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German Pages 286 Year 2018
Nicole Vennemann Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Image | Band 148
Nicole Vennemann (Dr. phil.) ist freie Publizistin und Dozentin. Sie hält Gastvorträge u.a. an den Universitäten Wien und München. Ihr Studium der Kunstgeschichte und Germanistik schloss sie in Heidelberg mit einer Arbeit über die Versuchsreihe des australischen Aktionskünstlers Stelarc sowie internetbasierte Aktionen im Web 1.0 im Umfeld des Cyberpunks ab. 2017 beendete sie ihre Promotion über das Experiment in der zeitgenössischen Kunst und die Initiierung von Ereignissen als Formen künstlerischer Forschung an der Universität Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen künstlerische Forschungen und Wissensbildungen.
Nicole Vennemann
Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst Initiierte Ereignisse als Form der künstlerischen Forschung
Zugleich Dissertation unter dem Titel: »Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst. Die Initiierungen von Ereignissen als Formen künstlerischer Forschung« an der Universität zu Köln, 2017.
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Inhalt
I.
Einleitung | 9
1.
Die Versuche: Roman Signer Ballon mit Rakete, 1981 und Carsten Höller Experience Corridor, 2005 | 15 Zielsetzung | 18 Vorgehen | 21
2. 3. II.
Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung. Experiment, Ereignis und Forschung | 45
1. 2.
Das Experiment als Handlung | 49 Das Experiment als Instrument | 61 2.1 Der Wissenschaftsenthusiasmus um 1900 | 66 2.2 Empirische Methoden in der Kunst: Wissenschaftliche Experimente der Avantgarde | 69 2.3 Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne | 74 2.4 Die Performance als experimenteller Generator von Ereignissen | 81 2.5 Experimentalsysteme in Kunst und Wissenschaft | 88 Das Ereignis als Ergebnis des Experiments | 101 3.1 Der Mechanismus der Unvorhersehbarkeit im Experimentellen | 115 3.2 Die Systematik serieller Verfahrensweisen im Experiment | 119 3.3 Das Experiment als Ereignisfalle | 125 Das Experiment als Konstituierung eines Forschungsraums | 127 4.1 Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens | 131 4.1.1 Der White Cube | 134 4.1.2 Der Ausstellungsraum als Laborraum | 137 4.2 Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst | 142 4.2.1 Die Ausstellung als Ereignisfeld | 146 4.2.2 Der Forscher in Kunst und Wissenschaft | 147 4.2.3 Der Rezipient | 151 4.2.4 Der Partizipient | 159
3.
4.
5.
Das künstlerische Experiment als Handlungskonstellation | 163
III.
Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 167
1.
Roman Signers Versuch Gleichzeitig, 1999 | 169 1.1 Das Experiment: Die Performance als experimenteller Initiierungsmechanismus | 174 1.2 Das Ereignis zwischen Zufall und Planung: Das Scheitern eines Versuchs | 175 1.3 Die Forschung an Ereignissen in Serie | 179 1.3.1 Zeichnungen, Modelle und Experimente | 180 1.3.2 Video und Fotografie als Dokumentations- und Forschungsinstrument | 184 1.3.3 Die Zeitskulptur als Erweiterung der künstlerischen Praxis | 188 1.4 Die Erkundung initiierter Ereignisse | 190 Carsten Höllers Versuchsapparat Flugmaschine (Flying Machine), 1996 | 195 2.1 Das Experiment: Die performative Installation als Versuchsapparatur zur Lenkung des Partizipienten | 196 2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle | 199 2.3 Die Forschung an der Flugmaschine im Kontext der Ausstellung Glück | 210 2.4 Der irritierende Moment im Erfahrungsraum | 217 Ursula Damms Versuchsumgebung Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost / 51° 13.66 north, 6° 46.523 east), 2005 | 225 3.1 Das Experiment: Die digitale Installation als Versuchsumgebung | 232 3.2 Das Ereignis zwischen Erfassung und Prozess | 234 3.3 Die Forschung am Video-Tracking | 238 3.3.1 Interdisziplinäre Erkundung | 244 3.3.2 Das Modell | 249 3.4. Das Modell der kollektiven Partizipation | 254
2.
3.
IV.
Fazit | 259
V.
Literatur | 265
Danksagung | 283
I. Einleitung
Die Kunst ist schon immer forschend gewesen oder, wie Marcel Cobussen1 festgestellt hat, kann die Kunst ohne Forschung gar nicht existieren.2 Diese Aussage inmitten der aktuellen Debatte um künstlerische Forschung,3 die
1
Vgl. Cobussen, Marcel: »Der Eindringling. Differenzierung in der künstlerischen Forschung«, in: Corina Caduff / Fiona Siegenthaler / Tan Wälchli (Hg.), Kunst und Künstlerische Forschung, Zürich 2009, S. 50-59, hier S. 55.
2
Vgl. ebd., S. 55. Cobussen hat drei Aspekte des Forschens in der Kunst aufgezeigt: 1. Forschung, die einer künstlerischen Praxis entstammt, 2. Forschung, die durch Kunst betrieben wird, 3. Forschung, die zu neuer Kunst führt. Henk Borgdorff kommt zu einer ähnlichen Feststellung wie Cobussen (vgl. Bogdorff, Henk: »Die Debatte über Forschung in der Kunst«, in: Anton Rey / Stefan Schöbi [Hg.], Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven, Zürich 2009, S. 69-90, hier S. 80-82).
3
Zum Thema künstlerische Forschung sind neben vielzähligen Artikeln drei Herausgeberschriften erschienen, die für die folgenden Fragestellungen von besonderer Relevanz sind. Elke Bippus hat 2009 die »Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens« mit dem Schwerpunkt auf Forschung als Handlung herausgegeben. Im gleichen Jahr ist von Stefan Schöbi und Anton Rey eine Sammlung von Positionen zum Thema der künstlerischen Forschung mit dem Titel »Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven« erschienen. Martin Tröndle und Julia Warmers haben 2012 mit dem Titel: »Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst« insbesondere das aktuelle Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft thematisiert.
10 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
seit dem Ende der 1990er Jahre geführt wird, postuliert eine die Kunst konstituierende Forschungskompetenz. Das Feld der Literatur zu diesem Forschungsaspekt der Kunst ist dementsprechend gattungsübergreifend und breit gestreut.4 In Anbetracht der vielfältigen Ansätze und Methoden der Annäherung an dieses Themenfeld richtet sich der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf das ästhetische Experiment als eine Form der Aktionskunst,5 die in der Literatur mit Begriffen wie »Versuchsanordnungen«6, »Versuche«7, »Experimente«8 umschrieben wird. Hierschließt sich die Fra-
4
In dieser Arbeit werden Forschungen in der Kunst, die von einem Kunstwerk als Modell ausgehen, ebenfalls hinzugezogen. Im Zusammenhang mit Ursula Damms digitaler Installation wird auf der einen Seite das dreidimensionale Modell als ein zwischen Wissenschaft und Kunst stehender Untersuchungsgegenstand betrachtet werden (vgl. Wendler, Reinhard: Das Modell. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Paderborn 2013). Auf der anderen Seite wird auch das Bild als eine Visualisierungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Kunst thematisiert (vgl. Hinterwaldner, Inge: Das systemische Bild. Ikonizität im Rahmen computerbasierter Echtzeitsimulationen, Paderborn 2010 und Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat., Kunsthalle zu Kiel 2010, hg. von Gördüren, Petra / Luckow, Dirk, Köln 2010).
5
Im Rahmen dieser Untersuchung ist unter dem Begriff der Aktionskunst nicht nur die Performancekunst wie die von Roman Signer, sondern auch die performative Installation wie die von Carsten Höller und die digitale Installation wie die von Ursula Damm zu verstehen.
6
Blume, Eugen: »Roman Signer«, in: Roman Signer, Ausst.-Kat., Hamburger Bahnhof 2007, Berlin, hg. von Eugen Blume, Köln 2007, S. 22.
7
Unter anderem in: Hoffmann, Jens / Jonas, Joan: Art Works. Zeitgenössische Kunst. Aktion, Hildesheim 2005, S. 117 und Withers, Rachel: Roman Signer (Collector’s choice 7), Köln 2007, S. 100 und Damm, Ursula / Kruszynski, Anette: »Die Ästhetik des Denkens. Ein Gespräch zwischen Ursula Damm und Anette Kruszynski am 13. Mai 2005«, in: Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), Ausst.-Kat., K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 2005, S. 33-38, hier S. 33f.
8
Carsten Höller bezeichnet seine Aktionen selbst als Experimente wie zum Beispiel das Baudouin-Experiment 2004 (unter anderem in: Farquahrson, Alex: »Before and After Science«, in: Frieze 85 [2004], S. 93-94, hier S. 93 und Allen, Jennifer: »Logic«, in: Carsten Höller. Logic Catalogue, hg. von Gagosian
I. Einleitung | 11
ge an, warum die Aktionen in der Kunst nicht mehr als Performancekunst, performative oder digitale Installationen wahrgenommen werden, sondern als forschende Vorgehensweisen aus der Wissenschaft.9 Diese Übertragung der Wissenschaft über die entsprechenden Begriffe in den Kontext der Kunst setzt voraus, dass eine ursprünglich gemeinsame geistige Haltung zwischen beiden Disziplinen trotz bestehender Differenzen existent sein muss. In der Renaissance wird diese disziplinüberschreitende Forschung in der Person Leonardo da Vincis nachvollziehbar.10 Sein Vorgehen, das sich insbesondere durch die Beobachtung der Natur auszeichnet, bringt nach Daniel Arasse »intellektuelles Verständnis und poetische Intuition, Wissenschaft und Kunst«11 zusammen. Diese fließenden Übergänge zwischen Kunst und Wissenschaft haben bei da Vinci zu Erkenntnissen geführt.12 Da Vincis Forschen wird von ihm als »heterogen wissenschaftlich«13 bezeichnet und als ein »Ausdruck eines Bedürfnisses einer Wissbegierde, deren Spieleinsätze nicht ausschließlich intellektuell waren, sondern es war ein
Galery, London 2005, S. 29). Roman Signer dagegen setzt in dem Titel der Aktion nicht den Begriff des Experiments ein, dafür werden noch weitere Umschreibungen wie »Versuch« oder »Versuchsanlage« hinzugenommen (vgl. Withers, Rachel: Roman Signer [Collector’s choice 7], S. 100). 9
Der Begriff der Wissenschaft wird in dieser Untersuchung nicht als Bezeichnung für eine forschende Disziplin angewendet. In diesem Fall wäre der Begriff der Naturwissenschaft als die exakte Wissenschaft besser gewesen. In diesem Rahmen steht die Wissenschaft vielmehr für eine Tätigkeit, bei der ein Sachverhalt mit objektiven und nachvollziehbaren Methoden systematisch beschrieben und untersucht wird (vgl. »Wissenschaft«, in: Ritter, Joachim u.a. [Hg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel / Stuttgart 1971-2007, Bd. 9, S. 902).
10 Vgl. Arasse, Daniel: Leonardo da Vinci, Köln 2002, S. 96. 11 Ebd., S. 100. 12 Vgl. ebd. Die von da Vinci in einer Vielzahl von Zeichnungen, die seine Beobachtungen an den Bewegungen des Wassers und der Luft festhalten, entspringen trotz ihrer Genauigkeit beispielsweise nach Arasse ganz den Empfindungen da Vincis. Insbesondere wenn er zu dem Schluss kommt, dass beide in ihren Bewegungsformen ähnlich sind. 13 Ebd., S. 90.
12 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
intuitives Verständnis der Welt.«14 Diese Mischung aus Intuition und Intellektualität in den Forschungen bei da Vinci ist es auch, die später für Künstler wie Marcel Duchamp15 und Joseph Beuys16 sowie Roman Signer17 inspirierend waren.18 Im 17. Jahrhundert leitete Galileo Galilei eine Entwicklung ein, die eine analytische Methode von der über Beobachtung praktizierten intuitiven Forschen eines da Vincis trennte, und setzte dementsprechend einen Schwerpunkt.19 Galilei lehnt die Sinneswahrnehmung als Quelle der Erkenntnis ab und beruft sich in seinen Forschungen vielmehr auf ein intellektuelles Vorgehen, um das »Wirkliche«20 erfassen zu können.21 Hier setzt eine Entwicklung der Wissenschaft als eine empirischanalytische Forschung ein. Sie grenzt sich ab von einer Kunst, deren Methode die »Evidenzen des gesunden Menschenverstands«22 präsentiert. Die Kunst wird zu einer von Intuition gestützten Forschung des Individuums erklärt.23 In der Wissenschaft bei Galileo Galilei zeigt sich aus diesem
14 Ebd., S. 90. 15 Vgl. Steiner, Theo: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst (phil. Diss.2006), München 2006, S. 214. 16 Vgl. Holzhey, Magdalena: Im Labor des Zeichners. Joseph Beuys und die Naturwissenschaft, Bonn 2009, S. 31. 17 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 102. 18 Diese Polarität zwischen Rationalität und Irrationalität, Intuition und Intellektualität, Systematik und Zufall wird im Zusammenhang der Initiierung von Ereignissen im künstlerischen Experiment unter dem Kapitel II.3. Das Ereignis als das Ergebnis des Experiments thematisiert werden. 19 Vgl. D. Arasse: Leonardo da Vinci, S. 93. Daniel Arasse bezieht sich hierbei auf die Untersuchung von Alexandré Koyré (Koyré, Alexandre: Galilei: die Anfänge der neuzeitlichen Wissenschaft, Berlin 1988). 20 Ebd. 21 Vgl. ebd. Offensichtlich wird diese Abwendung von der reinen Naturbeobachtung anhand der Erfindung des Teleskops von Galileo. Das Teleskop verkörpert ein vom Individuum unabhängiges Instrument, um seine sinnlichen Grenzen der Beobachtung zu überschreiten. 22 Ebd., S. 92. 23 Leonardo da Vinci ist nach Ansicht von Arasse als direkter Vorläufer von Galileo Galilei zu bezeichnen. Erst mit ihm ist in der Wissenschaft ein Pradigmenwechsel eingeleitet worden (vgl. D. Arasse: Leonardo da Vinci, S. 93).
I. Einleitung | 13
Grund das, was nach Arasse der Wissenschaft von Leonardo da Vinci fehlte, nämlich ein von Rationalität geprägtes Vorgehen in Form von Systematisierung und Präzision.24 In der Romantik reagierte die Kunst beziehungsweise die Poesie nach Theodora Vischer auf diese rational-analytische Tendenz der Wissenschaft, indem sie sich als den ausgleichenden Pol im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes verstand.25 Die Autorin bezieht sich in ihrer Untersuchung auf die Schriften von Novalis und insbesondere auf die darauf sich beziehende Abhandlung von Johannes Hegener über »Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis, dargestellt am Prozess der Entwicklung von Welt und Menschheit« (Bonn 1975). Demzufolge ist bei Novalis die Wissenschaft erst dann als vollständig zu bezeichnen, wenn sie mit der Poesie zusammengeführt wird. Novalis betitelte seine Aufzeichnungen unter anderem mit »Philosophische Physik«, »Musikalische Physik«26 und »Poetische Psychologie«.27 Die Autorin hat in ihrer Untersuchung nachgewiesen, dass Joseph Beuys die Wissenschaft im 20. Jahrhundert wie Novalis als unvollständig empfunden hat: »Meine Aktionen sind nicht subjektivistisch zu verstehen. Sie zeigen ein Gegenmodell zum Alleinherrschenden, zum NurRationalen, auf.«28 Hier offenbart sich der Gedanke der Romantik, dass die Kunst als intuitives Vorgehen einen Ausgleich schafft zur Rationalität der Wissenschaft.29 Im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Innovationen um 1900 kam in der Kunst ein Wissenschafts-
24 Vgl. D. Arasse: Leonardo da Vinci, S. 90. Galileo Galilei entfernte sich nicht von der Kunst, sondern ganz im Gegenteil bezog er malerische Techniken in der Abbildung des Mondes ein (vgl. Panofsky, Erwin: Galileo Galilei und die Bildkünste [hg. von Horst Bredekamp], Zürich 2012, S. 67-85). 25 Vgl. Vischer, Theodora: Beuys und die Romantik, Köln 1983, S. 42. 26 Ebd. 27 Vischer bezieht sich auf »Die Werke Friedrich von Hardenbergs« (hg. von P. Kluckhohn / Samuel, R.), 3. erw. Auflage in 4 Bänden, Darmstadt 1965-1977. 28 Rappmann, Rainer: »Interview mit Beuys«, in: Volker Harlan / Rainer Rappmann / Peter Schata (Hg.), Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976, 17-118, hier S. 17. 29 Vgl. T. Vischer: Beuys und die Romantik, S. 42.
14 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
enthusiasmus auf.30 Dieser stand unter anderem für die Bedrängnis der Kunst, die sich weiterhin als eine Disziplin verstanden wissen will, in der sich »geistige Produktionen«31 vollziehen. Dieser Auslöser führte unter anderem dazu, dass sich die Kunst neu zu orientieren suchte, wie im Kapitel II.2.1 Der Wissenschaftsenthusiasmus um 1900 in der Kunst vorgestellt werden wird. Diese kurze Darstellung, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, kann bereits eine Einsicht darüber liefern, dass Kunst und Wissenschaft immer in einem Verhältnis zueinander stehen, das sowohl von Divergenz als auch Konvergenz geprägt ist.32
30 Vgl. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933, 2. erw. Auflage, Stuttgart 2010, S. 24. 31 Ebd. 32 Dieses aktuell auch weiterhin bestehende wechselseitige Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft wird auch am folgenden Beispiel deutlich. Der Kunsthistoriker Martin Kemp wurde von Philip Campbell, dem damaligen Chefredakteur der Fachzeitschrift für naturwissenschaftliche Forschung Nature, dazu eingeladen, eine Serie von Aufsätzen zu publizieren (vgl. Kemp, Martin: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003 [engl. Originalausgabe: Kemp, Martin: Visualizations. The Nature Book of Art and Science, Oxford 2000], S. 7.), die Verbindungen zwischen Kunst und Naturwissenschaft (Mathematik, Physik etc.) aufzeigen sollten. Die Popularität dieser Essays war auch von Seiten des naturwissenschaftlichen Fachpublikums so groß, dass statt der ursprünglich geplanten 12 insgesamt 25 Artikel unter der Rubrik Art and Science und Science and Image bis 1999 verfasst wurden. Diese scheinbare Auflösung der Grenze zwischen den Disziplinen in diesem Beispiel fand allerdings ein Ende, als in der Ausgabe vom 16. Oktober 1997 von der Künstlerin Cornelia Parker eine Fotografie mit dem Titel Nabelflusen eines Matrosen (Cold Dark Matter: An Exploided View) von 1991 unter der Rubrik »News and Views« veröffentlicht wurde (vgl. M. Kemp: Bilderwissen, S. 223). Diese Fotografie wurde von der Redaktion Nature ohne Angabe, dass es sich bei diesem Bild um ein Kunstwerk handelt, abgedruckt (vgl. M. Kemp: Bilderwissen, S. 7). Es war ein Versuch an die naturwissenschaftlich geprägte Leserschaft, das zu demonstrieren, was Kemp mit seiner Serie zu zeigen suchte, nämlich dass das Bild ein verbindendes Element zwischen Kunst und Wissenschaft sein kann. Was vor dieser Publikation noch auf großes Interesse und Beachtung
I. Einleitung | 15
Um den Untersuchungsgegenstand und die wissenschaftlichen Vorgehensweisen in den künstlerischen Praxen zu beleuchten, sollen im Folgenden die Aktionen anhand zwei exemplarischer Konzepte vorgestellt werden, welche in der Literatur explizit als »Experiment« oder »Versuch« bezeichnet werden. Die Beispiele unterscheiden sich u.a. darin, dass die erste Aktion des Schweizer Künstlers Roman Signer die Teilnahme von Publikum ausschließt, während die zweite Aktion von Carsten Höller die Besucher der Ausstellung einbezieht.
1.
DIE VERSUCHE: ROMAN SIGNER BALLON MIT RAKETE, 1981 UND CARSTEN HÖLLER EXPERIENCE CORRIDOR, 2005
1981 führte der Künstler Roman Signer eine Aktion mit dem Titel Ballon mit Rakete ohne Publikum vor der Kulisse einer Winterlandschaft in der Schweiz durch. Technische Bestandteile der Aktion waren eine Rakete33 mit langer Zündschnur, Draht und einem mit Wasserstoff gefüllten roten Ballon, der schweben konnte. Der Ballon war lediglich über eine längere
gestoßen ist, löste nun eine vehement ablehnende Reaktion beim naturwissenschaftlichen Fachpublikum aus (vgl. M. Kemp: Bilderwissen, S. 7). Ein Student soll in der Cafeteria des biologischen Instituts der Universität Leicester ausgerufen haben: »Was hat dieser Scheiß in Nature zu suchen.«). Es war allerdings nicht nur die Fotografie selbst, die diese Aufregung auslöste, sondern sie bezog sich insbesondere auf die fehlende Zuordnung. Das Bild als verbindendes Element zwischen Kunst und Wissenschaft wird aufgehoben zugunsten einer Eindeutigkeit in Bezug auf dessen Einteilung in die jeweilige Disziplin. Die Rezeption eines Bildes ist daher auch zu einer Frage der Kontextualisierung und der Erwartungshaltung des Rezipienten beziehungsweise des Lesers von Nature geworden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Kunst und Wissenschaft sich in zwei Wertesysteme ausdifferenziert haben, die gleichzeitig auch durchlässig für Anknüpfungspunkte sind (vgl. Kapitel III. 3.3.2. Das Modell). 33 Das Ausmaß der Explosion ist größtenteils mit denen von Silvesterraketen zu vergleichen, kann in seinen Experimenten aber je nach Gegebenheiten variieren.
16 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Schnur am Boden verankert. Die Rakete war an einem Draht so aufgestellt, dass diese direkt in den über ihr an einer Schnur befestigten schwebenden Ballon hineinschießen und ihn damit zur Explosion bringen konnte. Die Rakete selbst wurde mit Feuer über die an ihr befindliche Zündschnur ausgelöst. Da der Ballon mit Wasserstoff gefüllt war, entstand eine größere Explosion als erwartet und eine dementsprechend farbige Flamme. Diese Aktion wurde von Roman Signer mehrere Male vollzogen, wobei der Verlauf mit Fotografien von Emil Grubenmann dokumentiert wurde, der diese einzelnen Zustände eines Ballons in einem zeitlichen Verlauf zeigt: Ausgangszustand (Ballon mit Zündungsvorrichtung) und explodierender Ballon als das Ergebnis des Verlaufs.34 Roman Signer unternahm nach eigenen Angaben unter dem Titel Ballon mit Rakete mehrere Versuche mit unterschiedlichen Ballongrößen, wobei er allerdings keine genauen Angaben zur Größe sowie Materialität des Ballons und zur Anzahl der insgesamt wiederholten Versuche gemacht hat. In einem Interview zeigt er sich von dem Ergebnis der durchgeführten Experimente zu Ballon und Rakete überrascht und betont, dass diese Aktion insgesamt ein »[...] sehr interessantes Experiment [...]«35 gewesen sei. Er stellt fest, dass ein Ballon, der größer war, nicht unbedingt eine größere Explosion erzeugt hatte. Signer kam zu dem Ergebnis, dass 50 cm Durchmesser die ideale Größe für das Explosionsverhalten des Ballons ist. Darüber hinaus stellte er fest, dass die Überreste des Ballons nass waren. Obwohl er in aller Deutlichkeit unterstrich, dass dieses Phänomen auf eine altbekannte chemische Reaktion zurückzuführen sei, war es für ihn ein »[...] sinnlich erfahrbares Erlebnis«36, welches vom Ereignis, das von ihm künstlerisch initiiert wurde, erzeugt wurde. Die zweite Aktion steht für eine Einbeziehung des Besuchers, der sich über den Vorgang der Rezeption hinaus auch physisch einbringen kann. Der Besucher wird zum Bestandteil der Aktion, in die er über statische Elemente beziehungsweise die Objekte der Installation vom Künstler kontrolliert gelenkt wird. So ließ Carsten Höller die Ausstellungsbesucher durch eine direkte Aneinanderreihung mehrerer Raumeinheiten gehen, die
34 Roman Signer: Ballon mit Rakete, 1981, Aufnahmeort: Weissbad, Kanton Appenzell, 2 Farbfotografien, je 34,3 x 27,6 cm. 35 R. Withers: Roman Signer, S. 108 36 Ebd.
I. Einleitung | 17
insgesamt einen Gang bildeten. Dieser Experience Corridor37 von 2005 war als Installation auf der Biennale in Lyon mit dem Titel Experience de la durée vom 14.9. bis 31.12.2005 ausgestellt worden.38 Die fünf separaten Räume, die zu einem Gang gereiht waren, beherbergten Gerätschaften für wahrnehmungspsychologische Versuche, die jeder Besucher an sich selbst durchführen und erfahren konnte. Die Materialien waren Sperrholz, Wandfarbe und Holztüren mit einem beidseitigen Verschlussmechanismus. Die Titel dieser Räume mit den Installationen, die unter anderem schon in anderen Kontexten ausgestellt wurden, lauteten wie folgt: The Elevator, 200439,
37 Carsten Höller: Experience Corridor 2005, Sperrholz, Wandfarbe, Holztüren mit Verschlussmechanismus: The Elevator, Pinocchio Effekt, Kaninchen auf der Haut, The Forest, Umkehrbrille. 38 Vgl. Mak, Barbara-Brigitte (Hg.): Carsten Höller 2001-2010. 184 Objekte, Versuche, Veranstaltungen, Ostfildern 2010, S. 144f. 39 Carsten Höller: The Elevator 2005, zwei TV-Monitore, Computer mit eigens dafür geschriebener Software, Kabel, Drehstuhl, Drehknopf zur Geschwindigkeitsregulation, pulverbeschichtete Stahlkonstruktion, 182 x 52 x 153 cm. Der Besucher hatte in diesem Bereich die Möglichkeit, in einer regalähnlichen Konstruktion aus pulverbeschichtetem Stahl auf einem Drehstuhl Platz zu nehmen. Auf Kopfhöhe befanden sich in diesem Regal zu beiden Seiten des sitzenden Besuchers Monitore, die an einem Computer angeschlossen waren. Dieser spielte ein Programm ab, das speziell für diesen Versuch geschrieben wurde. Darüber hinaus stand dem Partizipienten, der in dieser Apparatur zu einem Probanden wird, ein Drehknopf zur Geschwindigkeitsregulation zur Verfügung. Hatte man in dieser Konstruktion Platz genommen, sah man aus beiden Augenwinkeln (45 bis 90 Grad der Retina) auf den zwei seitlich angebrachten Monitoren weiße Punkte auf schwarzem Grund von oben nach unten in einer Endlosschleife fallen. Die Position des Kopfes befindet sich dementsprechend parallel zu den Monitoren, so dass er mittig zwischen ihnen ausgerichtet ist. Der Effekt dieser hervorgerufenen Wahrnehmung ist das Gefühl, nach oben bewegt zu werden, so als befände man sich in einem Aufzug. Um eine größere Wirkung zu erzielen, konnte eine Platte vor den Augen geklappt werden. Wurde die Platte nicht genutzt, konnte es möglich sein, den gesamten Raum in der Bewegung nach oben fahrend zu erfahren. Der Teilnehmer hatte darüber hinaus die Möglichkeit, die Geschwindigkeit sowie die Laufrichtung der Punkte über einen bereitgestellten Drehknopf zu verändern. Die Punkte fielen dementsprechend langsamer oder schneller be-
18 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Der Pinocchio Effekt, 1999, Kaninchen auf der Haut, 1996, The Forrest, 2002, Umkehrbrille, 1994-2009.40 In diesen Räumen mit einem jeweiligen Platzvolumen von ein bis zwei Personen inklusive der entsprechenden technischen Vorrichtungen standen die jeweiligen Apparaturen zur Verfügung, die von den Teilnehmern genutzt werden konnten. Diese fünf Teilräume des gesamten Korridors waren nicht nur beidseitig über eingelassene Türen begehbar, sondern diese konnten, ebenfalls von beiden Seiten, von innen und außen, verschlossen werden. Der Korridor insgesamt hatte keine vorgeschriebene Gehrichtung mit einem Ein- oder Ausgang und war von zwei Seiten begehbar. Nach außen passten die fünf Räume sich in ihrer Form so an, dass insgesamt der Eindruck eines Korridors entstand.
2.
ZIELSETZUNG
Diesen Aktionen wird von der Literatur, wie bereits erwähnt, eine Interdisziplinarität zur Wissenschaft unterstellt, die aber von den Autoren nicht weiter ausgeführt wird. Die Frage, die sich hier anschließt, lautet deshalb, ob in der Kunst lediglich eine ästhetische Aneignung von wissenschaftlichen Erscheinungsformen wie das Experiment oder das Labor erkennbar wird oder ob eine Untersuchung durchgeführt wird, die wiederum Vorgehensweisen der Wissenschaft erkennbar werden lässt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb zu untersuchen, ob aufgrund dieser Wahrnehmung von Aktionskunst tatsächlich eine Annäherung
ziehungsweise sie fielen von oben nach unten sowie von unten nach oben (vgl. B.-B. Mak: Carsten Höller 2001-2010, S. 186). Der schwedische Psychologe Gunnar Johansson hat dieses Phänomen des Aufzugs erstmals 1977 beschrieben. The Elevator wurde bereits 2004 in der Galerie Micheline Szwajcer in Brüssel ausgestellt. Der Titel beinhaltete sowohl den Namen des Forschers Gunnar Johansson als auch den Namen des ausstellenden Künstlers Carsten Höller, so dass zunächst eine Ausstellung mit zwei Künstlern verwirklicht zu sein schien. Diese Irritation war von Höller bewusst so konzipiert worden. (vgl. B.-B. Mak: Carsten Höller 2001-2010, S. 186). 40 Wie an den Jahreszahlen ersichtlich, sind die Versuche bereits vor der Zusammenführung als Experience Corridor vor 2005 als separate Installationen ausgestellt worden.
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der beiden Disziplinen Kunst und Wissenschaft über das Experiment als eine methodische Untersuchung41 stattfindet. Zu Beantwortung dieser Frage wird im ersten Teil der vorliegenden Arbeit unter Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung zunächst der Untersuchungsgegenstand, nämlich das Experiment in der Kunst, herausgearbeitet. Dieses Vorgehen liegt zunächst in der Tatsache begründet, dass ein künstlerisches Experiment auf der einen Seite der Aktionskunst zuzuordnen ist, aber auf der anderen Seite es sich gleichzeitig von ihr abgrenzt, was die neue Wahrnehmung der Kunst von Signer und Höller als Versuche und Experimente bestätigt. Es wird daher zunächst zu definieren sein, was das künstlerische Experiment ausmacht, das in der Kunst angesiedelt ist, aber Anleihen an dem Forschungsvorgehen der Wissenschaft, nämlich dem Experiment, hat. Die Methode der Untersuchung ist dementsprechend interdisziplinär angelegt. Es werden neben der Kunstwissenschaft auch Untersuchungsmethoden oder -ansätze aus der Naturwissenschaft, der Philosophie, der Soziologie und der Literatur im Hinblick auf das Experiment berücksichtigt werden. Das grundlegende Charakteristikum des Experiments in der Kunst, ist die Aktion, wie die skizzierten Beispiele Signers und Höllers gezeigt haben. In der Literatur blieb diese Deutungsebene allerdings lange Zeit unberücksichtigt. Zum Einsatz des Experiments in der Kunst als ästhetische Konzeption erschienen 2006 zwei Abhandlungen mit dem Schwerpunkt auf Marcel Duchamps Experiment der 3 Stoppages étalon von 191342 von Herbert Molderings43 und Theo Steiner44. Beide Autoren haben das Experiment von Duchamp als ein Instrument beschrieben, das über die Initiierung einer Aktion, nämlich der Wurf dreier ein Meter langer Bindfäden aus einem Meter
41 Vgl. Heidelberger, Michael: »Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment«, in: Michael Heidelberger / Friedrich Steinle (Hg.), Experimental EssaysVersuche zum Experiment (ZIF Interdisziplinäre Studien, Bd. 3), Baden-Baden 1998, S. 71-92, hier S. 71. 42 Auf das Experiment von Marcel Duchamp wird im Kapitel II. 2.3. Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne eingegangen. 43 Molderings, Herbert: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 KunststopfNormalmaße«, München / Berlin 2006. 44 T. Steiner: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst (phil. Diss. 2006), München 2006.
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Höhe, ein Ergebnis in Form eines Kunstobjekts produziert. Aus diesem Grund beschränkt sich auch die Betrachtung des Experiments bei beiden Autoren auf das Objekt, das ein Resultat der vorausgegangenen Aktion war. Es wurde zwar sowohl von Molderings als auch von Steiner beobachtet, dass Duchamp das Prinzip des Zufalls45 in seinem Kunstwerk einbezogen hat. Allerdings bleiben deren Betrachtungen auf das so entstandene Kunstwerk als Ergebnis beschränkt. Der Prozess, der zu diesem Kunstwerk führte, wird in den genannten Studien nicht weiter in die Betrachtungen einbezogen. Eine aktuellere Publikation zum Thema das Experiment in der Kunst von Elisabeth Fritz46 bezieht sich auf das Experiment in der Kunst, in dem das Ereignis und nicht das Kunstwerk als Objekt im Mittelpunkt steht. Hier wird allerdings ausschließlich der Aspekt der Partizipation, das heißt die Teilnahme von Besuchern an einem Kunstwerk, betrachtet. Aktionen wie die von Roman Signer, in denen Ereignisse ohne weitere Teilnehmer initiiert werden, finden in dieser Untersuchung keine Berücksichtigung. Das künstlerische Experiment ist im Gegensatz zu den Publikationen von Steiner und Molderings nicht als ein Instrument zur Produktion eines Ergebnisses in Form eines Kunstobjekts zu verstehen, sondern der Untersuchungsgegenstand, dies unterstreichen die beiden Beispiele, besteht ausschließlich aus Handlungen,47 die sich sowohl mit dem Subjekt als auch am
45 Der Zufall ist nach Molderings im Werk von Duchamp eine »willkürliche« Handlung (vgl. H. Molderings: Kunst als Experiment, S. 66.). Theo Steiner sieht einen »naturwüchsigen« Vorgang vollzogen (vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 181). Auf den Zufall wird ebenfalls im Zusammenhang mit Marcel Duchamps Experiment im Kapitel II.2.3 Das künstlerische Experiment eingegangen werden. 46 Vgl. Fritz, Elisabeth: Authentizität, Partizipation, Spektakel. Mediale Experimente mit »echten Menschen«, Köln 2014. 47 Der Begriff der Handlung wird in Anlehnung an Bruno Latour verwendet. Im Zusammenhang mit seiner Abhandlung zur Akteur-Netzwerk-Theorie will er den als sozial bezeichneten intentionalen Handlungsbegriff, das heißt der Handlung zwischen den Subjekten, aufgeben zugunsten einer Übertragung auf Dinge beziehungsweise Objekte (vgl. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 109ff.).
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Objekt vollziehen.48 Unter diesen Voraussetzungen wird in der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden, dass Experimente in der Kunst nicht von den Teilnehmern gestaltet werden, sondern dass der Künstler die Aktionskunst als ein methodisches Vorgehen anwendet, um Ereignisse zu initiieren.
3.
VORGEHEN
Es hat sich gezeigt, dass die vollzogenen Handlungen in den Experimenten von Carsten Höller, Roman Signer und Ursula Damm mit Hilfe der AkteurNetzwerk-Theorie nach Bruno Latour zur Beschreibung präziser zu erfassen sind. So werden nicht mehr der Mensch (Subjekt) und die Technik oder die Apparatur (Objekt) als getrennte Entitäten wahrgenommen, sondern sie bilden eine Einheit. Dies widerspricht sowohl dem sozial- als auch dem technikdeterministischen Ansatz von Handlung. Es ist nicht der Mensch, der die Technik mit seinem intentionalen Handeln dominiert, sondern der Mensch und die Technik werden zu einer Einheit.49 Die Literatur im Bereich der künstlerischen Forschung geht dagegen davon aus, dass das Experiment beziehungsweise die Aktion in der Kunst aus einer Handlung besteht, die sich zwischen den teilnehmenden Subjekten vollzieht. Hier zeigt sich das Denken von Experimenten als künstlerische Aktionen im Sinne von Joseph Beuys, in der jeder Teilnehmende die Möglichkeit hat, das Kunstwerk zu gestalten im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung, die auch einen politischen Impetus besitzt, weil sie Vorgänge transparent macht und für jeden offen hält.50 Das Experiment ist allerdings nicht iden-
48 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 29. 49 Latour bezeichnet diese Einheit als »Aktant« wie noch im Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung vorgestellt wird. 50 Partizipation bedeutet in der Kunst die Teilnahme von Ausstellungsbesuchern beziehungsweise allen Menschen an der Aktion. Dieses Vorgehen wird in der Kunst als eine Vorgehensweise verstanden, in der nicht der Künstler das Kunstwerk gestaltet, sondern die in einem Prozess einbezogenen Teilnehmer, die sogenannten Partizipienten (vgl. E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 86). In diesem Zusammenhang wird auch von der Ablösung des künstlerischen Subjekts gesprochen (vgl. Kapitel II.4.2.2. Der Forscher in Kunst und
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tisch mit der Performancekunst, weil in ihm die Handlung der Subjekte über die Umgebung (Objekte) kanalisiert wird wie bei Carsten Höllers Experience Corridor, der die Menschen nicht das Kunstwerk gestalten lässt, sondern sie vielmehr kontrolliert.51 Das Experiment ist im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie ein »Kollektiv«52, das ein Netzwerk aus Subjekten und den Objekten bildet, aber auch gleichzeitig von dem ihn umgebenden Raum beeinflusst wird oder diesen erst über die Handlung manifestiert. Die spezifische Handlungskonstellation zwischen Subjekt und Objekt macht auch nach Erika FischerLichte die »Ästhetik des Performativen« aus.53 In dieser Arbeit richtet sich der Fokus auf die Handlung, die die Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen den Subjekten (Menschen) und den Objekten (Technik oder Apparatur) vollzogen sieht. Handlung und Wissen Das, was das Experiment ausmacht, nämlich die Aktion, ist allerdings nicht nur eine Erprobung von Situationen, in denen Personen mit Objekten über Handlung zusammengebracht werden. Das Experiment wird darüber hinaus
Wissenschaft). Diese These wird zu widerlegen sein, denn ganz im Gegenteil ist das Experiment eine Form der Durchsetzung des künstlerischen Subjekts im Gegensatz zu den Beuyschen Aktionen, in denen jeder Mensch zu einem Künstler und dementsprechend zum Gestalter erhoben wurde (vgl. Rappmann, Rainer: »Interview mit Beuys«, in: Volker Harlan / Rainer Rappmann / Peter Schata [Hg.], Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976, S. 17-118, hier S. 100). 51 Janet Kraynak hat im Zusammenhang mit Bruce Naumans Installation die Dialektik zwischen Partizipation und Kontrolle herausgestellt. Dieser Aspekt wird im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle im Zusammenhang mit Carsten Höller Versuchsapparat Flugmaschine von 1999 aufgegriffen (vgl. Kraynak, Janet: »Dependent Participation: Bruce Nauman’s Environments«, in: Grey Room 10 [2003], S. 22-45). 52 Die Handlung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure werden bei Bruno Latour als »Kollektiv« bezeichnet (Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2002, S. 82ff.). Es sind Netzwerke von Dingen, Menschen, Organisationen etc. 53 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 29.
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auch als ein Instrument in der Kunst eingesetzt, das Wissen erzeugen kann wie im Kapitel II.2. Das Experiment als Instrument untersucht wird. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass in diesem Rahmen der Untersuchung nicht auf die Entstehung von Wissen im Experiment eingegangen wird. Stattdessen dient der Begriff des »Verstehens« nach Umberto Eco als Ausgangspunkt einer Statusbestimmung des Rezipienten. Dieser Prozess des »Verstehens« beim Rezipienten wird nach Eco bedingt durch dessen persönliche Prädisposition und seinen historischen Kontext, in dem er situiert ist.54 Für die vorliegende Arbeit ist vielmehr von Relevanz, dass Wissen und Handlung in der Aktion beziehungsweise im künstlerischen Experiment in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden.55 Das Experiment ist in diesem Kontext eben nicht als ein Instrument zur Produktion eines Objekts zu verstehen, sondern als ein Mittel zur Generierung von Wissen.56 Voraussetzung für diese Sichtweise ist, dass Wissen nicht ausschließlich über die Methoden und Vermittlungsformen der Wissenschaft verbunden sein muss. Wissen wird im Zusammenhang mit der künstlerischen Forschung unter anderem von Christoph Schenker der Erkenntnis gegenübergestellt, so dass der Wissensbegriff auch auf das Experiment in der Kunst übertragen wer-
54 Der Vorgang des Verstehens besteht bei Eco prinzipiell aus der »existentiellen Situation« (vgl. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, 12. Auflage, Frankfurt a. M. 2012 (ital. Originalausg.: Eco, Umberto: Opera aperta, Mailand 1962, 1967), S. 30) des Rezipienten, die jedes Verstehen beeinflusst, so dass die Rezeption nach ihm immer von einem individuellen Standpunkt aus erfolgt. 55 Vgl. Schenker, Christoph: »Einsicht und Intensivierung. Überlegungen zur künstlerischen Forschung«, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens (Band 4), Zürich-Berlin 2009, S. 79-90 und Bippus, Elke: »Einleitung. Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens«, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens (Band 4), Zürich-Berlin 2009, S. 7-23. 56 Sabine Flach und Sigrid Weigel haben den Aspekt des Wissens in der Kunst in ihrer Herausgeberschrift »Wissenskünste: das Wissen der Künste und die Kunst des Wissens« (Weimar 2011) untersucht. Darüber hinaus sind auch Caroline Welsh und Stefan Willer auf die Produktion von Wissen in Form einer Herausgeberschrift mit dem Titel: »Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen« (München, Paderborn 2008) eingegangen.
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den kann.57 Die künstlerische Forschung wird unter dieser Prämisse von Elke Bippus als ein Verfahren definiert, mit dem Wissensformen generiert werden können, die aus »[...] implizite[m] Wissen, Brüche[n] und Ungeklärte[m] [...]«58 bestehen. Bippus verweist hiermit auf einen kontinuierlichen Prozess, der sich in der Forschung im Kontext der Kunst vollzieht. Die Wissensgenerierung in der Kunst ist dementsprechend anders zu bewerten als die Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft. Sabine Flach und Sigrid Weigel sehen in ihrer Publikation »Wissenskünste: das Wissen der Künste und die Kunst des Wissens«59 die Bilder der Gegenwart deshalb auch als prozessuale Verfahren oder Ereignisse, die zur Wissensgenerierung führen..60 In dieser Weise geht neben Schenker auch Elke Bippus auf die Dualität von Handlung und Wissen ein, indem sich letztere auf Jacques Derrida bezieht.61 Das Wissen manifestiert sich nach Schenker über »Machen und Handeln«62 und nach Bippus über »Handlung und Verkörperung«63. Sie spricht von einem komplexen System der Generierung von Wissen in der Kunst, das nicht auf dessen Ökonomisierung als Information angelegt ist,64 was von ihr bewusst als eine kritische Reflexion auf die Effizienz der Wissenschaft verstanden werden muss. In der Kunst wird die ästhetische Erfahrung zu einem Erlebnis der Irritation, so dass dieses Wissen keine Gewissheiten liefern kann.65 Ein gutes Beispiel ist auch hier der
57 Vgl. C. Schenker: Einsicht und Intensivierung, S. 83. Schenker beruft sich mit seiner These auf Jean Francois Lyotards »Das postmoderne Wissen« (Wien 2012 [frz. Originalausgabe: La condition postmoderne von 1979]). 58 E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 13. 59 Flach, Sabine / Weigel, Sigrid: »Bilder jenseits des Bildes«, in: Sabine Flach / Sigrid Weigel (Hg.), Wissenskünste: das Wissen der Künste und die Kunst des Wissens, Weimar 2011, S. 22. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. E. Bippus : Kunst des Forschens, S. 14. Elke Bippus beruft sich mit ihrer These auf Jacques Derridas »Die unbedingte Universität« (Frankfurt a. M. 2001 (frz. Originalausgabe: L’université sans condition, Paris 2001). 62 C. Schenker: Einsicht und Intensivierung, S. 85. 63 E. Bippus : Kunst des Forschens, S. 14 64 Vgl. ebd., S. 13. 65 Vgl. Bippus, Elke: »Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung«, in: Texte zur Kunst. ARTISTIC RESEARCH 82 (2011), S. 101-105, hier S. 103.
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Experience Corridor von Höller, der die Teilnehmenden bewusst in eine falsche Richtung gehen lässt oder sie wahrnehmungspsychologischen Tests unterzieht.66 Kunst und Wissenschaft In diesem Zusammenhang sehen Caroline Welsh und Stefan Willer in der Kunst und Wissenschaft zwei existierende Wissenskulturen, die sich wechselseitig bedingen.67 Nach ihnen verhält sich die Kunst zur Wissenschaft und umgekehrt entsprechend der Regeln einer mathematischen Menge. Übereinstimmungen sind möglich und Ausdifferenzierungen sind gleichzeitig notwendig. Das heißt, die Relation zwischen Kunst und Wissenschaft ist das Ergebnis ihrer historisch bedingten Ausdifferenzierung und der damit einhergehenden Spezialisierung.68 Dieses Verhältnis wird als das Ergebnis ihrer historischen Entwicklung angesehen und kann nach Welsh und Willer als »Narrativ«69 bezeichnet werden.70 Die Funktion des »Narrativs« zeigt sich insbesondere darin, dass spezifische Interessen sowie historische Fakten nach bestimmten Kriterien ausgewählt, strukturiert und perspektivisch eingebunden werden. Das heißt, wenn ein »Narrativ« der Trennungsgeschichte von Kunst und Wissenschaft existiert, so kommen beide Autoren zu dem Schluss, so besteht auch die Herausforderung des »GegenNarrativs«.71
66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Welsh, Caroline / Willer, Stefan: »Einleitung: Die wechselseitige Bedingtheit der Wissenskulturen – ein Gegenentwurf zur Trennungsgeschichte«, in: Caroline Welsh / Stefan Willer (Hg.), Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 9-20. 68 Vgl. ebd., S. 11. 69 Ebd. 70 Vgl. ebd. 71 Neben Welsh und Willer beschäftigen sich auch zunehmend Ausstellungen beziehungsweise die in diesem Zusammenhang entstandenen Beiträge für die wechselseitige Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft. Für die vorliegende Arbeit relevanten Beiträge, die sich mit diesem Thema befasst haben, sind unter anderem: Laboratorium (1999), Say it isn’t so (2005), Dopplereffekt. Bilder in Kunst Wissenschaft (2010) und die documenta 13 (2012). Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch eine Publikation erschienen, die diejenigen
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Bruno Latour vertritt in seiner Schrift »Wir sind nie modern gewesen«72 die Ansicht, dass die Welt in der Moderne in abgeschlossene Bereiche wie unter anderem Natur und Kultur, aber auch Kunst und Wissenschaft aufgeteilt wurde.73 Dies sei, so Latour, die »Verfassung der Moderne«74. Diese historisch bedingten Grenzziehungen fallen aufgrund der Existenz sogenannter »Hybride«75 zusammen.76 Das heißt Mischformen aus Menschen und Nicht-Menschlichen (z.B. Technik), Natur und Kultur, Subjekten und Objekten sind ununterscheidbar miteinander verknüpft.77 Diese existierenden »Hybride« geben Anlass, »Alternativen«78 gegenüber den unser Denken bestimmenden Grenzziehungen sowie den Dichotomien, die nach Latour eine »modernistische Übereinkunft«79 sind, neu zu denken. In dieser Weise bestätigt er die These von Welsch und Willer, dass ein »Narrativ« gleichzeitig auch ein »Gegen-Narrativ« impliziert. Es wird in dieser Arbeit zu zeigen sein, ob das künstlerische Experiment als einer dieser »Hybriden« zu bezeichnen ist, die sich weder ganz dem künstlerischen noch dem wissenschaftlichen Bereich zuordnen lassen.
Kunstwerke behandelt, die aktuell im Zusammenhang mit der Wissenschaft gesehen werden: Witzgall, Susanne: Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften (phil. Diss. Stuttgart 2001), Nürnberg 2003. 72 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a. M. 1998. 73 Vgl. ebd., S. 21. 74 Ebd., S. 22. 75 B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 23. 76 Bruno Latour bekräftigt seinen Standpunkt, dass die Moderne gescheitert ist, indem er im ZKM (Zentrum für Kunst- und Medientechnologie) die Ausstellung Reset Modernity! 2016 in diesem Sinn kuratiert sowie entsprechende Texte hierzu herausgegeben hat (Latour, Bruno / Leclercq, Christophe (Hg.): Reset Modernity! Cambridge, MA 2016). 77 Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 112. Dieser Aspekt der »Hybride« wird im Zusammenhang mit der Vorstellung der AkteurNetzwerk-Theorie nach Latour im Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung thematisiert werden. 78 B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 363. 79 Ebd.
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Die Historie des Experiments in der Kunst scheint die Theorie von der Konstruktion der Dichotomie zwischen Kunst und Wissenschaft, die sich als Konstrukt gleichzeitig wieder auflösen kann, zu bestätigen. Das Kapitel II.2. Das Experiment als Instrument beginnt mit der historischen Betrachtung des Experiments. Die vorliegende Untersuchung, die sich der Frage nach der Annäherung zwischen Kunst und Wissenschaft beschäftigt, setzt mit der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft im Zuge des Naturalismus um 1900 ein.80 So zeigt sich in dieser Zeit eine Begeisterung für das wissenschaftliche Experiment, mit dem ein Instrument zur Verfügung gestellt werden konnte, das Erkenntnis erzeugt.81 Die Kunst und insbesondere die Literatur konnten sich auch diesem Enthusiasmus nicht entziehen und bildeten eigene Möglichkeiten wissenschaftlicher Vorgehensweisen aus.82 Mit den Aktionen des Futurismus trat dann das künstlerische Konzept des Experiments als eine experimentelle Konstellation in Erscheinung, die die Idee, der schnellen Kunstproduktion zur Findung des Neuen vorangetrieben hat.83 Mit dem Ziel, Konventionen zu überwinden, wurde die Aktion im Futurismus zum entscheidenden Motor der Produktion bis dahin noch nicht gedachter Ideen und deren schnellen Umsetzung in experimentelle Vorgehensweisen. In der russischen Avantgarde wurde das Experiment als ein Werkzeug angesehen mit dem Erkenntnisse effektiv produziert werden könnten, was für politische Zwecke zunutze gemacht wurde.84 Galt es doch zu dieser Zeit, einen effizienten Arbeiter zu schaffen, indem seine Wahrnehmung und Performance zu optimieren sei.85 An dieser Stelle werden auch die Verbindungen zur russischen Avantgarde untersucht, um der Frage nachzugehen, inwiefern mit dieser Bewegung ein künstlerisches Experi-
80 Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 24. Fähnders bezeichnet diese Phase als eine »Verwissenschaftlichung« der Gesellschaft. 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. ebd. 83 Vgl. de Ponte, Susanne: Aktion im Futurismus (Saecula Spiritalia, hg. von Dieter Wuttke, Bd. 38), Baden-Baden 1999, S. 168. 84 Vgl. Flach, Sabine / Vöhringer, Margarete: »Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Avantgarden«, in: Sabine Flach / Margarete Vöhringer (Hg.), Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Avantgarden, Paderborn 2010, S. 7-17, hier S. 7. 85 Vgl. ebd.
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ment unternommen wurde oder vielmehr ein wissenschaftliches Experiment in der Kunst. In der europäischen Avantgarde und insbesondere mit Marcel Duchamp und seinem Experiment der 3 Stoppages Etalon wurde mit dem Experiment nicht nur eine Übertragung der Wissenschaft in die Kunst gesehen, sondern die Einbindung der Rationalität in die Kunst wurde als ein kunstspezifisches Vorgehen hier bereits entwickelt. In den 1960er und 1970er Jahren hat sich das Experiment dann in der Performancekunst zu einem Generator von Ereignissen gewandelt. In diesem Kapitel wird unter anderem die grundlegende Unterscheidung zwischen Experiment und dem Experimentellen getroffen, so dass die experimentelle Aktion von dem künstlerischen Experiment unterschieden werden kann. Schließlich zeigt sich auch in der Forderung Hans-Jörg Rheinbergers nach einer größeren Unvoreingenommenheit im Experiment, das hier nicht nur Hypothesen verifiziert, sondern Überraschungen und wissenschaftliches Staunen ermöglicht werden. Mit den von ihm beschriebenen Experimentalsystemen86 erfolgt eine Öffnung der Naturwissenschaft hin zu einer künstlerischen Vorgehensweise der Entdeckung. Die Tatsache, dass Rheinbergers Publikationen im wissenschaftlichen Kontext angesiedelt sind, aber auch für den Kontext der Kunst hinzugezogen werden,87 besitzt für diese Arbeit eine große Relevanz. Nach dem Verständnis Rheinbergers wird die naturwissenschaftliche Forschung sowie die künstlerische Vorgehensweise allgemein als ein Suchen verstanden, das Wissen produziert, aber von einem »Nichtwissen«88 in diesem Vorgang beim Forschenden ausgeht. Das Forschen ist dann als eine Suchbewegung zu bezeichnen zwischen dem
86 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemsiche Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a. M. 2006. 87 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: »Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen«, in: Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Ausst.-Kat., Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen 2007, hg. von Peter Friese / Guido Boulboullé / Susanne Witzgall, Heidelberg 2007, S. 83-91, hier S. 83. Rheinberger zeigt die Nähe zur Kunst nicht nur darin, dass er den Kunsthistoriker Georg Kubler im Zusammenhang mit der Erforschung mit einem sogenannten »Nichtverstehen« zitiert, sondern auch grundsätzlich, dass er mit einem Aufsatz in einem Ausstellungskatalog des Museums für Moderne Kunst in Bremen vertreten ist. 88 E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 16.
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Wissen und dem »Nichtwissen«. Elke Bippus verwendet den Begriff des »Nichtwissens«, der sich offensichtlich auf das von Rheinberger verwendete »Nichtverstehen«89 in der Forschung bezieht. Aus der Perspektive des Biologen und Philosophen argumentiert er, dass die Forschung von Kunst und Wissenschaft im forschenden »Kontext der Entdeckung«90 nicht weit voneinander entfernt sind. Der Vorgang des Suchens nach etwas, von dem noch nicht gewusst wird, dass es existent ist, ist in beiden Disziplinen vorhanden.91 Akademische Forschung in der Kunst: Die Artistic Research Das Experiment in der Kunst lässt sich allerdings nicht als eine nach außen abgeschlossene Einheit betrachten, sondern es ist vielmehr ein Teil des Netzwerks, in dem sich künstlerische Forschung entfaltet und dementsprechend Teil der aktuellen Diskussion, die mit der Einführung des Bologna Prozesses an den Kunsthochschulen ihren Anfang nahm.92 Im Vorwort von Corina Caduffs und Tan Wälchlis Herausgeberschrift zu »Kunst und künstlerische Forschung« definieren beide Autoren Artistic Research als eine Kunstpraxis, die von einer konkreten Fragestellung ausgeht.93 Dieser wird mit einem eigenen methodischen Ansatz nachgegangen und unterscheidet sich sowohl von der wissenschaftlichen als auch von der künstlerischen Vorgehensweise.94
89 H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 77. 90 Auf die unterschiedlichen Kontexte der Forschung, nämlich den der Entdeckung und den der Rechtfertigung wird im Kapitel II.2.5. Experimentalsysteme in Wissenschaft und Kunst dieser Arbeit eingegangen. 91 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: »Nichtverstehen und Forschen«, in: Juerg Albrecht / Jörg Huber / Kornelia Imesch, u.a. (Hg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich 2005, S. 75-81, hier S. 78. Rheinberger beruft sich auf Ludwig Fleck und Gaston Bachelard. 92 Vgl. Caduff Corina / Wälchli, Tan, »Vorwort«, in: Corina Caduff / Fiona Siegenthaler / Tan Wälchli (Hg.), Kunst und Künstlerische Forschung, Zürich 2009, S. 12-23, hier S. 12. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd.
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Mit der Einführung des sogenannten Artistic Research als Forschungsperspektive an Kunsthochschulen deutet sich eine neue Orientierung der künstlerischen Arbeit an, die akademischen Ansprüchen genügen soll.95 Der Künstler ist unter diesen Bedingungen nicht nur befähigt einen wissenschaftlichen Abschluss als Bachelor oder Master zu absolvieren, sondern auch eine Promotion anzustreben. Dies ist ein Forschungsanspruch der künstlerischen Studienprogramme, der an den Hochschulen in den Niederlanden, Großbritannien und Skandinavien schon seit Beginn der 1990er Jahre etabliert ist und in Deutschland erst sehr viel später übernommen wurde.96 Artistic Research sieht vor, dass Künstlerinnen und Künstler innerhalb eines von der Hochschule vorgegebenen Themas in Form eines Projekts forschen, das sich von der naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Forschung insbesondere dadurch unterscheidet, dass sie verankert in der Kunst und unabhängig von der Methode der Naturwissenschaft ist. Dementsprechend können auch Mischformen aus Informationsrecherche, Empirie und künstlerischem Interesse an dem zu erforschenden Gegenstand entstehen, die das Ergebnis der Artistic Research bilden. Es wird über die Kunst eine ihr eigene Form der Forschung auf der Grundlage akademischer Vorgehensweisen an den Hochschulen entwickelt, die es dem Künstler möglich macht, den Grad des Doktors zu erreichen. Als Beispiel für die Artistic Research sind die Projekte von Prof. Florian Dombois an der Züricher Hochschule für Künste zu nennen. Im aktuel-
95 Zur Artistic Research existiert neben zahlreichen Aufsätzen auch zwei aktuelle Herausgeberschriften. Zum einen die von Michael Biggs und Henrik Karlsson mit dem Titel: »The Routledge Companion to Research in the Arts« (London 2011). Zum andren ein von Jens Badura, Selma Dubach, Anke Haarmann, et al. 2015 herausgegebener Überblick mit dem Titel: »Künstlerische Forschung. Ein Handbuch« (Zürich 2015) Des Weiteren ist die Artistic Research im Internet präsent mit Foren wie unter: IKF (Institut für künstlerische Forschung), http://www.artistic-research.de / Research Catalogue an international database for artistic research, https://www.researchcatalogue.net / JAR (Journal for Artistic Research, www.jar-online.net / EARN (European Artistic Research Network), www.artresearch.eu 96 Vgl. Holert, Tom: »Künstlerische Forschung: Anatomie einer Konjunktur«, in: Texte zur Kunst. ARTISTIC RESEARCH 82 (2011), S. 38-63.
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len Projekt Windkanal97 steht das Phänomen des Windes im Mittelpunkt der Betrachtungen. Diese Installation wird zum Untersuchungsgegenstand, der unterschiedliche Aspekte einbeziehen kann wie die Musikalität des Windes, die im Prozess der Forschung entsteht. Der immer größer werdenden Akzeptanz gegenüber der neu aufkommenden Studienrichtung Artistic Research von Seiten der entsprechenden Institutionen, die diese Fachrichtung im Curriculum verankert, steht die vehemente Kritik innerhalb des Diskurses gegenüber. So wurde in der Ausgabe der Zeitschrift »Texte zur Kunst«98 mit dem Titel »Artistic Research« eine durchweg kritische Meinung zur akademisierten Form dieser künstlerischen Forschung vertreten. Die Gegner dieses künstlerischen Forschungsbereichs sehen in ihr eine Verwissenschaftlichung der Künste, die einem ökonomischen Prinzip folgt.99 Ist erst einmal die Kunst als Wissenschaft deklariert, lässt man sie auch gleich zu einem Forschungsbereich werden, der ergebnisorientiert operiert im Sinne der Vorgabe durch die Hochschule, die gleichzeitig über die Themenstellung auch Erwartungen an die Kunst stellt. So sieht unter anderem auch Elke Bippus die Angleichung der künstlerischen Forschung an eine vermeintlich objektiv-positivistische Praxis der Wissenschaft sehr kritisch.100 Die Kunst folgt einer Ökonomie, die nicht nur zur Vorgehensweise einer Wissenschaft gehört, sondern auch die geisteswissenschaftliche Disziplin als eine akademische Leistung einschließt. Artistic Research bezeichnet dann nach Kathrin Busch eine Möglichkeit, die Kunst, die keine methodischen Vorgaben zulässt, als eine Disziplin zu regeln.101 Die Kritik an der Artistic Research ist demzufolge durchaus berechtigt, sofern sie eine künstlerische Forschung bezeichnet, die nicht aus der Kunst heraus entwickelt wird, sondern Forschungsinhalte an akademischen
97
Windkanal des FSP (Forschungsschwerpunkt) Transdisziplinarität | Logbuch zum Bau: Artistic Research Projekt der Züricher Hochschule der Künste, http://blog.zhdk.ch/windkanal/
98
Vgl. Texte zur Kunst. ARTISTIC RESEARCH 82 (2011).
99
Vgl. T. Holert: Künstlerische Forschung, S. 60.
100 Vgl. Bippus, Elke: »Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung«, in: Texte zur Kunst. ARTISTIC RESEARCH 82 (2011), S. 101-105, hier S. 104. 101 Vgl. Busch, Kathrin: »Wissensbildung in den Künsten«, in: Texte zur Kunst. ARTISTIC RESEARCH 82 (2011), S. 70-79, hier S. 70.
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Vorgaben zur Erlangung eines Bachelor-, Master- oder Doktorgrades regelt und definiert. Das Thema »Artistic Research« wird aus den skizzierten Gründen nur an dieser Stelle erwähnt, weil sie eine akademisierte Form der künstlerischen Forschung ist. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt indessen in der Analyse von Forschung in der Kunst mit künstlerischen und nicht mit akademischen Mitteln. Die Leistung der Artistic Research besteht trotz aller Kritik darin, dass die Kunst wieder als Forschung wahrgenommen wird und sich aus dieser Form der Akademisierung gleichzeitig auch neue Optionen des Umgangs, was Forschung in der Kunst ist, ergeben haben.102
102 In diesem Zusammenhang sind noch zwei weitere Bereiche der künstlerischen Forschung zu nennen, nämlich die Lecture Performance und die inszenierte Form der Forschung, die sich ebenfalls Artistic Research nennt. Die Lecture Performance (vgl. Lecture Performances, Ausst.-Kat., Kölnischer Kunstverein Köln 2009; Salon of the MoCA Belgrade 2010; Kuća legata (Heritage House) Belgrade 2010, hg. von Kathrin Jentjens, Berlin 2009) ist eine Aktion in Form eines Vortrags, der vom Künstler, also den Performer, gehalten wird. Dieses Referat beinhaltet eine Mischung aus wissenschaftlich basierten oder fiktiven Elementen, die vermischt in eine Form des Vortrags mit Präsentation vorgetragen wird (vgl. Wagner, Marianne: »Doing Lectures. Performative Lectures as a Framework for Artistic Action«, in: Lecture Performances, Ausst.-Kat., Kölnischer Kunstverein, Köln 2009; Salon of the MoCA Belgrade 2010; Kuća legata [Heritage House], Belgrade 2010, hg. von Kathrin Jentjens, Berlin 2009, S. 17-30). Ein weiterer Bereich der Aktionskunst ist die inszenierte Form der Forschung, die von einem Theaterkollektiv ausgeführt wird (vgl. IKF [Institut für künstlerische Forschung] in Berlin, http://www.artistic-research.de/). Ähnlich wie die Lecture Performance basiert diese Aktion auf einer Inszenierung einer Versuchssituation, die angelehnt ist an Inszenierungen im Bereich des Theaters, die dementsprechend auch mit narrativen Elementen durchsetzt ist. Diese äußern sich größtenteils in der Erzählung der Rahmenbedingungen der Laborsituation, in der das Theaterkollektiv agiert und in der Teilnehmer involviert sein können. Diese Form der Inszenierung eines Versuchs bleibt weiterhin dem Kunstkontext verhaftet, kann aber durchaus die Wissenschaft einbeziehen. In dieser Weise haben auch an dem Versuch AMAV (Aesthetic Modulation of affective Valence) sowohl Schaupieler als auch Wissenschaftler unter einer künstlerischen Leitung teilgenommen (vgl. Aesthetic Modulation of af-
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Die künstlerische Forschung Christoph Schenker sieht in der künstlerischen Forschung weniger eine Präsentation von Erfahrung oder Wissen verwirklicht im Sinne einer Aneignung von wissenschaftlicher Forschung, sondern nach ihm ist es eine Konstellation, die das Erlebnis und die Erfahrung erst möglich macht.103 Nicht das Ergebnis rückt seiner Ansicht nach in den Mittelpunkt der Betrachtungen, vielmehr ist es der Prozess, in dem sich das Konzept des Kunstwerks vollziehen kann. Das Experiment hat dementsprechend in der Kunst weder den Anspruch der Veranschaulichung von Phänomenen noch den des Beweises.104 Die Kunst dient seiner Meinung nach vielmehr der Erkundung, die für einen Suchvorgang steht. Diesem Ansatz folgend konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf die von der Kunst ausgehenden Annäherungen an die experimentellen Methoden der Wissenschaft. Es ist aus diesem Grund sinnvoll, auch Publikationen zu berücksichtigen, die das wissenschaftliche Experiment thematisieren. Dazu gehören die Abhandlungen von Michael Heidelberger und Friedrich Steinle, die bereits 1998 herausgegeben wurden, aber Grundlegendes zum Experiment in der Wissenschaft erfasst haben. Die Erkundung oder »Exploration« sind Begriffe, die auf Friedrich Steinles Forderung nach »explorative[n] Experimente[n]«105 basieren und als Vorgehen der Entdeckung des Neuen106 in der Wissenschaft dienen.107 Das explorative Experiment, dessen erzeugtes Phänomen nicht immer mit der eingangs gestellten Theorie im Vorfeld übereinstimmt, steht für überraschende, neue Phänomene, für die es zunächst keine Erklärung gibt.108 Die
fective Valence / Research Group at Cluster of Excellence Languages of Emotion in Zusammenarbeit mit der FU Berlin, Institut für künstlerische Forschung,
http://www.artistic-research.de/projects/current-projects/emolution/
amav?lang=en). 103 Vgl. C. Schenker: Einsicht und Intensivierung, S. 83. 104 Vgl. ebd. 105 Steinle, Friedrich: »Explorieren-Entdecken-Testen«, in: Spektrum der Wissenschaft, September (2008), S. 34-41, hier S. 36. 106 Vgl. ebd., S. 40. Das Neue zeigt sich in den Phänomenen, die über das Experiment initiiert worden sind. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. ebd., S. 34.
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Übertragung der Begriffe »Exploration« und »Erkundung« bieten sich ebenfalls für den Kontext der Kunst an, weil diese konträr zu einer eindeutigen Ergebnisorientierung der wissenschaftlichen Forschung stehen. »Exploration« oder »Erkundung« ist aus diesem Grund zu einem festen Bestandteil der Literatur zur Beschreibung künstlerischer Forschung geworden.109 Es zeigt sich zudem bei beiden hier vorgestellten Künstlern ein jahrelanges Forschen über den vorgestellten Versuch110 hinaus. So wurden bei Roman Signer die roten Ballons als Testobjekte unterschiedlichen Einflussgrößen ausgesetzt wie Zündung, Größe und so weiter. Bei Carsten Höller ist der Experience Corridor ein Teil einer Serie von weiteren Korridoren und Räumen, in denen die Wahrnehmung oder Erfahrung des Besuchers getestet wird, sobald dieser sich auf die Installation physisch einlässt.111 In diesen Experimenten werden die Ereignisse immer wieder unter den gleichbleibenden statischen Bedingungen der Installation wiederholt. Das gilt sowohl für Signer und den Ballon, der unter gleichen Bedingungen mit Draht und Rakete, aber mit unterschiedlichen Variationen wie Größe oder Füllung zur Explosion gebracht wurde als auch bei Höller, der alle Teilnehmenden in die gleichen Räume mit den gleichen Objekten schickt. In
109 Vgl. unter anderem bei C. Schenker: Einsicht und Intensivierung, S. 83, Rheinberger, Hans-Jörg: »Experimentelle Virtuosität«, in: Welsh, Caroline / Willer, Stefan (Hg.), Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 333-342, hier S. 331 und Boulboullée, Guido: »Experimentalsysteme in Kunst und Naturwissenschaft«, in: Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Ausst.-Kat., Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen 2007 hg. von Peter Friese / Guido Boulboullé / Susanne Witzgall, Heidelberg 2007, S. 67-82, hier S. 69. 110 In dieser Arbeit steht der Begriff des »Versuchs« für die Ausführung des Experiments im Sinne der Erkundung. 111 Als Beispiele sind hier zu nennen: Swinging Spiral 2010, Singing Curve 2009, Drehendes Hotelzimmer 2008, Shawinigan Swinging Room 2007, Shawinigan Corridor 2007, Swinging Corridor 2005, Trapezoid Swinging Room 2005, Distorted Swinging Room 2004, Swinging Room 2004, Hotel Room 2004, Choice Corridor 2003 (vgl. B.-B. Mak: Carsten Höller 2001-2010, Ostfildern 2010).
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diesen Aktionen werden die Ereignisse systematisch initiiert und wiederholt. Bruno Latour gibt schließlich mit der Feststellung, dass Forschen keine Domäne der Wissenschaft mehr ist, einen weiteren entscheidenden Impuls für die neuere Betrachtung zur Kunstforschung. In seiner Veröffentlichung »Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft«112 unterscheidet er zwischen Wissenschaft und Forschung.113 Letzteres sieht er als ein unabhängiges Vorgehen, das nicht nur in der Wissenschaft zu finden ist.114 Das Ergebnis ist, dass nicht nur in der Wissenschaft geforscht wird, sondern auch in der Kunst. In der Literatur zur künstlerischen Forschung, die schnell Schlagworte aus der Wissenschaft für die Aktionen Signers und Höllers gefunden hat, fällt auf, dass nicht unterschieden wird zwischen der Ästhetik des Experiments und der systematischen Vorgehensweise als Untersuchung im Experiment, die aber beide in den Aktionen eine Funktion haben.115 Aus diesem Grund wird im abschließenden Kapitel des zweiten Teils (Kapitel II.4.2.
112 Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2002. 113 Vgl. ebd., S. 31. 114 Eine Erkenntnis, die er als Referent und Autor in der Ausstellung Laboratorium bereits 1999 praktiziert hat. Er betont in seinem Aufsatz im Katalog, dass ein »Laboratorium« keine Abgeschlossenheit gegenüber einem Publikum bedeuten muss, sondern es einbezieht, weil seiner Ansicht nach auch ein großes Interesse an derartigen Forschungen vorhanden ist (vgl. Latour, Bruno: »The theatre of proof: A series of demonstraions«, in: Laboratorium, Ausst.-Kat., Provincial Museum of Photograpy Antwerpen 1999, hg. von Hans Ulrich Obrist / Barbara Vanderlinden, Köln 2001, S. 185-187, hier S. 185). Auch hier liegt der Fokus auf dem Ereignis, das für alle und nicht nur für einen Experten beobachtbar ist. Diese Ausstellung wird im Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung eingehender thematisiert werden. 115 Vgl. Nordmann, Alfred: »Experiment Zukunft – Die Künste im Zeitalter der Technowissenschaften«, in: Stefan Schöbi / Anton Rey (Hg.), Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven (SubTexte, 3), Zürich 2009, S. 8-22, hier S. 21 und vgl. E. Bippus: Kunst des Forschens, S.11. Die Definition der Forschung in der Kunst wird im Laufe der Arbeit vertieft und erweitert werden. An dieser Stelle ist allerdings die Feststellung grundlegend, dass hier der Vorgang einer Untersuchung gemeint ist, die einer Systematik erfolgt.
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Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst) das Experiment auf der einen Seite als Ereignisfeld im Sinne einer performativen Forschungshandlung des Künstlers, den teilnehmenden Besuchern (Partizipienten), beobachtenden Besuchern (Rezipienten)116 und den involvierten Objekten betrachtet. Auf der anderen Seite ist diese Forschung auch als eine Wissenschaftsaneignung, wie unter Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens zu betrachten. Hier wird die Ästhetik des Forschens, die, bezogen auf den Diskurs des »White Cube«117 als Laborraum bei Carsten Höller in der Literatur bereits thematisiert worden ist, einer vertiefenden Analyse unterzogen. Die Ästhetik des Forschens Das Experiment in der Kunst als ein ästhetisches Problem zu betrachten, lässt sich an einem Beispiel aus Martin Kippenbergers Werk veranschaulichen. Die Installation mit dem Titel Unwissenschaftlicher Ecktisch, Büro Kippenberger von 1994118 besteht aus einem Ecktisch und diversen Gegenständen in weißer Farbe, die darauf angeordnet sind. Der weiße Ausstellungsraum und der Titel bauen im Zusammenspiel eine Analogie zu einer Forschungsstätte beziehungsweise zu einem Laborraum auf, obwohl eben diese Konnotation im Titel verneint wird. Aufgrund der Tatsache, dass Kippenberger explizit auf die Nicht-Wissenschaftlichkeit seines ausgestell-
116 Es war immer von den physisch beteiligten Besuchern die Rede (Partizipienten), allerdings spielt auch der Rezipient an dieser Stelle eine wichtige Rolle im Experiment. Nach Marcel Duchamp, aber spätestens mit der Abhandlung Umberto Ecos »Das offene Kunstwerk«, wird der Betrachter als derjenige angenommen, der das Werk vervollständigt. Das Kunstwerk ist offen, weil es vom individuellen Standpunkt des Rezipienten aus interpretiert wird und dementsprechend eine Vielzahl an Auslegungen angenommen werden können. Der Rezipient erhält beim Experiment eine besondere Aufgabe, denn er ist derjenige, der interpretiert beziehungsweise auswertet. Siehe dazu das Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient in dem der Aspekt des Rezipienten als Auswertender des Experiments behandelt wird. 117 Der Begriff des »White Cubes« wird im Kapitel II.4.1.1. Der White Cube eingehender erläutert werden. 118 Martin Kippenberger: Unwissenschaftlicher Ecktisch, Büro Kippenberger 1994, Holz und Metall, 100 x 100 x 90 cm.
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ten Tisches eingeht, wird dieser mit der Wissenschaft zunächst automatisch assoziiert. Obwohl die Gegenstände lediglich weiß und auf einem Tisch ausgebreitet liegen, sind sie doch als Schema einer Wissenschaftlichkeit zu erkennen. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Assoziation als falsch, sind es doch Gegenstände, die hauptsächlich außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes entnommen worden sind. So befindet sich auf diesem Tisch ein Dreibeinstativ, Schraubenzieher und vieles mehr, die als Gegenstände lediglich über die Farbe Weiß und den Titel in ihrer Verbindung zur Wissenschaft lesbar sind. Es wird eine Ästhetik der Wissenschaft aufgebaut, obwohl in dieser Installation keine Verbindung zur Wissenschaft existiert. In ähnlicher Weise beschwört auch Höller die Vorstellung von Wissenschaftlichkeit in seinem Experience Corridor, der mehrere weiße physisch abgeschlossene Räumlichkeiten für die teilnehmenden Besucher zu Verfügung stellt. Hier wird die Anmutung eines Laborraums erzeugt, in dem Tests durchgeführt werden.119 Auf eine ähnliche Wirkung zielt die Aktion Signers, die ebenfalls an einen wissenschaftlichen Versuch denken lässt. Signer selbst dokumentiert seine Aktion Ballon mit Rakete von 1981 nahezu wissenschaftlich, indem er sowohl die Ausgangssituation, das heißt den statischen Versuchsaufbau inklusive Luftballon und Rakete, als auch das dadurch initiierte Ereignis als Ergebnis des Versuchs fotografiert hat. In den Aktionen von Höller und Signer sind Aneignungen von Wissenschaft in der Kunst über Symbole oder Räume erkennbar, die entsprechende Assoziationen überhaupt erst möglich machen.
119 Diese Feststellung der Abgeschlossenheit des Ausstellungsraums wird von Brian O’Doherty (vgl. O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the white Cube, hg. von Wolfgang Kemp, Berlin 1996, S. 9) kritisiert. Das Kunstwerk, das vom Leben räumlich ausgeschlossen wird, wird nach Reichle zu einer »Artefaktizität« (vgl. Reichle, Ingeborg: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience (phil. Diss. 2003) Berlin 2005, S. 189). Dies wird noch im Kapitel II. 4.1.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens näher erörtert werden.
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Ausstellungen als Forschungsräume Das künstlerische Experiment beziehungsweise die künstlerische Forschung kann nicht losgelöst von dem ihm umgebenden Raum betrachtet werden. Aus diesem Grund wird auf der einen Seite der physische Raum der Ausstellung in Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens thematisiert, aber auch die Produktion des Raums über die Handlung im Experiment im Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst.120 Dementsprechend scheint sich die als Experiment stattfindende Aktion vom physischen Raum zu emanzipieren, denn wie Bippus konstatiert, können Ausstellungen keine adäquaten Räume für künstlerische Forschung eröffnen.121 Diese könnten lediglich Objekte hervorbringen, aber keine Handlungen, die für die Forschung in der Kunst grundlegend ist. Der Ausstellungsraum wird eher als einengend empfunden, da die Forschungshandlung auch von dem sie umgebenden Raum abhängig ist.122 Dieser Annahme widerspricht die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev mit ihrem Konzept der documenta 13123 von 2012, der sie ganz der
120 Vgl. E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 12. Dieser Aspekt, dass künstlerische Forschung beziehungsweise das Experiment einen Raum über Handlung kreiert, wird im Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst behandelt. Hier werden die Komponenten, die für die Bildung des Raums im Experiment beteiligt sind, identifiziert (Partizipient, Rezipient und Künstler). 121 Vgl. ebd., S. 17. Auch diese Behauptung wird anhand der Raumsoziologie untersucht werden. Unter II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens werden insbesondere die Abhandlungen von Henri Lefebvre und Martina Löw zur Behandlung der Relation von Raum und Aktion und der Produktion des Raums hinzugezogen. 122 Der physisch geschlossene Raum spielt im Experiment als ästhetisches Moment eine große Rolle wie im Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens noch vertiefend aufgegriffen wird. Insbesondere die korrespondierende Sterilität des Ausstellungsraums zum Laborraum wird hier ein wichtiger Aspekt sein. 123 Vgl. documenta 13. Das Buch der Bücher, Ausst.-Kat. Kassel 2012, Ostfildern 2012.
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künstlerischen Forschung gewidmet hat.124 Sie verfolgte eine ganzheitliche Betrachtung der Welt im Kontext der Kunst, so dass unterschiedliche und auch außerhalb der Kunst stehende forschende Verfahren einbezogen wurden.125 Erst die Gesamtheit der Formen und Praktiken des Wissens, so ihre Annahme, können einen neuen Entwurf der Welt zeichnen.126 Sie stellt in dieser Weise nicht nur Wissen und Handlung oder Praktiken in einen Zusammenhang, sondern behauptet, dass Veränderungen in der Welt nicht in den historischen Verhältnissen, sondern in den Ereignissen, die jenen Moment prägen, verwirklicht sind.127 Das alles verändernde Ereignis, so Christov-Bakargiev, manifestiert sich in der Kunst.128 Die documenta 13 von 2012 unterscheidet dahingehend nicht mehr zwischen Kunst und Wissenschaft, aber auch nicht mehr zwischen Kunst und Leben.129 Im Zentrum dieses ganzheitlichen Ansatzes der Ausstellung stand die Generierung von Wissen mit allen zur Verfügung stehenden Erkenntnissen des Lebens.
124 Bereits 1999 wurde, wie bereits erwähnt, ein ähnliches Ausstellungsformat, das sich der Forschung verschrieben hatte, in Antwerpen unter der Leitung von Hans Ulrich Obrist und Barbara Vanderlinden mit dem Titel Laboratorium durchgeführt. Hier wurden Orte über ganz Antwerpen ausgewählt, an denen Forschungen der Kunst stattfinden sollten. Unter anderem hat auch Bruno Latour mit einem Vortrag daran teilgenommen. Dieses Konzept einer Ausstellung zur künstlerischen Forschung engt nicht ein, sondern bietet Möglichkeiten für unterschiedliche Formate der künstlerischen Forschung. Das Konzept dieser Ausstellung wird im Kapitel II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung: Experiment, Ereignis und Forschung noch einmal aufgegriffen werden. 125 Vgl. Christov-Bakargiev, Carolyn: »Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit«, in: documenta 13. Das Buch der Bücher, Ausst.-Kat., Kassel 2012, Ostfildern 2012, S. 30-47, hier S. 31. 126 Vgl. ebd. 127 Vgl. ebd. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. Everts, Lotte / Lang, Johannes / Lüthy, Michael / et al. (Hg.): Kunst und Wirklichkeit Heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld 2015.
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Das Ereignis Das Ereignis als Ergebnis des Experiments wird im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments zunächst im Sinne Alain Badious definiert werden als das, was unvorhersehbar ist, weil es in keinem Zusammenhang steht.130 Die Philosophie Badious und insbesondere sein Werk »Das Sein und das Ereignis«131 ist für dieses Thema von Relevanz, weil in seiner Ontologie eine Möglichkeit eröffnet wird, Wissenschaft und Kunst auf einer Ebene als Verfahren zu betrachten, mit denen gleichwertig Wissen und unter bestimmten Bedingungen Wahrheiten132 erzeugt werden können.133 Das System des Experiments macht nun eine künstliche Initiierung des Ereignisses möglich. Dementsprechend bietet das Experiment grundsätzlich Optionen, mehrere Ereignisse unter konstanten Bedingungen zu initiieren. Die künstliche Erzeugung von Phänomenen oder Ereignissen im Rahmen des Experiments, die sich in dieser Art und Weise sonst nicht ereignet hätten,134 wird nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im künstlerischen Experiment vollzogen.135 Das, was beobachtet oder auch erfahren
130 Vgl. Badiou, Alain / Tarby, Fabien: Die Philosophie und das Ereignis. Mit einer kurzen Einführung in die Philosophe Alain Badious, Wien/Berlin 2012 (frz. Originalausg.: Badiou, Alain: La philosophie et l’événement, entretiens, et Courte introduction à la philosophie d’Alain Badiou, Meaux 2010), S. 64. 131 Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis, Bd.1 (2 Bd.), Berlin 2005 (frz. Originalausgabe: Badiou, Alain: Letre et l’évenément, Bd.1 (2 Bd.), Paris 1988). 132 Auf diesen Punkt wie die Kunst nach Badiou Wahrheiten erzeugt, wird noch im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments einzugehen sein. 133 Weitere Verfahren, die ebenfalls Wahrheiten eröffnen können, sind für ihn die Politik und die Liebe (vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 383). 134 Vgl. Schwarte, Ludger: »Experimentelle Ästhetik. Arbeit an den Grenzen des Sinns«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 57/2 (2013), S. 185-196, hier S. 188. Ludger Schwarte nimmt mit dieser Definition des Experiments Gaston Bachelards Begriff der »Phänomenotechnik« auf. Die künstliche Erzeugung eines Phänomens ist nach Bachelard die Wissenschaft, die nicht beobachtet, sondern konstruiert (vgl. Kapitel II. 2. Das Experiment als Instrument). 135 Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 81. Heidelberger spricht von dem Experiment als ein Instrument mit dem Phäno-
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werden kann, ist das im Experiment künstlich initiierte Ereignis als Ergebnis in den Experimenten bei Carsten Höller und Roman Signer.136 An dieser Stelle wird auch ein von Elke Bippus beobachtetes Vorgehen in der Kunst in die Betrachtung des Ereignisses einbezogen werden, das der wissenschaftlichen Vorgehensweise ähnlich ist, nämlich das der Serialität.137 Dieses Prinzip steht für die Systematik als das ordnende Prinzip oder das Rationale, das dieses Ereignis zu binden sucht. Als Beispiel kann hier Carsten Höllers Experience Corridor angeführt werden, der Räume bereitgestellt hat, die für alle Teilnehmer konstant sind, aber in denen jeweils unterschiedliche Erfahrungen ausgeübt werden können. Die Kontingenz dagegen steht für das irrationale Prinzip und bezeichnet die Möglichkeit des Ereignisses, das sich einer Vorhersehbarkeit entzieht.138 Rationalität und Irrationalität gehen eine dialektische Beziehung ein, so dass die systematische Untersuchung mit dem Moment des Unvorhersehbaren verknüpft wird. Deutlich wird letzteres auch an dem vorgestellten Versuch von Roman Signer, der nicht in einem abgeschlossenen Raum, sondern in der freien Natur stattfindet. Diese Entscheidung zugunsten des offenen Raums im Gegensatz zur Geschlossenheit eines physischen Raums zeigt, dass auch die Einbeziehung des Zufalls in Form von klimatischen Einflussgrößen wie beispielsweise Wind, Schnee oder Regen durchaus als ein gestalterisches
mene erzeugt werden können, »[...] die sonst nicht im Bereich der menschlichen Erfahrung auftreten«. 136 Der Unterschied liegt in der Auslegung des Ereignisses. Während in der Wissenschaft die Auswertung beim Forscher liegt, der mit entsprechenden Fachwissen ausgestattet ist, an das ein Laie nicht ohne Weiteres herankommen kann, ist das Experiment als Prozess in der Kunst für alle zugänglich, die es rezipieren. Die Auswertung ist dementsprechend der Vorgang der Rezeption wie im Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient unter Anwendung von Ecos Theorie zu »Das offene Kunstwerk« eingehender untersucht werden wird. 137 Vgl. Bippus, Elke: Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art and Postminimalism, Berlin 2003, S. 64. 138 Im Zusammenhang mit dem Ereignis steht der Begriff der Kontingenz für den Bereich der möglichen Entfaltungen der Ereignisse (vgl. »Kontingenz«, in: Ritter, Joachim u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel / Stuttgart 1971-2007, Bd. 4, S. 1028).
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Element eingesetzt wird.139 Die Initiierung und die Bannung des Moments, der sich überraschend ereignen kann, erfolgt über das Experiment, das in dieser Arbeit auch als die sogenannte Ereignisfalle bezeichnet werden wird.140 Die Versuche von Roman Signer, Carsten Höller und Ursula Damm Im zweiten Teil dieser Arbeit folgen in Kapitel III Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung die Analysen der künstlerischen Beispiele von Roman Signer141, Carsten Höller142 und Ursula Damm143 , die auf je ei-
139 Roman Signer begrüßt das, was Unvorhersehbar ist und akzeptiert dies als sein Kunstwerk (vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 116). Er spricht von einem »Scheitern« (ebd.) und macht damit deutlich, dass dieses Ereignis nicht so geplant war, aber sich de facto so ereignet hat. Er akzeptiert das Ereignis wie auch im Kapitel III.1.2. Das Ereignis zwischen Zufall und Planung: Das Scheitern eines Versuchs weiter ausgeführt wird. 140 Vgl. Kapitel II.3.3. Die Ereignisfalle 141 Roman Signers Werk ist neben der Vielzahl an erschienen Artikeln und der Webseite auch durch den Katalog von Zimmermann sehr gut dokumentiert. Daneben sind noch weitere Publikationen zu nennen wie die von Rachel Withers: Roman Signer (2007), Paul Good: Roman Signer (2009) und Alexandra Barcal: Roman Signer (2010), die für die vorliegende Arbeit verwendet wurden. 142 Die Literatur zu Carsten Höller besteht ebenfalls aus einer Vielzahl an Artikeln, in denen er auch immer wieder mit Forschung, Wissenschaft und Experiment in Verbindung gebracht wird. Eine Auflistung seiner Werke ist zu finden im Katalog von Brigitte Mak, die allerdings nur die Kunstwerke auflistet, die zwischen 2001-2010 entstanden sind. Für weitere Informationen war der Webauftritt von Höller über seine Galerie Air de Paris eine sehr gute Quelle (http://www.airdeparis.com/artists/carsten-holler/). Hier werden Artikel, seine Biographie und auch Werke vor 2001 vorgestellt. 143 Die in dieser Arbeit verwendete Literatur zu Ursula Damm besteht größtenteils aus dem Katalog »Zeitraum« (vgl. Ursula Damm. Zeitraum [51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost], Ausst.-Kat., K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2005, Düsseldorf 2005) und der Webseite (vgl. Ursula Damm, http://ursuladamm.de/).
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gene Weise mit dem Experiment als Handlungsform, als Instrument, als Ereignis und als Konstituierung eines Forschungsraums verfahren. Die Positionen dieser Künstler und der Künstlerin stehen exemplarisch für Aktionen, die künstlerische Formen (Performancekunst, performative Installation, digitale Installation) als Untersuchungsmethoden einsetzen, die gleichermaßen eine Nähe zur Wissenschaft beinhalten. Carsten Höllers Nähe zur Wissenschaft resultiert hauptsächlich aus seiner Biografie. Bevor er sich der Kunst widmete, hatte er vormals eine Professur der Biologie inne, das heißt hier ist durchaus ein wissenschaftliches Vorgehen verinnerlicht worden, was sich in seiner Kunst widerspiegelt. In ähnlicher Weise ist dies auch bei Roman Signer festzustellen, der über Beobachtungen als Zeichner für Versuchsanlagen der schweizerischen Wasserwerke visuelle Eindrücke gesammelt hat, die ebenfalls in seine Arbeiten eingeflossen sind. Ursula Damm möchte nach eigenen Aussagen ein von ihr erkanntes Defizit144 in der Wissenschaft mit ihren Aktionen ausfüllen. Im zweiten Teil dieser Arbeit werden ebenfalls die spezifischen Methoden der Künstler über deren Wahl der Aktion und deren Forschungsinteresse berücksichtigt werden, um abschließend daraus Rückschlüsse auf das künstlerische Experiment generell ziehen zu können. In Anwendung der im ersten Teil der Arbeit definierten Begriffe – Experiment, Ereignis und Forschung – rücken die spezifischen Methoden der Künstler im zweiten Teil dieser Arbeit in den Fokus. So bildet in Roman Signers Gleichzeitig von 1999 die Dokumentation des Ereignisses den Schwerpunkt seines Forschungsinteresses, während bei Carsten Höller die Partizipation und gleichzeitige Kontrolle des Besuchers in seinen Installationen zum Untersu-
144 Vgl. Ursula Damm, Origin Symposium III, Vortrag anlässlich der Ars Electronica 2011, http://www.youtube.com/watch?v=V2X9jtB9jfA vom 3.09.2011. Ursula Damm möchte sich auf Fragestellungen in ihren Aktionen beziehen, die von der Wissenschaft nicht behandelt werden. Im Kapitel III.3. Ursula Damms Versuchsumgebung Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost / 51° 13.66 north, 6° 46.523 east) 2005 wird die Künstlerin die Frage stellen wie ein urbaner Platz mit Menschen, die sich dort bewegen und verweilen, denkt. Eine Fragestellung, die im wissenschaftlichen Wertesystem keinen Raum finden würde, weil hier angenommen wird, dass ein Objekt nicht denken kann. Sie sieht dies als Defizit an und folgt ganz der Idee der Romantik, dass die Wissenschaft durch die Kunst zu ergänzen ist.
44 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
chungsgegenstand wird und Ursula Damm die Forschung am Modell gleich einem Ergebnis einer empirischen Studie behandelt. Diese Versuchsanordnungen zielen nicht auf ein mimetisches Verhältnis zur Wirklichkeit,145 sondern sie versuchen, das Neue146 über die systematische Initiierung nicht nur von Phänomenen als visuelle Erscheinungen, sondern über die Ereignisse, die unerwartet sind, selbst zu erschließen.147 Diese Verhältnisbestimmung wird Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung sein.
145 Vgl. C. Schenker: Einsicht und Intensivierung, S. 79-89. 146 Nach Rheinberger ist sowohl der Wissenschaftler als auch der Künstler auf der Suche nach dem Neuen (vgl. H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, S. 83). Das Neue steht nach Badiou für eine Leerstelle, die sich erst im Ereignis manifestiert beziehungsweis sichtbar wird (vgl. A Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 70) In dieser Festlegung ist das Ereignis überraschend, weil es neu und noch nicht gedacht ist. Dieser Aspekt wird im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments aufgegriffen und vertieft werden, da es sich paradigmatisch durch die künstlerische Forschung zieht und zum zentralen Begriff geworden ist. 147 Vgl. Kapitel II.3. Das Ereignis als das Ergebnis des Experiments und Kapitel II.3.1. Der Mechanismus der Unvorhersehbarkeit im Experimentellen.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung Experiment, Ereignis und Forschung
Im Sommer 1999 fand in Antwerpen die Ausstellung Laboratorium statt, in der sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Forschungen an Orten wie Museen, Galerien, aber auch wissenschaftliche Labore einbezogen wurden.1 Hier nahmen unter anderem Wissenschaftler wie Bruno Latour2 und Künstler wie Carsten Höller3 teil, die sich mit dem Thema »Laboratorium«4 als eine Forschungsstätte in Kunst und Wissenschaft auseinanderge-
1
Vgl. Laboratorium, Ausst.-Kat., Provincial Museum of Photograpy Antwerpen 1999, hg. von Hans Ulrich Obrist / Barbara Vanderlinden, Köln 2001.
2
Bruno Latour hielt im Rahmen dieser Ausstellung eine Vortragsreihe mit dem Titel: The theatre of proof am Prince Leopold Institute of Tropical Medicine und der Universität Artesis Plantijn (vgl. B. Latour: The theatre of proof, S. 185187).
3
Carsten Höller nahm mit der Aktion Das Taxi des Zweifels / Laboratory of doubt 1999 teil, die in diesem Kapitel noch eingehender erläutert werden wird.
4
Auf den Begriff des Labors wird noch im Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens eingegangen werden. »Laboratorium« steht im Zusammenhang dieser Ausstellung allgemein für Orte, an denen geforscht wird. Das bedeutet, dass das »Laboratorium« nicht nur für einen Forschungsort, sondern für mehrere steht.
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setzt haben.5 Orte wie das Provincial Museum voor Fotografie, aber auch private Einrichtungen wie Offices Antwerpen Open, an denen Forschung stattfinden kann, werden unter dem Begriff des Laboratoriums zusammengefasst.6 Die Ausstellungsmacher Hans Ulrich Obrist und Barbara Vanderlinden beabsichtigten mit dieser Form der Präsentation ein Forschungsvorgehen, das interdisziplinär ist und den zwei Leitfragen nachgehen sollte: Was ist ein Laboratorium? Und: Was ist ein Experiment? Der Titel der Ausstellung Laboratorium steht für die Orte der Forschungen und bezeichnet gleichzeitig auch die Dynamisierung des Ausstellungsraums über seine räumlichen Grenzen hinaus.7 Die Gesamtheit der in diesem Zusammenhang durchgeführten Aktionen ist nach Meinung von Obrist und Vanderlinden die Antwort auf die im Rahmen der Ausstellung aufgeworfenen zwei Leitfragen.8 Die Aktionen, die interdisziplinär angelegt und über die Stadt verteilt sind, eröffnen insgesamt die Möglichkeit, im Kontext der Kunst Forschung zu betreiben, die Gegenstand dieser Untersuchung ist. Experimente in der Kunst Der Besucher wird bewusst oder unbewusst an einer Vielzahl von Experimenten einbezogen. Prozesse werden ihm offengelegt oder er wird aufgefordert, an ihnen teilzunehmen. Die folgende Übersicht an Beispielen lässt das große Spektrum an Experimenten in der Kunst erahnen. Carsten Höller hat im Zusammenhang mit der Ausstellung Laboratorium eine Aktion mit dem Titel Das Taxi des Zweifels / Laboratory of doubt initiiert: ein Mercedes fuhr dafür, ausgestattet mit einem Lautsprecher, durch Antwerpen. Immer wieder wurde in drei Sprachen das Wort Zweifel
5
Vgl. Obrist, Ulrich / Vanderlinden, Barbara: »Laboratorium«, in: Laboratorium, Ausst.-Kat., Provincial Museum of Photograpy Antwerpen 1999, hg. von Hans Ulrich Obrist / Barbara Vanderlinden, Köln 2001, S. 18.
6
Vgl. ebd., S. 19.
7
Vgl. ebd. Vanderlinden und Obrist beziehen sich mit ihrer Bezeichnung des dynamischen Zentrums für ein Museum auf Alexander Dorners Publikation von 1958 mit dem Titel: »The Living Museum: Experiences of an Art Historian and Museum Director« (New York 1958).
8
Vgl. U. Obrist / B. Vanderlinden: Laboratorium, S. 18.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 47
über die Lautsprecher ausgerufen.9 Die Passanten konnten sich dieser Aktion, die mit der akustischen Parole ein Irritationsmoment aufbauen sollte, kaum entziehen. Die Teilnehmenden werden nicht darüber informiert, dass ein Experiment an ihnen durchgeführt wird, sondern sie sind zufällig einbezogen geworden. Das künstlerische Experiment lässt die Grenzen von Kunst und Alltag fließend ineinander übergehen, so dass Ludger Schwarte darin »[...] ein viele gesellschaftliche Bereiche durchdringendes Muster performativer Prozesse«10 verwirklicht sieht. Er setzt das Experiment in der Kunst als Gegenpol zum wissenschaftlichen Experiment, das er als einen »hochprofessionalisierte[n] Spezialfall von Erkenntnisgewinn«11 definiert. Das künstlerische Experiment, das vom Künstler initiiert wird, ermöglicht die Einbeziehung eines Publikums, das seiner Forschung ausgesetzt wird. Das Experiment bezeichnet eine Art Spielraum, an dem eine Handlung vollzogen wird. Roman Signer sieht in seiner Aktion Ballon mit Rakete die Verwirklichung eines »spontanen Experiments«12, weil die Durchführung während einer Wanderung in der St. Gallener Umgebung für ihn intuitiv erfolgte. Er hatte lediglich die Dinge, die er für das Experiment benötigte, mitgenommen, so dass er mit der Kamera die Aktion dokumentieren konnte.13 Ursula Damm bezieht in ihrer Installation Zeitraum von 200514 Passanten zunächst ohne deren Wissen außerhalb des Museums in eine Video-
9
Das Taxi hatte drei Aufschriften: »The Laboratory of Doubt«, »Het laboratorium van de twfjfel«, »Le laboratoire du doute.« Dementsprechend sind die drei Ausrufe über die Taxilautsprecher: »Zweifel« in eben diesen Sprachen erfolgt. (vgl. Morgan, Jessica: »Der wahre Carsten Höller soll bitte aufstehen!«, in: Parkett 77 (2006), S. 33-37, hier S. 22).
10 Schwarte, Ludger: »Experiment und Ereignis. Zum Spielraum möglicher Handlung unter der Bedingung des Naturgesetzes«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, H. 2 (2003), S. 105-124, hier S. 107. 11 Ebd. 12 R. Withers 2007, S. 56. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Kapitel III.3. Ursula Damms Versuchsumgebung Zeitraum / Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost / 51° 13.66 north, 6°46.523 east), 2005.
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tracking-Umgebung ein.15 Dass die Menschen auf einem vielbesuchten Platz der Stadt Teil eines Versuchs waren, wird ihnen erst als Ergebnis anhand einer Visualisierung oder einer Projektion zeitlich versetzt, eröffnet. In diesem Zusammenhang kann auch das Karussell von Carsten Höller als Experiment bezeichnet werden, das anlässlich der Biennale in Venedig 2015 auf dem Giardini-Gelände aufgestellt war.16 Das Karussell sieht wie ein klassisches Fahrgerät aus, das sich auf einem Kirmesgelände befindet, und nicht, wie eine experimentelle Konstellation es erwarten lässt, funktional gestaltet. Inmitten des Parks erhält jeder Teilnehmer das einladende Gefühl, hier mitfahren zu können. Erst über die betont langsame Fahrgeschwindigkeit kann man als Fahrgast erahnen, dass es hier nicht um den reinen Unterhaltungswert geht, wie es sonst bei den Karussellfahrten üblich ist, sondern um eine andere Erfahrung. Anhand dieser künstlerischen Beispiele wird bereits das von Ludger Schwarte beobachtete grenzenlose Ineinandergreifen der Experimente der Kunst in die Alltagswelt deutlich.17 Das Experiment als künstlerischer Forschungsprozess Um sich den künstlerischen Experimenten in dieser Vielfalt nähern zu können, wird es zunächst im folgenden Kapitel notwendig sein, der Frage nachzugehen, welche Handlung im künstlerischen Experiment vollzogen wird. Dabei ist zu berücksichtigen, wer an dem Experiment beteiligt ist. In der Aktion von Roman Signer Ballon mit Rakete, 1981 bezieht sich dieser selbst als initiierendes Moment ein. Carsten Höller tritt in seiner Installation Experience Corridor nicht selbst in Erscheinung, sondern lässt den Ausstellungsbesucher, beziehungsweise den Passanten an der Aktion partizipieren. In diesem Zusammenhang stellt sich im Hinblick auf das Experiment eben-
15 Ursula Damm, Zeitraum / Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost / 51° 13.66 north, 6°46.523 east), 2005 (vgl. Ursula Damm, Webseite der Künstlerin, http://ursuladamm.de/) 16 Carsten Höller: Karussell 2015, Installation im Giardini Gelände. Carsten Höller hat mehrere Fahrgeräte mit dem Titel Karussell ausgestellt, wobei die nachfolgende Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat: Karussell 2015, Golden Mirror Carousel 2014, Dancefloor Carousel 2008, Carousel Mirror 2006, Mirror Caorusel 2005 (vgl. B.-B. Mak: Carsten Höller 2001-2010). 17 Vgl. L. Schwarte: Experiment und Ereignis, S. 107
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 49
falls die Frage, welche Rolle die Rezipienten beziehungsweise die Teilnehmenden, aber auch die Künstler im Forschungsprozess einnehmen.18 Im folgenden Kapitel wird zunächst die Handlung des Experiments beziehungsweise das, was sie auszeichnet, definiert werden. Daran anschließend soll die Akteur-Netzwerk-Theorie als ein Ansatz aus der Soziologie für die Erläuterung des Experiments im Kontext der künstlerischen Forschung vorgestellt werden. In den darauf folgenden drei Kapiteln wird das Experiment als eine Konstellation dargestellt, die Ereignisse im Kontext der künstlerischen Forschung erzeugt: das Experiment als Instrument, als Technik zur Erzeugung von Ereignissen und als Konstituierung eines Ereignisfeldes.
1.
DAS EXPERIMENT ALS HANDLUNG
Die künstlerische Forschung wird in der Literatur größtenteils als eine Handlung verstanden, die zwischen den Subjekten stattfindet, wie beispielsweise bei Nicholas Bourriaud (Bourriaud 2008), Claire Bishop (Bishop 2012) und Elke Bippus (Bippus 2009). Das liegt zunächst in der Tatsache begründet, dass der Einbeziehung des Rezipienten als Lenkungsund Entscheidungsfaktor im Experiment eine entscheidende Rolle zugeschrieben wird. Elke Bippus spricht aus diesem Grund von einem »Kommunikationsangebot«19, das in der künstlerischen Forschung gemacht wird, sobald der Besucher im Experiment einbezogen ist.20 Auch Elisabeth Fritz bezeichnet diese Form von Einbeziehung der Teilnehmer in die Aktion als »kollektive Autorschaft«21 und impliziert damit eine soziale Gemeinschaft.22 Sie bezieht sich dabei insbesondere auf das Partizipationskonzept
18 Im Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst werden der Forscher in Kunst und Wissenschaft, der Rezipient und der Partizipient im Hinblick auf deren Forschungsbeteiligung behandelt. 19 E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 12 20 Vgl. ebd. 21 E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 86. 22 Vergleiche hierzu auch das Latoursche »Kollektiv« (vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 129), auf das im Zusammenhang mit
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von Nicholas Bourriaud, auf das in dieser Arbeit im Kapitel II. 4.2.4. Der Partizipient zum Thema Partizipation noch näher eingegangen werden wird. Elke Bippus sieht in der künstlerischen Forschung dementsprechend keine Hierarchie, wie in der wissenschaftlichen Forschung, verwirklicht. In der Wissenschaft ist ein sogenannter Laie23 als Beobachtungs- oder Einflussgröße im Forschungsprozess nicht vorgesehen. Die Wissenschaft sieht in ihm vielmehr eine Person, der es an Fachkompetenz mangelt und deshalb nicht ohne Vermittlung einbezogen werden kann.24 Dem Laien wird die Forschung lediglich über Ergebnisse anhand vermittelnder ExpertInnen zugänglich gemacht, die allerdings den abgeschlossenen Forschungsprozess bereits dokumentiert und bewertet haben.25 Indem aber alle Besucher im Museum, das heißt im Kontext der Kunst, die Möglichkeit besitzen, am künstlerischen Experiment teilzunehmen oder den Prozess zu beobachten, kommt Theo Steiner zu der Folgerung, dass mit der künstlerischen Forschung eine Forderung nach der Demokratisierung des Wissens einsetzt.26
der Akteur-Netzwerk-Theorie im Laufe dieses Kapitels noch eingegangen werden wird. 23 Der Laie steht für diejenigen Personen, die nicht im wissenschaftlichen Betrieb und insbesondere am Prozess des Experiments involviert ist. 24 Dieses Bedürfnis, die Wissenschaft zu enthierarchisieren, entspricht dem gesellschaftlichen Phänomen der »Citizen Science« (vgl. Fraunhofer ISI [Hg.]: Ergebnisdokumentation BMBF‐Foresight‐Workshop. Identifikation von Innovationskernen, Berlin, 17. und 18. Februar 2014, Karlsruhe 2014. Unveröffentlichte Dokumentation, S. 22-24.) Insbesondere der Innovationskern zum Thema Wissenschaft für eine plurale Wissensgesellschaft schneidet die Tendenz einer Parallelführung von Forschungen zur Wissenschaft in der zivilen Gesellschaft an, die für eine Forschung in der Bevölkerung steht, die nicht mit Fachwissen der Wissenschaft ausgestattet ist, sich aber dennoch wissenschaftlichen Fragen, oftmals als Grundlagenforschung, widmet. Hier erfolgt die Einbeziehung der Bevölkerung ohne Fachwissen in die Forschung, die auch zu interessanten Standpunkten und Ergebnissen führen kann (vgl. Citizen Science Germany. Bürger forschen mit, http://www.citizen-science-germany.de). 25 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 62. 26 Vgl. ebd., S. 63. Steiner bezieht sich auf Philip Kitchers Publikation »Science, Truth, and Democracy« (Oxford / New York 2001, S. 85-198.). Kitchers These
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Der Künstler und der Forscher, der sowohl Künstler als auch Rezipient und Teilnehmender sein kann,27 stehen dann auf einer Stufe, denn beide forschen mit den gleichen Voraussetzungen im Sinne eines »vorwissenschaftlichen Wissens«28, das vom Alltag geprägt ist, in der Aktion. Dieses Wissensgefälle ist im künstlerischen Experiment aufgehoben, und stellt eine grundlegende Voraussetzung für das künstlerische Experiment in der künstlerischen Forschung dar. Der Künstler macht auf diese Weise die Prozesse der Forschung für alle transparent. Dem teilnehmenden Besucher, der Laie ist, bietet sich nach Elke Bippus nun die Möglichkeit, die aus dem Experiment gewonnenen Erfahrungen oder auch Erkenntnisse ebenfalls mit anderen Teilnehmenden auszutauschen.29 Der Künstler macht daher mit seinem Experiment ein Angebot, das zu einer Kommunikation zwischen den Teilnehmenden führen kann. Die vielzähligen Teilnehmer werden von Bippus als eine temporäre Gemeinschaft angesehen, die miteinander kommunizieren. Mit ihrem Begriff des »Kommunikationsangebotes«30 bezieht sich Elke Bippus auf die Forderung Jacques Derridas in seiner Rede mit dem Titel:
lautet, dass die Wissenschaft in ihrer Suche nach der Wahrheit von demokratischen Prinzipien geleitet werden sollte. 27 Die Funktionen des Künstlers, des Rezipienten und des Teilnehmenden beziehungsweise des Partizipienten wird im Kapitel II.4.1. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst eingehender erläutert werden. In diesem Kapitel wird auch die Frage nach dem Forschenden aufgegriffen werden, der entweder der Rezipient, der Partizipient, aber auch der Künstler sein kann. 28 Rheinberger, Hans-Jörg: Gaston Bachelard und der Begriff der »Phänomenotechnik«, in: Schalenberg, Marc / Walther, Peter Th. (Hg.), »... immer im Forschen bleiben«. Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2004, S. 297-309, hier S. 298. Die Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Wissen und einem auf der Unmittelbarkeit der Alltagserfahrung fundierendem Wissen wurde nach Rheinberger in der Rezeption dem Wissenschaftsphilosophen Gaston Bachelard in den 1970er Jahren vorgeworfen und dieser entsprechend missverstanden (ebd.). Dieser »epistemologische Bruch« (ebd., S. 297) zwischen diesen sogenannten »Wissenskulturen« ist nach Latour, wie Rheinberger feststellt, obsolet geworden. Aus diesem Grund muss auch das Werk von Gaston Bachelard nach Rheinberger einer neuen Bewertung unterzogen werden. 29 Vgl. E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 12. 30 Ebd.
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»Die unbedingte Universität«31. Dieser Text stellte eine Fürsprache für die Geisteswissenschaften, die unter einem stetig wachsenden Legitimationsdruck im Hinblick auf deren scheinbar fehlenden ökonomischen Aspekte für die Gesellschaft stehen. Derrida machte in seinem Vortrag auf den andersartigen, aber nicht weniger relevanten Wissenserwerb dieser Disziplin aufmerksam. Gemäß Derrida vertritt Bippus den Wissenserwerb in der künstlerischen Forschung über Handlung. Dieser setzt sich von der Wissenschaft ab, weil in diesem Rahmen »Ungeklärtes«32 akzeptiert werden kann und Diskurse entstehen können.33 Betrachtet man dazu allerdings die Aktion von Carsten Höller wie Experience Corridor von 2005, so trifft diese von Elke Bippus und Elisabeth Fritz skizzierte soziale Interaktion34 nicht den Kern dieser Aktion. In der Konstellation von Höller kann zwar Kommunikation zwischen den Beteiligten des Experiments erfolgen, sie werden allerdings nicht im Rahmen dieser Aktion explizit dazu aufgefordert. Diese Form des sozialen Austauschs ist keine Voraussetzung für die Durchführung des Experiments, sondern sie ist lediglich eine Option, die nach dem Prozess einsetzen kann. Im Beispiel von Carsten Höllers Experimenten sind die einzelnen Räume sogar so aufgebaut, dass jeder Beteiligte für sich in diesem Raum ausschließlich seine persönlichen Erfahrungen machen kann. Kopfhörer, Einbindungen in Apparaturen (wie beispielsweise die Simulation eines Aufzugs) und anderweitige Anordnungen betonen die rein auf das Individuum ausgerichtete Erfahrungsgestaltung, in der die Kommunikation mit anderen Erfahrenden eine untergeordnete Rolle spielt. Das bedeutet, dass eine Betrachtung des künstlerischen Experiments aus der Perspektive der Soziologie, die sich ausschließlich dem sozialen Verhalten zwischen den Subjekten widmet, sich im Kontext des künstlerischen Experiments nicht eignet. In den Experimenten von Carsten Höller und Roman Signer kom-
31 Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt a. M. 2001 (frz. Originalausgabe: L’ université sans condition, Paris 2001). 32 E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 14. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 112 f. Bruno Latour beschreibt die zwischenmenschliche Kommunikation als eine »soziale Interaktion« oder als eine »face-to-face-Beziehung«.
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munizieren die Rezipienten nicht miteinander, sondern hier erfolgt vielmehr eine Handlung mit den zur Verfügung gestellten Objekten. Die Akteur-Netzwerk-Theorie Das Experiment in der Kunst darf daher nicht allgemein als eine Möglichkeit der sozialen Interaktion, das heißt, als eine »face-to-face-Interaktion«35 zwischen den Subjekten betrachtet werden. Vielmehr muss das künstlerische Experiment nach der Akteur-Netzwerk-Theorie als ein Handlungsnetzwerk betrachtet werden, in dem sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Akteure berücksichtigt sind.36 Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist dementsprechend ein Ansatz, der die binäre Zuschreibung von Subjekten, den menschlichen Akteuren, und Objekten, den nicht-menschlichen Akteuren, aufhebt.37 Diese Theorie aus der Soziologie oder der Science and Technology Studies dient dazu, die Handlung nicht mehr als einen ausschließlich reziproken Austausch zwischen den Subjekten festzulegen, sondern als einen Vorgang, der sich vielmehr mit Subjekten und Objekten ereignet. Seit Mitte der 1980er Jahre wird die Akteur-Netzwerk-Theorie unter anderem von Bruno Latour, Michel Callon und John Law weiterentwikkelt.38 Die Grundlage dieser Theorie ist der Gedanke, dass unsere Lebensumwelt aus »Kollektiven« aufgebaut ist.39 Latour spricht von einem »Kollektiv« menschlicher und nicht-menschlicher Akteure, die Handlungen erzeugen.40 Es sind Netzwerke, die aus Artefakten, Dingen, Menschen, Zeichen und Symbolen bestehen können, die als Einheit oder »Kollektiv« miteinander verbunden sind. Diese Netzwerke entstehen aus Handlungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, die während des
35 B. Latour : Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 114. 36 Vgl. ebd., S. 130 37 Vgl. ebd. 38 In dieser Untersuchung wird sich zur Erläuterung der Akteur-Netzwerk-Theorie auf die Publikation von Bruno Latour »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie« (Frankfurt a.M. 2007) gestützt. 39 Vgl. B. Latour : Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 129. 40 Vgl. ebd.
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Prozesses bestimmte Funktionen oder Rollen übernehmen.41 Dieser Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von der klassischen Soziologie, in deren Mittelpunkt die Handlung steht, die ausschließlich von den Subjekten beziehungsweise den Akteuren ausgeht.42 Latour stellt sich damit, wie Andrea Belliger und David Krieger festgestellt haben, gegen die grundlegende Annahme der Systemtheorie, die von sozialen Systemen ausgeht, in denen Personen kommunizieren.43 Die Systemtheorie ist, wie beide zu Recht feststellen, in diesem Zusammenhang irreführend, denn die Personen oder Subjekte sind nicht die Ursachen von Kommunikation, sondern stellen vielmehr die Wirkung der Handlung als ein sichtbares Ergebnis dar.44 Latour spricht aus diesem Grund auch nicht nur von den Akteuren, die sowohl menschlich als auch nicht-menschlich sein könnten, sondern von sogenannten »Aktanten«.45 Mit ihnen wird eine Handlung bezeichnet, die sowohl vom Menschen als auch von einem Nicht-Menschen ausgeht. Als Beispiel nennt Latour unter anderem die Handlungseinheit zwischen Pistole und Menschen.46 Das gemeinsame Wirken zwischen Mensch und Pistole lässt sich weder auf das Subjekt des Menschen noch auf das Objekt der Pistole reduzieren. Nach Latour ist erst die Verbindung von Pistole und Mensch der sogenannte »Aktant«.47 Die Pistole als ein sogenanntes »Quasi-
41 Vgl. ebd., S. 130. 42 Vgl. ebd., S. 80. Latour kritisiert den intentionalen Handlungsbegriff der Soziologie, der von den Subjekten ausgeht. 43 Vgl. Belliger, Andréa / Krieger, David J.: »Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie«, in: Belliger, Andréa / Krieger, David J. (Hg.), ANThology: ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 13-50, hier S. 36. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 95 ff. 46 Vgl. Latour, Bruno: »Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie«, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.), ANThology: ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 103-134, hier S. 485. 47 Vgl. ebd.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 55
Objekt«48 verbindet die Entitäten eines Netzwerks wie in diesem Beispiel die Menschen als diejenigen, die das Objekt bedienen.49 Hier tritt ein bemerkenswerter Aspekt zu Tage, nämlich, dass Kunstwerke in der Spätmoderne niemals nur Repräsentationen sein können, sondern ebenfalls als sogenannte »Quasi-Objekte« immer eine Vermittlung oder Kommunikation beinhalten. Dies entspricht auch dem Vorgang des Verstehens nach Umberto Eco. Der Aspekt, dass das Kunstwerk nicht mehr ausschließlich repräsentiert, sondern mit dem Rezipienten eine kommunikative Beziehung eingeht,50 wird noch im Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient wieder aufgenommen und vertieft werden. Für unseren Zusammenhang ist noch der von Latour verwendete Begriff der »Inskription«51 von Relevanz. Hierfür bieten Belliger und Krieger ein einprägsames Beispiel der Verkehrsampel.52 Übernimmt die Verkehrsampel die Rolle eines Polizisten, dann wird ein bestimmtes Verhalten und Wissen in ihr eingeschrieben wie ein Skript, nach dem die Handlung ausgerichtet ist. Aufgrund dieser »Inskriptionen« entstehen wiederum »Präskriptionen«53 für weitere Akteure, die nun wissen, dass die Farbe Rot stehen bleiben und Grün weitergehen bedeutet.54 »Inskriptionen« und »Präskriptionen« können wiederum durch »Deskription«55 auch zu einer Abhandlung in Form eines Textes werden.
48 Bruno Latour bezieht sich mit dem Begriff des »Quasi-Objektes« auf die in der Publikation von Michel Serres verwendete gleichnamige Bezeichnung (Vgl. Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt a. M. 1987, S. 344 ff.). 49 An dieser Stelle wird auf eine eingehendere Differenzierung der sogenannten »Quasi-Objekte« verzichtet, da dies zur Beschreibung des zu untersuchenden Handlungsnetzwerkes in der Kunst nicht weiterführend ist. Bruno Latour unterscheidet noch zwischen »Mittler« und »Zwischenglieder« (s. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 70 f.). 50 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 15. 51 Latour, Bruno: Science in Action. How to follow scientists and engineers through society, Milton Keynes 1987, S. 68. Latour spricht in diesem Zusammenhang auch von »inscription device«. 52 Vgl. A. Belliger / D.J. Krieger: ANThology, S. 45. 53 B. Latour: Science in Action, S. 68. 54 Vgl. A. Belliger / D.J. Krieger: ANThology, S. 45. 55 Vgl. B. Latour: Science in Action, S. 68.
56 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Die von Latour bezeichnete »Inskription« ist für die Betrachtung von künstlerischen Experimenten wie Carsten Höllers Experience Corridor interessant, der Räume mit nicht-menschlichen Akteuren bereitstellt, die von ihm inskribiert sind, um »Präskriptionen« für menschliche Akteure zu sein. Auf diesen Aspekt wird noch bei Carsten Höller im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle einzugehen sein.56 Die binäre Trennung zwischen Subjekt und Objekt, beziehungsweise menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ist dementsprechend nicht mehr haltbar und ist entsprechend aufgehoben. Die Aufhebung von Subjekt und Objekt im Experiment Erika Fischer-Lichte ist für die Performancekunst in ihrer Publikation »Die Ästhetik des Performativen« zu einem ähnlichen Schluss gekommen, auch wenn sie grundsätzlich von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt in der Performance ausgeht, die im performativen Akt sich gegenseitig bedingen. Was die Autorin allgemein für die Performance herausgestellt hat, erfolgt auch im künstlerischen Experiment, nämlich die Auflösung der Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der Handlung.57 Auch hier ist das agierende Subjekt eng verbunden mit den Objekten, die innerhalb der Aktion eine Funktion besitzen. Die Objekte beziehen in diesem Kontext ihre Bedeutung nicht über eine bereits im Vorfeld zugeschriebene aufgeladene Symbolik, sondern sie erhalten ihre Bedeutung über die sich vollziehende Handlung, die an ihnen vorgenommen wird.58 Für die wissenschaftliche Forschung sieht Olaf Breidbach ebenfalls die Aufweichung der Grenzen zwischen Forschern und den sogenannten Appa-
56 In diesem Zusammenhang wird auch unter Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst die Frage zu stellen sein, wer mit dem künstlerischen Experiment forscht? Ist es der Teilnehmende Partizipient, der Rezipient oder der Künstler? 57 Vgl. E. FischerLichte: Ästhetik des Performativen, S. 20. 58 Die »Ästhetik des Performativen« von Erika Fischer-Lichte basiert auf der Tatsache, dass die Bedeutung des Objekts sich erst in der Aktion generiert. Das Objekt ist nicht vom Subjekt, das in Aktion tritt, zu trennen. (vgl. E. FischerLichte: Ästhetik des Performativen, S. 19).
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 57
raturen des Experiments vollzogen.59 Die Apparatur spiegelt dann immer das Subjekt des Forschers wider, der diese auch konstruiert hat. Diese Feststellung hat für die Wissenschaft und deren Forderung nach Objektivität60 Folgen: Ist doch die Technik, die im Experiment einbezogen wird immer ein Garant dafür gewesen, dass »Technisierung der Erfahrung«61 im Experiment die Subjektivität des Forschers ausschließen kann. 62 Nicht die Intuition eines Individuums soll im Experiment eine Rolle spielen, sondern hier gilt es, sich an die Vorgabe der Technik, die geleichzeitig auch vom Forscher konstruiert wurde, zu halten, an der sich das Subjekt ausrichtet. Die Apparatur inklusive der Technik kann dementsprechend also keine Garantie für die Einhaltung einer Objektivität in der Forschung sein, sondern sie ist ganz im Gegenteil das Konstrukt des forschenden Subjekts.63 Hans-Jörg Rheinberger stellt diese Apparate, Objekte oder Dinge des Experiments, die Teil einer Handlung sind, in seiner Publikation »Experiment, Differenz, Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge« in einem räumlichen Zusammenhang. 64 In der Anordnung von Objekten erzeugt der
59 Vgl. Breidbach, Olaf: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, S. 24. 60 Olaf Breidbach merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Ebene der Objektivität in der Wissenschaft nicht der Ebene der Objekte entspricht. Vielmehr wird die Ebene der Objekte vom Subjekt des Forschers bewertet und zwar im Hinblick auf ihre Relevanz für das zu erforschende Gebiet. Das bedeutet, dass Objektivität nie unabhängig vom Subjekt sein kann. Objektivität ist nach Breidbach in der wissenschaftlichen Praxis aus diesem Grund immer an eine Intersubjektivität geknüpft. Das Subjekt ist sich seinem subjektiven Standpunkt bewusst. »Intersubjektiv« bezeichnet dann die Kommunikation beziehungsweise die Abstimmung der Subjekte untereinander, die zu einem Ausgleich führt. Die Objektivität ist dann die Gewissheit, ein gleiches Phänomen mit gleichen Worten von verschiedenen Subjekten beschrieben zu haben. (vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 11 f.) 61 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 24. 62 Vgl. ebd., S. 11 f. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Differenz, Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg an der Lahn 1992, S. 54 f. Auf den Aspekt des Forschungsraums wird im Kapitel II.4. Das Experiment als Konstituierung eines
58 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Forschende gleichzeitig auch für sich selbst eine »Handlungsvorlage«65. Diese Beobachtung ist auch auf das künstlerische Experiment und insbesondere auf das von Carsten Höller übertragbar, denn der Besucher wird von den Objekten in seiner Handlung geleitet. Er wird geradezu aufgefordert etwas in einer von Carsten Höller bestimmten Weise zu tun, zu erfahren oder auszuprobieren. Allerdings ist das Experiment nicht ein autonomes Handlungsnetzwerk, sondern ist wiederum eingebunden in ein Netzwerk der Forschung des Künstlers, dem mehrere Experimente oder Aktanten angehören. Als Beispiel kann der Versuch Ballon mit Rakete von 1981 dienen, der in einer Reihe von künstlerischen Untersuchungen steht, die Roman Signer systematisch mit Ballons sowie Raketen als Zündungen zur Auslösung von Ereignisketten betrieben hat. Bereits 1978 war die explodierende Rakete Bestandteil von Signers Aktionen, die als Auslöser einer Reaktionskette auch in vielen seiner darauffolgenden Versuchen von ihm eingebaut wurden.66
Forschungsraums. An dieser Stelle steht zunächst die Feststellung von Rheinberger in den Vordergrund, dass Dinge angeordnet den Handelnden leiten und umgekehrt dieser die Dinge als »Handlungsvorlage« (vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 174) anordnen kann. 65 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 66 Folgende Raketenexperimente wurden von Roman Signer insgesamt seit 1978 durchgeführt: Rakete 1978, Rakete 1980 (mit Plexiglasrohr), Rakete 1980 (mit Sperrholzplatte), Eimer mit Raketen auf Eis 1981, Haus mit Raketen 1981, Ballon mit Rakete 1981, Ballon und Rakete 1981, Wettlauf Rakete 1981, Rakete (mit Holzkiste) 1981, Rakete (mit Eisenkiste) 1981, Raketenschlauch 1981, Eimer mit Raketen 1982, Brille mit Rakete 1982, Rakete 1982 (mit Holzbrett), Raketenkiste 1983, Koffer mit Raketen 1983, Mütze mit Rakete 1983, Raketenschrift 1983, Koffer mit Rakete 1983, Rakete mit gelben Band 1983, Koffer mit Raketen 1983, Eimer mit Rakete 1984, Hocker mit Rakete 1984, Kleine Raketen 1985, Koffer mit Rakete 1985, Raketenstiefel 1985, Eimer mit Raketen 1985, Rakete mit Pinsel 1985, Rakete mit gelbem Band 1986, Kreis mit Rakete 1986, Raketen im Sand 1987, Rakete (mit rotem Seidenband) 1988, Zwei Raketen 1989, Tisch mit Raketen 1989, Kiste mit Raketen 1994, Kajak mit Raketen 1995, Stiefel mit Rakete 1995, Aktion mit einer Rakete 1995, Zwei Raketen 1998 (vgl. Zimmermann, Peter (Hg.): Roman Signer. Werkübersicht 1971-2002 (Bd. 1-3), Zürich 2004).
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 59
Der Ballon wird in dieser Zeit ebenfalls zu einem Gegenstand, den Signer in seiner Materialeigenschaft in Form einer Aktion wiederholt untersucht. Erstmals verwendet er den Luftballon 1980 in seiner Aktion Ballon mit Eimer.67 Dieser wird wie die Rakete ebenfalls wichtiger Teil seiner darauffolgenden Aktionsreihen bis zum Ende der 1990er Jahre sein.68 Danach endet die Auseinandersetzung mit Rakete und Ballon nicht, sondern in den Aktionen wird lediglich der Themenschwerpunkt der Experimentreihen verlegt.69 Ballon und Rakete werden nicht mehr konsequent im Titel benannt, dennoch werden sie als Elemente in ihrer Materialität und Funktionalität einbezogen.70 Die vom Künstler über die Jahre hinweg betriebenen Untersuchungen von Ballon und Rakete wurden noch ergänzt durch die innerhalb der Aktion Ballon mit Rakete ausgerichtete Versuchsreihe, die 1981 mit Variationen unterschiedlicher Ballongrößen durchgeführt wurde.71 Die Fin-
67 Ballon mit Eimer 1980: Roman Signer füllte einen roten Ballon mit Helium, so dass dieser frei schweben konnte und machte diesen an einem mit Wasser gefüllten leichten Blecheimer fest. Das Wasser floss aus einem kleinen Loch hinaus, so dass der Eimer immer leichter wurde bis er schließlich davonfliegen konnte. (vgl. P. Zimmermann: Roman Signer [Bd. 1], S. 224 f.). 68 Experimente, an denen Ballone Bestandteile des Versuchs gewesen sind, waren: Ballon mit Eimer 1980, Ballon 1980, Ballon mit Hocker 1981/82, Ballon mit Rakete 1981, Ballon und Rakete 1981, Ballon auf Gleise 1982, Versuch mit Ballon 1982, Ballon (mit Holzstab) 1981, Ballon (Eimer mit Wasser) 1982, Ballon vor Wasserfall 1983, Ballon (Ballon an einem Seil) 1983, Ballon (Holzbalken mit Ballon) 1983, Zwei Ballone 1983, Ballon mit Brille 1983, Ballone 1992, Bett mit Ballon 1997, Ballon mit Holzlatte 1999 (vgl. Zimmermann, Peter [Hg.]: Roman Signer. Werkübersicht 1971-2002 [Band 1-3], Zürich 2004). 69 Aktion mit 48 Kisten 1993. Die Aktion bestand aus 48 mit Wasser gefüllten Kisten, die mit einer Zündvorrichtung gesprengt wurden. (vgl. P. Zimmermann: Roman Signer [Bd. 3], S. 26f.). 70 Kugelsicherer Regenschirm 1997. Hinter dem kugelsicheren Regenschirm befindet sich ein roter Ballon. (vgl. P. Zimmermann: Roman Signer [Bd. 3], S. 215 f.). 71 In diesem Zusammenhang wäre sogar eine Eintragung in einem Koordinatensystem denkbar, so dass die über Jahre erfolgte Versuchsreihe zu Rakete und Ballon auf einer zeitlichen y-Achse und die Forschung zur Materialität auf einer x-Achse erfolgen könnte.
60 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
dung einer »idealen«72 Ballongröße, die sich auf die Ästhetik der Explosion bezieht, wurde von Signer mit mehreren Aktionen verfolgt, wobei die unterschiedlichen Größen der Ballone den variablen Faktor bilden. Auch Carsten Höller entwickelte über Jahre hinweg neue Räume und Korridore, die Erfahrungen gestalten. Die »Aktanten« oder Experimente sind Handlungskonstellationen, die es ermöglichen, durch immer wieder veränderte Bedingungen oder Ausgangssituationen, neue Reaktionen und Ereignisse im Experiment zu initiieren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nach der AkteurNetzwerk-Theorie das künstlerische Experiment als ein Netzwerk verstanden werden kann, das neben den nicht-menschlichen Akteuren auch aus dem Künstler, den Rezipienten sowie den Teilnehmenden besteht. Sie alle gemeinsam konstituieren das Experiment in der Kunst. Es entsteht ein Ineinandergreifen von Apparaturen (Objekte) und Menschen (Subjekten) in einer Handlung, die eine Grenzziehung zwischen beiden nicht mehr möglich macht.73 Am Beispiel von Roman Signer wird dies deutlich, denn einerseits kann er nicht ohne den Ballon, die Rakete und den Draht das Experiment in dieser Weise durchführen. Andererseits machen diese Objekte auch ohne den Forscher Roman Signer keinen Sinn, da der Initiator der Aktion in dieser Weise fehlen würde und sie unausgeführt bliebe. Aus diesem Grund kann das künstlerische Experiment im Sinne der Akteur-NetzwerkTheorie auch als ein »Aktant« bezeichnet werden. Darüberhinaus existiert ein Experiment oder »Aktant« nicht als eine autonome Einheit, sondern reiht sich ein in einer Folge von mehreren Experimenten ein. Diese sogenannten Forschungsreihen waren sowohl bei Roman Signer in seinen Versuchen zu Ballons als auch bei Carsten Höller in seinen Erfahrungsräumen erkennbar. Im folgenden Kapitel wird das Experiment als ein Instrument vorgestellt, das in der Kunst eine Funktion erfüllt. Beginnend mit der Moderne zeigte sich im Kontext der Kunst ein besonderes Interesse am Experiment,
72 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 71. Die ideale Ballongröße bzw. das, was sie als ideal ausmacht, wird nicht näher von Signer definiert. Aufgrund seiner Aussage in dem von Rachel Withers geführten Interview mit ihm ist allerdings davon auszugehen, dass Signer dieses Adjektiv im ästhetischen Sinne auf die visuelle Wirkung des in der Explosion verwickelten Ballons verstanden haben will. 73 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 19 f.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 61
da es immer als ein Instrument angesehen wurde, mit dem die Möglichkeit gegeben war, Neues zu entdecken. Das Neue steht in diesem Zusammenhang für das Unerforschte oder das Unerwartete, das es zu erkunden gilt. Die Performancekunst der 1960er und 1970er Jahre nahm die Idee, das Neue über experimentelle Situationen sichtbar machen zu können, auf. An dieser Stelle wird auch zwischen dem Vorgehen im Experiment und dem experimentellen Vorgehen unterschieden. Im abschließenden Kapitel werden die Experimentalsysteme nach Hans-Jörg Rheinberger vorgestellt. Diese sind wiederum Instrumente zur Visualisierung von sogenanntem »Nichtverstehen«74, das gleichzusetzen ist mit dem Neuen der Moderne und der Performancekunst. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Methoden der Wissenschaft eingegangen, um zu verdeutlichen, warum die Experimentalsysteme für die Annäherung der wissenschaftlichen und der künstlerischen Forschung stehen.
2.
DAS EXPERIMENT ALS INSTRUMENT
Elisabeth Fritz hat für das künstlerische Experiment den ersten Ansatz einer Definition des Experiments in der Kunst gegeben.75 Mit Begriffen wie »kreativ«76 und »kontingent«77, aber auch »angestrebte Erkenntnis«78 und »zufälliges Erlebnis«79 und »spielerisch«80 unternimmt sie den Versuch das Experiment in der Kunst zu umfassen.81 Allerdings sind diese Umschreibungen für die vorliegende Untersuchung nicht konkret genug. Der Aspekt
74 Hans-Jörg Rheinberger hat den Begriff des »Nichtverstehens« für die Forschung fruchtbar gemacht. Es steht für eine Forschung, dass sich seinen Forschungsbereich im Vorgang erst erschließen muss. Der Begriff des Neuen und des »Nichtverstehen« stehen in einer Relation, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit erläutert wird. (vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 75-81). 75 Vgl. E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 174. 76 Ebd., S. 145. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd., S. 174.
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der »angestrebten Erkenntnis«, etwas das dem wissenschaftlichen Experiment eigen ist, muss darüber hinaus für das künstlerische Pendant erst noch hinterfragt werden. Aus diesem Grund bietet es sich an, im Folgenden Definitionen zum wissenschaftlichen Experiment in diese Betrachtung einzubeziehen, um Parallelen, aber auch Differenzen feststellen zu können. Das Experiment in Kunst und Wissenschaft So sieht Ludger Schwarte im wissenschaftlichen Experimentieren einen Vorgang verwirklicht, mit dem Phänomene82 künstlich erzeugt werden können.83 Die Apparatur und der Mensch (Forscher) sind Bestandteile des Instruments Experiment, das als eine Einheit im Zusammenhang mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als »Aktant« bezeichnet worden ist. Schwartes Analyse, wonach Phänomene im wissenschaftlichen Experiment künstlich erzeugt werden, wird im Kapitel II.4.1.2. Der Ausstellungsraum als Laborraum noch von großer Relevanz sein. Michael Heidelberger sieht zusätzlich zu Schwartes »produktiver Funktion«84 des Experiments, nämlich der künstlichen Erzeugung eines Phänomens, noch eine »repräsentierende Funktion«85) verwirklicht.86 Diese ist eine Vorgehensweise, die möglichst wenig in die Natur einzugreifen sucht, worunter ausschließlich Instrumente zur Messung oder zur Beobachtung zu verstehen sind. Unter der »produktiven Funktion« wissenschaftlicher Experimente wird dagegen die bewusste Initiierung von Phänomen verstanden,
82 Das vom Experiment erzeugte Phänomen bezeichnet zunächst das, was sinnlich erfahrbar ist (vgl. »Phänomen«, in: Ritter, Joachim u.a. [Hg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel / Stuttgart 1971-2007, Bd. 7, S. 462). Die These der vorliegenden Untersuchung allerdings lautet, dass nicht nur Phänomene im Experiment initiiert werden können, sondern auch Ereignisse. An dieser Stelle wird allerdings der Begriff des Phänomens übernommen, der auch größtenteils in den Untersuchungen zum wissenschaftlichen Experiment wie bei Schwarte (2013), Steinle (2008) und Heidelberger (1998) Anwendung findet. Der Aspekt des Ereignisses wird im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments wieder aufgenommen und auch weiter vertieft werden. 83 Vgl. L. Schwarte: Experimentelle Ästhetik, S. 188. 84 M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 79. 85 L. Schwarte: Experimentelle Ästhetik, S. 188. 86 Vgl. ebd., S. 79-84.
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die in der Natur in dieser Form für den Menschen nicht erfahrbar ist.87 Als Beispiel führt Heidelberger die Luftpumpe an, mit deren Hilfe ein Vakuum initiiert werden kann, das in der Natur nicht existiert. Dieses Phänomen kann erst mit Hilfe eines Werkzeugs wie der Luftpumpe hervorgerufen und auch erfahrbar gemacht werden. Für die Analyse des Experiments in der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus auf den Instrumenten, die ein Ereignis erzeugen und dementsprechend eine »produktive Funktion« besitzen. Im wissenschaftlichen Experiment wird ein Ereignis so initiiert, dass es einer Zielsetzung des Forschens beziehungsweise des Forschers entspricht.88 Das Experimentieren wird verstanden als ein aktives Eingreifen in die Natur, das einer reinen Naturbeobachtung gegenübersteht.89 Die Auffassung von einem Experiment, das als Instrument ein Phänomen erzeugen kann, hat sich erst in der Neuzeit entwickelt.90 Die Forschungsmethoden vor der Neuzeit sind nach Olaf Breidbach bestimmt von einer passiven Beobachtung der Natur mit der Kopplung an entsprechenden Lehren unter anderem der aristotelischen Physik91 oder des Analogiedenkens in der Renaissance.92 Der Fokus des Experiments liegt auch nach unserem heutigen Verständnis darin, ein singuläres Phänomen zu erzeugen, das losgelöst von seinem ursprünglichen Zusammenhang in einem abgeschlossenen Laborraum, kontrollierbar gemacht werden kann.93 Olaf Breidbach spricht von dem wissenschaftlichen Experiment als »Kondensat eines Beobachtungsprogramms«94 und meint damit die Konzentration auf ein künstlich erzeugtes Phänomen. Das Experimentieren wird nach Gaston Bachelard dann als »Phänomenotechnik«95 bezeichnet. Sie ist der Ausdruck einer Wissenschaft, die nicht mehr beobachtet, sondern vielmehr konstruiert. Nach Hans-Jörg Rheinberger impliziert Bachelard unter dem Begriff der »Phänomenotechniken«
87 Vgl. ebd., S. 83. 88 Vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 11. 89 Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 71. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 53. 92 Vgl. D. Arasse: Leonarado da Vinci, S. 48. 93 Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 82 f. 94 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 187. 95 G. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, S. 18.
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technische Instrumente beziehungsweise Apparaturen, die darüber hinaus auch den Wissenschaftler als eine, wie Rheinberger es formuliert hat »psycho-epistemische«96 Aktivität repräsentiert. Hierunter ist zu verstehen, dass die technischen Apparaturen und das Subjekt des Wissenschaftlers im Experiment involviert sind.97 Die technischen Instrumente sind deshalb als Latoursche »Inskriptionsinstrumente«98 zu verstehen, die die Intention des Forschers und sein Wissen lesbar machen.99 Das bedeutet, dass neue Phänomene nicht nur gefunden, sondern auch erfunden werden, weil sie immer vom Wissen des Forschenden ausgehen. Bachelard kommt aus diesem Grund zu dem Schluss, dass »sie [die Phänomenotechnik] lernt aus dem, was sie konstruiert«100 . Er unterscheidet in seiner Untersuchung zwischen einem vorwissenschaftlichen vom Alltag geprägten Wissen und dem wissenschaftlichen Wissen, das sich nur unter den spezifischen Bedingungen des eigenen Wertesystems,101 nämlich dem Konstrukt der Wissenschaft, entfalten kann.102 Das Experimentieren ist dann, wie Schwarte festgestellt hat, eine Entwicklung von »Phänomenotechniken«. Dies bedeutet, dass die künstlich hervorgebrachten Phänomene, manipuliert werden können.103
96
H. -J. Rheinberger: Gaston Bachelard und der Begriff der »Phänomenotechnik«, S. 305.
97
Vgl. ebd., S. 303-305.
98
Latour, Buno: »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben«, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.), ANThology : ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 124 und vgl. Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung.
99
Vgl. ebd., S. 124.
100 G. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, S. 18. 101 Auf den Begriff des wissenschaftlichen Wertesystems werden wir im Zusammenhang mit den Künstlern wie Carsten Höller und Ursula Damm eingehen, denn beide sehen sich in ihren forschenden Tätigkeiten von dem System der Wissenschaft eingeengt. 102 Vgl. H.-J. Rheinberger: Gaston Bachelard und der Begriff der »Phänomenotechnik«, S. 298. 103 In der Wissenschaft stellt die Manipulation am Experiment ein großes Problem dar. Ereignisse werden im Interesse des Forschers gelenkt und auch dementsprechend ausgewertet. Das Experiment bietet den Anschein einer Erkenntnis, die nach wissenschaftlichen Standards gewonnen worden ist. (vgl. Frömmel,
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Diese sind nach Schwarte, wie bereits erwähnt, einem akkumulierten Wissen unterworfen.104 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Experiment eine Technik ist, die Phänomene und wie noch gezeigt werden wird, Ereignisse erzeugen kann. Der Begriff der Manipulation spielt in der Wissenschaft eine größere Rolle als in der Kunst. Sie definiert sich als etwas, was im Interesse des Forschers geschieht, der das Experiment mit seinem Wissen und Interesse konstruiert hat.105 Diese Funktion des wissenschaftlichen Experiments ist auf die Kunst durchaus übertragbar. Zwar wird in der Kunst nicht von Manipulation gesprochen, aber das Prinzip der Lenkung eines im Rahmen des Experiments künstlich erzeugten Ereignisses ist gleichbleibend. Wobei die Lenkung die Bereitstellung von Apparaturen von Seiten des Künstlers oder des Forschers beinhaltet. Das künstlerische Experiment ist ein Instrument, das nicht erst seit den 1990er Jahren in der Kunst existiert, sondern mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig in Erscheinung tritt. Die Voraussetzungen für das Experiment in der Kunst ist zum einen die um 1900 aufkommende Begeisterung für das wissenschaftliche Experiment als eine Vorgehensweise,106 mit dem Wissen erzeugt werden kann. Zum anderen ist es die Einführung der Aktion in die Kunst im Zuge des Futurismus, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.107 Diesen beiden grundlegenden Einflüsse, die das künstlerische Experiment geprägt haben, werden in den nun folgenden Kapiteln im Hinblick auf das künstlerische Experiment untersucht.
Cornelius: »Betrug in der Wissenschaft. Bitte nur die ganze Wahrheit, Schummeln, ohne zu lügen - das ist die neue Plage der Wissenschaft. Die Medizin ist besonders infiziert. Ein Alarmruf«, in: DIE ZEIT Nr. 31/2014, http://www.zeit.de/2014/31/betrug-wissenschaft-daten-manipulation vom 24. Juli 2014). 104 Vgl. L. Schwarte: Experimentelle Ästhetik, S. 188. 105 Vgl. ebd. 106 Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 24. 107 Die ersten Aktionen der Kunst erfolgten im Zuge des Futurismus wie im Kapitel II.2.2. Empirische Methoden in der Kunst: Wissenschaftliche Experimente der Avantgarde noch erläutert werden wird.
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2.1 Der Wissenschaftsenthusiasmus um 1900 Walter Fähnders hat um 1900 eine nach ihm so bezeichnete »Verwissenschaftlichung«108 der Gesellschaft festgestellt. 109 Zu dieser Zeit entdeckte unter anderem Wilhelm Röntgen 1895, die nach ihm benannte Strahlung, J.J. Thomsons identifizierte 1897 das Elektron, Mary und Pierre Curie isolierten 1898 das Phänomen der Radioaktivität und Heinrich Hertz führte 1887 die Technik der Telegraphie in die Gesellschaft ein.110 Die Wissenschaft rief zu dieser Zeit dementsprechend einen von ihren Entdeckungen begründeten Fortschrittsglauben hervor, der ebenfalls eine entsprechende Wirkung auf die bildende Kunst111 und die Literatur ausübte.112 Der Glaube an eine objektive Wissenschaft, die mit dem Instrument des Experiments als zentrales methodisches Verfahren die Analyse der Welt bewerkstelligen könne, inspirierte den französischen Literaten Emile Zola, auch die eigene Vorgehensweise zu reflektieren. Das Experiment in der Literatur Von diesem Geist angetrieben schrieb er seinen Experimentalroman.113 In diesem Werk zeigt sich das neue Selbstverständnis von Literatur, die nicht mehr die Natur nachahmt, um daraus eine Wahrheit erkennbar werden zu
108 W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 24. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Dalrymple Henderson, Linda: »Modern Art and Science 1900-1940: From the Ether and a Spatial Fourth Dimension (1900-1920) to Einstein and Space-Time (1920s-1940s)«, in: The Moderns. Revolutions in Art and Science1890-1935, Ausst.-Kat., hg. von Cathrin Pichler / Susanne Neuburger, Wien / New York 2012, S. 175-206, hier S. 176. 111 Der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit umfasst das Vorgehen der Kunst als forschende Disziplin und ihre Methode. Zur Erläuterung wie die Naturwissenschaften auf inhaltlicher Ebene in der bildenden Kunst (Malerei und Skulptur) Einfluss genommen haben, sei unter anderem auf den Aufsatz von Dalrymple Henderson »Modern Art and Science 1900-1940« (Wien / New York 2012) verwiesen. 112 Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 24. 113 Zola, Émile: Der Experimentalroman: Eine Studie, Leipzig 1904 (frz. Originalausg.: Zola, Émile: Le Roman Expérimental, Paris 1880).
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lassen, sondern es wurde mit dem Verfahren des Experiments eine Erkundung der Wirklichkeit möglich gemacht.114 Zola bezog sich auf Claude Bernards Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, dessen Werk für ihn zur Vorlage eines idealen Modells zur Erforschung der Welt wurde.115 Zola vertrat dementsprechend die Vorstellung, dass der Roman ein vom Autor konstruiertes Experiment ist, mit dem eine Wahrheit über die Wirklichkeit herausbilden kann, die mit dem wissenschaftlichen Pendant in dieser Zeit vergleichbar ist. Emile Zola verstand sich in seinem Experimentalroman nach Anja Zimmermann als objektiver Beobachter (»observateur« oder »expérimentateur«) seines eigenen literarischen Werkes, das sein Forschungsfeld war.116 Zolas Begeisterung für die Arbeit Claude Bernards konnte von ihm im Gegenzug nicht erwidert werden.117 Bernard, der sich weniger als Künstler und mehr als Wissenschaftler verstand, sah das Experiment als ein Instrument zur Überprüfung von Ursachen- und Wirkungszusammenhängen an. Dieses Vorgehen propagierte er als die unabdingbare Voraussetzung einer exakten Wissenschaft und konnte dementsprechend die Idee Zolas von einem literarischen Experiment nicht teilen. Die Irrationalität des Künstlers war für Bernard genau die Eigenschaft, die der Wissenschaftler keinesfalls besitzen durfte. Er sah das Verfahren der Wissenschaft mit ihrem Objektivitätsanspruch durch die literarische Vereinnahmung Zolas sogar gefährdet.118 An diesem Diskurs manifestiert sich die Divergenz von Kunst und Naturwissenschaft, die sich, das macht die Auseinandersetzung zwischen Bernard und Zola deutlich, als Disziplinen ausdifferenziert haben.119 Diese
114 Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 29. 115 Bernard, Claude: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, Leipzig 1961 (frz. Originalausg.: Bernard, Claude: Introduction à l’étude de la médicine experimentale, Paris 1865). 116 Vgl. Zimmermann, Anja: »Dieses ganze unendliche Weltwissen. Differenzen und Konvergenzen künstlerischer und wissenschaftlicher Verfahren am Ende des 19. Jh.«, in: Welsh, Caroline / Willer, Stefan (Hg.), Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 225-244, hier S. 240. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. ebd. 119 Vgl. ebd., S. 225.
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neue von Bernard propagierte naturwissenschaftliche Methode, die sich auszeichnen möchte als eine ergebnisorientierte und präzise Vorgehensweise, profilierte sich auf diese Weise gegenüber der Kunst als die gegenteilige Position.120 So wurde der Originalität der künstlerischen Produktion, die gerade auf die Individualität des Künstlers basiert, eine Objektivität der Wissenschaft gegenübergestellt. Letzteres hatte nach Bernard dann zur Konsequenz, dass die Austauschbarkeit des Experimentators möglich sein musste. Ein Postulat, dem Zola als Künstler nicht mehr folgen konnte, wenn er sich nicht selbst aus seinem Kunstwerk eliminieren wollte. Trotz der Bemühungen Zolas, einer Objektivität zu folgen, indem er seine Literatur als wissenschaftliches Instrument anzuwenden versuchte, musste diese an dem Anspruch Bernards an die Wissenschaft scheitern. Dennoch blieb für Zola der Künstler ein Forscher, der genauso einen Wahrheitsanspruch zu erfüllen habe wie der Forscher in der Wissenschaft. Die Idee, das Experiment als das Erkenntnisinstrument auch in die Literatur als eine dem wissenschaftlichen Experiment analoge Vorgehensweise einzuführen, wurde deshalb von Emile Zola begeistert aufgenommen.121 Bernard sah dagegen in der künstlerischen Subjektivität lediglich das Gegenbild zur wissenschaftlichen Objektivität.122 Das Experiment kann demzufolge sowohl das Postulat der Objektivität zur Formulierung von Gesetzmäßigkeiten als auch dessen schöpferische Funktion zusammenbringen.123 Diese Methodik des Experiments nutzte, wie nachfolgend vorgestellt wird, die russische Avantgarde, denn sie sah im Experiment einen Mechanismus der systematischen Entdeckung verwirklicht, die eine neue Kunst hervorzubringen versprach.124
120 Vgl. ebd. 121 Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 24. 122 Vgl. ebd. 123 Vgl. ebd., S. 29. 124 Vgl. Flach, Sabine / Vöhringer, Margarete: »Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Avantgarden«, in: Sabine Flach / Margarete Vöhringer (Hg.), Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Avantgarden, München 2010, S. 9.
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2.2 Empirische Methoden in der Kunst: Wissenschaftliche Experimente der Avantgarde Die Avantgarde125 benötigt nach Steiner immer wieder Innovationen, um sich von der Vergangenheit, die für Tradition und starre Konvention steht, zu befreien.126 Erst die Neuerung machte es möglich, sich von einem tradierten System der Kunst, das als innovationshemmend empfunden wurde, absetzen zu können. Experimentelle Aufführungen der Futuristen Die Forderung, dass die Kunst, und insbesondere die Malerei, lediglich die Schönheit als visuellen Anreiz zu dienen habe, war insbesondere für die Künstler im Futurismus unzulänglich. Sie forderten nach de Ponte, »[...] dass in der neuen Malerei die Idee über dem Auge steht«127 . Die Idee als eine intellektuelle Leistung in der Kunst tritt in den Vordergrund. Die Aktion als eine Wechselwirkung zwischen Idee und Kunstproduktion schien für die Futuristen, die auch an einer Beschleunigung des Kunstproduktionsprozesses interessiert waren, ideal für diese intellektuelle Erweiterung des
125 Der Begriff der künstlerischen Avantgarde wird bei Theo Steiner als ein Moment der Agitation und Innovation definiert (vgl. T. Steiner, Theo: Duchamps Experiment, S. 122 f.). Diese Bedeutung wird in dieser Arbeit übernommen. Hannes Böhringer führt in seiner Abhandlung die Herkunft des Begriffs für den Kontext der Kunst aus (vgl. Böhringer, Hannes: »Avantgarde-Geschichte einer Metapher«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Band XXII, Bonn 1978, S. 101). Als eine Bezeichnung für die Speerspitze oder Vorhut des Militärs wurde dieser am Ende des 19. Jahrhunderts auf den künstlerischen sowie kunsttheoretischen Begriff übertragen. Die Begriffs- und Theoriegeschichte der »Avantgarde« wird von Klaus Gronen in seiner Untersuchung »Die Bedeutung und Eignung des Begriffes Avantgarde für die zeitgenössische Kunst am Beispiel Jonathan Meese und John Bock« (Berlin 2007) ausgeführt. Er greift unter anderem auf die Publikation von Peter Bürger »Theorie der Avantgarde« (Frankfurt / Main 2010) zurück. Aufgrund dieser grundlegenden Ausführungen wird an dieser Stelle auf eine weitere Darstellung des Begriffs verzichtet. 126 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 125. 127 De Ponte: Aktion im Futurismus, S. 172.
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Werkbegriffs zu sein.128 In dieser Weise konnte die Aktion als ein Mittel der Avantgarde allgemein Einzug in die Kunst finden. Susanne de Ponte spricht aus diesem Grund bereits von den Aktionen der Futuristen als einem »Experimentierfeld«129, in dem die Idee dieser Bewegung in Form eines Manifests an der Realität erprobt wird. Der Glaube an den Fortschritt und der darin steckende dynamische Ansatz des Futurismus lässt Alternativen zur Malerei möglich werden.130 Die programmatische Idee des Futurismus wurde mit der Alltagswirklichkeit in der Aktion zusammengebracht.131 Das erklärte Ziel war es, Tradition und Konvention hinter sich zu lassen, zugunsten des Neuen, das sich aus dieser Aktion ergeben könnte. Allerdings dürfen die Aktionen des Futurismus nicht mit einer strukturierten Untersuchung verwechselt werden, weshalb zu dieser Zeit auch noch nicht von Experimenten die Rede sein kann, sondern es sind vielmehr Agitationen. Aufgrund der Tatsache, dass die Futuristen nach de Ponte die Kunstproduktion und -rezeption inadäquat im Hinblick auf die sie umgebende moderne Welt hielten, musste beides auf eine provokative Art und Weise bloßgestellt werden.132 Dies erfolgte in Aktionen, die der literarischen Tradition des Vortrags vor einem Publikum ähnlich waren. Die Ideen in Form eines Manifests lösten in ihrer Radikalität heftige Reaktionen im Publikum hervor, die dann als Anregung wiederum Einfluss auf die neuen Aktionen hatten.133 Das Experiment: Die Überwindung des Visuellen in der Kunst Die Futuristen wünschten sich mit ihren Aktionen ein Kunstwerk zu schaffen, das über das Retinale der Malerei hinausgeht.134 Der Begriff des Retinalen in der Malerei wird von dem Künstler Marcel Duchamp, Initiator
128 Vgl. ebd., S. 173. 129 Ebd. 130 Vgl. ebd., S. 172. 131 Vgl. ebd., S. 173. 132 De Ponte spricht von einer »offenen Konflikthaltung« des Futurismus gegenüber seinem Publikum (vgl. De Ponte: Aktion im Futurismus, S. 261). 133 Vgl. De Ponte: Aktion im Futurismus, S. 172. 134 Vgl. ebd. S. 176.
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des Experiments 3 Stoppages étalon,135 als ein Zustand beschrieben, der überwunden werden müsse, da er am Visuellen verhaftet bleibt und damit zu oberflächlich scheint.136 Er verwendete diesen Begriff bewusst abwertend bezogen auf die Malerei eines Pablo Picassos.137 Er wollte seine Kunst vielmehr als eine intellektuelle Auseinandersetzung verstanden wissen, die einen konträren Standpunkt zur aktuellen Malerei seiner Zeit bilden sollte.138 Er sprach sogar davon, dass »[...] die gesamte Malerei, angefangen mit dem Impressionismus, antiwissenschaftlich ist, sogar Seurat. Es reizte mich, die exakte und präzise Seite der Wissenschaft in sie einzuführen [...]«139. Mit der Kritik an die Malerei steht Duchamp für eine Kunst ein, die intellektuell sein und einen Gegenpol zur reinen Visualität der Malerei bilden soll. Die Kunst und insbesondere die Malerei sind seiner Meinung nach unzureichend. Er sieht die Notwendigkeit eine Erweiterung der eigenen Kunst über die Methoden der Wissenschaft zu erreichen. Wissenschaftliche Experimente in der Kunst: Die russische Avantgarde Die Vorstellung von einer Kunst, die unter anderem von den Futuristen und auch von Marcel Duchamp geäußert wurde, die über das Visuelle als einen Reiz hinausgehen muss, war ebenfalls ein Anliegen der russischen Avantgarde. Nach Sabine Flach und Margarete Vöhringer war deren Forschungsziel, wie am Institut für Künstlerische Kultur in Leningrad formuliert wurde, dass die Kunst durch die Erforschung ihrer eigenen Gesetze erneuert werden könnte.140 Seit der Oktoberrevolution 1917 entdeckten Künstler die neuen technischen Möglichkeiten wie Fotografie und Film als neue Optionen für eine künstlerische Forschung.141 Dabei erkannten sie nach Sabine Flach nicht nur das Potential bekannter Wissenschaftler wie Ivan Pavlov,
135 Dieses Experiment von Marcel Duchamp wird im Kapitel II.2.3. Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne weiter ausgeführt werden. 136 Vgl. M. Holzhey: Im Labor des Zeichners, S. 152. 137 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 145. 138 Vgl. ebd., S. 208. 139 Zit. nach der Übersetzung von H. Molderings: Kunst als Experiment (Cabanne, Pierre: Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S. 67), S. 21. 140 Vgl. S. Flach / M. Vöhringer: Ultravision, S. 9. 141 Vgl. ebd., S. 7.
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sondern bedienten sich auch zusätzlich des Vokabulars der Wissenschaft und nannten das, was sie taten, »Laboratoriumskunst«142 . Die Künstler und Wissenschaftler in Institutionen wie dem Institut für Künstlerische Kultur, die Russische Akademie der Künstlerischen Wissenschaften u.v.m. machten sich die Erforschung des Menschen zu ihrem Hauptziel.143 Seit der Oktoberrevolution fand sich dieser in einem neuen gesellschaftlich-politischen Umfeld des Kommunismus wieder, was für die Künstler und Wissenschaftler eine Aufforderung war, die neuen Bedingungen der visuellen Wahrnehmung am Menschen auszuloten, nämlich der neue und revolutionierte Mensch in seinem neuen Lebensumfeld.144 Der Künstler nutzt hierfür, wie Theo Steiner erkannt hat, die Wissenschaft als ein vom Pragmatismus geprägtes Vorgehen.145 Das Experiment wird dementsprechend zu einem Instrument, das die Erkundung nach einer neuen Kunst dynamisiert.146 Mit diesem lotet der Künstler Bereiche wie die Psychologie, Physiologie, Psychophysik und Psychotechnik für die Entdeckung einer neuen Kunst aus.147 Am Beispiel von Vsevolod Pudovkins Film die Mechanik des Gehirns von 1925-1926 wird dies besonders deutlich.148 Es ist ein Film, der unter anderem im, aber auch außerhalb des Labors von Ivan Pavlov über dessen physiologischen Forschungen gedreht wurde. Pavlov ist der Begründer der behavioristischen Lerntheorie, die besagt, dass Reaktionen beim Menschen nicht nur angeboren sind, sondern auch erlernt und hinzugefügt werden können.149 Nach Pudovkins abgebrochenen Studium der physikalischen Chemie und einigen Erfahrungen sowohl im Chemielabor als auch in einem Experimental-Filmstudio, begann er 1925 mit seinen Film die »Mechanik
142 Ebd. 143 Vgl. Vöhringer, Margarete: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007, S. 173. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 122. 146 Vgl. ebd. 147 Vgl. M. Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik, S. 10. 148 Vgl. ebd., S. 107-141. 149 Vgl. ebd.
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des Gehirns«.150 Er verkörperte als Person diese Mischung aus Kunst und Wissenschaft, die in der Gesellschaft der Sowjetunion in dieser Zeit als selbstverständlich angesehen wurde, weil sie aber auch als eine Symbiose akzeptiert war, die für die Erschaffung des neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft eine dynamisierende Funktion inne hatte.151 Der Film von Pudovkin handelt von diesen verhaltenspsychologischen Versuchen an Mensch und Tier, die im Zoo, Strand, Labor, Kreißsaal und Kindergarten stattfanden. Zwischendurch werden im Film auch Grafiken eingeblendet, die einen Versuch zeigten, der filmisch schwer umsetzbar war und an dieser Stelle zum besseren Verständnis eingeblendet wurde.152 Auf die Details der einzelnen Aufnahmen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden, allerdings sei, um die künstlerische Forschung in diesem Zusammenhang zu benennen, noch die Nachbearbeitung des Films von Pudovkin erwähnt. Er verfolgte mit diesem Film eine Theorie, deren Ausführung die Filmaufnahmen nicht nur dokumentarisch als Beleg für die Experimente von Ivan Pavlov erscheinen lässt, sondern eine Forschung zeigt, die wiederum mit den Mitteln der Kunst durchgeführt wurde. Pudovkin übertrug auf sein filmisches Medium, das, was Pavlov unter »Reflexologie« verstand, nämlich die Erregung und Hemmung von sinnlichen Reizen und insbesondere des visuellen Reizes auf Lebewesen, indem er sukzessiv die Blende öffnete und wieder schloss.153 Auch die Montage der einzelnen Szenerien von Orten und menschlichen sowie tierischen Beteiligten wurde genutzt, um mit der Aufmerksamkeit des Zuschauers zu experimentieren. Pudovkin ist am Ende dieses Filmprojekts zu dem Ergebnis gekommen, dass Kunst und Wissenschaft als Formen der Erkenntnis sehr eng miteinander verbunden sind. Insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Film verfestigten bei ihm die Prinzipien seiner individuellen kinematographischen Vorgehensweise.154 Wie dieses Beispiel gezeigt hat, galt es in der russischen Avantgarde die Möglichkeiten des Neuen, bezugnehmend auf den Menschen und sein Wahrnehmungsapparat, in der Kunst zu entdecken und zwar unter der Zu-
150 Vgl. ebd., S. 108. 151 Vgl. ebd., S. 9. 152 Vgl. ebd., S. 109. 153 Vgl. ebd. 154 Vgl. ebd., S. 120.
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hilfenahme probater Mittel aus der Wissenschaft. Dementsprechend wurde die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft in den bereits genannten Institutionen begrüßt als die Zusammenführung unterschiedlicher Ansätze und Methoden in Kunst und Wissenschaft, die eine schöpferische Kraft entstehen lässt.155 Die Forschung der russischen Avantgarde war dementsprechend stark von einer wissenschaftlichen Methodik bestimmt. Die Künstler näherten sich den Wissenschaften mit dem Ziel an, Wahrnehmungsprozesse zu optimieren.156 Einen großen Einfluss auf die Forschung der russischen Avantgarde war nach Vöhringer, dass nicht die Differenzen der Disziplinen Kunst und Wissenschaft im Vordergrund standen. Vielmehr wirkten beide Disziplinen ohne Abgrenzungen aufeinander ein, denn Künstler und Wissenschaftler forschten nach Vöhringer interdisziplinär.157 Dementsprechend näherten sich die Künstler der russischen Avantgarde den Wissenschaften an und zogen in ihren Projekten auch wissenschaftliche Begriffe heran.158 Diese Praxis einer Wissenschaft, die in der Kunst funktionierte, war dementsprechend stark zielorientiert. Die Optimierung von Wahrnehmungsprozessen diente schließlich auch der Optimierung einer arbeitenden Gesellschaft.159 Es ist aus diesem Grund auch fraglich, ob die Experimente der russischen Avantgarde einer künstlerischen Position zuzuordnen sind, ist es doch die Übertragung der wissenschaftlichen Methodik in den Kontext der Kunst. Eine grundsätzlich andere künstlerische Haltung nimmt zu dieser Zeit Marcel Duchamp ein, der sich von dem System der Wissenschaft entfernt, indem er es in seinem künstlerischen Experiment reflektiert und hiermit eine Kritik an der Wissenschaft formuliert. 2.3 Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Enthusiasmus über eine Naturwissenschaft, deren Wahrheitsanspruch objektiv sei, gedämpft. Die Kritik richtete sich nun größtenteils gegen die von Forschern scheinbar willkürlich aufgestellten Konstruktionen von Gesetzen und Prinzipien, auf deren Basis
155 Vgl. ebd., S. 10. 156 Vgl. ebd., S. 8 f. 157 Vgl. ebd., S. 9. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. ebd.
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die Wissenschaft operierte.160 Die Meinung wandte sich gegen eine Wissenschaft,161 die ihrem Anspruch, eine Überprüfbarkeit der Welt leisten zu können, nicht gerecht werden konnte. In diesem Zusammenhang spricht Herbert Molderings von einer Krise des naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs um die Jahrhundertwende.162 Das künstlerische Experiment: Die 3 Stoppages étalon, 1913 Als ein Ausdruck für diese Krise steht das Experiment der 3 Stoppages étalon von Marcel Duchamp, das von ihm 1913 als »künstlerisches Experiment« initiiert wurde. 163 In diesem Experiment lässt er einen Faden aus einem Meter Höhe auf eine horizontale Ebene fallen. Diesen Vorgang wiederholte er insgesamt drei Mal, so dass die Ergebnisse der Versuche in Form von drei geschwungenen Fäden vorliegen, die jeweils auf drei gleich großen rechteckigen Leinwänden fixiert wurden.164 Diese Fäden sind am
160 Vgl. H. Molderings: Kunst als Experiment, S. 102. Molderings bezieht sich auf Édouard Le Roys Artikeln, die zwischen 1899-1901 in der Revue de metaphysique et de morale erschienen. Dieser kritisiert den wissenschaftlichen Rationalismus dieser Zeit, indem er behauptete, dass die naturwissenschaftlichen Prinzipien und Gesetze mitunter willkürliche Konstruktionen der Forscher seien. Der Anspruch objektiver Wahrheit kann in diesem Sinne seiner Meinung nach nicht mehr erreicht werden. 161 Vgl. ebd., S. 103 f. 162 Vgl. ebd., S. 102. 163 Vgl. Kuh, Katharine: »Marcel Duchamp. BBC-Programm ›Monitor‹, 29. März 1961«, in: Serge Stauffer (Hg.), Marcel Duchamp. Interviews und Statements. Gesammelt, übersetzt und annotiert von Serge Stauffer, Stuttgart 1992, S. 117121. 164 Marcel Duchamp hat insgesamt drei Leinwände mit dem Titel: 3 Stoppages étalon (3 Standard Stoppages) von 1913-14 angefertigt. Auf diesen befinden sich 3 x 1 Meter lange Fäden auf jeweils 120 x 13,3 cm großen Leinwänden. Die Fäden wurden mit Firnis fixiert und dann auf 125,4 x 18,3 cm große Glasplatten geklebt. Darüber hinaus existieren noch drei Holzbretter, die in ihrer Größe den Formen der Fäden nachgeschnitten wurden: 119,4 x 1 cm / 109,1 x 6,2 cm / 109,8 x 6,3 cm. Die Leinwände und die Holzbretter befinden sich in einer Holzkiste: 129,2 cm x 28 cm x 23 cm (vgl. Schwarz, Arturo: The complete works of Marcel Duchamp, 2. erw. Auflage, New York 2000, S. 594).
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Ende des Experiments in ihrer Erscheinungsform, der Aussage Duchamps nach, nicht von seiner zeichnerischen Hand gestaltet worden. Die geschwungenen Formen wurden vielmehr vom freien Fall bestimmt, der ausgehend von den Händen des Künstlers, die die Fäden in einer horizontalen Ausgangsposition halten, bis zur Leinwand als Endpunkt stattfand.165 Das, was Marcel Duchamp mit seiner Demonstration thematisiert, sind nach Molderings wissenschaftliche Vorgehensweisen, oder Festlegungen wie der Standardmeter und die euklidischen Postulate. Beides wird mit einer künstlerischen Geste, die den freien Wurf eines Bindfadens beinhaltet, ad absurdum geführt. 166 Im Mittelpunkt dieser Vorführung steht daher die
165 Vgl. H. Molderings: Kunst als Experiment, S. 42. Molderings bezieht sich bei seinen Ausführungen auf die Abhandlung von Shearer, Rhonda R./Gould, Stephen J.: »Hidden in Plain Sight: Duchamp’s 3 Standard Stoppages. More Truly a ›Stoppage‹ (An Invisible Mending) Than We Ever Realized«, in: toutfait. The Marcel Duchamp Studies Online Journal 1 (1999), http://toutfait.com /hidden-in-plain-sight-duchamps-3-standard-stoppages more truly-a-stop page-an-invisible-mending-than-we-ever-realized/. In den Erläuterungen Duchamps zu seinem Werk der 3 Stoppages étalon, die in Form von Interviews oder Notizen vorliegen, wird von ihm nicht erwähnt, dass die Enden der Fäden durch das Gemälde hindurch genäht worden sind, so dass sie von vornherein länger als der von ihm benannte Meter sein mussten. In der Tat betragen die Überstände der Fäden auf der Rückseite der drei Leinwände zwischen 4,2 und 9 cm. Auch der in seinem Durchmesser viel zu feine Faden lässt den gleichmäßigen Schwung, wie er sich uns auf den Leinwänden darstellt, in der von Duchamp beschriebenen Praxis des Versuchs nahezu unmöglich werden. Dementsprechend ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass eine bewusste Gestaltung des Fadens unter ästhetischen Gesichtspunkten hin zu einer gleichmäßig geschwungenen Linie durch Duchamp erfolgte. 166 Marcel Duchamps 3 Stoppages étalon ist neben der formalen Orientierung zum wissenschaftlichen Experiment auch vom inhaltlichen Aspekt einer Wissenschaftlichkeit zuzuordnen. Die Betonung des Meters und dessen Bezeichnung als »[...] verminderter Meter [...]« (zit. nach der Übersetzung von Molderings 2006 [Sanouillet, Michel [Hg.]: Duchamp Écrits. Duchamp du Signe: Écrits, Paris 1975, S. 36], S. 12.) lassen eine ironisch-kritische Anspielung auf die Festlegung des Standardmeters schließen, die als eine Normierung willkürlich zu sein scheint (vgl. H. Molderings: Kunst als Experiment, S. 89). Dar-
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konkrete Einbindung des Zufalls,167 das heißt, es wird keine künstlerische Kontrolle auf die Gestaltung der Fäden ausgeübt, sondern sie landen im freien Fall auf der Leinwand. Das Ergebnis ist demzufolge als visuelles Dokument einzigartig, weil es wiederholt werden kann, aber letztlich nicht zu einem gleichen Resultat führen wird. Die Kunst wendet in diesem Fall, wie Henk Bogdorff dies auch allgemein für die Kunstforschung festgestellt hat, sowohl experimentelle als auch hermeneutische Methoden an.168 Im Unterschied zur Wissenschaft allerdings erfolgt im Experiment von Marcel Duchamp die Wiederholung von Prozessen, um die Einmaligkeit jeder einzelnen Wiederholung in Form des geschwungenen Fadens zu präsentieren. Es ist daher offensichtlich, dass Marcel Duchamp nicht nur eine distanzierte Haltung gegenüber der Wissenschaft schlechthin einnimmt, indem er diese in Form einer Demonstration kritisiert, sondern er will gleichzeitig einen Wendepunkt in seiner Kunst einleiten. Wie in diesem Kapitel bereits erläutert worden ist, war es sein Ziel, über das von ihm so bezeichnete Retinale der Malerei als einen rein visuellen Reiz hinauszugehen. Die Prinzipien der Rationalität, die er in den Wissenschaften in Form von »Präzisi-
über hinaus spielt Duchamp nach Molderings mit seinem Experiment auf das euklidische Postulat an (vgl. ebd., S. 89 f.). Das Gesetz, dass eine gerade Linie der kürzeste Weg von einem Punkt zum anderen Punkt ist, kann nicht über Erfahrungswerte nachgewiesen werden, sondern beruht ebenso wie der Standardmeter auf einem Übereinkommen. Molderings sieht aus diesem Grund in dem Duchampschen Experiment eine ironische Anspielung auf den wissenschaftlichen Rationalismus und dessen Wahrheitsanspruch vollzogen (vgl. ebd.). 167 An dieser Stelle ist der Zufall vorerst zu verstehen als ein von Duchamp vollführter, aber nicht auf eine bestimmte Gestaltung hin kontrollierter Vollzug einer Aktion, so dass die drei Aktionen zwar unter gleichen Bedingungen begonnen wurden, aber zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Die Erläuterung des Begriffs erfolgt eingehender im Zusammenhang mit dem Ereignis im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments. 168 Vgl. H. Bogdorff: Künstlerische Forschung und akademische Forschung, S. 80.
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on«169 und »Exaktheit«170 verwirklicht gesehen hat, wollte er in seiner Kunst ebenfalls erreicht wissen. Die künstlerische Wissenschaft als Gegenentwurf zur Wissenschaft Mit der Aktion der 3 Stoppages étalon nimmt Duchamp eine Sonderstellung gegenüber den Avantgarden der Moderne ein.171 Besonders die Art und Weise, wie er das wissenschaftliche Experiment als neues Vorgehen in die Kunst einführte, macht deutlich, dass Duchamp einen eigenen Weg einzuschlagen suchte. Selbst jenen Tendenzen in der Kunst, die sich bewusst einer Praxis der Wissenschaft über das Experiment verschrieben hatten, wie die Künstler der russischen Avantgarde, lässt sich Duchamps 3 Stoppages étalon nicht zuordnen.172 Diese bezogen sich vielmehr auf die Übernahme wissenschaftlicher Praktiken des Experiments, um das bereits erwähnte Ziel der Optimierung der Wahrnehmung beim Menschen zu erreichen. Nicht der Vorgang der künstlerischen Reflexion zu einem vorgegebenen Sachverhalt wie bei Duchamp steht im Vordergrund des Experiments, sondern vielmehr ein zielorientiertes Vorgehen, das dem der Wissenschaft sehr viel näher steht als der Kunst. Die 3 Stoppages étalon steht dagegen für ein Experiment mit dem der Künstler keine Wissenschaft ausübt, sondern, wie Sabine Flach und Margarete Vöhringer zurecht konstatiert haben, wird hier eine künstlerische Wissenschaft betrieben, die sich von der Wissenschaft der russischen Avantgarde absetzt.173 Duchamp hat mit der Einführung eines künstlerisch geprägten wissenschaftlichen Prinzips einen neuen Weg für die Kunst eingeschlagen. Es ist nicht die Kunst, die lediglich Verfahrensweisen aus den Wissenschaften adaptiert, sondern sie wird wie im Fall Duchamps zu einem Vorführobjekt oder einer Beweisführung, die als Vorgang nur im Kontext der Kunst Gül-
169 Zit. nach der Übersetzung von H. Molderings: Kunst als Experiment (Cabanne, Pierre: Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S. 67), S. 21. 170 Ebd. 171 Vgl. Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne (phil. Diss. Aachen 1991), Köln 1992, S. 212. 172 Vgl. S. Flach / M. Vöhringer: Ultravision, S. 8. 173 Vgl. ebd.
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tigkeit haben kann. Auf diese Weise wurde mit dem Versuch der 3 Stoppages étalon auch ein erster Schritt hin zu einer forschenden Kunst vollbracht, die sich nicht ausschließlich einer Wissenschaft annähert, sondern sich ihre Verfahrensweisen wie die des Experiments aneignet. Die Determiniertheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes wird über die Unvorhersehbarkeit in dem Experiment der 3 Stoppages étalon wieder relativiert.174 Im Zusammenhang mit der Frage, ob in der Kunst Forschung stattfindet oder nicht, nimmt dieses Experiment eine Sonderposition ein. Es repräsentiert eine Beweisführung mit künstlerischen Mitteln, die naturwissenschaftliche Gesetze als mehr oder weniger willkürliche Konstruktionen, wie die Festlegung des Standardmeters, offensichtlich werden lässt.175 In diesem Sinn wird nicht wie bei Roman Signer oder Carsten Höller erkundet oder exploriert, sondern ausschließlich vorgeführt. Daher findet im Experiment keine Erkundung des Neuen statt, sondern ausschließlich eine Beweisführung gegen die exakten Wissenschaften beziehungsweise gegen die Naturwissenschaften. Dieses Werk operiert anders als die Wissenschaft, nämlich mit der Ironie von Seiten des Künstlers wie unter anderem Dieter Daniels festgestellt hat.176 Duchamp bestätigt mit drei einfachen Wurfgesten die Unvorhersehbarkeit der Natur und stellt diese Unberechenbarkeit den exakten Wissenschaften mit ihren theoretischen Festlegungen und Vermessungen gegenüber, indem er dieses Vorgehen als Experiment deklariert.177 Gleichzeitig zeigt sich an diesem Beispiel von Duchamp, dass die Ausdifferenzierung der forschenden Disziplinen Kunst und Wissenschaft nicht nur einseitig von der Wissenschaft aus betrieben wurde. Bisher hat sich die Wissenschaft aufgrund ihres Objektivitätspostulats, das in der Kunst nicht einzuhalten ist, von ihr abgewendet wie es am Beispiel von Emile Zola und Claude Bernard zu beobachten war. Am Beispiel des Experiments von Marcel Duchamp wird jedoch deutlich, dass auch die Kunst sich von der Wissenschaft abzugrenzen wünschte. Duchamp hält in seinem Experiment an der Einmaligkeit des Ereignisses fest, indem er den Zufall in seinem Vorgehen zuließ und hiermit das konstruierte System der Wissenschaft de-
174 Vgl. D. Daniels: Duchamp und die anderen, S. 212. 175 Vgl. ebd. 176 Vgl. ebd. 177 Vgl. ebd.
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kuvriert. Gleichzeitig ist das wissenschaftliche Experiment als rationales Prinzip ein signifikanter Bestandteil der 3 Stoppages étalon. Es ist das von Duchamp selbst so beschriebene Vorgehen, dass die »exakte und präzise Seite der Wissenschaft« 178 in die Kunst eingeführt werden muss. Die künstlerische Forschung der Pataphysik Diese Mischung aus Zufall und rationaler Systematik spiegelt sich auch in der Beschäftigung Marcel Duchamps mit der Pataphysik wider, die ihm noch eine zusätzliche Anregung in der Ausweitung seines neuen Kunstkonzepts bot. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Roman von Alfred Jarrys mit dem Titel: »Taten und Meinungen des Pataphysikers Doktor Faustroll« (»Gestes et opinions du docteur Faustroll«).179 Die Pataphysik ist ein literarischer Umgang mit dem, was nicht logisch oder rational erfasst werden kann. Allerdings eignet sie sich gleichzeitig auch die wissenschaftliche Forschung an, so dass ein, auch mit Ironie verbundener Ansatz der Forschung verfolgt wird.180 Klaus Ferentschek sieht in der Pataphysik eine Wissenschaft des »Besonderen«181 beziehungsweise der »Ausnahmen«182 verwirklicht, die sich von dem Streben der Allgemeingültigkeit des wissenschaftlichen Anspruchs abgrenzt.183 In der Pataphysik ist daher nicht die Vorhersehbarkeit im Experiment als eine Bestätigung einer Theorie oder einer These im Sinne der Verifizierung interessant. Ganz im Gegenteil wird
178 Zit. nach der Übersetzung von H. Molderings: Kunst als Experiment (P. Cabanne: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 67), S. 21. 179 Vgl. Ferentschik, Klaus: Pataphysik-Versuchung des Geistes. Die Pataphysik & das Collège de Pataphysique. Definitionen, Dokumente, Illustrationen (Batterien 77), Berlin 2006, S. 63 ff. Der von Alfred Jarry geprägte Begriff erschien zum ersten Mal am 28. April 1893 in der Zeitschrift L’Echo de Paris litteraire illustré. 180 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 108. 181 K. Ferentschik: Pataphysik-Versuchung des Geistes, S. 62. Badiou sieht in der Kunst in gleicher Weise ein Verfahren verwirklicht, das auf eine »partikularistische« Art und Weise, das heißt den Einzelfall betreffend, Fragen stellt (s. dazu A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 77 und Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments). 182 K. Ferentschik: Pataphysik-Versuchung des Geistes, S. 62. 183 Vgl. ebd., S. 63 f.
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hier die Unvorhersehbarkeit, die eben im »Besonderen« oder in der »Ausnahme« verankert ist, erforscht. In diesem Zusammenhang ist auch die Beschäftigung Duchamps mit dem Zufall zu verstehen. In einer Notiz hält er fest: »3 stoppages étalon – Zufall in Konserve«184 . Die Betonung des Zufalls, der sich in dem freien Fall der Fäden manifestiert, zeigt an, dass er darin eine neue Form der Gestaltung in seiner Kunst entdeckt hat. Sein Spiel mit der angenommenen »Präzision« und »Exaktheit« der Wissenschaft und der bewussten Einbindung des Zufalls zeigt eine künstlerische Suche an, die das, was noch zu entdecken ist, nämlich die neue Kunst, noch nicht fassen kann. Die Einflussgrößen im Experiment, die auf der einen Seite dem Prinzip der Rationalität wie Ordnung sowie Systematik185 und auf der anderen Seite dem Prinzip der Irrationalität folgen, gewinnen in der Performancekunst der 1960er und 1970er Jahre zunehmend an Bedeutung wie im Folgenden zu untersuchen sein wird. 2.4 Die Performance als experimenteller Generator von Ereignissen Zuvor muss allerdings unterschieden werden zwischen dem, was als experimentell in der Performancekunst zu bezeichnen ist und dem, was das Experiment ist. Zur Klärung und Unterscheidung dieser Begriffe wird zunächst definiert, was unter Performancekunst zu verstehen ist. Die Performance Rose Lee Goldberg sieht in der Performance lediglich einen Rahmen für Aktionen verwirklicht, die vor oder mit einem Publikum stattfinden.186 Dieser sehr offen verstandene Begriff der Performance schließt nach ihr lediglich diejenigen Aktionen aus, die wie im Kontext des Theaters auf vorab
184 T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 108. 185 Diese Begriffe, die das Prinzip der Rationalität ausmachen, werden im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments wieder aufgenommen und eingehender untersucht werden. 186 Vgl. Goldberg, Rose Lee: Live Art 1909 to the Present, London 1979, S. 98 f.
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festgelegte Dialoge zurückgreifen.187 Ihr Ansatz ist ein bewusst offener, denn die Aktion schließt auch unterschiedliche Disziplinen wie Technik, Wissenschaft, Biologie, aber auch Literatur, Poesie und Musik ein.188 Paul Noever hat zum Ausstellungskatalog »Out of actions« in diesem Sinn versucht, den größten gemeinsamen Nenner der Performancekunst zu erfassen, indem er von dem »Versuch einer radikalen Erweiterung des modernen Kunstbegriffs hin zu einem offenen Kunstbegriff«189 spricht.190 Diese Offenheit wird nach Jürgen Schilling über ein Prozess verwirklicht, der auf »Improvisation«191 der Beteiligten und einer »unreflektierte[n] Kreativität«192 von Seiten des Künstlers beruht.193 Letzteres hat zur Folge, dass die Gestaltung des Geschehens ohne bewusste künstlerische Reflexion verläuft.194 Günther Rühle sieht ebenfalls in Performances, die er mit experi-
187 Vgl. ebd. Dieser Ausschluss von inszenierten Dialogszenen, die vorab fixiert wurden, zeigt das große Streben der Performancekunst nicht nur eine Illusion einer Handlung zu zeigen, sondern, das Bewusstsein, dass hier ein Bezug zur Alltagswirklichkeit hergestellt wird. Auf diesen Aspekt wird im Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens eingegangen werden. Insbesondere der Aspekt des Raumes, der das Experiment von dem Außenraum abschirmt, wird an dieser Stelle eingehender erörtert. 188 An dieser Stelle wird darauf verzichtet, auf den Ansatz der Sprechakttheorie nach John Langshaw Austin einzugehen. Dieser Ansatz zur Definition, was Performancekunst ist, ist ausführlich bei Fischer-Lichte (2004) und Hoffmann / Jonas (2005) vorgestellt und analysiert worden. 189 Noever, Peter: »Out of actions? Zum Thema«, in: Out of actions. Zwischen Performance und Objekt 1949-1979, Ausst.-Kat., The Museum of Contemporaray Art Los Angeles 1998, Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien 1998, Museu d’Art Contemporari Barcelona 1999, Musem of Contemporary Art Tokyo 1999, hg. von Paul Schimmel / Peter Noever / Kristine Stille, Ostfildern 1998, S. 7-11, hier S. 9. 190 Vgl. ebd. 191 Schilling, Jürgen: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Eine Dokumentation, Luzern 1978, S. 33 192 Ebd., S. 32. 193 Vgl. ebd., S. 33. 194 Was unter unbewussten künstlerischen Reflexionen zu verstehen sind, wird im Kapitel II.3.1. Der Mechanismus der Unvorhersehbarkeit im Experimentellen
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mentellen Vorgehensweisen gleichsetzt, improvisierte Geschehnisse verwirklicht, die zufällig sind.195 In gleicher Weise definiert Siegfried J. Schmidt Performances als experimentelle Vorgehensweisen, die das, was noch nicht in Sprache gefasst werden kann, eröffnen.196 Dementsprechend werden den Performances Eigenschaften wie »mit ungewissen Ausgang arbeitend«197 und »nonkonformistisch«198 zugeordnet. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Ausdruck der Performance ein experimentelles Vorgehen beinhaltet. Das Experimentelle ist ein improvisiertes Vorgehen, das für die Erkundung nach dem, was nicht in Worte zu fassen ist, steht. Aus diesem Grund spricht Schmidt davon, dass experimentell nicht definiert werden kann, sondern lediglich über dessen Funktion zu bestimmen ist.199 In diesem Zusammenhang hat Schmidt die experimentellen Verfahren typisiert wie »Konstruktion, Expansion, Reduktion, Destruktion«200. Alle vier Verfahren führen zu dem Prinzip der Hervorbringung des Neuen, was noch nicht erfasst werden kann. Entsprechend ist auch »Destruktion« als ein Prozess zu betrachten, der die Kunst und damit auch die Wirklichkeit, die einbezogen wird, von Reglementierungen oder starren Vorgaben der Gesellschaft befreien kann. In diesem Sinn ist die Performance als eine »subversive Strategie«201 zu bezeichnen.202
näher erläutert werden. An dieser Stelle ist es wichtig festzustellen, dass der Künstler Ereignisse im Experimentellen zulässt, die sich seiner Kontrolle entziehen. 195 Vgl. Rühle, Günther: »Welt aus dem Kopfstand«, in: Jürgen Becker / Wolf Vostell (Hg.), Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation, Hamburg 1965, S. 370-376. 196 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: »Was heisst ›Experiment in der Kunst‹ / ›Kunst als Experiment‹«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Das Experiment in Literatur und Kunst, München 1978 (Grundfragen der Literaturwissenschaft, Neue Folge Bd. 3), S. 8-12, hier S. 8. 197 Ebd., S. 9. 198 Ebd. 199 Vgl. ebd., S. 8 f. 200 Ebd., S. 11. 201 G. Rühle: Welt aus dem Kopfstand, S. 373. 202 Vgl. ebd.
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Die Performances, die aus den Happenings und frühen Fluxus-Aktionen der späten 1960er und frühen 1970er Jahren resultieren, markieren einen Aufbruch beziehungsweise die Revision der formalen und akademischen Konvention, die von den Künstlern dieser Zeit als einengend empfunden wurden.203 Die Performancekunst erfährt nach Siegfried J. Schmidt eine Neubewertung durch den Begriff des »Experimentellen«, da hiermit ein Prozess bezeichnet wird, in dem die Erkundung des Neuen stattfindet.204 1965 spricht Pierre Restany bereits in der Herausgeberschrift von Becker und Vostell mit dem Titel »Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation« von einem »experimentellen«205 Vorgehen der Performancekunst. Siegfried J. Schmidt verwendet 1978 die Wendungen wie die »Kunst als Experiment«206 und »experimenteller Produktionsprozess«207 als gleichwertige Umschreibungen für die Performancekunst.208 Um diesen sogenannten experimentellen Produktionsprozess in der Performancekunst zu erreichen, wird nach Fischer-Lichte die Kunst mit der Wirklichkeit konfrontiert.209 Die Trennung dieser Lebensbereiche mit ihren spezifischen Regelungen des Handelns wird nach Fischer-Lichte als »Regulativ«210, das heißt als Norm verstanden.211 Gerade diese Zusammenführung von Kunst und Lebenswirklichkeit in der Aktionskunst provoziert dann nach Fischer-Lichte eine »Destabilisierung«212 dieser gewohnten Grenze,
203 Vgl. ebd. 204 Vgl. ebd. 205 Restany, Pierre: »Die Beseelung des Objekts«, in: Jürgen Becker / Wolf Vostell (Hg.), Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation, Hamburg 1965, S. 101-106, hier S. 103. 206 S. F. Schmidt: Was heisst »Experiment in der Kunst«, S. 9. 207 Ebd. 208 Siegfried J. Schmidt unterscheidet nicht zwischen Experimentell und Experiment, sondern diese werden gleichwertig zur Beschreibung der Performances in der Kunst verwendet. Diese Differenzierung ist allerdings für die vorliegende Untersuchung notwendig, um zu einem besseren Verständnis des künstlerischen Experiments kommen zu können. 209 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 297. 210 Ebd., S. 309. 211 Vgl. ebd., S. 297. 212 Ebd.
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denn das, was als getrennt voneinander existierende Bereiche im Sinne eines Konsenses festgelegt war, wird in diesem Kontext aufgehoben.213 Dies führt bei den Rezipienten und den Beteiligten zu Irritationen, die nach Fischer-Lichte eine Reflexion unserer gesellschaftlichen Regeln und Normen anstoßen soll.214 Dieses Bestreben, das »Regulativ«, das zwischen Kunst und Wissenschaft existiert, als eine Grenze aufzuheben, kann dementsprechend als eine Avantgarde-Strategie215 bezeichnet werden. Allerdings nicht im Sinne einer Fortschrittsgläubigkeit oder im Namen einer Innovation, sondern verstanden als eine Änderung, die noch nicht in Worten greifbar, aber vorhanden ist. Diese von Fischer-Lichte sogenannte »Schwellenerfahrung«216 bezeichnet das nicht explizit Formulier- oder Fassbare, das aber im Prozess der Performance als Erfahrung oder visuelles Ereignis hervorgebracht wird. Sie bezeichnet diesen Zustand auch als »Zwischenexistenz«217 oder »Liminalität«218 , der sich ausschließlich im Ereignis manifestieren kann.219 Erika Fischer-Lichte sieht die Grenzen in der Aktionskunst zwischen Kunst und Wissenschaft, aber auch Kultur und Hochkultur sowie Kunst und Wirklichkeit, immer mehr miteinander verwoben, ohne dass eine eindeutige Grenzziehung möglich wäre. In der Aktion werden diese Bereiche, zwischen denen keine eindeutige Differenzierung im Kontext der Kunst mehr möglich ist, in der Aktion als dynamische Neuverortungen überführt.220 Das Verständnis von einer Autonomie der Kunst,221 das sich aus der Unterscheidung zwischen Kunst und Wirklichkeit definiert hat,
213 Vgl. ebd. 214 Vgl. ebd. 215 Vgl. J. Hoffmann / J. Jonas: Art Works, S. 15. 216 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 305 217 Ebd. Der Begriff der «Zwischenexistenz« ist der Ritualforschung nach Victor Turners Publikation »The Ritual Process-Structure and Anti-Structure« (London 1969) entlehnt und bezeichnet diesen Zustand als «betwixt and between« (vgl. V. Turner: The Ritual Process, S. 95). Turner sieht in diesen Zwischenphasen für Gesellschaften Möglichkeiten für Experimente und Innovationen gegeben. 218 Ebd. 219 Vgl. ebd. 220 Vgl. ebd. 221 Vgl. ebd., S. 306.
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wird aufgegeben. Diese Zusammenführung in der Aktion soll zu erkundenden Vorgehensweisen von Seiten der Teilnehmenden auffordern, wie am folgenden Beispiel von Joseph Beuys’ Aktion Free International University von 1977 gezeigt werden wird. Die Free International University, die im Rahmen der documenta 6 vom 24. Juni bis zum 1. Oktober 1977 stattfand, wurde als eine temporäre Universität eingerichtet, in der die Besucher die Möglichkeit hatten 100 Tage über Themenbereiche, die die Demokratie betreffen, zu diskutieren.222 Es wurden mehrere Workshops angeboten, in denen die Besucher der documenta 6 eingeladen waren, sich aktiv in Form von Diskussionen zu beteiligen. Während dieser Zeit bestand die Möglichkeit, gesellschaftsrelevante Themen mit internationalem Publikum zu diskutieren. Zu folgenden Themen hatten sich unter anderem Workshops gebildet: Periphery Workshop, Nuclear Energy und Alternativer Workshop, Community Workshop, Media Workshop 1: Manipulation, Media Workshop II: Alternatives, Human Rights Week, Migrant Workshop, Violence and Behaviour Workshop. 223
222 Vgl. Tisdall, Caroline: Joseph Beuys, New York 1979, S. 260-264. 223 Während die Free International University auf der documenta 6 abgehalten wurde, war in der unmittelbaren Nähe im Friedericianum die Installation Honigpumpe am Arbeitsplatz aufgebaut (vgl. C. Tisdall: Joseph Beuys, S. 254.). Diese lief während der gesamten 100 Tage der documenta 6 Kassel (JuniOktober 1977). Die Installation war während dieser Zeit im Treppenhaus des Museums Fridericianum aufgebaut. Im unteren Geschoss befand sich die Pumpe, die verbunden über ein Rohrsystem den Honig in die oberen Stockwerke hin- und zurücktransportierte. In der Rotunde des Fridericianums in unmittelbarer Nähe zu den Räumen der Free International University befand sich im Erdgeschoss eine Pumpe, die durch einen Schlauch mehrere Liter Honig pumpte. Der Schlauch wurde durch das Treppenhaus in die oberen Stockwerke gepumpt. Parallel zur Pumpe befanden sich noch zwei Schiffsmaschinen, die von einer Kupferwelle miteinander verbunden waren. Diese Kupferwelle drehte sich in Margarine (vgl. C. Tisdall: Joseph Beuys, S. 254.). Insgesamt befanden sich in diesem geschlossenen Kreislauf 2 Tonnen Honig, 100 kg Margarine, 2 Schiffsmotoren, ein Stahlcontainer, Plastikrohr und 3 Töpfe aus Bronze. Die Materialien in dieser Installation besitzen neben ihrer Funktionalität, Honig durch dieses Treppenhaus zu leiten, auch symbolischen Gehalt. Der verwendete Honig, die Margarine und das Blattgold sind Materialien,
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Im Mittelpunkt der Aktionen von Beuys steht der Mensch. Er bezieht ihn entweder direkt ein oder denkt den Menschen konzeptionell in seine Aktionen hinein. Der Mensch oder der Betrachter wird auf diese Weise gestaltendes Element im Sinne des Konzepts wie im Fall der Free International University über die Form der Kommunikation. Er verortet ihn in seinen Aktionen der »Sozialen Plastik«224 und definiert den Kunstprozess als das Produkt einer gemeinschaftlichen Arbeit zwischen Künstler und Besucher. Das Konzept der Free International University folgt ganz dem Konzept, den Menschen in eine selbstbestimmte Position über die Aktion zu führen, die diskutierend und unabhängig von Autoritäten beziehungsweise Fachleuten stattfindet. Über das Beuysche Konstrukt der »Sozialen Plastik«, in der jeder Mensch sich und seine Kreativität in die Aktion einbringen soll, kann der Mensch modulierend auf gesellschaftliche Prozesse einwirken.225 Joseph Beuys inszenierte eine Universität mit Workshops im Ausstellungsbereich der Kunst. Er schaffte eine Situation, in der die Teilnehmenden das Gefühl haben, ein inspirativer Teil einer wichtigen Unternehmung
die Beuys häufig in seinen Aktionen anwendete und stehen unter anderem für die Reinheit in seinen Aktionen. Honig weist gleichzeitig auch auf die Biene und deren Fähigkeit zur Staatenbildung hin. So sind die Honigpumpe am Arbeitsplatz und die Free International University als auf sich gegenseitig bezogene Prozesse zu verstehen: »Mit der Honigpumpe drücke ich das Prinzip der Freien Internationalen Universität aus, im Blutkreislauf der Gesellschaft zu arbeiten.« (documenta 6, Ausst.-Kat, Malerei, Plastik, Performance, Kassel 1977 (3 Bde.), Bd. 1, Köln 1977, S. 157). An dieser Stelle wird nicht nur die Behandlung der zwei Pole wie Rationalität und Intuition bei Beuys zum Ausdruck gebracht, sondern auch im analogischen Denken. Diese Form des Denkens, die Übertragung des Blutkreislaufs auf die Arbeitsweise der Internationalen Universität, erinnert an die forschende Vorgehensweise von Leonardo da Vinci (vgl. M. Holzhey: Im Labor des Zeichners, S. 44). Beuys identifiziert sich bewusst mit Leonardo da Vinci, der in der Wende der Neuzeit verankert ist: die auf Mythologie und Rationalität beruhenden Empirie. In beiden Teilen sieht Beuys gemeinsam seine Wissenschaft verwirklicht. 224 Rappmann, Rainer: »Interview mit Beuys«, in: Harlan, Volker / Rappmann, Rainer / Schata, Peter: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976, S. 17-118, hier S. 17. 225 Vgl. C. Tisdall: Jospeh Beuys, S. 254.
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wie die der internationalen Universität zu sein.226 Diese experimentelle Aktion von Jospeh Beuys unterscheidet sich allerdings grundlegend von den bereits vorgestellten Experimenten Roman Signers und Carsten Höllers. Während die Aktion von Beuys sich größtenteils auf die Kommunikation der Beteiligten in den Workshops stützt, schließen sowohl Roman Signer als auch Carsten Höller eine Beteiligung, die auf Kommunikation basiert, in ihren Aktionen aus. Anstelle der sozialen Interaktion, die in der Aktion von Beuys ein grundlegender Bestandteil seiner Kunst ist, können Signer und Höller ein Ereignis auch ohne Besucher initiieren. Das heißt, die »Ästhetik des Performativen« von Erika Fischer-Lichte, die sich ausschließlich auf derartige soziale Interaktionen wie sie in der Free International University initiiert werden, bezieht, ist für die vorliegende Untersuchung nicht ausreichend. Im Folgenden soll deshalb auch eine wissenschaftliche Betrachtung des Experiments hinzugegzogen werden, da sie das Experiment weniger als einen Raum für die Kommunikation zwischen den Akteuren versteht, sondern vielmehr als einen technischen Apparat. Als Mittler zwischen dem Forschungsverständnis in der Kunst und in der Wissenschaft wird im Folgenden Hans-Jörg Rheinberger vorgestellt werden. Mit den von ihm sogenannten »Experimentalsystemen« hat er eine Vorgehensweise in der Wissenschaft vorgeschlagen, die eine Parallele zur Forschung der Kunst und insbesondere zum Experiment eröffnet. 2.5 Experimentalsysteme in Kunst und Wissenschaft Rheinberger versteht unter den Experimentalsystemen die kleinsten wissenschaftlichen Arbeitseinheiten, in denen theoretische Konzepte, Apparaturen und Verfahrensweisen einbezogen werden.227 Gleichzeitig steht es für ein
226 Diese Form der Aktion, in der eine Situation inszeniert wird, erinnert an aktuelle Künstlerkollektive wie Signa (vgl. Signa, Webseite des Künstlerkollektivs, http://signa.dk/), die dem Theater zugeordnet werden, aber größtenteils außerhalb dieses Rahmens in Aktion treten. Signa ist ein Theaterkollektiv, das Narrationen ortsspezifisch inszeniert. Die Geschichte des Ortes wird mit fiktiven Elementen vermischt. Die Besucher werden mit den Schauspielern zu Ausführenden vor der Aktion festgelegten Skripts. 227 Vgl. H.-J. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift, S. 22.
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Verfahren, mit dem »Nichtverstehen« erforscht werden kann, denn es wird mit der Hilfe von Experimenten erst das zum Vorschein gebracht, was noch nicht gedacht worden ist.228 Es ist nicht das Wissen, das im Experiment erforscht wird, sondern dem Unvorhergesehenen wird ein Platz in der Konstellation zur Ereignisinitiierung eingeräumt.229 Rheinberger selbst sieht über diesen Begriff immer wieder die Nähe zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung verwirklicht. Er zitiert dazu den bereits erwähnten Mediziner Claude Bernard: »Ein Künstler weiß nie, wie er zu seinen Sachen kommt. Desgleichen weiß ein Wissenschaftler nicht, wie er die Spur seiner Dinge findet. [...] Man muss finden, und zwar genau an dem Punkt, wo es nichts mehr zu wissen gibt.«230 Desgleichen sieht er diese Parallele zwischen Kunst und Wissenschaft mit dem amerikanischen Kunsthistoriker George Kubler bestätigt: »Jeder Künstler arbeitet im Dunkeln und wird nur von den Tunnels und Schächten früherer Werke geleitet, während er einer Ader folgt in der Hoffnung auf eine Goldgrube zu stoßen. Gleichzeitig aber muss er fürchten, dass die Ader schon morgen ausgeschöpft sein kann.«231 Rheinberger sieht dementsprechend in der Arbeit des Künstlers eine Analogie zur Arbeit des Forschers in der Wissenschaft vollzogen. Diese »Arbeit im Dunkeln«, die von Rheinberger sowohl in der künstlerischen als auch wissenschaftlichen Forschung konstatiert wird, erinnert an das Ziel der experimentellen Aktionen der Moderne und der Performancekunst. Hier sollte, das was noch nicht bekannt ist, nämlich das Neue in der Kunst in Anlehnung an wissenschaftliche Vorgehensweisen frei erkundet werden und zwar in einem »Kontext der Entdeckung«. Das Neue und das »Nichtwissen« stehen für das Unvorhersehbare und das noch Unbekannte, das es zu entdecken232 oder zu erkunden gilt. Die Experimentalsysteme stel-
228 Vgl. ebd., S. 25. Rheinberger spricht im Zusammenhang mit den Experimentalsystemen davon, dass ein Wissen produziert wird, dass »[...] wir noch nicht haben«. 229 Vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 78. Hier bezeichnet Rheinberger die Experimentalsysteme als »Innovationsmaschinen«, die in ihrer Offenheit dem Neuen eine Chance geben. 230 Ebd. 231 H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, S. 83. 232 Im Kontext des künstlerischen Experiments von einer Entdeckung zu sprechen, suggeriert zunächst eine Zielorientierung, die nicht vorhanden ist. Es
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len dementsprechend eine Möglichkeit dar, im Rahmen des Experimentierens das »Nichtverstehen« zu erforschen. Die Forderung nach Experimentalsystemen zeigt einen von Hans-Jörg Rheinberger geforderten Paradigmenwechsel in der Wissenschaft an, der das Resultat einer Entwicklung des Experiments als Instrument ist. Michael Heidelberger stellt in seiner Untersuchung »Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment«233 unterschiedliche Intentionen des Forschens mit dem Instrument des Experiments vor. Das Ergebnis seiner Untersuchung zeigt, dass das Experiment kein überzeitliches und in diesem Sinne neutrales Forschungsinstrument aus dem Bereich der Technik ist. In einer historischen Übersicht verdeutlicht er diese unterschiedlichen Interessen am Experiment. Beginnend bei Francis Bacon und Isaac Newton im 17. Jahrhundert bis John Stuart Mill im 19. Jahrhundert, sah man im Experiment zunächst ausschließlich die Möglichkeit, Theorien zu erzeugen.234 Nur diejenigen Theorien waren akzeptabel, die durch Induktion und der anschließenden Generalisierung aus dem Experiment logisch abgeleitet werden können. In diesem Zusammenhang ist das Experiment eine Anlage, die wissensgenerierend und schöpferisch ist. Man erzeugte Phänomene, die neuartig und überraschend waren. Sowohl die Wissenschaft als auch die Kunst erweisen sich in diesem Sinne jeweils als ein Vorgehen, die Welt zu erforschen. Neugier und Kreativität waren Antriebskräfte, die das Experiment zur Entdeckung des Neuen zu nutzen suchen. Das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft wird aus diesem Grund von Theo Steiner bis ins 19. Jahrhundert als überaus konvergent gesehen. 235
kann im Sinne des rezeptiven Vorgangs von einer Öffnung einer neuen Perspektive gesprochen werden. Dazu wird noch im Zusammenhang mit den künstlerischen Beispielen im Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung eingegangen werden. 233 M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 71-92. 234 Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 73. 235 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 33. Allerdings muss an dieser Stelle einschränkend angemerkt werden, dass der Kunst bei Steiner eine veranschaulichende Position in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft zugedacht wird (vgl. ebd.). Die Kunst visualisiert das, was die Wissenschaft erforscht. Der Moment der Veranschaulichung wird im Zusammenhang mit der Behandlung des Modells bei Ursula Damm wieder aufgenommen werden (vgl. Kapitel III.3.3.2.
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Dieser Forschungswille von Wissenschaft und Kunst deckt gleichzeitig nach Olaf Breidbach das Problem der sogenannten Erfahrungswissenschaft oder Empirie auf.236 Die entdeckten und gesammelten Vielfalten mussten in eine anschaubare Ordnung überführt werden, die einer Systematik unterliegt.237 Es stellte sich hier die Frage nach der Klassifizierung der Beobachtungen aus den Experimenten, die gesammelt wurden.238 Die Forschung wurde von dieser Problematik ausgehend von vornherein als eine systematische Vorgehensweise angelegt, so dass nicht mehr die Erkundung im Vordergrund steht, sondern eine schon zu Anfang formulierte Hypothese.239 Nach Heidelberger bestand bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die Forderung, keine Ableitungen aus Beobachtungen der induktiven Methode mehr gelten zu lassen.240 Das Experiment wurde als Instrument zur reinen Überprüfung der Theorie, die dem eigentlichen experimentellen Vorgang vorauszugehen hat, angewendet.241 Die Kritik, die am induktiven Vorgehen ausgeübt wurde, sollte dann später nach Heidelberger von Karl Popper aufgenommen und weitergeführt werden zur sogenannten »AntiInduktivismus-Tendenz«242 . Die Forschung im Kontext der Entdeckung Aus dieser kurz gefassten Entwicklung des Experiments kristallisieren sich bereits zwei Forschungansätze in der Wissenschaft heraus, die auch heute noch Bestand haben. Die Forschung beziehungsweise damit zusammen-
Das Modell). Aber auch hier ist die Kunst nicht mehr nur Repräsentation, sondern das Modell, das produziert wird, ist das Forschungs- und nicht das Veranschaulichungsobjekt. Diese Position gilt es daher in der vorliegenden Arbeit zu widerlegen, da die Kunst, was auch an den künstlerischen Beispielen im dritten Teil (vgl. Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung) zu zeigen sein wird, einen von der Wissenschaft unabhängigen Forschungsanspruch besitzt. 236 Vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 43. 237 Vgl. ebd. 238 Vgl. ebd. 239 Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 73. 240 Vgl. ebd. 241 Vgl. ebd. 242 Ebd.
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hängend das Experiment als Instrument werden in zwei sogenannte Forschungskontexte verankert: dem der Rechtfertigung (»context of justification«) und dem der Entdeckung (»context of discovery«).243 Im »Kontext der Entdeckung« wird nach dem Neuen und sich dem Wissen entziehenden geforscht, weil das, was entdeckt wird, noch nicht zu bezeichnen ist.244 Es ist die nach Heidelberger sogenannte wissensgenerierende und schöpferische Aufgabe des Experiments. Der »Kontext der Rechtfertigung« dagegen steht für die Forschung, die sich der Überprüfung einer Hypothese widmet und mit ihm wird dementsprechend ein tendeziell systematischer Ansatz in der Forschung verfolgt.245 Dies ist der Forschungskontext, in dem die Annahme beziehungsweise die Hypothese vor der Durchführung des Experiments feststeht. Nach Rheinberger ist dies ein Vorgehen im Experiment, das Wissen und nicht das Unerwartete oder Unbekannte erforscht.246 Das Experiment in der wissenschaftlichen Forschung wird größtenteils auf die Überprüfung einer Theorie in Form einer Hypothese reduziert. Dies führt dazu, dass die am Experiment beteiligten Faktoren, wie die Apparatur, über präzise und nachvollziehbare Einstellungen zugunsten der Nachweisbarkeit der zuvor aufgestellten Hypothese kanalisiert werden müssen. Das Ziel der Wissenschaften ist es letztlich, ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen, das sich dadurch auszeichnet, dass es als Phänomen wiederholbar, allgemeingültig und dementsprechend als Regel formuliert werden kann.247 Die Tendenz, dass Experimente lediglich Instrumente zur Bestätigung einer vorab festgelegten Hypothese sind, hat Folgen. Die konsequent vollzogene Rechtfertigung von vor dem Forschungsprozess aufgestellten Thesen führt bis heute zu einer Kultur an Experimenten, die nicht schöpferisch Forschung betreibt wie im »Kontext der Entdeckung«. Vielmehr wird das, was mit Hilfe des Experiments zu Wissen führen soll, eingeschränkt auf das, was bereits in unserem Denken existent ist und kann dementsprechend keine Überraschungen hervorbringen. Eine Entwicklung, die insbesondere Hans-
243 Vgl. ebd., S. 74. Heidelberger bezieht sich auf den Philosophen und Physiker Hans Reichenbach (Reichenbach, Hans: Experience and prediction : an analysis of the foundations and the structure of knowledge, Chicago 1938). 244 Vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 75-81. 245 Vgl. ebd., S. 79. 246 Vgl. ebd. 247 Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 29.
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Jörg Rheinberger für die Biologiewissenschaften kritisiert hat. Die wissenschaftliche Forschung im »Kontext der Entdeckung« setzt im Gegensatz zum »Kontext der Rechtfertigung« kein stabil vorhandenes System der Wissenschaft in Form von Gesetzmäßigkeiten voraus. Hier ist die Möglichkeit gegeben, die Entdeckung des Neuen im Sinne des Unerwarteten, in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen.248 Dieses Forschen im »Kontext der Entdeckung«, das mit einem »Nichtwissen« des Forschers geleitet wird, dient nicht dem Vorgehen der Überprüfung von Thesen und Theorien, sondern dem des Entdeckens. Es gibt eine Vielzahl von sogenannten zufälligen Entdeckungen, wie die des Penicillins, das lediglich durch eine Nachlässigkeit des Forschers Alexander Fleming erfolgte. Er vergaß eine angelegte Bakterienkultur, die nach drei Wochen von einem Pilz überwuchert wurde, dem sogenannten Penicillin.249 Derartige Zufälle wie sie sich im Labor im Krankenhaus von St. Mary in London 1928 ereigneten, die in der Forschung einen noch nicht gedachten Zusammenhang eröffneten, werden im Forschungsprozess nicht einbezogen, weil sie unberechenbar sind und immer im Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Forschers als subjektive Feststellungen zugeordnet werden.250 Doch gerade dieser Prozess, der sich einer Vorhersehbarkeit und dementsprechend auch einer Planbarkeit entzieht, macht einen nicht unbedeutenden Teil der Forschung aus. Aus dieser Erkenntnis heraus will Rheinberger dieses Vorgehen, das vom Zufall bestimmt wird, wieder bewusst in der wissenschaftlichen Forschung als »Experimentalsysteme« einbezogen wissen.
248 Vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 79. 249 Vgl. Chen, Wai: »The laboratory as business: Sir Almroth Wright’s Vaccine programme and the construction of penicillin«, in: Cunningham, Andrew (Hg.), The laboratory revolution in medicine, Cambridge 1992, 245-294, hier S. 245 f. 250 Vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 77. Rheinberger sieht in Gaston Bachelard die einzige Ausnahme einer gegenteiligen Position. In seiner Publikation »Der neue wissenschaftliche Geist« (Frankfurt a. M. 1988) sieht dieser den Wissenschaftler in seinem Forschungsvorgang als ganze Person involviert (s. G. Bachelard: Der neue wissenschafltiche Geist, S. 7).
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Nach Bachelard ist die Person des Forschers in seiner Gesamtheit, das heißt auch als das Subjekt, im Experiment involviert.251 Dieser ist nicht nur objektive Instanz, die sich im rationalen Vorgehen im »Kontext der Rechtfertigung« ausdrückt, sondern ist auch Subjekt, das den Vorgang der Entdeckung voranzutreiben sucht.252 Er sieht darin die Voraussetzung zur Entstehung von Erkenntnisgewinnung. Rheinberger spricht deshalb im Zusammenhang mit Gaston Bachelard auch von der »Emergenz des Wissens«253, die im Bereich des »Nichtverstehens« verharrt.254 Dies kann über das Ausprobieren erkundet und dementsprechend auch zum Vorschein gebracht werden. Dieses Unbekannte beziehungsweise »Nichtwissen« schließt Bachelard, wie auch Rheinberger, aus dem Vorgang der Forschung nicht aus: »Das ganze geistige Leben der Wissenschaft bewegt sich dialektisch an dieser Grenze zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen.«255 Wie Theo Steiner festgestellt hat, solle nach der aristotelischen Teilung die Wissenschaft Wahrheiten entdecken und die Kunst Neuheiten produzieren.256 Der Entdeckungszusammenhang als kreativer Prozess, der Neues hervorzubringen vermag, wird dementsprechend tendenziell den Künsten zugeordnet. Diese Auffassung von einer Aufgabenteilung zwischen Kunst und Wissenschaft greift, wie an der Kritik von Rheinberger ersichtlich wird, allerdings zu kurz. Die Aufteilung, dass die Kunst die Entdeckungen übernehmen soll, die dann von den Wissenschaften gerechtfertigt werden, wird beiden Disziplinen nicht gerecht. Vielmehr muss der Frage nachgegangen werden, wie ein sogenannter »Paradigmenwechsel«257 in der Wissenschaft eingeleitet werden kann. Thomas Kuhn versteht unter »wissenschaftlichen Revolutionen« die Förderung eines noch nicht vorhandenen
251 Vgl. G. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, S. 7. 252 Vgl. ebd. 253 H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 76. 254 Vgl. ebd., S. 77 255 G. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, S. 171. 256 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 28. 257 Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 2014, S. 87 ff. Unter einem Paradigma in der Wissenschaft versteht Kuhn die Festlegung von Normen für die Forschung: »Paradigma [versorgen] die Wissenschaftler nicht nur mit einer Landkarte [...], sondern auch mit einigen wesentlichen Richtlinien für die Erstellung der Landkarte.« (Ebd. 2014, S. 122).
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Wissens, das in den Wissenschaften zu einer Krise führen kann, weil das Konventionelle ausgedient hat und das Neue noch nicht entdeckt wurde.258 Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »normalen Wissenschaft«259 , die sich durch die Kumulation von tradierten Wissensbeständen auszeichnet. Dieses System ist geprägt von starren Konventionen, die erst von einer sogenannten nicht-konventionalisierten Subjektivität260 wieder transformiert werden kann. Dieser Auslöser zur Transformation wird von außen angetrieben.261 Der Auslöser ist das, was Kuhn als das nichtkonventionalisierte Subjekt bezeichnet hat, nämlich den Forscher als Subjekt. Das heißt, die Wissenschaft wird von Menschen gemacht, die Einfluss auf die Forschung nehmen.
258 Vgl. ebd., S. 89. 259 T. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 25. Die normale Wissenschaft ist nach Thomas Kuhn: »Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlage für ihre weitere Arbeit anerkannt werden.« (T. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 25). 260 Vgl. ebd., S. 155. Kuhn sieht in den »jungen Leuten«, die diejenigen sind, die nicht in einem Paradigma fest verwurzelt sind, eine wichtige Rolle zur potentiellen Auslösung der Revolution in der Wissenschaft verwirklicht. 261 Der kreative Prozess der Entdeckung in der Wissenschaft wird erkannt, allerdings nicht bewusst in die Forschung einbezogen, weil in diesem »Kontext der Entdeckung« der Zufall zugelassen wird, der vom Forscher nicht berechenbar gemacht werden kann. Diese Einschränkung ist auch bei Thomas Kuhns Theorie zu wissenschaftlichen Revolutionen existent, obwohl dieser den logischen Empirismus und den kritischen Rationalismus Karl Poppers angreift, indem er eben diesen Entdeckungszusammenhang in den Fokus seiner Betrachtungen rückt (vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 71-92). Allerdings verharrt Kuhn nach Heidelberger auf dem Standpunkt, dass die Funktion des Experiments ausschließlich aus der Überprüfbarkeit einer aufgestellten These besteht (ebd. S. 71-92). Der Rechtfertigungszusammenhang ist dementsprechend auch bei Kuhn weiterhin für die Wissenschaft gültig. Thomas Kuhn vertritt letztlich die Ansicht, dass die Entdeckung im wissenschaftlichen Forschungskontext ein Vorgang ist, der sich vor dem Experiment, aber nicht in ihm ereignet.
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Aus diesem Grund kann auch die Übertragung des Paradigmenmodells von Thomas Kuhn auf die Kunstgeschichte neue Aspekte künstlerischer Revolutionen hervorbringen, wie es beispielsweise Wolfgang Nöth in seiner Untersuchung unternommen hat.262 Er unterscheidet zwischen »Normal-Künstler« und »Avantgarde-Künstler«. In der Zeit einer Krise in der Kunstgeschichte wie am Beispiel der europäischen Avantgarde gut sichtbar wird, soll das, was als starr oder auch konventionell empfunden wurde, zerstört werden, um dem Neuen, das noch nicht erfasst oder benannt werden kann, Platz zu schaffen. Der avantgardistische Künstler wendet sich in dieser Phase verstärkt dem Experimentellen zu, um das Neue erforschen zu können. Nach Daniel Arasse zeigt Leonardo da Vincis Werk exemplarisch, dass die »wissenschaftlichen Verfahrensweisen«263 der Renaissance eine Krise gegenüber den konventionellen Interpretationsmodellen des Mittelalters offenbart.264 Diese Art der Krise hält so lange an, bis der ausstehende Wechsel stattgefunden hat. Dabei sorgen insbesondere konservative Bestrebungen dafür, dieses Neue zu unterdrücken, so dass sich der »Paradigmenwechsel« nicht zeitgleich mit der Entdeckung des Neuen durchsetzen kann.265 Hans-Jörg Rheinberger postuliert aus diesem Grund in der Wissenschaft die Berücksichtigung der Kontingenz als ein unabsehbares Spektrum an Möglichkeiten im Experiment. Wirklich neue Wege der Forschung können, das ist seine These, nur über den offeneren experimentellen Weg im Sinne des »explorierenden Experimentierens«266 beschritten werden.267 Die »Experimentalsysteme« bezeichnen dementsprechend in der Wissenschaft ein Vorgehen der Erkundung oder Exploration, wie es auch für den Forschungskontext der Entdeckung von Friedrich Steinle gefordert worden ist. Das Neue werde nach Rheinberger durch eine Experimentalanordnung ermöglicht, die gleichzeitig das »Nichtverstehen« einbezieht. Rheinberger
262 Vgl. Nöth, Wolfgang: »Das Happening als künstlerisches Experiment«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Das Experiment in Literatur und Kunst, München 1978 (Grundfragen der Literaturwissenschaft, Neue Folge Bd. 3), S. 32-37. 263 D. Arasse: Leonardo da Vinci, S. 91. 264 Vgl. W. Nöth: Das Happening als künstlerisches Experiment, S. 32-37. 265 Vgl. T. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 122. 266 H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 78. 267 Vgl. ebd.
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deklariert diese Prozesse als »Experimentalsysteme«. Diese sind Anordnungen, mit denen das »Nichtwissen«, wie Elke Bippus den Vorgang des »Nichtverstehens« von Rheinberger bezeichnet hat, in der Forschung aufgespürt wird zur Identifikation wissenschaftlicher Ereignisse. Die »Experimentalsysteme« nach Rheinberger stehen auf der einen Seite für wissenschaftliche Verfahrensweisen, die einer Systematik oder Logik folgen und für das Rationale stehen. Auf der anderen Seite bezieht es in dieses System auch das, was überraschend ist und als irrational bezeichnet werden kann, ein.268 Dieser Vorgang der Idee oder einer Eingebung ist dem eigentlichen Vorgang des Experiments im offiziellen Verständnis der Wissenschaft als ungeplanter und daher unvorhergesehen Moment vorgeordnet. Wie am Beispiel des Penicillins ersichtlich wurde, wird die Phase der Entdeckung, also das, was ein zufälliger oder auch kreativer Moment sein kann, aus dem Experiment ausgeschlossen. Wenn die Wissenschaft neue Entdeckungen zu machen wünscht, dann ist es nach Rheinberger eben nicht das planmäßige Vorgehen, das zu diesem Ziel führen kann. Vielmehr postuliert er, dass dieses Vorgehen des Unvorhersehbaren in das Experiment einbezogen wird. Das Experimentieren wird zu einem Grenzbereich zwischen Wissen und »Nichtwissen«. Guido Boulboullé nimmt den Gedanken der »Experimentalsysteme« von Rheinberger in der Wissenschaft für die Kunst auf. 269 Er sieht insbesondere in der Aktionskunst, die Prozesse initiiert und einen Raum des Erkundens mit und ohne Menschen schafft, eine Parallele zum Prozess der wissenschaftlichen Forschung gegeben. Im Kontext der Kunst möchte er die »Experimentalsysteme« als »Wahrnehmungssysteme«270 verstanden wissen und zeigt in diesem Kontext die Offenheit der beiden forschenden Disziplinen an. Dieses Forschungshandeln verfolgt nicht ein Ziel oder eine These, sondern der zu erforschende Gegenstand muss erst erkundet und dementsprechend erschlossen werden. Das wissenschaftliche und das künstlerische Forschungssystem haben demzufolge als laufende Forschungsprozesse eine Gemeinsamkeit: In ihnen werden Phänomene produziert. Diese sind wiederum in der Disziplin der Kunst oder der Disziplin der Wissenschaft eingebunden, was bedeutet, dass das Experiment auch Einschränkungen unter-
268 Vgl. ebd. 269 Vgl. Boulboullée 2007, S. 73 270 Ebd.
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liegen kann. Diese Einschränkungen oder Bedingungen des Experiments sind in der Wissenschaft aufgrund des vorhandenen Wertesystems stärker ausgeprägt als in der Kunst. Aus diesem Grund fordert Rheinberger auch für die »Experimentalsysteme« eine weniger stark ausgeprägte Engführung im Experiment, um dementsprechend eine unvorhergesehene Entfaltung des Ereignisses zu erreichen.271 Er bezeichnet die Experimentalsysteme deshalb auch als »Überraschungsgeneratoren«272, weil mit ihnen das Unbekannte untersucht wird.273 In diesem Kapitel hat sich gezeigt, dass neben dem wissenschaftlichen auch das künstlerische Experiment seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat. Das Experiment als Instrument steht in Abhängigkeit von der Intention des Künstlers oder des Forschers, der wiederum beeinflusst sein kann von der jeweiligen Erwartung, die genau an dieses Instrument gestellt wird. So war das Experiment in der russischen Avantgarde ein Instrument, das die Wahrnehmungsvorgänge der Rezipienten in der Kunst erforscht. Gleichzeitig lag das Interesse dieser Forschung in der Optimierung des menschlichen Wahrnehmungsapparates, was impliziert, dass auch politische Interessen hier eine Rolle gespielt haben.274 Dies führte dazu, dass experimentelle Anordnungen und Apparate verwendet wurden, die dem wissenschaftlichen Pendant entlehnt waren. Diese Forschung in der Kunst war dementsprechend ergebnisorientiert im Sinne der Eindeutigkeit275 angelegt, so dass an dieser Stelle tendenziell
271 Vgl. H.-J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, S. 85. 272 Ebd. 273 Vgl. ebd., S. 87. 274 Vgl. M. Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik, S. 24. Vöhringer stellt fest, dass die Verknüpfung zwischen Politik und Kunst noch nie so eng gewesen, wie in den 1920er Jahren in Russland. 275 In der wissenschaftlichen Forschung gilt die Objektivität beziehungsweise die Intersubjektivität, wie sie bereits im Zusammenhang mit dem Objektivitätsbegriff nach Breidbach für die Wissenschaft formuliert wurde (vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 12 und Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung), und die Eindeutigkeit der Aussage. In der Kunst steht dagegen die Mehrdeutigkeit oder »Offenheit« der Botschaft in den Vordergrund, wie sie von Umberto Eco formuliert wurde (vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 42).
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mehr von einer wissenschaftlichen Erforschung der Kunst die Rede sein kann. Ganz anders ging dagegen Marcel Duchamp vor. Er übernahm das wissenschaftliche Experiment nicht, sondern kritisierte es. Auf diese Weise brachte er im Gegensatz zur russischen Avantgarde ein Kunstexperiment und nicht nur ein wissenschaftliches Experiment im Kontext der Kunst hervor. Unter dem Einfluss der Pataphysik führte er ein Experiment in der Kunst durch, das sich die Wissenschaft in Form eines Experiments aneignet, dieses aber nicht kopiert. Im Unterschied zu den russischen Avantgardisten, realisierte Duchamp ein Experiment, das ein systematisches Vorgehen einhielt, wie die jeweils ein Meter Länge der drei Fäden, die exakt drei Mal von einem Meter Höhe auf die Leinwand geworfen wurden. Allerdings, und das unterscheidet dieses Demonstrationsobjekt von dem wissenschaftlichen Experiment, kamen alle drei Wurfversuche letztlich zu drei unterschiedlichen Ergebnissen. Am Beispiel Duchamps wird ein künstlerischer Anspruch an eine Forschung offensichtlich, die das Instrument des Experiments aus der Wissenschaft in die Kunst zu integrieren sucht. Es soll, wie Duchamp sich selbst zum besonderen Stellenwert dieses Experiments in seiner Schaffensphase äußerte, über die Einführung der Wissenschaft eine für ihn neue Kunst entstehen.276 Susanne Witzgall dagegen subsumiert Marcel Duchamps 3 Stoppages Étalon unter dem Begriff der »Wissenschaftsparodie« und suggeriert damit, dass dieses Kunstwerk nur im direkten Bezug zur Wissenschaft gesehen werden kann.277 Allerdings wird hier die Tatsache ignoriert, dass eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaft im Kontext der Kunst auch eine Reflexion auslösen kann, die eine neue Kunst entstehen lässt, wie am Beispiel von Duchamp beobachtet werden konnte. Nicht der Bezug der Kunst zur Wissenschaft wird dann thematisiert, sondern es kann ganz im Sinne des Kuhnschen »Paradigmenwechsels« das Neue entstehen.278 Was bereits in der Literatur zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, kam mit dem Experiment Duchamps auch in der bildenden Kunst auf, nämlich sich das Vorgehen des Experiments anzueignen, sich aber gleichzeitig auch von einer direkten Übernahme wissenschaftli-
276 Vgl. Übersetzung von H. Molderings: Kunst als Experiment (Cabanne, Pierre: Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S. 67.), S. 21. 277 Vgl. S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 43. 278 Vgl. T. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 122.
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cher Vorgehen künstlerisch zu distanzieren. Die Avantgarden und das gleichzeitige Aufkommen einer Aktionskunst im Futurismus279 machten dann eine Entwicklung möglich, die als experimentelle Situation zu verstehen ist. Hier konnten erstmalig Ideenentwicklung und Kunstproduktion zeitnah zusammengebracht werden, um eine Form der künstlerischen Erkundung einleiten zu können.280 In diesen Aktionen konnten erstmalig explorative Handlungsweisen stattfinden, die Möglichkeiten eröffneten, Unvorhersehbares beziehungsweise den Zufall einzubeziehen. Diese Einbindung des Unvorhersehbaren wird, wie noch zu zeigen sein wird, insbesondere in den Aktionen von Roman Signer ein für ihn selbst nicht zu kontrollierendes Gestaltungsmittel sein (vgl. Kapitel II.3.1. Der Mechanismus der Unvorhersehbarkeit im Experimentellen). Das Ereignis ist dann das Ergebnis, das unter Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments zunächst unabhängig vom Initiierungsmechanismus des Experiments definiert wird. Die Rezipienten konnten in der Performancekunst der 1960er und 1970er Jahre einer Erkundung nicht nur intellektuell beiwohnen, sondern auch physisch agieren. Der Künstler agiert mit einem Publikum, um im Sinne Joseph Beuys’ auch eine gesellschaftsverändernde und politische Kunst zu betreiben.281 Die Performancekunst ist dann eine experimentelle Situation, in der gemeinsam mit einem Publikum ein Thema oder eine Fragestellung erkundet wird. Diese experimentelle Situation in der Performancekunst, die von Fischer-Lichte auch als »Labor-Situation«282 bezeichnet wird, ist allerdings noch nicht mit den Verfahren eines Romans Signers, Carsten Höllers oder Ursula Damms vergleichbar. Das künstlerische Experiment zeichnet sich nicht nur durch das Experimentelle aus, das über Improvisationen das Unvorhersehbare und damit dem Zufall einen sehr großen Raum lässt. Es besteht auch aus der Aneignung wissenschaftlicher Vorgehensweisen, wie sie bereits bei Marcel Duchamp ersichtlich waren. Dieser hat nicht unkontrolliert mehrere Fäden mit unterschiedlichen Längen
279 Vgl. S. De Ponte: Aktion im Futurismus, S. 176 280 Vgl. ebd. 281 Joseph Beuys sieht in seiner Kunst vielmehr eine soziale, politische und therapeutische Funktion verwirklicht. (vgl. R. Rappmann: Interview mit Beuys, S. 17-118.). 282 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 299.
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auf eine Leinwand geworfen, sondern er hat genau drei ein Meter lange und von einem Meter Höhe geworfene Fäden auf drei gleich große Leinwände platziert. Dieser Ansatz eines systematischen Vorgehens, das von Parametern bestimmt wird, wie der Meter in dem Beispiel von Duchamp, ist ein Element, das im künstlerischen Experiment neben dem ausschließlich intuitiven Handlungen des Experimentellen der Performances hinzukommt. Auf diese Systematiken, die sich durch gesetzte Parameter als konstante Größen für die stattfindenden Aktionen auszeichnen und dementsprechend auch einen Kontrollmechanismus im Experiment darstellen, wird im folgenden Kapitel unter II.3.2. Die Systematik serieller Verfahrensweisen im Experiment im Zusammenhang mit seriellen Verfahrensweisen eingegangen werden. Diese beiden Einflussgrößen (»Systematik« und »Zufall«) des künstlerischen Experiments spielen auch in der folgenden Betrachtung eine gewichtige Rolle, um den Mechanismus des Experiments verstehen zu können. Das Experiment wird zu einer von mir sogenannten Ereignisfalle, in der sowohl die »Systematik« als auch der »Zufall« wirksam wird. Dieser Motor des Vorgehens im Experiments wird am Ende des nun nachfolgenden Kapitels im Kapitel II.3.3. Das Experiment als Ereignisfalle vorgestellt werden.
3.
DAS EREIGNIS ALS ERGEBNIS DES EXPERIMENTS
Auf die Frage, was ein Ereignis ist, kommt Marc Rölli, der sich mit diesem Begriff im Umfeld der französischen Philosophie befasst hat, zu dem Ergebnis, dass das Ereignis definiert werden kann als etwas, das keiner Ordnung folgt und unsere Vorstellung eines historisch konstruierten »Kontinuum[s] empirischer Regelmäßigkeiten«283 durchbricht.284 Das Ereignis ist demnach etwas, das sichtbar wird und sich gleichzeitig nach Rölli einem kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung entzieht.285 Alain
283 Rölli, Marc: »Ereignis auf Französisch«, in: Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, S. 7-42, hier S. 7. 284 Vgl. ebd. 285 Vgl. M. Rölli: Ereignis auf Französisch, S. 7.
102 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Badiou sieht in den Ereignissen ebenfalls Akte des einzelnen Auftauchens verwirklicht, die losgelöst von einem Zusammenhang stehen.286 Ein Ereignis steht für das Unerwartete, das sich einer Vorhersehbarkeit entzieht, weil es einzigartig ist. Dieter Merschs Definition hebt die Einzigartigkeit desselben hervor, indem er von einer »absolute[n] Singularität«287 spricht, die sich dementsprechend einer Wiederholung widersetzt. Diese Einzigartigkeit geht als ein Moment der Überraschung und der Irritation einher, weil es nicht einer Gewohnheit entspricht, sondern diese ganz im Gegenteil zuwiderläuft. Das Ereignis erfüllt deshalb auch keine Erwartungen, weil es in seiner Erscheinung noch gar nicht gedacht worden ist.288 Für Badiou ist das Ereignis die »Leere«289, die das Neue zum Vorschein bringen lässt, das bis zu diesem Zeitpunkt keine Beachtung gefunden hat oder noch nicht in Erscheinung getreten ist. Frederik Hartle spricht in Anlehnung an Badious Werk »Das Sein und das Ereignis« deshalb auch von einer »Leere«, die im Ereignis spricht, weil es noch nicht gewesen ist.290 Erst die Sichtbarwerdung im Ereignis, das heißt, die »Form« macht die Aufmerksamkeit und die entsprechende Rezeption erst möglich. Die
286 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 160. 287 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, S. 240. 288 Die Erwartung, die im Ereignis nicht erfüllt wird, zeigt eine interessante Parallele zum »Nichtverstehen« im Forschungsvorgehen (»Kontext der Entdekkung«) wie ihn Hans-Jörg Rheinberger aufgezeigt hat (vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 76 f.). Das Ereignis zeigt etwas an, das noch nicht gedacht worden ist und sich unserem Wissen entzieht (vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 383). Aus diesem Grund ist es als überraschend oder unvorhersehbar zu bezeichnen. Dieser Aspekt wird im Laufe des Kapitels weiter vertieft werden. 289 A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 73. Badiou sieht in dieser »Leere« weder eine lokale noch globale Verortung des Begriffs. Die »Leere« bezeichnet das »Unpräsentierbare, das sich im Leeren vollzieht« (vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 73.). 290 Vgl. Hartle, Frederik: Die Treue zum Ereignis denken. Der französische Philosoph Alain Badiou begibt sich in die Leere der Situationen, http://www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6967
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»künstlerischen Ereignisse«291 sind nach Badiou immer das »Zur-FormKommen«292 von Dingen oder Prozessen wie beispielsweise der Erfindung der atonalen Musik nach Schönberg oder das Aufkommen der nichtgegenständlichen Malerei.293 Das bedeutet, dass die Geschichte der westlichen Kunst auch immer eine Geschichte der »Form«294 gewesen ist, die bis dahin formlos oder der Welt der »Form« fremd oder neu war.295 Demzufolge ist das Kunstereignis eine nach Badiou modifizierte »Form«, die nicht vorhersehbar ist,296 weil auch das Ereignis in der Kunst nicht intentional ist wie Mersch ebenfalls für das Ereignis in seiner Untersuchung festgestellt hat.297 Dementsprechend sieht Badiou auch nicht den Künstler als den Schöpfer, oder als das »Gravitationszentrum«298 des Kunstwerks, an.299 Der künstlerische Schöpfer bleibt zwar Ursache des Kunstwerks, entfernt sich aber gleichzeitig von ihm.300 Die künstlerische Subjektivität, die de facto noch vorhanden ist, zeigt sich nach Badiou nur durch die Möglichkeit einer »neuen Form«301 an.302 In dieser Weise geht es in der Kunst um die »neue
291 Die künstlerischen Ereignisse stehen nicht nur für Aktionen in der Kunst oder die Musik, sondern auch das Kunstwerk als Objekt wird von Badiou unter diesem Begriff gefasst, wie beispielsweise die Malerei. Die künstlerischen Ereignisse sind nach Badiou »Mutationen« (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 79.), die sich immer wieder mit der Frage nach der Formgebung beschäftigen. Die Kunst ist nach ihm die Beschäftigung mit der Frage, was einen sogenannten »Formwert« hat und was nicht. (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 79). 292 A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 79. 293 Vgl. ebd. 294 Ebd. 295 Vgl. ebd. 296 Vgl. ebd. 297 Vgl. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 240. 298 A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 83. 299 Vgl. ebd. 300 Vgl. ebd. 301 Ebd., S. 79. 302 Vgl. ebd., S. 83. Badiou spricht im Zusammenhang der Kunst als Wahrheitsverfahren von einer »Inkorporation« des Ereignisses durch den Rezipienten und den Künstler, das heißt den am Kunstwerk beteiligten Subjekten (vgl.
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Idee«303 von Malerei, Musik usw. Das Ereignis bringt dann das zur Visualisierung, oder setzt etwas in eine »Form«, was bislang keine Beachtung gefunden hat, weil es bis dahin auch noch nicht gedacht wurde.304 Das Kunstwerk als ein Ereignis ist allerdings nach Badiou nicht der Speicher einer Wahrheit, sondern vielmehr die »Form«, die mit der Fertigstellung des Kunstwerks beziehungsweise des Kunstereignisses auch schon wieder vergangen ist.305 Badiou spricht aus diesem Grund nicht nur von einem Kunstwerk, sondern auch von einer »[...] künstlerischen Konfiguration [...], die durch einen ereignisbezogenen Bruch, der eine vorhergehende Konfiguration als veraltet gelten lässt, ausgelöst wurde.«306
A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S.81). Das Ereignis ist das Subjekt, das vom Künstler und Rezipienten gemeinsam gebildet wird. Hier vollzieht Badiou den Bruch des Künstlers beziehungsweise des künstlerischen Subjekts von seinem Kunstwerk, denn dieser wird nicht mehr mit der Subjektivität des Kunstwerks gleichgesetzt. Die »Inkorporation« des Kunstereignisses durch den Reziepienten und den Künstler wird unter dem Begriff der »Treue« von Künstler und Rezipient zu einem Kunstereignis bei Badiou weitergeführt. Dieser Aspekt des Systems der Rezeption und Produktion des Kunstwerks im Zusammenhang mit der künstlerischen Forschung und des Instruments des Experiments wird auch im Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst wieder aufgenommen werden. 303 A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 78. 304 Vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 215. Badiou spricht hier von einer »Nicht-Zugehörigkeit« der Leere. 305 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 82. 306 Badiou, Alain: Kleines Handbuch zur Inästhetik, Wien 2001 (frz. Originalausg.: Badiou, Alain: Petit Manuel d’inesthétique, Paris 1998), S. 22. Badiou versteht unter dem Begriff der »Inästhetik« ein neuartiges Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst: »In-ästhetisch ist für mich eine Beziehung der Philosophie zur Kunst, der in keiner Weise die Absicht zu Grunde liegt, Kunst, die aus sich selbst heraus Wahrheit hervorbringt, als Objekt für die Philosophie einzusetzen. Entgegen der ästhetischen Spekulation beschreibt die In-Ästhetik allein die aus der unabhängigen Existenz bestimmter Kunstwerke hervorgehenden intraphilosophischen Wirkungen.« (A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 2.)
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An dieser Stelle soll ein Beispiel aus der Kunst diese These von Badiou verdeutlichen. Er selbst hat hierfür die Malerei beispielsweise Pablo Picasso307 im Jahr 1912 angeführt.308 Diese Phase ist der Beginn der Distanzierung von der »mimetischen« Kunst. Gegenstände sind zwar erkennbar, werden aber auf der Basis geometrischer Figuren »rekonstruiert«309. Die Neuerung der Kunst an dieser Stelle besteht in der radikalen Abwendung der gegenständlichen und räumlichen Darstellung in der Malerei hin zu einer geometrischen Figuration (»Abstraktion«), die allerdings noch auf diese Gegenständlichkeit (»Mimesis«) basiert. In dieser Phase werden Gegenstände wie beispielsweise bei Picasso Violinen, Trauben etc. als Zeichen weiterhin vom Rezipienten erkannt, aber in ihrer perspektivischen Darstellung werden sie hier bereits aufgehoben. Die Kunst zeigt am Beispiel von Picasso, was vergangen ist (die »Mimesis«) und woran die Kunst sich ihren künftigen Weg bahnen wird (die »Abstraktion«). Badiou bezeichnet dies als einen Mechanismus des »Rückwirkens«310, das beispielhaft in dem Ereignis der Kunst von Picasso sichtbar gemacht wird.311 Für Badiou ist dementsprechend ein altes System wie die von ihm bezeichnete »Mimesis« in der Malerei nicht aufgehoben, sondern die überkommene »Form« hat weiterhin Bestand, denn: »[...] das Kunstwerk ist das, was gewesen sein wird.«312 Die alte Form, am Beispiel von Picassos kubistischer Phase, wird nicht überholt, indem sie ausgelöscht wird, sondern hier erfolgt vielmehr eine Modifizierung. Das heißt in die neuartige »Form« fließt die alte mit ein. Ein Kunstereignis steht in diesem Sinn für einen Augenblick, oder einen »Punkt«313, in einer Prozedur, die eine Aneinanderreihung singulärer Ereignisse darstellt, die jeweils einen Unterschied zum bereits gewesenen zugleich eröffnet und visualisiert. So ist die Wahrheit »[...] die generische
307 Alain Badiou selbst führt keine konkreten künstlerischen Beispiele an. Es kann allerdings ein Gemälde von Pablo Picasso beispielhaft genannt werden, nämlich Céret and Sorgues (Violine und Trauben) von 1912 (Öl auf Leinwand, 61 x 50.8 cm, Museum of Modern, Art New York). 308 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 82. 309 Ebd. 310 Ebd. 311 Vgl. ebd. 312 Ebd. 313 A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 21.
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Menge der ereignishaften Folgewirkungen dieser Mutationen der Kunst.«314 Das bedeutet, dass ein Kunstereignis immer auch als ein Teil eines Prozesses angesehen werden muss, das sozusagen mitwirkt an einer »Wahrheitsprozedur«315 . Im Gegensatz zu Badiou, der einen Prozess in den Kunstereignissen verwirklicht sieht, betrachtet Dieter Mersch den Zustand des einzelnen und einzigartigen Ereignisses, den er aufgrund des Unaussprechlichen im Kontext der Performancekunst auch als »Aura«316 bezeichnet. Dieter Mersch sieht im Kunstereignis, worunter er ausschließlich die Performancekunst versteht, ein Geschehen vollzogen, das sich einem konkretisierenden sprachlichen Ausdruck entzieht.317 Es ist das, was im Ereignis nicht verfügbar zu sein scheint, weil es nicht benannt werden kann. Den Begriff der »Aura« will er allerdings nicht als einen mythischen Zustand missverstanden wissen.318 So ist für ihn die »Aura« ein Phänomen, das heißt, es ist ausschließlich das, was wahrgenommen wird. Die »Aura« ist nach Mersch »[...] nichts anderes als das Ereignis im Modus von Wahrnehmung.«319 Das Ereignis ist bei Badiou, anders als bei Mersch, nicht nur ein wahrnehmbares Phänomen, sondern es wird vielmehr in Relation zu Wahrheiten gesetzt.320 Wahrheit ist für Badiou keine formalisierte Form des Wissens, sondern findet im Ereignis statt.321 Es ist der Augenblick des Ereignisses, in dem die bereits erläuterte Modifizierung der Form sich vollzieht. Hier wird etwas anderes als das bisher Gewusste visualisiert und tritt dementsprechend in Erscheinung.322 Diese Feststellung ist für die Kunstforschung ein
314 Ebd., S. 81. 315 Ebd., S. 105. An dieser Stelle spricht Badiou von einer Verdunkelung der «Wahrheitsprozedur« in der Wissenschaft. Sie befinde sich in einer Abhängigkeit die eher ökonomischen Zielen verfolgt. Das Ziel der Wissenschaft Wahrheiten in Form von Erkenntnis zu gewinnen, wird seiner Meinung nach in dieser Weise verfälscht. 316 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 9 317 Vgl. ebd. 318 Vgl. ebd., S. 10. 319 Ebd., S. 9. 320 Vgl. A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 20. 321 Vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 369. 322 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 81.
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gewinnbringender Aspekt, denn hiernach können Wahrheiten an Ereignissen oder auch Ereignisfolgen als Ergebnis des Experiments festgemacht werden. Folgt man Badiou, so hat »jede Wahrheit ihren Ursprung in einem Ereignis«323, so dass hier das visualisiert wird, was sich unserer Aufmerksamkeit bis dahin entzogen hat.324 Badiou benennt die Bedingung, die für ein Wahrheitsereignis gesetzt sein muss, indem er den Begriff der »Treue«325 einführt. Die »Treue« bezeichnet nach ihm einen Akt, in dem das Subjekt sich einem Ereignis verpflichtet und die Wirkungen, die sich daraus ergeben können, anerkennt. 326 Es ist die Bindung des Subjekts gegenüber den Folgewirkungen eines Ereignisses. Das heißt, es besteht eine Aufmerksamkeit gegenüber dem Ereigneten, das unvorhersehbar oder unerwartet erscheint und sich dementsprechend von dem verankerten Wissen als status quo differenziert, weil es überraschend ist.327 Der Mensch nimmt das Ereignis an, verpflichtet sich diesem und den damit zusammenhängenden Wirkungen der Veränderung. Einem Ereignis treu zu sein, heißt dementsprechend auch die Gelegenheit einer Erneuerung zu begreifen.328 Dafür ist es notwendig, das Ereignis zu benennen und die Prozedur zu erkennen. Als Beispiel kann auch hier die Kunst von Picasso gesehen werden, denn hier konnte erst über die Akzeptanz des Neuen beziehungsweise der neuen »Form« der Prozess zur Überwindung der gegenständlichen Malerei in Form des Kubismus angestoßen werden.
323 A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 20. 324 Vgl. ebd., S. 161. Badiou räumt die Möglichkeit ein, dass ein Ereignis geleugnet werden kann. 325 A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 263. Badiou sieht in der »Treue« des Subjekts zum Ereignis folgendes verwirklicht: »Treu zu sein, heißt das Legalwerden eines Zufalls zusammenzufügen und hervorzuheben.« (Ebd., S. 263) 326 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 161. 327 Vgl. ebd., S. 84. 328 Vgl. ebd., S. 123.
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Das Spiel Dieter Mersch sieht in der Performancekunst keinen »Wahrheitsvollzug«329 verwirklicht, sondern vielmehr die Durchführung eines Spiels330, in dem Handlungsabläufe geprobt werden können. In einer Konstellation der Performance können nach Mersch spontane oder plötzliche »Brüche«331 erfahrbar gemacht werden.332 Unter den »Brüchen« versteht dieser das Unerwartete oder Unvorhersehbare, die im Rahmen dieses Spiels plötzlich 333 erscheinen. Das Ereignis wird allein bestimmt durch die Erscheinung und dessen Aktualität, die sinnlich erfahrbar gemacht werden kann.334 Aus diesem Grund sieht er in der Performancekunst die Verbindung zwischen dem Ereignis und dem Spiel. Christian Janecke bezeichnet in seiner Untersuchung »Kunst und Zufall: Analyse und Bedeutung«335 das künstlerische Experiment explizit als ein Spiel. 336 Er beruft sich auf die Festlegung, dass mit dem wissenschaftlichen Experiment immer eine nach außen orientierte Zweckmäßigkeit verfolgt wird, während das Spiel immer Selbstzweck bleibt.337 Für Janecke ist das künstlerische Experiment deshalb ein Spiel, weil es seiner Meinung nach das Unabsehbare und das Zufällige beinhaltet. Dies sind Eigenschaften, die dem wissenschaftlichen Experiment nach seiner Definition nicht zuzuordnen sind.338 Allerdings beachtet Janecke bei seiner Schlussfolgerung nicht, dass unterschiedliche Kontexte der Forschung existieren wie sie bereits im Kapitel II.2.5. Experimentalsysteme in Wissenschaft und Kunst erläutert worden sind.339 Neben dem »Kontext der Rechtfertigung« ist auch der »Kontext der Entdeckung« vorhanden, der durchaus Raum für den Zu-
329 D. Mersch: Das Sein und das Ereignis, S.11. 330 Vgl. ebd. 331 Ebd. 332 Vgl. ebd. 333 Ebd. 334 Vgl. ebd., S. 229. 335 Vgl. Janecke, Christian: Kunst und Zufall: Analyse und Bedeutung (phil. Diss. 1993), Nürnberg 1995, S. 92. 336 Vgl. ebd. 337 Vgl. ebd., S. 93. 338 Vgl. ebd. 339 Vgl. H.-J. Rheinberger: Nichtverstehen und Forschen, S. 76 f.
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fall im wissenschaftlichen Experiment lässt. In beiden Kontexten findet, wie bereits mehrfach erwähnt, nach Rheinberger wissenschaftliche Forschung statt. Das heißt, der Ausgangspunkt seiner Überlegung, dass ein wissenschaftliches Experiment den Zufall ausschließen muss, weil es einer Zweckmäßigkeit folgt, ist falsch. Im Gegensatz zu Janecke, der das Spiel der Kunst und das Experiment der Wissenschaft zuordnet, trennt Elisabeth Fritz in ihrer Untersuchung zur Aktionskunst die Handlungsabläufe des Experiments und des Spiels nicht voneinander.340 Sie sieht im künstlerischen Experiment vielmehr ein Konglomerat aus angestrebter Erkenntnis und Ereignis, welche sowohl »kontingente«341 als auch »spielerische«342 Momente enthalten kann, vollzogen.343 In gleicher Weise kommt auch Fischer-Lichte im Zusammenhang mit der Performancekunst zu dem Schluss, dass der Bereich des Experiments und des Spiels nicht eindeutig voneinander unterschieden werden können.344 Die Bezeichnung »Erkundung« steht deshalb auch für das Vorgehen, das sich im Bereich zwischen Experiment, das in der Kunst für ein rationales Vorgehen steht, und Spiel, das ein Gegenstück zur Rationalität des Experiments ist, ansiedelt. Im künstlerischen Experiment wird dementsprechend etwas erkundet, das noch nicht bekannt ist, weil es noch entdeckt werden muss. Das heißt, der Gegenstand der Forschung muss erst über das explorierende Vorgehen erarbeitet werden, wie Boulboullée auch im Zusammenhang mit den »Experimentalsystemen« festgestellt hat.345 Den in der Aktionskunst beziehungsweise im Experiment vollzogenen Prozess ausschließlich als Spiel zu bezeichnen, würde diesem allerdings nicht gerecht werden, weil die Erkundung auch gleichzeitig ein Streben nach Entdeckung impliziert, die in Form der Irritation oder einer neuen Formgebung oder beidem erfolgen kann. Während also Mersch einen spielerischen Charakter in der Initiierung von Ereignissen im Kontext der Kunst realisiert
340 Vgl. E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 147. 341 Ebd., S. 145. 342 Ebd. 343 Vgl. ebd. 344 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 62. 345 Vgl. G. Boulboullée : Experimentalsysteme in Kunst und Naturwissenschaft, S. 69.
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sieht,346 ist nach Alain Badiou darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, dass Wissen und unter bestimmten Bedingungen auch Wahrheiten in einem von ihm sogenannten »Wahrheitsverfahren«347 erzeugt werden können. Es wird das in einem Kunstwerk hervorgebracht, was sich unserem Wissen entzieht, weshalb Badiou feststellt, dass in diesem Kunstereignis ein bestimmter Moment sichtbar wird, der eine »Leere« aufdeckt.348 Das Kunstwerk stellt dann den »differentiellen Punkt«349 dar, der Wahrheiten aufzeigen kann. Als visuelle Manifestationen, wie Handlungen oder Objekte, sind Ereignisse in dem Moment ihrer Fixierung bereits vergangen und können gleichzeitig auf das Künftige hinweisen.350 Es wird ein Augenblick präsentiert, der sich gleichzeitig schon wieder verflüchtigt hat. Die Wahrheit impliziert nach Badiou dann immer den Prozess der Suche oder der Erkundung, der nie beendet sein wird.351 In diesem Zusammenhang führt er noch ein weiteres Beispiel aus der Musik an. Arnold Schönberg produziert seiner Ansicht nach die Wahrheit von Richard Wagner und Gustav Mahler,352 denn dieser hat die Sezierung der Tonalität, die bei beiden bereits veranlagt war, konsequent weitergeführt. Der Bruch ist die Beendigung der Tonalität, die fortgesetzt wird über die neue Form der Zwölftonmusik, die bei Schönberg festgemacht werden kann. Es ist ein ähnliches Beispiel wie das von der bereits vorgestellten kubistischen Malerei von Picasso, nur dass hier noch der laufende Prozess der Musik hinzugenommen wird. Das Alte, also die Tonalität, verliert mit Schönberg seine Gültigkeit. Der Künstler versteht erst im Ereignisprozess seiner Kunst, was sich vollzieht, so dass sich dieser von dem Ereignis seiner Kunstproduktion auch überraschen lassen kann. Badiou folgert daraus, dass der Künstler
346 Vgl. D. Mersch: Das Sein und das Ereignis, S. 11. 347 A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 22. 348 Vgl. ebd. 349 Ebd., S. 21. 350 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 82. 351 Vgl. A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 19. Die Feststellung, dass die Wahrheit unendlich vielfältig (»mannigfaltig«) ist, macht auch die Suche, unter anderem im Wahrheitsverfahren der Kunst, nach ihr endlos. 352 Vgl. A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 19.
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nicht mehr geistiger Schöpfer seines Kunstwerks sein kann.353 Er ist in diesem Verständnis nicht mehr derjenige, dessen Geist die Grundlage des Kunstwerks bildet, sondern es ist der Prozess, der den Ausgangspunkt für ein Verstehen konstituiert.354 Mersch macht dies an der veränderten Struktur zeitgenössischer Kunstwerke fest: Indem Kunstwerke aus Ereignissen bestehen, wird der klassische Werkbegriff aufgebrochen,355 denn das Kunstwerk definiert sich über diese fortwährenden Prozesse an Ereignisfolgen. Anders als Mersch benennt Badiou dagegen den Künstler explizit als eine Einflussgröße im Kunstereignis.356 Nach Badiou führt erst die Akzeptanz sowohl von Seiten des Künstlers als auch von Seiten des Rezipienten dazu, dass der »differentielle Punkt« im Kunstwerk als ein Bruch zwischen dem Alten und dem Neuen eintreten kann.357 Als Beispiel kann auch hier wieder das Kunstwerk der kubistischen Phase von Picasso angeführt werden. Erst die Akzeptanz dieses Kunstwerks sowohl von Seiten des Künstlers als auch von Seiten des Rezipienten als ein System358 macht es möglich, dass in diesen Werken die neue Formgebung359 auch entsprechend wahrgenommen worden ist. Hätte Picasso sowie die Rezipienten dieser Zeit seinem Werk nicht diesen großen Stellenwert eingeräumt, wäre es in Ver-
353 Badiou spricht in diesem Zusammenhang von der »Inkorporierung« des Kunstwerks über den Künstler und den Rezipienten. Das Subjekt ist nicht mehr der Künstler, sondern das Kunstwerk. (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S.123 f.) 354 Vgl. D. Mersch: Das Sein und das Ereignis, S. 210. 355 Vgl. ebd., S. 168. 356 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 123 357 Die Akzeptanz oder die »Treue« zum Ereignis, bezeichnet nach Badiou einen Akt, in dem wir uns einem Ereignis verpflichten und die Wirkungen, die sich daraus ergeben können, anerkennen. Sich einem Ereignis zu verpflichten, bedeutet, das Ereignis zu akzeptieren (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 84.). Der Mensch nimmt das Ereignis an und verpflichtet sich diesem und den damit zusammenhängenden Wirkungen der Veränderung. Einem Ereignis treu zu sein, heißt dementsprechend auch die Gelegenheit einer Veränderung zu ergreifen (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 123.). 358 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 83. 359 Vgl. ebd., S. 79.
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gessenheit geraten. Das heißt, erst die Annehmbarkeit des Ereigneten in der Kunst, was Badiou als »Inkorporation« bezeichnet, macht eine Veränderung und damit eine Neuartigkeit des Wahrgenommenen möglich. Badiou unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer positiven Wahrnehmung und einer negativen Wahrnehmung eines Ereignisses.360 Letzteres ist die Nicht-Akzeptanz des Geschehnisses und ist Ausdruck für die Unterdrückung oder die Ignoranz dessen, was sich ereignet hat.361 Erst die Akzeptanz des Ereigneten macht die Veränderung möglich, die Ausdruck einer Neuerung oder einer Entdeckung ist. An dieser Stelle kann zusammengefasst werden, dass das Ereignis unabhängig von der Initiierung im Experiment zunächst einmal etwas bezeichnet, das unerwartet auftaucht. Es bringt nach Badiou das zum Vorschein, was vor diesem Ereignis noch nicht gedacht worden ist, weil es sich bis zu diesem Zeitpunkt unserem Wissen entzogen hat. An dieser Stelle wird auch eine Parallele zu Rheinbergers Theorie über das geforderte »Nichtverstehen« in der Forschung offensichtlich. Diese zu erforschenden »Leerstellen«, die für das, was sich bis dahin unserem Wissen entzogen hat, stehen, treten erst in Form eines Ereignisses auf. Diese Ereignisse sind zufällig, weil sie sich auch unserem Wissen bis zu diesem Ereigniszeitpunkt entzogen haben. Erst die Akzeptanz des Ereignisses, das in Form des Unvorhersehbaren beziehungsweise des Neuen in Erscheinung tritt, kann dann benannt werden.362 Die von Rheinberger so bezeichneten »Überraschungsgeneratoren« beziehungsweise »Experimentalsysteme« initiieren Ereignisse, mit denen sich das »Nichtwissen« fixieren lässt. Die Forschung in der Kunst als ein Prozess, der aus der Initiierung von Ereignissen besteht, ist deshalb auch eine Forschung an Ereignissen, die sowohl vom Künstler als auch von Rezipienten über den sogenannten Vorgang der beidseitigen »Treue zum Ereignis« 363 erfolgen muss. Mit der Wahl des Ereignisbegriffs in der vorliegenden Untersuchung wird nun deutlich, dass es sich bei den Ergebnissen der Initiierungen im künstlerischen Experiment nicht ausschließlich um Phänomene handelt wie sie analog in den Definitionen am Anfang des Kapitels II.2. Das Experi-
360 Vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 95. 361 Vgl. ebd., S. 97. 362 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 123 f. 363 A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 263.
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ment als Instrument für das wissenschaftliche Pendant von Schwarte (2013), Steiner (2006) und Heidelberger (1998) genannt worden sind. Vielmehr muss gerade im Kontext der Kunst das Ergebnis des Experiments als Ereignis gesehen werden. Die Tatsache, dass im künstlerischen Experiment kein Ergebnis in Form von Erkenntnis wie im wissenschaftlichen Experiment erfolgt, hat zur Folge, dass ästhetische Erfahrungen in der Kunst zu machen gleichzeitig nach Bippus zur Folge hat, auch »Irritationskompetenz«364 zu entwickeln. Die Kunst ist dann diejenige Disziplin, die diese Abweichungen oder Überraschungen sucht und akzeptiert, wie auch die künstlerischen Beispiele im dritten Teil dieser Arbeit noch zeigen werden.365 Das Ereignis ist die visuelle Manifestation des Neuen, das als Begriff für das »Nichtverstehen«, die »Leere« und das »Nichtwissen« steht. Das Prinzip des Rationalen und des Irrationalen Das Ereignis, das unerwartet aus einem Zusammenhang gerissen als Singularität auftaucht, versucht Alain Badiou basierend auf der Mathematik, die in ihrer logischen Struktur keine Irrationalität eines Ereignisses zulässt, rational zu fassen und in seine Philosophie einzubinden.366 Sein Werk »Das Sein und das Ereignis« präsentiert nach seinem Schüler Mehdi Belhaj Kacem zunächst auf der Grundlage der Mathematik die Rationalität.367 Das Irrationale, das sich im Ereignis manifestiert, ist zunächst im Konstrukt des rein Rationalen, wie beispielsweise in der Mathematik, wie bereits erwähnt, nicht vorgesehen. Nach Kacem verbietet die Mathematik als eine sogenannte »Struktur des Realen«368, dass es ein Ereignis gibt. Badiou baut diese Irrationalität des Ereignisses nun bewusst in seine Theorie ein.369 Indem er beispielsweise ein Ereignis aus der Kunst, wie das Gedicht von Mall-
364 E. Bippus: Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung, S. 103. 365 Vgl. Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung 366 Vgl. Kacem, Mehdi Belhaj: Inästhetik und Mimesis, Berlin 2011 (frz. Originalausg.: Kacem, Mehdi Belhaj: Inesthetique et mimèsis, Lignes 2010), S. 30. 367 Vgl. ebd. 368 Ebd., S. 30. 369 Vgl. ebd. Kacem sieht dies in der Bezugnahme Badious auf das Gedicht von Mallarmé, das er in das rationale System der Mathematik seiner Ontologie einbaut (vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 219-228).
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armé,370 in dieses rationale Gerüst seiner Philosophie einbindet, macht er das Ereignis mit seiner Art der Schreibweise fassbar, weil es unvorhersehbar ist.371 Auf diese Weise finden Rationalität und Irrationalität gemeinsam einen Platz in seiner Philosophie: »Wenn Badiou sich nur an die Mathematik gehalten hätte, hätte er seine Auffassung von Ereignis nicht entdeckt. Und wenn er sich nur an die künstlerische Doktrin eines Ereignisses gehalten hätte, ohne sie in der mathematisierten Schreibweise, die seinen Stil definiert, zu rationalisieren, wäre diese Doktrin des Ereignisses melancholisch oder tragisch geblieben.«
372
Auf diese Weise gelingt es Badiou sowohl die Rationalität als das ordnende Prinzip und das Ereignis als das nicht vorhersehbare Prinzip zusammenzuführen. Es ist dies ein Versuch, dem Neuen Platz zu schaffen, weil es sich vom Konsens oder dem Bewährten unterscheidet. Auch wenn die Anmerkung zur rein künstlerischen Doktrin von Kacem pathetisch als »melancholisch« oder »tragisch« umschrieben wird, kann für unseren Zusammenhang festgehalten werden, dass die Kunst auf diese Weise in ihrem Vorgehen eine Lenkung erfährt. Badiou ignoriert die Irrationalität373 im Sinne der Unvorhersehbarkeit der Kunst nicht, sondern bindet sie in die Systematik der Mathematik ein. Dieses Vorgehen von Badiou, das sowohl die Rationalität wie die der Mathematik als auch die Unvorhersehbarkeit oder Irrationalität der Kunst einschließt, lässt sich ebenfalls in der systematischen Erkundung des künstlerischen Experiments wiederfinden. Diese beiden Einflussgrößen, die Rationalität auf der einen Seite und das Ereignis auf der anderen Seite, sollen aus diesem Grund für das künstlerische Experiment im folgenden Kapitel einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden.
370 Vgl. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis, S. 219. Badiou bezeichnet das Gedicht als »[...] den Ort eines zufälligen Ereignisses [...], das es von seine[n] Spuren ausgehend, zu interpretieren gilt.« 371 Vgl. M.B. Kacem: Inästhetik und Mimesis, S. 30. 372 Ebd. 373 Vgl. ebd., S. 34.
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3.1 Der Mechanismus der Unvorhersehbarkeit im Experimentellen Fischer-Lichte stellt in ihrer Untersuchung zur Ästhetik des Performativen fest, dass Künstler sich in ihrer Performancekunst für Prozesse öffnen, die sich bewusst ihrer eigenen gestaltenden Kontrolle entziehen.374 Einen Weg zur Realisierung für einen derartigen Prozess sieht sie in der Einbindung der Besucher in das Konzept der Performancekunst verwirklicht. Der teilnehmende Rezipient ist in seiner Agitation beziehungsweise Reaktion ein für den Künstler unvorhersehbares Element, wie auch am Beispiel von Joseph Beuys gezeigt worden ist. Der an der Aktion Teilnehmende kann gestaltend auf das Kunstwerk einwirken, so dass der Künstler zumindest einen Teil seiner Kontrolle verliert.375 Dieser bezieht mit der Beteiligung des Rezipienten am Gestaltungsprozess bewusst die Kontingenz in sein künstlerisches Konzept ein.376 Das heißt, der Künstler wird gleichzeitig zu einem Beobachter von Prozessen, die er zwar als Konzept angestoßen hat, aber die er gleichzeitig ohne weitere Einflussnahme auf den Handlungsablauf verfolgt.
374 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 61. Der Begriff der Kontrolle wird in dieser Untersuchung im Zusammenhang mit den Künstlern gesehen, die die Teilnehmenden an die Gestaltung des Ereignisprozesses beteiligen (s. ebd., S. 282). Welche Problematik aus dieser Beteiligung der Teilnehmenden für den Künstler entstehen kann, zeigt das Beispiel von Robert Rauschenbergs Black Market von 1961, das, wie Blunck herausgestellt hat (vgl. L. Blunck: Between Object & Event, S. 87.), entgegen dem künstlerischen Interesse eine Umgestaltung seines Konzepts erfahren hat. An diesem Aspekt wird im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle wieder angeknüpft werden. 375 Wie viel Kontrolle der Künstler als Forscher in seinen Experimenten übernimmt, variiert. Aus diesem Grund wird dieser Aspekt an den jeweiligen Künstlern unter Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung zu betrachten sein. 376 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 61.
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Diese so entstandene Kontingenz in der Performance wird bei FischerLichte ausschließlich am Partizipienten377 verankert, der von ihr in diesem experimentellen Rahmen als der größte nicht zu steuernde Faktor angesehen wird. Diese von Fischer-Lichte so bezeichnete »feedback-Schleife«378 bedeutet, dass die Reaktionen innerhalb der Individuen einer Gruppe von Rezipienten im Sinne einer Handlung zu einer Verselbständigung der Aktion führen, die im Vorfeld vom Künstler nicht steuerbar ist. Folglich handelt der Rezipient autonom ohne die direkte Lenkung durch den Künstler in der Aktion. Unter diesen Bedingungen ist der Partizipient eine das Kunstwerk gestaltende Instanz, die sich der Kontrolle des Künstlers entzieht, aber als ein eigenständiger Prozess akzeptiert wird.379 Erika Fischer-Lichte sieht dementsprechend in der Performancekunst auch ein »[…] selbstbezügliches autopoietisches System mit offenem Ausgang […]«380 verwirklicht. Dem Künstler kommt in dieser Konstellation die Rolle des »Versuchsleiters«381 zu, der die Aktion initiiert, indem das Konzept vorgegeben, aber die Ausgestaltung den Teilnehmenden überlassen wird. Fischer-Lichte kommt aus diesem Grund wie Mersch zu dem Schluss, dass in derartigen Prozessen die künstlerische Intention zurückgedrängt wird, zugunsten des teilnehmenden Kollektivs.382 So entzieht sich das Kunstereignis der Performance nach Meinung von Fischer-Lichte gänzlich der gestaltenden Kontrolle des Künstlers, wenn er die Handlung ohne Einschränkung oder Vorgaben vollständig den Teilnehmenden überlässt.383
377 Auf diesen Begriff wird im Kapitel II.4.2.4. Der Partizipient noch weiter eingegangen werden. An dieser Stelle steht er für den bereits erwähnten teilnehmenden Rezipienten. 378 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 61. 379 Vgl. ebd. 380 Ebd. 381 Ebd., S. 285. 382 Vgl. ebd., S. 281 f. und D. Mersch: Das Sein und das Ereignis, S. 210. 383 Auf das Verhältnis zwischen Kontrolle und Partizipation, das heißt der Teilnahme des Publikums am Geschehen der Performance wird im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle erörtert werden. Diesem zu untersuchenden Aspekt für das künstlerische Experiment liegt der Artikel von Janet Kraynak zugrunde, in dem die Partizipation der Besucher in einem Zusammenhang mit der künstlerischen Gestaltungskontrolle gebracht wird (vgl.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 117
Für den Künstler lässt die von ihm initiierte experimentelle Situation der Performance das Unerwartete auch für ihn selbst zum Vorschein kommen. Er ist dann nur noch derjenige, der die Entwicklung des Kunstwerks von außen beobachten kann. Die künstlerische Kontrolle fällt dementsprechend zugunsten des Neuen als Überraschungsmoment weg. Die künstlerische Gestaltung wird in der Aktionskunst demnach vom Künstler als ein Prozess betrieben, der von seiner Intention oder Kontrolle befreit ist. Automatisierte Prozesse Katja Kwastek hat in ihrer Arbeit über digitale Kunst diesen Prozess des Loslassens von Seiten des Künstlers beziehungsweise dessen Akzeptanz von zufälligen Prozessen (»random processes«384) beleuchtet. Es sind von ihr künstlerische Verfahrensweisen beobachtet worden, die den Moment des Unvorhersehbaren oder des Zufalls bewusst im Rahmen des Kunstwerks initiiert haben.385 In einem Verfahren beschreibt sie eine nicht vorhandene Intenionalität (»absence of intentionality«386) des Künstlers in der Produktion seines Kunstwerks. Als Beispiel nennt sie das bereits erläuterte Experiment der 3 Stoppages étalon (1913-14) von Marcel Duchamp.387 Nicht die Gestaltung der Bindfäden auf der Leinwand steht hier im Mittelpunkt seiner Arbeit. Vielmehr lag das künstlerische Interesse an dem freien Flug der Fäden, beziehungsweise deren Formgebung auf der Leinwand. Nicht die Form der Fäden als eine gestalterische Idee war für Marcel Duchamp vom Interesse, sondern die Aktion, die diesem Ergebnis vorangegangen ist. Diese Aktion war bewusst als freier Flug gestaltet, der sich seiner Kontrolle entzogen hat. Jackson Pollock war nach Kwastek in seinem Vorgehen mehr an eine Erweiterung des spontanen künstlerischen
J. Kraynak: Dependent Participation, S. 22-45.). Die Aktion erfährt dann entgegen der Meinung von Fischer-Lichte keine Verselbständigung durch die Teilnehmenden, sondern diese werden vielmehr in ihrem Aktionsradius stark reglementiert. 384 Kwastek, Katja: Aesthetics of Interaction in Digital Art, Massachusetts 2013, S. 12. 385 Vgl. ebd. 386 Ebd. 387 Vgl. ebd., S. 10.
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Ausdrucks interessiert (»enhancing spontaneous expressivity«388) und suchte entsprechend nach dem Neuen in seiner Kunst. Nach Kwastek erfuhr hier die Malerei nicht nur eine bildhafte Fixierung über den Vorgang des Farbauftrags auf die Leinwand, sondern bei Pollock wird die Aktion oder der Vorgang der Malerei als erweiterndes Element eingeführt.389 Die Malerei wird zu einer expressiven Geste, die sich auf der Leinwand manifestiert.390 Schließlich unterscheidet sie noch ein künstlerisches Vorgehen, das die gestalterische Kontrolle von Seiten des Künstlers bewusst außen vor lässt. Als Beispiel nennt sie John Cage als denjenigen Künstler, der über die Improvisationsmusik ganz im Sinne des Happenings neue Perspektiven über das Experimentelle zu eröffnen suchte (»[...] the unpredictability of processes that lie beyond the controll of the artist«391). Die Einbeziehung des Zufalls war sein zentraler Gedanke innerhalb seiner Improvisationsmusik. Mit ihm konnten neuartige Klangerweiterungen erzeugt werden.392 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diese von Katja Kwastek aufgeführten künstlerischen Prozesse eine Gemeinsamkeit besitzen, nämlich dass sie unabhängig von der Kontrolle einer gestaltenden Instanz des Künstlers entwickeln können.393 Dieser tritt in diesem Zusammenhang mehr als Initiator von Prozessen und weniger als deren Gestalter auf. Es existieren dementsprechend Mechanismen im Experiment, in denen der Künstler bewusst versucht, Prozesse als Gestaltungsmittel einzusetzen, die möglichst unabhängig von ihm verlaufen. Diese Elemente in der Aktion, die eine Unvorhersehbarkeit eröffnen können, werden im Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlersicher Forschung in bezug auf das Ex-
388 K. Kwastek: Aesthetics of Interaction in Digital Art, S. 12. 389 Vgl. ebd. 390 Der Prozess seiner sogenannten Action-Paintings wurden vom Filmer und Fotografen Hans Namuth dokumentiert, der damit eine neu angelegte Vorgehensweise in der Malerei offenlegte. Hans Namuth (17. März 1915 in Essen geboren und 13. Oktober 1990 in East Hampton New York gestorben) war amerikanischer Fotograf und Filmemacher mit deutscher Herkunft. Er wurde insbesondere durch die Fotoserie über Jackson Pollock bekannt (vgl. Carr, Carolyn Kinder: Hans Namuth Portraits, Washington / London 1999, S. 18 f.). 391 K. Kwastek: Aesthetics of Interaction in Digital Art, S. 11. 392 Vgl. ebd., S. 10. 393 Vgl. ebd.
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periment vorgestellt werden. Gleichzeitig existieren auch Verfahrensweisen im Experiment, die diese Kontingenz einschränken. Das bedeutet, der Unkontrollierbarkeit des Ereignisses wird im Experiment ein kontrollierendes Verfahren, nämlich das der Systematik entgegengesetzt. Nicht mehr die Improvisationen sind die alleinigen Antriebskräfte der Erkundung künstlerischer Forschung. Dieses improvisatorische Vorgehen ist dann als experimentell zu bezeichnen. Erst die Kontingenz des Ereignisses und das gleichzeitige systematische Vorgehen machen gemeinsam das künstlerische Experiment aus. Im folgenden Kapitel wird aus diesem Grund zu klären sein, was unter diesen kontrollierenden beziehungsweise systematischen Vorgehensweisen in der Kunst zu verstehen ist. 3.2 Die Systematik serieller Verfahrensweisen im Experiment Im Zusammenhang mit der Einschränkung der Kontingenz in den Kunstereignissen stellt Peter Friese für die Gattung der Installation fest, dass Kunstwerke existieren, die sich durch »[...] forschende Neugier, methodisch verankertes Durchhaltevermögen und einer erkennbar nachhaltigen Systematik [...]«394 auszeichnen. Diese Aussage trifft er im Zusammenhang mit den Werken von Nikolaus Lang, der sich bereits in den 1970er Jahren mit der Methode der Wissenschaft auseinandergesetzt hat. Gemeint ist eine Vorgehensweise des Sammelns von Fundstücken, die er systematisiert, um sie als Ergebnis in einer Vitrine oder in Form eines Katalogs auszustellen.395 Susanne Witzgall subsumiert derartige Systematiken bei Künstlern unter »Appropriation wissenschaftlicher Arbeitsweisen« und benennt unter dem Punkt »Sammeln und Archivieren« noch zusätzlich Künstler wie Mark Dion und Olaf Nicolai.396 Allen drei Künstlern ist gemeinsam, dass sie in ihren Werken die systematisierende beziehungsweise ordnende Vorge-
394 Friese, Peter: »Im Laboratorium des Zweifels. Sechs Kapitel zum Thema Kunst und Wissenschaft«, in: Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Ausst.-Kat., Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen 2007, hg. von Peter Friese / Guido Boulboullé / Susanne Witzgall, Heidelberg 2007, S. 11-43, hier S. 17. 395 Vgl. ebd. 396 Vgl. S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 71 ff.
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hensweise der Wissenschaft in ihre Kunst einbeziehen. Der Vorgang des Sammelns, des Systematisierens und des Ordnens, wird in den künstlerischen Kontext gestellt. Diese Basis wissenschaftlichen Wissens und Erkennens wird in der Kunst eine entsprechende Ästhetik als visuelle Aneignung übernommen.397 Witzgall sieht in derartigen Ausstellungen von Fundstükken und Präparaten eine Offenlegung naturwissenschaftlicher Strategien zur Eroberung der Natur verwirklicht.398 Diese Form der Repräsentation im Kunstkontext zeigt gleichzeitig auch die Entfremdung des Forschungsgegenstands, nämlich den der Natur, die letztlich zu dem gemacht wird, was die Wissenschaft zu konstruieren sucht.399 Die Systematisierung als Konstrukt der Wissenschaft, die Natur epistemologisch neu zu repräsentieren,400 zeigt gleichzeitig die immer größer werdende Entfernung des Untersuchungsgegenstandes von dessen Realität, wie auch Latour festgestellt hat.401 Die Entnahme von Objekten aus dem natürlichen Kontext in den separierten Raum, beispielsweise einer Vitrine, entheben sie ihrer ursprünglichen Zweckgebundenheit. Die Vitrinen werden zu einem Ort, an dem die Konstruktion wissenschaftlichen Wissens offengelegt wird.402 Dementsprechend ist die Übernahme des Vorgehens der Systematisierung der Wissenschaft in die Kunst vom künstlerischen Standpunkt auch gleichfalls eine Reflexion ihrer Methode. Die Erkundung über systematische Reihungen von Objekten In den Kunstwerken beispielsweise von Nikolaus Lang und Mark Dion wird ein Prozess des Sammelns und des daran anschließenden Systematisierens evident.403 Die Repräsentation dieser Fundstücke als Reihung in Schaukästen ist schließlich das Ergebnis, dem der Vorgang einer Suche
397 Vgl. Witzgall, Susanne: »Wissenschaft in der Vitrine«, in: Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Ausst.-Kat., Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen 2007, hg. von Peter Friese / Guido Boulboullé / Susanne Witzgall, Heidelberg 2007, S. 95-113, hier S. 113. 398 Vgl. ebd. 399 Vgl. B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 43. 400 Vgl. ebd. 401 Vgl. ebd. 402 Vgl. S. Witzgall: Wissenschaft in der Vitrine, S. 93. 403 Vgl. P. Friese: Im Laboratorium des Zweifels, S. 17
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 121
vorangeht.404 Fundstücke werden aneinandergereiht, wobei sich die jeweilige Klassifizierung nach persönlichen und ästhetischen Aspekten ausrichtet, ohne einer Normierung folgen zu müssen. Diese Systematik, wie sie bei beiden Künstlern evident wird, bildet nach Peter Friese grundsätzlich eine Gegenposition zu künstlerischen Eigenschaften wie »Inspiration«, »Intuition« sowie »Vision«405 . Folgt man Frieses Argumentation, so verbirgt sich das Subjekt des Künstlers hinter seiner selbst konstruierten Systematik.406 Das künstlerische Ziel wäre dementsprechend ein Kunstwerk zu schaffen, das nicht ausschließlich auf »Intuition« und »Inspiration« gründet, sondern das über den Automatismus eines vom ihm erdachten seriellen Prozesses erst entsteht. Die Serie, wie die Aneinanderreihung von Objekten nach bestimmten vom Künstler festgesetzten Ordnungskriterien, ist ein solcher Prozess, der eine Systematik widerspiegelt. Die Erkundung erfolgt innerhalb dieses Systems, das die Reihung von Objekten zugunsten einer Ordnung möglich macht. Diese Ordnung wird durchaus als systematische Vorgehensweise von den Künstlern als eigene Vorgabe begrüßt. Dabei unterwerfen sich Künstler wie Nicolas Lang oder Mark Dion nicht einem System, wie beispielsweise das der Wissenschaft, das ihnen normativ vorgeben würde, welche Objekte sie verwenden dürfen oder nicht, sondern die Künstler wenden ein System auf Objekte an, das von ihnen selbst aufgestellt wird. Auch hier geht die künstlerische Forschung, auch wenn sie keine Aktion ist, immer von einem performativen Akt der Erkundung aus, die einem System untergeordnet wird. 407 Susanne Witzgall spricht deshalb in diesem Zusammenhang auch von einem »performance-ähnlichen Akt«408 des Ordnens und Sortierens, der einer Ausstellung in einer Vitrine o.ä. vorausgeht.
404 Vgl. S. Witzgall: Wissenschaft in der Vitrine, S. 93. 405 P. Friese: Im Laboratorium des Zweifels, S. 17. 406 Vgl. ebd. 407 Vgl. S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 93. 408
Ebd.
122 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Serielle Verfahren Elke Bippus hat derartige serielle Verfahren wie sie von Friese beobachtet worden sind, bereits für die Pop Art, Minimal Art und Conceptual Art erkannt.409 Sie sieht im Seriellen nicht nur eine ästhetische Wirkung, sondern ihrer Meinung nach wird hier eine künstlerisch-konzeptuelle Methode verwirklicht.410 Diese Feststellung macht Bippus unter anderem an der Serie Ethel Scull Thirty Six Times, 1963411 von Andy Warhol fest. Dargestellt wird die Sammlerin Ethel Scull, die von Warhol 36 Mal als Bild in einem Gesamtbild gedruckt wurde. Das bedeutet, die gleiche Person wird als abgewandeltes Motiv systematisch in einem gleichmäßig angelegten Bildraster von 9 x 4 Bildern wiederholt. Dieses Motiv der Dame, wie sie von Warhol gesehen wurde, wird zwar insgesamt 36 Mal abgebildet, allerdings sind diese nicht identisch. Zum einen entstehen über das Verfahren des Siebdrucks Abweichungen wie Verwischungen der Farbe. Das Motiv ist dann zwar eingebunden in dem System der Rasterdarstellung von 36 Bildern, aber die einzelnen Bilder weichen über das bildgebende Verfahren voneinander ab. Es kommt daher zu bewussten Ungenauigkeiten im Druck. Das System der 36 Bilder erscheint nicht gleichförmig, sondern die gleichmäßige Reihung wird von der Verwischung der Farbe an vielen Stellen, die aufgrund der Drucktechnik entstanden sind, gebrochen. Zum anderen ist auch das Bildmotiv der Person Ethel Scull Abwandlungen unterworfen. So befindet sich das Porträt nicht immer an der gleichen Position des Bildausschnitts, sondern es ist die Momentaufnahme eines Augenblicks in Bewegung dieser Person wiedergegeben worden. Es ist ähnlich dem einer Reihung von Passbildfotos in einem Automaten, in dem sich Personen mehrmals hintereinander in Bewegung porträtieren lassen können. Das heißt, die Wiederholung des Bildmotivs zeigt den performativen Akt, der dieser Abbildung vorausgegangen ist. Gemeint ist dann weniger die Aneinanderreihung eines Bildmotivs,412 das in der direkten Abfolge eine Bewegung suggeriert wie in einem sogenannten Daumenkino, das le-
409 Bippus, Elke: Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimalism, Berlin 2003. 410 Vgl. ebd., S. 9. 411 Andy Warhol: Ethel Scull 36 Times, 1963, Acryl und Seidensiebdruck auf Baumwolle, 203,2 x 365,8 cm, Metropolitan Museum of Art, New York. 412 Vgl. E. Bippus: Serielle Verfahren, S. 9.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 123
diglich den performativen Akt zeigt, der sich auch nur über die Nutzung vollzieht. Die Reihung des Bildmotives von Andy Warhols Ethel Scull von 1963 gibt vielmehr einen fortlaufenden Prozess wider, der auch nicht visuell beendet zu sein scheint.413 Die Reihe hätte von Andy Warhol fortgesetzt werden können, indem der Rahmen und die Rasterung erweitert werden mit Abwandlungen des Motivs der Ethel Scull. Diese Fortsetzung einer Reihung war bereits bei Roman Signer in seiner Serie zu den Roten Luftballons zu beobachten. Immer wieder nimmt er das Element des roten Luftballons auf, um in Abwandlungen, wie die Zündungen, die Füllungen des Ballons etc. neue visuelle Ergebnisse zu erreichen. Reihung und Wiederholung sind dann die Grundlagen des Seriellen, die schließlich das, was unter einer Systematik zu verstehen ist, ausmacht.414 Derartige künstlerische Produktionsprozesse, die sich an einem vom Künstler vorgegebenen System leiten lassen, werden nach Bippus dann auch zu einem intentionslosen Vorgehen.415 Es lässt sich diskutieren, ob es sich bei den künstlerischen Arbeiten des Seriellen nach Bippus tatsächlich um ein intentionsloses Vorgehen handelt, denn in Wirklichkeit orientiert sich der Künstler an seinem eigenen System, das durchaus einer künstlerischen Intention folgt. Wichtig für den Zusammenhang der künstlerischen Forschung ist allerdings die Beobachtung von Bippus, dass sich der Künstler in seriellen Arbeiten an seinem eigenen System orientiert. Dem Künstler geht es um die Variation von Konstanten, wie bei Roman Signers Roten Luftballons, mit denen viele reaktive Kombinationen eingegangen werden können.416 Bippus sieht in diesen künstlerischen Arbeiten einen sogenannten »Permutationsvorgang«417 verwirklicht, der vom Künstler bestimmt wird
413 Vgl.ebd., S. 68. 414 Vgl. ebd., S. 64. 415 Vgl. ebd. 416 Vgl. ebd. 417 Ebd. Elke Bippus lehnt sich dazu an den Maler und Grafiker Almir Mavignier an (vgl. Mavignier, Almir: »die permutationen«, in: Almir Mavignier, Ausst.Katalog, Kestner Gesellschaft Hannover 1968, hg. von Wieland Schmid, Hannover 1968). Der Künstler habe sich lediglich im »Permutationsvorgang« durch das »Permutationssystem« bestimmen zu lassen. Ein Kunstgegenstand habe nach Mavignier kontrolliert zu sein durch das System. Ein Kunstwerk
124 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
über sein »Permutationssystem«418. Der Vorgang selbst ist im Fall der Ethel Scull das variierende Motiv des Porträts innerhalb eines von Warhol gesetzten Systems der 9 x 4 gleich großen Quadrate. Innerhalb dieser Systematik variiert das Motiv der Ethel Scull, so dass Änderungen oder sogenannte Permutationen innerhalb der klaren Ordnung sich ereignen. Das System ist dementsprechend als eine die Kontingenz eingrenzende Konstante zu verstehen, das sowohl den Ereigniszeitraum von 9 x 4 Motiven als auch den räumlichen Aktionsradius der performativen Akte vorgibt. Dieses »Permutationssystem« ist die entscheidende Lenkung, an dem sich das Serielle beziehungsweise der performative Akt orientiert. In allen seriellen Arbeiten, insbesondere der Minimal und der Concept Art, ist nach Bippus als wesentliches Merkmal ein derartiges »vordeterminiertes Ordnungssystem«419, herausgebildet. Im Experience Corridor aus dem Jahr 2005 von Carsten Höller wurde in den hintereinandergeschalteten Räumlichkeiten im Museum diese Form des Seriellen als ein System, in dem sich die performativen Akte der Teilnehmer vollziehen, offensichtlich. Der »Permutationsvorgang« bildet dann die bereits erwähnte Erkundung der Teilnehmenden im Experiment, die sich lediglich im Korridor nach den Vorgaben Höllers bewegen können. Mit den Begriffen des »Permutationssystems« und des »Permutationsvorgangs« ist daher eine Dynamik erfasst worden, die Bippus Ansicht nach sowohl in der wissenschaftlichen als auch künstlerischen Forschung präsent ist.420 An dieser Stelle stellt sie deshalb auch zu Recht fest, dass serielle Verfahrensweisen in der Kunst sich dem wissenschaftlichen Vorgehen in Form von Systematiken annähern.421 Bezogen auf das künstlerische Experiment, stellt sich nun die Frage inwieweit diese Beobachtungen auf den Prozess im Experiment und dessen Systematik übertragbar sind. Dies wird der Gegenstand des nun anschließenden Kapitels sein.
entsteht nicht nur durch die »subjektiv-intuitive Entscheidung, sondern auch über die Kontrolle, die von dem System ausgeübt wird. 418 E. Bippus: Serielle Verfahren, S. 64 (Mavignier, Almir: »die permutationen«, in: Almir Mavignier, Ausst.-Katalog, Kestner Gesellschaft Hannover 1968, hg. von Wieland Schmid, Hannover 1968.). 419 Ebd., S. 43. 420 Vgl. ebd., S. 64 421 Vgl. ebd.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 125
3.3 Das Experiment als Ereignisfalle Im Gegensatz zu den seriellen Arbeiten eines Mark Dions oder eines Nikolaus Langs, die unter anderem in Vitrinen als Ergebnisse einer Reihung ausgestellt werden, können Experimente permanent variationsreiche Ereignisse hervorbringen. Für die Aktionen von Roman Signer hat Paul Good deshalb festgestellt, dass Kräfte422 über eine sogenannte »Maschinisierung« organisiert und ausgelöst werden, die Signer eingerichtet hat.423 Unter diesem Begriff versteht Good, dass Elemente in Bewegung gesetzt werden, die zu einem Ergebnis führen, das nicht vorhersehbar, sondern überraschend für alle Rezipienten und Signer ist.424 Eine derartige Konstellation bezeichnet Good deshalb auch als Experiment.425 Die Wiederholungen dieser Kräfte im Experiment mit Variationen des Materials oder des Auslösers wie bei Roman Signers Serie zum Roten Luftballon zeigen nicht die Engführung der Ereignisse hin zu einem Ergebnis, sondern hier steht die Einzigartigkeit der vielzähligen Ereignisse im Vordergrund.426 Darin unterscheidet sich das Experiment Signers deutlich von seinem wissenschaftlichen Pendant. Die Rolle des Künstlersubjekts in dieser Konstellation des Experiments besteht nach Good darin, ein Konzept zu erstellen wie man Objekte in bestimmten Umgebungen mit welchen Kräften aussetzen kann.427 Dieses
422 Vgl. Good, Paul: Roman Signer. Härtetest des Schönen, Köln 2009, S. 19. Unter Kräften versteht Paul Good sowohl die Kräfte in der Natur beziehungsweise die physikalischen Kräfte, aber auch etwas in Bewegung zu versetzen, das heißt der Künstler selbst wird in seiner Experimentkonstellation als Kraft verstanden. 423 Vgl. ebd., S. 102. 424 Aus diesem Grund spricht Henning Schmidgen auch allgemein von Experimenten in der Kunst als die »Instanzen des Unberechenbaren« (Schmidgen, Henning: Forschungsmaschinen. Experimente zwichen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2017, S. 15). 425 Vgl. P. Good: Roman Signer, S. 56. 426 Nach Badiou zeichnet sich die Kunst gerade dadurch aus, dass sie »[...] ein starkes Beispiel für die Präsenz der Mannigfaltigkeit in den Wahrheiten ist.« (A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 77). 427 Vgl. P. Good: Roman Signer, S. 34.
126 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Vorgehen hat gleichzeitig Folgen für das Verständnis des Künstlersubjekts. Der Geniekult des Künstlers wird umgekehrt in eine mechanisierte Form des künstlerischen Gestaltungsvollzugs.428 Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass der Künstler lediglich einer ihm erstellten Konzeption oder Systematik in Bewegung verfolgt oder wie bei Höller verfolgen lässt.429 In Anlehnung an die Bezeichnung »Zeitskulpturen«430, die Good für die Versuche von Roman Signer gewählt hat, möchte ich in der vorliegenden Untersuchung die künstlerischen Experimente als Ereignisfallen umschreiben. In Roman Signers Experimenten findet nicht nur eine Verdichtung von Zeit statt, wie Good festgestellt hat,431 sondern im Mittelpunkt steht das Ereignis. Der Begriff der Falle umfasst bei allen drei Künstlern die Vorrichtung oder die Apparatur, in der ein Ereignis initiiert wird. Die Ereignisse sind in diesen Fallen evoziert worden und haben sich in Visualisierungen für den Rezipienten oder in Erfahrbarmachungen für den Beteiligten gezeigt. Die Fallen selbst sind die Aktanten, die immer wieder Ereignisse in Wiederholung produzieren können. Der Begriff der Ereignisfalle eignet sich für das künstlerische Experiment, weil hier etwas über eine Systematik evoziert werden kann, was bis zu diesen Zeitpunkt noch nicht gedacht oder erfahren werden konnte. Innerhalb dieses Systems des Experiments ist dann Raum für das, was noch nicht in Erscheinung getreten und dementsprechend als überraschend zu bezeichnen ist, nämlich die »Leerstelle«432 oder das »Nichtwissen«433. Im Experiment findet aus diesem Grund nicht nur das Aufzeigen von Phänomenen statt, sondern die Einzigartigkeit eines jeden Ereignisses wird im Experiment über die seriellen Verfahren nach Bippus oder die »maschinisierten« nach Good eingefangen. Diese im Experiment hervorgerufenen Ereignisse können überraschend und dementsprechend auch irritierend für den Rezipienten oder Erfahrenden sein, weil sie von dem abweichen können, was bis jetzt erfahrbar war oder visualisiert
428 Vgl. ebd. 429 Vgl. ebd. 430 Ebd., S. 93. 431 Vgl. ebd. 432 Hartle, Frederik: Die Treue zum Ereignis denken. Der französische Philosoph Alain Badiou begibt sich in die Leere der Situationen, http://www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6967 vom 1.4.2004. 433 Ebd.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 127
worden ist. Um dieses »Nichtwissen« hervorzuholen, bedarf es eines Experiments als Instrument, mit dem das Einfangen des Ereignisses, das als überraschend definiert worden ist, möglich ist. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Experiment, wie bereits festgestellt wurde, ein Instrument ist, das als Aktant Ereignisse evoziert. In der Kunst ist das Experiment eine Ereignisfalle, die den Widerspruch zwischen der Systematik als rationale und der Kontingenz der Ereignisse als irrationale Einflussgröße auflöst. Das Ereignis als das visuelle oder erfahrbare Ergebnis des Experiments steht dann für das, was überrascht oder irritiert, weil es bis zu diesem Zeitpunkt in dieser Form noch nicht in Erscheinung getreten ist. Im folgenden Kapitel soll das Experiment im Zusammenhang mit der künstlerischen Forschung betrachtet werden. Das Experiment funktioniert nicht losgelöst von der künstlerischen Forschung, sondern ist im Sinne von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie ein Teil dieses Netzwerks. Diese Interdependenz zwischen Forschung und Experiment wird nun im nachfolgenden Kapitel untersucht werden. Im Hinblick darauf, dass ein Experiment in der Kunst in einem Ausstellungsraum stattfinden kann, wird insbesondere das Labor als der Ort der wissenschaftlichen Forschung thematisiert und es werden Parallelen zum Raum der Kunstforschung offengelegt (vgl. Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens). Gleichzeitig wird auch die Raumerzeugung über die Handlung im Experiment als ein Ereignisfeld in die Untersuchung einbezogen (vgl. Kapitel II. 4.2. Forschen als Ereignisfeld: Das Forschen in der Kunst).
4.
DAS EXPERIMENT ALS KONSTITUIERUNG EINES FORSCHUNGSRAUMS
Das Verhältnis zwischen Experiment und Raum ist zunächst dadurch bestimmt, dass die Apparatur, das heißt alle am Experiment beteiligten Objekte, eine konstante Vorgabe für die Handlungen des Forschers bildet.434 Die-
434 Vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 175. Die Bereitstellung einer wissenschaftlichen Apparatur ist nach Breidbach abhängig von den ökonomischen Möglichkeiten des jeweiligen Forschungslabors beziehungsweise der Forschungsinstitution. Diese Bedingung beeinflusst dementsprechend die For-
128 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
ser Apparatur oder dieser Versuchsanlage kommt nach Rheinberger im wissenschaftlichen Labor eine vorstrukturierende Aufgabe des Vorgehens beim Forschungssubjekt zu.435 Mit dieser Definition wird die Handlung des Forschers im Experiment in Bezug zu seinem Ort, das Labor, gebracht. Die Apparatur wird zu einer Handlungsorientierung im Raum sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst. Sie nimmt insbesondere bei performativen Installationen wie die von Carsten Höller bereits vorgestellten Experience Corridor einen wichtigen Stellenwert ein. Der Besucher erhält eine Handlungsorientierung lediglich durch die zur Verfügung gestellten Versuchsräume und der darin befindlichen Objekte. Diese von Latour so bezeichneten »Inskriptionsinstrumente«436 sind in ihrer Funktion dann auch auf die Kunst übertragbar, was am deutlichsten am Beispiel von Carsten Höllers performativer Installation437 Experience Corridor sichtbar wird. Die Objekte werden hier zum Teil der Handlung, wie bereits im Zusammenhang der Akteur-Netzwerk-Theorie im Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung erläutert worden ist. Nach Wolfgang Krohn, der vom Standpunkt der Kunstwissenschaft aus argumentiert, fängt das Experiment Wissen ein.438 Er bezieht sich bei seiner
schungsergebnisse wie auch Latour und Woolgar bereits 1979 unter anderem herausstellten (vgl. Latour, Bruno / Woolgar, Steve: Laboratory Life: The social Construction of Scientifc Facts, Beverly Hills 1979.) Aus diesem Grund kommt auch Badiou zu der Feststellung, dass die Wahrheitsprozedur der Wissenschaft »verdunkelt«, das heißt verfälscht wird (A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 106). 435 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2006, S. 130133. 436 B. Latour: Gebt mir ein Laboratorium und ich werde es aus den Angeln heben, S. 124. 437 Auf diesen Aspekt der sogenannten Performativen Installation wird noch im Zusammenhang mit der Analyse von Carsten Höllers Flugmaschine von 1996 im Kapitel III.2.1. Das Experiment: Die Performative Installation als Versuchsapparatur zur Lenkung des Partizipienten eingegangen werden. 438 Krohn, Wolfgang: »Die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Ästhetik in der Wis-
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 129
Feststellung auf die Instrumente im Experiment, die eine sinnliche Wahrnehmung lenken wie beispielsweise das Mikroskop. Hier erfolgt eine Wahrnehmung des Forschers, die das zu betrachtende Phänomen unabhängig von dem Raum oder dem komplexen Lebenszusammenhang isoliert. Diesem so entstandenen Wissen wird dementsprechend eine spezifische Form439 gegeben, die ein Resultat der räumlichen Isolierung des Phänomens im Experiments ist.440 Krohn verweist mit dieser Feststellung darauf, dass im Experiment mit Instrumenten der Wahrnehmung wie das Mikroskop, ein Wissen produziert wird, dass unvollständig ist. Die Ablösung des Beobachtungsgegenstands von den ihm umgebenden Raum führt zu einer »wissenschaftsspezifische[n] Kultivierung der Wahrnehmung«441, die Wissen gestaltet und einer »lebensweltlichen Primärerfahrung«442 entgegensteht. Das bedeutet, dass das Wissen, das über das Experiment im geschlossenen Raum hervorgebracht worden ist, kritisch betrachtet werden muss. Bruno Latour kommt zu einem ähnlichen Schluss gegenüber geschlossenen Forschungsräumen, indem er feststellt, dass in diesen Laboratorien »Gewissheiten«443 produziert werden, es aber gleichzeitig auch schon immer ein konstruiertes Wissen ist. Die von ihm sogenannten »künstliche[n] Repräsentationen«444 einer Welt entfernen sich seiner Meinung nach immer weiter von ihr,445 da die Laboratorien physische Orte sind, die das zu beobachtende Phänomen aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausnimmt.446 Zusammenfassend geht es nach Heidelberger deshalb in einem
senschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, H. 7 (2006), S. 3-38, hier S. 8. 439 Vgl. ebd. Krohn sieht in dem Wissen das Resultat des Experiments, das aus einer Funktionsbeziehung zwischen veränderlichen Einflussgrößen entstanden ist. 440 Vgl. ebd. 441 Ebd., S. 5. 442 Ebd., S. 8. 443 B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 43. 444 Ebd. 445 Vgl. ebd. 446 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 216.
130 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
wissenschaftlichen Labor primär um die Kontrollierbarkeit eines im Experiment erzeugten Phänomens.447 Bruno Latour bringt für die Wissenschaft das Labor und einen außerhalb von diesem befindlichen Raum, an denen Forschung stattfindet, in seinem Aufsatz »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben« zusammen.448 So bezeichnet er die Forschungsstätte außerhalb des Labors als den »Makroraum«449 und der geschlossene Raum des Labors als den »Mikroraum«450. Seine These, dass die Existenz eines Labors nicht die Trennung des »Makro- und Mikroraums« verfestigt, sondern diesen als abgeschlossenen Raum aufhebt, vollzieht er am Beispiel von Pasteurs mikrobiologischen Forschungen zur Bekämpfung von Tierseuchen. In diesen Untersuchungen herrscht eine Interdependenz zwischen dem »Makroraum« der Landwirtschaft, das heißt der Außenraum, als Erprobung der Untersuchungsergebnisse des »Mikroraums«, das ist der Innenraum des Labors und umgekehrt. Das Labor ist nach Meinung von Latour deshalb auch ein Ort, der immer mehr destabilisiert wird, weil die Bereiche auch fließend ineinander übergehen.451 Das Experiment ausschließlich in Bezug auf einen ihn umgebenen physischen Laborraum als Forschungsstätte zu betrachten, wäre aus diesem Grund unzureichend. Es muss gleichzeitig der Aspekt der Forschungshandlung, die sich unabhängig vom Räumlichen vollzieht, das heißt wie bei Latours Beispiel im »Mikroraum« und »Makroraum«, in die nachfolgenden Betrachtungen einbezogen werden. Aus diesem Grund wird das künstlerische Experiment im folgenden Kapitel unter zwei Aspekten betrachtet: zum einen der physische Ausstellungsraum, der auf die darin stattfindende Handlung Einfluss nehmen kann (vgl. Kapitel II. 4.1. Forschen im Labor-
447 Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 83. 448 Vgl. B. Latour: Gebt mir ein Laboratorium und ich werde es aus den Angeln heben, S. 112 f. 449 Ebd., S. 112. 450 Ebd. 451 Vgl. ebd. Die bereits erwähnte Ausstellung Laboratorium, die von 1999 an mit Beiträgen beteiligt war, ist ein Zeugnis dieser These, dass es kein außerhalb und innerhalb eines Labors gibt, sondern nur noch ein sogenanntes »Laboratorium« (vgl. Kapitel II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung: Experiment, Ereignis und Forschung).
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 131
raum: Die Ästhetik des Forschens) und zum anderen die Handlung, die einen Raum im Sinne eines Ereignisfeldes temporär entstehen lässt (vgl. Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst). 4.1 Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens Die Feststellung, dass künstlerische Experimente nicht nur von dem sie umgebenden Raum des Labors oder Ausstellungsraums beeinflusst werden, sondern sich über die Handlungen der Aktanten einen Raum konstituieren, macht die Erörterung des Experiments auch unter raumsoziologischen Aspekten notwendig. Der Raum folgt hier nicht nur einer geschlossenen »newtonsche Containervorstellung«452, sondern die handelnden Aktanten des künstlerischen Experiments konstituieren ein Ereignisfeld, das temporär und virtuell ist. Virtualität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Handlung des Experiments einen Raum als Ereignisfeld um die Konstellation des Experiments mit den entsprechenden Objekten und den Subjekten bildet, der aber physisch nicht vorhanden ist. Diese Erweiterung des Raums im Sinne eines Ereignisfeldes wird im Folgenden anhand der Raumtheorie Henri Lefebvres erläutert und im Hinblick auf das künstlerische Experiment vorgestellt werden. Die Produktion des Raums In den 1970er Jahren entwickelte Henri Lefebvre unter dem Titel Produktion des Raums453 seine Auffassung von einem Raum unter soziologischen Aspekten.454 Als Pionier der modernen Raumsoziologie formuliert er drei Dimensionen, die zur Produktion des Raums führen.455
452 Gronau, Barbara: Theaterinstallationen: performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov (phil. Diss. 2010), München 2010, S. 27. 453 Lefebvre, Henri: The production of space, Oxford 2015 (frz. Orignialausgabe: Lefebvre, Henri: La production de l’espace, Paris 1974) sowie Lefebvre, Henri: »Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne / Stepahn Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 330-342. 454 Vgl. Löw, Martina / Steets, Silke / Stoetzer, Sergej (Hg.): Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen / Farmington Hills 2008, S. 54 f. 455 Vgl. H. Lefebvre: Produktion des Raums, S. 333.
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Die erste Dimension bezeichnet Lefebvre als »räumliche Praktiken« (»pratique spatiale«456).457 Er geht hier von der materiellen Dimension des Raumes aus. Die materiellen Objekte, die den Raum bilden, werden als räumliche Ordnung des Gleichzeitigen wahrgenommen.458 Diese Dimension des Raums bezeichnet alles, was Subjekte in und mit dem Raum machen. Dazu gehört, was sie errichten oder wie sie sich in ihm bewegen und wie sie die Topographie des Raums gegebenenfalls umgestalten können. 459 Die zweite Dimension der Raumproduktion wird von ihm als die »Raumrepräsentationen« (»representations de l’espace«460) bezeichnet. Diese Repräsentationen des Raumes beinhalten Codes461 wie Sprache, Karten oder Zeichnungen, die gesellschaftlich festgelegt sind und auf Konventionen beruhen. Es sind dementsprechend die Diskurse einer Gesellschaft, die den Raum bestimmen. Die dritte Dimension der Produktion von Raum ist die Ebene des symbolischen Gehalts von Räumen, den von ihn sogenannten »Repräsentationsräumen« (»espaces de représentation«462). Repräsentationsräume sind nach Lefebvre als erfahrener Raum (»espace vécu«463) zu begreifen, der auf ein anderes, Drittes aufmerksam macht: auf gesellschaftliche Werte, Traditionen, kollektive Erfahrungen und Erinnerungen, die sich im sozialen Raum manifestieren. Der Raum ist nach Lefebvre nicht als ein statisches Behältnis zu verstehen, sondern dieser entsteht erst über das Ineinandergreifen dieser drei aufgeführten Dimensionen.464 Nicht die bloße Anordnung von materiellen Objekten, sondern das Bestehen von Relationen zwischen diesen konstituiert den Raum. Dementsprechend kommt Lefebvre zu dem Schluss, dass »der (soziale) Raum«465 ein »(soziales) Produkt« ist.466 Der Raum wie er uns erscheint, ist das Ergebnis der Lef-
456 Ebd. 457 Vgl. ebd. 458 Vgl. ebd., S. 335. 459 Vgl. ebd. 460 Ebd., S. 333. 461 Vgl. ebd. 462 Ebd. 463 Ebd. 464 Vgl. ebd. 332 f. 465 Ebd., S. 330 466 Ebd.
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ebvreschen »Raum-Triade«467 , das heißt, er wird gebildet aus den drei Aspekten der Raumproduktion. Diese Feststellung von Lefebvre hat zur Folge, dass ein Raum unter den verschiedenen Bedingungen der Repräsentationen sich immer wieder neu produzieren kann. Der Raum ist nicht als absolut zu betrachten, sondern auch immer abhängig von der jeweiligen Handlung der Person im Raum, über den die Objekte zusammengedacht und gestaltet werden. Überträgt man Lefebvres Raumsoziologie auf die Betrachtungen des Experiments im und als Forschungsraum, so ist dieser ebenfalls als ein Ergebnis dieser von Lefebvre genannten Dimensionen zu verstehen. In der Wissenschaft wird dieser Raum als eine Forschungsstätte definiert, die sich durch eine hermetische Abgeschlossenheit auszeichnet, die wiederum das Ergebnis der »Objektivierung der Weltsicht«468 ist. Dieses Labor, in dem das Experiment vollzogen wird, ist die Sicherung der postulierten Objektivität.469 Der Raum repräsentiert dieses Wertesystem der Wissenschaft, indem es sich wertneutral als eine sterile Erscheinung äußert, das heißt frei von allen störenden Elementen, zeigt. Der Laborraum ist in diesem Sinne ein Behältnis, das nach wissenschaftlichen Standards ausschließlich funktional gesehen wird. Ein über das Experiment initiiertes einzelnes Phänomen beziehungsweise ein einzelnes Ereignis wird hier selektiert und beobachtbar gemacht. Dieser physische Raum des Labors hat in seiner spezifischen Gestaltung Einfluss auf die in ihm stattfindenden Forschungshandlungen. Mit dem Labor übt die Wissenschaft ihre Doktrin von einer »EntSubjektivierung«470 aus, die dem Experiment als Instrument oder Handlungsanweisung eine Richtung vorgibt. An dieser Stelle wird auch die Verzahnung von der Produktion und dem Produkt des Raums als Repräsentation einer gesellschaftlichen Norm deutlich, die nach Lefebvre nicht als zwei trennbare Einheiten betrachtet werden können.471 In der Kunst findet das Labor als sogenannter Schutzraum vor der Außenwelt für das zu erzeugen-
467 M. Löw / S. Steets / S. Stoetzer: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, S. 52. 468 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 24. 469 Vgl. ebd., S. 24. 470 Ebd., S. 331. 471 Vgl. H. Lefebvre: Produktion des Raumes, S. 334.
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de Phänomen eine nach Brian O’Doherty parallele Verortung im Ausstellungsraum, was im Folgenden untersucht werden wird. 4.1.1 Der White Cube Der Autor und Konzeptkünstler Brian O’Doherty hat in seinen 1976 erschienen Essays, den Ausstellungsraum als einen »White Cube«472 bezeichnet und diesem Eigenschaften zugeordnet, die ebenfalls für ein Labor stehen können. 473 Der Ausstellungsraum hat nach ihm nicht nur eine weiße, sondern auch eine sterile Erscheinungsform und besitzt seiner Meinung nach das »Geheimnis des Forschungslabors«474. Mit seinen Texten hat er den Versuch unternommen, den weißen Ausstellungsraum in seiner ästhetischen, kulturellen und ökonomischen Bedeutung zu bestimmen. Die weiße Zelle wird von ihm aufgrund seiner nahezu »undurchdringliche[n] Abriegelung«475 gegenüber einer vermeintlich ablenkenden Außenwelt als Labor bezeichnet.476 O’Doherty spricht von strikten Vorkehrungen der Galeristen und Ausstellungsmacher: »Die äußere Welt darf nicht hereingelassen werden, deswegen werden Fenster normalerweise verdunkelt. Die Wände sind weiß getüncht. Die Decke wird zur Lichtquelle.«477 Diese exponierte Form der Präsentation des Kunstobjekts lässt es zu einem isolierten Zeichen im Raum werden. Dieser Ausstellungsraum als »White Cube« ist in dieser
472 Für die vorliegende Untersuchung wird folgende Ausgabe zugrunde gelegt: O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the white Cube, hg. von Wolfgang Kemp, Berlin 1996 (engl. Originalausgabe: O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Santa Monica / San Francisco 1986). Die Originaltexte von Brian O’Doherty erschienen 1976 als dreiteilige Essayfolge in der englischsprachigen Zeitschrift Artforum. Der vierte Texte »Gallery as a Gesture« wurde ebenfalls im Artforum 1981 veröffentlicht. 473 Die Übersetzung des »White Cubes« in »Zelle« von Wolfgang Kemp macht die Kritik von O’Doherty an die Abgeschlossenheit eines Raums deutlich, der keine Durchdringung von außen nach innen, aber auch keine von innen nach außen gestattet (vgl. O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the white Cube, herausgegeben von Wolfgang Kemp, Berlin 1996). 474 O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 9. 475 Ebd. 476 Vgl. ebd. 477 Ebd., S. 10.
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Weise mit dem »Mirkroraum« des wissenschaftlichen Labors vergleichbar. Besitzen doch beide Räume letztlich die Funktion, den zu erforschenden oder rezipierenden Gegenstand von einem »Makroraum« zu separieren.478 Der Forschungsgegenstand in Kunst und Wissenschaft wird im »Mikroraum« des Labors aus seinem komplexen Zusammenhang isoliert, um es dann ohne weitere Einflussfaktoren erkunden zu können.479 Neben Brian O’Dohertys Kritik an die hermetische Abriegelung des Ausstellungsraums gegenüber dem Außenraum, haben auch die Vertreter der Performancekunst in den 1970er Jahren diesen Umstand in ähnlicher Weise kritisiert.480 Das Kunstwerk aus einem natürlichen Kontext zu isolieren, schien nach Schilling für die Künstler dieser Zeit falsch zu sein, da in dieser Weise ein isoliertes Objekt in einer künstlichen Realität des Ausstellungsraums präsentiert wird.481 Der Ausstellungsraum, so lautet nach Schilling die Kritik, entferne die Kunst immer weiter von einer Alltagswirklichkeit.482 Aus diesem Grund wurde auch von den Performancekünstlern postuliert, dass die Kunst wieder mehr Relevanz zum Alltag besitzen und aus ihrer Isolierung im Ausstellungsraum befreit werden müsse.483 O’Doherty spricht in diesem Zusammenhang davon, dass mit dem »White Cube« eine negative, weil eingeschränkte Wahrnehmung eingeleitet wird.484 Das Kunstwerk sollte mehr Rezeptionsanreize schaffen, die im »Makroraum« gegeben sind, aber nicht im abgeschlossenen »Mikroraum« des »White Cubes«.485 Der Tatsache, dass der Raum des »White Cube« sich um das Kunstwerk wie eine Glocke legt, wird dementsprechend auch von O’Doherty kritisiert.486
478 Vgl. B. Latour: Gebt mir ein Laboratorium und ich werde es aus den Angeln heben, S. 112. 479 Vgl. ebd., S. 112 f. 480 Vgl. J. Schilling: Aktionskunst, S. 7 481 Vgl. ebd., S. 9. 482 Vgl. ebd. 483 Vgl. ebd. 484 Vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 10. 485 Vgl. J. Schilling: Aktionskunst, S. 10 f. 486 Vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 10.
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Kunst und Alltag Die Performancekunst ist demzufolge nicht nur danach bestrebt, reale Ereignisse zu präsentieren, sondern sich auch mit ihr auseinanderzusetzen. 487 Fischer-Lichte sieht deshalb darin einen grundlegenden Antrieb der Performancekunst verwirklicht.488 Ihrer Ansicht nach war das Selbstverständnis der Kunst bis zum Beginn der Bewegung von Happening, Fluxus und der Performancekunst ab den 1960er Jahren dadurch geprägt, wieder Einfluss auf das Leben zu nehmen statt sich abzugrenzen.489 Das neue Anliegen, eine größere Nähe der Kunst zur Lebenswirklichkeit zu erreichen, erzwang die »[...] Überwindung starrer Gegensätze[...]«490, wie sie zwischen Kunst und Leben in dieser Zeit existent waren. Es wird hier eine Form der Erkundung in der Kunst offensichtlich, die wie die Aktion von Beuys bereits sichtbar gemacht hat, auch politische Implikationen, wie der Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, eröffnet. Als exemplarisch für derartige Aktionen, die Leben und Kunst zusammenzuführen wünschten, sind darüber hinaus auch die interdisziplinären Projekte der Aktionskunst zu nennen, die Technik und Wissenschaft in den Kontext der Kunst situieren, wie beispielsweise bei Ursula Damm noch zu sehen sein wird.491 In der experimentellen Performancekunst wird eine »Laborsituation«492 konstituiert, die für eine eigene Wirklichkeit steht.493 Es werden Handlungen durchgeführt, »[...] die selbstbezüglich sind und Wirklichkeit konstituieren.«494 In der Kunst wird eine Umgebung geschaffen, die zwar dem alltäglichen Leben ähneln, aber de facto einer Handlung im Labor entsprechen.495 Der Ausstellungsraum, in dem die Aktion stattfindet, folgt einer gesellschaftlich festgelegten Norm, die wiederum Einfluss auf die in ihr stattfindende
487 Vgl. Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia (Das Potential der Nachkriegsavantgarden, 3), München 2001, S. 27. 488 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 356 f. 489 Vgl. ebd. 490 Ebd., S. 356 491 Vgl. Kapitel III.3.3.1. Interdisziplinäre Erkundung 492 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 299. 493 Vgl. E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 36. 494 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 296. 495 Vgl. ebd., S. 299 f.
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Handlung hat.496 Dabei sind die Konventionen des Ausstellungsraums der sakralen Architektur sehr ähnlich, so dass Brian O’Doherty auch hier eine Parallele herstellt, indem er von dem »sakralen Raum« des »White Cube«497 spricht. Die Handlung im Experiment wird dementsprechend unter dem Einfluss der laborähnlichen Umgebung des »White Cube« gelenkt. Welche Konsequenzen die Wertigkeit des Laborraums als Repräsentation des wissenschaftlichen Wertesystems im Kontext der Kunst hat, wird nun im folgenden Kapitel unter der Thematik der »Techno-Science«498 in der Kunst noch ersichtlich werden. 4.1.2 Der Ausstellungsraum als Laborraum Die Performancekunst beginnt aufgrund dieser empfundenen Einschränkung des Raums den Ort des »White Cube« zu thematisieren, indem sie diesen auch explizit zu einem Labor erklärt. Der »White Cube« ist nicht gleichwertig funktional wie ein wissenschaftliches Labor, wird aber ästhetisch zu einer abgeschlossenen Forschungsumgebung erklärt.499 Das künstlerische Experiment im Labor Ingeborg Reichle hat in ihrer Publikation »Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience«500 diese Richtung der künstlerischen Forschung untersucht. Bereiche wie »Robotik«, »Artificial-Life«, »Evolutionäre Bildprozesse« und die Entstehung digitaler Ökosphären sind unter dem Begriff der »Technoscience« von ihr subsumiert worden. Als künstlerische »Laborwissenschaften« leben sie größtenteils von der Kontextualisierung in dem als »sakral« und einem »Forschungslabor« ähnlich bezeichneten »White Cube« des Ausstellungsraums.501 Als Beispiel kann die Installation von Ursula Damm Greenhouse
496 Vgl. H. Lefebvre: Produktion des Raumes, S. 333. 497 B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 146 498 Reichle, Ingeborg: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience (phil. Diss. Berlin 2003), Wien 2005. 499 Vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 10. 500 I. Reichle: Kunst aus dem Labor, S. 189. 501 Vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 146
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Converter, 2010502 angeführt werden. Im Mittelpunkt dieser Installation steht ein Aquarium, das mit Wasser gefüllt neben einer LED-Anzeige auch eine Population an Wasserflöhen beinhaltet. Auf dem Boden direkt neben diesem Aufbau steht eine flache Schale mit Wasser, die in ihrer Funktion einem Brunnen gleicht. Diesem Wasser wird CO2 zugesetzt. Der daraus entstandene Nebel gleitet aus der Schale heraus auf den Boden und löst sich in gewisser Entfernung wieder auf. Über zwei Pumpen ist die Schale mit dem Aquarium verbunden. Zwischen Aquarium und Schale befindet sich noch zusätzlich ein Bedienerpult mit dem sich das Wasser regulieren lässt. Über eine Kurbel an diesem Pult kann das CO2-haltige Wasser der Brunnenschale ins Aquarium gepumpt werden. Das Wachstum der Algen, die als Nahrungsquelle für die dortigen Wasserflöhe dienen, wird beschleunigt. Stimmt das Gleichgewicht zwischen Pflanzenwuchs und der Wasserflöhe, dann ist es ihnen möglich, die LED Anzeige sauber zu halten beziehungsweise abzufressen. Der Schriftzug »beloved« ist dann gut sichtbar in einem blauen Licht. Die Unleserlichkeit dagegen zeigt an, dass die Natur aufgrund des Menschen aus dem Gleichgewicht geraten ist.
502 Die Daten der nachfolgenden Beschreibung des Versuchs sind der Webseite der Künstlerin entnommen. (vgl. Greenhouseconverter / Treibhauskonverter 2010, http://ursuladamm.de/treibhauskonverter-venus-v/
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Abbildung 1: Ursula Damm, Greenhouse Converter, 2010 (aquarium, fountain, user desk, cybernetic-LED-System)
Quelle: ©Ursula Damm
Diese Simulation von Natur unter dem Einfluss des Teilnehmenden im Labor des »White Cube« ist ein Phänomen, das von Ingeborg Reichle als »Artefaktizität«503 bezeichnet wird.504 Unter diesem Begriff versteht sie, dass im Ausstellungsraum die künstliche Konstruktion der Wissenschaft, wie sie von Gaston Bachelard beschrieben worden ist,505 mit der künstlichen Konstruktion der Kunst im »White Cube«, die für die Entfremdung von Kunst und Leben steht, konfrontiert wird. Am Beispiel von Ursula Damms Green Converter wird sichtbar, dass hier genau das Gegenteil von dem gebildet wird, was untesr Natur verstanden wird.506 Kunst eignet sich in dieser Wei-
503 I. Reichle: Kunst aus dem Labor, S. 189. 504 Vgl. ebd. 505 Vgl. Kapitel II. 2. Das Experiment als Instrument. 506 Vgl. I. Reichle: Kunst aus dem Labor, S. 188. Nach Reichle steht die Natur für alles, was nicht vom Menschen geschaffen worden ist. Die von ihr so bezeichnete »Technoscience« in Kunst und Naturwissenschaft bildet einen Gegenpol zu diesem Verständnis.
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se eine Praxis aus den Wissenschaften an, die sich nicht an eine Repräsentation der Natur orientiert, sondern Phänomene konstruiert.507 Die Tatsache, dass der Mensch in der Installation von Damm lediglich die Kurbel betätigen muss, um das Biotop im Aquarium innerhalb eines Museums zu verändern, steht symptomatisch für diese Konstruktion der Natur in einem Ausstellungsraum. Die Natur wird wie an diesem Beispiel im »White Cube« oder »Labor«508 zum Artefakt erklärt.509 Latour sieht in den sogenannten Laborwissenschaften gleichfalls lediglich die Konstruktion eines Ausschnitts der Natur verwirklicht, die sich immer weiter von der Welt zu entfernen scheint.510 Im Labor findet deshalb seiner Ansicht nach auch keine Annäherung an die Natur in Form einer modellhaft nachgebauten Situation statt, sondern ganz im Gegenteil die Entfernung von ihr.511 Das forschende Subjekt, das sich »entsubjektiviert«512 verhält, das heißt sich einer von der Wissenschaft vorgegebenen Norm anpasst, konstruiert dementsprechend ein Modell in einer naturfremden Umgebung, nämlich im »White Cube«.513 Diese Tatsache wird in der Kunst nach Reichle im Bereich der »Technoscience« thematisiert, wie auch am Beispiel von Ursula Damms »Treibhaus Konverter« beobachtet werden konnte.514 Daraus lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der physische Raum als Forschungsstätte ganz im Sinne Lefebvres sowohl die Handlung als »räumliche Praxis« als auch die Wahrnehmung als der »konzipierte Raum« in der »Raumtriade« die Akteure lenkt.515 Brian O’Dohertys Vergleich des »White Cubes« mit einer »Laborsituation« macht deutlich, dass die jeweiligen Institutionen der Forschung mit ihren Konventionen über die
507 Vgl. ebd., S. 189. 508 Ebd., S. 51. 509 Vgl. ebd., S. 189. 510 Vgl. B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 43. 511 Vgl. ebd. 512 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 24. 513 Vgl. B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 43. 514 Vgl. ebd., S. 135 f. 515 Vgl. ebd.
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Räumlichkeiten Handlungen beeinflussen.516 O’Dohertys weiterer Vergleich des Ausstellungsraums mit einer »mittelalterlichen Kirche«517 führt zusätzlich vor Augen, dass in einer Ausstellung wie auch im sakralen Raum Verhaltenskodizes einzuhalten sind, die Akteure in einem Raum lenken wie beispielsweise sich leise zu verhalten. 518 Der sakrale Raum oder die Ausstellung ist gemäß Lefebvre als ein sozialer Raum zu verstehen, der gleichzeitig auch ein soziales Produkt ist.519 In dieser Weise ist auch die Feststellung Breidbachs zu verstehen, der in der Wissenschaft das Bestreben sieht, eine »Ent-Subjektivierung«520 zu erreichen, um die Objektivität insbesondere im Laborraum zu gewährleiten.521 Die Handlungen der Akteure werden in diesem Raum eingeschränkt auf standardisierte und normative Abläufe. Es ist die Form von vorgeschriebener eingeschränkter Handlung wie es von Elke Bippus bereits festgestellt worden ist, so dass sie zu dem Schluss gekommen ist, dass Forschung im Ausstellungsraum des »White
516 Vgl. H. Lefebvre: Produktion des Raumes, S. 333. Es ist der von Lefebvre so bezeichnete symbolische Gehalt des Raum hauptsächlich angesprochen (»espaces de representation«). 517 B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 10. 518 H. Lefebvre: Produktion des Raumes, S. 333. 519 Nach Löw / Steets / Stoetzer beinhaltet der Ansatz von Lefebvres Raumproduktion auch eine marxistische Sichtweise (vgl. Löw, Martina / Steets, Silke / Stoetzer, Sergej: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen / Farmington Hills 2008, S. 52.). Lefebvres These, dass jede Gesellschaft ihren eigenen spezifischen Raum produziert und dementsprechend parallel eine Kontrolle im Sinne des allgemeinen Konsens ausübt, lässt seine Kapitalismuskritik offensichtlich werden (vgl. H. Lefebvre: Produktion des Raumes, S. 333.). Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht auf diesen marxistischen Aspekt der Raumproduktion von Lefebvre eingegangen werden. Allerdings soll herausgestellt werden, dass ein Laborraum das Produkt der Institution Wissenschaft ist, in dem Kontrolle ausgeübt wird wie beispielsweise die von Breidbach beschriebene »Ent-Subjektivierung« (vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 24). Der Aspekt der Kontrolle wird im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle wieder aufgenommen und an dieser Stelle vertieft werden. 520 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 11. 521 Vgl. ebd.
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Cube« gar nicht möglich ist.522 Ihrer Ansicht nach besteht die künstlerische Forschung aus einer Begegnung, die impliziert, dass Dialoge in der Kunst über die dort stattfindende Partizipation entstehen.523 Diese offen gestaltete Teilnahme des Besuchers, die Alternativen der Wissensgenerierung hervorbringen kann, lässt sich, so ihre Auffassung, in einer mit Konventionen aufgeladenen räumlichen Umgebung des Museums nicht verwirklichen.524 Die künstlerische und die wissenschaftliche Forschung, wie im nachfolgenden Kapitel auch gezeigt werden wird, muss dementsprechend unabhängig von einem sie umgebenen physischen Raum als ein Ereignisfeld betrachtet werden. 4.2 Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst Für die wissenschaftliche Forschung stellt Latour in seiner Untersuchung »Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft«525 ein Beispiel vor, das eine Alternative zu dem geschlossenen Laborraum bildet. Als Wissenschaftssoziologe begleitete Latour eine Gruppe von Wissenschaftlern, Biologen und Geologen, um von seiner Position heraus deren Forschungen zu beobachten und bewerten zu können.526 Der Gegenstand dieser Expedition von Wissenschaftlern bestand darin, die Veränderung des Urwalds über einen längeren zeitlichen Rahmen aus geologischer und biologischer Sicht zu beobachten.527 Es wurde ein Abschnitt des Urwaldes ausgewählt und durch ein Koordinatenraster abgesteckt und kenntlich gemacht. Dementsprechend besteht die Basis für dieses Laboratorium nicht aus einem abgeschlossenen Raum, der einzelne Phänomene mo-
522 Vgl. E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 17. 523 Vgl. ebd. 524 Vgl. ebd. Diese Position gilt es im Kapitel II.4.2.4. Der Partizipient zu überprüfen. In dieser Untersuchung wird die Position vertreten, dass die Teilnahme des Besuchers am künstlerischen Experiment vom Künstler kontrolliert wird, so dass ganz im Gegenteil kein Dialog während des Prozesses stattfinden kann. 525 Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt 2002. 526 Vgl. ebd., S. 43 f. 527 Vgl. ebd., S. 43.
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dellhaft konstruierbar machen lässt, sondern aus der festgelegten Kartierung vor Ort. Der physisch geschlossene Raum des Labors wurde dementsprechend zugunsten einer naturnahen Umgebung vorgezogen, um möglichst authentische Ergebnisse zu erhalten.528 Die modellhafte Übernahme des Urwalds in einen physisch geschlossenen Raum des Labors wurde in diesem Forschungszusammenhang als unzulänglich empfunden. Das Modell im Labor würde sich zu weit von dessen Veranlagung in einer authentischen Umgebung sowie deren komplexen Zusammenhängen in der Natur entfernen und hätte dementsprechend keine Funktion mehr.529 Es wäre dann eine Abstraktion, die sich zu weit von der Realität entfernt hat. In der Performancekunst der 1960er und 1970er Jahren wurde, wie bereits erwähnt, die Entfernung des zu erkundenden Gegenstands im Laborraum des »White Cube[s]« von einer Wirklichkeit thematisiert.530 Die Aufhebung der nach Meinung der damaligen Künstler bestehenden Kluft zwischen Kunst und Leben531 war in dieser Zeit eine Forderung, die in Aktionen wie die von Beuys erkundet wurde, denn »Kunst ist keine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern in die Wirklichkeit.«532 Das Ziel der Performance-Kunst war es deshalb reale Ereignisse im Kontext der Kunst zu präsentieren.533 Für dessen Erreichung war es unter anderem notwendig, gerade diesen künstlerischen »Mikroraum« des »White Cube«, der als eine Abschottung von der Realität empfunden wurde, zu verlassen. Latour kommt aus diesem Grund für die Forschungsstätten in der Kunst zu dem Schluss, dass Grenzen des Raums sowohl für die Kunst- als auch die Wissenschaftsforschung nicht mehr existent sind: »The distinction between the inside of the laboratory and the outside be it nature or society, is not so easy to trace anymore. We are all working more or less in a laboratory. If we don’t do experiments ourselves, others do experiments on us.«
528 Vgl. ebd. 529 Vgl. ebd. 530 Vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 9 531 Vgl. J. Hoffmann / J. Jonas : Art Works, S. 17. 532 G. Rühle: Welt aus dem Kopfstand, S. 373. 533 Vgl. J. Hoffmann / J. Jonas : Art Works, S. 15 534 B. Latour : The theatre of proof, S. 185.
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Die Ausweitung des Labors von einem »Mikroraum« zu einen »Makroraum« bewertet Latour als durchaus positiv im Hinblick auf eine offene Forschung in Kunst und Wissenschaft. Der Laborraum der Wissenschaft wird von Latour als ein auch physisch abgeschlossener Ort definiert, der als Einheit ausschließlich für Fachleute zugänglich und verständlich ist. 535 Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhang deshalb von einer »Asymmetrie«536 des Wissens, die zwischen dem Wissenschaftler als Fachmann und dem Laien herrscht. Bippus kommt deshalb auch zu ihrem bereits erwähnten Schluss, dass die künstlerische Forschung eine offene Alternative zum wissenschaftlichen Pendant bieten kann. Die Forschung in der Kunst ist dann ein ortsungebundener und für die Öffentlichkeit erfahr- und wahrnehmbarer laufender Forschungsprozess, wie an der Ausstellung Laboratorium von 1999 bereits beispielhaft gezeigt worden ist. Akteure und Raum Es stellt sich deshalb die Frage, in welcher Relation die Akteure wie Künstler, Rezipienten, Teilnehmende, aber auch Objekte zu einem Raum, der nicht physisch ist, stehen. Martina Löw hat in ihrer Raumsoziologie ein Modell entwickelt, das an das »relationale«537 Raummodell von Lefebvre anknüpft, der den Raum aber auch als das Produkt sozialer Beziehungen betrachtet.538 Löw fordert darauf aufbauend für die Raumsoziologie eine
535 Vgl. ebd. 536 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 12. 537 Das relationale Raummodell soll eine Verbindung zwischen dem »absolutistischen und relativistischen Modell« bilden. Das »absolutistische Raummodell« geht von der Vorstellung eines Raumes aus, der unbelebt und leer ist (vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2012, S. 27.) Diese Vorstellung ist bis heute dominierend, obwohl sie, wie Löw festgestellt hat, eine verkürzte Variante des newtonschen Modells ist. Im relativistischen Raummodell ist der Raum das Ergebnis von Beziehungsverhältnissen bewegter Körper (vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 33). In dieser Untersuchung wird auf die Skizzierung einer Entwicklung von der Vorstellung eines »absolutistischen und relativistischen Raums« verzichtet, da sie für die Untersuchung nicht von Relevanz ist. Es sei an dieser Stelle auf das Kapitel von Martina Löw verwiesen (s. M. Löw: Raumsoziologie, S. 33), in dem diese Darstellung umfassend erfolgt. 538 Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2012.
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konsequente Überwindung der Auffassung, Raum und Handeln getrennt voneinander zu betrachten, um in dieser Weise einer differenzierten Betrachtung gerecht werden zu können.539 Löw zieht für ihr »relationales« Modell, das den Raum in Beziehung zur Handlung setzt, die vom Soziologen Anthony Giddens untersuchte Dualität von Struktur und Handeln heran.540 Strukturen sind nach ihm als Regeln zu verstehen, die Sinn konstituieren oder Handlungen sanktionieren.541 Gleichzeitig kann die Handlung, die in Strukturvorgaben erfolgt, auch in einem »rekursiven« Prozess zugleich diese Strukturen »reproduzieren«542. Die Trennung zwischen Strukturen und Handeln ist über den Vorgang der Rekursion und Reproduktion aufgelöst worden. Diesen Vorgang hat Martina Löw auf ihre Raumsoziologie übertragen, indem sie wie Giddens den Raum als eine Struktur begriffen hat. Diese wird ihrer Ansicht nach gebildet zum einen durch den Vorgang des »Spacing«543 , der für die Situierung von Gütern, Objekten, Menschen oder auch symbolischer Markierungen zur Konstituierung eines Raums steht. Zum anderen erfolgt eine »Syntheseleitung«544 des Menschen, der diese Situierungen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse miteinander verknüpft.545 In den alltäglichen Handlungen gehen nach Löw »Spacing« und »Syntheseleistung« ineinander über und laufen nicht getrennt voneinander ab.546 Das »relationale« Raummodell von Löw basiert dementsprechend nicht mehr auf die Vorstellung eines einheitlichen Raums, sondern die Prozesse des »Spacing« und der »Syntheseleistung«, die es möglich machen Objekte, Güter und Menschen zu einem »Ensemble«547 zusammenzufassen, erzeugen erst den Raum.548 Diese Feststellung, dass das Handeln eines von Löw sogenannten »Ensembles« von Akteuren
539 Vgl. ebd., S. 129 540 Vgl. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a. M. / New York 1988, S. 67. 541 Vgl. ebd. 542 Ebd. 543 Löw 2012, S. 158. 544 Ebd. 545 Vgl. ebd. S. 158 f. 546 Vgl. ebd., S. 159. 547 Ebd., S. 160 548 Vgl. ebd.
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Raum erzeugen soll, wird im folgenden Kapitel, insbesondere unter dem Aspekt der Ausstellung, untersucht werden. 4.2.1 Die Ausstellung als Ereignisfeld In diesem Zusammenhang wird das erkundende Prinzip von Ausstellungen mit dem Ansatz künstlerische Forschung zu betreiben, wie das Laboratorium in Antwerpen von 1999, deutlich. Das Labor ist nicht mehr als ein abgeschlossener Raumbehälter zu verstehen, in dem Forschung unter der nach Lefebvre erkannten Kontrolle der Institution des Museum stattfindet.549 Vielmehr entsteht unter der neu gewählten Bezeichnung des »Laboratoriums« ein Netz in dem künstlerische und wissenschaftliche Objekte im Sinne des »Spacings« als »Ensemble« über die Syntheseleistung« verknüpft werden können zu einer grenzübergreifenden Forschung sowohl auf der räumlichen als auch auf der disziplinaren Ebene. Die Ausstellung »Laboratorium« sollte die Möglichkeit aufzeigen, dass nicht der Raum Forschung bezeichnet, sondern die Handlung aller Beteiligten meint, die sowohl raumübergreifend als auch interdisziplinär gestaltet ist. Nicht der Raum des Labors oder des Museums lässt Forschung entstehen, sondern kollektives und den Raum überschreitendes Handeln. FischerLichte richtet mit ihrer Bezeichnung »Laborsituation«550 für die Performancekunst ihren Fokus gleichfalls bewusst nicht auf den Raum des Labors, sondern auf die Handlung des Forschens zwischen Künstler, Publikum und den Objekten. Der Künstler als »Versuchsleiter«551 erzeugt im Rahmen der Forschung Bedingungen beziehungsweise Situationen, denen er sich und andere aussetzt, so dass er Handlungs- oder Vorgehensweisen erfahrbar machen lassen kann.552 Er ist in dieser Funktion derjenige, der über die Handlung im Zusammenspiel mit oder ohne Publikum ein sogenanntes Ereignisfeld definiert.553 Im Folgenden sollen die an diesem Ereignisfeld beteiligten Akteure betrachtet werden: Der Künstler, der Partizipient beziehungsweise der Teil-
549 Vgl. Kapitel II.3.1.2. Der Ausstellungsraum als Laborraum und vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 10. 550 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 299. 551 Ebd. 552 Vgl. E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 120. 553 Vgl. ebd.
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nehmende und schließlich der Rezipient. In diesem Zusammenhang sind gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie auch die am Experiment beteiligten Objekte beziehungsweise die Aktanten zu sehen. Diese erhalten allerdings keine gesonderte Betrachtung wie die Akteure, sondern sie sind vielmehr als Medien für die »Inskriptionen« in dieser Betrachtung eingeschlossen. Aus diesem Grund wird insbesondere der Frage nachgegangen werden müssen, ob die Akteure in einer anderen Weise in die Handlung des künstlerischen Experiments eingebunden werden und wie sich diese von der Aktionskunst allgemeint unterscheidet. Es gilt also zunächst die Spezifikationen der Handlungsweisen im Kunstexperiment aufzuzeigen. 4.2.2 Der Forscher in Kunst und Wissenschaft Der Forscher in der Kunst wird zunächst von seinem Verständnis als Künstler beleuchtet. Das bedeutet, dass es zunächst zu klären gilt, was den Künstler ausmacht, um dann wiederum Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Forschers in der Kunst ziehen zu können. Es schließt sich dann die Frage an, ob der Forscher und der Künstler in der Kunst überhaupt unterschieden werden können. Ernst Kris und Otto Kurz sehen den Beginn der geschichtlichen Überlieferung des Künstlers und damit das Bewusstsein über die Existenz einer Künstlerpersönlichkeit in der Nennung seines Namens.554 Die Verbindung des Künstlers mit seinem Namen und dem von ihm geschaffenen Kunstwerks ist nach Kris und Kurz die Voraussetzung, dass hier keine religiöse, kultische oder magische Funktion erfüllt wird, sondern eine schöpferische Leistung vorhanden ist.555 Die Anonymität des Künstlers, die erst mit dem Beginn der Neuzeit aufgegeben wurde, ließ auch die Schreibung einer Künstlerbiographie möglich werden.556 In dieser Epoche wird dem Künstler die Eigenschaft einer angeborenen Virtuosität, das heißt einer bis zur Perfektion beherrschten Technik zugeschrieben.557 Die Vorstellung ging so
554 Vgl. Kris, Ernst / Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt 1995, S. 24. 555 Vgl. ebd. 556 Vgl. ebd., S. 26 557 Vgl. ebd., S. 49 f. Diese Auffassung von einem Künstler ist zurückzuführen auf den Mythos der Entdeckung Giottos durch Cimabue. Giorgio Vasari schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts die Geschichte von dem Schäferjungen
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weit, dass der Künstler seine Fähigkeiten nicht von Grund auf erlernen musste, sondern, dass diese ihm von Geburt an als besondere Gabe mitgegeben waren.558 Es herrscht die Auffassung von einem Künstler vor, der sich aufgrund von Eigenschaften wie Genialität auszeichnet.559 Siegfried J. Schmidt definiert den Künstler im Zusammenhang mit dem Experimentellen in der Kunst als eine »heuristische Instanz«560. Bereits 1978 erkannte Schmidt, dass der Künstler in experimentellen Verfahren sich als freier Erkundender versteht.561 Nach Schmidt ist der Künstler als Forscher »Problemfinder«562 und »Entdecker«563 , der in seiner Forschung ausschließlich dem »Kontext der Entdeckung« zuzuordnen ist. Der Forscher zwischen Genius und Versuchsleiter Der Künstler ist im Experiment nicht nur »heuristische Instanz« im Sinne des Erkundens, sondern er wird auch von Fischer-Lichte als »Versuchsleiter«564 bezeichnet. Letzterer zeichnet sich in seiner Vorgehensweise als jemand aus, der eine Situation initiiert, in der er sich sowie andere aussetzt.565 Er ist im Zusammenhang mit dem Experiment nicht mehr nur als ein genius beziehungsweise als ein Genie zu verstehen, indem er sich in seiner Gesamtheit an individuell veranlagten charakterlich-geistigen Fähigkeiten und
Giotto, der als armer Junge in der Nähe von Florenz aufgewachsen war. Der Maler Cimabue entdeckte Giotto, während dieser Schafe hütend auf einem Stein malte. Dabei habe Giotto so naturgetreu gezeichnet, dass Cimabue ihn in seiner Werkstatt aufnahm und er von allen für seine herausragende und naturgegebene Begabung bewundert wurde. Der Künstler besitzt dieser Annahme folgend einen besonderen Status, der ihn von anderen Menschen, die diese angeborene Fertigkeit nicht besitzen, auszeichnet. 558 Vgl. E. Kris / O. Kurz: Die Legende vom Künstler, S. 56. 559 Vgl. ebd. Kris und Kurz bezeichnen gemäß der Künstlermythologie von Giotto diesen als »Wunderkind« 560 S. J. Schmidt: Was heisst Experiment in der Kunst, S. 8-12. 561 Vgl. ebd. 562 Ebd., S. 10. 563 Ebd. 564 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 285. 565 Vgl. ebd., S. 285.
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seinem herausragenden Talent von anderen unterscheidet.566 Der Künstler verfolgt dementsprechend im Experiment die Strategie eine Distanz zu seiner Aktion aufzubauen, um sich wie das Beispiel von Roman Signer im Kapitel II.3.1. Der Mechanismus der Unvorhersehbarkeit im Experimentellen gezeigt hat, selber überraschen zu können. Er ist nicht als Subjekt in dieser Aktion involviert und dementsprechend weniger als genius, sondern vielmehr als »spiritus rector«567 zu bezeichnen. Der Künstler ist als Subjekt dann nicht mehr alleiniger Bestandteil des künstlerischen Experiments, sondern tritt lediglich wie Badiou es formuliert hat als »empirischer Produzent«568 auf.569 Der Künstler ist Initiator, aber nicht Gestaltender von Kunstereignissen, so dass hierfür die Bedingung geschaffen ist, dass er auch zum Beobachter seines eigenen Experiments werden kann.570
566 Vgl. »Genius«, in: Ritter, Joachim u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel / Stuttgart 1971-2007, Bd. 4, S. 279). 567 C. Janecke: Kunst und Zufall, S. 226. 568 Alain Badiou bezeichnet den Künstler als Subjekt, der im empirischen Sinn Produzent des Werkes ist (Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 80. 569 Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 80f. So kommt Badiou zu dem Schluss: »Die Seele des Schöpfers eingehend zu erforschen, um was auch immer das Werk betreffend zu finden, ist ein Versuch, der nie etwas erbracht hat.« (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 83) 570 Vgl. ebd., S. 83. Bezogen auf den Dichter Mallarmé spricht Badiou von der Relation des Dichter oder Künstlers zu seinem Werk: »Der Schöpfer ist die schwindende Ursache. Er ist selbstverständlich Ursache, weil er in das Werk eingeschlossen ist, aber schwindende Ursache.« (vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 83).
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Die Intersubjektivität des Forschens An dieser Stelle scheint eine Tendenz zur Objektivierung des Subjekts im künstlerischen Experiment zu existieren. In der Wissenschaft wird die postulierte Objektivität nach Olaf Breidbach auch nicht als der Ausschluss des Subjekts aus dem Forschungsprozess beschrieben. Vielmehr ist dieser als das Ergebnis einer »Intersubjektivität«571 zu bezeichnen, womit in der Forschung alle handelnden Subjekte als eine Gemeinschaft in die Formulierung des Ergebnisses einbezogen werden.572 Dies resultiert nach Breidbach aus der Erkenntnis, dass eine Forschung ohne Subjekte nicht durchführbar ist.573 Die Bemühungen der Wissenschaft, das Subjekt als Akteur im System der Forschung zugunsten der Einhaltung der Objektivität zu ignorieren, ist in der Praxis eine kaum zu realisierende Unternehmung. Dieses Scheitern am eigenen Anspruch der Wissenschaft ist von Soziologen, wie Bruno Latour und Karin Knorr-Cetina574 bereits Ende der 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre in ihren Untersuchungen nachgewiesen worden.575 Das Forschungshandeln von Wissenschaftlern und Forschern ist demzufolge durchaus Einflüssen wie persönlichen, politischen, aber auch ökonomischen Strategien ausgesetzt. Forschungsentscheidungen sind daher abhängig von persönlichen Präferenzen und der Kommunikation inklusive ihrer Interpretation.576 Es ist aus diesem Grund kaum möglich das handelnde Subjekt als Akteur aus der Forschung auszuschließen, so dass sie auch entscheidend am Ergebnis des Experiments beteiligt sind. Die »Intersubjektivität« ist dann eine nach Breidbach neu gestaltete Form der Objektivität als Diskurs, der für den Konsens zwischen den Akteuren im Experiment
571 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 12. 572 Vgl. ebd. 573 Vgl. ebd. 574 Im Folgenden werden zwei Veröffentlichungen aus dem Kontext der Wissenschaftssoziologie genannt: Latour, Bruno / Woolgar, Steve: Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979; Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1984. 575 Vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 11. 576 Vgl. ebd.
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steht.577 Diese Form des Forschens nicht über die Objektivität, sondern über die »Intersubjektivität«, die eine Einbeziehung vieler Subjekte beziehungsweise Akteure des Forschens möglich macht, steht parallel zum Ansatz künstlerischer Ausstellungskonzepte wie jener der documenta 13 von 2012. So wird im Ausstellungskatalog die Idee vertreten, dass ein Raum gebildet werden soll, der ein breites Spektrum von Tätigkeitsfeldern und entsprechenden Akteuren zur Betrachtung bereitstellt.578 Die am Kunstereignis beteiligten Akteure als beobachtende und bewertende Instanzen in der Forschung spielen in ihrer Gesamtheit daher nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern auch in der künstlerischen Forschung eine Rolle. In der künstlerischen Forschung sind neben dem Künstler als Forscher auch die Rezipienten als forschende und bewertende Instanzen zu berücksichtigen, die im folgenden Kapitel untersucht werden. 4.2.3 Der Rezipient Die Künstlerrolle im Sinne des genius wird von Marcel Duchamp mit der Forderung aufgelöst, dass der Rezipient das Kunstwerk nicht als eine geschlossene Intention des Künstlers zu betrachten, sondern der Betrachtende selbst solle sich »Bilder«579 machen.580 Der Rezipient erhält hiermit die Aufgabe, das zu vollenden, was der Künstler in seinem Werk angelegt hat. In diesem Sinne ist der Künstler der »spiritus rector«, der den Fokus des Betrachters lenkt, diesen aber nicht beeinflusst, sondern ihm mögliche Interpretationen eröffnet. Steiner spricht von einem Gefühl der Befreiung von Seiten Duchamps als er 1912 den Betrachter zum Bestandteil seines Kunstwerks erklärte.581 Diese Zäsur machte es Duchamp möglich die Welt nicht mehr so abzubilden wie er sie sah, sondern der Rezipient hatte von da an die Verpflichtung das Kunstwerk intellektuell zu vollenden.582 Dieser Akt der intellektuellen Vollendung macht den Rezipienten zum Teil des
577 Vgl. ebd., S. 12 und K. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis, S. 127 ff. 578 Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit, S. 31. 579 D. Daniels: Duchamp und die anderen, S. 272. 580 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 138. 581 Vgl. ebd. 582 Vgl. ebd.
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Kunstwerkes, indem ihm die Rolle einer intellektuellen Instanz im Sinne der Vervollständigung eines Werkes zugewiesen wird.583 Duchamp befreit sich von seiner künstlerischen Aufgabe, die Welt so wiederzugeben, wie er sie verstanden wissen will und hebt die Eindeutigkeit auf zugunsten einer Vieldeutigkeit der einzelnen Interpretationen und Auslegungen. Bezogen auf das künstlerische Experiment besteht dann die interpretierende beziehungsweise auswertende Instanz aus der Vielzahl der Rezipienten, denen das Kunstwerk als das Ergebnis eines Experiments zugänglich gemacht wird. Das Kunstwerk in der Konzeption Duchamps stellt dem Rezipienten ein Raster zur Verfügung, an dem er sich orientieren kann. Über die bewusst gesetzten Leerstellen, wie die fehlende Auswertung des Experiments, wird das Einbringen einer eigenen Denkleistung von Seiten des Rezipienten geradezu gefordert.584 Das Vorbild Duchamps für die Nicht-Fertigstellung des Kunstwerks zugunsten der freien Rezeption war nach Theo Steiner das »Non-finito« Leonardo da Vincis.585 Zu seiner Zeit galt diese Technik auch als besonders intellektuelle Form des Kunstschaffens. Dies musste auf Duchamp eine entsprechende Faszination ausgeübt haben, denn dieser wünschte sich die Einführung des Prinzips des Intellektuellen beziehungsweise der Rationalität in seine Kunst. Er wollte hiermit eine Erweiterung im Sinne einer neuen Kunst erreichen.586 Steiner vergleicht die Funktion des Künstlers im Kunstwerk von Duchamp mit einem »Projektleiter«587 , der das Konzept oder die Idee in Form eines Plans vorgibt. Das »Forschungsteam«588 , damit sind die Rezipienten des Kunstwerks gemeint, arbeiten ganz nach Duchamps Forderung an der Bedeutungserschließung des Kunstwerks, das heißt der Rezipient formuliert aus, was das künstlerische Konzept vorgibt. Dieses Ergebnis erfolgt erst über die Rezipienten, so dass es vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen nicht-intentional ist.589 Da-
583 Vgl. ebd. 584 Vgl. ebd., S. 214. 585 Vgl. ebd. 586 Vgl. ebd. 587 Ebd., S. 215. 588 Ebd. 589 Vgl. ebd.
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niels spricht deshalb davon, dass dem Rezipient »die Rolle des Schöpfers«590 im Kunstwerk zukommt und nicht dem Künstler.591 Mit der intellektuellen Einbindung des Rezipienten und der Einführung der Wissenschaft als rationales Prinzip592 hat Duchamp einen Wendepunkt in seiner Kunst eingeleitet.593 Er versteht sich als Künstlerforscher,594 der
590 D. Daniels: Duchamp und die anderen, S. 262 591 Vgl. ebd. 592 Duchamp spricht davon die »präzise Seite der Wissenschaft in die Kunst einzuführen« (Zit. nach der Übersetzung von Molderings 2006 (Cabanne, Pierre: Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S.67), S. 21.). Siehe dazu auch das Kapitel II.2.2. Empirische Methoden in der Kunst: Wissenschaftliche Experimente der Avantgarde. 593 Vgl. H. Molderings Kunst als Experiment, S. 19. Duchamp wählte nach Molderings bewusst ein das subjektive Empfinden vermeidende Verfahren der technischen Konstruktionszeichnung für seine Kunst aus. 594 Duchamp versuchte sich unter anderem als Erfinder und bezog sogar einen Stand auf der Pariser Muster- und Erfindermesse (1935), um seine Rotoreliefs publik zu machen. Diese Rotoreliefs sind Kartonscheiben in Form einer Schallplatte, die auf beiden Seiten bedruckt sind. Das Druckmuster besitzt die Form einer Spirale, die bei der Drehbewegung die optische Illusion von Tiefe erzeugen kann. Die Platte wird hierfür auf den Schallplattenspieler aufgelegt, so dass sich diese bei 33 Umdrehungen pro Minute betrachtet werden können. Die dazugehörige Kartonhülle kann aufgeklappt auf die Scheibe so positioniert werden, dass der Stift in der Mitte bei der Betrachtung nicht mehr stört. Allerdings war er sich nach den Worten seines Freundes Roché gleichzeitig darüber bewusst, dass seine Erfindung niemals den kommerziellen Erfolg haben könnte wie andere funktionale und für den Alltagsgebrauch konzipierte Maschinen. Der Wunsch, ein Erfinder zu sein, war aber immerhin so groß, dass er sich mit einem Stand an dieser Messe beteiligt hatte. Dieses Vorhaben, obwohl es im kaufmännischen und auch im pragmatischen Sinne gescheitert ist, macht auch die große Ambition Duchamps, seinem Vorbild Leonardo da Vinci als Künstlerforscher folgen zu wollen (vgl. D. Daniels : Duchamp und die anderen, S. 122 ff.).
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den Dingen auf den Grund gehen will, um sein Ziel, das »Retinale«595 seiner Malerei zu überwinden, erreichen zu können. Der Künstler als »Projektleiter« und die Rezipienten als »Forschungsteam« sind gemeinsam diejenigen, die in der Kunst erkunden. Die Voraussetzung für diese Konstellation der Forschung ist die Offenheit des Kunstwerks beziehungsweise das bereits erwähnte »Non-finito«, das eine solche Einbindung des Rezipienten als intellektuellen Teil des Kunstwerks erst möglich macht. Das offene Kunstwerk Umberto Eco vertritt in seiner Abhandlung »Das offene Kunstwerk« diese von Duchamp für seine Kunst geforderte Offenheit, die es zulässt, dass der Rezipient konstitutiver Teil des Kunstwerks im Sinne einer Bedeutungserschließung ist.596 Der Ausgangspunkt für das vielzitierte Werk von Eco ist die »Ambiguität«597 des Werkes,598 die multiple Auslegungen über den Interpreten möglich macht und dementsprechend eine offene Struktur bereitstellen muss. Das Kunstwerk ist nach Eco seit der Moderne, beziehungsweise seit der »modernen Wissenschaft«599, grundsätzlich als ein »Signifikant (Bedeutungsträger)«600 mit mehreren »Signifikaten (Bedeutungen)«601 zu verstehen und folgt dementsprechend einem strukturalistischen Ansatz der Rezeption.602 Eco bezeichnet diesen Vorgang des Interpreten als eine Vollendung des Werkes.603 Dieser geht davon aus, dass Kunstwerke sozu-
595 T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 145 und siehe dazu auch Kapitel II.2.2. Empirische Methoden in der Kunst: Wissenschaftliche Experimente der Avantgarde 596 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 30. 597 Ebd., S. 11. 598 Neben der Poetik und Prosa bezieht sich Umberto Eco mit seiner Annahme des offenen Kunstwerkes auch auf die bildende Kunst. 599 U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 46. 600 Ebd., S. 11. Eco bezieht sich mit den Begriffen des »Signifikants« und des »Signifikaten« auf die Zeichentheorie Ferdinand de Saussures (de Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin / NewYork 2001) 601 Ebd. 602 Vgl. ebd., S. 10 f. 603 Vgl. ebd., S. 23.
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sagen »epistemologische Metaphern«604 sind, das heißt, dass seiner Ansicht nach dem offenen Kunstwerk strukturelle Eigenschaften eigen sind, die logischen Prozessen gleichen wie die Technik des »Non-finito« von Leonardo da Vinci, das nach Steiner eine besondere intellektuelle Leistung von Seiten des Rezipienten erfordert.605 Ausgehend von der Annahme, dass der Rezipient das Kunstwerk in seiner offenen Struktur vervollständigt, muss dieser gleichzeitig auch eine Beziehung mit diesem Werk eingehen.606 Eco spricht von einem dialektischen Verhältnis zwischen der Werkstruktur und dem Vorgang der Interpretation von Seiten des Rezipienten. Dieser von Eco so bezeichnete Vorgang des Verstehens607 ist nicht von der »existentiellen Situation«608 des Rezipienten zu trennen, sondern ist vielmehr Teil des Verstehens. Die »existentielle Situation« beinhaltet nicht nur den historischen Kontext, sondern auch die politische Situation und die Persönlichkeit desjenigen, der das Kunstwerk auslegt.609 Das bedeutet, dass die Rezeption individuell von dieser jeweiligen »existentiellen Situation« des Betrachters erfolgt und beinhaltet das von ihm sogenannte »Weltbild«610 des Rezipienten, das abhängig ist von dem historischen Kontext von dem aus er das Kunstwerk auslegt.611. Das offene Kunstwerk wird vom Rezipienten in dem Moment, in dem es vermittelt wird, auch gleichzeitig vollendet.612 Der nun für die vorliegende Untersuchung interessante Aspekt ist die Definition des offenen Kunstwerks: Der Betrachter oder Interpret vollendet das Kunstwerk in dem Moment, in dem er es interpretiert.613 Das Modell des offenen Kunstwerks, in dem der Rezipient von seinem Standpunkt das
604 Ebd., S. 17. 605 Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 214. 606 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 12. 607 Eco versteht unter dem Begriff des Verstehens einen ersten Zugang zum Kunstwerk. Im Verstehen sieht er die »empirische Ebene« (U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 23) erreicht. 608 U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 30. 609 Vgl. ebd. 610 Ebd., S. 12. 611 Vgl. ebd. 612 Vgl. ebd., S. 23. 613 Vgl. ebd., S. 23. Offene Kunstwerke sind nach Eco »[...] die vom Interpreten im gleichen Augenblick in dem er sie vermittelt, erst vollendet werden.«
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Werk zu interpretieren sucht, stellt Eco dem des geschlossenen gegenüber.614 Letzteres will der Künstler als eine direkt zu vermittelnde Botschaft an den Rezipienten verstanden wissen, der das Werk weiterhin von seiner spezifischen Situation ausgehend interpretiert. Allerdings ist das Kunstwerk nicht vom Künstler als eine offene Struktur angelegt worden und unterscheidet sich dahingehend auch von diesem Konzept.615 Es soll an dieser Stelle nicht auf die geschlossene Form des Kunstwerks als Gegenstück zur offenen eingegangen werden, da diese Unterscheidung meiner Meinung nach auch nicht eindeutig zu vollziehen ist. Vielmehr muss von einem offenen und einem weniger offenen Kunstwerk die Rede sein, denn auch Kunstwerke vor der Moderne haben einen interpretativen Spielraum, weil auch sie mehrdeutig sind.616 Daraus ergibt sich, dass die offene Struktur des Kunstwerks kein vom Subjekt unabhängiges Verstehen möglich machen kann, sondern vielmehr an ihm gebunden ist.617 Es besteht eine Beziehung zwischen dem Kunstobjekt als Struktur, bestehend aus einem Signifikat-System, und dem Rezipienten, der sich in das Kunstwerk über den Nachvollzug dieses Systems einfügt.618 Es kann daher nicht mehr lediglich von einem Objekt als Träger von Informationen gesprochen werden, sondern das Kunstwerk bietet Bedeutungsmöglichkeiten an, die sich der Rezipient individuell über das Kunstwerk erschließt oder erkundet.619 Im Zusammenhang mit dem Experiment bedeutet die intellektuelle Einbeziehung des Rezipienten gleichzeitig, dass der Forschungsvorgang für ihn transparent gemacht wird. Als Beobachtender wird er aufgefordert, das zu vervollständigen, was nach Eco als offene Struktur im Kunstwerk beziehungsweise im Experiment angelegt worden ist. Der Betrachter ist nach
614 Vgl. ebd., S. 11. 615 Vgl. ebd. 616 Eco räumt diese Kritik auch in seiner Arbeit ein, wenn er im Rezeptionsvorgang geschlossener Werke vor der Moderne einen gleichen Einfluss der »existentiellen Situation« des Rezipienten im Vorgang des Verstehens verwirklicht sieht. Auch hier erfolgt das Verstehen von einer individuellen Position des Rezipienten aus (vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 30). 617 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 15. 618 Vgl. ebd., S. 13. 619 Vgl. ebd.
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Eco »enthusiasmiert«620 von dieser offen angelegten Struktur des Kunstwerks und lässt sich dementsprechend darauf ein. Die Mehrdeutigkeit, die nach Eco im »modernen Kunstwerk« angelegt ist, ist dann der Nährboden dafür, neue Aspekte der Welt beziehungsweise das Neue überhaupt erfassen zu können.621 Dieser Vorgang begründet sich aufgrund der Vielzahl der Rezeptionsmöglichkeiten, die durch die »existentialistische Situationen« der Betrachter entstehen. Die unterschiedlichen Interpretationen erfolgen über den Vorgang der »unbewussten Projektionen«622 von Seiten des Rezipienten.623 Eco sieht im offenen Kunstwerk über diesen Pluralismus der Bedeutungen eine »Diskontinuität«624 gegeben, indem nicht mehr erzählt wird, sondern diese Bedeutungsvielfalt ist einfach gegeben. Unter dem offenen Kunstwerk versteht er die Verwirklichung eines übergeordneten Schemas, das zwischen der »abstrakten Kategorie der Wissenschaft«625 und der Sinnlichkeit im Ästhetischen vermitteln kann, so dass neue Aspekte der Welt ins Bewusstsein gelangen können.626 Das offene Kunstwerk lässt dementsprechend einen Bedeutungspluralismus entstehen, der die Möglichkeit eröffnet, sich auch widersprechenden Aussagen im Sinne der in der Werkstruktur veranlagten »Ambiguität« zulassen zu können. Es ist das »partikularistische« Prinzip, das im Zusammenhang mit der Pataphysik bereits im Kapitel II.2.3. Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne erwähnt worden ist.627 Aus diesem Grund kommt auch Badiou zu der Feststellung, dass die Kunst nicht in ihren Erkundungen verallgemeinert, sondern als ein Wahrheitsverfahren ihre Fragen am jeweiligen Ereignis festzumachen sucht und dementsprechend als »partikularistisch«628 zu bezeichnen ist.629
620 Ebd., S. 166. 621 Vgl. ebd. 622 Ebd., S. 163. 623 Vgl. ebd., S. 159. 624 Ebd., S. 159. 625 Ebd., S. 165. 626 Vgl. ebd. 627 Vgl. Kapitel II.2.3. Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne 628 A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 77. »Die Kunst stellt Fragen auf eine völlig partikulare Art und Weise.« 629 Vgl. ebd.
158 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Einbeziehung des Rezipienten als intellektueller Bestandteil des Kunstwerks bei allen Experimenten in der Kunst festzumachen ist. Im künstlerischen Experiment überlässt der Künstler dem Rezipienten die Auswertung, so dass in der Kunst das getrennt ist, was in der Wissenschaft von einer Person oder einer eingegrenzten Personenzahl im Sinne der »Intersubjektivität« vollzogen wird. Die Partizipation, das heißt die physische Einbeziehung des Rezipienten in das Kunstwerk, ist gegenüber der Rezeption dagegen keine durchgängige künstlerische Strategie, sondern muss am jeweiligen Beispiel im Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung festgemacht und untersucht werden. An dieser Stelle soll lediglich kurz auf die Erwartungen eingegangen werden, die an eine Partizipation in der Kunstforschung geknüpft werden. Die Forschung in der Kunst steht scheinbar für das, was an der wissenschaftlichen Forschung kritisiert wird und was die Kunst als Forschung wiederum möglich macht, nämlich die Transparenz des Forschungsprozesses für alle Beteiligten zu erreichen. Bippus spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kommunikationsangebot«630, das gleichzeitig nach Steiner eine »Demokratisierung«631 des Wissens zur Folge hat, denn alle Ausstellungsbesucher sind in Form einer Kommunikation am Forschungsprozess beteiligt. Das heißt, es wäre hiermit eine Möglichkeit gefunden worden, die Hierarchie in der Wissenschaft zwischen Fachmann und Laie in der Kunst aufzulösen. Das künstlerische Experiment hat dem wissenschaftlichen Pendant an der Stelle etwas entgegenzusetzen, an der Kritik geübt wird, nämlich die fehlende Beteiligung von sogenannten Laien beziehungsweise die fehlende Offenheit des Forschungsprozesses. Diese Offenheit würde es dann möglich machen, den Forschungsprozess transparenter für ein größeres Publikum zu machen.632 Dieser hohe Anspruch an
630 E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 12. 631 T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 63. Steiner bezieht sich in seiner Annahme, dass eine Forderung der Demokratisierung der Wissenschaft beziehungsweise des Wissens in der Gesellschaft existiert auf die Publikation von Philipp Kitcher (Kitcher, Philipp: Science, Truth and Democracy, Oxford 2001). 632 Es wird zu überprüfen sein, ob die Erwartungen in den Experimenten im Kontext der Kunst erfüllt werden. Dies wird insbesondere anhand des künstleri-
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 159
die künstlerische Forschung lässt die Frage aufkommen, ob der Partizipient oder der Teilnehmende dieser ihm zugeschriebenen Rolle tatsächlich entspricht, nämlich die Funktion des Forschenden zu übernehmen. Aus diesem Grund sollen im Folgenden zunächst die unterschiedlichen Positionen zur Partizipation in der Aktionskunst vorgestellt werden. 4.2.4 Der Partizipient In den 1990er Jahren treten Aktionen in der Kunst in Erscheinung, die sich nach Fritz durch »Unabgeschlossenheit, Interaktivität und Prozessualität«633 auszeichnen.634 Dieser offen angelegte Prozess wird vom Künstler über ein Publikum hergestellt, das für sein Anliegen aktiviert wird. Das daraus resultierende Engagement steht im Mittelpunkt dieser sogenannten Partizipationskunst (»Participatory art«635 ).636 Nicolas Bourriaud sieht in dieser Konstellation der Aktionskunst den Anspruch von Authentizität gewahrt: »[...]
the role of artworks is no longer to form imaginary and utopian realities, but to actually be ways of living and models of action within the existing real, whatever the scale chosen by the artist.«637 Die Beobachtung von Fritz, dass in den 1990er Jahren, die Aktionen auffällig häufig mit »Experiment« und »Labor« bezeichnet wurden, bestätigt Bourriauds Feststellung, dass es um ein Probieren oder Erkunden von Handlungen (»ways of living«) in der Kunst geht, die mit der Alltagswirklichkeit (»existing real«638) authentisch sind.639
schen Beispiels von Carsten Höllers Flugmaschine im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle noch zu erörtern sein. 633 E. Fritz: Authentizität, Partizipation, Spektakel, S. 28. 634 Vgl. ebd. 635 Bishop, Claire: Artificial hells. Participatory art and the politics of spectatorship, New York 2012, S. 1. 636 Vgl. ebd. 637 Bourriaud, Nicolas: Relational aesthetics, Dijon 2010 (frz. Originalausgb.: Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationnelle, Dijon 1998), S. 13. 638 Ebd. 639 Vgl. ebd., S. 13. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass ein Labor, wie Fischer-Lichte zu Recht festgestellt hat, dass eine »Laborsituation« in der Aktionskunst und insbesondere der Performance, eine Ähnlichkeit mit der Alltagswirklichkeit besitzt, letztlich aber immer eine »Laborsituation« bleibt.
160 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Die Politisierung der Partizipation In seinem von 1998 veröffentlichten Essay schreibt Bourriaud unter dem Titel »Relationale Ästhetik« (»Esthétique Rélationelle«) über die Partizipation oder die Handlung des Besuchers in der Partizipationskunst.640 Bourriaud geht in seinem Text von der Annahme aus, dass die teilnehmenden Akteure eine diskursive Gemeinschaft bilden, das heißt sie stehen, wie auch von Bippus für die künstlerische Forschung festgestellt worden ist,641 in einem Dialog.642 Claire Bishop spricht aus diesem Grund auch von einem »social turn« in der Partizipationskunst.643 Bourriaud sieht in diesen temporären Gemeinschaften oder dem nach Latour sogenannten »Kollektiven«644 in der Kunst eine Form von Institutions- und Kapitalismuskritik verwirklicht.645 Das Kunstwerk als sozialer Raum, in dem Akteure handeln und diesen bilden, wird dem institutionellen Raum des Museums gegenübergestellt. Bourriaud wünscht sich mit der Partizipationskunst eine Erweiterung des Ausstellungsraums, der von den handelnden Akteuren als sozialer Raum konstituiert wird. Es sind die Handlungen eines Kollektivs mit Akteuren gemeint, die im Repräsentationsraum des Museums stattfinden. In diesem »Mikroraum« wird mit der Partizipationskunst das Leben außerhalb dieses abgeschlossenen und von O’Doherty so bezeichneten »Laborraums« wieder in die Kunst integriert. Zu den Künstlern, die Bourriaud seiner »relationalen Ästhetik« zuordnet, zählt er neben Carsten Höller auch den Künstler Rirkrit Tiravanija. Als Beispiel soll seine Aktion im Kölnischen Kunstverein mit dem Titel Untitled 1996 (tomorrow is another day) dienen, die zwischen dem 6.11.1996-
640 Vgl. ebd. 641 Vgl. E. Bippus: Kunst des Forschens, S. 17. 642 Vgl. N. Bourriaud: Relational aesthetics, S. 13. 643 Vgl. Bishop, Claire: »The Social Turn: Collaboration and Its Discontents«, in: Artforum (February 2006), S. 178-183. 644 Siehe zum Begriff des »Kollektivs« von Bruno Latour Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung 645 Vgl. N. Bourriaud: Relational aesthetics, Dijon 2010 (frz. Originalausgb.: Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationnelle, Dijon 1998), S. 17.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 161
19.1.1997 stattgefunden hat.646 Tiravanij ließ seine New Yorker Wohnung im Kölnischen Kunstverein nachbauen. Dieser Wohnraum war allerdings nicht als ein maßstabsgerechtes Modell nachgestellt worden, sondern hier wurde ein Lebensraum für Besucher zur freien Nutzung zur Verfügung gestellt. Der Raum von Tiravanij im Kölnischen Kunstverein bestand aus unbehandelten Holzwänden inklusive einer Küche, Badezimmer und Schlafraum, die entsprechend genutzt werden konnten. Während der gesamten Zeit der Ausstellung war dieser Art Wohnkasten Tag und Nacht geöffnet.647 Auf diese Weise entwickelte sich die Wohnung im Kunstverein zu einem Ort, an dem auch die Akteure miteinander kommunizieren konnten. Rirkrit Tiravanijas Äußerung zu seiner performativen Installation entspricht ganz dem Gedanken der Institutionskritik, die von Bourriaud in diesem Zusammenhang beobachtet worden ist: »Es wurde schon so viel Kunst gemacht, ich will zurück zum Grundlegenden, zu den basics.«648 Mit dieser Aussage spielt er auf die Entfernung der Kunst zur Alltagswirklichkeit an, die er unter anderem mit dem Nachbau seiner Wohnung im Kölnischen Kunstverein wieder zu überwinden sucht.649 Diese Kritik mündet in eine Politisierung der Partizipationskunst, die von Bourriaud insbesondere dadurch hervorgehoben wird, dass er den Philosophen und Ökonomen Karl Marx für die Definition seiner »relationalen Ästhetik« hinzuzieht.650 Bourriaud sieht in der Partizipationskunst die Verwirklichung eines sozialen Raums (»social interstice«651), der außerhalb kapitalistischer Interessen und alltäglichen Verpflichtungen steht.652 Er versteht deshalb unter der »relationalen Ästhetik« die Bezeichnung eines nicht
646 Vgl. Rirkrit Tiravanija: Untitled 1996 (tomorrow is another day), Archiv des Kölnischen Kunstvereins, http://koelnischerkunstverein.de/wp/rirkrit-tiravani ja-untitled1996-tomorrow-is-another-day/ 647 Vgl. Kittelmann, Udo (Hg.): Rirkrit Tiravanija. Untitled, 1996 (tomorrow is another day), Köln 1998. 648 Ebd., S. 5. 649 Aufgrund der Tatsache, dass Kunst und Alltagswirklichkeit ineinander übergehen, wird die Autonomie der Kunst in Frage gestellt (vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 299f.). 650 Vgl. Bourriaud, Nicolas: Relational aesthetics, S. 16. 651 Ebd. 652 Vgl. ebd.
162 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
weiter definierten Raums (»arena of exchange«653) der einen Austausch zwischen den Subjekten (»intersubjectivity«654 ) beinhaltet.655 Claire Bishop stimmt mit Nicholas Bourriaud darin überein, dass in der Partizipationskunst ein Labor im Ausstellungsraum entsteht, in denen Akteure im Kollektiv Handlungen vollziehen.656 Gleichzeitig kritisiert Bishop in ihrem Aufsatz »Antagonism and Relational Aesthetics«657 Bourriaud für seinen politischen Impetus, der sich bemerkbar macht in seinen Texten wie die »relationale Ästhetik«, die mehr einem künstlerischen Manifest und weniger einer kunstkritischen Reflexion gleicht.658 Die Publikation von Bourriaud, die in der Kunst vielfach rezipiert wird, erfährt in dieser Weise von Claire Bishop eine begründete Abmilderung. Sie verschiebt den Fokus von der politischen auf die soziale Bedeutung der Partizipationskunst.659 Partizipation in der Kunst ist ihrer Meinung nach, dass dem Betrachter der Zugang zu einer Erfahrung mit Kunst über sein Handeln mit anderen Akteuren im Kollektiv ermöglicht wird.660 Aus diesem Grund sieht sie in der partizipativen Kunst nicht einen Ausdruck von einem politischen, sondern vielmehr von einem sozialen Interesse gelenkt und spricht von einer »socially engaged art«.661 Diese Kollektive sind dann als »experimental communities«662 zu verstehen und bilden nach Bishop einen Gegenentwurf zur interaktiven Kommunikation der digitalen Kunst, die lediglich aus dem Input-Output-Schema zwischen Mensch und Maschine besteht.663 In diesem Sinn wird der digitalen Kunst als eine lineare Kommunikation die vernetzte Kollektivität des Sozialen in der Partizipationskunst nach Bishop entgegengesetzt.
653 Ebd., S. 17. 654 Ebd., S. 15. 655 Vgl. ebd., S. 17. 656 Vgl. C. Bishop : Antagonism and Relational Aesthetics, S. 51 ff. 657 Ebd. 658 Vgl. ebd., S. 52. 659 Vgl. ebd., S. 79. 660 Vgl. ebd. 661 Vgl. C. Bishop: Artificial Hells, S. 1 f. 662 Ebd. 663 Vgl. ebd.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 163
Abschließend kann festgehalten werden, dass der Begriff der Partizipation immer als ein künstlerisches Konzept zur Aktivierung des Publikums eingesetzt wird. Vergleicht man allerdings die Aktion von Rirkrit Tiravanija und mit der von Carsten Höller so wird offensichtlich, dass es sich um zwei unterschiedliche künstlerische Partizipationskonzepte handelt und dementsprechend hier auch differenziert werden muss. Während Rirkrit Tiravanija die Menschen in den Kunstverein einlud, um eine Gemeinschaft des Austauschs zu bilden, schickt Höller in seinem Experience Corridor die Personen vereinzelt in mehrere Testräume. Das Gemeinschaftserlebnis, das bei Rirkrit Tiravanija entstanden ist, bleibt bei Carsten Höller aus. Anhand der Beispiele im Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung wird noch gezeigt werden, dass die Partizipation in den Experimenten bei Carsten Höller und Ursula Damm eine vollkommen andere künstlerische Strategie als jene des »social engagements« offenbart. Ganz im Gegenteil werden die Teilnehmenden als Testpersonen in die Versuchsapparatur oder die -umgebung geleitet, indem der Aktionsradius der Personen zugunsten des künstlerischen Konzept sehr stark eingegrenzt wird. Dieser Aspekt der Partizipation im Experiment wird in den Kapiteln III.2. Carsten Höllers Versuchsapparat Flugmaschine, 1996 und III.3. Ursula Damms Versuchsumgebung Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost / 51° 13.66 north, 6°46.523 east), 2005 wieder aufgegriffen und vertieft werden.
5.
DAS KÜNSTLERISCHE EXPERIMENT ALS HANDLUNGSKONSTELLATION
Die Untersuchungen zum künstlerischen und wissenschaftlichen Experiment im zweiten Teil haben ergeben, dass das künstlerische Experiment als eine Handlung nach der Akteur-Netzwerk-Theorie beschrieben werden kann. Es hat sich gezeigt, dass das Experiment als Aktant zu bezeichnen ist, bei dem die Unterscheidung zwischen Apparaturen und Menschen nicht mehr möglich ist. Vielmehr gehen beide Akteure in der Handlung des Experiments auf. Das Experiment ist wiederum Teil des Netzwerks der künstlerischen Forschung, wie die Versuchsserie zum roten Luftballon und die Rakete von Signer beziehungsweise die Korridore von Höller gezeigt haben.
164 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Das Experiment ist ein Instrument der Erkundung, das in seiner Funktion abhängig von der Intention des Künstlers oder des Forschers verwendet wird, wie am Beispiel der russischen Avantgarde offensichtlich wurde. Die Erkundung nach dem Neuen steht für die Funktion des künstlerischen Experiments als Instrument. Die mit diesem Instrument vollzogene Vorgang der »Exploration« sei es als Methode, wie bei Zola oder als Apparatur wie in der Installation von Höller, erfordert gleichzeitig ein bewusstes »Nichtverstehen« oder »Nichtwissen« von Seiten der Erkundenden. Die Forschung im »Kontext der Entdeckung«, die spezifisch für die Kunst und eine Forderung von Rheinberger für die Wissenschaft ist, steht dann für das, was noch nicht gedacht worden ist beziehungsweise, das im Ereignis nach Badiou erst zum Vorschein kommt und sichtbar gemacht wird.664 Das Unvorhersehbare des Ereignisses wird im Experiment sichtbar gemacht oder, wie Badiou es beschrieben hat: Die künstlerischen Ereignisse sind einzigartige »Mutationen«665, anhand derer immer wieder der Frage nach der Formgebung nachgegangen werden kann.666 Dem Enthusiasmus über das Experiment in der Wissenschaft als ein Instrument, das die beschleunigte Produktion von Wahrheiten möglich machen könnte, folgt in der Kunst gleichzeitig auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Experiment. So zum Beispiel bei Duchamps ironischen Vorführversuch 3 Stoppages étalon. Die Kunst wurde mit Duchamp schließlich hin zu einer sogenannten künstlerischen Wissenschaft erweitert. Das heißt, im Experiment wird das logisch-rationale Vorgehen einer wissenschaftlichen Methode kombiniert mit der Erkundung des Besonderen, das nicht dem rationalen Prinzip folgt, wie dies auch in der Pataphysik ersichtlich wurde. Im künstlerischen Experiment wird nicht ein Phänomen wie in der Wissenschaft kontrolliert, sondern ganz im Gegenteil wird das Überraschungsmoment im Experiment bewusst initiiert. Jackson Pollock, die Surrealisten, aber auch John Cage haben nicht-intentionales Verhalten in ihrer künstlerischen Konzeption vollzogen, um eigene Erkundungen am Unvorhersehbaren des Ereignisses möglich zu machen. Gleichzeitig wird das Ereignis über ein vom Künstler aufgestelltes System kontrolliert. Diese Systematik wird nach Bippus über Ordnungssysteme oder
664 Vgl. Badiou 2005, S. 73. 665 A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 79. 666 Vgl. ebd.
II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung | 165
serielle Verfahren in der Kunst erzeugt.667 Sie erzeugen das, was das Experiment von einer experimentellen Aktion als tendenziell »intuitivsubjektives« Vorgehen unterscheidet. Das Experiment in der Kunst ist eine Ereignisfalle, die den Widerspruch zwischen der Systematik als rationale und der Kontingenz der Ereignisse als irrationale Größe auflöst. Das künstlerische Experiment konstituiert als Handlung einen Forschungsraum. Dies kann erfolgen, indem auf der einen Seite die Kunst sich Wissenschaft aneignet und der »White Cube« des Ausstellungsraums zum Laborraum erhoben wird. Auf der anderen Seite wird ein Ereignisfeld initiiert, an dem der Künstler, der Rezipient, der Partizipient sowie die Installation beziehungsweise die Objekte beteiligt sind. Der Raum nimmt entsprechend der Raumsoziologie nach Lefebvre als Repräsentation Einfluss auf die Handlung des Experiments. Gleichzeitig konstituiert nach Löw die Handlung der Akteure beziehungsweise in diesem Zusammenhang das Experiment ein Ereignisfeld, das gleichzeitig auch unabhängig von dem ihm umgebenden physischen Raum existieren kann. Ein Bestandteil des künstlerischen Experiments ist der Rezipient, der nach Eco zu einer intellektuellen und dementsprechend auswertenden Instanz wird. Indem ihm das Angebot gemacht wird, das offene Kunstwerk zu vervollständigen, wird er geradezu intellektuell dazu aufgefordert, das Experiment auszuwerten, was von Seiten des Künstlers bewusst nicht erfolgt. Dieser Rezipient kann als physisch Beteiligter, als sogenannter Partizipient, darüber hinaus im Experiment physisch involviert sein. Das Konzept der Partizipation ist in dieser Konstellation weder nach Bourriaud politisch als Institutionskritik zu verstehen noch nach Bishop als soziales Engagement. Für diese zwei Annahmen ist der Teilnehmer beispielsweise im Experience Corridor von Höller in seinem Aktionsradius zu stark über die Apparaturen und die Räume eingeschränkt. Daraus folgt gleichzeitig, dass das Primat an der Gestaltung des Kunstwerks vom Künstler offensichtlich nicht zugunsten eines erkundenden Kollektivs der Teilnehmenden abgegeben wird, da letztlich die Kontrolle des Künstlers über die Apparaturen zugunsten seines Konzepts bestehen bleibt. Die These von der Aufhebung der Autorschaft des Künstlers zugunsten einer Kollektivität nach Bourriaud in der Partizipation ist dementsprechend nicht mehr haltbar.668 Diese Beob-
667 Vgl. E. Bippus: Serielle Verfahren, S. 64. 668 Vgl. N. Bourriaud: Relational aesthetics, S. 43-46.
166 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
achtung wird unter anderem in den Kapiteln zu Carsten Höller im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle und Ursula Damm Kapitel III.3.2. Das Ereignis zwischen Erfassung und Prozess vertiefend zu untersuchen sein. Im Folgenden werden die Künstler vorgestellt, die mit ihrem jeweiligen Werk exemplarisch für das künstlerische Experiment stehen. Bevor auf die Werke von Roman Signer, Carsten Höller und Ursula Damm eingegangen wird, wird die Methode vorgestellt, mit der die Kunstwerke als Experimente analysiert werden.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung
Im vorhergehenden Kapitel II. Das Handlungsnetzwerk der künstlerischen Forschung: Experiment, Ereignis und Forschung hat sich gezeigt, dass das Experiment als ein Instrument zur Erkundung des Neuen am initiierten Ereignis von Künstlern eingesetzt wird. Daraus folgt nun die Frage, welche Methoden für die Erzeugung und die Erkundung von Ereignissen in der Aktionskunst von Künstlern herangezogen werden. In der Kunstforschung sind drei Arten der Aktionskunst für die Betrachtung des künstlerischen Experiments von Interesse: die Performancekunst, die performative Installation und die digitale Installation. Diese Vorgehensweisen im künstlerischen Experiment geben die Methode vor, wie dies Heidelberger auch für das wissenschaftliche Experiment formuliert hat: die Vorgehensweisen des Experiments werden mit den naturwissenschaftlichen Methoden gleichgesetzt.1 Das bedeutet, die Praxis des Experiments beziehungsweise der drei Aktionskünste bestimmen die künstlerische Methode. Für die nun anschließende Betrachtung hat sich gezeigt, dass das Experiment in der Kunst unter drei Aspekten zu fassen ist, mit denen wiederum Rückschlüsse auf das künstlerische Experiment allgemein gezogen werden können, die nun im Folgenden aufgeführt werden. Erstens ist das Experiment als eine Installation oder ein statisches Objekt zu betrachten. Diese statische Anlage lenkt die Handlung der Beteiligten über die von Latour so bezeichneten »Inskriptionen«. Der Künstler als der Leiter des Experiments hat seine Anweisung in dieser statischen Instal-
1
Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 71.
168 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
lation eingeschrieben. Es wird daher zu untersuchen sein wie diese Lenkung der Beteiligten durch den Künstler in den Aktionen ausgeprägt ist. Zweitens wird das Ereignis als das Resultat einer dialektischen Beziehung zwischen der Systematik als den rationalen und der Kontingenz als den irrationalen Anteil, die in der Ereignisfalle des Experiments zusammengeführt wird, untersucht werden. Unter diesem Punkt wird zu klären sein, was den systematischen Anteil des Experiments ausmacht und wie unerwartete Ereignisse, in der jeweiligen Aktion entstehen können. Schließlich werden drittens die Experimente unter dem Aspekt des Raums behandelt. Es wird anhand der künstlerischen Beispiele untersucht werden inwieweit es sich um eine Forschungshandlung als Ereignisfeld mit der Einbeziehung des Rezipienten und des Partizipienten handelt. Gleichzeitig wird auch die Wissenschaftsaneignung in den Experimenten als ästhetisches Mittel betrachtet werden, wie beispielsweise künstlerische Referenzen an den »White Cube« als Laborraum. In diesem Zusammenhang wird nicht nur das ausgewählte Experiment des Künstlers besprochen werden, sondern es wird auch in einem künstlerischen Forschungszusammenhang als Teil einer Werkphase betrachtet. Schließlich ist unter diesem dritten Aspekt die Forschungshandlung des Künstlers, der Rezipienten beziehungsweise der Partizipienten zu untersuchen. Dementsprechend muss hier der Frage nachgegangen werden, welche Rolle dem Rezipienten beziehungsweise Partizipienten bei Roman Signer, Carsten Höller und Ursula Damm zugedacht wird. Diese drei Gesichtspunkte des künstlerischen Experiments, das Experiment als statische Anlage, das Ereignis als Ergebnis und das Experiment als Konstituierung eines Forschungsraums werden nun am jeweiligen künstlerischen Beispiel untersucht werden.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 169
1.
ROMAN SIGNERS VERSUCH GLEICHZEITIG, 1999
Abbildung 2: Roman Signer, Gleichzeitig, 1999 (Aufnahmeort: Schweizer Pavillon, Biennale Venedig, Videostills: Aufdi Aufdermauer, Aleksandra Signer [Film Still])
Quelle: ©Roman Signer
Der Versuch2 Gleichzeitig von Roman Signer wurde 1999 im Schweizer Pavillon der Biennale von Venedig mit zwei weiteren Werken vor Ort realisiert und mit Video aufgezeichnet.3 Der Versuchsaufbau dieser Aktion be-
2
Im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung wird für die Bezeichnung künstlerischer Aktionen von Roman Signer, Carsten Höller und Ursula Damm der Begriff des Versuchs verwendet. Dieser steht für die Handlung einer Erkundung, die den Vorgang des Probierens als ein fortwährender Prozess beinhaltet (vgl. T. Steinle: Explorieren – Entdecken – Testen 2008, S. 34-41 und Kapitel I.3. Vorgehen).
3
Vgl. Roman Signer, Ausst.-Kat., XLVIII. Biennale di Venezia 1999. Svizzera, 48. Biennale, Schweizer Pavillon, Venedig 1999, hg. von Konrad Bitterli, Zü-
170 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
stand zunächst aus den 117 blau bemalten Eisenkugeln, die an der Decke des hellen, weiß gestrichenen Raumes im Schweizer Pavillon befestigt waren. Die Eisenkugeln von jeweils 3 Kilogramm Gewicht, waren nicht direkt an der Decke, sondern an einer Konstruktion aus Metallstangen befestigt.4 Insgesamt waren die 117 Kugeln zu einem Raster von 9 x 13 Stück angeordnet. Für die Zündung der Kugeln befand sich an dieser metallenen Befestigung eine Schnur, die mit einer pyrotechnischen Vorrichtung verbunden war.5 Von dieser Hauptschnur verzweigten sich 117 Fäden entsprechend der 117 aufgehängten Kugeln, wobei diese Fäden jeweils mit einer Röhre versehen waren. Zwischen den 117 Fäden und den 117 Kugeln befanden sich Zündköpfe in der Größe eines Streichholzes. Diese Zündköpfe waren direkt an den Fäden angebracht und wurden elektrisch über die darüber entstandene Hitzeentwicklung zur Entflammung gebracht. Direkt unter dem Raster der 9 x 13 Metallkugeln an der Decke befand sich auf dem Boden, eine identische Anordnung von 9 x 13 rechteckigen Formen, die mit feuchten und formbaren Ton gefüllt waren. Die Größe der Tonblöcke entsprach
rich 1999. Im Schweizer Pavillon befanden sich ausschließlich Werke von Roman Signer, die anlässlich der Biennale in Venedig von 1999 entstanden sind. Insgesamt wurden fünf Installationen gezeigt: Kabine, St. Gallen / Venedig; Gleichzeitig; Blaues Fass; Fahrrad und Fontana di Piaggio. Sowie sieben weitere Aktionen: Roter Ball, Helikopter auf Brett, Fass mit Kamera, Vulkan, Eis mit Lampe, Sand und Ziegelsteine. 4
Vgl. ebd.
5
Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 118. Roman Signer stand nach eigenen Worten vor der Herausforderung, dass in einem geschlossenen Raum Vorgänge durch eine Explosion, ein von ihm favorisierter Ereignisauslöser, gestartet werden sollten. In dem 1997 stattgefundenen Ablauf Wassereimer hatte er das Problem des Lärms und der gefährlich umherfliegenden Aluminiumbestandteile der einzelnen Zündkapseln umgangen, indem er keine Sprengzünder verwendete, sondern eine pyrotechnische Vorrichtung. Die 22 Eimer waren mit Wasser gefüllt an der Decke der Halle parallel nebeneinander befestigt. Die Zündung wurde ebenfalls zeitgleich für alle Eimer über die pyrotechnische Vorrichtung an den Fäden ausgelöst. Hätte Signer eine Sprengladung verwendet, wäre sowohl die Halle als auch der Schweizer Pavillon beschädigt worden und Signer selbst hätte sich nach eigenen Worten dieser Gefahr im Raum niemals ausgesetzt.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 171
dem Umfang der jeweiligen Eisenkugeln, so dass jede Kugel in einem entsprechenden Block aus feuchtem Ton fallen konnte. Abbildung 2a: Roman Signer, Gleichzeitig, 1999 (Film Still)
Quelle: ©Roman Signer
Die Durchführung der Aktion begann mit der Zündung dieses beschriebenen pyrotechnischen Systems. Jede Kugel war so mit der Hauptschnur verbunden, dass eine zeitgleiche Zündung aller 117 Kugeln möglich war und diese dementsprechend auch gleichzeitig in den feuchten Block aus Ton fallen konnten. Die Gesamtdauer von der Zündung bis zur Landung der Kugeln in dem feuchten Ton dauerte ca. 1 Sekunde. Der gesamte Ablauf wurde auf Video aufgezeichnet und im Schweizer Pavillon während der Dauer der 48. Biennale in Venedig gezeigt. Der Videofilm selbst besteht aus mehreren Sequenzen, die zu einem Film zusammengeschnitten wurden, wobei auf filmische Techniken wie Überblendungen etc. verzichtet worden ist. In der ersten Einstellung wird dem Zuschauer ein Blick auf die gesamte Raum- bzw. Versuchsanlage eröffnet. Die Größe des weißen Raumes, die Anordnung der Kugeln an der Decke sowie die dazugehörige spiegelgleiche Aufteilung aus feuchten Tonrechtecken am Boden zeigen die Ausganssituation des Versuchs. Diese Einstellung hat eine Länge von ca. 8 Se-
172 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
kunden, wobei der Film eine Gesamtlänge von 13 Sekunden besitzt. Aufgrund dieser Einstellungslänge, die der daran anschließenden Aktion vorausgeht, wird beim Betrachter bereits eine Erwartungshaltung evoziert. Der eigentliche darauf folgende Fall der 117 Kugeln in den feuchten Ton war bereits nach ca. 1 Sekunde beendet. Die nächste Einstellung zeigt noch einmal die gesamte Aktion. Während dieser abschließenden Sequenz von ca. 4 Sekunden wird nun das Herabfallen einer letzten Kugel sichtbar, deren Fall sich um ca. 1 Sekunde verzögert hatte: ein Unfall, auf den noch in diesem Kapitel eingegangen werden wird. Aufgrund dieser unerwarteten Verzögerung der einen Kugel war dieser Versuch nach Signer gescheitert.6 Abbildung 2b: Roman Signer, Gleichzeitig, 1999 (Film Still)
Quelle: ©Roman Signer
Nach dem letzten Fall dieser einen Kugel folgt eine Sequenz, die den gleichen Ablauf in Zeitlupe zeigt. In dieser Zeitlupensequenz von ca. 20 Sekunden Gesamtlänge steht das Ereignis im Vordergrund. Es wird kein Aufbau des Versuchs im Stillstand gezeigt, sondern die Sequenz beginnt direkt mit der Zündung und dem freien Fall der Kugeln. Aufgrund der Verlang-
6
Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 116.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 173
samung sowie der gewählten Kameraperspektive (es ist die gleiche wie in der Version ohne Zeitlupe) wird sichtbar, was in der Originalzeit nicht auf den ersten Blick und in dieser Deutlichkeit zu erkennen war: Die Kugeln fallen alle ungleichzeitig. Im freien Fall bilden sie, obwohl dies über den Titel Gleichzeitig zu erwarten war, keine parallele Linie zum Boden und landen dementsprechend nicht gleichzeitig in den Tonblöcken. Der um eine Sekunde verzögerte Fall der letzten Kugel wird nicht vollständig gezeigt, sondern ausgeblendet. Schließlich folgen noch mehrere Nahaufnahmen von dem Fall beziehungsweise der finalen Landung einer blauen Kugel im feuchten Ton. Abbildung 2c: Roman Signer, Gleichzeitig, 1999 (Film Still)
Quelle: ©Roman Signer
Der Videofilm wird mit einem Filmstill, der exemplarisch eine Kugel, eingesunken im Ton, in einer Draufsicht und einer Seitenansicht zeigt, beendet.
174 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
1.1 Das Experiment: Die Performance als experimenteller Initiierungsmechanismus Dieser Versuch von Roman Signer ist als Aktion der Performancekunst zuzuordnen. Wie bereits im Kapitel II.2.4. Die Performance als experimenteller Generator von Ereignissen deutlich wurde, präsentiert die Performancekunst »reale Ereignisse«7 über die Handlungen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, den sogenannten »Aktanten«8 basierend auf der Akteur-Netzwerk-Theorie. Für Roman Signers Aktion ist nun charakteristisch, dass der Rezipient nicht als physisch aktiver Teil involviert wird, was in der Performancekunst, die mit oder vor Publikum stattfindet, durchaus möglich gewesen wäre.9 Der Künstler begründet sein Vorgehen, den Besucher auch in seinen weiteren Aktionen nicht einzubeziehen mit der Gefährlichkeit der jeweiligen Situationen, in denen Zündungen, Explosionen, fallende Eisenkugeln, Wasserfontänen etc. integriert sind.10 Gleichzeitig ist diese Ausgrenzung Ausdruck einer spezifischen künstlerischen Vorgehensweise, die von Seiten des Künstlers den Wunsch zur Kontrolle11 über
7
J. Hoffmann / J. Jonas: Art Works, S. 15.
8
Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 95 ff. und vgl. Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung
9
Vgl. T. Dreher: Performance Art nach 1945, S. 15.
10 Vgl. Emslander, Fritz: »Schiffbruch mit Zuschauer. Künstler und Betrachter in den Werken von Roman Signer«, in: Ballerina in a Whirlpool. Werke von Isa Genzken, Richard Jackson, Roman Signer, Diana Thater, Ausst.-Kat., Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 2006, Hannover 2006, S. 59-81, hier S. 79. 11 Nach Fischer-Lichte begrüßte der Künstler in den 1960er Jahren die Beteiligung der Besuchter als Teil der Performancekunst, da mit ihm die Kontingenz als ein Überraschungsmoment gegeben war, der künstlerisch nicht kontrolliert werden konnte, weil die Reaktionen der Teilnehmenden nicht vorhersehbar waren und mit weiteren Teilnehmenden eine noch größere Eigendynamik (»FeedbackSchleife«) entwickelt wurde (vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 61). Der Ausschluss von Teilnehmenden deutet auf den Wunsch des Künstlers nach stärkerer Kontrolle bezogen auf sein künstlerisches Konzept hin. Dieser Aspekt der Kontrolle wird im Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle zu Carsten Höllers Versuch wieder aufgenommen und an dieser Stelle weitergeführt werden.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 175
die Aktion beziehungsweise das zu initiierende Ereignis erkennen lässt. Diese Kontrolle findet sich bereits in der Systematik des Versuchsaufbaus wieder, wenn dem Betrachter bereits am Anfang der Vorführung die gleichmäßige Anordnung der Kugeln präsentiert wird. Die für den Versuch wichtige Ausgangsposition wird durch ein passiv-beobachtendes Publikum, das ausschließlich rezipierende Funktion innehat, erhalten. Aufgrund der Tatsache, dass der Rezipient ausschließlich als rezipierendes und nicht als partizipierendes Element in den Aktionen fungiert, erhalten Signers Performances auch den Charakter einer Vorführung. Aus diesem Grund versteht er sich selbst als einen »emotionalen Physiker«12 oder »verrückten Wissenschaftler«13, der als künstlerische Persönlichkeit in seinen Versuchen nicht in Erscheinung treten möchte.14 Auf die Person Roman Signers, der in seinen Versuchen, wenn überhaupt, dann nur in einer technischen Funktion als jemand, der etwas auslöst oder als Testperson beteiligt ist, wird in diesem Kapitel III.1.4. Die Erkundung initiierter Ereignisse noch eingegangen werden. 1.2 Das Ereignis zwischen Zufall und Planung: Das Scheitern eines Versuchs Das Video, das von der Aktion Gleichzeitig erstellt wurde, hat dem Künstler selbst spätestens in der Nachsichtung dieses Filmmaterials deutlich aufgezeigt, dass, obwohl die 117 Kugeln gleichzeitig gezündet wurden, eine Kugel im weitaus größerem Abstand herabfiel als die sie umgebenden Kugeln. Roman Signer spricht deshalb von einem »Beweismittel des Films«15. Erst der Videofilm hatte die Abweichung deutlich sichtbar gemacht. Signer verkündet in einem Interview deshalb nach der Aktion das »Scheitern«16 des Versuchs:
12 R. Withers: Roman Signer, S. 9. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd. 15 Ebd., S. 117. 16 Ebd., S. 116.
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»Nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen plane ich meine Experimente ganz genau (jedes Gewicht wog 3 Kilo, es gab bei ›Gleichzeitig‹ also keinen Spielraum für Fehler). Aber der Zufall spielt immer eine Rolle.«
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Die Lösung für die Verzögerung der einzelnen Kugel ergab sich aus einem technischen Fehler am Vortag. Der Techniker, der nach einem Testlauf die Gewichte wieder für die eigentliche Aktion am darauffolgenden Tag aufhängte, variierte die Befestigung bei einer Kugel nur minimal von den anderen. Diese kleine Abweichung führte dazu, dass die Verzögerung zustande kommen konnte.18 Signer akzeptiert diese Ungleichzeitigkeit als einen Bestandteil des Ereignisses und sieht seine Aufgabe in der auslösenden Funktion, auf die er als Künstler mehr Einfluss nehmen kann: »Eigentlich ist es nicht tragisch, wenn eine Kugel etwas später ankommt. Der entscheidende Punkt ist, dass alle gleichzeitig gezündet wurden.«19 Mit dieser Aussage wird auch die Tatsache erklärt, dass Signer mit keinem Wort die vielen Verzögerungen innerhalb des Kugelteppichs während des Falls erwähnt, obwohl alle 117 Kugeln gleichzeitig gezündet wurden. Für den Experimentator stand der gleichzeitige Auslöser im Mittelpunkt des Ablaufs. Auf das Ereignis selbst konnte und wollte Signer auch keine Kontrolle mehr ausüben. Der Titel Gleichzeitig evozierte vor Beginn der Aktion allerdings eine Erwartung beim Rezipienten, nämlich die der Gleichzeitigkeit, die zu Beginn der Aktion eingehalten wird, indem die 117 Kugeln gleichzeitig gezündet werden, aber während des Verlaufs in ihr Gegenteil umschlägt. Signer spielt mit den Erwartungen des Zuschauers, der den Titel als Ergebnis und nicht als Auslöser voraussetzen könnte. Allerdings ist das visuelle Ergebnis während des Handlungsverlaufs auch nicht überraschend, denn die Entscheidung, 117 Kugeln in dem Versuch einzubeziehen, erhöht den Komplexitätsgrad dieser Anlage, so dass die Möglichkeit an Unvorhersehbarkeiten im Verlauf dieser Aktion entsprechend gesteigert wird. Rachel Withers sieht deshalb in den Versuchen Roman Signers das zweite Gesetz der Thermodynamik verwirklicht.20 Diese Regel beinhaltet, dass in jedem
17 Ebd., S. 117. 18 Vgl. ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 9.
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geschlossenen System die Unordnung mit der Zeit zunimmt.21 Die Ungleichzeitigkeit ist deshalb keine Überraschung, sondern vielmehr eine Bestätigung einer Erkenntnis aus der Physik. Roman Signer geht noch weiter auf das Scheitern seines Versuchs ein: »Es hätte viel schlimmer kommen können: Wenn nur die Hälfte der Gewichte herabgefallen wäre, hätten wir die ganze Arbeit neu machen müssen. Für mich war das kein Problem, wenn man ein Klassenzimmer voller Kinder hat, kommt immer eins zu spät!«
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Signer nennt hier ein charakteristisches Merkmal der Performance, das im Zusammenhang mit dieser Untersuchung von Bedeutung ist: Wichtig ist nicht das Ergebnis des Versuchs, sondern der Prozess. Dieser bezieht durchaus auch den Zufall als Faktor ein und lässt diesen ohne korrigierende Maßnahmen stehen. Es erfolgt auch dann keine Korrektur, wenn der Versuch selbst vom Durchführenden, wie in unserem Fall Signer, als gescheitert angesehen wird. Der Zufall ist immer ein potentieller Bestandteil in Signers Aktionen. Dieser wird von ihm akzeptiert, ohne eine Wiederholung im Sinne einer Korrektur einleiten zu wollen.23 So bezeichnet er den Versuch Gleichzeitig als gescheitert, akzeptiert aber auch die Wendung der sehr viel später herabfallenden Kugel, was nicht vorhersehbar war.24 Dieses von ihm sogenannte Scheitern des Versuchs ist das Ergebnis eines Zufalls, das er an Hand eines weiteren Beispiels in einem Interview erläutert.25 Im Zusammenhang mit der Produktion von Signers Koffer von 200326 berichtet er von einer im Winter 2003 geplanten Sprengung einer Brücke, die mit einem Hochgeschwindigkeitsfilm dokumentiert werden sollte.27 Allerdings verzögerte sich die Aufnahme letztlich wegen eines falsch gegebenen Sprengsignals. Das Ergebnis war, dass die Brücke gesprengt, aber der Film
21 Vgl. ebd. 22 Ebd., S. 117. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Signers Koffer. Unterwegs mit Roman Signer, 85 Min., R: Peter Liechti (DVD), Berlin 2003. 27 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 117.
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zu früh gestartet wurde. Auf Grund der Tatsache, dass der Film nur drei Minuten Laufzeit hatte, konnte das eigentliche Ereignis, das nach der Aufnahme stattfand, nämlich die Sprengung, nicht aufgenommen werden. Stattdessen wurden extrem langsam herabfallende Schneeflocken gefilmt. Signer selbst beurteilte das Ergebnis als sehr schön, allerdings sah er auch dieses als gescheitert an.28 Der Zufall als Gestaltungsmittel Als weiteres Beispiel für die Einbindung des Zufalls bei Roman Signer ist ein Versuch, den er im Jahr 2000 mit dem Titel Kajak 29 durchgeführt hat.30 Signer sitzt in einem Kanu, das mit einem Seil an einem Fahrzeug befestigt ist und über einen Schotterweg gezogen wird. Die Kühe, die während der Aktion jenseits dieses Grabens mitlaufen, sind nicht im Vorfeld geplant gewesen, sondern sie sind der Zufallsmoment, der sich im freien Kontext der Natur ereignen konnte. Dieser Zufall ist von Signer im Nachhinein begeistert aufgenommen worden und hat ihn zu weiteren Versuchen mit Kühen inspiriert, was aber letztlich nicht realisiert worden ist.31 Dies ist ein Beispiel für einen Versuchsablauf, der vorab geplant war, aber viele unwägbare Faktoren bewusst zulässt, da sich der Versuch in der Natur und nicht in einem abgeschlossenen Raum einer Galerie, eines Museums oder im Pavillon der Biennale abspielt. Die Versuche im Außenraum sieht Signer als eine besondere Herausforderung an: »[...] Man hat wieder Tuch-
fühlung mit der realen Welt, und den realen atmosphärischen Bedingungen. Museen sind windstille Zonen, gewissermaßen Oasen. Draußen muss man mit dem Wind und dem Wetter rechnen.«32 Im Versuch Gleichzeitig offenbart sich Signer bei all der Akzeptanz des Zufalls wiederum auch als ein Forscher, der sich an seine von ihm aufgestellte Systematik hält. In diesem Sinn lässt er auch keine Einflüsse zu, die diese Ordnung wieder stören könnten. Die Ausgrenzung von Besuchern gehört genauso zur Erhaltung des Systems wie die Situierung des Versuchs in
28 Vgl. ebd. 29 Roman Signer: Kajak, 2000, Aufnahme- und Versuchsort: Rheintal, Kanton St. Gallen Schweiz. 30 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 97 f. 31 Vgl. ebd. 32 Ebd., S. 97.
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den von Umwelteinflüssen geschützten Ausstellungs- oder Laborraum des »White Cubes« wie bei dem Versuch Gleichzeitig. Der Kontingenz wird im Versuch wiederum Raum gegeben, indem schwer kontrollierbare Mechanismen wie Zündungen,33 weshalb auch zusätzlich noch ein Techniker mit dieser Anlage befasst war, einbezogen werden. Darüber hinaus fordert auch die bewusst gewählte Komplexität der Versuchsanlage aufgrund der Menge an Kugeln, den Zufall geradezu heraus. Die Aktionen von Signer stehen exemplarisch für die Ereignisfallen (vgl. Kapitel II.3.3. Das Experiment als Ereignisfalle), denn ihr Mechanismus als Experiment führt die Systematik mit der Kontingenz zusammen. 1.3 Die Forschung an Ereignissen in Serie Der Versuch Gleichzeitig ist die Initiierung eines Ereignisses, die von Signer geplant, durchgeführt und abschließend untersucht wird. Emslander sieht in den Aktionen von Signer ein systematisches Prinzip in seiner Arbeitsweise verwirklicht, denn dieser stellt den Prozess seiner Aktionen immer in drei Schritten dar: erstens die Ausgangsposition als Prädisposition, das Ereignis und die Ästhetik des Danach.34 Diese Reihenfolge der Erkundung, die auch über das Ereignis im Versuch hinausgeht, ist daher charakteristisch für das Vorgehen von Signer.35 Die anschließende Sichtung der videodokumentarischen Aufzeichnung wird von ihm als eine nachträgliche Reflexion verstanden.36 Das bedeutet, der Film ist die Vorführung des Er-
33 Roman Signers Vorliebe für Objekte oder Verfahrensweisen, die eine gewisse Eigendynamik mit sich bringen, zeigt sich auch am Gummiband, das er in Experimenten wie für die Aktion Hocker Kurhaus Weissbad von 1992 erprobt hat. Hier ließ er mehrere Stühle mittels eines Gummibandes aus den Fenstern des leer stehenden ehemaligen Hotels über eine Zündvorrichtung herauskatapultieren. (vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 114-116). Für Signer ist das »[...] Gummiband ein vertrackter Gegenstand.« Die Bedingungen wie ein Gummiband zu funktionieren hat, ist für ihn nach wie vor ein faszinierendes Geheimnis, das es zu erkunden gilt (vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 71.). 34 Vgl. F. Emslander: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 63. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 63.
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eignisses, die nicht nur als eine Präsentation eines Ergebnisses zu verstehen ist, sondern vielmehr die Struktur des Versuchs als Prozess offenlegt. Diese für Signer spezifische Methode soll im Folgenden untersucht werden. Im Mittelpunkt steht sein Umgang mit Medien, wie die Zeichnung, das Modell, aber auch die Fotografie und der Videofilm, die von ihm als Hilfsmittel für seine Forschungen am Ereignis hinzugezogen werden. 1.3.1 Zeichnungen, Modelle und Experimente Signer hat eine Vielzahl an Versuchen durchgeführt und dokumentiert. Peter Zimmermann hat in Zusammenarbeit mit Roman Signer einen Katalog erstellt, in denen nur die Versuche von Roman Signer aufgelistet werden, die zwischen 1983-2002 entstanden sind und kommt hier bereits auf ein Ergebnis von ca. 500 Aktionen.37 Wie Barcal treffend beobachtet hat, arbeitet sich Signer demnach geradezu an Themen ab.38 Dieses Vorgehen ist bei ihm als zielstrebig zu bezeichnen, wobei für ihn nicht die Ergebnisformulierung von Belang ist, sondern neue Wege der Erkundung intuitiv zu beschreiten.39 Die Versuche von Signer sind daher nicht nur als Inszenierungen von Ereignissen zu betrachten, sondern auch als Studienobjekte, die wiederum Modelle für weiterführende Erkundungen sind.40 Diese künstlerische Vorgehensweise ist ebenfalls bei dem Versuch Gleichzeitig zu beobachten. Die ersten Vorstudien hierzu bilden eine Reihe von Aktionen, in denen die Erprobung des Materials Ton im Mittelpunkt steht, der durch Sprengungen allerlei Verformungen erfährt.41 Die Aktion Kanone mit fünf
37 Vgl. Zimmermann, Peter (Hg.): Roman Signer. Werkübersicht 1983-2002, Zürich 2004 (Band 1-3). 38 Vgl. Barcal, Alexandra: »Spuren vergangener Zeit. Zu den Skizzen und Modellen von Roman Signer«, in: Roman Signer. Skizzen und Modelle, Ausst.-Kat., Graphische Sammlung der ETH Zürich 2010, hg. von Paul Tanner, Basel 2010, S. 7-22, hier S. 16. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. ebd. Barcal spricht davon, dass die Konzepte Signers durch ihn selbst »[...] immer wieder eine gezielte Transformation [...]« erfahren. 41 Folgende Aktionen stehen beispielhaft für die Vorgehensweise einer Erprobung des Materials bei Signer: Aktion 1987, Vier Schritte 1989, Tonklötze 1992, Vier Richtungen 1992 (vgl. Zimmermann, Peter [Hg.]: Roman Signer. Werkübersicht 1983-2002, Zürich 2004 [Band 2-3]).
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blauen Kugeln von 199242 ist dementsprechend als eine Erkundung von Gewichten anzusehen, die im Raum bewegt werden. Fünf blaue Kugeln wurden hierfür im Außenbereich auf einer Wiese abgeschossen, die einige Meter weit entfernt im Erdboden einsinkend landeten und dort in Form eines Fähnchens von Signer markiert wurden.43 In diesem Experiment ging es ihm offensichtlich um die Auslotung des Gewichts der Eisenkugeln in den weichen Boden sowie deren Aktionsradius ausgehend von der Sprengstätte. In der Aktion mit 48 Kisten von 199344 ließ Signer gleichzeitig die Kisten über eine hierfür entwickelte Vorrichtung sprengen. Die Kisten waren nebeneinander aufgereiht und mit Wasser gefüllt, so dass sich mehrere Wasserfontänen bildeten. Die Aktion Gleichzeitig von 1997 ist nach den Worten von Signer schließlich als direkter Testlauf zur gleichnamigen Aktion von 1999, also zwei Jahre später, zu verstehen.45 In diesen angelegten Aktionen sammelte er auch im kleineren Maßstab Erfahrungen für die großflächig angelegte Aktion von 177 Kugeln bei Gleichzeitig von 1999.46 Nach diesem Versuch wurde die Eisenkugel nicht mehr als Untersuchungsgegenstand einbezogen, so dass daraus gefolgert werden kann, dass dieses Thema für Signer ausreichend behandelt zu sein schien. An dieser Stelle kann von einem Höhepunkt in der Reihung von Versuchen, die mit ähnlichen Materialien und Mechanismen wie Eisenkugeln und Zündungen ausgestattet waren, gesprochen werden. In diesen Versuchsreihen wie die von Gleichzeitig aus dem Jahr 1999, wird bei Signer ein künstlerisches Vorgehen offensichtlich, das ein über Jahre andauerndes intuitives Erkunden47 und eine durchdachte Systematik erkennbar werden lässt. Letzteres wird über die exakte Reihung der Kugeln im Raum, aber auch über seine strukturierte Vorgehensweise ersichtlich, die sich auch in seinen filmischen oder fotografischen Dokumentationen
42 Vgl. Zimmermann, Peter (Hg.): Roman Signer. Werkübersicht 1983-1993 (Band 1-3), Zürich 2004 (Band 2), S. 206. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. ebd. 45 Entnommen aus dem Kommentar Signers zu dieser Aktion (vgl. P. Zimmermann: Roman Signer [Band 3], S. 206). 46 Vgl. A. Barcal: Spuren vergangener Zeit, S. 16. 47 Vgl. Good, Paul: Härtestest des Schönen, Köln 2009, S. 82. Good spricht in diesem Zusammenhang von »Empfindungsmomenten« bei Roman Signer.
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ausdrückt. Auch an den Filmen oder Fotografien zeigt sich, dass Roman Signer, wie bereits erwähnt wurde, seinen Versuch konsequent in drei Phasen gliedert: der Versuchsaufbau, die Versuchsdurchführung und das Versuchsergebnis. Dies zeigt sein planvolles und dementsprechend methodisches Vorgehen der Zündung von 117 Kugeln. Zur Durchführung größer angelegter Versuche zieht Signer nicht nur Modelle in Form von Versuchen mit ähnlich angelegten Konstanten wie Kugeln, Luftballons, Regenschirme, Zündungen etc. hinzu, sondern fertigt auch Modelle als Objekte aus Holz im kleinen Maßstab an.48 Ein Beispiel ist die von Signer geplante und letztlich auch durchgeführte Aktion Rampe von 2008.49 Der Versuchsaufbau bestand aus einem Auto mit drei Rädern der Marke Piaggio, das auf dem oberen Absatz einer Seite der Rampe mit einem Seil befestigt war. Auf der Ladefläche dieses Piaggios befanden sich mehrere Fässer mit Wasser. Unter dem Seil wurde eine brennende Kerze installiert. Das Seil wird von der Kerze, wie zu erwarten, durchtrennt. Das Auto raste auf der Rampe nach unten und auf der anderen Seite wieder nach oben, wobei es sich auf diesem Weg überschlug. Während bei Gleichzeitig die Vorläuferexperimente mit dem gleichnamigen Titel von 1997 eine Erprobung der Menge an Kugeln im Raum, die gezündet wurden, möglich machten, griff Signer bei der Aktion Rampe auf ein bereits erwähntes Holzmodell zurück.50 Diese Art der Modelle werden nach Alexandra Barcal von dem Künstler nicht als Kunstobjekte ausgestellt und auch nicht verkauft.51 Der Grund hierfür ist, dass Signer sie als wichtiges Instrument zur weitergehenden Erforschung eines geplanten Versuchs ansieht, sie aber nicht als Teil seines Kunstschaffens wahrnimmt und sie auch in dieser Weise nicht so verstanden wissen will.52 Für Signer ist deshalb auch nicht das Objekt oder die Inszenierung eines Objekts von Bedeutung, sondern die
48 Vgl. A. Barcal: Spuren vergangener Zeit, S.14. 49 Roman Signer : Rampe, 2008. Die Aktion fand 2008 im Kunstraum Dornbirn, Vorarlberg in Österreich, statt. Das Ereignis hatte eine Gesamtdauer von ca. 15 Sekunden und wird auf Video ebenfalls in einer Zeitlupenversion präsentiert (s. Roman Signer, Unfall als Skulptur, Ausstellung Kunstraum Dornbirn, http://www.kunstraumdornbirn.at/ausstellung/roman-signer). 50 Vgl. A. Barcal: Spuren vergangener Zeit, S. 14. 51 Vgl. ebd., S. 16. 52 Vgl. ebd.
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laufende Aktion, die Zeitskulptur, die sich thematisch in einem beständigen Prozess der Entwicklung befindet. Dies ist ebenfalls an der kontinuierlichen Bearbeitung der Modelle, ob als Holzobjekt oder als Versuch in einer Versuchsreihe, ersichtlich, die Signer nicht mit dem Ziel der Fertigstellung herstellt, sondern sie zur weiteren Erkundung eines Themas abwandelt. Das Modell53 als Objekt besitzt für Signer keine Relevanz, sondern es ist ein Hilfsmittel im kontinuierlichen Prozess des Erkundens. Ein weiteres Instrument von Signer zur Realisierung neuer Versuche sind die Zeichnungen und die Skizzen. Die zwischen 1976-1981 entstandenen Zeichnungen sind im Werkkomplex Signers als jeweils abgeschlossene Werke zu bewerten.54 Sie zeigen Aktionen oder Ideen zu Aktionen, die in Vielem das vorwegnahmen, was erst Jahre später von ihm thematisch realisiert werden konnte. Unter anderem existiert auch, wie Withers in einem Interview mit Signer feststellte, eine Zeichnung, die sich schon dem Thema der Gleichzeitigkeit unter dem Titel Ohne Titel (Gleichzeitige Bewegung) 1977 gewidmet hatte.55 Hier zeigt sich die Kontinuität seines Interesses an den Visualisierungsmöglichkeiten verschiedener Zeitzustände in der Kunst an.56 Signer sieht in dieser Zeichnung die Visualisierung eines Gedankens zu zwei Uhren verwirklicht, deren Zeiger miteinander verbunden sind. Eine der beiden Uhren solle 15 Minuten zeitversetzt zur anderen Uhr die Zeit anzeigen. Auf diese Weise würde eine Verbindung der Zeiger über einen Faden eine Diagonale bilden. Diese Zeichnung stellt für Signer eine visuelle Manifestation von der Messbarkeit von Zeit dar.57 Die Zeichnung einer Aktion, die in dieser Form stattfinden könnte, ist für Signer bereits zu vollendet, sodass er im Nachhinein auch keinen Spielraum mehr für eventuelle
53 Das Modell als Forschungsobjekt, das sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst existiert, ist die visuelle Manifestation eines beständigen Prozesses zwischen Wissen und Nichtwissens sowie Bild und Abbild (vgl. Wendler, Reinhard: Das Modell. Zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2013, S. 171 f.). Diese Thematik des Modells wird im Kapitel III.3.3.2. Das Modell im Zusammenhang mit der Künstlerin Ursula Damm wieder aufgenommen und untersucht werden. 54 Vgl. A. Barcal: Spuren vergangener Zeit, S. 9. 55 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 117. 56 Vgl. ebd., S.64 f. 57 Vgl. ebd.
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Ergänzungen oder Variationen sieht.58 Signer, der an dem Prozess und nicht an dem Objekt interessiert ist, verliert an dieser Form der Darstellung das Interesse, so dass er seine Zeichnungsserien 1981 auch bewusst beendete.59 Die Skizzen in ihrem spontanen und explizit offenen Duktus dagegen entsprachen voll und ganz seiner Arbeitsweise. Sie sind in ihrer nur angedeuteten Ausformulierung von Gedanken und Ideen geeigneter, Signers künstlerisches Vorgehen begleiten zu können.60 So ist die Skizze auch die Form, die er bis heute beibehalten hat. Die skizzenhafte Niederschrift mit einzelnen Notizen ist im Gegensatz zu der Abgeschlossenheit einer Zeichnung kongruent zu seiner erkundenden Vorgehensweise zu sehen.61 Die Offenheit der Skizze, die immer wieder neue Möglichkeiten an Ausführungen eröffnen kann, ist es, die Signer interessiert. Es ist der kontinuierliche Prozess des Erkundens, das im Mittelpunkt seines Interesses steht. 1.3.2 Video und Fotografie als Dokumentations- und Forschungsinstrument Signers Erkundungen finden selten vor einem Publikum statt, sondern sie sind unter anderem das Ergebnis spontaner Versuche ohne Zuschauer wie in seinen Erkundungen in St. Gallen.62 Diese Aktionen in Echtzeit und in ihrem ursprünglichen Kontext mit oder ohne Publikum als sogenannte live acts63, werden auf Medien wie den Film64 oder die Fotografie festgehalten.
58 Vgl. A. Barcal: Spuren vergangener Zeit, S. 9 f. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 56. Signer spricht von »spontane[n] Experimenten«, die er mit oder ohne Freunde durchgeführt hatte. 63 Auslander, Philip: »Zur Performativität der Performancedokumentation«, in: After the Act: The (Re)Presentation of Performance Art, Ausst.-Kat., Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 2005, hg. von Barbara Clausen, Nürnberg 2005, S. 21-34, hier S. 24) Auslander spricht hier von einem Erlebnis des Unmittelbaren und bezeichnet diese Form der Vorführung als »live art« (vgl. ebd., S. 24). 64 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 56. Signer hat von 1975 bis 1989 Super-8Filme gedreht bis schließlich Videokassetten auf den Markt kamen. Mittlerweile ist Roman Signer auf digitale Filmmedien umgestiegen.
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Insbesondere das so entstandene Filmmaterial bildet dann neben der Funktion der Vorführung in Ausstellungen auch die Möglichkeit nachträgliche Untersuchungen durchführen zu können. Das bedeutet für den Künstler allerdings die Überlegung in welcher Art und Weise die Ereignisse des live acts, die ephemer und einzigartig sind, als Ergebnis seiner Erkundung medial festgehalten werden können. Der Film scheint für Signer zur Dokumentation seiner Versuche ein adäquates Medium zu sein, denn schließlich ist das künstlerische Interesse Signers auf den Prozess, das heißt die Bewegung gerichtet, die der Film als Medium gerecht werden kann. In der Performancekunst existiert seit den 1990er Jahren eine grundsätzliche Kontroverse darüber, ob die Performance ausschließlich als live act einmalig aufgeführt werden darf oder ob das Ereignis filmisch archiviert werden muss und wie dieses Filmmaterial in Bezug auf den live act zu bewerten ist. Die Positionen sollen im Folgenden vorgestellt werden, um schließlich die Frage beantworten zu können, ob über die Archivierung des Versuchs bei Signer tendenziell ein künstlerisches oder ein wissenschaftliches Vorgehen erkennbar wird. Zur Thematik der Archivierung von Performances existieren drei grundsätzliche Haltungen. Zum einen wird nach Peggy Phelan die Ansicht vertreten, dass die Performance ein live act mit ephemeren Charakter ist und dementsprechend auch in dieser Weise rezipiert werden muss.65 Die Aufzeichnung von Performances kann, so die Auffassung, nie ihrem Aufführungscharakter entsprechen, so dass eine Archivierung immer scheitern muss. Sie plädiert aus diesem Grund für die Einmaligkeit des live acts, der nicht aufgezeichnet werden kann.66 Amelia Jones hält dagegen die Aufzeichnungen von Performances für sinnvoll.67 Dieser Wunsch nach dem unmittelbaren (»immediacy«68) Erleben im »Live-Akt« der Performance wie von Peggy Phelan vertreten, sieht sie in der Moderne beziehungsweise
65 Vgl. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London 2005, S. 146. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Jones, Amelia: »Presence in Absentia: Experiencing Performance as Documentation«, in: Art Journal, Performance Art: (Some) Theory and (Selected) Practice at the End of this Century, H. 56/4 (1997), S. 11. 68 P. Phelan: Unmarked, S. 57.
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der Avantgarde begründet.69 Dieses Bedürfnis ohne ein filmisches oder fotografisches Medium zu erfahren, ist allerdings ihrer Meinung nach nicht mehr zeitgemäß, sondern entspringt vielmehr einem historischen Kontext, nämlich den der Moderne.70 Schließlich ist nach Philipp Auslander die Dokumentation von Performances eine eigenständige Kunstproduktion, die nicht dem Referenzobjekt des live acts untergeordnet sein muss.71 Es ist nicht der live act der Performance, der als ephemerer Prozess archiviert werden muss, um zu bezeugen, dass dieser stattgefunden hat, sondern der Film ist das Material, um ein Kunstwerk entstehen lassen zu können. Auslander sieht in der Verfilmung der Performance eine von dem live act unabhängige Kunstform verwirklicht.72 Signers Verfilmungen seiner Versuche referieren auf der einen Seite auf das stattgefundene Ereignis als live act, präsentieren aber gleichzeitig auf der anderen Seite die künstlerische Bearbeitung des Filmmaterials durch den Künstler. Die Filme über seine Versuche, die auch Techniken wie die Zeitlupe beinhalten, sind für Signer das Ergebnis seines Erkundungsvorgangs, das er den Rezipienten vorführt. Bereits 1975, als Signer seine erste Videokamera zur Verfügung gestellt bekam, begeisterte ihn insbesondere die Tatsache, dass es nun für ihn möglich war, mit der Kamera spontan kleine Experimente aufzeichnen zu können.73 Die im Nachhinein erfolgte Bearbeitung des Filmmaterials, die auch die Technik der Zeitlupe impliziert, machte Signer dann auch erst bewusst, dass eine Aktion nicht nur aus einem, sondern auch aus mehreren Ereignisfolgen zusammengesetzt sein kann.74 Die verlangsamte Abspielung, das Vor- und Zurückspulen des Filmmaterials macht diese genauere Beobachtung der initiierten Ereignisse erst möglich. Diese Wahrnehmung der Ereignisse anhand des Filmmaterials übte auf Signer eine so große Faszination aus, dass er in einem Interview
69 Vgl. Jones 1997, S. 11. Jones bezieht sich hierbei auf das Werk Antonin Artauds »Das Theater und sein Double« (Frankfurt 1969), in dem dieser von der im Theater eigenen Realität spricht, die keine Mimesis der Wirklichkeit darstellt. 70 Vgl. ebd. 71 Vgl. P. Auslander: Zur Performativität der Performancedokumentation, S. 30 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 56. 74 Vgl. ebd., S. 72.
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sogar den Wunsch äußerte, in Zeitlupe sehen zu können.75 Dieses Vorgehen in der Sichtung des Filmmaterials zeigt sein analytisches Interesse an seinen »Zeitskulpturen«. Hier wird offensichtlich, dass die filmischen Aufnahmen nicht nur das Ziel verfolgen, ein Ereignis zu archivieren, sondern der Film ist bei Signer ein Erkundungsinstrument. Der Film als Methode der Vorführung Die Präsentation von Signers Filmen in Ausstellungen erfolgt dementsprechend sachlich über Monitore oder kleine Projektionen an der Wand. Dies führt dazu, dass die Aufmerksamkeit des Rezipienten ausschließlich auf den Sachverhalt des vorgeführten Ereignisses ausgerichtet wird. Signer distanziert sich in dieser Weise von der Technik der Immersion, da dem Betrachter ein Ereignis vorgeführt, dieser aber nicht mit seinem Bewusstsein darin einbezogen werden soll.76 Dies wird neben der Präsentation auch durch die Perspektive der Kamera hervorgerufen, die fest installiert eine starre Position im Raum wiedergibt. Der Betrachter erhält in dieser Weise die Rolle des Beobachters, der über die Kameraperspektive in der Lage ist, die Gesamtsituation der Ereignisse vollständig überblicken zu können. Der Ablauf des Ereignisses im Zeitlupenmodus zeigt darüber hinaus das genaue Interesse Signers an der Sichtbarmachung der Verkettung mehrerer Einzelereignisse über das Medium des Films.77 Signers Versuchsanlagen sind Ereignisfallen, die über das Medium des Films und der Fotografie das sichtbar machen lässt, was für das bloße Auge nicht zu erkennen gewesen wäre. Aus diesem Grund hat auch Signer die Fotografie als Instrument der Wiedergabe nie aufgegeben, denn die Fotografie ist wie der Film ein Medium der Fixierung des Augenblicks, die diese Unterscheidung von mehreren schnell aufeinanderfolgenden Ereignissen, wie die 117 herabfallenden Kugeln in einer Sekunde, sichtbar machen können. In diesem Sinn sind sowohl der Film als auch die Fotografie als Instrumente der Erkundung an Ereignissen zu bezeichnen und werden von Signer in dieser Weise auch angewendet.
75 Vgl. ebd. 76 Vgl. Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001, S. 174-176. 77 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 61 f.
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1.3.3 Die Zeitskulptur als Erweiterung der künstlerischen Praxis Die Bezeichnung »Zeitskulptur«, die Signer für seine Aktionen gewählt hat, weist auf sein künstlerisches Streben hin, die Erweiterung der Skulptur erreichen zu wollen. Der Begriff der Skulptur, die in ihrem ursprünglichen Sinn eine dreidimensionale, aber statische Form im Raum bezeichnet, wird von Signer erweitert um das Element der Zeit.78 Der Künstler äußert sich über sein Vorhaben wie folgt: [...] Für mich sind Zeit und Geschwindigkeit sehr wichtig. Nicht nur der Raum.
«
Was ich mache, ist eine Erweiterung des Skulpturbegriffs. Bei einem Werk wie diesem [gemeint ist die Aktion Rakete, Anmerkung des Verfassers] ist das Ereignis 79
selbst die Skulptur.«
Signers Interesse gilt dem räumlichen und zeitlichen Faktor seiner Skulpturen, die er mit Hilfe von »physikalischen Kräften«80 in Bewegung umsetzt, um für einen kurzweiligen Zeitraum ein Ereignis entstehen zu lassen. Insgesamt gleicht die gesamte Aktion einer Versuchsanlage, die Signer während seiner Arbeit als Bauzeichner für die Versuchsanstalt für Wasserbau (VAW) der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich Ende der 1960er Jahre studieren konnte.81 Diese Zeit war für die Kunst Signers sehr prägend, denn er war nicht nur als Zeichner, sondern damit einhergehend als Beobachter diverser Versuchsanlagen tätig.82 Inspiriert unter anderem auch von seinen Beobachtungen als Zeichner an der Versuchsanstalt für Wasserbau (VAW), bringt Signer ab 1971 auch seine ersten Versuchsanlagen hervor. Diese Aktionen bildeten einen Wendepunkt
78 Vgl. ebd., S. 72. 79 Ebd. 80 Good, Paul: Härtestest des Schönen, S. 19. 81 Vgl. A. Barcal: Spuren vergangener Zeit, S. 10 f. 82 Vgl. ebd., S. 11f. Alexandra Barcal sieht in der genauen Beobachtung Signers von Wasseranlagen über die Zeichnung eine Parallele zu Leonardo da Vincis Naturbeobachtungen und insbesondere seinen Studien zum Wasser. Als Beispiel aus Signers vielzähligen Wasserstudien ist Kiste von 1981 zu nennen. Signer hat einen stabilen Quader an den Abgrund eines Wasserfalls positioniert, so dass der Fluss sich an diesem Widerstand teilen und einen neuen Verlauf folgen musste.
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in seiner Kunst, die ihm in seiner Ausbildung sowohl als Bauzeichner als auch an der Hochschule für Gestaltung in Zürich ab 1966 zu wenig »experimentell«83 war. Zu dieser Zeit kam Signer in seiner technisch geprägten künstlerischen Vorgehensweise als Bauzeichner die Minimal Art als eine auf die Form und physische Präsenz reduzierte Formensprache84 entgegen. Die Minimal Art war eine Kunstrichtung, die als Reaktion auf den abstrakten Expressionismus die Form als ein rein technisches Element zu objektivieren suchte.85 Die selbstreferentielle und damit ausschließlich auf eine physische Präsenz beschränkte Formensprache in Signers Aktionen ist dementsprechend auf diesen Einfluss zurückzuführen.86 Gleichzeitig setzt sich Signer auch von dieser Kunstrichtung ab, denn die »Zeitskulpturen« sollten immer als »spielerisch«87 und »sinnlich«88 verstanden werden.89 In einem Interview führt er ein Beispiel an, um seinen Standpunkt gegen die Minimal Art zu verdeutlichen. Er vergleicht seine Skulpturen mit denen von Carl Andre, ein Vertreter der Minimal Art. Er stellt zunächst fest, dass er das gleiche Material wie Andre verwendet hat, nämlich Metallplatten. Diese liegen allerdings nicht wie bei ihm auf dem Boden, sondern sie fliegen. Er kommt deshalb auch zu dem Schluss: »Was mich interessiert, ist die Energie und weniger die Form.«90 Die Bezeichnung »Zeitskulptur« zeigt darüber hinaus an, dass Signer an der Skulptur und ihrer Erweiterung interessiert ist. Mit dieser Betonung auf das skulpturale seiner Aktionen grenzt er sich gleichzeitig auch gegen die von Joseph Beuys verkündete Erweiterung des Kunstbegriffs in Form der »Sozialen Plastik« ab.91 Während Beuys den Menschen als Gestalter in seinen Performances zulässt, schließt Signer sie aus dem Schaf-
83 R. Withers: Roman Signer, S. 70. 84 Vgl. E. Bippus: Serielle Verfahren, S. 63. 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. Brinkmann, Margitta: Minimal Art – Das »Making of«. Etablierung und Vermittlung moderner Kunst in den 1960er Jahren, Saarbrücken 2008, S. 85 f. 87 R. Withers: Roman Signer, S. 70. 88 Ebd. 89 Vgl. ebd., S. 71. 90 Ebd., S. 71 91 Vgl. Kapitel II.2.4. Die Performance als experimenteller Generator von Ereignissen
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fensprozess aus und sieht sie im Zusammenhang mit seiner »Zeitskulptur« ausschließlich in der Rolle des Beobachtenden. Im Mittelpunkt seiner Aktionen steht nicht der Mensch, sondern die Einbeziehung von »physikalische[n] Kräfte[n] wie Luft, Wasser, Sand, Feuer, die gerade willkommen sind, einen Gegenstand in Bewegung zu versetzen, ihm ein Ereignis abzuverlangen.«92 Die Ausgrenzung eines Teilnehmers ist nicht nur eine gestalterische, sondern auch eine methodische Entscheidung des Künstlers im Hinblick auf das Experiment wie im folgenden Kapitel noch erläutert werden wird. 1.4 Die Erkundung initiierter Ereignisse Die Aktion Gleichzeitig beinhaltet Aspekte, die für das künstlerische Experiment als charakteristisch zu bezeichnen sind. Die Aktion findet in einem Raum gleich dem eines »White Cubes« des Ausstellungsraums oder des Museums während der Biennale in Venedig statt. Die gesamte Anlage wurde im Film als Versuch inszeniert, indem der Aufbau in Form eines Systems von 117 Kugeln (9 x 13) und Tonrechtecken zunächst gezeigt und dann über die Zündung innerhalb von einer Sekunde in Bewegung gesetzt wurde. Die daran anschließenden filmischen Techniken wie die Zeitlupe machen schließlich die Analyse des Filmmaterials analog zu einer Auswertung des zu beobachteten Gegenstands möglich.93 Die Reihung der Kugeln und das planvolle Vorgehen stehen für ein System, das wie im Kapitel II.3.2. Die Systematik serieller Verfahrensweisen im Experiment erläutert worden ist, für die Aneignung einer wissenschaftlichen Methode steht. Diese Analogie zum ordnenden System der Wissenschaft basiert nicht nur auf den gestalterischen Elementen wie die exakte Reihung der 117 Kugeln, die sich kongruent zu der darunter befindlichen Anordnung aus 9 x 13 Tonrechtecken am Boden befinden. Es wird auch ein bestimmter Verlauf über die exakt eingestellten Ausgangspositionen der
92 P. Good: Härtestest des Schönen, S. 19. 93 Beispiele für die Wahrnehmung der wissenschaftlichen Vorgehensweise von Seiten der Rezipienten bei den Aktionen von Signer: »wissenschaftliche Akribie« (Roman Signer, XLVIII. Biennale di Venezia, S. 7), »Versuchsanordnungen« (P. Good: Härtestest des Schönen, S. 102), »Versuche«, »Experimentelle Verordnung« (F. Emslander: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 60).
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Kugeln zu den Tonrechtecken evoziert noch bevor der Versuch gestartet wird, nämlich den der Gleichzeitigkeit, der letztlich nicht erfüllt wird. In diesem Versuch stehen die strikte Ordnung dieses Systems der 117 Kugeln und Tonrechtecken mit den zur Zündung führenden Kabeln und Drähte in einem Spannungsverhältnis zu dem tendenziell chaotischen Verlauf. Dieser war geprägt von der Ungleichzeitigkeit der tatsächlich fallenden Kugeln insgesamt und von dem Fehler des Technikers am Vorabend, der dazu führte, dass eine Kugel sehr verzögert fiel. Diese Einflüsse, die trotz des planvollen und dementsprechend auch systematischen Vorgehens von Seiten Signers entstehen können, werden von ihm als Teil des Versuchsprozesses und letztlich als visuelles Versuchsergebnis akzeptiert. Signer führt uns eine Systematik vor, die in eine chaogene Ordnung mündet. Die Vorhersehbarkeit des Versuchs inklusive der Ankündigung des Ergebnisses über den Titel Gleichzeitig wird dementsprechend von Signer im wahrsten Sinne des Wortes vor- und ad absurdum geführt. Schließlich war die Voraussetzung, dass dieser Versuch in einem geschlossenen Raum des Pavillons stattfand, so dass auch klimatisch bedingte Einflüsse wie der Wind und weitere Umweltfaktoren ausgeschlossen wurden, keine Garantie für einen vorhersehbaren Versuchsablauf. Der Versuch von Signer mit dem Titel Kajak führt beispielsweise genau das Gegenteil vor, indem die herbeieilenden Kühe als unvorhersehbarer Faktor zu einem interessanten Aspekt geworden sind.94 In ähnlicher Weise behandelt Signer auch die Unvorhersehbarkeit in seinem Versuch Gleichzeitig, indem er auch das von ihm sogenannte Scheitern des Versuchs akzeptiert. Forschen als Ereignisfeld Der Zufall wird in dieser Weise bei Signer nicht nur zugelassen, sondern er hat mit seiner Vorgehensweise eine Methode gewählt, die das Ereignis in den Mittelpunkt seiner Erkundungen stellt. Dies hat zur Folge, dass eine explizite Auswertung des Versuchs, die essentiell für die wissenschaftliche Forschung ist, von Seiten des Künstlerforschers zugunsten des dort stattfindenen Prozesses offen gelassen wird. Stattdessen erfolgt eine Rezeption des Ereignisses vom Betrachtenden und nach Badiou auch vom Künstler, der selbst wahrnehmendes Subjekt im Ereignis ist.95 Aus diesem Grund spricht
94 Vgl. R. Withers: Roman Signer, S. 97. 95 Vgl. Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments.
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er nicht von einem Kunstwerk, sondern von einer »künstlerischen Konfiguration«96, die das Ereignis, den Künstler und die Rezipienten einschließt. Voraussetzung hierfür ist die Transparenz der Forschung, die es möglich macht, allen Beteiligten einen Zugang zum Forschungsgegenstand zu ermöglichen. Indem Signer das Ereignis vorführt, schafft er die Voraussetzung für das nach Badiou im Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments erläuterte Wahrheitsverfahren in der Kunst. Roman Signer versteht die Auswertung des Ereignisses aus diesem Grund auch als einen fortlaufenden Prozess, der individuelle und fortlaufende Rückschlüsse während oder nach dem Ablauf der Aktion über die unterschiedlichen Modi der Abspielweise des Films zulässt. Dieses Medium besitzt auf der einen Seite für Signer die Funktion der Archivierung des Ereignisses, aber gleichzeitig auch die Möglichkeit über das Filmmaterial das einmalig stattfindende Ereignis zu erkunden. Die wissenschaftliche Vorgehensweise, die auf Eindeutigkeit97 ausgerichtet ist, wird in diesem Anspruch von Signer im Kunstkontext konterkariert. Nach Fähnders besteht das zentrale Verfahren des Experiments in der Naturwissenschaft als exakte Wissenschaft, in der Wiederholbarkeit und Überprüfbarkeit, so dass die Formulierung von allgemeingültigen Gesetzen hierüber möglich gemacht wird.98 Der Versuch von Signer führt uns ein Ereignis vor, das zwar ebenfalls unter den gleichen Bedingungen wiederholt werden kann, aber im Ergebnis immer unterschiedlich ausfallen wird. Dieser Partikularismus99 der künstlerischen Forschung, das heißt das Besondere und dementsprechend den Einzelfall betreffend, kann in der Aktion Gleichzeitig beobachtet werden, in der eine Kugel besonders verspätet zu Boden gefallen ist. Derartige kleine Begebenheiten sind es, die einen hohen Variationsgrad in der Wiederholung im Kontext der Kunst möglich machen. Die Kunst zeigt sich in diesem Experiment als ein sogenannter Forschungsbereich von Bedeutungsvielfalten, ohne eine Allgemeingültigkeit anzustreben. Sie grenzt sich von dem Forschungsanliegen der Wissenschaft ab, die nicht Ambiguitäten, sondern eine »allmähliche Fixierung der Wirklichkeit«100 zu erreichen sucht.
96
Badiou 2001, S. 22.
97
Vgl. T. Steiner: Duchamps Experiment, S. 40.
98
Vgl. W. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933, S. 29.
99
Vgl. A. Badiou / F. Tarby: Die Philosophie und das Ereignis, S. 77.
100 A. Nordmann: Experiment Zukunft, S. 13.
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Der Künstlerforscher Signer Der Versuch Gleichzeitig bezieht den Zuschauer als Beobachter und zudem als Auswertenden ein, der nicht aktiv teilnehmend, aber intellektuell gefordert ist. Die dadurch gewonnene Distanzierung des Betrachters zum Geschehen, in das er nicht physisch oder gestaltend einbezogen ist, wird genutzt, um etwas vorzuführen. Eine Vorgehensweise, die in der zeitgenössischen Kunst nicht ungewöhnlich ist, da Umberto Eco die Einbeziehung des Rezipienten in das offene Kunstwerk als essentiellen Bestandteil immer vorausgesetzt hat.101 Im Kontext des künstlerischen Experiments erhält der Rezipient darüber hinaus noch die Funktion des Auswertenden analog zum Forscher im wissenschaftlichen Experiment. Die künstlerische Erkundung bei Signer besteht aus einer planvollen Vorarbeit, die die Rahmenbedingung als eingrenzende Konstante für das Ereignis festlegt, ohne dass eine Künstlerperson zwingend in Erscheinung treten muss. Die Person des Künstlerforschers kann deshalb in seiner Eigenschaft während des Kunstprozesses als indifferent bezeichnet werden. Roman Signer selbst stellt die Inszenierung von Ereignissen in den Vordergrund und sieht sich dann lediglich als auslösendes Moment, der entweder gar nicht oder eher unauffällig in Erscheinung tritt. Signer inszeniert auf diese Weise bewusst das Nichtvorhandensein seiner Person in den Aktionen. Aus diesem Grund vergleicht er sich gerne mit Buster Keaton: »I am the person who has to run away.«102 , was er auf seine explosiven Experimente bezogen versteht, in denen er selbst die Explosionen auslöst und sich aus Sicherheitsgründen möglichst schnell vom Ereignisort entfernen muss.103 Auf diese Weise grenzt er sich gleichzeitig von der Inszenierung der eigenen Person ab.104 Paul Good spricht deshalb von dem Experimentator Signer, der seine Vorgehensweise so zu »maschinisieren«105 versteht, dass er den »Nimbus des genialen Künstlersubjekts«106 ad absurdum führt.107 Der Künstler ist also
101 Vgl. Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient 102 van den Bosch, Paula: »In conversation with Roman Signer«, in: Gerhard Mack / Paula van den Bosch / Jeremy Milar (Hg.), Roman Signer, London, New York 2006, S. 7-44, hier S. 10. 103 Vgl. ebd., S. 23. 104 Vgl. Good, Paul: Härtestest des Schönen, S. 155. 105 Ebd., S. 34. 106 Ebd.
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nicht mehr ein von seiner Intuition gelenkter Visionär, sondern jemand, der sich systematisch Phänomene erschließt. Abschließend kann festgehalten werden, dass Roman Signer sowohl formal als auch inhaltlich das Experiment als Instrument zur Erkundung in seinen Versuchen anwendet. Neben der inhaltlichen Beschäftigung mit Fragen aus der Physik sind es die systematischen Voreinstellungen wie die serielle Reihung, die Analogien zum wissenschaftlichen Experiment evident machen. Mit Carsten Höller wird im Folgenden eine Aktion vorgestellt, die den Rezipienten nicht nur als intellektuelle Instanz, sondern auch physisch als Initiator von Ereignissen einbezieht. Höller verfolgt in seinem Versuch dementsprechend eine andere Methode der Erkundung als Roman Signer, die es nun zu untersuchen gilt.
107 Vgl. ebd.
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2.
CARSTEN HÖLLERS VERSUCHSAPPARAT FLUGMASCHINE (FLYING MACHINE), 1996
Carsten Höller hat mit dem Titel Flugmaschine von 1996 eine Installation von ungefähr 600 cm Höhe geschaffen, in die sich der Besucher über eine seitlich angebrachte Treppe begeben kann. Diese Versuchsapparatur ist so konstruiert, dass jeder die Möglichkeit besitzt, sich von einem Podest ausgehend dort einzuhängen. Der Teilnehmende fliegt dann wie in einer Art Gleitschirmflug ohne Gleitschirm kreisend im Ausstellungsraum. Abbildung 3: Carsten Höller, Flugmaschine (Flying Machine), 1996, Steel, electric motor, cable connections, paragliding harness, grip, wood, Scanachrome on PVC, Height (variable): 196 7/8 inches (500 cm) approx; diameter: 236 3/16 inches (600 cm)
Quelle: © Carsten Höller. Courtesy Gagosian
Am Boden dieser Apparatur befindet sich zur Festigung des nach oben senkrecht verlaufenden Stahls ein über Kreuz montierter Stahlträger. Die vier Enden des Kreuzes sind an jeweils einem Gewicht am Boden montiert, so dass sich die Mitte des Kreuzes freischwebend über dem Boden befindet.
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Das hier montierte und nach oben senkrecht verlaufende Stahlrohr, das bis an die Decke führt, trägt im letzten Drittel einen elektrischen Motor, der sich hinter einer Abdeckung verbirgt. Hier ist ebenfalls die Halterung des Gleitschirmgeschirrs angebracht, so dass der Teilnehmer möglichst frei durch den Ausstellungsraum schweben kann. Das Teilstück zwischen Gleitschirmgeschirr und dem Motor besitzt die Form eines Dreiecks, dessen Spitze nach außen verläuft und sich parallel zum Boden befindet. Es wird über einen Drehmechanismus, der vom Motor angetrieben wird, um das senkrechte Stahlrohr bewegt, so dass der Besucher im Gleitschirm parallel zum Boden im Kreis bewegt wird. An der äußeren Spitze dieses Teilstücks ist wiederum ein nach unten hängendes Dreieck so montiert, dass der Teilnehmer, im Gleitschirmgeschirr hängend, Halt finden kann, wie es auch in der Praxis eines Gleitschirmflugs vorgesehen ist. Dieses Dreieck, das ursprünglich zur freien Lenkung des Gleitschirms dient, wird in dieser Installation reduziert auf die Möglichkeit des Festhaltens. Am Dreieck steht den Teilnehmenden lediglich ein Griff zur Regulierung der Geschwindigkeit zur Verfügung, die wiederum an die Funktion der Geschwindigkeitsregulierung am Lenkrad eines Motorrades erinnert. Auf diese Weise hat der Besucher die Möglichkeit die Geschwindigkeit und auch den Start sowie die Beendigung des Ausstellungsflugs zu kontrollieren. Die Option der freien Lenkung wird in diesem Versuchsapparat für den Teilnehmenden nicht möglich gemacht. In der freischwebenden Aufhängung hat dieser lediglich die Möglichkeit das Tempo zu bestimmen und sich gleiten zu lassen. 2.1 Das Experiment: Die performative Installation als Versuchsapparatur zur Lenkung des Partizipienten Bei Carsten Höller besteht die Involvierung des Rezipienten, anders als bei Roman Signer nicht mehr ausschließlich darin, eine intellektuelle Instanz zu sein, indem er als Teil des künstlerischen Experiments die Auswertung übernimmt.108 Der Rezipient wird in dieser sogenannten performativen Installation109 vielmehr als Initiator einer Aktion physisch in die Umgebung
108 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 23. 109 Nollert, Angelika: »Performative Installation«, in: Performative Installation, Ausst.-Kat., Galerie im Taxispalais Innsbruck 2003; Museum Ludwig Köln 2003-2004; Museum für Gegenwartskunst Siegen 2004; Secession Wien 2004;
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der performativen Installation integriert. Dementsprechend wird das Ereignis der Performance in der Apparatur, das heißt in dem Objekt der Installation eingepasst. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Aktivität des Teilnehmenden bestimmt wird durch das vom Künstler zur Verfügung gestellte Kunstobjekt.110 Dies hat zur Folge, dass die Handlung des Partizipienten in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt wird. Es stellt sich deshalb die Frage, welche Funktionen die Teilnehmenden im Hinblick auf die Handlungskonstellation des künstlerischen Experiments besitzen, was im Folgenden erörtert werden wird. Die performative Installation Der Flugapparat von Carsten Höller ist eine von Angelika Nollert so bezeichnete performative Installation, die eine Verbindung aus »ephemerer Performativität«111 und »statischer Installation«112 darstellt.113 Die Performativität des Teilnehmenden als ein sogenannter live act ist dementsprechend in die Materialität der Installation eingebunden. In dieser Weise wird beim Teilnehmenden eine Gleichzeitigkeit zwischen Handlung und Wahrnehmung evoziert.114 Dieses Ereignis in Echtzeit zu erfahren und wahrzunehmen ist für die performative Installation bedeutungskonstituierend, denn ohne sie wäre sie ein statisches Objekt. Andererseits generiert die Installation erst das Ereignis, das sich eingebunden in dessen Materialität erst vollziehen kann.115 Im vorliegenden Beispiel der Flugmaschine wird das Gerüst des Flugapparates zu einer Architektur, die den Teilnehmenden in seiner Aktion strikt lenkt, indem er, wie bereits in der Beschreibung deutlich geworden ist, festgemacht wurde und in dieser Verankerung, wenn überhaupt, dann nur sehr eingeschränkt bewegungsfähig ist. Die Versuchsapparatur bringt darüber hinaus noch einen weiteren neuen Aspekt für das künstlerische Experiment hervor, nämlich die Wiederholung
Zeitgenössische Kunst Leipzig 2004, hg. von Angelika Nollert, Köln 2003, S. 8-31, hier S. 13f. 110 Vgl. ebd., S. 14. 111 Ebd., S. 8 112 Ebd. 113 Vgl. ebd. S. 8 f. 114 Vgl. ebd., S. 13. 115 Vgl. ebd.
198 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
von Ereignissen durch den Teilnehmenden in einem konstant gleichbleibenden Installationsobjekt. Die Rezipienten verfolgen keine Vorführung eines Ereignisses, sondern diese werden mit einer Installation konfrontiert, die lediglich die statische Ausgangskonstellation für die kommenden, von ihm durchzuführenden Handlungen bietet. Der live act ist so lange wiederholbar wie die Architektur der Flugmaschine zur Verfügung gestellt wird. Die Wiederholung resultiert aus der Vielzahl der teilnehmenden Besucher, die sich in diese Installation hineinbegeben. Der Künstler Carsten Höller tritt als Person während des live acts nicht in Erscheinung, sondern überlässt die Erfahrungen und Wahrnehmungen ganz den Teilnehmenden, die sich in seiner zur Verfügung gestellten Installation befinden. Dieser Versuchsapparat kommt wie Rheinberger für die Apparaturen der wissenschaftlichen Versuchsanordnungen beschrieben hat, eine »vorstrukturierende Aufgabe« zu und bildet dementsprechend eine Handlungsorientierung im Raum.116 Der Teilnehmer bewegt sich gemäß der von Höller zur Verfügung gestellten Installation. Dieses Material der Installation ist vom Künstler im Sinne Latours »inskribiert«117 worden, indem die Handlungsanweisungen in die statische Installation der Flugmaschine als ein Gleitschirmflug eingeschrieben worden ist. Die Festlegung von Oskar Bätschmann bezüglich der performativen Installation als eine Bereitstellung von Apparaturen oder Objekten, die das Publikum einbeziehen, muss aus diesem Grund um die »inskribierte« Handlungsanweisung des Künstlers in das Installationsobjekt erweitert werden.118 Die Versuchsapparatur der Flugmaschine ist dann nicht nur ein Ort der »Erfahrungsgestaltung«119, sondern in dieser performativen Installation wird der Teilnehmende einer Situation ausgesetzt, die mit den entsprechenden »inskribierten« Objekten vom Künstler inszeniert worden ist. Das führt dazu, dass der Besucher nicht an einer Aktion teilnimmt, sondern an ihm wird vielmehr im Sinne des Künstlers etwas vollzogen.
116 Vgl. H. -J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 130133. 117 B. Latour: Science in Action, S. 68. 118 Vgl. Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 232. 119 Ebd.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 199
Aufgrund dieser Feststellung, dass der Künstler über den statischen Aufbau der Installation die Teilnehmenden lenkt, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, inwieweit dieser die Teilnahme von Besuchern instrumentalisiert. 2.2 Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst festgestellt werden, in welchem Grad die Beteiligung des Besuchers auch bei weiteren Aktionen erfolgt, um dann wiederum Rückschlüsse für das Partizipationskonzept, das der Flugmaschine zugrunde liegt, ziehen zu können. In der Aktion von Joseph Beuys der Free International University von 1977 beispielsweise war die Beteiligung des Besuchers nicht an das Objekt der Installation ausgerichtet, sondern der Teilnehmende war das gestaltende Element der Aktion. Sein Handlungsspielraum war dementsprechend sehr hoch.120 Beuys sieht in der Teilnahme des Rezipienten in seinen Aktionen eine »soziale«121 und »therapeutische«122 Funktion verwirklicht.123 In der conditio humana macht er deshalb ein Mittel zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse fest und weist dem Menschen als autonomes Subjekt bewusst einen größeren Gestaltungsfreiraum in seinem Kunstwerk zu. Der Künstler Beuys besitzt im Gegensatz zu Signer und Höller eine große Präsenz in seinen Performances. Dieser war Leiter der Handlungen und wird, wie Mersch allgemein für die Rolle des Künstlers innerhalb der Performance festgestellt hat, »[...] zum Beweger, zum Schamanen oder Revolutionär, der eine Ethik der Praxis verkörpert.«124 Die Art und Weise wie bei Beuys der Betrachter in den Prozess der Performance involviert wird, liegt unter anderem auch im politischen Kontext seiner Zeit begründet. Die Forderung der Studentenbewegung nach mehr Individualität und Subjektivität sowie einem Mitspracherecht fließt in das Konzept Beuys »Jeder Mensch
120 Vgl. Kapitel II.2.4. Die Performance als experimenteller Generator von Ereignissen 121 R. Rappmann: Interview mit Joseph Beuys, S. 21. 122 Ebd. 123 Vgl. ebd. 124 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 211.
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ein Künstler«125 ein. An dieser Stelle wird nochmals der Schwerpunkt bei Joseph Beuys Aktionen offensichtlich: der Mensch als Bestandteil seiner Aktion, der in dieser »Labor-Situation«126 die Möglichkeit besitzt zu erkunden. Die unkontrollierte Partizipation Das Konzept von einer derartig offenen Partizipation offenbart gleichzeitig die künstlerische Auffassung, dass der Teilnehmende in der Lage ist, sich autonom innerhalb der Aktion entfalten zu können. Joseph Beuys sah in seiner Kunst die Möglichkeit, gesellschaftliche Veränderungen über das Individuum einleiten zu können.127 Carsten Höllers Versuch unterliegt dagegen einem anderen Konzept von Partizipation, das bereits in der Unbeweglichkeit des Teilnehmenden in der Einrichtung der Flugmaschine deutlich wird. Das künstlerische Experiment als »Aktant« nach der AkteurNetzwerk-Theorie besteht aus menschlichen und nicht-menschlichen Anteilen, die Handlung erzeugen.128 In dieser Installation von Höller dominiert der nicht-menschliche Anteil und engt den Teilnehmenden geradezu ein. Nollert ist für die performative Installation zu der Feststellung gelangt, dass die Performativität auf der einen Seite für die Installation bedeutungskonstituierend ist, aber die Installation auf der anderen Seite erst die Performativität möglich macht.129 Der Künstler übt dementsprechend eine Form der Kontrolle aus, wenn der nicht-menschliche Anteil oder die Apparatur einen größeren Raum in der Handlung des Experiments einnimmt als der Mensch. Diese künstlerische Leitung über das eigene Kunstwerk zu erhalten, das Partizipation einschließt, ist wie Lars Blunck in seiner Publikation »Between Object & Event«130 beschreibt, nicht immer leicht vom Künstler zu erreichen gewesen. Sieht er sich doch mit der Einbeziehung des Besuchers in seinem Werk vor die Frage gestellt, inwieweit er das Konzept oder
125 Ebd., S. 100. 126 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 299. 127 Vgl. R. Rappmann: Interview mit Joseph Beuys, S. 21. 128 Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 95 ff. und Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung 129 Vgl. A. Nollert: Performative Installation, S. 13. 130 Blunck, Lars: Between Object & Event. Partizipationskunst zwischen Mythos und Teilhabe, Weimar 2003.
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die Idee seines Kunstwerkes erhalten kann, wie am folgenden Beispiel gezeigt werden wird. Robert Rauschenbergs Black Market aus dem Jahr 1961131 steht exemplarisch für das Scheitern eines Kunstwerks, das im Gegensatz zu Roman Signers Gleichzeitig nicht als Teil eines unvorhersehbaren Gestaltungsprozesses akzeptiert werden konnte. Das Kunstwerk Black Market selbst besteht insgesamt aus zwei Teilen: einem geöffneten Koffer am Boden und einer nahezu quadratischen Tafel mit einem Verkehrsschild mit der Aufschrift »One Way«. An der Spitze des Schildes ist eine Schnur befestigt, die mit dem Koffer am Boden verbunden ist. Darüber hinaus sind auf einer Tafel an der Wand vier Klemmbretter befestigt, die einer Zahl zugeordnet sind. An der Wandtafel hängt eine Kordel mit einer mehrsprachigen Anweisung für den Betrachter. Der Handlungsanweisung folgend, hat dieser die Möglichkeit, einen Gegenstand, der sich im Koffer unter der Tafel befindet, mit einem Gegenstand, den er in diesem Moment zur Verfügung hat und bei sich trägt, zu tauschen. Die Objekte im Koffer sind versehen mit den Zahlen 1, 2, 3 und 4. Mit dem bereitgestellten Stempel im Koffer sollte das vom Besucher entfernte Objekt 1, 2, 3 oder 4 durch das neue Objekt ersetzt und mit der dementsprechenden Zahl des Vorgängerobjekts gestempelt werden. Obwohl Rauschenberg dem Publikum präzise Anweisungen zur Systematik des Tauschhandels an dieser Assemblage vorgegeben hat, schien nach Blunck die Intention Rauschenbergs schon 1961 im Entstehungsjahr des Kunstwerks von Seiten der Partizipienten boykottiert worden zu sein.132 Es wurden beispielsweise Gegenstände aus dem Koffer entnommen, ohne im Tausch etwas dafür in den Koffer zu legen. Die Zeichnung am Klemmbrett auf der Tafel wurde gestohlen, oder es wurden obszöne Kommentare in die Notizbücher geschrieben.133 Die Beteiligung des Betrachters ist als Folge daraus mit den Jahren im Museumsbetrieb immer weiter an diesem Kunstwerk eingeschränkt worden. In der heutigen Form ist die Mitgestaltung des Rezipienten am Black Market im Museum Ludwig in Köln gar nicht mehr möglich. Die Entscheidung Rauschenbergs, den Rezipienten die Freiheit des Tauschhandels zu ermöglichen, führte dazu, dass
131 Robert Rauschenberg: Black Market, 1961 Baumwolle, Holz, Metall, Ölmalerei, 152 x 127 cm, Museum Ludwig in Köln. 132 Vgl. L. Blunck: Between Object & Event, S. 90. 133 Vgl. ebd.
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das künstlerische Konzept verloren gegangen ist, so dass die ursprüngliche künstlerische Intention nicht mehr erkennbar war.134 Die Erweiterung des Kunstwerks über die Einbeziehung des Rezipienten in dieser Partizipation wird aus diesem Grund von Rauschenberg ebenfalls als gescheitert angesehen, aber anders als bei Signer, wird dies von ihm nicht als Ergebnis in seinem Kunstwerk aufgenommen.135 Schließlich traf das Museum mit Einwillligung des Künstlers die Entscheidung, dass die Möglichkeit der Partizipation in Black Market zugunsten des künstlerischen Konzepts und des Erhalts des Kunstwerks eingestellt werden musste.136 Das, was Beuys in seiner Aktion als Gestaltungsfreiraum des Individuums im Hinblick auf ein therapeutisches Ziel angenommen hat, verkehrt sich in der Assemblage bei Rauschenberg zu einer Kontrolllosigkeit, die das Konzept nicht im Sinne des Künstlers erweitert. Robert Rauschenberg hat den Teilnehmenden als eine ausführende oder initiierende Kraft gesehen, aus der heraus ein Ereignis resultieren kann.137 Im Gegensatz zu Beuys stehen Künstler wie Rauschenberg, die in der Aktion nicht präsent sind, deshalb vor der Herausforderung den Teilnehmenden analog zu seinem Konzept zu lenken oder zu führen. Wenn der Künstler wie Rauschenberg bei Black Market den Beteiligten nicht die Gestaltung am Kunstwerk überlassen will, muss er die Partizipienten nicht in Form von schriftlichen Anweisungen, sondern über die Installation als »Handlungsorientierung« lenken. Erst über die statische Installation ist der Künstler in der Lage, wie in der Flugmaschine die Partizipation der Teilnehmenden gemäß der künstlerischen Idee zu kontrollieren. Die kontrollierte Partizipation Carsten Höllers Flugmaschine zeichnet sich gegenüber Rauschenbergs Black Market gerade durch die sehr kontrollierte Lenkung der Physis der Teilnehmenden aus. Dieses Leiten des Partizipienten, das über die Installation der Flugmaschine erfolgt, erinnert an die Korridore von Bruce Nauman, die Carsten Höller zu seinen Gängen in den Jahren zwischen 2003-2010 inspiriert haben dürften, wie unter anderem Swinging Spiral von
134 Vgl. ebd., S. 87. 135 Vgl. ebd. 136 Vgl. ebd., S. 90 137 Vgl. ebd., S. 87.
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2010 oder Swinging Curve von 2009.138 Bruce Nauman sieht die Partizipation, obwohl er sie in seinen Installationen zulässt, sehr kritisch. Er vertritt hierzu einen klaren Standpunkt: »Ich misstraue Publikumsbeteiligung. Deshalb bemühe ich mich, diese Arbeiten so eng wie möglich einzugrenzen.«139 Nauman verweigert die Öffnung seiner Kunstwerke zur freien Gestaltung des Publikums und möchte vielmehr eine »Geschlossenheit«140 erreichen.141 Die Konsequenz ist, dass der Aktionsradius der Teilnehmenden so eng wie möglich im Installationsobjekt eingebunden ist, so »[...] dass man eine Arbeit mit Publikumsbeteiligung machen konnte, ohne dass die Teilnehmer die Arbeit verändern konnten.«142 Dieses Konzept hat Nauman von 1969 bis 1984 in seiner Werkgruppe von begehbaren Gängen realisiert. Die erste performative Installation dieser Gruppe mit dem Titel: Performance Corridor143 von 1969 besteht aus sich zwei gegenüberliegenden, je-
138 Bruce Nauman, Performance Corridor, 1969, Holzplatten, 243.8 x 609.6 x 50.8 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York. 139 Raffaele, Joe: »Kunst im offenen Prozess«, in: Hoffmann, Christine (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967-1988, Amsterdam 1996, S. 102-117, hier S. 14. 140 Ebd. Mit dem Begriff der Geschlossenheit ist in diesem Zusammenhang der laufende Prozess einer Handlung gemeint und nicht das Kunstwerk. Das offene Konzept des Kunstwerks nach Umberto Eco bleibt auch hier bestehen. 141 Vgl. Raffaele 1996, S. 14. 142 Ebd., S. 15. 143 Zur Korridor-Serie zwischen 1969 bis 1984 gehören unter anderem: Lighted Performance Box 1969; Performance-Corridor 1969; Corridor Installation / Nicholas Wilder Installation 1969; Acoustic Wall 1969/1970; Live-Taped Video Corridor 1970; Corridor Installation with Mirror 1970; Green Light Corridor 1970/1971; Acoustic Pressure Piece 1971; Floating Room: Lit from Inside 1972; Kassel Corridor: Elliptical Space 1972; Dream Passage 1983; Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care 1984. (vgl. Bruce Nauman, Ausst.-Kat., Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid
1994;
Walker Art Center, Minneapolis 1994; The Museum of Contemporary Art, Los Angelos 1994; Hirschhorn Museum and Sculpture Garden, Washington 1995, The Museum of Modern Art, New York; Basel 1994, S. 191-343.)
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weils 2,44 m hohen Sperrholz-Platten.144 Die Tiefe des so gebildeten Gangs beträgt ca. 6 m und ist für die Besucher begehbar. Die Außenwände sind in ihrer Rohfassung belassen worden, so dass die haltenden Außenstreben aus Holz sichtbar sind und keinerlei Verkleidung erhalten haben. Der Rezipient ist aufgefordert, diesen Korridor zu betreten, so dass die Installation vom Anschauungsobjekt zu einem Erfahrungsobjekt gewandelt wurde.145 Dieser Korridorserie gingen die Erfahrungen der frühen auf Video aufgezeichneten Performances, nämlich die sogenannten Wall-Floor Positions von 1968146 voraus, in denen er sich zunächst selbst in einem räumlichen Zusammenhang seines Ateliers erforscht hatte.147 In dieser Videoserie untersucht Nauman verschiedene Möglichkeiten der Körpersprache, indem er sich selbst schminkt, Grimassen zieht, seine eigenen Gliedmaße wie Hoden, Nase, Augen oder Ohren untersucht. Nauman wiederholt in seinem Atelier Körperbewegungen wie schreiten, tanzen, gehen, drehen, tanzen, stampfen usw., die nur geringfügig variiert werden.148 Diese Erfahrungen wurden nach Angaben von Nauman in Performance Corridor und den nachfolgenden Gängen auf den Betrachter übertragen, der in seiner Physis von der eng angelegten Architektur sehr kontrolliert in eine Aktion einbezogen wurde.149 Die Situation des Besuchers in den Korridoren wird deshalb von Eugen Blume als ein Moment der »[...] überraschenden Selbstbefragung [...]«150 beschrieben und zielt damit auf die psychologische Komponente ab, die sich beim Partizipienten vollzieht. Der Korridor, der lediglich 50 cm breit ist, reduziert die Bewegung der darin befindlichen Person auf einen starren und aufrechten Gang. Aus diesem Grund kann weniger von einem Teilnehmer oder Partizipienten in diesem Zusammenhang gesprochen wer-
144 Vgl. von Bismarck, Beatrice: Auftritt als Künstler (Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Band 39), Köln 2010, S. 87. 145 Vgl. Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler, S. 240. 146 Bruce Nauman, Wall-Floor Positions (Wand-Boden-Positionen)1968, Videoband, schwarz-weiß, vertont, 60 Min. (vgl. Van Bruggen, Coosje: Bruce Nauman, Basel 1988, S. 241.) 147 Vgl. C. Van Bruggen: Bruce Nauman, S. 237 ff. 148 Vgl. ebd. 149 Vgl. Raffaele, Joe: »Kunst im offenen Prozess«, in: Hoffmann, Christine (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967-1988, Amsterdam 1996, S. 102-117. 150 Blume, Eugen: Bruce Nauman (Collector’s choice, 10), Köln 2007, S. 32.
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den, sondern vielmehr von einem Probanden, der sich diesem Versuch unterzieht. Der Künstler gibt den Weg durch einen Korridor vor, der keine weiteren Bewegungsvariationen zulässt, so dass dieser auf eine einzige Richtung kanalisiert wird. Das Material der Streben an diesen Korridoren ist unbearbeitet und besitzt lediglich die Funktion, die hohen Wände zu stabilisieren. Diese Einfachheit der statischen Konstruktion, die nach außen hin auch den Anschein des Funktionalen gibt, erinnert neben Roman Signers reduzierte Formensprache151 auch an die von Marcel Duchamp, der dieses Mittel bewusst in seiner Kunst eingesetzt hat. So wählte er ein »unpersönliches Verfahren«152 der technischen Konstruktionszeichnung für seine Malerei wie beispielsweise die Schokoladenmühle II von 1913.153 Der sinnliche Aspekt der Malerei wird hier bewusst außen vor gelassen zugunsten einer Rationalität, die ausgerichtet ist, auf die Funktionalität des Technischen. Diese Reduzierung der malerischen Gestaltung in Form und Farbe wird in gleicher Weise auch bei Naumans Performance Corridor sichtbar. Darüber hinaus sieht Cosje van Bruggen in der reduzierten Formensprache von Naumans Installationsobjekten eine Form der »Unfertigkeit«154 verwirklicht. Statt den Arbeitsprozess am Installationsobjekt zu verdecken, sieht van Bruggen hierin eine bewusste Visualisierung von gerade diesen Prozessen, die ihn auch in seinen künstlerischen Erkundungen mit sich selbst im Atelier, aber auch in Installationen immer wieder beschäftigten.155 In den darauffolgenden 15 Jahren variiert Nauman das Modell der Korridore um weitere Möglichkeiten, unter anderem mit Licht (Green Light Corridor 1970/71), mit Video (Corridor Installation 1969), mit Spiegel (Corridor Installation with Mirror 1970) oder mit einer gekrümmten Form (Kassel Corridor: Elliptical Space 1972).156 Er eröffnet auf diese Weise,
151 Vgl. Kapitel III.1.3.3. Die Zeitskulptur als Erweiterung der künstlerischen Praxis. 152 H. Molderings: Kunst als Experiment, S. 19. 153 Marcel Duchamp, Schokoladenmühle II (Broyeuse des chocolat No.2), 1913, Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm, The Philadelphia Museum of Art. 154 C. van Bruggen: Bruce Nauman, Basel 1988, S. 10. 155 Vgl. ebd. 156 Vgl. Bruce Nauman, Ausst.-Kat., Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid 1994; Walker Art Center, Minneapolis 1994; The Museum of Contemporary Art, Los Angelos 1994; Hirschhorn Museum and Sculpture Garden,
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trotz der Enge der Korridore und damit zusammenhängend die starke Kanalisierung der physischen Möglichkeiten der Teilnehmenden beziehungsweise Probanden, einen individuellen Selbsterfahrungsraum über die sinnlichgeistige Ebene des jeweils Teilnehmenden. Die Installationen Naumans wirken dementsprechend wie ein Versuch direkt am Probanden, der physisch eingeengt zu einer psychischen Selbstreflexion gezwungen wird. Die Dialektik von Partizipation und Kontrolle in künstlerischen Versuchsapparaturen Janet Kraynak sieht die auf die Teilnehmer ausgeübte physische Kontrolle von Nauman in seinen performativen Installationen in der fortschrittsoptimistischen Haltung der Gesellschaft gegenüber Naturwissenschaft und Technik am Ende der 1960er Jahre begründet.157 Dieser Enthusiasmus erreichte auch die Kunst, was zur Folge hatte, dass interdisziplinäre Projekte zwischen Künstlern, Technikern und Wissenschaftlern ins Leben gerufen wurden wie 1967 die C.A.V.S. (Center for Advanced Visual Studies) am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Im gleichen Jahr wurde die Organisation mit dem Namen Experiments in Art and Technology (E.A.T.),158 die unter anderem in New York aktiv waren, gegründet.159 Nach Witzgall war das erklärte Ziel dieser Gruppen, die Kunst für neue technologische Entwicklungen zu öffnen und Kollaborationen interdisziplinärer Art zu schaffen.160 Diese Tendenz in der Kunst spiegelt gleichzeitig die fortschrittsorientierte Gesellschaft dieser Zeit, deren Denksystem von Rationalität und Effektivität geprägt ist und unter der Bewegung der »Technokratie« (»technocracy«161) in Erscheinung getreten ist.162 Diese politische Be-
Washington 1995, The Museum of Modern Art, New York; Basel 1994, S. 191-343. 157 Vgl. Kraynak, Janet: Dependent Participation: »Bruce Nauman’s Environments«, in: Grey Room 10 (2003), S. 22-45. 158 Die Organisation der Experiments in Art and Technology (E.A.T.) wird im Kapitel III.3.3. Die Forschung am Video-Tracking im Zusammenhang mit interdisziplinären Projekten in der Kunst thematisiert werden. 159 Vgl. S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 58. 160 Vgl. ebd. 161 J. Kraynak: Dependent Participation, S. 31. 162 Vgl. ebd., S. 37.
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wegung, die eine Technokratisierung der Gesellschaft zum Ziel hatte, das heißt alle Handlungen bauen auf wissenschaftlichem und technischem Wissen auf, kam bereits am Ende des ersten Weltkriegs in den USA auf.163 Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen war unter anderem einer der Befürworter dieses Konzepts, dass die Lenkung des Staates durch sogenannte Technokraten oder Ingenieure zu erfolgen habe.164 Nur sie seien imstande Regierungen zu bilden, deren Handlungen nach technischen und wissenschaftlichen Standards ausgerichtet seien, um ihre Effektivität zu steigern zu können. Mit diesem technokratischen Denksystem geht die Verwissenschaftlichung und Rationalisierung kultureller, gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse einher.165 Dieses Konzept beinhaltet, dass zugunsten von Effektivität und Rationalität die Individualität ausgeschlossen werden soll, um schließlich Standardisierungen in Prozessen erreichen zu können. Es entsteht aus diesem Grund nach Kraynak eine Kluft zwischen dem Wunsch der Gesellschaft nach Beteiligung (»participation«) an gesellschaftlichen Prozessen (»equality«) und der Bürokratie (»bureaucracy«), die gesellschaftliche Bereiche wie Politik über Hierarchien zu ordnen sucht.166 Beide Pole bilden ein Konfliktpotential, das nicht ausgeglichen werden kann. Kraynak spricht aus diesem Grund von einer programmierten Gesellschaft (»the programmed society«167) und bezieht sich hier
163 Vgl. ebd., S. 31. 164 Vgl. ebd. Diese Führungstheorie wird von dem Ökonom und Soziologen Thorstein Veblen unter anderem in seiner Publikation mit dem Titel »The theory of business enterprises« von 1904 vertreten (vgl. Veblen, Thorstein: The theory of business enterprises, New York 1932). 165 Vgl. ebd., S. 31. Hier eröffnet sich eine Parallele zum bereits erwähnten Wissenschaftsenthusiasmus um 1900, der ebenfalls viele Bereiche der Gesellschaft erfasste (s. Kapitel II.2.1. Der Wissenschaftsenthusiasmus in der Kunst). 166 Janet Kraynak zitiert hierzu Daniel Bell, der diese Kluft zwischen dem Wunsch nach Partizipation auf der einen Seite und den stetig steigenden technischen Anforderungen gerecht zu werden als gesellschaftliches Konfliktpotenzial ausgemacht hat (vgl. Bell, Daniel: The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973.) 167 J. Kraynak: Dependent Participation, S. 32.
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auf Alain Touraine.168 Diese Dialektik zwischen Partizipation und Kontrolle sieht Kraynak ebenfalls in den Korridoren von Bruce Nauman verwirklicht und benutzt in diesem Zusammenhang Umschreibungen für die Teilnahme an einem Kunstwerk als »dependant participation«169 oder »weak participation«170. Der Performance Corridor 1969 von Bruce Nauman steht deshalb beispielhaft für diese von Kraynak so bezeichnete »abhängige Partizipation«.171 Darunter ist im Kontext dieser Versuchsanlage zu verstehen, dass Nauman eine kontrollierte und dementsprechend von seinem Konzept abhängige Performanz des Teilnehmenden erreichen will. Dieses Konzept von Partizipation ist gegenläufig zu der Position von Beuys zu sehen, der die freie Entfaltung des Individuums als therapeutisches Mittel in seinen Aktionen propagiert hatte.172 Er stellt den Menschen als Subjekt wieder in den Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens,173 um dieses vorherrschende technokratische Denken in der Gesellschaft auszugleichen.174 Nauman dagegen leitet mit seiner performativen Installation eine Kanalisierung des Teilnehmenden ein, die ihn seiner Individualität beraubt, weil keine individuellen Erkundungen zugelassen werden. Wie in Carsten Höllers Flugmaschine wird der Teilnehmende über die Versuchsanlage kontrolliert, indem dieser in der performativen Installation nahezu physisch fixiert wird, um gemäß dem künstlerischen Konzept zu erfahren. Die Korridore von Nauman schränken den Teilnehmenden als Proband auf ein Minimum ein, so dass dieser in seinen Handlungen von den Vorgängern oder Nachfolgern, die diese Versuchsumgebung betreten nicht zu unterscheiden ist. Al-
168 Vgl. Touraine, Alain: The Post-Industrial Society: Tomorrow’s Social History: Classes, Conflicts, and Culture in the Programmed Society, New York 1971, S. 8 f. 169 J. Kraynak: Dependent Participation, S. 33. 170 Ebd. 171 Kraynak bezeichnet die Partizipation im Zusammenhang mit Naumans Anlagen als »passive participants« oder »dependant participation« (vgl. J. Kraynak: Dependent Participation, S. 33.). 172 Vgl. R. Rappmann: Interview mit Joseph Beuys, S. 21. 173 Vgl. ebd., S. 94. 174 Beuys spricht in einem Interview davon, dass »Meine Aktionen [...] zeigen ein Gegenmodell zum Alleinherrschenden, zum Nur-Rationalen, auf.« (vgl. R. Rappmann: Interview mit Joseph Beuys, S. 94).
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lerdings betreten die Teilnehmenden gleichzeitig die Korridore als Rezipienten, das heißt mit ihren individuell ausgeprägten Prädispositionen ihrer Persönlichkeiten, die nach Eco so bezeichnete »existentielle Situation«175. Die Probanden, die diese Korridore betreten, sind von ihrer Physis zwar gezwungen ihre Individualität abzulegen, aber sie besitzen gleichzeitig die Möglichkeit ihre eigene Situation zu reflektieren. Dieser Teilnehmende ist dementsprechend nicht nur als Proband zu bezeichnen, sondern dieser bleibt weiterhin Rezipient, das heißt auch Auswertender dieses künstlerischen Experiments, so dass die Bezeichnung des rezipierenden Probanden auch diesem Aspekt gerecht werden würde. Carsten Höller führt mit der Flugmaschine von 1996 die Ausstellungsbesucher in eine Apparatur, die ebenfalls die Partizipation zulässt, aber gleichzeitig wie bei Nauman kontrolliert wird. Hier ist der Proband so festgemacht, dass sein Aktionsradius sich auf das Festhalten beschränkt. Diese performative Installation steht demzufolge für die gleiche Dialektik zwischen Partizipation und Kontrolle wie Kraynak bei Nauman beobachtet hat. Der rezipierende Proband wird nicht in das Experiment Flugmaschine einbezogen, sondern seine Teilnahme ist von Nauman »programmiert«176 , das heißt sein Bewegungsablauf ist bereits vorbestimmt. Die unkritische Begeisterung über neue technologische Entwicklungen in der Kunst wie sie sich unter anderem in den bereits erwähnten interdisziplinären Gruppen um Wissenschaft, Technologie und Kunst manifestierten, nahm nach Witzgall spätestens um 1975 ab.177 Parallel dazu näherte sich die Kunst über die Environmental Art wieder dem Thema Natur und Umwelt an, indem natürliche Prozesse im Ausstellungsraum des »White Cube« oder auch außerhalb vorgeführt wurden.178 Als Beispiel für diese Tendenz steht der Kondensationswürfel, 1963/65 von Hans Haacke.179 Dieser bestand aus einem Würfel aus Plexiglas mit Wasser, das den Boden dieses Kubus gut bedeckt hatte, gefüllt. Er wurde erwärmt durch eine Glühlampe, durch deren Wärmeentwicklung der Prozess der Kondensation ausgelöst
175 U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 30. 176 J. Kraynak: Dependent Participation, S. 32. 177 Vgl. S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 46. 178 Vgl. ebd. 179 Hans Hacke: Kondensationswürfel,1963/1965; klares Acrylglas; Wasser; 30,4 x 30,4 x 30,4 cm; Sammlung Generali Foundation, Wien.
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wurde. Das Kondensat setzte sich an den Innenwänden des Würfels ab. Ein System, das sich im Prozess eines nahezu immerwährenden Kreislaufs befindet, so dass ein Modell mit natürlichem Ablauf vorgeführt wird, der beobachtet werden kann. Die bisherigen Untersuchungen zur Flugmaschine bezogen sich größtenteils auf die in der Architektur vollzogenen Handlungen der Akteure. Im Folgenden wird diese Betrachtung auf die Kontextualisierung dieser Apparatur in einer Ausstellung mit weiteren Installationen des Künstlers hin erweitert, die insgesamt dem Thema Glück unterstellt sind. 2.3 Die Forschung an der Flugmaschine im Kontext der Ausstellung Glück Die Flugmaschine wurde über die Einzelausstellung Carsten Höllers mit dem Titel Glück von 1996 bekannt, die in den Städten Hamburg, Köln und Utrecht im Zeitraum zwischen dem 29. März 1996 und dem 3. Februar 1997 gezeigt wurde.180 Diese Ausstellung hatte den Anspruch, dass Höller jeden seiner Gäste glücklich machen wollte.181 Dementsprechend war auch der dazugehörige Pressetext des Kölnischen Kunstvereins verfasst, der diese Ausstellung zum »Glücklichsein«182 in Köln ankündigte.183 Im Raum des Kölner Kunstvereins befanden sich neben der Flugmaschine noch weitere Installationen und Objekte, die zur Teilnahme einluden. So befand sich eine schwarzgelbe Massage Lounge, auf die sich der Rezipient legen und sich über Massagestößel massieren lassen konnte. Weiterhin wurde man als Besucher dazu aufgefordert, an einem Trinkwasser-
180 Vgl. Carsten Höller. Geluk / Skop, Ausst.-Kat., Kunstverein in Hamburg 1996, Kölnischer Kunstverein 1996, Central Museum Utrecht 1996-1997, Wiener Secession 1996, Köln 1996. Leider sind bis auf die dazugehörige Publikation keine Unterlagen mehr dazu vorhanden, da nach Auskunft des Kölner Kunstvereins die gesamten Aufzeichnungen zu den Veranstaltungen und Ausstellungen vor 2000 im Kölner Archiv eingelagert waren und durch den Einsturz im Jahr 2009 vernichtet wurden. 181 Vgl. Becker, Jochen: »Abenteuer Forschung«, in: Springer 3 / Bd. II (1996), S. 30-36, hier S. 31. 182 Ebd. 183 Vgl. ebd.
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spender Pillen einzunehmen, die schon über den Titel der Ausstellung Glücksgefühle erwarten lassen konnten.184 Es befanden sich darüber hinaus zwei Delfine als Nachbildungen in diesem Raum. Schließlich wurde noch die Möglichkeit eröffnet, den eigenen Kopf in die Einbuchtung eines Aquariums zu legen, so dass dem Teilnehmer das Gefühl vermittelt wurde, dass er sich im Wasser befindet. An dieser Installation wurden insgesamt vier Plätze im Liegen angeboten. Neben diesem Objekt befindet sich schließlich auch die bereits beschriebene Flugmaschine. Die Ausstellung in Köln wurde mit einer zusätzlichen Veranstaltung in Form eines Symposiums am 8. Juni 1996 im Belgischen Haus zum Thema »Glück« ergänzt. Die Vortragenden kamen neben dem künstlerischphilosophischen Fachbereich auch aus der Wirtschaft und Soziologie, so dass dieses Thema von möglichst unterschiedlichen Ansätzen zur Diskussion gestellt werden konnte.185 Die nach dem Abschluss des Symposiums erschienene Herausgeberschrift: »Glück. Ein Symposium«186 umfasste neben den Aufsätzen der Referenten noch zwei weitere Textbeiträge von Alfred Bellebaum187 und Martin Seel zum Thema Glück. Die Aufsätze der beiden Autoren sollen nach Angaben der Herausgeber im Vorwort eine inhaltliche Ergänzung zu dem bieten, was die Referenten zum Thema Glück bereits beigetragen haben.188 Norbert Bolz, einer der Referenten des Symposiums und Autor versteht den Begriff des Glücks als einen »Umbrella-Term«189
184 Vgl. ebd., S. 33. Tatsächlich waren die Pillen nach Becker aus Traubenzucker. 185 Eingeladen zum Thema Glück zu sprechen, waren Norbert Bolz, Dieter Thomä, Franz-Theo Gottwald, Heike-Melba Fendel, Luc Steels, Detlef B. Linke und Shere Hite. (vgl. Grosz, Andreas / Höller, Carsten / Kittelmann, Udo (Hg.): Glück. Ein Symposium, Ostfildern-Ruit 1997). 186 Vgl. Grosz, Andreas / Höller, Carsten / Kittelmann, Udo (Hg.): Glück. Ein Symposium, Ostfildern-Ruit 1997. 187 Vgl. ebd., S. 85. Alfred Bellebaum ist Soziologe und Gründer sowie Leiter des Instituts für Glücksforschung (von 1990-2006). 188 Vgl. Grosz, Andreas / Höller, Carsten / Kittelmann, Udo: »Vorwort«, in: Grosz, Andreas / Höller, Carsten / Kittelmann, Udo (Hg.), Glück. Ein Symposium, Ostfildern-Ruit 1997, S. 8. 189 Bolz, Norbert: »Zum Glück gibt es kein Glück«, in: Grosz, Andreas / Höller, Carsten / Kittelmann, Udo (Hg.): Glück. Ein Symposium, Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-18.
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und einen »Black-Box-Begriff«190, der die durchaus unterschiedlichen Aspekte des Glücks zu umfassen und deren unterschiedliche Wirkung auf das Individuum zu erklären versuchte.191 Er unternimmt mit der linguistischen Konnotation des schwer fassbaren Begriffs Glück als »Umbrella-Term« den Versuch, diesen zumindest als Terminus innerhalb einer Wortgruppe zu verorten. Auf diese Weise hat Norbert Bolz gleichzeitig den Ansatz der Ausstellung auf den Punkt gebracht, nämlich über verschiedene Stationen und den unterschiedlichen individuellen Prädispositionen der Teilnehmer bezüglich des Glücksempfindens einen Raum zu schaffen.192 Mit diesem Parcours des Glücks wurde durch den Kölnischen Kunstverein ein Spektrum geschaffen, in dem es möglich zu sein scheint, der Vielfältigkeit eines individuell geprägten Glücksgefühls annähernd gerecht werden zu können. Höller behauptet in diesem Zusammenhang provokativ, dass Glück am Ende immer ein »mechanistischer Vorgang«193 sei. Tatsächlich versuchte Höller mit der Flugmaschine dem Teilnehmenden die Möglichkeit einer solchen mechanistischen Evokation des Glücks zu eröffnen. Allerdings muss dagegengehalten werden, dass dieser Flug zwar mit einem Glücksgefühl einhergehen kann, aber, und das belegen sowohl Symposium als auch Ausstellung, dass das Glück nicht als eine Formel auf jeden Teilnehmer übertragbar ist.194 So ist nicht jedem, der sich in diese Flugapparatur hineinbegab, ein positives Gefühl gegeben worden. Höhenangst, die ungewohnte Perspektive oder die Beengung in dieser Apparatur erschwerten es sogar, dass ein positives Gefühl wie Glück hätte aufkommen können. Die wissenschaftliche Glücksforschung Die Glücksforschung der Wissenschaft umfasst unterschiedliche Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Philosophie, Physiologie und neuerdings auch die Ökonomie, die den Aspekt als positive Arbeitsmotivation beim
190 Ebd., S. 11. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. ebd. 193 Vgl. Albig, Jörg-Uwe: »Gewitzter Mechaniker des Glücks«, in: Art. Das Kunstmagazin 11 (1999), S. 44-54, hier S. 48. 194 Vgl. A. Grosz / C. Höller / U. Kittelmann: »Vorwort«, S. 8. Im Vorwort wird das Ergebnis der Tagung, dass über das Glück keine konkreten Aussagen gemacht werden können als verfehlt bezeichnet.
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Individuum erforscht.195 Dieser großen Bandbreite an Herangehensweisen in der Glücksforschung hat das Symposium Glück mit der Einladung von Referenten aus den unterschiedlichen Fachbereichen dementsprechend versucht, gerecht zu werden. Aufgrund der Tatsache, dass der Untersuchungsgegenstand, nämlich das Glück, das im Subjekt als Gefühl verankert ist, ist es auch nach Ruut Veenhofen kein leicht zu erforschender Gegenstand.196 Das zeigt sich bereits in der empirischen Erfassung von Daten, die auf Befragungen zum Glücksgefühl bei Testpersonen basieren. Nach Veenhoven sind diese ungeeignet, denn das beobachtete Glücksgefühl bei der Testperson ist immer auch von der Gemütsverfassung des Beobachters oder Befragers abhängig.197 Das bedeutet, das Glück kann auch von demjenigen, der fragt nur subjektiv übermittelt werden. Es wird zwar versucht, über spezielle Fragestellungen diese Problematik zu umgehen, aber es bleibt immer die Ungewissheit der subjektiven Einschätzung des Befragers in der Auswertung. Das führt zu der Feststellung, dass die Beobachtung des Glücksgefühls am authentischsten von der befragten Person selbst eingeschätzt werden kann.198 Erst die Auswertung eines Gefühls über andere führt zu Fehleinschätzungen. Dieser Tatsache wird der Versuch Höllers gerecht, indem diese extern angesiedelte Instanz, nämlich der Befrager, ausgeklammert wird.
195 Vgl. Veenhoven, Ruut: Conditions of Happiness (Diss. Rotterdam 1984), Dordrecht / Boston / Lancaster 1989, S. 22 ff. 196 Vgl. ebd. 197 Vgl. ebd. S. 39-63. 198 Aktuell wird in der Neurowissenschaft nach Lösungen gesucht, direkte Einblicke in die Gefühlswelt und dementsprechend in den Gehirnaktivitäten von Testpersonen zu erhalten. Insbesondere für den Bereich des Marketing, das sogenannte Neuromarketing ist eine derartige Forschungsmethode reizvoll, da sie möglich macht, die mit den Aktivitäten des Gehirns verbundene Gefühlswelten über beispielsweise das MRT (Magnetresonanztomographie) zu visualisieren (vgl. Hanser, Peter: Wie die Hirnforschung das Marketing beeinflusst [Interview], in: absatzwirtschaft, http://www.absatzwirtschaft.de/wie-die-hirn forschung-das-marketing-beeinflusst-43145/ vom 2.06.2016). Die Gefühlswelt der Testperson beziehungswese des Kunden kann in dieser Weise visualisiert werden.
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Die künstlerische Glücksforschung Indem Höller feststellt, dass Glück ein »mechanischer Vorgang« ist, geht er davon aus, dass ein Glücksgefühl, das im Kopf des Individuums stattfindet, über Stimulanzen ausgelöst werden können.199 Diese Annahme steht für die Reihe von Experimenten wie die Flugmaschine im Kölnischen Kunstverein. Juliane Rebentisch sieht deshalb in der Installation einen Ort manifestiert, der auf das Wissen um politische, kulturelle, soziale, aber auch wissenschaftliche Kontexte verweist, die über die Installation in die Kunst geholt werden.200 Rebentisch spricht davon, dass die Installation sich mit nicht-künstlerischen Kontexten »semantisch auflädt«201 , so dass hier die bereits erwähnte Ästhetik des Forschens aus Kapitel II.4.1. Forschen im Laborraum: Die Ästhetik des Forschens zum Tragen kommt. Das Subjekt in dieser Installation erlebt sich nach Rebentisch bezogen auf das Installationsobjekt als performativ,202 so dass gleichzeitig auch ein Ereignisfeld wie im Kapitel II.4.2. Forschen als Ereignisfeld: Forschen in der Kunst beschrieben wurde, konstituiert wird. Höller demonstriert mit der Flugmaschine darüber hinaus eine Kluft zwischen der theoriebasierten Annahme und der Forschungspraxis. Gilt der freie Flug in einem Gleitschirm als eine Form der Freiheit, die das Glücksgefühl hervorruft, so ist der Nachvollzug des Flugs in einer laborähnlichen Umgebung wie die des »White Cube« vollkommen anders situiert, obwohl der Vorgang der gleiche ist. Es ist der Kontext, in dem dieser Flug stattfindet, der es schwierig macht, dieses Glücksgefühl zu empfinden. Sowohl die räumliche Umgebung, die nicht nur den Blick auf ein natürliches Umfeld verweigert, als auch die Unmöglichkeit, als aktiver Proband aus der kreisenden Bewegung ausbrechen zu können, machen das Empfinden des Glücksgefühls sehr herausfordernd, wenn nicht sogar unmöglich. Obwohl der rezipierende Proband die Option besitzt, die Geschwindigkeit des Flugs zu beeinflussen, wie bereits zu Anfang des Kapitels erwähnt, sind weitere Optionen nicht vorhanden. Auf diese Weise können die Faktoren überwiegen, die zu einem Unwohlsein im
199 Vgl. J.-U. Albig: Gewitzter Mechaniker des Glücks, S. 48. 200 Vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M. 2003, S. 274. 201 Ebd. 202 Vgl. ebd., S. 281.
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Flugapparat führen. Das Gleitschirmgeschirr, das zur Sicherheit dient, kann beengend wirken und die eingeschränkten Möglichkeiten den Flug unspektakulär werden lassen. Darüber hinaus kommen noch die persönlichen Einstellungen gegenüber einem Flug zum Tragen. Es gibt Menschen, die Höhen- und Flugangst haben, aber auch diejenigen, die sich gehemmt fühlen, wenn sie, in einer Schlange anstehend, darauf warten, in die Flugmaschine eingesetzt zu werden, um über allen Köpfen der Besucher zu schweben und von diesen womöglich angestarrt zu werden. Der Theorie nach ist der Mensch glücklich, wenn er fliegen kann, aber in der Praxis wird er durch kontextuelle und technische Umstände möglicherweise nicht das Glücksgefühl finden, was der Titel der Ausstellung verheißt – oder vielleicht doch? Der Delfin, der sich im Ausstellungsraum befand löste beispielsweise bei einem der Rezipienten einen tiefen Schlaf ohne Glücksgefühl aus.203 Bei einigen Besuchern führte der Massagestuhl sogar zu Schmerzen statt die körperliche Entspannung zu bringen, die mit einem Gefühl des Glücks hätte einhergehen können.204 An dieser Stelle bleibt der Versuch ohne Ergebnis, denn nur der rezipierende Proband kann die bewertende Instanz für sich selbst sein. Die Flugmaschine ist im Zusammenhang mit der Ausstellung Glück ein Experiment, das unter dem bestehenden Titel eine spezifizierte Funktion erhält. Die Flugmaschine kann grundsätzlich auch als autonomes Kunstwerk bestehen, ohne semantisch einen expliziten Bezug auf ein passgenaues Konzept einer Ausstellung wie Glück nehmen zu müssen, in die sie einmal gestellt wurde. Das belegt auch die vielfach erfolgte unterschiedliche Kontextualisierung der Flugmaschine nach 1996,205 die dazu führt, dass mehrere Aspekte wie Glück, Fliegen und Performancekunst mit der gleichen Installation erfahrbar gemacht werden können. Hier erfolgt die von Rebentisch so bezeichnete »semantische Aufladung« der Versuchsapparatur durch den rezipierenden Probanden und wird demzufolge zu einem Instrument unterschiedlicher Erkundungen. Der Titel Glück der Ausstellung
203 Vgl. J.-U. Albig: Gewitzter Mechaniker des Glücks, S. 50. 204 Vgl. ebd. 205 Unter anderem wurde die Flugmaschine ausgestellt: Der Traum vom Fliegen – The Art of Flying, Haus der Welt der Kulturen in Berlin 2011; A kind of magic, Kunstmuseum Luzern 2005; I promise it’s political – Performativität in der Kunst, Museum Ludwig Köln 2002.
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im Kölnischen Kunstverein war dann auch eine direkte Einflussnahme auf das, was der rezipierende Proband erleben soll. Der Besucher begibt sich mit einer konkreten Erwartungshaltung in die Ausstellung, nämlich, dass hier Glück erlebt werden kann. Es stellte sich dann heraus, dass gewisse Glücksfaktoren zwar bekannt waren, diese widersetzten sich allerdings einer allgemeingültigen Regelformulierung, wie dies in der Ausstellung versucht wurde. Aus diesem Grund ist der Erfolg im Experiment Glück für jeden rezipierenden Probanden zu erzeugen relativ gering. Wird dies wie bei Höller versucht, so kommt die Ironie einer Praxis zum Tragen, die versucht, ein auf das Subjekt basiertes Gefühl zu verallgemeinern.206 Das Ergebnis der Erkundung von Höllers Versuchsapparatur ist dementsprechend als ein partikularistisches Verfahren, das heißt im Zusammenhang mit der Flugmaschine den Einzelfall betreffend, zu bezeichnen. Es erinnert an die Idee der Pataphysik, die im Kapitel II.2.3. Die künstlerische Wissenschaft in der Moderne beschrieben wurde. Diese Charakterisierung der künstlerischen Forschung, die, wie es Ferentschik für die Pataphysik beschrieben hat, eine Wissenschaft des Besonderen ist und sich einer Verallgemeinerung, wie auch am Beispiel der Flugmaschine deutlich geworden ist, entzieht, ist auch ein Merkmal dieser künstlerischen Forschung.207 Höller überträgt Vorgehensweisen aus der wissenschaftlichen Forschungspraxis auf seine künstlerische »Glücksforschung«. Dementsprechend initiiert er im Zusammenhang mit der Ausstellung im Kölnischen Kunstverein ein an wissenschaftlichen Standards ausgerichtetes Symposium über das Glück. Die Publikation als das Ergebnis dieser Veranstaltung ist ebenfalls eine Aneignung von Wissenschaftlichkeit wie die differenzierte und disziplinübergreifende Betrachtung des Untersuchungsgegenstands durch die Referenten. Carsten Höller demonstriert uns auf der einen Seite
206 Diese Ironie spiegelt sich auch in der Formulierung von Grosz, Höller und Kittelmann wider, der im Vorwort der Herausgeberschrift zu folgendem Ergebnis kommt, nämlich selber zu erfahren, was Glück heißt: »Diese Tagung hat gezeigt, dass das Glück in dem Bereich (oder den Bereichen) gesucht werden muss, die sich in dem Integral aus dem unspezifischen Sein des Glücksbegriffs und der spezifischen Glücksemotion ansiedeln, aber als Ort kaum erschlossen werden kann. Dieses zu denken und zu erfahren war wohl das Beste an dieser Tagung.« (vgl. A. Grosz / C. Höller / U. Kittelmann: Vorwort, S. 8) 207 Vgl. K. Ferentschik: Pataphysik, S. 62.
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eine Forschung die ein Ereignisfeld konstituiert und auf der anderen Seite die Ästhetik des Forschens präsentiert ohne einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben. Ganz im Gegenteil betont Höller in einem Interview, dass seine Forschung am Glück keine Wissenschaft sei.208 Das Thema der Nicht-Wissenschaftlichkeit, die ein forschendes Vorgehen im Sinne der Erkundung nicht ausschließt, wird im nun nachfolgenden Kapitel weiter ausgeführt. Hierzu soll neben Höllers Überlegungen zur Kunst beziehungsweise zur künstlerischen Forschung auch die von Bruce Nauman hinzugezogen werden. Letzterer inspirierte, wie bereits erwähnt Höller für seine Versuchsapparaturen wie die Korridore, aber auch seine Flugmaschine. Beide Künstler äußern sich über Naturwissenschaft und Forschung, aber auch Kunst und Forschung von ihrem jeweiligen spezifischen Standpunkt aus. Diese Standpunkte, die auch auf ihre jeweilige Biografie zurückzuführen ist, werden im Folgenden vorgestellt. 2.4 Der irritierende Moment im Erfahrungsraum »Die Grenzen der Naturwissenschaft liegen ja gerade darin, dass sich diese Fragen nur aus einem bestimmten Wertesystem heraus stellen und beantworten lassen und dass sie nur in diesem System Gültigkeit haben. Alles andere, z.B. die persönliche Erfahrung – die eine viel größere Bedeutung hat und die häufig die Motivation auch für die Wissenschaftler darstellt etwas zu tun oder zu lassen – spielt dabei gar keine 209
Rolle.«
Aus der Position des habilitierten und ehemals forschenden Biologen, der eine Professur an der Kieler Universität innehatte,210 kritisiert hiermit der Künstler Höller die naturwissenschaftliche Forschung. Als jemand, der die naturwissenschaftlichen Methoden verinnerlicht haben dürfte, plädiert er dafür, dass der Intuition oder der »persönliche[n] Erfahrung«211 des Forschenden mehr Raum gegeben werden muss, als dies in der Naturwissenschaft möglich ist. Es existiert ein Paradox in der Wissenschaft, das bereits
208 Vgl. S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 405 f. 209 Ebd., S. 406 f. 210 Carsten Höller, Webseite des Künstlers über die Galerie Air de Paris, http://www.airdeparis.com/artists/carsten-holler/ 211 S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 406f.
218 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
im Zusammenhang mit der Entdeckung des Penicillins im Kapitel II.2.5. Experimentalsysteme in Wissenschaft und Kunst erwähnt wurde: Die Entdeckung wird als subjektiver und von der Persönlichkeit des Forschers abhängiger Prozess aus der Forschung ausgeschlossen. Das forschende Subjekt ist allerdings, so die Aussage von Höller, ein untrennbarer Bestandteil des Prozesses, weil es nicht ausgeschlossen werden kann, wie Olaf Breidbach in seiner Untersuchung herausgestellt hat.212 Höller hat die Forderung die Intuition als ein subjektimmanentes Gefühl aus seinen naturwissenschaftlichen Forschungen auszuschließen als Einschränkung und seine anschließenden künstlerischen Forschungen als Erweiterung empfunden.213 Bruce Nauman erläutert als ehemaliger Mathematiker, dass seine Forschung darauf ausgerichtet sei, seine Kunst zu erweitern.214 Er kommt allerdings zur der Feststellung, »[...], dass die Malerei zu nichts führt, gleichfalls ein Großteil der Bildhauerei. Kunst muss aber einen Weg beschreiben, irgendwohin führen.«215 Dies wiederum eröffnet Nauman eine grundsätzliche Fragestellung bezüglich seiner Kunst: »Kunst ist ein Instrument, mit dem man sich eine Aktivität des Erforschens aneignen kann. Ich weiß nicht, wie sich das zur Welt der Kunst in Beziehung setzen lässt. Meine Haltung kommt daher, dass ich ein Künstler bin, nicht Wissenschaftler. Das ist eine andere Form des Forschens. Ich fing ein Studium als Mathematiker an, bin aber dann keiner geworden. Dennoch gab es eine bestimmte Denkweise in der Mathematik, die sich bei mir auf die Kunst übertrug. Diese Aktivität des Erforschens ist notwendig.«216
212 Vgl. O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 12 und Kapitel II.2.5. Experimentalsysteme in Kunst und Wissenschaft. 213 S. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft, S. 406 f. 214 Vgl. Wallace, Ian / Keziere, Russel: »Kunst, die eigentliche Tätigkeit«, in: Christine Hoffmann (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967-1988, Amsterdam 1996, S. 102-117, hier S. 107. 215 Sciarra, Lorraine: »Von der Malerei zur Skulptur«, in: Hoffmann, Christine (Hg.), Bruce Nauman. Interviews 1967-1988, Amsterdam 1996, S. 66-87, hier S. 86. 216 I. Wallace / R. Keziere: Kunst die eigentliche Tätigkeit, S. 103.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 219
Das Studium der Mathematik, das heißt das Interesse an der Logik und abstrakten Strukturen, die einem rationalen Prinzip folgen, hat seiner Ansicht nach auch einen spürbaren Einfluss auf sein künstlerisches Konzept gehabt. Anders als beispielsweise Künstler wie Mario Merz217 hat er seine Kunst nicht der Mathematik und ihrer Gesetze unterworfen, sondern diese in seinen Aktionen eingebaut. Es ist der geplante Prozess, der sich in einer konstant bleibenden Installation mit unterschiedlichen rezipierenden Probanden wie eine Gleichung mit Variablen vollzieht. Dieser Prozess unterscheidet sich grundlegend von dem Prozess bei Beuys, der den Partizipienten überlassen hat, sein Konzept von einer internationalen Universität auszuformulieren, indem er Teil des Gestaltungsprozesses ist. Diesem größtenteils auf Intuition basierenden Vorgehen bei Beuys, der damit einen Gegenpol zu der von Rationalität bestimmten Gesellschaft setzen wollte,218 führte Nauman dagegen mit der Mathematik eine auf Systematik, das heißt auf Rationalität basierende Vorgehensweise in die Kunst ein. Das Konzept der performativen Installation wird von ihm als Instrument für ein systematisches und rationales Vorgehen, das von Kraynak in Beziehung zur technokratischen Bewegung gesetzt worden ist, eingesetzt.219 Bruce Nauman stellt schließlich fest, dass seine künstlerische Vorgehensweise einen Bezug zum »Erforschen«220 habe, indem er seine Tätigkeiten strukturiert und sie in einem rationalen Schema geschehen lässt.221 Die-
217 Als Beispiel kann das Bild von Mario Merz mit dem Titel »Fibonacci Tables« (1974-6, 2667 x 3822 mm, Holzkohle, Acrylfarbe auf Leinwand, Tate Gallery of Modern Art London) dienen. Mario Merz erkundet in seiner Kunst die Fibonacci-Zahlenreihe, wobei die Gestaltung des Bildes sich am Muster der Zahlen ausrichtet. Im Mittelpunkt steht für ihn diese Zahlenreihe, die er in seiner Kunst als ein Naturgesetz neu ausformuliert (vgl. Brockhaus, Christoph: »Der Dreieriglu ›8-5-3‹ von Mario Merz im Wilhelm Lehmbruck Museum Dusiburg«, in: Mario Merz. Iglu-Installation »8-5-3« von 1985, Ausst.-Kat., Wilhelm Lehmbruck Museum Dusiburg 1996, Oberhausen 1996, S. 7-15, hier S. 10). 218 Vgl. R. Rappmann: Interview mit Joseph Beuys, S. 94 f. 219 Vgl. J. Kraynak: Dependent Participation, S. 31. 220 I. Wallace / R. Keziere: Kunst die eigentliche Tätigkeit, S. 103. 221 Vgl. ebd.
220 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
ses Schema, das von Elke Bippus auch als System bezeichnet worden ist, 222 geht bei Bruce Nauman in einem rationalen Bewusstsein von der Mathematik und bei Carsten Höller von der Biologie aus. Der nach Bippus so bezeichnete Vorgang, der sich in diesem System vollzieht, kann mehr oder weniger vom Zufall gelenkt sein, das hängt wiederum von der Intention des Künstlers ab, der sowohl unvorhersehbare Prozesse wie bei Signer oder Partizipationsstrategien wie bei Höller einsetzt. Der Antrieb beider Künstler im Kontext der Kunst besteht darin, eine Erweiterung in ihren Forschungen zu erreichen. Die Einlösung dieses Ziels ist, auch darin sind sie gleich, für sie ausschließlich im Kontext der Kunst möglich. Die Einführung der Wissenschaft in die Kunst ist nach Höller die Möglichkeit die Persönlichkeit des Subjekts in der Flugmaschine erforschen zu können. Nauman nutzt die Wissenschaft und insbesondere die Mathematik als logisches und rationales Regelwerk, um seine Forschungen vorantreiben zu können. Allerdings vollzieht er dies mit den Mitteln der Kunst, die auch die im Subjekt veranlagte Intuition beinhaltet und dementsprechend einen größeren Gestaltungsrahmen für den Forschenden möglich macht. Für den Teilnehmenden beziehungsweise den rezipierenden Probanden stellt sich einerseits ein Gefühl der Irritation ein, wenn das Glück trotz der Ankündigung dieser Ausstellung nicht als ein Erlebnis erfolgt. Andererseits wird seiner Erwartungshaltung gegenüber einer Ausstellung mit dem Titel »Glück« über die Ästhetik des Forschens nicht entsprochen, wenn der »White Cube« im Kunstkontext als ein steriler Laborraum analog zur Wissenschaft erscheint, in dem sich die funktionale Versuchsapparatur wie die Flugmaschine befindet. Die Besucher der Ausstellung »Glück« als rezipierende Probanden in Versuchsapparaturen zu schicken, macht Höller zu einem Forscher des Glücks, dessen Vorgehensweise analog zur empirischen Forschung der Wissenschaft zu sehen ist. Er umgeht das von Bellebaum schon 1994 formulierte Problem, dass »[...] Glücksvorstellungen und Glückserlebnisse höchst private Phänomene [...]«223 sind, indem er die Erkenntnis über Glück im Subjekt direkt veranlagt sieht. Die Tatsache wiederum, dass alle vom Subjekt bestimmten Anteile in der naturwissenschaftlichen Forschung nicht beachtet werden, gehört auch zu Höllers Hauptkri-
222 Vgl. E. Bippus, Serielle Verfahren, S. 9. 223 Bellebaum, Alfred: »Einleitung«, in: Bellebaum, Alfred (Hg.), Vom guten Leben: Glücksvorstellungen in Hochkulturen, Berlin 1994, S. 7-16, hier S. 14.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 221
tikpunkt an der für ihn zu sehr systemimmanent operierenden Vorgehensweise der Naturwissenschaft. Dementsprechend wirkt Höller in seinen Aktionen dieser Einschränkung offensiv entgegen, indem er sich die Freiheit nimmt, gerade die persönlichen Erfahrungen der rezipierenden Probanden in den Mittelpunkt seiner performativen Installation zu stellen. Die Aneignung wissenschaftlicher Methoden, wie die empirische Methode über die Versuchsapparatur, führt zu systematischen Vorgehensweisen, die daraus entstandenen Ereignisse werden nicht von Höller, sondern von den rezipierenden Probanden als Erfahrung selbst ausgewertet.224 Diese Auslegungen sind die Ergebnisse rezipierender Subjekte, die in der Installation nach Rebentisch eine »reflexive Konfrontation«225 erfahren haben. Sowohl bei Carsten Höller als auch bei Bruce Nauman ist eine durch die performative Installation hervorgerufene »Theatralität«226, die einen Forschungsraum inszeniert, sichtbar. Im Kontext der Ausstellung Glück wird diese »Theatralität« ergänzt von den Ereignisfeldern, die erzeugt werden von den rezipierenden Probanden, die in den zur Verfügung gestellten Versuchsapparaturen des Künstlerforschers Höller, Ereignisse erzeugen. In dieser Versuchsreihe herrscht ein nach Jennifer Allen so bezeichneter »Anthropozentrismus«227 vor, der durch die Tatsache begründet wird, dass der rezipierende Proband in der Flugmaschine, aufgrund der Beengtheit der Versuchsapparatur sich selbst reflektiert. So stellt Carsten Höller in einem Interview auch die Wichtigkeit des inneren Monologs im Subjekt heraus, den er als »X-logues«228 bezeichnet. Das Subjekt zu untersuchen möchte er dementsprechend im Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens verstanden wissen und sollte seiner Meinung nach auch allgemein den Gegenstand künstlerischer Forschung bilden.229 Höllers performative Installationen sind nicht als reine Wahrnehmungsexperimente zu verstehen, sondern die soge-
224 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 11. 225 J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 281. 226 Allen, Jennifer: »Logic«, in: Logic, hg. von Gagosian Galery, London 2005, S. 1-30, hier S. 14. 227 Ebd. 228 Pontbriand, Chantal: »Carsten Höller. Vertige // Le Kariòs À L’Oeuvre«, in: Parachute. contemporain_contemporary art 121 (2006), S. 38-61, hier S. 60. 229 Vgl. ebd.
222 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
nannte »Black Box« des eigenen Selbst bildet das Ergründungspotential unter Anleitung Höllers. In Carsten Höllers Flugmaschine sind wie bei Roman Signer erneut zwei Aspekte der künstlerischen Forschung erkennbar. Die Ästhetik des Forschens als eine visuelle Aneignung von Wissenschaft wird erreicht über die Inszenierung der Flugmaschine in einem Raum des »White Cubes« als Labor, in dem sich weitere Versuchsapparaturen befinden, die den Eindruck einer Experimentierreihe zum Thema Glück erzeugen. Darüber hinaus bedient sich Höller weiterer forschender Verfahrensweisen aus der Wissenschaft wie die Initiierung eines Symposiums mit einer daran anschließenden Veröffentlichung in Form einer Herausgeberschrift. Das Ereignisfeld ist dementsprechend von Höller vergrößert worden, da nicht mehr nur die Apparatur der Flugmaschine als Experiment mit den entsprechenden Akteuren, die Ereignisse erzeugen, ausgestellt wird, sondern auch das Symposium mit seinen Akteuren in diesem Prozess der Erkundung einbezogen wurde. Das Ereignis als Ergebnis wurde nicht wie bei Signer über Medien wie Film und Fotografie dokumentiert, sondern war die Erfahrung, die individuell vom rezipierenden Probanden in der Installation empfunden und anschließend artikuliert wurde, so dass es auch hier nicht zu eindeutigen, sondern nur zu vielfältigen Auswertungen beim Rezipienten kommen konnte. Das in der Flugmaschine erzeugte Ereignis ist nicht das Ergebnis eines Prozesses, in dem der Zufall bewusst eingeplant wird wie bei Roman Signer, sondern ganz im Gegenteil ist die performative Installation als Versuchsapparatur eng am Körper des Teilnehmenden als kontrollierender Mechanismus ausgerichtet. Das, was bei Nauman eine Gesellschaftskritik beinhaltet, nämlich den Teilnehmenden in eine Installation mit vorprogrammierter Partizipation230 zu schicken, in der dieser nur noch an einem automatisch ablaufenden Bewegungsprogramm teilnimmt, ist bei Höller zu einem Experiment mit einem Forschungsanspruch erweitert worden. Im Mit-
230 Vgl. J. Kraynak: Dependent Participation, S. 31-33. Die Umschreibung die programmierte Partizipation lehnt sich an den von Kraynak verwendeten Ausdruck der »programmed society« an und bringt in dieser Weise zum Ausdruck, dass der Teilnehmende physisch keine Wahlmöglichkeiten hat, sondern diese vom Künstler exakt vorbestimmt sind. Seine Bewegungen laufen nach einem künstlerischen Programm ab.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 223
telpunkt von Höllers performativer Installation steht das Ereignis der Erfahrung des Teilnehmenden, die in eine Irritation mündet. Der Rezipient ist involviert in die Installation, die auch wiederholt erfahrbar gemacht werden kann, indem keine Vorführung stattfindet, sondern er die Aktion in dem vom Künstler strikt vorgegeben Handlungsrahmen durchführt. Daraus resultiert, dass der Künstler nicht nur der »spiritus rector« seines Experiments ist, sondern er wird zu einem Versuchsleiter, der die Kontrolle behält. Allerdings bleibt er weiterhin als Künstler der genius, auch wenn unter anderem wie von Mersch behauptet wird, der Zufall den Künstler als Autor des Werkes verdrängt.231 Dieser ist ganz im Gegenteil daran interessiert, sein Konzept von einem Kunstwerk gegenüber den Teilnehmenden durchzusetzen, wie Rauschenbergs Verbot von Besucheraktivitäten bei Black Market oder die physische Kontrolle von Besucherbeteiligung bei Bruce Naumans Performance Corridor gezeigt haben. Die Wiederholung der Ereignisse, das heißt die Erfahrungen der rezipierenden Probanden unter konstant bleibenden Bedingungen, erzeugt von der Installation der Flugmaschine im künstlerischen Experiment, ist essentieller Bestandteil der performativen Installation. Wie Bippus für serielle Verfahren in der Malerei und Skulptur festgestellt hat, sind die Ereignisse eingebunden in ein Ordnungssystem, wie das der Installation der Flugmaschine.232 Die Aktionen der Teilnehmenden erfolgen dementsprechend nach dem immer gleichen Schema, das von dem Installationsobjekt des Künstlers als Rahmen vorgegeben wird.233 Diese Erfahrung ist trotz des Schematischen ein individuell ausgeprägtes Erlebnis, weil auch das Gefühl wie das Glück nur vom jeweiligen rezipierenden Probanden erlebbar ist. Die Aktionen von Carsten Höller und Roman Signer haben schließlich gemeinsam, dass sie lediglich den Rahmen für das vom Teilnehmenden zu initiierende Ereignis festlegen. Die Aktionen innerhalb dieses Rahmens vollziehen sich über ausgelöste und nicht mehr zu beeinflussende Faktoren, wie die Zündung bei Signer oder die individuellen Reaktionen oder Erfahrungen der Rezipienten, die sich bei Höller in der Installation bewegen. Indem dieser als Arrangeur der Installationen kleine Verschiebungen zum
231 Vgl. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 257. 232 Vgl. E. Bippus, Serielle Verfahren, S. 67 f. (s. dazu auch Kapitel II. 3.2. Die Systematik serieller Verfahrensweisen im Experiment) 233 Vgl. Kapitel II. 3.2. Die Systematik serieller Verfahrensweisen im Experiment.
224 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Gewohnheitsmäßigen in der Wahrnehmung des Menschen unternimmt, ruft er Irritationen beim Rezipienten hervor. Das gleiche gilt für die Irritation gegenüber einem wissenschaftlichen Anspruch, der in den Stationen der Versuchsapparate, aber auch in der Initiierung eines Symposiums angezeigt wird, aber gleichzeitig nach Höllers Angaben gar nicht den Ansprüchen der Wissenschaft standhalten kann. Carsten Höller sieht für sich in seiner Kunst ein offenes Forschungsfeld verwirklicht und beschreibt dieses wie folgt: »[...] it’s functional in a sense that it allows you to experiment and produce experiences, and then it gives you something to talk and think about.«234 Diesen Diskurs, den Höller für sich als Künstler in seiner Arbeit eröffnet sieht, bietet er den Teilnehmenden an, die sowohl fachlich, als auch nicht-fachlich im Ausstellungsraum sowie im Symposium an dem Projekt zur Erkundung des Glücks teilnehmen. Die Öffnung hin zur Öffentlichkeit, die an dem Prozess des Forschens beteiligt wird, zeigt die bewusste Transparenz eines Vorgangs an, der in der Wissenschaft verborgen bleibt.235 Die Ergebnisorientierung der Wissenschaft ohne den Prozess transparent machen zu müssen, wird in der Aktion von Höller und auch von Roman Signer ins Gegenteil verkehrt. Der Aspekt der Partizipation wird auch in der nun folgenden Analyse von Ursula Damms Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost / 51° 13.66 north, 6°46.523 east) von 2005 wieder aufgegriffen werden. Auch hier ist der Teilnehmende ein Proband, der aber nicht wie in der Flugmaschine von Höller hineingelenkt wird, sondern dieser wird vielmehr in der Gruppe aus mehreren Passanten von einer technischen Umgebung registriert und aufgezeichnet. Aus diesem Grund kann bei ihr auch nicht von einer Versuchsapparatur die Rede sein, sondern hier ist eine Versuchsumgebung aufgebaut worden, in der die Teilnahme der Passanten unbeabsichtigt erfolgt. Darüber hinaus handelt es sich um eine digitale Umgebung, die eine erweiterte Erkundung des Akteurs über die Interaktion mit dem Computer möglich machen kann.236 Dies wird im Hinblick auf das künstlerische Experiment als eine methodische Vorgehensweise im Folgenden untersucht werden.
234 Herbert, Martin: »Double act when Carsten Höller met Mrs Prada«, in: Artreview 31 (2009), S. 57-59, hier S. 58. 235 Vgl. Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient 236 Vgl. K. Kwastek: Aesthetics of Interaction in Digital Art, S. 93.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 225
3.
URSULA DAMMS VERSUCHSUMGEBUNG ZEITRAUM/TIMESCAPE (51° 13.66 NORD, 6° 46.523 OST / 51° 13.66 NORTH, 6° 46.523 EAST), 2005
Abbildung 4: Ursula Damm, Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), 2005, Eingangs- und Durchgangsbereich der Kunstsammlung NRW K20 Düsseldorf
Quelle: ©Ursula Damm
Die Versuchsumgebung Zeitraum237 wurde vom 10. September bis 9. Oktober 2005 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf ausgestellt. Die Anlage bezog räumlich den Grabbeplatz, der sich direkt vor der Kunstsammlung befindet, und den Eingangsbereich der Kunstsammlung des K20 ein.238 Dabei diente dieser Platz als Beobachtungs- und Aufzeichnungsfeld, in dem die vorübergehenden Passanten ohne selektierende
237 Im Folgenden wird statt Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost) der gekürzte Titel Zeitraum verwendet. Beide Titel bezeichnen das gleiche Kunstwerk. 238 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de / inoutsite/de/index.html
226 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Vorgaben der Künstlerin per Video-Tracking aufgezeichnet wurden. Im Eingangsbereich des K20 wurden diese Bewegungen der Passanten über eine Projektion in virtuelle Körper, die sich in kontinuierlicher Bewegung befinden, übersetzt. Abbildung 4a: Ursula Damm, Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), 2005, Detail
. Quelle: ©Ursula Damm
Der Betrachter sieht auf der Projektion seine Bewegungen übertragen in ein oder mehrere runde Gebilde, die in ihrer Form an weiche bewegliche Körper erinnern. Diese tauchen auf, vergrößern und teilen sich bis sie schließlich wieder verschwinden. Es ist ein harmonisches Gleiten von mehreren Gebilden, die sich in ständiger Bewegung befinden. Diese virtuellen Körper sind das Ergebnis eines vorgeschalteten arithmetischen Vorgangs, basierend auf den vorher erfolgten Aufzeichnungen der Passanten dieses Platzes. Dabei werden in der Projektion über Markierungen in Form eines Kreuzes die aktuellen Positionen der Passanten auf dem Grabbeplatz aufgezeigt, bevor sie sich in einem der virtuellen Körper in Form von Raumhüllen auflösen. Der aktuelle Standort des Betrachters im Vorraum der Sammlung, der
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 227
in einem Verhältnis zu den Ereignissen in der Projektion gesetzt werden soll, ist als rotes Kreuz gesondert markiert worden. Von diesen Passanten, die als weitere Kreuze in der Projektion erscheinen, sind Verbindungslinien sichtbar, die zu unbestimmten Raumpunkten oder bestehenden Körpern führen. Diese Linien zeigen an, wie die Menschen auf dem Grabbeplatz lokalisiert sind.239 Die Körper im virtuellen Raum sind als visuelle Manifestationen der Dynamiken auf dem Grabbeplatz zu verstehen. Diese Dynamiken der auftauchenden und verschwindenden virtuellen Körper wurden am Rand der Projektion von sich ständig aktualisierenden Informationen zur Projektion begleitet: »ein Raum – in etwa eine geografische Sekunde 32 artifizielle Nervenzellen nehmen Bewegung wahr Anregung der Form [Einblendung aktueller Werte] in Begriff zu vergessen [Einblendung aktueller Werte]«
240
239 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de /inoutsite/de/index.html 240 Damm, Ursula / Kruszynski, Anette: »Die Ästhetik des Denkens. Ein Gespräch zwischen Ursula Damm und Anette Kruszynski am 13. Mai 2005«, in: Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), Ausst.-Kat., K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 2005, Düsseldorf 2005, S. 33-38, hier S. 34.
228 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Abbildung 4b: Ursula Damm, Zeitraum/Timescape (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), 2005, Installationsansicht.
Quelle: ©Ursula Damm
Die technische Realisierung Die Versuchsumgebung Zeitraum bestand aus einer am Gebäude des K20 installierten Kamera, die alle Bewegungen der Passanten in einem Ausschnitt von 25 x 25 Quadratmetern auf dem Grabbeplatz erfasste.241 Neben dieser Kamera befanden sich zwei Infrarotstrahler, die dieses Planquadrat mit den Passanten auch bei schlechten Lichtverhältnissen über die Kamera beobachten ließen. Sie machten es möglich, die Bewegungen der Passanten auf dem Videobild zu jeder Zeit gut erkennbar werden zu lassen.242 Diese Kamera war mit dem Computer in den Räumen des K20 verbunden, der über die eigens dafür entwickelte Software die Bewegungen in arithmeti-
241 Vgl. ebd. 242 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de /inoutsite/de/index.html
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 229
sche Gebilde umrechnete.243 Das Ergebnis wurde über den angeschlossenen Beamer an die Wand im Durchgang des K20 als Projektion sichtbar gemacht. Der Passant, der sich ohne sein Wissen in eine Versuchsumgebung hineinbegab, konnte, ohne die Räume des Museums betreten zu müssen, in direkter Linie im Durchgang des K20 die Bewegungen, die unter anderem von ihm auf dem Grabbeplatz ausgelöst wurden, an der Wand projiziert beobachten.244 Es bestand keine direkte Sichtverbindung zwischen Passant und Projektion, was von der Künstlerin auch bewusst in dieser Weise eingerichtet wurde. Zwischen Erfassung der Daten über Video bis zur Projektion des virtuellen Gebildes an der Wand im Vorraum des K20 waren mehrere Prozesse zwischengeschaltet. Am Anfang dieser Installation wurden die Bewegungen der Passanten über ein Video-Tracking-Programm erfasst, das von der Kunsthochschule für Medien in Köln in Zusammenarbeit mit dem Mars Lab des Fraunhofer Instituts in Bad Augustin entwickelt wurde.245 Technisch erfolgte die Feststellung von Bewegung auf dem Platz, indem das aktuelle Videobild mit einem Videobild verglichen wird, das den leeren Platz zeigt. Das Ergebnis dieses Vergleichs wurde nach sogenannten »Blobs« (Binary Large Object) sortiert.246 Diese binären Datenfelder, die eine Grundlage zur Berechnung der virtuellen Figuren bilden, wurden in ein Grafik- und Soundprogramm eingespeist. Die Passanten absolvierten, individuell und abhängig von ihren Bedürfnissen, ihre Fußwege oder Verweilmomente auf diesem Planquadrat des Grabbeplatzes innerhalb der Versuchsumgebung. Diese aufgezeichnete Datendynamik, die eine Basis für die darauf zu errechnende virtuelle Skulptur dieser Installation bildete, wurde durch die Passanten über ihre unterschiedliche Präsenz auf diesem Platz hervorgerufen, die den Grabbeplatz als urbanen Lebensraum schließlich charakterisieren sollte. Das Verhalten der Menschen auf dem Platz bestimmt auf diese Weise die Dynamik der auf Berechnungen basierenden Gebilde im virtuellen Raum der Projektion.
243 Vgl. U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 19. 244 Vgl. ebd. 245 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de/ inoutsite/de/index.html 246 Vgl. ebd. Die Bezeichnung »Blob« steht für ein binäres Objekt, das aus Bildund Audiodateien besteht.
230 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Dementsprechend wurden die Merkmale des Ortes als Ergebnis der Bewegungen auf dem Platz von einem oder mehreren fließenden Gebilden als Projektion präsentiert, die von Ursula Damm auch als »Körper«247 bezeichnet werden. In der Übersetzung der realen Bewegungen in diesem Planquadrat in ein vom Computer animiertes Gebilde wurden auch die verschiedenartigen Bewegungen der Passanten berücksichtigt: ihre unterschiedlichen Schrittfrequenzen, ihre Verweildauer und schließlich ihre Präsenz auf diesem Platz. Die Umsetzung dieser Bewegungen in die computeranimierte Simulation basierte auf die Form der Isofläche.248 Hierbei wurden die Spuren, die Passanten beim Betreten des Platzes bildeten, in der Art einer Landkarte, dem sogenannten »Mapping«249, festgehalten. Die Isofläche veränderte sich entsprechend der individuellen Gehgeschwindigkeiten und der unterschiedlichen Präsenzphasen der Passanten vor Ort. Zur Darstellung des virtuellen Gebildes im projizierten Raum wurde schließlich ein neuronales Netz verwendet. Ursula Damm hatte sich bewusst für das neuronale Netz der Kohonenkarte entschieden, da diese für ein System steht, das über Selbstorganisation lernt.250 Der Lernvorgang erfolgt hierbei über Beziehungen zwischen den benachbarten Neuronen. Die besondere Eigenschaft der Kohonenkarte besteht darin, dass sie keine Zielvorgabe hat und nicht auf hierarchischen Systemen basiert.251 Die Künstlerin hat sich demzufolge für eine Offenheit entscheiden, die aus der Eigendynamik dieses selbstlernenden Systems resultiert. Das bedeutet, dass die virtuellen Bewegungen der Körper in der Projektion weder für den Rezipienten noch für die Künstlerin vorhersehbar waren.252 Es wurde eine Netzstruktur, die SOM (Kohonenkarte), eine sogenannte Self-Organising Map, gebildet, die das, was auf dem Platz war, in virtuelle Gebilde übersetzte. Diese bewegten sich innerhalb einer Netzstruktur, die den Platz repräsentiert. Die Passanten des Grabbeplatzes wurden, wie be-
247 U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 19. 248 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de /inoutsite/de/index.html 249 U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 19. 250 Vgl. ebd., S. 20. 251 Vgl. Ebd. 252 Vgl. Ebd.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 231
reits beschrieben, über das Video-Tracking-Programm in ihren unterschiedlichen Aktionen, die bestimmt waren durch Schrittfrequenz, Richtung, Verweildauer und Häufigkeit der Anwesenheit, erfasst. Diese Impulse nährten sozusagen die Knoten der SOM, die Spuren in diesem Raum zurückließen. Auf diese Weise erhält die flache Trackingfläche eine zusätzliche Dimension. Die Knoten der SOM werden dabei nicht als einfache Punkte im Raum wiedergegeben, sondern auch ihr Verhältnis zueinander wurde visualisiert. Dies erfolgte über eine gedachte Potentialfunktion in der Umgebung eines jeden Knotens. Diese Funktion wurde als Fläche im Raum dargestellt, die der Spur eines jeden Knotens folgt und ihre Gestalt der aktuellen Rolle in der SOM angepasst hat. Diese Flächen waren die bereits erwähnten Isoflächen. Allgemein werden die Isoflächen genutzt, um die Homogenität von Energiezuständen innerhalb eines Kontinuums darzustellen.253 In der Installation Zeitraum waren dies die Potentialzustände. Alle auf einer Fläche liegenden Punkte zeigten dann einen gleichwertigen Zustand an. Diese Potentialfunktionen, eine pro Knoten, konnten sich überlappen oder auch aus dem Weg gehen, sie fügten sich zusammen oder löschten sich gegenseitig aus.254 Diese Ereignisse als Projektion machten Flächen sichtbar, die sich zueinander verhielten, indem sie sich verschmolzen, voneinander abglitten oder in kleinere Einheiten zerfielen. Die Summe aller einzelnen Potentiale und damit der virtuellen Skulptur, der von Damm bezeichnete »Körper«255, erschien in der Projektion dann als glattes, löchriges oder auch kompaktes Gebilde. Die Isoflächen hatten die Funktion, Gebiete, die viel begangen und genutzt werden, von den Bereichen mit weniger frequentierter Nutzung zu unterscheiden. Auswölbungen markierten die häufige Anwesenheit von Personen und Löcher die Abwesenheit. Die Dynamik der Isoflächen folgte der Dynamik der Ansammlungen von Menschen, die, wenn sie beispielsweise eine gewisse Dichte erreicht hatten, umkippten und sich wieder auflösten, um zu große Enge zu vermeiden.256
253 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de/ inoutsite/de/index.html 254 Vgl. ebd. 255 U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 19. 256 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de/ inoutsite/de/index.html
232 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Die SOM war zusätzlich auch ein Speicher individueller Zeitspuren. Indem die Spur des Passanten sich nicht sofort nach Verlassen dieses Aufzeichnungsquadrats in der Projektion auflöste, blieb sie weiterhin Teil des virtuellen Körpers. Diese Raumkörper lösten die Zeit im virtuellen Raum auf, denn auch Wege kreuzen sich hier, die sich ursprünglich zeitlich versetzt ereignet hatten. Auf diese Weise war die SOM ein nach Ursula Damm bezeichneter »Speicher«257 individuell hinterlassener Zeiten, die den Grabbeplatz in Form eines virtuellen Körpers präsentiert.258 3.1 Das Experiment: Die digitale Installation als Versuchsumgebung Die Versuchsumgebung Zeitraum bestand insgesamt aus der statischtechnischen Umgebung und den darin agierenden Passanten. Dies lässt zunächst darauf schließen, dass es sich hier ebenfalls um eine performative Installation handelt, die von Nollert als eine Verbindung aus Installationsobjekt und der Performanz des Teilnehmenden definiert worden ist.259 Allerdings, und darin unterscheidet sich dieser Versuch von der performativen Installation Carsten Höllers, wurde der Passant in Zeitraum nicht von einer für ihn sichtbaren Installation aufgefordert mit ihr in eine Handlung zu treten, da sie hier zum Zeitpunkt der Performativität des Passanten nicht in Erscheinung trat. Die technische Umgebung beziehungsweise die Installation kann die Aktion nicht bedingen, sondern sie besitzt lediglich die Funktion, die Bewegungen der Passanten auf diesem Platz aufzuzeichnen. Gleichzeitig hat diese Aufzeichnung der Bewegungsabläufe zur Folge, dass dieser Versuch nicht als interaktive Installation aufgefasst werden kann, obwohl die Voraussetzung hierfür, nämlich die digitale Umgebung gegeben ist. Die Technik ist allerdings so angelegt, dass die Performativität der Akteure aufgezeichnet wird und nicht interagierend zwischen Mensch und Maschine angelegt ist. Das von Söke Dinkla so bezeichnete »Regelsystem«260 der interaktiven Kunst entfällt in dieser Versuchsumgebung, das
257 U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 28. 258 Vgl. ebd. 259 Vgl. A. Nollert: Performative Installation, S. 8. 260 Dinkla, Söke: Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute (phil. Diss. Hamburg 1995), Ostfildern 1997, S. 11.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 233
heißt, nicht nur die für diese Kunst charakteristische »semantische Leere«261, die erst mit dem Nutzer aktuell gefüllt wird, sondern auch das konzeptionelle Gerüst für die Handlung dieser Akteure.262 Die Passanten werden lediglich beobachtet und über das Video-Tracking-System innerhalb eines festgelegten Feldes aufgezeichnet. Dieser Unterschied soll an einem Beispiel von Christa Sommerers und Laurent Mignonneaus Interactive Plant Growing von 1992263 gezeigt werden, das sich in der ständigen Sammlung des Zentrums für Kultur- und Medientechnologie in Karlsruhe befindet.264 In dieser interaktiven Installation werden dem Rezipienten Pflanzen zur Verfügung gestellt, die er berühren kann. Korrespondierend zu seinen Berührungen entsteht auf dem Bildschirm ihm gegenüber ein Geflecht aus virtuellen Pflanzen.265 In Echtzeit kann der teilnehmende Rezipient über die vor ihm befindlichen Pflanzen die virtuellen Gewächse auf dem Bildschirm im Prozess ihrer Entstehung und ihres Wachstums auf dem Bildschirm über variierende Berührungen beeinflussen. Er wird zu einem Teil der Installation, indem er mit einem speziell für dieses Projekt konzipierten Programm266 interagieren kann. Die so entstandenen Visualisierungen wie Farne, Moose, Bäume und Kletterpflanzen sind das Ergebnis der unterschiedlichen Berührungsintensitäten von Seiten des Teilnehmenden.267 Nach Rudolf Frieling macht dieser Pro-
261 Ebd. 262 Vgl. ebd. 263 Christa Sommerer & Laurent Mignonneau, Interactive Plant Growing 1992, ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) Karlsruhe, http://on1. zkm.de/zkm/stories/storyreader$612,25.06.2017http://on1.zkm.de/zkm/stories/ storyreader$612 264 Christa Sommerer und Laurent Mignonneau: The Interactive Plant Growing, 1993, Five pedestals, five modified plant pots with live plants as interfaces, computer (SGI Indigo II Maximum Impact, operating system: IRIX, custom software), custom-made electronics, five spotlights, projector, plant lamp (optional), Zentrum für Kunst- und Medientechnologie Karlsruhe. 265 Vgl. Christa Sommerer und Laurent Mignnoneau, Webseite der Künstler, Interactive Plant Growing / Concept, http://www.interface.ufg.ac.at/christalaurent/WORKS/FRAMES/FrameSet.html 266
Vgl. ebd.
267 Vgl. ebd.
234 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
zess der Erkundung das künstlerische Konzept für den Teilnehmenden erfahrbar und ist aus diesem Grund ein Merkmal interaktiver Kunst.268 Im Beispiel von Interactive Plant Growing vollzieht sich dementsprechend eine Beziehung zwischen Computer beziehungsweise dem Programm und dem Anwender über die Pflanzen. In Zeitraum ist diese mediale Verbindung zwischen dem Passanten und dem Programm nicht vorhanden, so dass es sich hier nicht um eine interaktive Installation handelt, sondern vielmehr um eine digitale Installation. 3.2 Das Ereignis zwischen Erfassung und Prozess In der Versuchsumgebung von Zeitraum war noch ein selbständig lernendes und auf diese Weise sich eigenständig organisierendes System eines neuronalen Netzes269 von der Künstlerin implementiert worden. Dieser Prozess verlief unabhängig von künstlerischen Entscheidungen als ein geschlossenes System und entzieht sich dementsprechend der gestalterischen Entscheidung der Künstlerin. Die Bezeichnung des Kohonennetzes für dieses System leitet sich von dessen ursprünglichem Entwickler, dem finnischen Ingenieur Teuvo Kohonen, ab.270 Das Kohonennetz gehört zu den »kompetitiven Netzen«271, das bedeutet, dass der Output oder das Ergebnis nicht festgelegt werden kann. Als selbstlernendes Netz agiert es ohne externe Anweisung oder einem Lehrer, so dass es sich eigenständig über ein Lernverfahren organisiert. Der Vorteil des Kohonennetzes zu anderen Netzen liegt in der »biologischen Plausibilität«272, da dieses System ohne externen Anleiter operiert, was dem eigenständigen Problemlösungsvorgang eines Menschen entspricht.273
268 Vgl. Frieling, Rudolf: »Interaktivität«, in: Hubertus Butin (Hg.): DuMonts Begrifflexikon zur zeitgenössischen Kunst, überarb. Neuauflage, Köln 2006, S. 134-138. 269 Vgl. Rey, Günter Daniel / Wender, Karl F.: Neuronale Netze. Eine Einführung in die Grundlagen, Anwendungen und Datenauswertung, Bern 2008, S. 78. 270 Vgl. ebd. 271 Ebd. 272 Ebd. 273 Vgl. ebd.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 235
Dieses selbstlernende System ohne Hierarchien erschuf innerhalb der computergenerierten Umgebung über den Daten-Input274 ein Gebilde, das nicht die identische Dynamik der Bewegungen auf dem Platz wiedergibt, sondern diese dem Betrachter über die Denkleistung des Systems verfremdet vorführte. Was genau von dem neuronalen Netz als visuelles Ergebnis produziert wurde, war dann letztlich eine selbständige Leistung dieses Systems. Das hatte zur Folge, dass weder von der Künstlerin über die Programmierung noch von den Passanten über Bewegungen gezielt gestalterische Schwerpunkte beim visuellen Ergebnis der virtuell dynamischen Körper gesetzt werden konnten.275 Dementsprechend sieht die Künstlerin auch im neuronalen Netz die Möglichkeit gegeben, die Wahrnehmungsweise des Menschen entsprechend des Kohonennetzes zu simulieren.276 Das visuelle Ergebnis, so lautet auch die Vorgabe der Künstlerin, sollte bewusst keine abstrakte Figuration wie bei herkömmlichen virtuellen Präsentationen sein, sondern eine organische Form, die für den Rezipienten angenehm ist.277 Der Betrachter sollte sich von der Figur angesprochen fühlen, obwohl es eine Abstraktion in einem künstlich aufgebauten Raum ist.278 Damms festgelegtes Konzept der organischen Formen in der Projektion wurde angereichert durch die Unvorhersehbarkeit der vom Video-Tracking aufgezeichneten Bewegungen der Passanten und des neuronalen Netzes. Sie nahm sich in dieser digitalen Installation zugunsten von Prozessen, die auf die Dynamiken des Platzes basieren zurück: »Für mich als Künstlerin ist die Anwendung neuronaler Netze sehr spannend, weil sie von mir verlangen, dass ich mein gestalterisches und visuelles Wollen zugunsten
274 Mit dem Begriff Input ist an dieser Stelle die aufgezeichneten Bewegungen der Passanten über das Video-Tracking-System gemeint. Die aufgenommenen Bewegungen wurden in abstrakte Datenfelder, den sogenannten Blobs (Bildund Audiodateien) umgewandelt (vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 19972005, Webseite der Künstlerin, http://www.ursuladamm.de /inoutsite/de/index. html). 275 Vgl. U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 24. 276 Vgl. ebd. S. 20. 277 Vgl. ebd. 278 Vgl. ebd.
236 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
von Prozessen zurücknehme, die mit Hilfe des Kameraauges von sich aus ablaufen.«279
Ursula Damm setzte bewusst auf das für sie Unkontrollierbare des neuronalen Netzes in ihrem Kunstwerk.280 Sie geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie ihre künstlerische Vorgehensweise in Zeitraum nahezu von einem persönlichen Kreativprozess abgekoppelt sieht: »Meinen kreativen Willen nehme ich zugunsten einer Methode und einer von mir entwickelten Strategie zurück.«281 Es ist die Vorgehensweise einer Kunst, die nicht mehr ausschließlich gestalterische Räume erobert, sondern vielmehr methodische Vorgehensweisen herausbildet. Sie handelt als »spiritus rector«, indem sie die Methode vorgibt, aber diese nicht ausgestaltet. Dies wird vielmehr übernommen von den unbekannten Faktoren der Präsenz der Passanten auf dem Platz einerseits und des Verfahrens bei neuronalen Netzen andererseits. In dieser Weise war es ihr und den Rezipienten möglich, den Platz in Form eines Modells in seiner Eigendynamik zu beobachten, um dann zu sehen wie dieser denkt.282 Es handelte sich bei Zeitraum um eine bestimmte Verfahrensweise der Forschung, die in der Wissenschaft nicht in dieser Weise hätte wahrgenommen werden können, denn der Grabbeplatz wurde so visualisiert, als wäre dieser eine denkende Existenz. Diese Einschränkung des Forschungsinteresses durch das Wertesystem der Wissenschaft wurde bereits von dem Wissenschaftler Carsten Höller erwähnt.283 Breidbach spricht in diesem Zusammenhang von einem »Bewertungsgefüge«284 der Wissenschaft. Der von der Wissenschaft vertretene rationale Ansatz kann aus diesem Grund anderweitig orientierte Fragestellungen gar nicht berücksichtigen, weil sie für dieses System nicht existent sind, wie auch bereits im Kapitel II.2.5. Experimentalsysteme in Kunst und Wissenschaft erläutert wurde.
279 Ebd. 280 Vgl. ebd., S. 23. 281 Ebd. S. 23 f. 282 Vgl. Ursula Damm, Origin Symposium III, Vortrag anlässlich der Ars Electronica 2011, am 3.09.2011, http://www.youtube.com/watch?v=V2X9jtB9jfA vom 15.08.2014. 283 Vgl. Kapitel III.2.4. Der irritierende Moment im Erfahrungsraum. 284 O. Breidbach: Bilder des Wissens, S. 11.
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Als Künstlerin setzte sich Damm in Zeitraum nach eigenen Angaben bewusst mit systematischen Verfahren des »Top-Down«285 und des »Bottom-Up«286 für die Beobachtung, Sammlung und Analyse der von ihr gesammelten Daten auseinander. Im Vorgehen des »Top-Down«287, das heißt von oben nach unten, wird die Methode in Form des Installationsobjektes von Damm auf die Rezipienten »über[ge]stülpt«288. Die Rezipienten führten Bewegungen aus, die über das Verfahren des »Top-Down« in eine künstlerische Form gebracht wurde. Unter dem Verfahren des »Bottom-Up«289, das heißt von unten nach oben, wiederum versteht sie die Sammlung der Bewegungsdaten der Passanten auf dem Grabbeplatz, die individuell vollzogen wurden und in dieser Weise in ihrem Konzept auch berücksichtigt wurden. Damm sieht in ihren digitalen Installationen die Kombinationsmöglichkeit dieser beiden Verfahren verwirklicht, so dass dies ein größeres Feld der Erkenntnismöglichkeiten über die Beobachtungen eröffnet.290 Sie will auf der einen Seite den Rezipienten handelnd und nicht ausschließlich passiv-rezipierend wissen, aber auf der anderen Seite wird er lediglich aufgezeichnet statt gestaltend eingebunden zu werden. Als Beispiel für das Verfahren des »Top-Down« erwähnt Damm auch ihre frühen Musterzeichnungen Aerial photos, die zwischen 1993 und 1997291 entstanden sind. Auf die Stadtpläne, die als Satellitenfotos aufgenommen wurden, hat sie Zeichnungen projiziert, die dem Vorgehen einer »Strukturanalyse«292 folgen soll. Die gegebenen urbanen Landschaften der Satellitenfotos bildeten die Grundlage für ihre Erforschung geometrischer Muster. Es war letztlich ein Versuch, dort geometrische Formen zu finden, die wiederum zu einem allgemeinen geometrischen Grundriss in Form einer Musterzeichnung führte.293 Die Stadt und ihre Umgebung über das Sa-
285 U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 34. 286 Ebd. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Ebd. 290 Vgl. ebd. 291 Vgl. Ursula Damm, Aerial Photos (1993-1997), http://www.ursuladamm.de/ aerial-photos-1993-1997 292 U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 34. 293 Vgl. ebd.
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tellitenfoto zu erkunden, dient einer von ihr so bezeichneten »Strukturanalyse«294, die Basis für das »Bottom-Up« Verfahren ist. Dieses analytische Verfahren zur Steuerung von Prozessen wird von der Künstlerin analog zu den Aerial photos auch in Zeitraum angewendet. Das Vorgehen des »Bottom-Up« ist verwirklicht in der ersten Phase der Versuchsumgebung, in der die Präsenzen der Passanten auf dem Grabbeplatz per Video-Tracking erfasst werden. Das von der Künstlerin gewählte System des neuronalen Netzes für die Übersetzung der Daten in Körper der Projektion ist letztlich, auch wenn sie die Ausgestaltung selbstlernenden und selbstorganisierenden Prozessen überlässt, die Entscheidung der Künstlerin als »Top-Down« Verfahren zuzuordnen. Der Erkundungsprozess der Künstlerin in der Versuchsumgebung Zeitraum eignete sich ein rational-analytisches Verfahren an, so dass dieser auch als systematisch bezeichnet werden kann. Gleichzeitig ließ sie das neuronale Netz als einen Prozess in ihrer Installation zu, der sich wiederum ihrer künstlerischen Gestaltung entzog und sich nahezu verselbständigte, so dass der Platz eine von ihr unabhängige Dynamik in Form eines fortlaufenden Prozesses erhielt. Das Ereignis, das sich in dem dynamischen Modell der Projektion visuell manifestierte, wurde gebildet von den Präsenzen der Passanten auf dem Grabbeplatz, die als Daten in das neuronale Netz zur Berechnung der Projektionsmodelle weitergeleitet wurden. Das bedeutet, dass der Rezipient und die Künstlerin die Formen dieser Modelle als Ergebnisse dieses Versuchs nicht vorhersehen konnten und diese sich dementsprechend einem Wissen entzogen. Die Initiierung des Ereignisses geht deshalb auch nicht von den Passanten aus, diese bildeten lediglich die Datenbasis, sondern von dem neuronalen Netz. Dieses lernende und sich im Prozess selbständig weiterentwickelnde System brachte erst die dynamischen Modelle und letztlich den Untersuchungsgegenstand als ein fortlaufender Prozess, der aus dieser Versuchsumgebung entstanden war, hervor. 3.3 Die Forschung am Video-Tracking Die digitale Installation Zeitraum eröffnete daher die Möglichkeit, einen von Menschen belebten urbanen Platz adäquat in ein prozessorientiertes Modell umzusetzen. Die Künstlerin verfolgte hiermit das Ziel den Rezipi-
294 Ebd.
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enten ein Bewusstsein zu schaffen über »[...] die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Projektion von Wissen […]«295 . Sie wollte sehen, wie der Grabbeplatz »denkt«296 und das auch dem Rezipienten so vermittelt wissen.297 Der Passant wurde auf der Basis seiner eigenen Bewegungsabläufe mit den daraus entstandenen visuellen Körpern, die sich in ständiger Bewegung befinden, konfrontiert, die den Grabbeplatz als ein sich selbst organisierendes System präsentieren. Der Rezipient erhielt in der Projektion Informationen über seine eigene Position im Innenraum des Museums in Form einer roten Markierung und über die Standorte weiterer Passanten im Außenraum in Form von grauen Markierungen. Das bedeutet, dass der Betrachter vor der Projektion einerseits die Positionen von sich selbst und der anderen Passanten räumlich einschätzen konnte, die Darstellung aber gleichzeitig auch diese Visualisierung wieder verfremdete. Ein Irritationsmoment, das Ursula Damm dazu nutzen wollte, mit ihrer Umgebung Zeitraum nicht einen Ort wie den Grabbeplatz zu projizieren, sondern den Platz in seiner sich eigenständig entwickelnden Dynamik beobachten zu lassen.298 Die individuelle Positionierung einzelner Passanten stand nicht im Vordergrund dieser Erkundung. Vielmehr sind es die Spuren aller aktuell auf dem Platz befindlichen Passanten, die in dieser Projektion die Modelle und damit einhergehend den Raum bildeten. Die individuelle Aktion trat dementsprechend zugunsten der gesamten Dynamik des Platzes in den Hintergrund.299 Dem Betrachter wurde allerdings seine Position im Gesamtgebilde der virtuellen Struktur über die rote Markierung bewusst gemacht, so dass er nicht die eigene Relevanz zu dieser Projektion verlor. Er war ein Bestandteil des projizierten arithmetischen Körpers im virtuellen Raum, der gleichzeitig in seiner Präsenz als Individuum in diesem Modell aufging.300 Die Bewegungen der Passanten, die sich unbewusst und individuell vollzogen, bildeten in ihrer Gesamtheit mit anderen vorüberziehenden oder verweilenden Besuchern des Grabbeplatzes das Bild der Körper im virtuellen
295 Ebd. S. 24. 296 Ursula Damm, InOutSite-Serie, Konzpet, http://ursuladamm.de/projects/ inter_zeit_de.html#concept 297 Vgl. U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 20. 298 Vgl. ebd., S. 16. 299 Vgl. ebd., S. 19. 300 Vgl. ebd.
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Raum. Der Passant wurde demnach mit seiner Spur auf dem Platz aufgezeichnet, aber im Ergebnis wurde seine Agitation nur zusammen mit der temporären Gemeinschaft der weiteren Passanten auf dem Grabbeplatz betrachtet. Nicht die einzelne Spur war von Bedeutung, sondern die Performanz aller auf dem Platz bewirkte schließlich das errechnete Bild eines dynamischen Körpers.301 Die Erkundung eines urbanen Raumes erfolgte nicht über die individuelle Spur, sondern benötigte viele Passanten beziehungsweise viele individuelle Bewegungen auf diesem Platz, um ihn, was das Ziel von Ursula Damms war, als Körper charakterisieren zu können.302 Der Künstlerin ging es vielmehr um die Beobachtung des »Kollektivverhaltens«303 auf dem Platz Schwarmverhalten in der Aktionskunst Diese Bewegungseigenschaften temporär entstehender und vergehender Kollektive auf diesem Platz sind vergleichbar mit einem in der Natur und unter Verbänden von Tieren vorkommenden Schwarmverhalten. Kai van Eikels hat in seiner Untersuchung zur »Kunst des Kollektiven« diesen von ihm so bezeichneten »Schwarmeffekt«304 beschrieben.305 Er überträgt die von Biologen an Vogel-, Insekten- und Fischschwärmen beobachteten Eigenschaften auf menschliche Kollektive in der Performancekunst.306 Er bezieht sich auf drei grundlegende Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf den »Schwarmeffekt«, die bei Vögeln beobachtet wurden:307 Das einzelne Mitglied bewegt sich im Kollektiv, indem es sich beispielsweise am Nachbarn orientiert, diesem aus dem Weg geht und gleichzeitig den Mittelpunkt des
301 Vgl. ebd. 302 Vgl. ebd., S.24. 303 Ebd., S. 19. 304 Van Eikels, Kai: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, S. 202. 305 Vgl. ebd., S. 201-208. 306 Vgl. ebd., S. 204 307 Vgl. ebd. Van Eikels bezieht sich hierbei auf die Beobachtungen von Craig Reynolds, der als Experte für künstliche Intelligenz unter anderem die BoidsComputersimulation entwickelt hat, in der Objekte miteinander in einem virtuellen Raum interagieren.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 241
eigenen Schwarms sucht.308 Diese direkte Interaktion im Kollektiv führt zu einer Vernetzung, die keiner externen Kontrolle unterliegt, sich aber dennoch im Einklang mit der gesamten Gruppierung bewegt.309 Eine Dynamik, die an dem virtuellen Modell von Zeitraum, das aus dieser Performanz der Passanten auf dem Grabbeplatz entstanden ist, beobachtet werden kann. Die gleichförmigen Bewegungen von entstehenden und vergehenden Körpern in den Projektionen bilden ein Schwarmverhalten im urbanen Raum ab, das von dem neuronalen Netz auf der Basis des Bewegungsverhaltens der Passanten, simuliert worden ist. In einem weiteren Versuch von Damm anlässlich der ars electronica in Linz von 2006310 wurde die Thematik des Schwarmverhaltens wieder von ihr aufgenommen. In double helix swing von 2006311 widmete sie sich der Beobachtung und Aufzeichnung von Mückenschwärmen in ihrem natürlichen Umfeld am Flussufer.312 Die Installation bestand aus einer Kamera, Lautsprecher und einer Steuerungsstation die im Wasser und am Ufer in-
308 Vgl. ebd. 309 Vgl. ebd., 205f. Die Beobachtung, dass eine Gruppe von Tieren sich eigenständig ohne Kontrolle, aber auch ohne Chaos fortbewegen kann, wurde unter anderem auch auf die Politik übertragen. Van Eikels bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Howard Rheingold (»Smart Mobs-The Next Social Revolution«, Cambridge, Mass. 2009). Die demokratischen Instanzen in der Politik können einer sogenannten «Schwarmintelligenz« wie sie von Craig Reynolds in den drei Regeln für seine Simulation formuliert worden ist, weichen. Diese »Schwarmintelligenz« würde eine Dezentralisierung in Form von Inititativen möglich machen, so dass eine Alternative zum vorherrschenden demokratischen System möglich zu sein scheint. 310 Vgl. Stocker, Gerfried / Schöpf, Christine (Hg.): SIMPLICITY – the art of complexity, Ars electronica: Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft in Linz 2006, Ostfildern 2006. 311 Vgl. Ursula Damm, double helix swing, 2006, http://ursuladamm.de/doublehelix-swing-2006/ 312 Ursula Damm: double helix swing, 2006, 1 Linux-PC, 1 Video Projectore, 2 Soundboxes, Camera, Switcher for loudspeakers, 5 loudspeakers. (vgl. Ursula Damm, Webseite der Künstlerin, http://www.ursuladamm.de/projects/inter_ double.html#installation)
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stalliert wurden.313 Die Künstlerin hatte die Tatsache für ihr Projekt genutzt, dass männliche Mücken in Schwärmen in Erscheinung treten, um die weibliche Spezies zur Paarung anzulocken. Diese männlichen Schwärme bilden eine Achse um die herum sie kreisend in zwei Richtungen fliegen. Diese Form erinnert an eine Doppelhelix, so dass hieraus der Titel double helix swing resultiert.314 Die männlichen Mücken wurden mit Geräuschen des Flügelschlags weiblicher Mücken über die dafür vorgesehenen Lautsprecher angezogen, um diese beobachten und filmen zu können. Die Passanten hatten die Möglichkeit sowohl die Kamera auf einen sich bildenden Schwarm auszurichten, als auch die Lautsprecher über die zur Verfügung gestellte Schaltkonsole zu steuern.315 Die gesammelten Daten wurden als Ergebnis in Form einer Gesamtdarstellung zusammengefasst. In double helix swing wird auf diese Weise eine Erkundung des Rezipienten mit den von der Künstlerin zur Verfügung gestellten Materialien eröffnet.316 Auffällig an den in diesem Kapitel vorgestellten digitalen Installationen ist die Tatsache, dass der determinierende Einsatz von rezipierenden Probanden, die physisch in der Flugmaschine festgemacht worden sind, bei Zeitraum nicht vorhanden ist. Ganz im Gegenteil werden in ihren digitalen Installationen die Bewegungen der Passanten im urbanen Raum lediglich beobachtet und aufgezeichnet. Der Teilnehmende erfährt sich in der zweiten Phase der Versuchsumgebung als dynamisches Modell, das heißt, er setzt sich mit der visuellen Projektion seiner im Kollektiv mit anderen Passanten erfolgten Performativität als Rezipient auseinander. Die Künstlerin ließ beobachten und aufzeichnen, eröffnet aber gleichzeitig über die Projektion die Möglichkeit auch als Rezipient zu beobachten, indem sie ein Modell als Moment der Reflexion zur Verfügung stellte.
313 Vgl. Ursula Damm, double helix swing, 2006, http://ursuladamm.de/doublehelix-swing-2006/ 314 Vgl. ebd. 315 Vgl. ebd. 316 Vgl. Ursula Damm, double helix swing, 2006, http://ursuladamm.de/doublehelix-swing-2006/
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Die Forschungsreihe InOutSite Die Installation Zeitraum gehört zu einer Serie von Werken der Künstlerin, die von ihr InOutSite317 benannt wurde und zwischen 1995-2005 entstanden ist. Allen diesen Werken ist ein künstlerisches Forschungsinteresse gemeinsam, das Bewegungsmuster von Menschen in öffentlichen Räumen oder Plätzen zur Grundlage hat.318 Die aufgezeichneten Bewegungen von Passanten oder Besuchern im Außenraum werden über eine Projektion im Innenraum der Ausstellung wiedergegeben, die wiederum von den Besuchern rezipiert werden kann, so dass für alle eine Transparenz in der Forschung der Künstlerin gegeben ist.319 In dieser Serie findet nicht nur eine Erkundung von Seiten der Künstlerin unter thematisch spezifischen Aspekten wie die Untersuchung des Grabbeplatzes statt, sondern auch unter technischen. Die Versuchsumgebung Zeitraum von 2005 bildet das Ende dieser Serie, der bereits mehrere digitale Installationen vorausgegangen sind: memory of space, 2002, reMind, 2000, inoutSiteII, 1999, inoutSiteI, 1998, trace patternII, 1998, trace patternI, 1997 und schließlich trace, 1995.320 In der Installation memory of space von 2002 wird zum Beispiel bereits das grundlegend vorweggenommen, was in Zeitraum technisch weiter ausgebaut worden ist. Das neuronale Netz als Kohonenkarte erreicht hier zwar noch nicht die Komplexität wie in Zeitraum, allerdings sind die grundlegenden Parameter wie Datenerfassung, neuronales Netz und Projektion bereits vorhanden.321 Die Installationen vor der Versuchsumgebung der InOutSite-Serie waren visuell noch von abstrakten Datenbildern in Netzstrukturen geprägt. Die Körper in der Projektion von Zeitraum sind keine geometrischen Formationen, sondern erinnern vielmehr an Damms frühe Installationen, den sogenannten Erdskulptu-
317 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de/ inoutsite/de/index.html 318 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie, Konzpet, http://ursuladamm.de/projects/ inter_zeit_de.html#concept 319 Vgl. ebd. 320 Vgl. ebd. 321 Vgl. Ursula Damm, memory of space, 2002, http://ursuladamm.de/memory-ofspace-2002/
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ren,322 die sie noch während ihres Studiums herstellte.323 Diese Skulpturen sind in ihrer nahezu fragmentarischen Darbietung des nur teilweise von Jute und Erde bedeckten Drahtgestells bereits Prototypen der Körper in Zeitraum.324 Es sind lebensgroße, weich konturierte Formen aus einem Drahtgestell als Gerüst gefertigt, über das teilweise eine Hülle gelegt wurde. In ihrer Form widersetzten sie sich jeglicher Geometrie und erschienen auf den ersten Blick als homogene Formungen, die sich gegenüber dem Umraum schlossen und öffneten. Die Versuchsumgebung Zeitraum bildet letztlich eine konsequente Umsetzung von Ursula Damms Konzept einer Installation, die den Außen- und Innenraum über die Bewegungen des Individuums vermitteln kann. Die homogene Form der virtuellen Körper in der Installation Zeitraum ist ein Rückgriff auf die Topologie der Erdskulpturen, die in der Projektion wiedergegeben sind. 3.3.1 Interdisziplinäre Erkundung Die digitale Installation Zeitraum von Ursula Damm ist das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit dem damaligen Mars (media arts research studies) Lab des Fraunhofer Instituts, das unter anderem die Webseite netzspannung.org, eine der ersten Internet-Plattformen für Medienkunst, entwickelt hat.325 Das Mars Lab, das 1997 gegründet wurde, verstand sich selbst als ein experimentelles Forschungslabor, das in interdisziplinären Teams von Architekten, Künstlern, Gestaltern, Informatikern sowie Kunstund Medienwissenschaftlern Ideen für die Zukunft entwickelte.326 Diese Abteilung des Fraunhofer Instituts, die von den Künstlern und Wissen-
322 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, http://www.ursuladamm.de /inoutsite/de/index.html. Die Skulpturen bestehen aus Erde, Jute und Draht und entstanden zwischen 1984-1986. 323 Ursula Damm, Erdskulptur, 1986, Drahtgestell, Jute und nasse Erde, KulturNatur. Kunstraum Wuppertal. 324 Vgl. Kruszynski, Anette: »Vorwort«, in: Damm, Ursula/ Kruszynski, Anette: Ursula Damm. Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), Ausst.-Kat., K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2005, Düsseldorf 2005, S. 4-6. 325 Vgl. Mars Lab: Netzspannung, http://netzspannung.org/about/mars/ 326 Vgl. ebd.
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schaftlern (»new media artist and scientist«327) Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss geleitet wurde, stand für eine anwendungsorientierte Forschung im Bereich neue Technologien und Kunst. Das erklärte Ziel war es, künstlerische Strategien für die Entwicklung von Medientechnologie produktiv zu machen und medientechnologische Kompetenzen in Kunst, Kultur und Bildung zu fördern.328 Diese Form von interdisziplinären Kooperationen wie sie bereits in den 1960er Jahren mit der Gründung der Experiments in Art and Technologies (E.A.T.)329 aufgetreten ist, verweist spätestens seit Ende der 1970er330 Jahre auf eine kontinuierlich existierende gesellschaftliche Begeisterung für technische Innovationen hin. Diese zeigen sich insbesondere in Gründungen wie das Mars Lab des Fraunhofer Instituts (1997), das Zentrum für Kunstund Medientechnologie in Karlsruhe (1989)331, aber auch das Festival der
327 Vgl. ebd. 328 Vgl. ebd. Heute nennt sich dieser Geschäftsbereich IAIS (Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme) und ist weniger auf die Kunst als vielmehr auf den Bereich der Informationstechnologie ausgerichtet. 329 Die E.A.T. wurde 1967 als eine Non-Profit-Organisation von Billy Klüver und Robert Rauschenberg gegründet. Es war ein gemeinschaftliches Projekt zwischen Ingenieuren und Künstlern (vgl. Kapitel III.2.2. Das Ereignis zwischen Partizipation und Kontrolle). Die bekannteste Performance, die auch zur Gründung dieser Organisation geführt hat, war 9 Evenings: Theatre & Engineering von 1966, in deren Mittelpunkt ein technisches Modulationssystem stand. Künstler wie John Cage oder Merce Cunningham wendeten zum ersten Mal Elektronik im Rahmen einer künstlerischen Aktion an (vgl. Frieling, Rudolf: Real/Medial. Hybride Prozesse zwischen Kunst und Leben, in: MedienKunstNetz, http://www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueberblick/ performance/, S. 6 f.) 330 Vgl J. Kraynak: Dependent Partcipation, S. 31. 331 Im Konzeptpapier des ZKMs (Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe) von 1988 wird insbesondere die technische Errungenschaft des Computers als Verbindung zwischen den Disziplinen der Kunst und der Wissenschaft hervorgehoben. Diese Feststellung lieferte das Argument dafür, dass die Gründung einer Institution wie das ZKM als ein interdisziplinäres Forschungsinstitut in dieser Zeit notwendig ist (vgl. ZKM, Konzeptpapier für die
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Ars Electronica in Linz (1979)332. Sie sind Orte, an denen sich erhofft wird, dass von der dort stattfindenden interdisziplinären Forschung zwischen Technik, Wissenschaft und Kunst neue Impulse für alle Lebensbereiche ausgehen können. Für derartige Erkundungen bot sich nach Fischer-Lichte insbesondere die Aktionskunst seit dem Ende der 1960er Jahre an.333 Im Rahmen der Performancekunst war und ist die Möglichkeit gegeben, neue Technologien und die Wissenschaft im Sinne der Erkundung zusammenzuführen. Diese Interdisziplinarität im Kontext der Kunst hatte darüber hinaus zur Folge, dass auch ein Bezugssystem zwischen Kunst und Lebenspraxis334 als ein Prozess, der sich wechselseitig bedingt, erwuchs.335 Diese Erweiterungen über interdisziplinäre Kooperationen erfüllten das, was die historischen Avantgarden, insbesondere der Futurismus, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gefordert hatten, nämlich die Ausweitung der eigenen Kunstpraxis über die Überwindung der Distanz zwischen Kunst und Lebenspraxis. 336 Auf diese Weise wurde es in der Kunst erst möglich, dass unter anderem
Zusammenführung der Künste und der Neuen Medien in Theorie und Praxis, http://zkm.de/media/file/de/konzept_88.pdf, S. 7). 332 Die Ars Electronica richtet sich thematisch nach einem allgemein gehaltenen Motto aus: Kunst, Technologie und Gesellschaft (vgl. Ars electronica, Geschichte des Festivals, https://www.aec.at/about/geschichte/). 333 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 285. 334 In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Lebenspraxis, die auch Alltagshandlungen implizieren kann, verwendet. Die Handlung des künstlerischen Experiments steht nicht für eine Alltagshandlung, sondern vielmehr für eine von Peter Bürger so bezeichnete »Lebenspraxis« (vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1980, S. 29). Dies steht im Bezug zur bereits genannten »Laborsituation« (vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 300) von Erika Fischer-Lichte, die in den Situationen der Performancekunst auch keine Alltagshandlung gesehen hat, sondern eine künstlich erzeugte Situation. 335 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 299 f. 336 Vgl. S. de Ponte: Aktion im Futurismus, S. 168 und s. Kapitel II.2.2. Empirische Methoden in der Kunst: Wissenschaftliche Experimente der Avantgarde
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auch Wissenschaft und Technik zum Gegenstand der Forschung in der Kunst werden kann.337 In der Herausgeberschrift Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation von 2015338 wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit bezogen auf die zeitgenössische Kunst wieder neu gestellt. Nach Meinung der Herausgeber ist eine derartige Untersuchung erforderlich, da beide Bereiche nicht mehr voneinander zu trennen sind. Als Beispiel ist Brian Jungens Dog Run von 2012339 zu nennen. Der kanadische Künstler hat im Rahmen der documenta 13 von 2012 einen eingezäunten und nur beschränkt betretbaren Bereich der Grünflächen der Karlsauen als Hundeparcours ausgestattet, der von Außerhalb von jedem Besucher einsehbar war.340 Dieses Grundstück durften nur diejenigen Besucher betreten, die in Begleitung eines Hundes waren. Alle anderen Besucher mussten die Aktivitäten innerhalb des Zauns von außen beobachten. In dieser Aktion ist keine Kollision einer Alltagswirklichkeit mit der Kunst ersichtlich wie es von Fischer-Lichte beschrieben worden ist, die zu einem von ihr so bezeichneten »Schwellenzustand« führt.341 Es ist nicht der Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit, der diese Aktion prägt, sondern es entstand vielmehr ein gemeinschaftliches Projekt im Kontext der Kunst, in dem diese Bereiche nicht mehr voneinander getrennt betrachtet werden können.342 Analog zur Akteur-Netzwerk-Theorie versteht Sabeth Buchmann dieses Verhältnis als eines, das nicht über Differenzierung und Opposition definiert werden kann, wie in der Aktion von Brian Jungen auch er-
337 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 356 f. 338 Vgl. Everts, Lotte, Lang, Johannes, Lüthy, Michael, et al. (Hg.): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld 2015. 339 Vgl. documenta 13. Das Begleitbuch, Ausst.-Kat., Kassel 2012, Ostfildern 2012, S. 266. 340 Vgl. ebd. 341 Vgl. Kapitel II.2.4. Die Performance als experimenteller Generator von Ereignissen. 342 Vgl. Buchmann, Sabeth: »(Kunst-)Kritik in kolloborativen Zusammenhängen«, in: Everts, L. / Lang, J. / Lüthy, M., et al. (Hg.), Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld 2015, S. 125-142, hier 130.
248 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
kennbar wurde.343 Ihre Argumentation stützt sich auf den Soziologen Andreas Ziemann, der das Soziale nach Latours Akteur-Netzwerk-Theorie als »Kollektive« verwirklicht sieht.344 Diese stehen, wie bereits im Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung erläutert worden ist, für das gleichberechtigte Nebeneinander von Mensch, Materie, Natur, Objekt, Gesellschaft und Technik, so dass die Unterscheidungen zwischen Kunst und Wirklichkeit vielmehr von einem gleichberechtigten Nebeneinander bestimmt werden.345 Wolfgang Welsh stellt auch aus diesem Grund fest, dass die Kunst in der Wirklichkeit verwickelt ist und ihr nicht gegenübersteht.346 Diese gleichberechtigte Existenz von Wirklichkeit und Kunst übertragen auf die Versuchsanlage Zeitraum bedeutet, dass diese hier entstandene Projektion nicht nur ein Artefakt ist, sondern auf alltäglich stattfindende Bewegungen der Passanten basiert, ohne diese abzubilden. Dieses Modell bei Damm steht wie Petra Gördüren für das Bild in Wissenschaft und Kunst formuliert hat, nicht für ein Abbild, sondern besitzt eine Logik, die es zu erkunden gilt.347 Das Modell wird zu einem Gegenstand der Forschung und besitzt dementsprechend als Visualisierung eine Funktion sowohl in der Kunst und als auch in der Wissenschaft, die im Folgenden vorgestellt wird.
343 Vgl. ebd., S. 130. 344 Vgl. Ziemann, Andreas: »Latours Neubegründung des Sozialen«, in: F. Balke/ M. Muhle/A. von Schöning (Hg.), Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011, S. 103-114. 345 Vgl. S. Buchmann: (Kunst-)Kritik in kolloborativen Zusammenhängen, S. 127. 346 Vgl. Welsh, Wolfgang: »Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen, sondern in sie verwirklicht sein?«, in: L. Everts/J. Lang/M. Lüthy, et al. (Hg.), Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld 2015, S. 179-200, hier S. 12. 347 Vgl. Gördüren, Petra: »Subjektiv Objektiv. Reflexionen des wissenschaftlichen Bildes in der Kunst«, in: Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat., Kunsthalle zu Kiel 2010, hg. von Petra Gördüren/Dirk Luckow, Köln 2010, S. 19-36, hier S. 34.
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3.3.2 Das Modell In Zeitraum wurde von Ursula Damm der Versuch unternommen, auf der Grundlage der erfassten und über das neuronale Netz weiterverarbeiteten Bewegungsdaten ein Modell zu erschaffen, dass uns vermittelt wie der Platz denkt.348 Diese Visualisierung des Platzes in Form von bewegten Körperhüllen bildete als Modell die vielfach parallel verlaufenden Bewegungen auf diesem Platz nach. Die Intention der Künstlerin mit dieser Visualisierung eine neue Form des architektonischen Entwurfs zu entwickeln, die der Dynamik des urbanen Raums gerecht wird, zeigt an, dass sie das Modell als ein erkenntnisförderndes Instrument verstanden wissen will.349 Dieses Neue zu erkunden, kann ihrer Meinung nach nur über den Weg eines Modells erfolgen, das sich unabhängig von ihr gestaltet und sich in einem beständigen Prozess befindet, der von dem neuronalen Netz erzeugt wird. 350 In der Wissenschaft hat das Modell nicht die Funktion eine Abbildung der Wirklichkeit zu sein, wie am Beispiel des DNA-Doppelhelix-Modells von Francis C. Crick und James D. Watson deutlich wird. Das Modell von 1953 ist weniger eine Abbildung eines biochemischen Sachverhalts als vielmehr die Vorstellung davon.351 Aufgrund des nicht vorhandenen Wissens wie eine derartige DNA-Doppelhelix aussieht, wurde ein Modell erschaffen, das einer subjektiven Gestaltung und zwar der von Crick und Watson folgt. Gördüren bezeichnet das Modell der DNA deshalb auch als »fiktional«352 und führt den Künstler Georg Herold an, der dieses »fiktionale« Modell für seine eigene »Fiktion« noch weiter und ab surdum führt. Unter dem Titel Genetischer Eingriff in die Erbmasse bei Frau Herold 1945 von 1985353 setzt er der Darstellung des DNA-Modells nach Crick
348 Vgl. Ursula Damm, InOutSite-Serie 1997-2005, Konzept, http://ursuladamm. de/projects/inter_zeit_de.html#concept (29.7.2017) 349 Vgl. ebd. 350 Vgl. Wendler, Reinhard: Das Modell. Zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2013, S. 29. 351 P. Gördüren: Subjektiv Objektiv, S. 21. 352 Ebd. 353 Georg Herold, Genetischer Eingriff in die Erbmasse bei Frau Herold 1945 von 1985, Eisendraht und Holz, 280 x 52 x 52 cm, Haan, Sammlung Spiekermann.
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und Watson ein individualisiertes, aber auch fiktionales Alternativmodell, was eine gewisse Ironie beinhaltet, gegenüber. Nach Hans-Jörg Rheinberger wird ein Modell erst dann ein Teil des Forschungsvorgangs, wenn es sich bewusst den Erwartungen des Forschenden entzieht.354 Rheinberger sieht im Modell aus diesem Grund nicht nur ein Hilfsmittel der Forschung, sondern es wird selbst zum Gegenstand der Untersuchung. Das Modell steht für etwas durch dessen Abwesenheit es überhaupt erst wirksam werden kann.355 Die Projektion in Zeitraum impliziert diese Unvorhersehbarkeit, indem das neuronale Netz Prozesse entstehen lässt, die sich unabhängig von der Aktivität auf dem Platz vollziehen. Dadurch wird eine Eigendynamik des Modellierungsprozesses in Gang gesetzt, die es ermöglicht Prozesse nachvollziehbar zu machen ohne sie mit unserem bereits vorhandenen Wissen so abzubilden, dass sie vorhersehbar sind. In der Kunst besteht nach Reinhard Wendler das Modell aus dem Konzept auf der einen und dem Gegenstand, das heißt die Modellgestaltung auf der anderen Seite, die beide produktiv ineinander übergehen.356 Gemeint ist hiermit, dass der Modellierungsprozess mit der Idee beginnt und nicht in der Umsetzung des Modells endet.357 Vielmehr werden Modelle entwickelt, die diese Grenzen zwischen Konzept und Gegenstand fließend machen, wobei die künstlerisch-kreativen Impulse, die eine neue Modellierung bewirken, beliebig sein können, da die Ausformulierung als Ergebnis noch nicht bekannt ist.358 Diese Form des Modellierens war auch bei Roman Signer zu beobachten, der seine Modelle als ein bewusstes sich annähern an den Untersuchungsgegenstand betrachtete.359 Das Modell war für ihn nicht das Kunstwerk, weshalb er dieses auch nicht für Ausstellungszwecke oder zum Verkauf zur Verfügung stellen wollte. Es ist lediglich ein Untersuchungsgegenstand, der abgelöst wird von den darauffolgenden, am Gegenstand wieder neu entwickelten Modellen.
354 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Differenz, Schrift, Marburg 1992, S. 85. 355 Vgl. Ebd. 356 Vgl. R. Wendler: Das Modell, S. 85 ff. 357 Vgl. ebd., S. 83-89. 358 Vgl. ebd., S. 86. 359 Vgl. Kapitel III.1.3.1. Zeichnungen, Modelle und Experimente.
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Die Einbeziehung des neuronalen Netzes bei Ursula Damms Installation Zeitraum führte zu einer Verselbständigung des Prozesses bei der Entstehung der sich herausbildenden Körperformen, sodass eine Voraussage über anzunehmende Erscheinung und Gestalt nicht möglich war. Diese Visualisierung eines Prozesses wurde zu einem Instrument der Erkundung für eine Architektur, die der Dynamik in Großstädten gerecht wird. Das Bild als Modell Bilder sind seit der Moderne, in der das Kunstwerk gekennzeichnet ist durch eine strukturelle Offenheit gegenüber den Rezipienten,360 nicht mehr nur abbildend, sondern sie sind vielmehr als modellhaft zu bezeichnen.361 Die in der Projektion von Zeitraum entstandenen Bilder sind in diesem Sinn als von der Wirklichkeit autarke Modelle zu betrachten, 362 die wie Gottfried Boehm für Bilder allgemein festgestellt hat, auf neue Möglichkeiten des Verstehens hinweisen können und die Wirklichkeit nicht mimetisch abbilden.363 Dieses Verständnis von einem Bild als ein Modell wird in gleicher Weise von Petra Gördüren und Dirk Luckow in ihrem Katalogbeitrag zur Ausstellung Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft von 2010364 vertreten. Der »Dopplereffekt« steht für ein physikalisches Phänomen, das ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnisses zwischen wahrgenomme-
360 Vgl. Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient 361 Vgl. R. Wendler: Das Modell, S. 29. 362 Vgl. Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2008, S. 116. Boehm unterscheidet zwischen einem simulativen Modell, das in seiner Darstellung auf eine Wiedererkenntnis ausgerichtet ist und einem Modell mit offenen Referenzbezug, das er auch als heuristisches Modell bezeichnet. 363 Vgl. ebd. Auf das Verhältnis zwischen Bild und Modell sei an dieser Stelle auf die Untersuchung von Reinhard Wendler verwiesen, der in beiden kein Abbild der Realität, sondern einen Eigenwert erkennbar werden lässt (vgl. R. Wendler: Das Modell, S. 27-40). 364 Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat., Kunsthalle zu Kiel 2010, hersg. von Petra Gördüren / Dirk Luckow, Köln 2010.
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nen Objekt und einem wahrnehmenden Subjekt bezeichnet.365 Diesem Effekt entsprechend bleibt das Objekt gleich, aber die individuelle Wahrnehmung des Subjekts verändert sich. In dieser Weise wird die Parallele zu dem nach Eco so bezeichneten offenen Kunstwerk offensichtlich, denn nach dessen Annahme bleibt auch hier die Struktur des Objekts oder des Kunstwerks bestehen, aber die Rezipienten und dessen Wahrnehmungen verändern sich.366 Diese nach Eco »existentiellen Situationen« derjenigen, die das Bild rezipieren, wird zum Ausgangspunkt des Verstehens erklärt, indem diese die offene Struktur des Kunstwerks vervollständigt. Das Modell in der Wissenschaft, das ebenfalls nicht ausformuliert ist, da es keine abbildende Funktion übernimmt, besitzt eine offene Struktur367 analog zum offenen Kunstwerk. Das Bild als Modell ist deshalb wie Boehm festgestellt hat, ein Verweis auf ein Verstehen, das sich beim Rezipienten vollzieht.368 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ohne die Fiktion von Seiten des Subjekts ein Bild sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft nicht vollständig sein kann.369 Das Modell als Untersuchungsgegenstand besitzt wie Reinhard Wendler deshalb zu Recht behauptet, ein aktives Potenzial sowohl von Seiten der Rezipienten in der Kunst als auch von Seiten der Forscher in der Wissenschaft.370 Petra Gördüren sieht in den Bildern der Wissenschaft Modelle verwirklicht, die den Anspruch der Darstellung objektiver Sachverhalte gerecht werden müssen, aber abhängig sind von der unter anderem auch aus persönlichen Vorlieben bevorzugten Darstellungsform.371 Das bedeutet, dass eine Divergenz zwischen dem objektiven Anspruch der Wissenschaft als das rationale Prinzip und der Subjektivität des Wissenschaftlers besteht, die sich in der Visualisierung von Modellen oder Bildern konkretisiert.372 Es ist
365 Vgl. Gördüren, Petra / Luckow, Dirk: »Vorwort«, in: Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat., Kunsthalle zu Kiel 2010, hg. von Petra Gördüren/ Dirk Luckow, Köln 2010, S. 15. 366 Vgl. Kapitel II.4.2.3. Der Rezipient 367 Vgl. R. Wendler: Das Modell, S. 29. 368 Vgl. Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 116. 369 Vgl. P. Gördüren/D. Luckow: Vorwort, S. 15. 370 Vgl. R. Wendler: Das Modell, S. 29. 371 Vgl. P. Gördüren/D. Luckow: Vorwort, S. 15. 372 Vgl. ebd.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 253
die Darstellung aus der Perspektive des Wissenschaftlers eines zu untersuchenden Phänomens im Kontext der Wissenschaft mit objektivem Anspruch. Das bedeutet, dass die Darstellung abhängig von dem Subjekt des Wissenschaftlers ist wie auch am Beispiel von Watson und Cricks DNADoppelhelixmodell ersichtlich worden ist. Dementsprechend existiert nach Gördüren ein fiktionaler Spielraum zwischen einem vermeintlichen Original der Wirklichkeit und dem Modell des Bildes.373 Um dem Modell bei Ursula Damm letztlich gerecht werden zu können, muss schließlich die Tatsache berücksichtig werden, dass ihr Bildmodell in Zeitraum das Produkt einer Computersimulation ist und dementsprechend eine spezifische Ästhetik aufweist. Inge Hinterwaldner hat in ihrer Untersuchung »Das systemische Bild. Ikonizität im Rahmen computerbasierter Echtzeitsimulationen«374 die Besonderheiten des Erscheinungsbildes einer Computersimulation wie beispielsweise jene bei Ursula Damms Projektion herausgestellt.375 Das von ihr sogenannte »systemische Bild« als das Ergebnis einer Echtzeitsimulation beinhaltet ihrer Ansicht nach zwei Aspekte, die bis zu ihrer Untersuchung noch nicht beachtet worden sind. Zum einen muss das Bild als ein aus errechneten Vorgängen bestehendes Modell betrachtet werden. Das bedeutet, das Modell aus dem das Bild resultiert, ist ein Abstraktum, das zur Sinnlichkeit des Erscheinungsbildes der Echtzeitsimulation nicht in einem direkten Verhältnis stehen muss.376 Die Autorin stellt fest, dass die sinnliche Seite der Simulation nicht zwingend das Resultat eines Modells ist, das wiederum auf rechnerischen Vorgängen basiert.377 Das heißt die Gleichung, dass die Sinnlichkeit der Modellsimulation automatisch aus dem rechenbasierten Vorgangs herzuleiten ist, wird von ihr verneint.378 Zum anderen impliziert das »systemische Bild« eine Verbindung der Echtzeitsimulation zum Rezipienten.379 Diese Relation zwischen den an den
373 Vgl. ebd. 374 Hinterwaldner, Inge: Das systemische Bild. Ikonizität im Rahmen computerbasierter Echtzeitsimulationen, München 2010. 375 Vgl. I. Hinterwaldner: Das systemische Bild, S. 12. 376 Vgl. ebd. 377 Vgl. ebd., S. 463. 378 Vgl. ebd. 379 Vgl. ebd., S. 12.
254 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Simulationen Teilnehmenden und dem Bild unterscheidet sich von dem Konzept des offenen Kunstwerks bei Eco. In der Echtzeitsimulation ist der Betrachter gleichzeitig Teilnehmer, der Bilder in Echtzeit modellieren kann und ist dementsprechend anders zu bewerten als ein Rezipient, der nicht aktiv im Prozess der Visualisierungen einbezogen worden ist. Die Autorin kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass diese sinnliche Darstellung in der Echtzeitsimulation für die Interaktion mit dem Teilnehmer maßgeblich ist.380 Das heißt, auch hier ist ein vom Subjekt ausgehendes kreatives Potential in den Simulationen zu entdecken, die nicht ausschließlich technisch geprägt sind, sondern vielmehr über den sinnlichen Aspekt des Bildes wirken. Ursula Damm generiert mit ihrer Versuchsumgebung ein Modell, das zum Forschungsgegenstand wird, an dem das erkundet werden kann, was sich unserem Wissen entzieht, wie es Rheinberger für das wissenschaftliche Pendant formuliert hat.381 Die Einbeziehung der Passanten als Rezipienten, die vormals Teil des Platzes waren, macht zudem eine Transparenz des Forschungsprozesses offensichtlich. Der Rezipient wird neben seiner Funktion als Intellektueller, der das Modell rezipiert, auch als Bestandteil in der Funktion eines Probanden einbezogen. Dieser Passant wird instrumentalisiert für die Entstehung der Projektion, der nicht als Gestaltender eingesetzt wird, aber gleichzeitig auch nicht determiniert wird wie dies bei Höllers Flugmaschine erfolgt ist. Vielmehr wird er als Rezipient zum Bestandteil der Forschung, indem von ihm die intellektuelle Auswertung des Modells erfolgt, das ihm von Ursula Damm vorgeführt wurde. 3.4 Das Modell der kollektiven Partizipation In der Versuchsumgebung Zeitraum liegt wie auch bei den vorhergehenden künstlerischen Versuchen eine Konstituierung eines Forschungsraums vor. Anders allerdings als bei Signer und Höller entsteht die Ästhetik des Forschens nicht über die räumliche Repräsentation des »White Cube« als Labor, sondern über die Projektion. Die Darstellung des Modells in einem künstlichen Raum, der nicht identisch mit dem beobachteten Platz ist, ver-
380 Vgl. ebd. 463. 381 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Differenz, Schrift, Marburg 1992, S. 85.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 255
mittelt den Betrachtern hier eine technisch-rationale Exaktheit und Genauigkeit. Das Ereignisfeld wird in diesem Versuch von dem Modell eröffnet, das neben den Bewegungen der Passanten auf dem Grabbeplatz auch das Ergebnis der Rechenprozesse des neuronalen Netzes präsentierte. Die Unvorhersehbarkeit der Mutationen dieses Modells bildeten die Voraussetzungen für die zu erfolgenden Erkundungen sowohl von Seiten der Künstlerin und als auch von Seiten der Rezipienten. Das Ereignis ist dementsprechend bei Ursula Damm wie auch bei Roman Signer und Carsten Höller gleichzeitig das Ergebnis und der Untersuchungsgegenstand der jeweiligen Versuche. Die Aufteilung von Video-Tracking und Projektion in dieser digitalen Installation führt gleichzeitig auch zu einer räumlichen Trennung, in denen der Passant zwei unterschiedliche Funktionen übernimmt. In der ersten Phase ist dieser ein Proband, der auf dem Grabbeplatz per Video-Tracking aufgezeichnet wurde. Allerdings betrat dieser keinen musealen Raum, in dem er über eine Installation durch die Anbringung eines Titels oder eines Begleittextes über den Versuch informiert wurde. Dementsprechend erfährt die natürliche Bewegungsweise der Passanten im öffentlichen Raum in ihrer Dynamik auf dem Platz keinerlei Beeinflussung und der Proband fühlte sich unbeobachtet. In der zweiten Phase wurde ihm seine eigene Bewegung mit anderen Passanten auf dem Platz vorgeführt. Der Ort, an dem er sich während des Vorgangs der Rezeption aktuell befand, ist vor der Projektion im Vorraum des K20. Der vormalige Proband besaß nun die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten im Verbund mit anderen zu beobachten. An diesem Punkt unterscheidet sich die Aktion Ursula Damms eindeutig gegenüber den vorhergehenden Versuchen. Im Gegensatz zur Partizipation wie sie von Bourriaud oder auch Bishop382 als eine soziale Handlung in Verbund mit anderen Beteiligten im Kontext der Kunst definiert worden ist, widerlegen die hier vorgestellten Versuche diese Annahme. Ganz im Gegenteil erfuhr der Besucher bei Höller die ihn umschließende Apparatur der Installation als Isolation oder war als Rezipient, jemand dem etwas vorgeführt wird. Gemeinsam war beiden Versuchen, dass sie keine soziale Handlung als Interaktion zwischen den Teilnehmenden als ein temporäres Kollektiv voraussetzten wie beispielsweise in der Installation von Tiravanija im Kölnischen Kunstverein. In der digitalen Installation von Ursula Damm kam dar-
382 Vgl. Kapitel II.4.2.4. Der Partizipient
256 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
über hinaus die Tatsache hinzu, dass der Proband als ein individueller Teil im kollektiven Verbund im urbanen Raum erfasst wurde. Ursula Damm betont trotz der konzentrierten Betrachtung von einer Vielzahl an Passanten-Bewegungen die Bedeutung der individuellen Spur383. Denn diese einzigartige Spur eines Passanten ist es, die im Verbund mit den Spuren der weiteren als simulierte Körper in Erscheinung treten kann. Die Körper in der Projektion bildeten sich erst dann, wenn mehrere Energiepotentiale der Passanten zu einem gleichartigen Körper in der Simulation zusammengefunden hatten. Dieses daraus resultierende Entstehen und Vergehen der Körperhüllen in der Projektion führten Bewegungsstrukturen vor, die sich analog zu einem »Schwarmverhalten« bei Vögeln oder Insekten vollzogen. 384 Die diese Projektion beobachtenden Personen in der zweiten Phase dieser Versuchsumgebung waren die auswertenden Instanzen. Diese konnten sowohl die Künstlerforscherin selbst als auch die Passanten beziehungsweise nachfolgend die Rezipienten sein. Beide unterschieden sich lediglich in der Vorgehensweise, wie sie die so entstandenen Bilder der simulierten Körper für sich auswerteten. Der Standpunkt der Betrachtung wurde ausschlaggebend für die Rezeption des Bildmodells. In diesem Sinn ist das Modell auf der einen Seite als ein spezifisch kodiertes System der Wissenschaft zu verstehen, das Daten sowie Koordinaten visuell zusammenfasst und auf der anderen Seite als ein künstlerisch gestaltetes Artefakt, indem die gelisteten Daten der Projektion in eine poetische Darstellung der Künstlerin überführt werden, die diese rationale Kodierung über den subjektiv empfundenen Standpunkt wieder aufhebt. Letztlich ist auch die Entscheidung von Ursula Damm für die organische Form des Modells, die analog zu ihren frühen Erdskulpturen gestaltet war, als ein Ausdruck ihres subjektiven Standpunkts zu sehen. Für die Künstlerin stehen aufgrund ihrer systematischen Herangehensweise an die Beobachtung von Bewegungen im öffentlichen Raum andere Aspekte im Fokus ihrer Betrachtung als für den Passanten, der vor der Projektion zum Rezipienten wurde. Beispielsweise nutzte sie die Ergebnisse ihrer Beobachtungen für die mögliche Weiterführung künftiger Versuchsanlagen. Ein ähnliches Vorgehen also, wie es schon bei Roman Signer
383 Vgl. U. Damm/A. Kruszynski: Die Ästhetik des Denkens, S. 33. 384 Vgl. ebd.
III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung | 257
beobachtet wurde. Der Bezug zwischen der vollzogenen Dynamik des Passanten und ihrer Übersetzung als Körper in der Repräsentation regt den Betrachter wiederum an, Parallelen zwischen Erlebtem und Betrachtetem zu ziehen. Der Passant selbst wird zum Beobachtender eines projizierten Modells, das sich in einem beständigen Prozess befindet. Es ist ein dynamisches Modell, das sich von der Bewegung der Passanten auf dem Platz speist, aber nicht deren Abbild ist, sondern mit Hilfe des neuronalen Netzes zum Forschungsgegenstand in der Kunst gemacht wird.
IV. Fazit
Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, festzustellen, ob eine Annäherung zwischen den Disziplinen Kunst und Wissenschaft über das Experiment stattfindet. Zur Beantwortung dieser Frage wurde im Kapitel II.1. Das Experiment als Handlung das Experiment auf der Grundlage der von Bruno Latour entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie als eine Handlung definiert, die gleichberechtigt sowohl aus den an ihr beteiligten menschlichen als auch nicht-menschlichen Akteuren besteht. Diese Handlung ist, wie sich in dieser Untersuchung gezeigt hat, zentral für den Forschungskontext der Entdeckung, der sowohl das künstlerische als auch das wissenschaftliche Experiment impliziert. Im Kapitel II.2. Das Experiment als Instrument hat sich herausgestellt, dass das Experiment sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft als Instrument zu verstehen ist, das zur Entdeckung des Neuen, das heißt für das, was sich unserem Wissen entzieht, eingesetzt wird. Dieses Instrument initiiert als ein Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ein Ereignis, das wie Heidelberger dies für das wissenschaftliche Experiment formuliert hat, in der Natur in dieser Form nicht in Erscheinung getreten wäre.1 Diese künstlich initiierten Ereignisse im Experiment zeichnen sich, wie in Kapitel II.3. Das Ereignis als Ergebnis des Experiments untersucht wurde, dadurch aus, dass sie unerwartet auftauchen. Allen hier vorgestellten Künstlern ist gemeinsam, dass sie diesen Moment des Unvorhersehbaren in Form von Ereignissen als Ergebnis ihrer Experimente akzeptiert haben.
1
Vgl. M. Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, S. 83.
260 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
Roman Signer und Ursula Damm haben das Unerwartete sogar als gestalterisches Mittel in ihren Aktionen eingesetzt. Nach Badiou ist das Ereignis unter dieser Bedingung, nämlich, dass hier eine positive Wahrnehmung von Seiten der Künstler und Rezipienten stattfindet, als ein »Bruch«2 mit dem vormals Gültigen zu verstehen und eröffnet das Neue, weil es nicht vorhersehbar war und sich dementsprechend unserem Wissen entzog. Diese initiierten Ereignisse selbst können wiederum zum Gegenstand darauf folgender Erkundungen in Form neuer Versuche werden, wie insbesondere bei Roman Signer mit der Serie Ballons und Raketen oder Ursula Damm mit der InOutSite-Serie beobachtet werden konnte. Diese künstlichen Erzeugungen von Ereignissen in den Experimenten, die eine systematische Erweiterung des Wissens in Aussicht stellen, entäußerte sich bereits in der Literatur um 1900 als Wissenschaftsenthusiasmus. Diese Begeisterung hat sich später auch in der Performance als ein experimenteller Generator von Ereignissen fortgesetzt. Hierzu gehören auch die interdisziplinären Kooperationen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik, wie auch im Zusammenhang von Ursula Damms Installation Zeitraum gezeigt werden konnte. Diese Kooperationen bezeugen einen regelmäßig aufkommenden Enthusiasmus in der Kunst für Technik und Wissenschaft, die in Gründungen von Gruppierungen wie Experiments in Art and Technology (1967) oder von Abteilungen wie das Mars Lab (1997) oder Institutionen wie das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (1989) offensichtlich werden. Gleichzeitig kann die künstlerische Forschung auch über das Instrument des Experiments Kritik an Wissenschaft und Technik üben, wie insbeosndere in den Aktionen von Carsten Höller und Ursula Damm beobachtet werden konnte. Das künstlerische Experiment stellt dann einen Gegenentwurf zur Wissenschaft dar, da die hier initiierten Ereignisse sich einer wissenschaftlichen Standardisierung und Verallgemeinerung entziehen. Die Wissenschaft kann darüber hinaus, wie bei Marcel Duchamps Experiment oder bei Carsten Höllers Versuchsapparatur zu beobachten war, ad absurdum geführt werden. Die Tatsache, dass Kunst und Wissenschaft in ihren forschenden Vorgehensweisen vergleichbar sind, hat Hans-Jörg Rheinberger mit seiner Forderung nach Experimentalsystemen für die Wissenschaft erneut zur Diskus-
2
A. Badiou: Kleines Handbuch zur Inästhetik, S. 22.
IV. Fazit | 261
sion gebracht. Er sieht die wissenschaftliche Forschung nicht nur in Form eines hypothesenkonfirmierenden Vorgangs realisiert, sondern als eine Suchbewegung, die auch das »Nichtwissen« einbezieht. Rheinberger spricht für die Wissenschaft im Forschungskontext der Entdeckung von einer Gradwanderung zwischen Wissen und Nichtwissen. Der Forscher ist in beiden Disziplinen der Erkundende in einem sich dem Wissen entziehenden Bereich. Wie Schmidt in diesem Zusammenhang zu Recht festgestellt hat, ist dieser als eine »heuristische Instanz« im Experiment zu bezeichnen. Alle drei künstlerischen Beispiele haben deshalb auch gezeigt, dass das Unerwartete als das Neue in Form des Ereignisses im Experiment durchaus begrüßt wird.3 Dieser Vorgang der Erkundung wird sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst geleitet von der Dialektik zwischen Rationalität und Intuition sowie Systematik und Zufall. Diese dialektische Ausrichtung kennzeichnet die Methode des Experiments, das als ein erkundendes Verfahren entweder der Kunst oder der Wissenschaft im Forschungskontext der Entdeckung zuzuordnen ist. In der Kunst unterscheidet sich aus diesem Grund auch das Experiment von weiteren künstlerischen Performances wie die von Joseph Beuys, die größtenteils von der Spontanität der Beteiligten geprägt sind. Diese wurden in der vorliegenden Untersuchung als Experimentell bezeichnet und unterscheiden sich in ihren von Intuition geprägten Handlungen der Beteiligten von der auf Systematik ausgerichteten Vorgehensweise des künstlerischen Experiments. Letzteres zeigt sich insbesondere in der Initiierung, Lenkung oder Kontrolle der Aktion, die vom Künstler und dementsprechend seinem Konzept ausgeht, was durchgehend bei allen drei künstlerischen Beispielen beobachtet werden konnte. Im Experiment wird der Teilnehmende dementsprechend in seinem Handlungsumfang eingeschränkt und funktionalisiert, indem er lediglich als Auslöser von Ereignissen eingesetzt wird. Er bleibt allerdings gleichzeitig der Rezipient, der nach Eco das Kunstwerk intellektuell vervollständigt. Aus diesem Grund wurde der am Experiment physisch Teilnehmende, wie bei Carsten Höller und Ursula Damm zu beobachten war, auch als rezipierender Proband bezeichnet. Dieser wird in seiner Handlung innerhalb des Experiments auf die Funktion eines Probanden de-
3
Vgl. H. -J. Rheinberger: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, S. 83.
262 | Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst
terminiert, bleibt allerdings aktiv als Rezipient beziehungsweise als auswertende Instanz des Versuchs im Sinne Ecos beteiligt. Die aus dieser Partizipation entstandene Transparenz der künstlerischen Forschung, in der Rezipienten Beobachter oder Auslöser der Ereignisse sein können, zeichnet sie auch gegenüber der wissenschaftlichen im »Kontext der Entdeckung« aus, die lediglich Ergebnisse ohne Einsichtnahme in den dazugehörigen Prozess ermöglicht. Das heißt, in der Kunst präsentiert das Experiment nicht ein Ergebnis, sondern den Prozess, der für alle Besucher zu beobachten oder zu erfahren ist. Einschränkend muss gleichzeitig festgestellt werden, dass mit der Transparenz im Prozess des Experiments nicht zwingend eine Form der Partizipation erfolgen muss, die als eine Mitgestaltung aller Beteiligten im künstlerischen Prozess verstanden wird. Diese Art der Aktionen sind dem Experimentellen zuzuordnen, wie beispielsweise die performative Installation von Rirkrit Tiravanij. Der teilnehmende Besucher im Experiment wird als sogenannter rezipierender Proband lediglich als Initiator einbezogen. Aus diesem Grund ist das Ereignis des Experiments auch nicht das Ergebnis eines Austauschs zwischen den Teilnehmenden, wie Bourriaud dies explizit für die Aktionen Carsten Höllers konstatiert hat.4 Der Künstler bleibt, auch wenn er selbst nicht in Erscheinung tritt, in seinen Experimenten immer derjenige, der gestaltet, indem von ihm systematische und gleichzeitig auch unvorhersehbare Prozesse innerhalb eines Experiments konzipiert werden, die dann von ihm selbst oder von den Teilnehmenden zur Initiierung kommen. Eine Herausforderung in dieser Untersuchung bestand in der Beantwortung der Frage, ob die künstlerische Forschung ausschließlich Erkundungen initiierter Ereignisse impliziert, oder ob auch visuelle Aneignungen von Wissenschaft im Sinne einer Ästhetik in die Betrachtung einbezogen werden müssen. Die Schwierigkeit dieses Aspekts der Forschung in der Kunst liegt in der Tatsache begründet, dass es an einem Kriterium fehlte, die künstlerische Forschung in dieser Weise differenziert betrachten zu können. Aus diesem Grund wurde im Anschluss im Kapitel II.4. Das Experiment als Konstituierung eines Forschungsraums das künstlerische Experiment als eine erkundende Handlung in einem räumlichen Zusammenhang betrachtet. Auf der Basis der Raumsoziologie steht mit Henri Lefebvre und Martina Löw ein Kriterium zur Verfügung, dass es möglich macht, die For-
4
Vgl. Bourriaud 2010, S. 15-17.
IV. Fazit | 263
schung in der Kunst als eine visuelle Aneignung im Sinne einer wissenschaftlichen Ästhetik und gleichzeitig auch als einen kunstspezifischen Prozess identifizieren zu können. Hier hat sich gezeigt, dass auf der einen Seite der Raum des »White Cube« einer Ausstellung die Funktion eines sterilen Labors übernimmt, das als »Mikroraum« die Forschungshandlung abgrenzt gegenüber dem »Makroraum« der Lebenspraxis der Außenwelt. Auf der anderen Seite ist die Raumstruktur des Experiments als das Ergebnis von Handlungen zu verstehen, die in dieser Untersuchung als Ereignisfeld bezeichnet worden ist. Das Experiment in der Kunst impliziert, wie bei allen drei Künstlern im Kapitel III. Experimentalanordnungen künstlerischer Forschung festgestellt werden konnte, dass die Forschung sowohl als eine visuelle Aneignung im Sinne einer Ästhetik der Wissenschaft als auch als Erzeugung eines Ereignisfeldes besteht. Die eingangs gestellt Frage, ob sich Kunst und Wissenschaft annähern, muss, das hat diese Untersuchung gezeigt, schließlich neu formuliert werden. Die mit dieser Fragestellung implizierte Trennung der Disziplinen Kunst und Wissenschaft ist vielmehr als eine Konstruktion zu verstehen,5 da auch ihre Differenz, wie in dieser Untersuchung gezeigt werden konnte, im Forschungskontext der Entdeckung nicht mehr konsequent verortet werden kann. Die Akteur-Netzwerk-Theorie bietet eine Alternative zur dichotomischen Betrachtung von Kunst und Wissenschaft, indem es nun möglich ist, beide Disziplinen als offene Netzwerke zu sehen. Das künstlerische Experiment kann hier als ein von Latour so bezeichnetes »Quasi-Objekt« betrachtet werden. Demzufolge bildet das Experiment eine Verbindungsstelle zwischen den forschenden Netzwerken der Wissenschaft und Kunst, da es sowohl systematische Anteile, die der Wissenschaft, als auch intuitive Anteile, die der Kunst zugeordnet werden können, beinhaltet. Im Kontext der Kunst können Ausstellungen wie die documenta 13 von 2012 schließlich als eine übergeordnete Verortung derartiger Netzwerke der Forschung bezeichnet werden. Standpunkte aus den unterschiedlichsten Disziplinen wie Physik und Biologie, Landwirtschaft, Philosophie, Anthropologie, politische Theorie, Literaturwissenschaft und natürlich die Kunst sind Bestandteile dieser Forschung.6 Das Anliegen der künstlerischen For-
5
B. Latour: Wir sind noch nie modern gewesen, S. 21.
6
Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit, S. 31.
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schung besteht dann darin, diese unterschiedlichen Formen des Wissens im Kontext der Kunst wie die documenta 13 zusammen zu bringen, um wie die Ausstellungsmacherin Carolyn Christov-Bakargiev betonte, eine neue Vorstellung von einer Welt erhalten zu können.7
7
Vgl. ebd.
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Danksagung
Nachstehenden Personen möchte ich an dieser Stelle meinen ganz besonderen Dank entgegenbringen, ohne deren Mithilfe die Anfertigung dieser Promotionsschrift niemals zustande gekommen wäre. Als erstes möchte ich mich bei meiner Betreuerin Frau Prof. Dr. Frohne für die Unterstützung und die konstruktiven Gespräche bedanken. Mein Dank richtet sich darüber hinaus an Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Speer, der als Philosoph das Wagnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit mir eingegangen ist und schließlich Herrn Prof. Dr. Nußbaum. Einen ganz herzlichen Dank möchte ich an meine Freundin Frau Dr. Charlotte Sassen richten, die mich mit einer nicht enden wollenden Vehemenz dazu gebracht hat, meinen langgehegten Wunsch zu erfüllen, eine Doktorarbeit in Kunstgeschichte zu schreiben. Des weiteren richtet sich mein Dank an Frau Kyra Lippler, die mir immer geduldig und konstruktiv zugehört hat und Frau Christine Braun, die weltweit für mich da war, als ich ganz dringend Motivation gebraucht habe. Posthum möchte ich meiner Mutter danken, die im Verlauf der Entstehung dieser Arbeit leider viel zu früh verstorben ist. Danke auch an meinen Vater, der über die Jahre einen sagenhaft guten Humor für zeitgenössische Kunst entwickelt hat. Über allen steht jedoch noch eine ganz wichtige Person, die immer an mich geglaubt und mich unermüdlich unterstützt hat, nämlich mein Mann Thomas Martus. Ihm gilt mein ganz besonderer Dank sowohl für seine Hilfe bei fachlichen als auch bei nichtfachlichen Angelegenheiten.
Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Heike Engelke
Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)
»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de