie auch sein mochten, hinterließ ein Gefühl der Leere, man suchte fast verzweifelt nach einem neuen Gehalt. So wie Picasso suchten auch andere Künstler nach etwas weniger Artifiziellem, weniger Beliebigem. Aber wenn dieses weder im Inhalt lag - wie einst - noch in der Form - wie noch vor Kurzem — was sollte der Sinn ihres Schaffens sein? Die Antwort auf diese Frage lässt sich leichter fühlen als formulieren, denn wenn man solche Dinge erklären will, landet man nur allzu leicht bei verschwommenem Tiefsinn oder schlichtem Blödsinn. Doch soweit sich so etwas überhaupt sagen lässt, ist die Antwort vielleicht, dass der moderne Künstler wieder Dinge schaffen will. Dabei kommt es sowohl auf das Schaffen an als auf
die Dinge. Er möchte fühlen, dass er etwas gemacht hat, was früher nicht da war. Also nicht ein bloßes Abbild von Dingen, auch nicht das täuschendste, und nicht bloß ein dekoratives Muster, auch nicht das raffinierteste, sondern etwas Wesentlicheres und Bleibenderes, etwas, was ihm wirklicher vorkommt als die schäbigen Gegenstände des Alltags, die ihn umgeben. Um diese Sehnsucht zu verstehen, müssen wir nur an unsere eigene Kindheit zurückdenken, als wir noch imstande waren, Dinge aus Sand und Kieselsteinen zu schaffen, als ein Besenstiel uns zum Zauberstab werden konnte und ein paar Steine zum verzauberten Schloss. Damals konnte es geschehen, dass ganz unscheinbare Dinge ganz ungeheure Bedeutung für uns hatten, ohne dass wir doch zu sagen vermochten, was sie für uns eigentlich verkörperten — es ging uns mit ihnen ähnlich, wie es den Primitiven mit ihren Fetischen geht. Vor den Skulpturen des englischen Bildhauers Henry Moore (1898—1986) sollen wir, denke ich, dieses intensive Gefühl für die Einmaligkeit eines Gegenstandes haben, der durch die Magie menschlicher Hände entstanden ist (Abb. 384). Moore wollte die Arbeit nicht damit beginnen, dass er auf das Modell schaut, er schaute auf den Stein. Er wollte >etwas daraus machen< — nicht, indem er ihn in Stücke schlug. Er wollte den Felsen respektieren, wollte erspüren, was der Stein wollte. Wenn sich dabei die Andeutung einer menschlichen Gestalt ergab, umso besser; aber es sollte keine steinerne Frau werden, eher so etwas wie ein frauengleicher Stein. Diese veränderte Haltung hat den Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts ein neues Gefühl für die Werte der Kunst der Primitiven gegeben. In der Tat beneiden einige von ihnen fast den eingeborenen Handwerker, dessen Bildwerke mit magischer Kraft geladen und dazu bestimmt sind, eine Rolle bei den heiligsten Ritualen des Stammes zu spielen. Das Mysterium der alten Idole und fernen Fetische spornt die romantische Sehnsucht an, einer Zivilisation zu entfliehen, die vom Kommerziellen verseucht zu sein scheint. Diese Sehnsucht hatte schon Delacroix nach Nordafrika (S. 387) und Gauguin in die Südsee (S. 424) geführt.
In einem seiner Briefe aus Tahiti hat Gauguin geschrieben, er fühle, dass er hinter die Pferde des Parthenon zurückgehen müsse, zurück zum Steckenpferd seiner Kindheit. Es ist leicht, über diese Vorliebe der modernen Künster für das Einfache und Kindliche zu lächeln, und doch lässt sie sich leicht verstehen. Denn die Künsder wissen, dass Unmittelbarkeit und Einfachheit etwas ist, was man nicht lernen kann, während man alle anderen Kniffe erlernen kann. Jeder Effekt lässt sich leicht nachahmen, wenn er erst einmal vorgeführt wurde. Viele Künsder glauben, dass die Museen und Ausstellungen voll sind von solchen geschickt gemachten Werken und es nichts bringt, diese ausgefahrenen Geleise weiter zu verfolgen; sie fürchten ihre Seele zu verlieren und nur noch routinierte Hersteller von Gemälden oder Skulpturen zu werden, wenn sie nicht wieder naiv wie die kleinen Kinder werden. Dieser Primitivismus, für den Gauguin plädierte, gewann vielleicht einen nachhaltigeren Einfluss auf die moderne Kunst als der Expressionismus van Goghs oder Cezannes Weg zum Kubismus. Er kündigte eine vollständige Revolution des Geschmacks an, die 1905^ mit der ersten Ausstellung der >Fauves< begann fS. 442). Diese Revolution gab auch den Anlass zur Wiederentdeckung der Kunst des frühen Mittelalters (z.B.Abb. 106 oder Abb. 119). Damals begannen die Künstler ja auch, die Arbeiten von Eingeborenen mit demselben Eifer zu studieren, den die akademischen Künsder an die griechische Plastik wandten. Dieser Geschmackswandel führte auch die jungen Maler in Paris zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zur Entdeckung der Kunst eines Malers, der ganz Autodidakt war. Dieser Henri Rousseau (1844—1910) war ein Zollbeamter, der in einem der Vororte ein ruhiges Leben führte. Er bewies, dass die übliche akademische Ausbildung auch ein Hindernis sein konnte, denn Rousseau wusste nichts von korrekter Zeichnung, nichts von den Kunstgriffen des Impressionismus. Er malte mit einfachen, reinen Farben und klaren Umrissen jedes einzelne Blatt eines Baumes und jeden Grashahn auf der Wiese (Abb. 385). Und doch gibt es in seinen Bildern, wie ungelenk sie dem
verfeinerten fachheit
Geschmack auch vorkommen mögen, eine Kraft, Ein-
und Poesie, die ihn als Maler ausweisen. ]n dem seltsamen Wettrennen nach dem Naiven und Unver-
bildeten, das nun begann, hatten Künstler wie Rousseau, die aus erster Hand die Erfahrung vom einfachen Leben hatten, einen natürlichen Vorteil. Marc Chagall (1887-1985) zum Beispiel, ein Maler, der aus einem kleinen Provinzghetto in Russland kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Paris kam, ließ sich bei allen modernen Experimenten nicht von der Erinnerung an seine Kindheit abbringen. Seine Gemälde dörflicher Szenen und Typen, wie der Musikant, der eins mit seinem Instrument geworden ist, haben den kindlichen Charme genuiner Volkskunst (Abb. 386) | Die Bewunderung für Rousseau und die naive selbst erlernte Manier der >Sonntagsmaler< führte andere Maler zur Ablehnung der komplizierten Theorien des >Expressionismus< und des >Kubismus< als einen unnötigen Ballast. Sie wollten dem Ideal des einfachen Mannes entsprechen und klare, eindeutige Bilder malen, auf denen man jeden Grashalm und jeden Ziegel zählen konnte. Sie wollten nüchtern und sachlich sein und Inhalte darstellen, die schlichte Menschen mögen und verstehen könnten. Diese Haltung gefiel sowohl den Nationalsozialisten als auch den Kommunisten, was zunächst weder für noch gegen die Richtung spricht, denn auch auf diese Art kann man gute und schlechte Bilder malen. Der Amerikaner Grant Wood (18921942), der in Paris und München studierte, hat die Schönheit seiner Heimat Iowa mit dieser hochbewussten Einfachheit gefeiert. Für sein Bild >Frühlingspflügen in Iowa< (Abb. 387) machte er ein Tonmodell, um die hügelige Landschaft wie aus der Vogelschau zu malen und so dem Ganzen den Reiz einer Spielzeuglandschaft zu geben. Man kann durchaus mit der Neigung moderner Künstler für alles Direkte und Wahrhafte sympathisieren und gleichwohl den Eindruck haben, dass sie sich durch ihre Bemühungen, gezielt naiv und ungekünstelt zu sein, in einen unauflösbaren Widerspruch hineinmanövriert haben. Man kann nicht beschließen, >primitiv< zu werden.
Einige Künstler trieb die wilde Entsclilossenheit, zu werden wie die Kinder, lediglich zu Albernheiten unterschiedlicher Art. Doch etwas war bislang nur selten versucht worden: das Malen fantastischer oder traumgleicher Bilder. Es hatte zwar Darstellungen von Dämonen und Teufeln gegeben - Hieronymus Bosch beispielsweise verstand sie meisterhaft zu malen (Abb. 229, 230) - oder auch Grotesken wie Zuccaros Fenster (Abb. 231), aber Goya war es mit seiner rätselhaften Vision eines Riesen, der am Rande der Welt sitzt, vielleicht als Einzigem gelungen, in dieser Hinsicht wirklich zu überzeugen (Abb. 320). Giorgio de Qiirico (1888-1978), ein gebürtiger Grieche italienischer Abstammung, wollte das Gefühl von Fremdheit einfangen, das uns befallen kann, wenn wir dem Unerwarteten und völlig Rätselhaften begegnen. Er stellte einen monumentalen Kopf und einen Gummihandschuh nebeneinander in eine Geisterstadt, alles ganz konventionell gemalt, und nannte es >Liebeslied< (Abb. 388). Als der belgische Maler Rene Magritte (1898-1967) zum ersten Mal eine Reproduktion dieses Gemäldes sah, schien ihm, wie er später schrieb, >dass es mit den Denkgewohnheiten von Künstlern, die Gefangene des Talents, der Virtuosität und ihrer vielen kleinen Vorlieben sind, völlig brach: Hier war eine ganz neue Art des SehensDas Unmögliche versuc h e n . Dies könnte fast das Motto dieses Kapitels sein. Denn wie w i r bereits sahen (S. 43 2 Q. war es die Forderung, einfach nur zu malen, was sie sähen, die Künstler in eine Zwickmühle brachte und zu immer neuen Experimenten trieb. Magrittes Künstler (es handelt sich um ein Selbstporträt) versucht sich an der Standardaufgabe der Kunstakademien, dem Malen eines Aktes, und bemerkt dabei, dass er damit nicht die Wirklichkeit kopiert, sondern vielmehr eine neue
Wirklichkeit schafft, etwa so, wie wir es in unseren Träumen tun, Wie wir das tun, wissen wir nicht. Magritte w a r b e r ü h m t e s M i t g l i e d e i n e r G r u p p e v o n Künstlern, die sich >Surrealisten< n a n n t e n . D e r N a m e entstand 1924, um das bereits e r w ä h n t e V e r l a n g e n v i e l e r j u n g e r K ü n s t l e r a u s z u d r ü c k e n , etwas z u s c h a f f e n , das w i r k l i c h e r w a r als d i e W i r k l i c h k e i t • M 1 ) . Zu den ersten M i t g l i e d e r n z ä h l t e d e r i t a l o s c h w e i z e r B i l d h a u e r A l b e r to Giacometti ( 1 9 0 1 - 1 9 6 6 ) , d e s s e n Skulptur e i n e s K o p f e s (Abb. 390) a n Brancusis W e r k e r i n n e r t , a u c h w e n n G i a c o m e t t i s i c h w e n i g e r f ü r die V e r e i n f a c h u n g d e r F o r m interessiert als d a f ü r , m i t m i n i m a l e n Mitteln e i n e n A u s d r u c k z u e r r e i c h e n . U n d o b w o h l a u f d e m Stein nichts anderes zu s e h e n ist als z w e i V e r t i e f u n g e n - e i n e v e r t i k a l e und eine h o r i z o n t a l e - , schaut e r u n s d o c h intensiv an, g a n z ä h n l i c h den W e r k e n der S t a m m e s k u n s t , v o n d e n e n i m ersten Kapitel di e Rede w a r (Abb. 24). Viele Surrealisten w a r e n tief b e e i n d r u c k t v o n d e n Schriften Sigmund Freuds, der g e z e i g t hatte, dass Kindlichk eit u n d W i l d h e i t in uns allen am Rand des Bewusstseins l auer n u n d die Herrschaft ergreifen, sobald das w a c h e Bewusstsein die Z ü g e l lockert. Das b e stärkte die Surrealisten in i h r e m Verdacht, dass die taghelle Vernunft niemals Kunst p r o d u z i e r e n könne. Sie w ü r d e n vielleicht z u g e b e n , dass die Vernunft W i s s e n s c h a f t h e r v o r b r i n g e n kann, aber die Kunst gehöre der U n - u n d W i d e r v e r n u n f t . Selbst diese Ansicht ist n i c h t ganz so n e u , w i e sie vielleicht klingt. Die alten G r i e c h e n sprachen von der D i c h t u n g als v o n einer gottgesandten Raserei, u n d r o m a n t i sche Schriftsteller w i e C o l e r i d g e u n d D e Q u i n c e y e x p e r i m e n t i e r t e n mit O p i u m u n d anderen D r o g e n , u m die Vernunft auszuschalten u n d die Imagination zu entfesseln. D i e Surrealisten n u n trachten n a c h Geisteszuständen, in d e n e n Bilder u n d F o r m e n aus der Tiefe des U n bewussten aufsteigen. Sie s t i m m t e n Klee zu, dass ein Künstler sein Werk nicht p l a n e n kann, s o n d e r n es w a c h s e n lassen muss. Was dabei herauskommt, m a g d e m A u ß e n s t e h e n d e n sinnlos v o r k o m m e n , aber wenn er seine Vorurteile z u m S c h w e i g e n b r i n g t u n d seiner Fantasie
freien Lauf Ifisst, kann er vielleicht an der seltsamen Traumwelt des Künstlers teilhaben. Ich glaube nicht, dass diese Theorie richtig ist, und sie stimmt nicht mit Freuds Ideen überein. Trotzdem war der Versuch, einmal wirkliche Traumbilder zu malen, gewiss der Mühe wert Im Traum hat man oft das eigenartige Gefühl, dass Leute und Dinge miteinander verschmelzen oder ihr Wesen tauschen. Unsere Katze kann gleichzeitig unsere Tante sein und unser Garten Afrika. Einer der führenden surrealistischen Maler, der Spanier Salvador Dali ( 1 9 0 4 - 1 9 8 9 ) , hat diese unheimliche Gestaltenverwirrung des Traumes in seinen Gemälden einzufangen versucht. Einige seiner Bilder sind aus verworrenen Bruchstücken zusammengesetzt, deren jedes aber mit derselben Detailgenauigkeit nachgebildet ist, mit der Grant Wood seine Landschaft gemalt hat. Man hat das Gefühl, dass in dieser scheinbaren Verrücktheit ein bestimmter Sinn verborgen sein muss. Sieht man dann genauer hin, so entdeckt man z.B. auf Abb. 391, dass die Traumlandschaft in der Ecke rechts oben, die Bucht mit der Meereswelle, der Berg mit dem Tunnel, auch gleichzeitig einen Hundekopf bildet, dessen Halsband ein Eisenbahnviadukt über das Meer ist. Der Hund schwebt in der Luft, und sein Körper besteht aus einer birnengefüllten Fruchtschale, die ihrerseits in einen Madchenkopf übergeht, dessen Augen aus seltsamen M u s c h e l n auf e i n e m Strand voll von rätselhaftem Strandgut gebildet w e r d e n . So wie im Traum sehen w i r manche scheinbar sinnlosen D i n g e , w i e den Strick und das Tuch, mit überdeutlicher Klarheit, w ä h r e n d a n d e r e Gebilde uns zu entgleiten scheinen.
Bilder dieser Art zeigen uns nun zu guter Letzt n o c h einmal, warum die modernen Künstler sich nicht damit zufrieden geben können, einfach zu malen, >was sie sehen*. Sie wissen viel zu genau, wie viele Probleme diese simple Forderung übersieht. Sie wissen, dass der Künsder, der einen wirklichen oder imaginierten Gegenstand darstellen will, nicht damit anfangt, dass eT die Augen aufmacht, sondern dass er Farben und Formen sucht, aus denen sich der Gegenstand
aufbauen lässt. Der Grund, warum wir das so leicht vergessen, ist der, dass in den meisten Bildern jede Form oder Farbe jeweils nur ein wirkliches Ding bedeutet — die braunen Striche bezeichneten Baumstämme, die grünen Kleckse Blätter. Dalis Muschel, die auch ein Auge ist, seine Fruchtschale, die auch ein Mädchengesicht ist, mag darum unsere Gedanken zum ersten Kapitel dieses Buches zurücklenken, zu dem aztekischen Regengott Tlaloc, dessen Gesicht aus Klapperschlangen gebildet ist (Abb. 30). Und trotzdem — wer sich wirklich die Mühe macht, das alte Idol zu betrachten, wird es kaum fassen können, wie groß, bei aller Verwandschaft der Methode, der Unterschied ist. Beide Gebilde mögen einem Traum entstammen, aber bei Tlaloc empfinden wir, dass es der Traum eines ganzen Volkes war, der Alptraum von einer furchtbaren Macht, die über sein Schicksal entschied; Dalis Hund und Fruchtschale spiegeln den rätselhaften Traum einer Privatperson, zu dem wir keinen Schlüssel haben. Natürlich wäre es ungerecht, den Künstler für diesen Unterschied verantwortlich zu machen. Er entstammt der ungeheuren Verschiedenheit der Umstände, denen beide Werke ihr Dasein verdanken. Um eine vollkommene Perle zu bilden, braucht die Auster irgendeinen Fremdkörper, ein Sandkorn oder einen kleinen Splitter, um die sich die Perle entwickeln kann. Ohne so einen festen Kern wächst sie sich zu einem formlosen Klumpen aus. Wenn der Form- und Farbsinn des Künstlers sich in einem vollkommenen Werk kristallisieren soll, dann braucht auch er solch einen festen Kern - eine bestimmte Aufgabe, an der diese Begabung zum Tragen kommen kann. Wir wissen, dass früher einmal jedes Kunstwerk um einen solchen lebendigen Kern herumwuchs. Damals setzte die Gemeinschaft den Künstlern ihre Aufgaben, ob es nun das Schnitzen von Tanzmasken, das Bauen von Kathedralen, das Malen von Bildnissen oder das Illustrieren von Büchern war. Es kommt verhältnismäßig wenig darauf an, ob uns diese Aufgaben zusagen oder nicht. Man
m u s s durchaus kein Freund der Wisentjagd durch Bildmagie, der Verherrlichung verbrecherischer Kriege oder der Schaustellung von Macht u n d Reichtum sein, um Kunstwerke zu be wu n de r n, die einst im Dienst solcher Zwecke geschaffen w u r d e n . Die Perle verdeckt das Sandkorn ganz. Das Geheimnis des Künstlers hegt darin, dass er seine Sache so unglaublich gut macht, dass wir vor lauter Bewunderung
jeder ist dieser Akzentverschiebung in banaleren Z u s a m m e n h a n g e n begegnet.
b e i n a h e vergessen zu fragen, was denn die Sache sein sollte;
Wenn wir v o n e i n e m Schuljungen sagen, dass er ein wahrer Künsder im Aufschneiden ist oder dass er es im Schulschv/änzen zu wahrer Meisterschaft gebracht hat, so m e i n e n wir ja genau
dasselbe — dass er
b e i der Verfolgung seiner nichtsnutzigen Ziele so viel Geschicklichkeit u n d Fantasie aufwendet, dass seine Leistung uns Bewunderung abnötigt, so wenig wir auch seine Absichten lo b e n
wollen- Es war ein
schicksalsschwerer Augenblick in der Geschichte der Kunst, als die Meisterschaft der Maler u n d Bildhauer die Aufmerksamkeit der Menschen zu fesseln begann, dass sie vergaßen, ihnen eindeutigere Aufgaben zu stellen. Wir entsinnen uns, dass die ersten
Schritte in dieser
Richtung in der hellenistischen Periode getan w u r d e n (S. §7 88 \ uod d a n n wieder in der Renaissance (S.
215/216). Aber so überraschend
das auch klingen mag, dieser Schritt entzog den Künstlern noch n i c k jeden lebensspendenden Kern eines Auftrags, dessen sie
bedürfen,
um ihre Fantasie anzuregen. Auch als direkte Aufträge rarer wurden, blieben i m m e r noch genug Aufgaben u n d Probleme übrig, bei deren Lösung sich die Künstler beweisen konnten. Wo diese Aufgaben nicht mehr von der Gemeinschaft gestellt wurden, w u r d e n sie von der Tradition gestellt. Die Tradition des Bildermachens führte sozusagen in ihrem Strom die Sandkörner mit, die die Auftrage eisernen-. So wissen wir, dass die N a c h a h m i m g der Natur durch die K u n s t eine Angelegenheit der Tradition und keine innere Norvvendikeit war. Die Bedeutung dieser Forderung in der Geschichte der Kunst von Giotto (S.150) bis zu den Impressionisten man
liegt nicht dann, wie
m a n c h m a l sagen hört, dass es das W e s e n oder die Aufgabe
der Kunst ist, die Natur nachzubilden. Aber ich glaube, es ist auch unrichtig /u sagen, dass diese Forderung ganz unwesentlich ist. Wir haben ja gesehen, dass sie den Künstler gerade vor eines jener unlösbaren Probleme stellt, das ihn /um Einsatz aller Kräfte zwingt, um das Unmögliche eben doch möglich zu machen. Wir haben auch oft beobachten können, wie jede Lösung eines solchen Problems, so atemberaubend sie auch war, neue Probleme hervorrief, die dann den Jüngeren die Gelegenheit boten, zu zeigen, was sie mit Formen und Farben zu leisten vermochten. Denn sogar die Künstler, die gegen die Tradition rebellieren, brauchen sie für die Anregung, ohne die ihr Schaffen die Richtung und das Ziel verliert.
Darum habe ich mich bemüht, die Geschichte der Kunst als ein ununterbrochenes Bilden und Umbilden von Traditionen darzustellen, in dem jedes Kunstwerk sich auf Vorhergegangenes bezieht und in die Zukunft weist. Denn das ist das Erstaunlichste an dieser Geschichte p dass eine lebendige Kette von Überlieferungen die Kunst unserer Tage noch mit der des Pyramidenzeitalters verbindet. Die Ketzereien des Echnaton (S. 56), die Stürme der Völkerwanderungszeit (S. 119), die Krise der Reformation (S. 283) und der Traditionsbruch zur Zeit der Französischen Revolution (S. 361) haben alle diese Kontinuität bedroht. Manchmal war die Gefahr des Abbrechens sehr nah: Schließlich kam es ja vor, dass die Künste in ganzen Landern und Kulturen zugrunde gingen, wenn das letzte Kettenglied riss. Aber irgendwie und irgendwo wurde die totale Katastrophe immer noch abgewendet. Wenn die alten Aufgaben verschwanden, gab es wieder neue, die den Künstlern das Gefühl von Sinn und Zweck gaben, ohne das sie auf die Dauer nichts Großes leisten können. Ich glaube, dass in der Architektur dieses Wunder wieder geschehen ist. Nach dem Herumtasten und den Sinnlosigkeiten des neunzehnten Jahrhunderts wissen die modernen Architekten wieder, woran sie sind. Sie wissen, was sie wollen, und das Publikum ist so weit, ihre Werke als selbstverstäncüich anzusehen. In der Malerei und Plastik ist die Krise noch nicht über den Gefahrenpunkt hinüber. Trotz mancher
vielversprechender Versuche gibt es noch immer eine unselige Kluft zwischen der sogenannten >Gebrauchskunsthohen Kunst< der Ausstellungen und Museen, die unserem Verständnis oft solche Rätsel aufgibt. Es ist genauso dumm, >für die moderne Kunst< zu sein, wie >dagegenKunst< bescheinigt worden ist. Man kann dieses vage Verlangen verstehen, nur ist das leider das Einzige, womit ein wirklicher Künsder nicht dienen kann. Was schon einmal getan worden ist, stellt eben keine Aufgabe mehr dar. Aber auch die Kritiker und sogenannten Kenner lassen sich manchmal ein ähnliches Missverständnis zuschulden kommen. Auch sie verlangen vom Künstler, dass er >Kunst< erzeugen soll, auch sie denken sich unter einem Kunstwerk vor allem etwas, das einmal in ein Museum kommen soll. Die einzige Aufgabe, die sie dem Künstler stellen, ist die, etwas Neues zu bieten - wenn es nach ihnen ginge, würde jedes Kunstwerk einen neuen Stil, einen neuen >Ismus< repräsentieren. Da, wo konkretere Aufgaben ausbleiben, fügen sich auch die begabtesten modernen Künstler manchmal dieser Forderung. Ihre Lösungen des Problems, wie man heute noch originell sein kann, sind oft von einem Witz und einer Brillanz, die uns Achtung abnötigt, aber auf die Dauer ist das doch keine Aufgabe, die der Mühe wert ist. Mir scheint, dass darin auch der eigentliche Grund liegt, warum moderne Künstler sich so gerne alten oder neuen Theorien über das Wesen der Kunst verschreiben. Es ist wahrscheinlich nicht richtiger zu sagen,
dass Kunst Ausdruck sei oder Konstruktion, als es war zu glauben, dass Kunst Nachahmung der Natur sei. Aber solche Theorie, selbst die obskurste, kann das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit enthalten, das tur die Perle genügt. So sind wir endlich wieder an unserem Ausgangspunkt. Denn genau genom men gibt es >die Kunst< eben gar nicht. Es gibt Künstler. Manner und Frauen, die die wunderbare Gabe besitzen, Formen und Farben aufeinander abzustimmen und, was noch seltener ist, die die Charakterstärke haben, sich nie mit halben Lösungen zufrieden zu geben, sondern bereit sind, auf alle Effekthascherei und Kompromisse zu verzichten und nur der Mühsal ehrlichen Schaffens zu leben. Künsder werden immer wieder geboren werden, darauf dürfen wir uns verlassen. Aber ob es dann auch noch eine Kunst geben wird, hängt in vieler Hinsicht von uns, ihrem Publikum, ab. Unsere Gleichgültigkeit oder unser Interesse, unsere Voreingenommenheit oder unsere Verständnisbereitschaft können vielleicht über Sein oder Nichtsein der Kunst entscheiden. Bei uns liegt die Verantwortimg, dafür zu sorgen, dass der Faden der Tradition nicht abreißt und die Künsder auch künftig Gelegenheit haben werden, neue Perlen auf die Schnur zu reihen, die unser Erbstück von der Vergangenheit ist.
Eine endlose Geschichte Der Triumph der Moderne
Dieses Buch wurde kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschrieben und erschien 1950 zum ersten Mal. Damals waren die meisten Künsder, von denen im Schlusskapitel die Rede war, noch am Leben, einige der von mir besprochenen Werke waren noch recht neu. Daher war es nicht erstaunlich, dass das Fortschreiten der Zeit mich mit der Forderung nach einem neuen Kapitel über die aktuellen Strömungen konfrontierte. Die Seiten, vor dem Auge des Lesers, waren im Wesentlichen eine Ergänzung der elften Ausgabe und ursprünglich mit >Nachschrift 1966| überschrieben. Da aber diesßs Datum nun seinerseits bereits Vergangenheit ist, habe ich den Titel in >Eine endlose Geschichte< geändert. Ich gestehe, dass ich die Entscheidung von 1966 jetzt bereue, denn ich fürchte, dass sie dazu verführt, die Geschichte der Kunst, wie sie hier beabsichtigt war, mit einer Chronik von Moden zu verwechseln. Eine solche Verwechslung wäre allerdings keineswegs überraschend: Wir brauchen schließlich nur in diesem Buch zu blättern, um daran erinnert zu werden, wie häufig Kunstwerke die Eleganz und das Raffinement der jeweiligen Mode widerspiegelten — ob wir uns die feinen Damen im Stundenbuch der Limburgs ansehen, die den Mai feiern (Abb. 144), oder die Traumwelt von Antoine Watteaus >Gartenfest< (Abb. 298). Doch wenn wir diese Werke würdigen, dürfen wir nicht vergessen, wie rasch die Moden, die sie darstellten, überholt waren, während die Gemälde ihren Reiz behielten: Die Arnolfinis in ihrem Sonntagsstaat, wie Jan van Eyck sie malte (Abb. 158) j hätten am spanischen Hof, wie Diego Veläzquez ihn malte (Abb. 266), eine komische Figur abgegeben, und seine eng geschnürte Infanta wäre von den Kindern, die Sir Joshua Reynolds porträtierte (Abb. 305), vermutlich erbarmungslos gehänselt worden. Was man >das Ringelspiel der Modem nennen könnte, wird sich ganz sicher weiterdrehen, solange es Menschen mit genug Geld und Muße gibt, die die Gesellschaft mit exzentrischen Neuheiten beeindrucken möchten, und das mag wahrlich eine >endlose Geschichte< sein. Doch die Modemagazine, die jenen, die auf dem
Laufenden sein wollen, sagen, was man heute trägt, verkaufen ebenso Neuigkeiten wie unsere Tageszeitungen. Das Tagesgeschehen wird erst dann zur >Geschichtebis zum heutigen Tag' schreiben kann. Gewiss kann man die letzten Modeströmungen beschreiben und diskutieren, und ebenso die Künsder, die im Augenblick als führend gelten. Aber um zu wissen, dass diese Künsder wirklich den künftigen Gang der Entwicklung bestimmen werden, musste nun ein Prophet sein, und im Großen und Ganzen hat sich die
Kunstkritik nicht durch eine besondere Prophetengabe ausgezeichnet. Hehmen wir an, ein gut informierter und hellhöriger Kunsthistoriker hätte im Jahre 1890 denVersuch unternommen, die Geschichte der Kunst auf den neuesten Stand zu bringen: Selbst beim besten Willen hätte er nicht wissen können, dass die drei Zeitgenossen, die sich als bahnbrechend herausstellen würden, van Gogh, Cezanne und Gauguin
waren; der Erste ein halb verrückter holländischer Autodidakt,
der irgendwo in Südfrankreich wie besessen malte, der Zweite ein wohlhabender, scheuer älterer Herr, der schon lange aufgegeben hatte, Ausstellungen zu beschicken, und der Dritte ein Börsenmakler, der erst spät zu malen begonnen hatte und bald darauf als Europamüder in die Südsee gegangen war. Die Frage ist nicht so sehr, ob unser Historiker die Bedeutung dieser Künsder erkannt hätte, als vielmehr, ob er überhaupt etwas von ihnen hätte wissen können. Jeder von uns, der alt genug ist, erlebt zu haben, wie aus Gegenwart Vergangenheit wird, weiß, wie sehr sich mit wachsender Erfahrung die Konturen verändern. Das letzte Kapitel dieses Buches enthält ein gutes Beispiel dafür. Während ich die Seiten über Surrealismus schrieb, ahnte ich nicht, dass ein älterer deutscher Emigrant, dessen Werk in der Folge an Bedeutung gewinnen sollte, damals noch im englischen Lake District lebte und arbeitete. Ich spreche von Kurt Schwitters (1887—1948), der damals für mich bloß ein sympathischer Eigenbrötler der zwanziger Jahre war. Schwitters nahm gebrauchte Fahrkarten, Stücke aus alten Zeitungen, Stoff-Fetzen und was ihm sonst an werdosem Zeug unterkam und machte daraus amüsante und oft auch geschmackvolle Montagen (Abb. 392). Seine Weigerung, mit normalen Farben auf normaler Leinwand zu malen, stand im Einklang mit einer extremen Richtimg, die in Zürich während des Ersten Weltkrieges entstanden war. Ich hätte diese Bewegung der Dadaisten im vorigen Kapitel im Zusammenhang mit dem Priniitivismus erwähnen können. Ich zitierte dort den Brief Gauguins (S-453), in dem er schrieb, dass er hinter die Pferde des Parthenon zum Schaukelpferd seiner Kindheit zurückgehen wolle. Er verfallt
dabei Slclirr
in Heine Strehlen
Kindersprache und nennt das Spielzeug sein >Da-Dazu werden wie die KinderReady-Made< nannte) nahm und signierte, und in Deutschland tat es ihm Joseph Beuys (1921-1986) mit der Behauptung nach, er habe damit den Begriff von >Kunst< erweitert. Ich hoffe inständig, dass ich zu dieser M o d e — denn es ist eine Mode geworden - nicht beigetragen habe, als ich dieses Buch mit dem Satz begann: >Genau genommen gibt es die Kunst gar nicht< (S. 21). Damit wollte ich natürlich sagen, dass das Wort >Kunst< zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes bedeutet. Im fernen Osten beispielsweise ist die geschätzteste aller >Künste< die Kalligraphie. Aber ich habe auch gesagt (S. 459), dass w i r immer dann von Kunst sprechen, wenn etwas so unglaublich gut gemacht ist, dass w i r vor lauter Begeisterung fast vergessen zu fragen, was denn die Sache sein soll. Ich erwähnte, dass diese Einstellung besonders der Malerei gegenüber ständig zunimmt. Die Entwicklung seit dem letzten Weltkrieg hat mir recht gegeben. Wenn man unter Malerei das Auftragen von Farbe auf Leinwand versteht, kann es so weit kommen, dass manche Feingeister
ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Art und Weise dieses Farbauftrags konzentrieren. Gewiss schätzte man schon seit langem die Art, wie ein Künsder mit der Farbe umging, und bewunderte die Energie oder Subtilität seiner Pinselführung, aber gewöhnlich nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem erreichten Effekt. Blicken wir etwa zurück auf die souveräne Farbbehandlung Tizians in der Halskrause in Abb. 213 oder auf die Sicherheit von Rubens' Pinselfuhrimg beim Barte des Fauns (Abb. 260) oder die Virtuosität, mit der der chinesische Maler Kao k'okung (Abb. 98) seine Pinselstriche in feinsten Nuancen, und doch wie ungezwungen, auf die Seide auftrug; Bewunderung und Interesse für die reine Meisterschaft der Pinselführung war vor allem in China hoch entwickelt. Erinnern wir uns, dass die chinesischen Maler danach strebten, eine solche Leichtigkeit in der Handhabung von Pinsel und Tusche zu erreichen, dass sie ihre Visionen gleichsam im Augenblick der Begeisterung niederschreiben konnten, wie etwa ein Dichter seine Verse hinwirft. Tatsächlich sind für die Chinesen Malen und Schreiben etwas sehr Verwandtes. Ich sprach gerade von der chinesischen Kunst der Kalligraphie, aber eigentlich ist es nicht so sehr che formale Schönheit der Schriftzeichen, die ein Chinese bewundert, sondern die Inspiration und meisterhafte Beherrschimg, die sich in jedem Pinselstrich manifestiert. Hier war also eine Seite der Malerei, die bisher noch wenig erforscht war: das Umgehen mit der Farbe an sich, losgelöst von jeder Motivation oder Absicht. In Frankreich prägte man für die Richtung, die sich ausschließlich auf den Fleck konzentrierte, den der Pinsel auf der Leinwand hinterließ, den Ausdruck Tachisme (von tack = Fleck). In dieser Beziehung erregte der Amerikaner Jackson Pollock (1912—195-6) das meiste Aufsehen durch seine neue Art des Farbauftrags. Pollock war zuerst in den Bann des Surrealismus geraten. Doch allmählich wollte er sich von den unheimlichen Fantasien befreien, in seinen Bildern spukten, und versuchte es mit der abstrakten
Malerei. Aber die herkömmliche Technik befriedigte ilm nicht. Also legte er die Leinwand auf d*n Buden und iropfte, goss oder schleuderte seine Barben darauf, wobei die erstaunlichsten Konfigurationen entstanden (Abb, w ) . Wahrscheinlich hatte er von chinesischen Malern gehört, die sich ähnlich unorthodoxer Methoden bedienten, und wusste auch von den magischen Sandbildern mancher Indianerstämme. Das Liniengewirr, das bei ihm zustande kommt, befriedigt gleichzeitig zwei entgegengesetzte Tendenzen der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts: einmal die Sehnsucht nach kindhafter Einfachheit und Spontaneität, denn es erinnert an die Kritzeleien von kleinen Kindern, die noch nicht einmal so weit sind, Bilder machen zu wollen; andererseits appelliert es an das rein intellektuelle Interesse an den Problemen der >reinen Malerek. Pollock wurde als der Begründer einer neuen Richtung gefeiert, die als >Action Painting< oder abstrakter Expressionismus bekannt wurde. Nicht alle seiner Nachfolger bedienten sich seiner extremen Methoden, aber alle glaubten an die Notwendigkeit, sich einem spontanen Impuls hinzugeben. Ihre Werke mussten rasch entstehen wie die der chinesischen Kalligraphie, sie durften nicht überlegt sein, sondern mussten gleichsam unmittelbar hervorbrechen. Hinter dieser Forderung der Künstler und der Kritiker stand ohne Zweifel nicht nur der Einfluss der chinesischen Kunst, sondern der der mystischen Legenden des Fernen Ostens, besonders jener, die damals unter dem Namen Zen-Buddhismus im Westen in Mode gekommen waren. Auch in dieser Beziehung setzte die neue Bewegung die Tradition des frühen zwanzigsten Jahrhunderts fort. Kandinsky, Klee und Mondrian waren ja auch Mystiker gewesen, die durch den Schleier der Erscheinung hindurch zu höheren Wahrheiten durchzudringen hofften (S. 440, 447, 450); die Surrealisten wieder operierten mit der Idee des heiligen Wahnsinns (S. 457). Eine der grundlegenden Lehren des Zen-Buddhismus, wenn auch bei Weitem nicht die wichtigste, besagt, dass niemand Erleuchtung finden kann, der nicht erst aus seinen rationalen Denkgewohnheiten radikal aufgeschreckt wurde.
Ich habe im vorigen Kapitel betont, dass man nicht unbedingt die Theorien eines Künsüers akzeptieren muss, um seine Werke zu schätzen. Wenn jemand die Geduld und das Interesse aufbringt, sich viele derartige Bilder genau anzusehen, wird er mit der Zeit dahin kommen, dass ihm einige besser gefallen als andere, und allmählich wird er auch die Probleme verstehen lernen, die diese Künstler bewegen. In dieser Hinsicht ist etwa ein Vergleich eines Gemäldes des Amerikaners Franz Kline (1910—1962) mit einem Bild des französischen Tachisten Pierre Soulages (geb. 1919) recht aufschlussreich (Abb. 394, 395). Es ist bezeichnend, dass Kline sein Bild >Formes Blanches, Weiße Formern nannte. Offensichtlich wollte er, dass wir uns nicht allein auf die Linien konzentrieren, sondern ebenso auf die Leinwand, die durch sie irgendwie transformiert wird. So einfach seine Pinselstriche auch aussehen, so erzeugen sie doch einen gewissen Eindruck des Räumlichen, als würde die untere Bildhälfte nach oben hin zurücktreten. Dennoch erscheint mir das Gemälde von Soulages interessanter. Die Abstufung seiner energischen Pinselstriche erzeugt ebenfalls den Eindruck des Dreidimensonalen, aber dabei sagt mir die Qualität der Farbe mehr zu. Leider kommen die Unterschiede in der Fotografie so gut wie gar nicht heraus. Vielleicht wirkt gerade diese Schwierigkeit der fotografischen Reproduktion auf manche zeitgenössischen Künstler anziehend. Sie wollen das Gefühl haben, dass in einer Welt, in der so vieles maschinell gefertigt und standardisiert ist, ihr Werk, das Werk ihrer Hände, wirklich einmalig ist und bleibt. So malen manche Bilder von enormen Ausmaßen, deren Format allein den Beschauer überwältigt. Selbstverständlich geht auch dieser Eindruck der physischen Dimension in der Abbildung verloren. Was jedoch sehr viele Künsder am meisten interessiert und geradezu fasziniert, ist das, was sie >Textur< nennen: die Oberflächenbeschaffenheit eines Materials, seine Glätte oder Rauheit usw, Sie wenden sich daher von gewöhnlicher Farbe ab und arbeiten in Sand, Erde oder Sägemehl. Hierin hegt au ch einer der Gründe für das neu erwachte Interesse an den Collagen von Schwitters u nd den anderen Dadaisten .
Die Grobheit einer Sackleinwand, die Glätte von Kunststoff, die Rauheit rostigen Eisens, all das kann ftir neue Effekte genützt' werden. Solche Werke stehen gleichsam in der Mitte zwischen Bild und Skulptur. Der Ungar Zolian Ketneny (1907-196^ ), der in der Schweiz lebte, komponierte seine abstrakten Schöpfungen in Metall
(Abb. 5-96).
Sie können uns die Augen öffnen für die erstaunliche Vielfalt der Sinneseindrücke, die uns die Großstadt bietet. Sie leisten damit vielleicht etwas Ähnliches wie die Landschaftsmalerei im achtzehnten Jahrhundert, durch die die Entdeckung des Malerischen in der Natur selbst erst möglich wurde (S. J02). Diese wenigen Beispiele können selbstverständlich nicht die verwirrende Vielfalt, die man in einer Galerie zeitgenössischer Kunst antrifft, erschöpfend illustrieren. Es gibt zum Beispiel Künstler, die sieh besonders für die speziellen optischen Effekte interessieren, die sich mit Farben und Formen und ihrer gegenseitigen Beeinflussung auf dem Malgrund erzielen lassen, und die damit ein unerwartetes Flimmern und Flackern produzieren — man hat diese Methode >Op Art* genannt. Ich möchte aber nicht den irreführenden Eindruck erwecken, als interessierte sich die heutige Künstlerschaft ausschließlich für Experimente mit Farbe, Textur oder Form. Gewiss muss ein Künstler es verstehen, mit diesen Mitteln in einer interessanten und originellen Weise umzugehen, wenn er heute bei der jungen Generation reüssieren will. Aber unter den Malern, die in der Zeit nach dem Krieg das meiste Interesse erregt haben, finden sich auch einige, die zeitweise von der abstrakten Kunst zu gegenständlichen Darstellungen zurückkehrten. Ich denke hier an den russischen Emigranten Nicolas de Stael (1*914—i$ss)> dessen schlichte; aber subtile Pinselstriche sich nicht selten zu überzeugenden Landschaftsbildern zusammenschließen, die den Eindruck von Licht und Weite hervorzaubern, ohne die Eigenart des Farbauftrags vergessen zu lassen (Abb. 397). Wieder andere Künsder waren fixiert auf einen bestimmten Bildgegenstand. Der italienische Bildhauer Marino Marini (1901-1980) ist berühmt für die zahlreichen Variationen eines
Motives, das sich ihm während des Kr ieges tief eingeprägt haue? der Anblick itaüenischer Bauern, die auf ihren Ackergäulen bei Luftan griffen aus ihren Dörfern flüchteten (Abb. 398). Durch den Gegensau zwischen diesen geängstigten Gestalten und den Helden heroischer Reiterstandbilder, wie etwa Verrocchios Colleoni (Abb. 188), wirken sie besonders erschütternd. Der Leser mag sich fragen, ob die Summe dieser unterschiedlichen Beispiele die Weiterführung der Geschichte der Kunst ist oder ob sich etwas, das einmal ein mächtiger Strom war, inzwischen in viele Nebenarme und Bäche verzweigt hat. Darauf gibt es keine Antwort, aber gerade die Vielzahl der Bemühungen sollte uns trösten. In dieser Hinsicht gibt es wirklich keinen Grund für Pessimismus. Ich habe im letzten Kapitel (S. 463) meine Überzeugung geäußert, dass es immer Künsder geben wird, Männer und Frauen, die die wunderbare Gabe besitzen, Formen und Farben aufeinander abzustimmen, und, was noch seltener ist, die die Charakterstärke haben, sich nie mit halben Lösungen zufrieden zu geben, sondern bereit sind, auf alle Effekthascherei und Kompromisse zu verzichten und nur der Mühsal ehrlichen Schaffens zu leben. Ein Künsder, auf den dies in bewundernswerter Weise zutrifft, ist Giorgio Morandi (1890—1964) , auch ein Italiener. Morandi war vorübergehend von de Chiricos Bildern (Abb. 388) tief beeindruckt, gab aber bald jede Verbindung zu modischen Trends auf, um sich unbeirrbar auf die Grundprobleme seines Berufes zu konzentrieren. Er hebte schlichte Stillleben aus Vasen und Krügen, die in seinem Atelier standen und die er aus verschiedenen Blickwinkeln und bei verschiedenen Lichtverhältnissen malte oder radierte (Abb. 399). Er tat dies mit so viel FeinfüMigkeit, dass er mit der Zeit die Achtimg seiner Kollegen, der Kritiker und des Publikums dafür erwarb, so beharrlich nach Vollkommenheit zu streben. Es gab keinen Grund für die Annahme, dass Morandi der einzige Maler unseres Jahrhunderts ist, der sich derart intensiv um die Lösung von Problemen bemühte, die ihn ungeachtet aller tun
Aufmerksamkeit heischenden >Ismen< beschäftigten. Es dürfe aber kaum verwundern, dass einige Zeitgenossen die Verlockung verspürten, ihm zu folgen, mehr noch, eine neue Moderichtung zu begründen. Nehmen wir zum Beispiel die Bewegung, die man >Pop Art< nennt. Die Grundidee ist nicht schwer zu verstehen. Ich habe auch dieses Problem schon weiter oben angedeutet: Ich sprach dort von der unseligen Kluft zwischen der sogenannten Gebrauchskunst, der wir im Alltag begegnen, und der sogenannten >hohen Kunsfc der Ausstellungen und Museen, die unserem Verständnis oft solche Rätsel aufgibt (S. 461). Diese Kluft stellte auch die jungen Künstler vor ein Problem. Für sie war es natürlich axiomatisch, dass man für das Partei ergreifen muss, was die tonangebenden Kreise< verachteten. Nun waren aber alle anderen Formen der Anti-Kunst schon von den snobistischen Intellektuellen akzeptiert worden und teilten mit der verhassten >hohen< Kunst ihre Exklusivität und ihre mystischen Prätentionen. In der Musik war das ganz anders. Dort gab es eine Art von Musik, die die breite Masse nicht nur erobert, sondern bis an die Grenze hysterischer Leidenschaft fanatisiert hatte. Diese neue Musik war die >Pop-MusikPop-Kunst< zu schaffen, und könnte man das nicht einfach dadurch zu Stande bringen, dass man Gestalten und Motive verwendete, die jedermann von den Comic Strips und den Plakatwänden her vertraut sind? Die Aufgabe des Historikers ist, verständlich zu machen, was vor sich geht; die des Kritikers, darüber zu urteilen. Eines der schwierigsten Probleme bei dem Versuch, eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben, ist, diese beiden Funktionen auseinanderzuhalten. Glücklicherweise habe ich schon in meinem Vorwort meine Absicht angekündigt, >alle nur für eine etwaige Modeströmung interessanten Beispiele auszusondern.< Bis jetzt ist mir noch kein Resultat dieser Experimente untergekommen, das ich aufnehmen könnte, ohne meine Regel zu brechen. Aber es dürfte den Lesern kaum schwerfallen, sich eine eigene Meinung zu bilden, denn Ausstellungen dieser
neuesten Trends werden heute vielerorts veranstaltet. Auch dies ist eine neue Entwicklung, und eine höchst begrüßenswerte dazu. Noch nie vorher hat eine künstlerische Revolution mehr Erfolg gehabt als die, die vor dem Ersten Weltkrieg begann. Diejenigen unter uns, die einige ihrer Vorkämpfer noch persönlich kannten und sich erinnern können an den Mut, mit dem sie einer feindseligen Kritik standhielten, können ihren Augen kaum trauen: Allenthalben werden Ausstellungen dieser ehemaligen Rebellen mit staatlicher Förderung veranstaltet, und die Besucher stehen Schlange, um die neue Ausdrucksweise verstehen zu lernen. Auch das ist ein Stück Geschichte, das ich selbst erlebt habe, und in gewissem Sinne gibt dieses Buch selbst Zeugnis von diesem erstaunlichen Wandel. Denn als ich das Kapitel über experimentelle Kunst konzipierte, hielt ich es noch für eine selbstverständliche Pflicht als Kunsthistoriker, alle künstlerischen Experimente nicht nur zu erklären, sondern angesichts einer feindlichen Kritik zu rechtfertigen. Heute hegt das Problem eher darin, dass kein Mensch mehr schockiert ist und dass Presse wie Publikum fast jedes Experiment akzeptabel finden. Ja, heute sind es vielmehr jene Künstler, die bewusst alle rebellischen Gesten vermeiden, die einen Anwalt brauchen. Nicht so sehr das Aufkommen dieser oder jener neuen Richtung, sondern eben diesen dramatischen Umschwung der öffendichen Meinung halte ich für das Wichtigste, was sich auf unserem Gebiet ereignet hat, seit dieses Buch im Jahre 1950 zum ersten Mal herauskam. Von verschiedenster Seite wurde zu diesem unerwarteten Phänomen Stellung genommen. So schreibt etwa Professor Bell in seinem Kapitel über die bildenden Künste in einem von J. H. Plumb herausgegebenen Sammelband The Crisis in the
Humanities
(1964):
>Im Jahre 1914 betrachtete man den nachimpressionistischen Maler,
den man ziemlich wahllos als Kubisten, Futuristen oder Modernisten bezeichnete, als eine Art Narren oder Scharlatan. Diejenigen Maler und Bildhauer, die vom Publikum bewundert wurden, widersetzten
sich erbittert aller radikalen neuen Ideen. Geld, Einfluss und Förderung waren auf ihrer Seite. Heute kann man fast behaupten, die Situation sei umgekehrt. Die Organe der Öffentlichkeit wie etwa der Arts Council, der British Council und die BBC, ebenso die Geschäftswelt, die Presse, die Kirche, der Film und die Werbung stehen nunmehr alle auf der Seite derer, die man mit einem etwas irreführenden Ausdruck ,nonconformist artists' nennen könnte... das Publikum oder zumindest ein großer und einflussreicher Teil, toleriert einfach alles... und es gibt auf dem Gebiet der bildenden Kunst keine Form von bildnerischem Exzess, die die Kritik zum Protest oder auch nur zu einem Wimpernzucken veranlassen könnte.
Action Painting< stammt, in einem Artikel im New Yorker vom 6. April 1963 die Reaktion auf die erste Avantgarde-Ausstellung in New York S die Armory Show des Jahres 1913 — mit der des Publikums 50 Jahre später, das er als >Avantgarde-Publikum< charakterisiert: >Das Avantgarde-Publikum ist einfach allem aufgeschlossen. Seine Repräsentanten — -Kustoden, Museumsdirektoren, Kunsthändler
— überschlagen sich geradezu, Ausstellungen zu veranstalten und Kommentare zu liefern, bevor noch die Farbe trocken oder die Plastik gehärtet ist. Wohlwollende Kritiker durchkämmen wie Sportmanager die Ateliers nach neuen Talenten, stets bereit, die Kunst der Zukunft zu proklamieren, um die Ersten zu sein, die den Ruf eines neuen Genies begründen. Und die Kunsthistoriker stehen mit Kamera und Notizbuch bereit und sorgen dafür, dass jedes neue Detail auch wirk-
lich für alle Zukunft festgehalten wird. Die Tradition der Neuerung hat alle anderen Traditionen außer Kraft gesetzt.
Ausdruck des Zeitalters< angesehen. An der Verbreitung dieser Vorstellung hat die Kunstgeschichte (dieses Buch eingeschlossen) einen nicht unbedeutenden Anteil. Haben wir nicht alle, wenn wir zurückblättern, irgendwie das Gefühl, dass ein griechischer Tempel, ein römisches Theater, eine gotische Kathedrale oder ein moderner Wolkenkratzer eine jeweils andere Geisteshaltung >ausdrücken< und eine andere Art von Gesellschaft symbolisieren? Wenn man damit bloß sagen will, dass die Griechen das Rockefeller-Center nicht hätten bauen können und Notre-Dame nicht hätten bauen wollen, so ist gewiss viel Wahres daran. Aber allzu oft verbindet sich damit die Idee, dass die Kultur oder, wie man so sagt, der Geist der Antike sich im Parthenon kristallisieren musste, dass das Mittelalter nicht anders konnte, als Kathedralen zu errichten, und dass es unsere Bestimmung ist, Wolkenkratzer zu bauen. Von diesem Standpunkt aus, den ich nicht teile, wäre es selbstverständlich vergeblich und töricht, die Kunst der eigenen Zeit abzulehnen. Es genügte dann, dass ein Stil oder ein Experiment für zeitgenössisch erklärt würde, um den Kritikern das Gefühl zu geben, es sei ihre Pflicht, die Sache zu verstehen und für sie einzutreten. Diese Geschichtsauffassung hat den Kritikern den Mut zur Kritik genommen und sie zu bloßen Chronisten gemacht. Zur Rechtfertigung dieser Einstellung weisen sie auf die notorische Unfähigkeit früherer Kritiker hin, die Entstehung neuer Stile zu erkennen und zu akzeptieren. Die Erinnerung an die verständnislose Feindseligkeit, mit der die Kritik etwa die Impressionisten behandelte, deren Werke später so berühmt wurden und so hohe Preise erzielten, hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Kritiker das Vertrauen in ihr eigenes Urteil einbüßten. Die Legende kam auf, dass alle großen Künstler von ihrer Zeit abgelehnt und verlacht worden seien, und daher kommt das an sich lobenswerte Bestreben des Publikums heute, überhaupt nichts mehr abzulehnen oder zu verlachen. Die Vorstellung, dass die Künstler dieVorreiter der Zukunft sind und dass wir, nicht sie, komisch dastehen werden, wenn wir es an der gebührenden Wertschätzung fehlen lassen, ist heute beim Publikum weit verbreitet.
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Ein zweiter Faktor, der zu der heutigen Situation heigetragen hat, hängt ebenfalls mit der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie zusammen. Jeder weiß, dass die Theorien der modernen Naturwissenschaft oft äußerst abstrus und unverständlich erscheinen, sich aber trotzdem bewahrheiten. Das beruhitueste Beispiel dafür ist wohl Einsteins Relativitätstheorie, die allen vernünftigen Vorstellungen von Zeit und Raum zu widersprechen schien und die doch zu jener Gleichung zwischen Masse und Energie führte, die ihrerseits der Erfindung der Atombombe zu Grunde lag. Es besteht kein Zweifel, dass Macht und Prestige der Naturwissenschaften sowohl Künstler wie Kritiker ungeheuer beeindruckten. Sowohl das berechtigte Vertrauen ins Experimentieren als auch eine weniger berechtigte Bereitschaft, alles Abstruse und Unverständliche gläubig hinzunehmen, gehört hierher. Aber in der Kirnst liegen die Dinge leider sein: anders als in der Wissenschaft. Denn während die Wissenschaft über rationale Methoden verfügt, das Abstruse vom Absurden zu unterscheiden, fehlen dem Kunstkritiker solche eindeutigen Kriterien. Gleichzeitig hat er aber das Gefühl, er könne es sich nicht mehr leisten abzuwarten, ob sich ein neues Experiment als sinnvoll herausstellen wird, denn damit könnte er ins Hintertreffen geraten. In früheren Zeiten hätte das den Kritiker nicht allzu viel bekümmert, aber heute gilt allgemein die Überzeugimg, dass alle, die an veralteten Ideen festhalten und sich weigern, mit der Zeit zu gehen, verloren sind. In der Wirtschaft, so sagt man uns ständig, heißt es Schritthalten oder Untergang. Wir müssen allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein und neuen Methoden ein Chance geben. Kein Industrieller kann es sich heute erlauben, als >konservativ< zu gelten. Er muss nicht nur mit der Zeit gehen, er muss diese Haltung auch bezeugen, und am besten tut er das, indem er im Konferenzzimmer moderne Bilder aufhängt, je revolutionärer, desto besser.
Der dritte Faktor scheint auf den ersten Blick dem bisher Gesagten zu widersprechen. Die Kunst will nämlich nicht nur mit Wissenschaft und Technologie Schritt halten, sie will uns auch die Möglichkeit geben, diesem Ungeheuern zu entfliehen. Hier liegt der Grund, weshalb so viele Kümsüer sich veranlasst sahen, alles bloß Verstandesmäßige und Mechanische abzulehnen und sich irgendeiner mystischen Lehre zu verschreiben, die den Wert der Spontaneität und Individualität betont. Man kann sehr gut verstehen, dass sich die Menschen heute von Mechanisierung und Automatisierung bedroht fühlen, von Überorganisation, Standardisierung und dem Zwang zu einer öden Gleichförmigkeit. Die Kunst erscheint als der einzige Zufluchtsort, wo Eigenwiligkeit und persönliche Eigenart nicht nur toleriert, sondern sogar geschätzt werden. Seit dem neunzehnten Jahrhundert fanden viele Künsder, die den Anspruch erhoben, gegen Konvention und Philisterturn zu kämpfen, ein gewisses Vergnügen daran, die Bürger zu schockieren (S. 390). Leider kam es so weit, dass es den Bürgern selbst Vergnügen machte, da mitzuspielen. Schließlich haben wir alle Freude an Mitmenschen, die sich beharrlich weigern, erwachsen zu werden, und doch irgendwie einen Platz in der heutigen Welt finden. Und wir profitieren noch davon,», wenn wir so unsere Vorurteilslosigkeit zur Schau stellen, dass nichts mehr uns schockieren oder verblüffen kann. So kam es zu einem modus vivendi zwischen Künsdern und Technokraten. Danach darf der Künsder sich in seine eigene Welt zurückziehen, sich den Träumen seiner Kindheit und den Mysterien seines Handwerks hingeben, solange er sich an die Vorstellung hält, die sich das heutige Publikum von Kunst macht.
Diesen Vorstellungen hegen gewisse psychologische Annahmen über Kunst und Künstler zu Grunde, deren Entstehung wir in diesem Buch verfolgen konnten. Da ist vor allem die Idee der Kunst als freier Ausdruck der Persönlichkeit, die auf die Romantik zurückgeht
(S. 381/382), und weiterhin der große Einfluss der Psychoanalyse (S. 4S7)>
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° h e i der Zusammenhang zwischen Kunst und Seelenleiden
oft wörtlicher genommen wurde, als Freud beabsichtigte. In Verbin*
M
dung mit der Uberzeugung, die sich immer mehr durchsetzte, die Kunst sei der Ausdruck des Zeitalters, konnte es so zu der Ansicht kommen, der Künsüer habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich aller Hemmungen zu endedigen. Wenn die Ergebnisse dessen nicht gerade hübsch seien, so komme das einfach daher, dass die Zeit, in der wir lebten, es auch nicht sei. Worauf es ankomme, sei, den harten Tatsachen ins Auge zu sehen, denn nur so könnten wir hoffen, die Ängste und Nöte unserer Zeit zu erkennen. Der entgegengesetzte Gedanke, Kunst allein könne uns in dieser unvollkommenen Welt Vollkommenheit wenigstens ahnen lassen, wird als Flucht vor der Wirklichkeit verworfen. Die moderne Psychologie hat sowohl Künsder als auch Publikum ermutigt, Bereiche der menschlichen Psyche zu erforschen, die man früher als abstoßend oder tabu betrachtet hätte. Um sich nicht nachsagen zu lassen, sie könnten der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen, wenden heute viele ihre Augen nicht von Dingen ab, deren Anblick frühere Generationen gescheut hätten. 5 Die vier Faktoren, die wir bisher genannt haben, beziehen sich ebenso auf die Situation der Literatur und Musik wie auf die der Malerei und Bildhauerkunst. Fünf weitere Punkte sind meiner Meinung nach im Wesendichen für die bildenden Künste charakteristisch, und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese weniger als andere Formen des Schöpferischen von der Vermitdung durch Dritte abhängig sind. Bücher müssen gedruckt und verlegt, Theaterstücke und Kompositionen aufgeführt werden; dazu ist ein großer Apparat notwendig, der extreme Experimente in gewisser Weise behindert. Daher hat sich die Malerei für radikale Neuerungen am empfanglichsten erwiesen. Man braucht keinen Pinsel, wenn man die Farbe lieber direkt auf die Leinwand gießt; und ein Neo-Dadaist kann ein Stück Schrott zu
einer Ausstellung einsenden, die Veranstalter werden schon nicht wagen, sein Kunstwerk zurückzuweisen. Tun sie es doch, so hat er erst recht seinen Spaß. Allerdings kommt auch der bildende Künstler nicht ohne einen Mitder aus: Er braucht einen Kunsthändler, der seine Werke zeigt und verkauft, und das ist natürlich ein Problem. Doch beeinflussen alle Faktoren, die wir bisher aufgeführt haben, den Händler vermutlich noch mehr als den Künsder oder Kritiker. Denn für ihn ist es ja am allerwichtigsten, das Barometer der Veränderung im Auge zu behalten, Trends rechtzeitig zu erkennen und nach neuen Talenten Ausschau zu halten. Wenn er aufs richtige Pferd setzt, kann er ein Vermögen machen. Konservative Kritiker früherer Generationen haben oft missbilligend behauptet, die ganze moderne Kunst sei eine >Mache< gerissener Kunsthändler. Aber Händler sind seit Menschengedenken dem Profit nachgegangen. Sie beherrschen den Markt nicht — der Markt beherrscht sie. Gewiss mag hie und da ein Händler, der eine besonders gute Nase für die zukünftige Entwicklung des Marktes hatte, so viel Einfluss und Prestige gewonnen haben, dass er über Erfolg und Misserfolg von Künsdern entscheiden konnte. Aber Händler machen die Kunstströmungen genauso wenig wie Windmühlen den Wind.
6 Mit Lehrern steht die Sache vermutlich anders. Der Kunstunterricht ist der sechste Faktor, der unsere heutige Situation beeinflusst, und z w a r ein ungemein wichtiger. Die Reform in der Kindererziehung fand ihren ersten Ausdruck im Kunstunterricht. Zu Anfang des Jahrhunderts kamen die Lehrer darauf, um wie viel mehr sie aus den Kindern herausholen konnten, wenn sie den seelentötenden Drill der traditonellen Methoden bleiben ließen - es war die Zeit, in der diese Methoden durch den Erfolg des Impressionismus und die Experimen te des Jugendstils überhaupt infrage gestellt worden waren (S. 412). D i e Pioniere dieser Schulreform, vor allem Franz Cizek (1865-1946) in W i e n , forderten, dass man das Talent der Kinder sich frei entfalten
lassen solle, bis sie selbst so weit wären, künstlerische Maßstäbe zu verstehen. Seine* Resultate erregten Aufsehen. Erwachsene Künstler betrachteten voll Neid die Originalität und den Charme der kindlichen Schöpfungen (S. 44;.)i(GleiHerumbat/en< mit Farbe und Plastilin bereitet. Es war der Kunstunterricht, der vielen erstmals das Gefühl der Selbstverwirklichung vermittelte. Wir sprechen heute ganz selbstverständlich von der >Kunst der Kinder*, ohne auch nur zu bemerken, dass dies dem Kunstbegriff aller früheren Generationen widerspricht. Manche, die beim Kunstunterricht die Befriedigung entdeckten, die aus freier schöpferischer Tätigkeit entspringt, malten in ihrer Freizeit weiter. Selbstverständlich ist die große Zunahme von Amateuren nicht ohne Einfluss auf die Kunst geblieben. Einerseits muss das gesteigerte Interesse von den Künstlern natürlich begrüßt werden, andererseits aber erzeugt diese Situation in vielen von ihnen ein starkes Bedürfnis, den Abstand zwischen der Könnerschaft eines berufsmäßigen Künsders und der eines Dilettanten zu betonen. Der Kult der vollendeten Pinselführung mag hierin eine seiner Wurzeln haben. 7
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Hier fügt sich zwanglos der siebente Faktor an, der aber auch an erster Stelle hätte stehen können: die Ausbreitung der Fotografie und ihre Rivalität mit der Malerei. Natürlich hat die Kunst zu keiner Zeit einzig und allein die Nachahmung der Natur zum Ziel gehabt. Aber wie wir gesehen haben (S. 460), waren die Künstler doch in dieser Verbindimg mit der Natur gleichsam verankert. Deren Wiedergabe war eine Aufgabe, mit der die besten Geister viele Jahrhunderte lang gerungen hatten; andererseits lag darin auch für die Kritik wenigstens ein erster Anhaltspunkt. Zwar existierte die Fotografie schon seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert, aber die heutige Situation lässt sich mit jenen Anfangen nicht vergleichen. Heutzutage gibt es Millionen von Kamerabesitzern in jedem Land, und die Zahl der Farbfotos, die
in jeder Urlaubssaison geknipst werden, geht vermutlich in die Billionen. Es kann nicht ausbleiben, dass darunter auch einige wirklich geglückte Aufnahmen sind, die ebenso schön und stimmungsvoll sind wie so manches mittelmäßige Landschaftsbild, oder so ausdrucksvoll und lebendig wie ein gemaltes Porträt. Kein Wunder, dass das Wort »fotografisch* von Künsdern und Kunstexperten nur verächtlich gebraucht wird. Die Gründe, mit der sie manchmal ihre Ablehnung rechtfertigen, sind oft abwegig, aber ihr Argument, die Kunst müsse nun Alternativen zur Naturtreue entwickeln, leuchtet vielen ein.
8 Hier dürfen wir aber das achte Element der Situation nicht übergehen: dass es nämlich in vielen Ländern der Erde verboten ist, nach solchen Alternativen zu suchen. Der Marxismus sowjetrussischer Prägung betrachtete alle experimentellen Richtungen der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts als Verfallssymptome der kapitalistischen Gesellschaft. Der Ausweis einer gesunden kommunistischen Gesellschaft war dagegen eine Kunst, die die produktive Arbeit verherrlich te, indem sie fröhliche Traktoristen und stämmige Bergarbeiter malte. Diese drückende staatliche Reglementierung brachte uns die Segnungen, die wir der Freiheit verdanken, erst voll zum Bewusstsein. Leider wurden aber dadurch auch die Künste in die politische Arena hineingezogen und als Waffen im Kalten Krieg eingesetzt. Vielleicht hätte man im Westen die extremen Rebellen nicht ganz so eifrig von oben gefordert, wenn man nicht die Gelegenheit hätte nutzen wollen, der Welt den großen Gegensatz zwischen einer freien Gesellschaft und einer Diktatur vor Augen zu fuhren.
Und damit kommen wir zum neunten Element der neuen Situation. Es lässt sich in derlkt aus diesem Gegensatz zwischen der Uniformität totalitärer Staaten und der bunten Vielfalt einer freien Gesellschaft etwas lernen. Wer immer das Schauspiel der Gegenwart mit
Verständnis
und Sympathie betrachtet, wird zugeben, dass auch die
Sucht des Publikums nach Neuem und seine Bereitwilligkeit, jedem modischen Trend zu folgen, den Reiz unseres Lebens erhöhen. Es zeigt sich so viel Erfindungsgabe, Frische und Ausgelassenheit in der freien und angewandten Kunst, dass die ältere Generation die Jimgen direkt beneiden muss. Wenn wir uns manchmal versucht fühlen, die jüngsten Darbietungen der abstrakten Malerei als >hübschen Vorhangstoff< abzutun, sollten wir auch nicht vergessen, wie viel die reiche Auswahl an originellen Vorhangstoffen den Experimenten der abstrakten Malerei verdankt. Die neue Toleranz und die Bereitschaft der Kritiker und Fabrikanten, neue Ideen und Farbzusammenstellungen auszuprobieren, und selbst der rasche Wechsel der Moden haben unsere Umwelt bereichert. Ich glaube, dass heute viele junge Mensehen zeitgenössische Kunst in diesem Sinn genießen, ohne sich um den mystischen Tiefsinn des Ausstellungskatalogs zu kümmern. Und das ist gut so. Andererseits muss man die Gefahr einer Hingabe an jede Modeströmimg kaum betonen. Bedroht sie doch eben jene Freiheit, an der wir uns erfreuen. Zwar droht uns nicht die Polizei, und dafür sind wir dankbar. Ich denke vielmehr an den Druck des Konformismus, die Angst vor dem Zurückbleiben, die Furcht, als spießig angesehen zu werden. Erst kürzlich empfahl eine Zeitung ihren Lesern, die Ausstellung eines bestimmten Künsders zu besuchen, wenn sie beim Kunstrennen mithalten wollten. Natürlich gibt es kein solches Rennen; aber wenn es das gäbe, täten wir gut daran, uns an den Wetdauf des Hasen mit dem Igel zu erinnern. Es ist wirklich verblüffend, in welch hohem Maße inzwischen die Haltung, die Harold Rosenberg als >Tradition der Neuerung< beschrieb (S. 476), f ür die moderne Kunst als selbstverständlich gilt. Wer sie anzweifelt, gilt als >HinterwäldlerAnti-Kunst< zu machen, doch sobald diese Anti-Kunst von offizieller Seite gefördert wurde, war sie Kunst ganz ohne >Anti< — und wogegen sollte man sich dann noch auflehnen? Architekten können, wie wir sahen, immer noch auf Reaktionen hoffen, wenn sie sich vom Funktionalismus abwenden, aber was man vage als >moderne Malerei< bezeichnet, hatte sich niemals in gleicher Weise nur einem Prinzip verschrieben. Die Bewegungen und Strömungen, die im zwanzigsten Jahrhundert bekannt wurden, hatten nur eines gemeinsam: Alle lehnten es ab, nach der Natur zu arbeiten. Nun wollten durchaus nicht alle Künstler jener Epoche diesen Bruch mitmachen, aber die meisten Kunstkenner waren überzeugt, dass nur eine kompromisslose Abkehr von den traditionellen Arbeitsweisen weiterführen würde. Die neueren Zitate zur gegenwärtigen Situation in der Kunst, die ich an den Anfang dieses Abschnitts gestellt habe, verweisen darauf, dass diese Überzeugung an Boden verloren hat. Als angenehmer Nebeneffekt dieser gewachsenen Toleranz hat sich der scharfe Gegensatz im Kunstverständnis der westlichen und östlichen Gesellschaften (S. 484) deutlich gemildert. Die Kunstkritik hat heute ein viel breiteres Spektrum, was viel mehr Künstlern die Chance gibt, anerkannt zu werden. Einige sind zur gegenständlichen Kunst zurückgebehrt und >scheuen nicht mehr vor dem Erzählen zurück, dem Predigen oder Moralisieren*, wie es in dem Zitat weiter oben hieß. Dies hatte auch John Russell Taylor im Sinn, als er schrieb, wir lebten >in einer pluralistischen Welt, in der das Fortschrittlichste, das in aller Regel postmodern ist, vermutlich am traditionellsten und rückschrittlichsten aussieht« (S. 488).
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Eine endlose Geschichte
Nicht alle Künstler unserer Tage, die für sich dieses neu erworbene Recht auf Vielfalt genießen, würden die Bezeichnung >postmodern< akzeptieren. Aus diesem Grund habe ich lieber von einer veränderten Stimmung< als von einem neuen Stil gesprochen. Es ist immer falsch, sich Stilrichtungen wie Soldaten bei einer Parade; m geordneter Abfolge vorzustellen. Natürlich wäre eine solche überschaubare Abfolge allen lieber, die Bücher über Kunstgeschichte lesen und schreiben, jetzt aber setzt sich die Auffassung immer stärker durch, dass Künstler das Recht auf ihren eigenen Weg haben. Daher trifft, was ich 1966 geschrieben habe, nicht mehr in gleichem Maße zu: >Heute sind es vielmehr jene Künsüer, die bewusst alle rebellischen Gesten vermeiden, die einen Anwalt brauchen< (S. 47s). Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Maler Lucian Freud (1922—2011), der die Gegenständlichkeit niemals abgelehnt hat. Sein Gemälde >Zwei Pflanzen« (Abb. 403) lässt an Albrecht Dürers >Großes Rasenstück« (Abb. 221) denken. In beiden erkennen wir einen Künsüer, der ganz in der Schönheit alltäglicher Pflanzen aufgeht, aber während Dürers Aquarell eine Studie zum privaten Gebrauch war, ist Freuds großes Ölgemälde ein eigenständiges Werk, das jetzt in der Londoner Täte Gallery hängt. Ich sprach im letzten Abschnitt auch davon, dass Lehrer der Kunstbetrachtung das Wort >fotografisch< nur verächtlich gebrauchen (S. 483), Inzwischen hat das Interesse an der Fotografie noch weiter zugenommen und Sammler konkurrieren miteinander um Abzüge von Arbeiten führender Fotografen, früherer ebenso wie zeitgenössischer;. Man kann durchaus sagen, dass ein Fotograf wie Henri Cartier-Bresson (1908-2004) heute ebenso viel Ansehen genießt wie ein Maler unserer Tage. Viele Touristen haben malerische italienische Dörfer geknipst, aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass einem von ihnen je ein so überzeugendes Bild gelungen ist wie Cartier-Bressons Foto von Aquila degli Abruzzi (Abb. 404). Mit seiner Minikamera im Anschlag durchlebt Cartier-Bresson die Erregung eines Jägers, der, den Finger am Abzug, auf den perfekten Moment lauert, um zu >schießenStillleben Mit Geige und Trauben< von 1912 § 1 1 ! 374) erinnern. Hockneys Porträt seiner Mutter (Abb. 405) ist ein Mosaik verschiedener Aufnahmen aus geringfügig verschobenen Bhckwinkeln, und es zeigt auch ihre Kopfbewegung. Man sollte meinen, aus einer derartigen Kombination könne nur ein unzusammenhängendes Durcheinander werden, doch das Porträt ist ausgesprochen suggestiv. Denn wenn wir jemanden ansehen, stehes unsere Augen niemals für längere Zeit still, und das Bild, das vor unserem inneren Auge entsteht, wenn wir an jemanden denken, ist scets ein zusammengesetztes. Genau diese Erfahrimg hat Hockney mit seinen fotografischen Experimenten eingefangen. Gegenwärtig sieht es so aus, als werde diese Aussöhnung zwischen Fotograf und Maler künftig noch an Bedeutung gewinnen. Sicher ist, dass selbst Maler des vorigen Jahrhunderts recht häufig Fotografien benutzten, heutzutage aber ist diese Methode bei der Suche nach neuen Wegen akzeptiert und. verbreitet. Die jüngsten Entwicklungen haben uns erneut vorgeführt, dass sieh der Kunstgeschmack ebenso wandelt, wie die Mode bei der Kleidung oder in der Innenarchitektur wechselt. Wer wollte bestreiten, dass viele alte Meister, die wir sehr bewundern, ja viele Stil riehtungen der Vergangenheit, von ausgesprochen feinfühligen und gebildeten Kunstkennern früherer Generationen nicht sehr geschätzt
wurden. Dies ist einfach wahr. Kein Kunstkenner und kein Kunsthistoriker kann völlig vorurteilsfrei sein, ich halte aber den Schluss für falsch, dass daher der Wert eines Kunstwerkes immer relativ ist. Auch wenn wir uns selten die Mühe machen, nach den objektiven Vorzügen von Werken oder Stilrichtungen zu suchen, die uns nicht unmittelbar zusagen, beweist dies nicht, dass unser Urteil völlig subjektiv ist. Ich bin immer noch überzeugt, dass wir Meisterschaft in der Kunst erkennen können und dass dieses Erkennen mit unseren persönlichen Vorlieben und Abneigungen wenig zu tun hat. Ein Leser dieses Buches mag Raffael mehr schätzen als Rubens oder umgekehrt, aber das Buch hätte sein Ziel verfehlt, wenn meine Leser nicht auch erkennen würden, dass beide überragende Meister waren.
N e u e Entdeckungen Unsere Kenntnis der Geschichte ist immer unvollständig. Es gibt stets neue Fakten zu entdecken, die unsere Vorstellung von der Vergangenheit ändern können. Die vorliegende Geschichte der Kunst wollte nie etwas anderes sein als selektiv, doch selbst ein so einfaches Buch wie dieses kann als Bericht über die Arbeit einer großen Zahl lebender und verstorbener Historiker bezeichnet werden, die dazu beigetragen haben, Kunstepochen, Stilrichtungen und Persönlichkeiten klarer zu umreißen. Zweifellos lohnt es sich, kurz danach zu fragen, wann die in dieser Geschichte der Kunst behandelten Werke bekannt wurden. In der Renaissance begann man mit der systematischen Suche nach Zeugen der antiken Kunst; die Entdeckimg des Laokoon (Abb. 69) im Jahre 15*06 und des Apollo von Belvedere (Abb. 64) zur selben Zeit beeindruckte die Künsder und Kunstliebhaber tief. Im siebzehnten Jahrhundert wurden die frühchrisdichen Katakomben (Abb. 84) im Gefolge des neu erwachten religiösen Eifers der Gegenreformation erstmals systematisch erforscht. Im achtzehnten Jahrhundert folgte
dann die Entdeckung von Herculaneum (1719), Pompeji (1748) und der anderen unter der Asche des Vesuv begrabenen Städte, aus denen ina Lauf der Zeit so viale schöne Malereien geborgen wurden (Abb, gg$ Seltsamerweise wurde die Schönheit der griechischen Vasenmalerei erst im achtzehnten Jahrhundert richtig gewürdigt. Viele dieser Vasen wurden in Gräbern auf italienischem Boden gefunden (Abb. 48, 49 und Abb. Mit Napoleons Feldzug nach Ägypten (1801) erschloss sich dieses Land für die Archäologen, denen es gelang, die Hieroglyphenschocift zu entziffern. Dies ermöglichte es den Gelehrten, Sinn und Funktion der Denkmäler, die in vielen Nationen Gegenstand eifrigen Forsehens wurden, im Lauf der Zeit zu erfassen (Abb. 31—3 71)Im frühen neunzehnten Jahrhundert war Griechenland noch Teil des Osmanischen Reiches und für Reisende sehwer zugänglich. 1ha Parthenon auf der Akropolis war eine Moschee erbaut worden, und die antiken Skulpturen waren lange vernachlässigt gewesen, als Lord Elgin, britischer Botschafter in Konstantinopel, die Erlaubnis erhielt, einige von ihnen nach England zu bringen (Abb. 56,57,).. Kurz danach (182.0,) wurde auf der Insel Melos die Venus von Mil© (Abbt 65) durch Zufall gefunden und in den Louvre nach Paris gebracht, wo sie sofort berühmt wurde. Um die Jahrhundertmitte spielte der englische Diplomat und Archäologe Sir Austen Layard eine führende Rolle bei der Erforschung Mesopotamiens-(Ab b.45). 187:0 machte sich Heinrich Schliernanai, ein Amateur, auf die Suche nach den Stätten, die in den Epen Homers genannt sind, und entdeckte 1876 Mykene (Abb. 41);» Uusujene Zeit waren aber die Archäologen nicht mehr gewillt, diese Arbeit Außenseitern zu überlassen. Regierungen und wissensohaftlichfeAkademisn teilten die Gelände unter sich auf und organisierten systematische Ausgrabungen, wobei oft noch der Grundsatz herrschte, das& der Finder den Fund behielt. Nun entdeckten deutsche Expeditionen die Überreste von Olympia, wo vorher nur unsystematisehe franzöeisehe Grabungen stattgefunden hatten (Abb..52),. und fanden die berühmte Hermes-Statue (Abb. 62, 63). Vier Jahre später' barg
eine andere deutsche Expedition den Altar des Zeus aus Pergamcm (Abb. 68) und brachte ihn nach Berlin; 1892 begannen die Franzosen mit der Freilegung des antiken Delphi (Abb. 47 und Abb. 53., 54), wobei sie ein ganzes griechisches Dorf umsiedeln mussten. Noch spannender ist die Geschichte der Entdeckimg der prähistorischen Höhlenmalereien im späten neunzehnten Jahrhundert; denn als die Malereien von Altamira (Abb. 19) 1880 erstmals veröffentlicht wurden, waren nur wenige Gelehrte bereit, die Folgerung zu ziehen, dass die Anfange der Geschichte der Kunst um viele tausend Jahre zurückverlegt wurden mussten. Nicht weniger unternehmungsfreudigen Forschern und Gelehrten verdanken wir unsere Kenntnis der Kunst in Mexiko und Südamerika (Abb. 27, 29, 30), Nordindien (Abb. 80, 81) und im alten China (Abb. 93, 94); dasselbe gilt für die Entdeckung der Wikingergräber in Oseberg im Jahr 1905 (Abb. 101). Von den späterhin im Nahen Osten gelungenen Entdeckungen, die im vorliegenden Buch abgebildet sind, seien hervorgehoben: das Monument von König Naramsin (Abb. 44), das um 1900 von französischen Forschern aufgefunden wurde, die hellenistischen Porträts aus Ägypten (Abb. 79),. die Ausgrabungen englischer und deutscher Expeditionen in Teil el-Amarna (Abb. 39, 40) und natürlich der sensationelle Schatz im Grab des Tutanchamun, den Lord Carnarvon und Howard Carter im Jahr 1922 entdeckten (Abb. 42). Die alten sumerischen Grabstätten in Ur (Abb. 43) erforschte Leonard Woolley von 1926 an. Die jüngsten Entdeckungen, die ich zur Zeit der Entstehung dieses Buches mit aufnehmen konnte, waren die Wandgemälde aus der Synagoge in Dura-Europos, die 1932-1933 freigelegt wurden (Abb. 82), die Malereien in der Höhle von Lascaux, die 1940 durch Zufall entdeckt wurden (Abb. f f § 21), und wenigstens einer der wunderbaren Bronzeköpfe aus Nigeria (Abb. 23), von denen in der Zwischenzeit noch weitere bekannt geworden sind. Die Liste ist natürlich unvollständig, aber in einem Fall mit Absicht: Es fehlen die Entdeckungen von Sir Arthur Evans auf der
Insel Kreta (um 1900). Dem aufmerksamen Leser ist sicher nicht entgangen, dass diese beachtlichen Funde im Text erwähnt sind gg 57), dass ich aber hier von dem Grundsatz, das Besprochene auch abzubilden, abgewichen bin. Wer Kreta besucht hat, wird dieses scheinbare Versehen wahrscheinlich bedauern, denn der Palast von Knossos mit seinen großartigen Wandgemälden hat zweifellos einen starken Eindruck hinterlassen. Auch ich war davon beeindruckt, hatte aber Bedenken, Abbildungen in das Buch aufzunehmen, da sich mir die Frage aufdrängte, wie viel von dem, was wir sehen, auch für die alten Kreter zu sehen war. Damit will ich keineswegs die Entdecker tadeln, denen am Herzen lag, die vergangene Pracht des Palastes wiederherzustellen, und die deshalb den Schweizer Maler Emile Gillieron und seinen Sohn beauftragten, die Wandgemälde anhand der aufgefundenen Fragmente zu rekonstruieren. In dieser Form gefallen sie gewiss den meisten Besuchern noch besser, als wenn sie in dem Znstand belassen worden wären, in dem sie aufgefunden wurden. So war es ein besonderer Glücksfall, dass bei den Ausgrabungen, die der griechische Archäologe Spyros Marinatos im Jahre 1967 auf der Insel Santorin (dem antiken Thera) begann, in den Ruinen ähnliche Fresken entdeckt wurden, die weitaus besser erhalten sind. Die Gestalt eines Fischers (Abb. 406) fügt sich gut in den Eindruck, den ich aus den früheren Funden gewonnen hatte, als ich von deren freiem, anmntigem Stil sprach, der viel weniger starr ist als der Stil der ägyptischen Kunst. Die minoischen Künstler waren offensichtlich weniger an religiöse Konventionen gebunden, und obwohl sie die systematischen Forschungen der Griechen hinsichtlich der Wiedergabe von Verkürzungen oder gar von Licht und Schatten nicht vorwegnahmen, sollten ihre reizvollen Kunstwerke heute in einer Geschichte der Kunst nicht mehr fehlen. Bei der Beschreibung jenes großen Entdeckungszeitalters im antiken Griechenland war ich darauf bedacht, den Leser daran zu erinnern, dass unsere Vorstellung von der griechischen Kunst etwas
verfälscht ist, weil wir uns bei der Untersuchung der berühmten Bronzestatuen, die von Meistern wie Myron geschaffen wurden, weitgehend auf spätere Marmorkopien, die für römische Sammler gefertigt wurden, stützen müssen (Abb. SS)• Aus diesem Grund zog ich den in Delphi gefundenen Wagenlenker mit den eingesetzten Augen als Abbildung (Abb. £3, 54) noch berühmteren Werken vor, um beim Leser auch dem Eindruck vorzubeugen, die Schönheit der griechischen Statuen sei kalt und leblos. Nun wurde im August 1972 ein wahrscheinlich aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. stammendes Figurenpaar in der Nähe des Dorfes Riace, unweit der Südspitze Italiens, aus dem Meer geborgen, und dieser Fund kann dazu dienen, jenem Eindruck vollends entgegenzuwirken (Abb. 408, 409). Die lebensgroßen Bronzestatuen zweier Helden oder Athleten wurden wahrscheinlich von Römern per Schiff aus Griechenland geholt und bei einem Sturm über Bord geworfen. Die Archäologen haben die Frage nach Ort und Zeitpunkt ihres Entstehens noch nicht endgültig beantwortet, aber ihr Aussehen zeugt von hoher Qualität und eindrucksvoller Gestaltungskraft. Klar zu erkennen ist die Meisterschaft der Modellierung dieser muskulösen Körper und bärtigen Männerköpfe. Die Sorgfalt, mit der der Künstler Augen, Lippen und sogar Zähne aus anderen Materiahen geformt hat (Abb. 407), mag jene Liebhaber der griechischen Kirnst befremden, die stets nach dem sogenannten >Ideal< suchen, aber wie alle großen Kunstwerke setzen sich auch diese neuen Funde über ästhetische Dogmen hinweg (S. 32) und beweisen überzeugend, dass wir umso mehr Gefahr laufen, uns zu irren, je mehr wir verallgemeinern. Es gibt eine Wissenslücke, die jeden Freund der griechischen Kunst schmerzt: Die Werke der großen griechischen Maler, über die die antiken Schriftsteller sich so begeistert äußerten, kennen wir nicht. Um ein Beispiel zu nennen: Der Name des Apelles, der zur Zeit Alexanders des Großen lebte, blieb sprichwörtlich, aber wir besitzen kein Gemälde von seiner Hand. Was wir bisher über die griechische Malkunst wussten, ließ sich nur aus ihrem Einfluss auf die Töpferei
der Griechen (Abb. 46; Abb. 48, 49; Abb. 58) und aus Kopien oder Varianten, die auf römischen oder ägyptischen Boden gefunden wurden, schließen (Abb. 70, 71, 72; Abb. 79). Diese missliche Lage hat sich nun dramatisch verändert, da in Vergina (Nordgriechenland), im einstigen Makedonien, der Heimat Alexanders des Großen, ein Königsgrab entdeckt wurde. Vieles deutet sogar daraufhin, dass es sich bei dem in der Hauptgrabkammer aufgefundenen Leichnam um Alexanders Vater, König Philipp II., handelt, der 336 v. Chr. ermordet wurde. Zu dem von Professor Manolis Andronikos in den siebziger Jahren entdeckten Fund gehören nicht nur Einrichtungsgegenstände, Schmuckstücke und sogar Stoffe, sondern auch Wandgemälde, die offenkundig von wirklichen Meistern stammen. Eines der Gemälde an der Außenwand einer kleineren Seitenkammer stellt den antiken Mythos vom Raub der Persephone (oder Proserpina, wie die Römer sie nannten) dar: Pluto, Herrscher der Unterwelt, sah bei einem seiner seltenen Besuche auf der Erde ein Mädchen, das mit seinen Gefahrtinnen zusammen Frühlingsblumen pflückte. Er begehrte sie, bemächtigte sich ihrer und entführte sie in sein unterweldiches Reich, wo sie als seine Gattin herrschte. Allerdings war es ihr gestattet, in den Frühjahrs- und Sommermonaten zu ihrer trauernden Mutter Demeter (oder Ceres) zurückzukehren. Dieses Thema, das sich gut zur Ausschmückung eines Grabes eignet, ist Gegenstand des Wandgemäldes, von dem Abb. 410 den Mittelteil zeigt. Das ganze Gemälde beschrieb Professor Andronikos 1979 in einem Vortrag über >Die Königsgräber in Verginac
>Auf einer 3,50 m langen und 1,01 m hohen, zusammenhangenden Fläche ist die Komposition mit außerordentlicher Freiheit, Kühnheit und Leichtigkeit des Entwurfs gestaltet In der oberen linken Ecke kann man etwas wie einen Blitz erkennen (den Donnerkeil des Zeus); Herrn es läuft mit seinem Stab in der Hand dem Wagen voran. Der Wagen, von vier weißen Rössern gezogen, ist rot; Pluto hat Zepter und Zügel in der rechten Hand und iassi mit der Linken Persephone um
die Mitte.Verzweifelt streckt sie die Arme aus und biegt sich zurück. Der rechte Fuß des Gottes ist auf dem Wagen, während die Sohle des linken noch den Boden berührt; dort sieht man die Blumen, die Persephone mit ihrer Gefährtin Kyane pflückte... Hinter dem Wagen ist die entsetzte Kyane auf den Knien dargestellte Der abgebildete Ausschnitt lässt vielleicht nicht sofort Einzelheiten erkennen, mit Ausnahme des wunderbar gemalten Kopfes von Pluto, des perspektivisch verkürzten Rades seines Wagens und der gebauschten Gewänder seines Opfers. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber auch Proserpinas halb nackten Körper, von Plutos linker Hand gepackt, mit den in einer Geste der Verzweiflung ausgestreckten Armen. Die Gruppe vermittelt zumindest eine Ahnung von der Gestaltungskraft und Leidenschaft, deren diese Meister des vierten Jahrhunderts v. Chr. fähig waren. Während wir Kenntnis über das Grab des mächtigen Königs von Makedonien erhielten, der mit seiner Pohtik die Grundlagen für das Großreich seines Sohnes Alexander schuf, gelang den Archäologen im Norden Chinas in der Nähe der Stadt Sian (Hsian) eine in höchstem Maß überraschende Entdeckung bei dem Grab eines noch mächtigeren Herrschers^cLes ersten Kaisers von China, dessen Name früher mitTs'in Schi-huang-ti wiedergegeben wurde, aber heute auf Wunsch der Chinesen Quin Shi-Huangdi geschrieben wird. Dieser gewaltige Krieger, der von 221 bis 210 v. Chr. herrschte (etwa hundert Jahre nach Alexander dem Großen), ist den Historikern als der Mann bekannt, der China erstmals einte und die Große Mauer baute, um seine Länder vor den Einfallen von Nomaden aus dem Westen zu schützen. Wir sagen, >er< habe sie gebaut, aber wir sollten in Wirklichkeit sagen, dass er seine Untertanen diese ungeheure Befestigungslinie errichten ließ - die Bemerkung ist nicht müßig, denn die neuen Funde beweisen, dass immer noch genügend Arbeitskräfte verfügbar gewesen sein müssen, um ein noch außergewöhnlicheres Vorhaben auszuführen: die Herstellung seiner sogenannten
>Terrakotta-Armeeer, der am Leben erhält< heißt und dass die Figuren in den Gräbern vielleicht als Ersatz für die Diener und Sklaven dienten, die in noch früherer Zeit geopfert wurden, um ihre Herren ins Land der Toten zu begleiten. Bei den chinesischen Gräbern der Han-Dynastie, die auf die Herrschaft von Quin Shi-Huangdi folgte, bemerkte ich, dass die Bestattungsbräuche dort in gewisserWeise an die der Ägypter erinnerten; aber niemand hätte sich vorstellen können, dass ein einzelner Herrscher seinen Handwerkern befehlen konnte, ein Heer von etwa 7000 Mann mit Pferden, Waffen, Uniformen und Prunkgeschirren aus Ton herzustellen. Niemand konnte auch wissen, dass die naturnahe Bildniskunst, die wir beim Kopf eines Lohan (Abb. 96) bewunderten, hier schon 1200 Jahre früher in diesem erstaunlichen Ausmaß geübt winde. Wie die jüngst entdeckten griechischen Statuen wurden auch diese Soldatengestalten mit Farben^ deren Spuren noch sichtbar sind (Abb. 412), lebensechter gemacht. Mit all dieser Kunstfertigkeit verfolgte man nicht die Absicht, die Bewunderung von uns Sterblichen zu erregen. Sie diente vielmehr den Zwecken dieses größenwahnsinnigen Herrschers, der den Gedanken wohl nicht ertragen konnte, dass es einen Feind gab, dessen Macht selbst er nicht brechen konnte: den Tod. Wie der Zufall will, steht auch die letzte der Neuentdeckungen, die ich vorstellen möchte, in Beziehung zu jenem universellen Glauben an die Macht der Bilder, von dem ich im ersten Kapitel unter der Überschrift >Seltsame Anfange< sprach. Gemeint ist der Nationale Hass, den Bilder hervorrufen können, wenn man glaubt,
sie verkörperten feindliche Kräfte. Ein großer Teil der Statuen von Notre-Dame in Paris (Abb. 122, 125) fiel diesem Hass während der Französischen Revolution zum Opfer (S. 369). Wenn wir das Bild der Kathedralenfassade (Abb. 125) ansehen, erkennen wir die waagerechte Figurenreihe über den drei Portalen. Die Gestalten repräsentieren Könige des Alten Testaments und trugen daher Kronen. Später meinte man leider, es seien Porträtfiguren französischer Könige, womit sie zwangsläufig die Wut der Revolutionäre auf sich zogen: Sie winden enthauptet wie Ludwig XVI. Was wir heute an der Fassade sehen, ist das Werk von Viollet-le-Duc, einem Restaurator des neunzehnten Jahrhunderts, der sein Leben und seine Kraft dem Vorhaben widmete, die mittelalterlichen Bauwerke Frankreichs in ihre ursprünghche Form zu bringen. Dabei folgte er ganz ähnlichen Motiven wie Sir Arthur Evans, der die beschädigten Wandgemälde von Knossos restaurieren ließ. Der Verlust dieser Statuen, die um 1230 für Notre-Dame in Paris geschaffen worden waren, bedeutete selbstverständlich eine bedauerliche Lücke in unseren Kenntnissen, und so hatten die Kunsthistoriker allen Grund zur Freude, als im April 1977 bei Aushebungen für das Fundament einer Bank im Pariser Stadtzentrum in der Erde versteckt ein Haufen von nicht weniger als 364 Fragmenten gefunden wurde, die offensichtlich nach der Zerstörung der Statuen im achtzehnten Jahrhundert dort vergraben worden waren (Abb. 413). So schwer die Köpfe dieser Figuren auch beschädigt sind, verdienen sie doch, untersucht und betrachtet zu werden, denn die an ihnen erkennbare Meisterschaft und ihre Würde und Ruhe erinnern an die früher entstandenen Statuen von Chartres (Abb. 127) und an die etwa gleichzeitig geschaffenen Figuren des Straßburger Münsters (Abb. 129). Seltsamerweise hat ihre Zerstörung dazu beigetragen, ein Merkmal zu bewahren, von dem schon in zwei anderen Fällen die Rede war: Auch sie zeigten zur Zeit ihrer Entdeckung Spuren von Bemalung und Vergoldung, die vielleicht verschwinden werden, wenn sie nunmehr dem Licht ausgesetzt sind. So ist tatsächlich anzunehmen, dass auch andere Skulpturen des Mittelalters ebenso wie viele
Der Triumph der Moderne
mittelalterliche Bauwerke (Abb. 124) ursprünglich bemalt waren, und es ist durchaus möglich, dass unsere Vorstellungen vom Aussehen mittelalterlicher Denkmäler und Kunstwerke in gleicher Weise wie unser Bild von der griechischen Plastik der Berichtigung bedürfen. Aber ist nicht gerade diese ständige Notwendigkeit, Ansichten zu revidieren, einer der Reize bei der Erforschung der Vergangenheit?
Bemerkungen zur Kunstliteratur
Im Text des Buches hatte ich es mir zur Regel gemacht, den Leser mit der bekannten Versicherung zu verschonen, dass nur Platzmangel mich daran hindert, ihm noch das und jenes vorzuführen. Hier muss ich nun gegen diese Regel verstoßen und mit aller Deutlichkeit sagen, dass ich leider keinen Platz habe, um alle Autoren und alle Arbeiten dankbar zu zitieren, von denen ich etwas für das vorliegende Buch gelernt habe. Unser Bild der Vergangenheit kommt durch die Zusammenarbeit unendlich vieler zustande, und selbst ein schlichtes Buch wie dieses lässt sich beschreiben als Bericht über die Arbeit einer großen Zahl von lebenden und bereits verstorbenen Kunsthistorikern, die dazu beigetragen haben, die Umrisse von Epochen, Stilen und Persönlichkeiten zu klären. Dazu kommt noch, dass man oft selbst gar nicht weiß, von wo und wem man eine Formulierung oder einen Gedanken übernommen hat! Zufallig erinnere ich mich z. B., dass mir das Verständnis für die religiöse Grundlage der griechischen Kampfspiele durch einen Rundfunkvortrag von Gilbert Murray zur Zeit der Olympischen Spiele in London 1948 erschlossen wurde. Viele Gedanken der Einleitung, andererseits, entstammen gar nicht der Fachliteratur über bildende Kunst, sondern einem Buch über Musik, D. R Toveys The Integrity of Music, Oxford 1941. Wenngleich ich also nicht hoffen kann, alle Schriften aufzuzählen, die ich gelesen oder zu Rate gezogen habe, so habe ich in meinem Vorwort doch die Hoffnung geäußert, dass dieser Band Neulinge in die Lage versetzen könne, speziellere Bücher mit größerem Gewinn zu lesen. Es ist also hier nur der Zugang zu diesen Büchern aufzuzeigen. Es sei jedoch hinzugefügt, dass sich seit der Erstveröffentlichung der Geschichte der Kunst die Situation radikal verändert hat. Die Titelzahl hat erheblich zugenommen, und damit die Notwendigkeit des Auswählens. Es dürfte daher nützlich sein, mit einer groben und handlichen Einteilung zu beginnen, um die vielen Arten von Kunstbüchern unterscheiden zu können, die sich auf den Regalen unserer Bibliotheken und Buchhandlungen stapeln. Es gibt Bücher zum Lesen, Bücher zum Nachschlagen und Bücher zum Anschauen. Zur erstgenannten Gruppe zähle ich jene Bücher, die wir mehr um ihrer Autoren willen lesen, als um daraus >Kenntnisse< zu erwerben. Es handelt sich um Werke, die eigentlich nicht >verfallen< oder altern können, denn selbst wenn die von ihnen gebrachten Anschauungen und Interpretationen nicht mehr aktuell sind, so bleibt ihr Wert als Zeitdokument und als Ausdruck einer Persönlichkeit erhalten. Diese Art von Büchern würde ich all jenen empfehlen, die ihre Vertrautheit mit der Welt der Kunst im Allgemeinen vertiefen möchten, ohne in dem einen oder anderen Bereich zu Fachleuten werden zu wollen. Zu dieser Gruppe von Büchern rechne ich vor allem die sogenannten Quellenschriften der Vergangenheit, das heißt jene literarischen Zeugnisse, die in die
Zeit der Entstehung der K u n s t w e r k e z u r ü c k r e i c h e n u n d v o n K ü n s d e r n o d e r Schriftstellern verfasst w u r d e n , d i e aufs Engste m i t d e n v o n i h n e n b e s c h r i e b e nen D i n g e n in V e r b i n d u n g standen. N i c h t alle diese B ü c h e r s i n d leicht lesbar, d o c h jede M ü h e u n d A n s t r e n g u n g , i n diese v o n u n s e r e n h e u t i g e n A u f f a s s u n g e n s o f r e m d e G e d a n k e n w e l t e i n z u d r i n g e n , w i r d r e i c h l i c h b e l o h n t d u r c h e i n tieferes u n d e i n f ü h l s a m e r e s Verständnis der Ve rga ng enh ei t. W i r h a b e n u n s e n t s c h i e d e n , diese A n m e r k u n g e n i n f ü n f A b s c h n i t t e z u unterteilen. Bücher, d i e sich m i t e i n z e l n e n E p o c h e n o d e r K ü n s d e r n b e s c h ä f t i gen, stehen i m f ü n f t e n A b s c h n i t t jeweils unter der relevant en Kapitelüberschrift (siehe S . 6 4 6 - 6 ^ 4 ) . B ü c h e r ü b e r a l l g e m e i n e r e T h e m e n f i n d e n sich unter d e n verschiedenen U n t e r ü b e r s c h r i f t e n der ersten vier Abschnitte. Bei der A n g a b e dieser Titel h a b e i c h m i c h allein v o n praktischen E r w ä g u n g e n leiten lassen u n d erhebe k e i n e n A n s p r u c h a u f Folgerichtigkeit. Übe rflüss ig zu erklären, dass weitere gute B ü c h e r e r s c h i e n e n sind, die in diese Listen hät ten a u f g e n o m m e n werden m ü s s e n , u n d dass die N i c h t e r w ä h n u n g eines Werks n ichts über seine Qualität aussagen soll. Ein S t e r n c h e n (*) zeigt an, dass das B u c h a u c h als Paperback erhältlich ist.
Q u e l l e nschri ft e n
Anthologien Die älteren Quellenschriften des Abendlandes sind leicht aufzufinden. Eine Auswahl der wichtigsten, meist mit deutscher Übersetzung, erschien im vorigen Jahrhundert in der Bücherreihe Quellenschriften zur Kunstgeschichte, hrsg. von R. Eitelberger von Edelberg. Eine handlichere und anspruchslosere Serie wurde von der Frankfurter Kunstgewerbebibliothek unter dem Titel Kleine Schriften zur Kunst, hrsg. von W. Schürmeyer, begonnen. Vor allem aber sind alle Ausgaben und Übersetzungen von Quellenschriften des Mittelalters und der Neuzeit bis 1800 in dem grundlegenden Werk von Julius von Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, nachgedruckt 1985, enthalten, das uns den besten Zugang bietet, auch wenn die Schriftenverzeichnisse der deutschen Ausgabe überholt sind. Im Folgenden nun einige Anthologiebände, die uns den Weg zu anderen Quellen und Dokumenten erschließen. Wir erwähnen: Uhde Bernays, Künstlerbriefe über Kunst, Dresden 1926; Else Cassirer, Kunstlerbriefe aus dem 19. Jahrhundert, Berlin 1923; Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei (erweiterte Neuausg. Reinbek 1988*), bringt ebenfalls eine Auswahl von Texten und Standpunkten. Zum Dadaismus siehe: Dada. Eine literarische Dokumentation, hrsg. von
R. Huelsenbeck (Reinbek 1984*); Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, hrsg. von U. Schneede
(1979)-
Die kunstwissenschaftliche Reihe DuMont Dokumente bringt sowohl theoretische Beiträge zu Fragen moderner und zeitgenössischer Kunst als auch umfassende Werkpräsentationen der verschiedensten Künstler. Die im Prestel Verlag erscheinenden Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts und Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts enthalten Monografien, Kataloge, Werkverzeichnisse deutscher und europäischer Künsder des vergangenen Jahrhunderts. In englischer Sprache haben wir Elizabedi Holts dreibändiges Werk A Documentary History of Art, Princeton University Press (P7*), broschiert 1981—1988, und von derselben Autorin The Triumph of Art for the Public (1979) und The Art of All Nations (1981), in denen auch auf die wesentliche Rolle der Ausstellungen und Kunstkritiker im neunzehnten Jahrhundert eingegangen wird. Der Auswahlband Artists on Art, 1947, von Robert Goldwater und Marco Treves enthält ein gutes Schriftenverzeichnis. Auch ich selbst habe in Beiträgen zum Atlantisbuch der Kunst, Zürich 19^2, über >Kunstwissenschaft< und >Kunstliteratur< eine knappe Übersicht über diese Gebiete zu geben versucht. Zu den Anthologien von Dokumenten, die für das Verständnis der modernen Epoche nützlich sind, zählen: Joshua C.Taylor (Hrsg.), NineteenthCentury Theories of Art Berkeley 1987; Herschel B. Chipp (Hrsg.), Theories of Modern Art. A Source Book by Artists and Critics, Berkeley 1968 (nachgedr. 1970*); und Charles Harrison und Paul Wood (Hrsg.) , Art in Theory-An Anthology of Changing Ideas. Oxford 1992*. Einzeleditionen
Unter den Quellenschriften, die in deutscher Sprache zugänglich sind, seien i in chronologischer Anordnung - die folgenden erwähnt: Vitruvius, Zehn Bücher über Architektur, die immens einflussreiche Abhandlung eines Architekten aus der Zeit des Augustus, ist in einer Übersetzung von Jakob Prestel zugänglich (1987). Plinius d. Ä., Abschnitte von der Malerei, in Kleine Schriften zur Kunst, Bd. 5-, 1925, Abschnitte von der Bildhauerei und Baukunst, in Kleine Schriften zur Kunst, Bd. 6, 1925, und C. Plinius d. Ä., Naturkunde, 37 Bücher, Bd. 3^: Farben, Malerei, Plastik, Darmstadt 1978. Dies ist unsere wichtigste Informationsquelle über die griechische und römische Malerei und Skulptur, sie beruht auf einer Kompilation von älteren Texten durch den berühmten Gelehrten, der während des Vesuv-Ausbruchs im Jahre 79 n. Chr. in Pompeji ums Leben kam. Altchinesische Schriften über die Kunst finden wir im Band The Spirit of the Brush, aus dem Chinesischem ins Englische übertragen von Shio Sakanishi und 1939 in London erschienen, ebenso wie bei Lin Yutang, Chinesische Malerei ^eine Schule der Lebenskunst, Stuttgart 1967. Das wichtigste Zeugnis für die
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Bemerkungen zur Künstliteratur
Anschauungen der Dombaumeister des Mittelalters bleibt der Bericht vom Abt Suger über die Errichtung der ersten großen gotischen Kirche, den es in einer vorbildlichen Edition gibt: Abbot Suger on the Abbey Church of St. Denis and its Art Treasures, hrsg., übers, und mit Anmerkungen versehen von Erwin Panofsky, Princeton, N. Y., 1946 (Überarb. Ausgabe 1979). All jene, die interessiert sind an der Technik und Ausbildung der spätmittelalterlichen Maler, können zurückgreifen auf Das Buch von der Kunst von Cennino Cennini, erschienen in Wien 1871. Das Interesse der ersten Generation von Renaissance-Künstlern an der Mathematik und an der Klassik wird veranschaulicht durch Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, Wien und Leipzig 1912, nettere Ausgabe Darmstadt 1991. Die Standardausgabe der wichtigsten Schriften von Leonardo da Vinci bleibt die von J. P. Richter, The Literary Works of Leonardo da Vinci, Oxford 1939. Erwähnenswert sind auch Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen, übers, und hrsg. von Th. Lücke, 2. Aufl., München 1952* sowie Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hrsg. und bearb. von Andre Chastel, München 1990. K. Frey verdanken wir die Sammlung ausgewählter Briefe an Michelangelo Buonarroti, Berlin 1899; Seine Lebensberichte, Briefe, Gespräche, Gedichte erschienen 1985 bei Manesse, Zürich. Für eine Biografie Michelangelos von
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einem seiner Zeitgenossen siehe: Ascanio Condivi, The Life of Michelangelo, Baton Roüge 1976. Albrecht Dürer ist auch Verfasser einiger theoretischer Schriften, die in mehreren Ausgaben vorhegen. Im Jahre
erschien seine Unterweysung der
Messung mit dem Zirkel und Richtscheyt in Linien, Ebenen und ganzen Körpern, und aus dem Jahr 1528 stammen die Vier Bücher von menschlicher Proportion. Die verschiedenen Schriften des Künstlers (Tagebuchaufzeichnungen, Reime, Briefe u. a.) erschienen unter dem Titel Abrecht Dürer. Schriftlicher Nachlass, hrsg. von H. Rupprich, 3 Bde., Berlin 1956-1969. Keine noch so gelehrte Deutung der italienischen Renaissance oder des >Manierismus< kann das geben, was uns die Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten von Giorgio Vasari vermitteln, die erstmals 1550 in Florenz erschienen und 1568 in einer erweiterten und ergänzten Ausgabe veröffentlicht wurden. Eine deutsche Ausgabe ist bei Manesse erhältlich (3. Aufl. 1993). Fasst man den Text als eine Sammlung von Anekdoten und Kurzgeschichten auf, so liest er sich als eine kurzweilige Lektüre, und die eine oder andere Geschichte könnte durchaus wahr sein. Doch erweist sich der Text von weitaus größerem Nutzen, wenn man ihn als Zeugnis für die Epoche des >Manierismus< betrachtet, als die Künstler sich der auf ihnen lastenden Bürde der großen Errungenschaften der Vergangenheit bewusst wurden. Das andere faszinierende Buch - ebenfalls von einem florentinischen Künstler — ist das Leben des Benvenuto Cellini, florentinischen Goldschmieds und Bildhauers, von ihm selbst geschrieben,
übers, von J. W Goethe und hrsg. von H. Keutner, Frankfurt/ Main %#pl Antonio Manettis Life of Brunelleschi ist herausgegeben von Howard Saalman, University Park 1970. Siehe auch Filippo Baldinuccis Life of Bernini, University Park 1966. Über das Leben anderer Künsder des Jahrhunderts wird berichtet in: Carel van Mader, Das Leben der niederländischen und deutschen Maler, Neuausgabe 1991, und in: Antonio Palomino, Lives of the Eminmt Spanish Painters and Sculptors, Cambridge 1987. Die Briefe von P. P. Rubens liegen in einer von CX ZofF 1918 in Wien besorgten Ausgabe vor. Die akademische Tradition des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die sich durch Weisheit und gesunden Menschenverstand auszeichnete, ist in England am besten vertreten durch die Fifteen Discourses, Delivered in the Royal Acadrny von Sir Joshua Reynolds, die, mit einer Einfuhrung und Anmerkungen versehen, 1975 inYale von R.R. Wark herausgegeben wurden. Noch unter Vasaris Einfluss steht die Teutsohe Academie der edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von Joachim von Sandrart, Nürnberg, 2 Bde., 1675-1679, das 1925 von Peltzer neu herausgegeben und mit einem Kommentar versehen wurde. Dieses Werk enthält zahlreiche Künsderbiografien, darunter auch die eigene, sowie kunsttechnische Erörterungen und Beschreibungen von Kunstkammern. Die unabhängige Einstellung, die Constable dieser Tradition gegenüber zeigt, geht klar aus den von C.R. Leslie edierten Memoires of the Life of John Constable, London 1951/199,5, hervor. Ebenso hegt der komplette Briefwechsel von Constable vor, in acht Bänden zwischen 1962 und 1975 von R. B. Beckett in der Suffolk Records Society herausgegeben. Die romantische Haltung kommt am klarsten zum Ausdruck in den Tagebüchern von Eugene Dekcroix, die unter dem Titel Tagebücher, deutsch von E. Hancke, 1903, und Mein Tagebuch, Berlin 1918, hrsg. von Else Cassirer, erschienen. Ferner hegen vor in deutscher Sprache von Camille Pissarro die Briefe an seinen Sohn Lueien, Erlenbach-Zürich 1953, von Paul Cezanne der Briefwechsel, Zürich-Leipzig 1938, und Briefe, hrsg. und übers, von John Rewald, und Gespräche
Cezanne, Zürich 1991*, von Edgar Degas die Briefe, zu Auguste Renoir der Band Mein Vater, Auguste Renoir (Zürich 1991*) von Jean Renoir, zu Edouard
mit
Manet der Band von Hans Gräber, Edouard Manet nach eigenen und fremden Zeugnissen, 2. Aufl., Basel 1941, zu Gauguin der Band von Pola Gauguin, Mein Vater Paul Gauguin, 1961, und Noa Noa, der teilweise autobiogTafische Roman des Künstlers, der bereits 1920 in deutscher Übersetzung erschien. Eine Sonderstellung nehmen die Briefe von Vincent van Gogh ein. Dessen umfangreicher Briefwechsel, vor allem mit seinem Bruder Theo, hegt in deutscher Sprache in mehreren Ausgaben vor. Hier seien erwähnt: Samtliche Briefe, in der Neuübersetzung von Eva Schumann, hrsg. von Fritz Erpel, 6 Bde., Berlin 1965, ferner Sämtliche Briefe, 6 Bde., Bornheim-Merten, 1985, sowie Briefe an seinen Bruder, 3 Bde., übers, von Leo Klein-Diepold und Carl Einstein, FranMurt/Main 1986*.
Von den m o d e r n e n Künsdern, die ihre Anschauungen schrifdich festgehalten haben, e r w ä h n e n w i r Ernst Barlach, Güstrower Tagebuch 1 9 1 4 - 1 9 1 7 , München 1984; Marc Chagall, Mein Leben, Stuttgart; Salvador Dali, Das geheime Leben des Salvador Dali, M ü n c h e n 1984; Oskar Kokoschka, Briefe, 4 Bde., hrsg. von Olda Kokoschka u n d H e i n z S p i e l m a n n , Düsseldorf 1 9 8 4 / 1 9 8 6 , Mein Leben, München 1971, u n d Schriften 1 9 0 7 - 1 9 5 5 hrsg. v o n H . M . Wingler, München 19^6; Paul Klee m i t Über die moderne Kunst ( 1 9 2 4 ) , Bern 1945; Pädagogisches Skizzenbuch (Neue Bauhausbücher, 2. B d . ) , M ü n c h e n 1925- und 3. Aufl., 1981; Das bildnerische Denken (Form- und Gestaltungslehre), 5. Aufl., Stuttgart 1990; die Tagebücher 1898-1918, hrsg. v o n Felix.Klee in Köln 1957. Die jüngste Ausgabe dieser Tagebücher stammt aus d e m Jahr 1995. Von Wassily Kandinsky stammen die Schriften Essays über Kunst und Künstler, hrsg. v o n M. Bill, Stuttgart 1 9 ^ , Uber das Geistige in der Kunst, M ü n c h e n 1 9 1 2 , 19^2. Weitere Werke m i t autobiografischem Charakter u n d zu Fragen der Kunst verdanken wir: Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei, Schriften u n d Reden, Frankfurt/Main 1978; Franz Marc, Schriften, hrsg. v o n Klaus Langheit, Köln 1978, und Der Blaue Reiter, 1912; Piet Mondrian, Die neue Gestaltung. Neoplastizismus (Bauhausbuch), 1925; Emil Nolde, Mein Leben, Köln 1979. Die Manifeste des Surrealismus von Andre Breton hegen in einer Übersetzung v o n R u t h H e n r y vor (Reinbek 1986*), Die Maler des Kubismus von Guillaume Apollinaire, erstveröffentlicht 1913, in einer Übersetzung von Oswalt v. Nostitz ( M ü n c h e n 1989*). Die Ansichten von Henry Moore über die Kunst finden w i r im B a n d Henry Moore on Sculpture v o n Ph. James, 1966. Zu Fragen der zeitgenössischen Architektur äußerten sich u. a. Frank Lloyd Wright (Collected Writings, N e w York 1992) u n d Walter Gropius, dessen Anschauungen z.B. in folgenden Bänden zu finden sind: Die neue Architektur und das Bauhaus (Neue Bauhausbücher), hrsg. v o n H . M . Wingler, Mainz 1965, und Das Bauhaus, Selbstzeugnisse von Meistern und Studenten, hrsg. von Frank Whitford, Stuttgart 1993.
Führende Kunsthistoriker Zu dieser Kategorie v o n B ü c h e r n , die genauso sehr w e g e n ihrer Autoren w i e wegen der d a r i n enthaltenen I n f o r m a t i o n e n gelesen w e r d e n sollten, zählt auch eine Reihe v o n A r b e i t e n großer Kunsthistoriker. Die Meinungen über ihre j e w ei l ig e n Verdienste m ö g e n unterschiedlich sein; die folgende Liste sollte lediglich als A n l e i t u n g betrachtet w e r d e n . So hat etwa W i n c k e l m a n n mit seinen 1755 veröffendichten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst und der Geschichte der Kunst des Altertums ( 1 7 6 4 ) die antike Kunst i m Sinne des >klassizistischen< Geschmacks des achtzehnten Jahrhunderts gedeutet und diesen wieder gestärkt, u n d so hat J o h n R u s k i n die mittelalterliche Kunst mit den Augen des viktorianischen Engländers gesehen u n d seinerseits die englische Kunst
beeinflusst (Modern Painters). H i e r m ü s s e n a u c h Walter Pater (The Renaissance*) u n d William M o r r i s aus Engl and g e n a n n t w e r d e n , d i e e b e n f a l l s z u d e n B e w a h r e r n der Kunstbetrachtung zählen, w e l c h e d i e Ü b e r l i e f e r u n g e i n e s W i n c k e l m a n n und Goethe fortsetzten. A u c h w e r h e u t e b e i d e A n s c h a u u n g e n als d u r c h a u s unhistorisch e m p f i n d e t , m a g e s d o c h l o h n e n d f i n d e n , s i c h m i t i h n e n auseinander zu setzen. Schließlich gilt Ä h n l i c h e s selbst f ü r d e n u n b e s t r i t t e n größten Meister der Kunst- u n d K ult urg es ch ich ts s chr eib ung n f ü r J a c o b B u r c k h a r d t . Seiner Kultur der Renaissance in Italien ( 1 8 6 0 ) , in 1 1 . A u f l . b e i K r ö n e r 1988 erschienen, zeigt in einer großartigen G e s a m t s c h a u das B e w u s s t w e r d e n d e s I n d i v i d u u m s in jener Epoche, w ä h r e n d seine Geschichte der Renaissance ( 1 8 6 7 ) s i c h a u f die Baukunst beschränkte. Für uns H e u t i g e ist e s n u n leicht z u sehen, w i e e t w a d i e g r o ß e U m w ä l z u n g i n den Kunstanschauungen des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s i m G e f o l g e des >Realismus< u n d >Impressionismus< a u c h d e r Kunstgeschichts schreibung ganz n e u e W e g e w i e s . Damals lernte e t w a d e r M a l e r E u g e n e F r o mentin die Kunst der Niederländer m i t n e u e n A u g e n s e h e n u n d s c h r i e b seinen begeisterten Führer d u r ch das f ü n f z e h n t e J a h r h u n d e r t , Die alten Meister. M i t d e r in der französischen Kunst v e r b u n d e n e n tief g r e i f e n d e n R e v o l u t i o n setzen sich auch auseinander die Schriftsteller Charles Baudelaire (siehe dazu seine Aufsätze zur Literatur und Kunst, hrsg. v o n F. v. K e m p , C. Pichois in Sämtliche Werke in 8 Bänden, Bd.
1989) u n d die B r ü d e r E d m o n d u n d J u l e s G o n c o u r t . Von d e n
Letzteren stammt auch die u m f a n g r e i c h e Kunst des 18. Jahrhunderts, w o b e i sie a u c h einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung der f e r n ö s d i c h e n u n d v o r a l l e m d e r japanischen Kunst in Europa leisteten.
Der philosophische Hintergrund Als H i n t e r g r u n d l e k t ü r e , d i e d e m Leser d a b e i h e l f e n k a n n , d i e p h i l o s o p h i sch en A r g u m e n t e hinter der klassischen u n d a k a d e m i s c h e n Tradition b e s s e r zu verstehen, m ö g e n f o l g e n d e Titel v o n N u t z e n sein: A n t h o n y Blunt, Kunsttheorie in Italien 1 4 5 0 - 1 6 0 0 , M ü n c h e n 1 9 8 4 ; M i c h a e l B a x a n d a l l , Ursache der Bilder. Uber das historische Erklaren, B er li n 1 9 9 0 ; R u d o l f W i t t k o w e r , Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, M ü n c h e n 1 9 9 0 * ; E r w i n P a n o f s k y , Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, B e r l i n , 7. A u f l . 1 9 9 3 .
Annäherungen an die Kunstgeschichte Kunstgeschichte ist e i n Z w e i g der a l l g e m e i n e n Geschichte. Der B e g r i f f >Geschichte< ist u r s p ü n g l i c h v o n d e m griechischen Wort f ü r >Nachforschung< abgeleitet. W a s z u w e i l e n als v e r s c h i e d e n e >Methoden< der kunstgeschichtlichen F o r s c h u n g b e s c h r i e b e n w i r d , sollte folglich als B e m ü h e n verstanden w e r d e n , v e r s c h i e d e n e A n t w o r t e n auf mö g l ic h e Fragen nach der Vergangenheit zu finden. W e l c h e Fragen w i r in e i n e m gegebenen Augenblick stellen w o l l e n , h ä n g t v o n u n s u n d u n s e r e n Interessen ab, w o g e g e n die Antworten v o n d e n A n h a l t s p u n k t e n abhängen, die der Historiker zutage fördern kann.
Kennerschaft I m Hinblick auf e i n K uns tw e rk w o l l e n w i r wahrscheinlich wissen, w a n n , w o u n d ( w e n n m ö g l i c h ) v o n w e m es geschaffen worden ist. Wer seine Methoden v e r f e i n e r t hat, um diese Fragen beantworten zu können, gilt als Kenner. Zu dieser Kategorie zählen die überragenden Gestalten eines verflossenen Zeitalters, deren Ä u ß e r u n g zur >Zuschreibung< Gesetz w a r (oder immer noch ist). Zu den unvergänglichen Namen von Kennern zählen Bernard Berenson, dessen vier Bände über Die italienischen Maler der Renaissance zu einem Standardwerk w u r d e n , ferner Wilhelm von Bode, dessen Florentiner Bildhauer der Renaissance (19.21) u n d Die Meister der holländischen und flämischen Malerschulen ( 1 9 2 3 ) ihre Bedeutung als Wegbereiter nie einbüßen werden; Roberto Longhi und nicht zuletzt Max J. Friedländer mit seinem Monumentalwerk Die altniederländische Malerei, 14 Bände, erschienen 1 9 2 4 - 1 9 3 7 und in einer Neuauflage herausgegeben 1967-1975-, ebenso w i e Von Kunst und Kennerschaft (1946; Leipzig 1992*). Vielen der führenden Kenner unserer Tage sind wir zu Dank verpflichtet, weil sie die Kataloge öffentlicher oder privater Sammlungen und Ausstellungen zusammengestellt haben, von denen die besten es dem Benutzer gestatten, die Grundlagen zu überprüfen, welche die Kenner zu ihren Ergebnissen geführt haben. Der geheime Feind, mit dem Kennerschaft zu kämpfen hat, ist der Fälscher. Eine konzise Einfuhrung in diese Thematik bietet Otto Kurz' Fakes ( N e w York 1967*).
Stilgeschichten Es hat stets Kunstgeschichder gegeben, die über die von Kennern gestellten Fragen hinausgehen und jene Stiländerungen erklären und deuten wollten, die auch Thema dieses Buches sind. Zu den Kiinsttheoretikern, denen es um das Stilphänomen geht, zählen unter anderem folgende Wissenschafder, deren Ausstrahlung und Nachwirkung
immer noch spürbar ist: Alois Riegl, den man vielleicht am besten in seinen Gesammelten Aufsätzen (eingeleitet von H. Sedlmayr) kennen lernt, ging es um ein Ideengebäude, in dem auch die Kunst der sogenannten >Verfallszeiten< als >Form und Farbe in Ebene und Räume ihre Gleichberechtigung erlangen sollte. Der beste Einstieg in diese Probleme der Stilgeschichte sind immer noch die Arbeiten des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin. Besonders Die klassische Kunst, München 1898, und Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915-, zuletzt als 18. unveränderte Auflage 1991 erschienen, sind Meisterwerke vergleichender Kunstbetrachtung. Zu denken ist dabei auch an Wilhelm Worringer mit der erstmals 1908 erschienenen Schrift Abstraktion und Einfühlung, in welcher er diese beiden Begriffe als polare Grundhaltungen allen Kunstschaffens nachzuweisen versucht, und femer an Henri Focillon in Frankreich. Die Erforschung der Bildinhalte
Das Interesse an den religiösen und symbolischen Zusammenhängen in der Kunst beginnt im neunzehnten Jahrhundert in Frankreich und findet seinen Höhepunkt in dem Lebenswerk von Emile Male, besonders in L'Art religieux en France und Die kirchliche Kunst des XIII. Jahrhunderts in Frankreich, in deutscher Übersetzung in Straßburg 1907 erstmals erschienen (1986 in einer erweiterten und völlig neu bearbeiteten Ausgabe unter dem Titel Die Gotik. Kirchliche Kunst des mm Jahrhunderts in Frankreich, bei Belser). Die beste Einführung in das von Aby Warburg und seiner Schule initiierte Studium mythologischer Themen in der Kunst ist Jean Seznec, The Suraval of the Pagan Gods (Princeton 1953; Nachdruck 1972*). Für die Renaissance hat vor allem Erwin Panofsky Ähnliches geleistet. Seine Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Geschichte der Renaissance (im Original in Princeton 1939, in deutscher Ausgabe 1980 bei DuMont erschie^nen) wählen den Weg über die Symboldeutung zur Erkenntnis der geistigen Strömungen des Zeitalters. Eine gute Einführung in diese Forschungsrichtung bietet die von Ekkehard Kaemmerling herausgegebene Aufsatzsammlung Ikonographie und Ikonologie, Köln 1979*. Von Panofsky erschienen ferner in deutscher Sprache Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (1975*) und Die Renaissance der europäischen Kunst (Frankfurt/Main 1979*). Zu diesem Thema veröffentlichte auch ich 1972 einen Essay-Band, dessen doutsc.he Übersetzung 1986 unter dem Titel Zur Kunst der Renaissance, ßd. 2t Das- symlwlivthe DiJd in Stuttgart erschienen ist, Aufschlußreich für die Symbolrleutuiig ist auch Rudolf Wittkowers 1983 erschienener Band Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance ebenso wie seine Studie zur Symbolik in der An bilektur: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus (1949; deutsche Ausgabe: München 1990*). Daß Studium ein/einer Themen od er Motive in der Geschichte der westlichen Kunst wurde bereichert und bdfoln durch Kenn etil Clark, speziell
durch seine Werke Landschaft wird Kunst (1962) und Das Nackte in der Kunst (1958) Den Einfluss des Ostens auf Europa behandelt das Buch von Klaus Berger, Jap0 nismus in der westlichen Malerei 1860-1920, München 1980.
fazialgeschichte
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Zwei neuere Studien beziehen sich auch auf sozialgeschichtliche Quellen und erhellen dadurch das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft in der italienischen Renaissance: Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts (Frankfurt/Main 1984), und Peter Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung (Neuausg. Berlin 1992). Die Art und Weise, in der sich das Bild vom Künsder über die Zeiten hinweg gewandelt hat, wird auf der Grundlage zahlreicher Schriftquellen in dem Buch Künstler. Außenseiter der Gesellschaft von Rudolf und Margot Wittkower, Stuttgart und Berlin 196.?, betrachtet. Wendet man sich den Kulturhistorikern in der Kunstgeschichte zu, so ragen vor allem Persönlichkeiten hervor wie Carl Justi, Aby Warburg (siehe dazu auch mein Buch Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1992) und Max Dvorak. Arnold Häuser (Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, 14. Aufl., München 1983, Soziologie der Kunst, 3. Aufl. 1988, Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur, 1973) vertritt hier die Richtung des historischen Materialismus. Zu den erst in jüngerer Zeit aufgeworfenen Fragen gehört die nach der Rolle von Frauen in der Kunst. Siehe dazu: Germaine Greer, The Obstacle Race (London 1979; Nachdruck 1981*), und Griselda Pollock, Vision and Difference. B
S Feminism and the Histories ofAit (London 1988). Einige jüngere Kunst-
historiker, welche die Notwendigkeit betonen, sich auf soziale Aspekte zu konzentrieren, haben die Bezeichnimg >Neue Kunstgeschichte< übernommen; siehe die Anthologie mit diesem Titel, hrsg. von A. L. Rees und Frances Borzello (London 1986*). Man kann der Meinung sein, dass sie mit ihrer Absicht, ästhetische Bewegung als zu subjektiv zu vermeiden, seit langem Vorgänger haben, nämlich Archäologen, die es sich zur Regel gemacht haben, Artefakte der Vergangenheit daraufhin zu überprüfen, was sie uns über eine gegebene Kultur zu sagen haben. Siehe auch Art in Modern Culture, hrsg. von Francis Frascina und Jonathan Harris (London 1994*)-
Psychologische
Theorien
Was die Beziehung der bildenden Kunst zur Psychologie betrifft, ein Gebiet, das mich selber in mehreren Schriften beschäftigt hat, so in Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung (deutsch erstmals 1978 erschienen Neuauflage Berlin 2002), Bild undAuge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen
Darstellung (Stuttgart 1 9 8 4 ) und Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens (Stuttgart 1 9 8 2 ) , m ö c h t e i c h h i n w e i s e n auf die Autoren Ernst Kris, Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse, Stuttgart 1977, u n d R u d o l f A r n h e i m , Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, zuerst 1 9 5 4 , 1 9 7 8 in e i n e r N e u f a s s u n g in B e r l i n e r s c h i e nen, s o w i e Zur Psychologie der Kunst, 1 9 7 7 e b e n f a l l s in B e r l i n . D a b e i vertritt Ersterer die Schule Freuds, Letzterer d i e G e s t a l t s p s y c h o l o g i e . E i n e a l l g e m e i n e E i n f ü h r u n g i n dieses T h e m a gibt M a r t i n Schuster i n s e i n e m B u c h Wodurch Bilder wirken. Psychologie der Kunst ( K ö l n 1 9 9 2 * ) .
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Geschmack und Sammeln Die letzte der hier z u b e h a n d e l n d e n Fragen b e t r i f f t d i e G e s c h i c h t e d e r S a m m lungen u n d des G e s c h m a c k s , u n d das u m f a s s e n d s t e W e r k z u d i e s e r T h e m a t i k ist J o s e p h Alsops The Rare Art Tradition. The History of
Art Collecting and its Linked
Phenomena (Princeton 1981). Francis Haskell u n d N i c h o l a s P e n n y v e r f o l g e n in Taste and the Antique ( N e w H ä v e n u n d L o n d o n 1 9 8 1 ) e i n spezielles T h e m a . Einzelne E p o c h e n w e r d e n i n d e n f o l g e n d e n W e r k e n b e h a n d e l t : M i c h a e l Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy ( O x f o r d 1 9 7 2 ; 2. A u f l . 1988*); Martin Wackernagel, The World of the Florentine Renais- sance
Artist. Projects
and Patrons, Workshop and Art Market (Princeton 1981); Francis Haskell, Patrons and Painters (1963; Überarb. u n d erw. Aufl. N e w H ä v e n u n d L o n d o n 1 9 8 0 * ) . F ü r die Unwägbarkeiten des Marktes siehe G e r a l d Reitlinger, The Economics of Taste (3 Bde., L o n d o n 1 9 6 1 - 1 9 7 0 ) .
Technik Zur ersten Orientierung im Bereich des H a n d w e r k s u n d der v e r s c h i e d e n e n künstlerischen Techniken e r w ä h n e ich: Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik (2. erw. Aufl., Wiss. Buchges. 1967); Walter Koschatzky, Kristian Sotriffer, Mit Nadel und Säure, 500 Jahre Kunst der Radierung ( W i e n 1982); H e n n i n g Wendland, Deutsche Holzschnitte bis zum 17. Jahrhundert (Königstein/Ts. 1980); M a x J. Friedländer, Der Holzschnitt (Berlin 1 9 7 0 * ) s o w i e das dre ibä ndig e Werk v o n Walter Koschatzky, Die Kunst der Zeichnung (München 1 9 8 1 * ) , Die Kunst der Graphik (8. Aufl. 1 9 8 5 * ) u n d Die Kunst des Aquarells (München 1 9 8 5 * ) .
Handbücher und Nachschlagewerke der Stile und Epochen D e r Weg zu den Büchern, in denen wir nachschlagen oder lesen, wenn wir auf der Suche nach Informationen zu bestimmten Epochen, Techniken, Meistern sind, ist leichter zu finden, als man meinen mag, auch wenn mitunter eine gewisse Erfahrung notwendig ist, um ihn zu Ende zu gehen. Es gibt eine stets wachsende Zahl hervorragender Handbücher, welche die wesentlichen Daten enthalten und auch weiterführende Lektüre angeben. Unter den vielen mehrbändigen Kunstgeschichten in deutscher Sprache, die die Kunst >aller Völker und Zeiten< behandeln, ist die 18-bändige Propyläen Kunstgeschichte, erschienen zwischen 1967 und 1975, die eingehendste. Außerdem gibt es davon einen Nachdruck sowie mehrere Folge- und Sonderbände. Sie wurde unter Beratung von Kurt Bittel, Jan Fontain, Harald Keller u. a. herausgegeben. Eine Sonderausgabe umfasst in den Bänden 1 - 1 2 die Europäischen Kulturen und in den Bänden 13-22 die Außereuropäischen Kulturen und erschien 1985. Zu erwähnen sind noch die Geschichte der bildenden Kunst, 9 Bde., von Karl M. Swoboda (1976 bis 1984), welche die Epoche seit der Gotik und bis zur Moderne behandelt, sowie die Kindler Enzyklopädie der Kunst in 5 Bänden (1982). In deutscher Sprache ist nun auch erhältlich die Weltgeschichte der Kunst von Hugh Honour und John Fleming (4. Aufl., München 1992). Eine Sonderstellung nimmt die Geschichte der Kunstgeschichte von Udo Kultermann (1966/1990) ein, die, wie der Untertitel Der Weg einer Wissenschaft zeigt, die Herausbildung dieser wissenschaftlichen Disziplin verfolgt. Dem am Fach Kunstgeschichte näher interessierten Leser empfehle ich den von Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Martin Warnke herausgegebenen Band Kunstgeschichte. Eine Einführung (Dietrich Reimer, Hamburg, 3. durchges. u. erw. Aufl. 1988). Unter den zahlreichen informativen Handbüchern und Nachschlagewerken zur Baukunst und den verschiedenen Epochen der Architektur seien hier folgende erwähnt: Weltgeschichte der Architektur, 14 Bände, hrsg. von Pier Luigi Nervi (Belser/Electa, 1974-1977)» e i n Standardwerk; Europäische Architektur von Sir Nikolaus Pevsner (8. Ausg., München 1994); das Lexikon der Weltarchitektur, hrsg. von Sir Nikolaus Pevsner, John Fleming und Hugh Honour (3. Aufl. 1992) und der dtv-Atlas zur Baukunst in 2 Bänden. Für die Architektur der letzten zwei Jahrhunderte siehe Leonardo Benevolo/ Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. 3 Bde. in Kassette, München 1988*. Derjenige, der sich auf der Suche nach Detailfragen oder neuesten Informationen befindet, wird nicht immer auf Bücher zurückgreifen wollen. Sein Bereich, in dem er erfolgreicher sein dürfte, sind die verschiedenen Periodika, die Jahrbücher, Vierteljahresschriften oder Monatspublikationen, die von den verschiedensten Institutionen und Gesellschaften weltweit herausgegeben
werden. In diesen finden wir Beitrage, die Fachleute fiir andere Fachleute schreiben, ebenso wie Zeitdokumente und Interpretationen, aus denen das Mosaik der Geschichte besteht. Dem Neuling dürfte diese Welt zunächst als befremdlich vorkommen, doch wenn er Interesse zeigt, so wird er bald in der Lage sein, sich seinen Weg durch dieses Labyrinth von Fakten zum Kern der Frage zu bahnen, die er lösen möchte. Dieser Art des Lesens kann man nur in einer der großen Bibliotheken nachgehen, in denen man unmittelbaren Zugang zu etlichen weiterführenden Werken hat. So zum Beispiel gibt es den in englischer Sprache erscheinenden Art Index, ein Verzeichnis der Autoren und Themen aus einer ausgewählten Liste von Kunstperiodika und Museumspublikationen. Es wird ergänzt durch die International Repertory of the Literature ofArt (RILA), seit 1991 bekannt als Bibliography of the History of Art.
Lexika Für einzelne Künstler ist bei Weitem das wichtigste Handbuch der ThiemeBecker, genauer Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, herausgegeben von Ulrich Thieme und Felix Becker, Leipzig 1907-1947. Dort findet man nicht nur einen autoritativen Artikel über jeden einigermaßen nennenswerten Meister, sondern auch ein vollständiges Literaturverzeichnis. Es gibt aber noch eine ganze Reihe weiterer, durchaus nützlicher Nachschlagewerke, wie zum Beispiel: Kindlers Malerei Lexikon, ungekürzte Ausgabe, erschienen in München in 15 Bänden (1985); Das große Lexikon der Malerei (Braunschweig 1982) mit rund 1400 Künstlermonografien und rund 1100 Reproduktionen, sowie das Lexikon der Kunst, 5 Bde., Verlag Das europäische Buch, Berlin/Ost (2. Aufl. 1983); Wörterbuch der Kunst, begründet von Johannes [ahn, fortgeführt von Wolfgang Haubenreisser (12. Aufl., Stuttgart 1995), und Robert Darmstaedter, Reclams Künstlerlexikon (2. Aufl., Stuttgart 1995"); f ü r die Architektur sei verwiesen auf das Lexikon der Weltarchitektur, hrsg. von Sir Nikolaus Pevsner, John Fleming und Hugh Honour (3. Aufl., München 1992). Wer umfangreiche und detaillierte Untersuchungen zu bestimmten Epochen oder Ländern sucht, sei auf die Reihen Ars antiqua bei Herder und Universum der Kunst (Beck) verwiesen. Eine Sonderstellung nehmen die Kataloge der Ausstellungen und Sammlungen ein, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen. Für große Museen und Sammlungen gibt es umfangreiche Kataloge mit den Werkverzeichnissen der im Museum vertretenen Künsder oder den nach Schulen und Epochen geordneten Werken. Erwähnt werden müssen auch die Kataloge, die anlässlich groß angelegter Ausstellungen publiziert werden und die oft den besten Zugang zu den neuesten Ergebnissen der Forschimg bieten.
Eine Kategorie für sich bilden die Kunsttopographien, die in Deutschland, England, Italien, Österreich und der Schweiz von öffentlichen Denkmalkominissionen herausgegeben werden und besonders für die Abbildung und Beschreibung von Bauwerken und Inneneinrichtmigen unentbehrlich sind. Für den deutschen Raum siehe Georg Dehio, Handbuch der deutschen Denkmäler. Unter Mitarbeit von Klaus Lepsky
Reisen Wenn es überhaupt ein Studiengebiet gibt, das sich nicht durch Lesen meistern lässt, dann ist es die Kunstgeschichte. Jeder Kunstinteressierte wird versuchen, so viel wie möglich zu reisen, um sich die Bauten und Kunstwerke im Original anzusehen. Es ist weder möglich noch erstrebenswert, hier alle guten Kunstführer aufzulisten, einige in englischer Sprache seien dennoch erwähnt: die >Companion Guides< (bei Collins erschienen), >Blue Guides< (bei A. & C. Black erschienen) sowie die >Phaidon Cultural GuidesThe Buildings of England< (nach Grafschaften), die bei Penguin erschienen ist.
Bibliografie Die Arbeiten sind alphabetisch aufgeführt.
Seltsame A n f a n g e
Die Kunst der Urzeit, der Primitiven und Altamerikas Boas, Franz, Primitive Art (New York: Peter Smith, 1962) Forge, Anthony, Primitive Art and Society (London: Oxford U. P., 1973) Fräser, Douglas, Die Kunst der Naturvölker (München, Zürich: Droemer/Knaur, 1962) 2 Kunst f ü r d i e E w i g k e i t
Ägypten - Mesopotamien — Kreta Frankfort, Henri, The Art and Architecture of the Ancient Orient (Harmondsworth: Penguin, '1970)
Lange, Kurt, und Hirmer, Max, Ägypten. Architektur, Plastik, Malerei in 3 Jahrtausenden (München: Hirmer, 1985") Schäfer, Heinrich, Principles of Egyptian Art (Oxford U. P., 1 9 7 4 )
Smith, W. Stevenson, The Art and Architecture Of Ancient Egypt (Harmondsworth: Penguin, 1 9 ^ 8 ; überarbeitet v o n William Kelly Simpson, ' 1 9 8 1 )
3 Das große Erwachen Griechenland, 7. bis Jahrhundert v. Chr. Ashmole, Bernard, Architect and Sculptor in Classical Greece (London: Phaidon, 1 9 7 2 ) Boardman, John, The Parthenon and its Sculptures (London: Thames & Hudson, 1985-) Cook, R.M., Greek Painted Pottery (London: Methuen, ' 1 9 7 2 ) Pollitt, J . J . , Art and Experience in Classical Greece (Cambridge U. P., 1 9 7 2 ) Richter, Gisela, Handbuch der griechischen Kunst (Stuttgart: Parkland, 1 9 8 0 ) Robertson, Martin, A History of Greek Art (2 Bde., Cambridge U. P., 1 9 7 5 ) Robertson, Martin, A Shorter History of Greek Art (Cambridge U. P., 1 9 8 1 ) Rolley, Claude, Greek Bronzes (London: Sotheby's, 1 9 8 6 ) Stewart, Andrew, Greek Sculpture (2 Bde., N e w Häven und London: Y a l e U . P . , 1990)
4 Ins Reich der Schönheit Griechenland und die griechische Welt vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. Bieber, Margarete, Sculpture of the Hellenistic Age (New York: Columbia U. P., 1
955'» revidierte Auflage, 1 9 6 1 )
Onians, J., Art and Thought in the Hellenistic Age (London: Thames & Hudson, 1979) Pollitt, J.J., Art in the Hellenistic Age (Cambridge U. P., 1986)
Welteroberer Römer, Buddhisten, Juden und Christen, vom r. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. Bandinelli, Ranuccio Bianchi, Die römische Kunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Antike (ungekürzter Text der beiden im »Universum Kunst< erschienenen Bde. >Rom - das Zentrum der Macht< und >Röm - das Ende der Antike