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German Pages 356 Year 2015
Über den Körper im Bilde sein
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Markus Buschhaus (Dr. phil.) ist Postdoc-Stipendiat des Graduiertenkollegs »Bild. Körper. Medium« an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt dort als Medienwissenschaftler.
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Markus Buschhaus Über den Körper im Bilde sein. Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2005 transcript Verlag, Bielefeld D 61 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-370-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt 1. Medienarchäologisches Vorspiel 7 2. Die visuelle Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert 37 2.1 Autoren, Werke und Traditionen als historiographische Präparate 37 | 2.2 Programme der visuellen Kultur der Anatomie auf dem Titelbild der Fabrica 63 | 2.3 Autopsia und Autopsie: die Ausformung eines anatomischen Expertenblicks 74 | 2.4 Der Raum, der Blick und das Wissen: zum anatomischen Theater 89 | 2.5 Autopsia als Perspektive: Strategien des anatomischen Bildzeugnisses 104
3. Der anatomische Atlas aus medientechnischer Perspektive: Datenerhebungsverfahren und druckgraphische Reproduktionstechniken 125 3.1 Bilder in Büchern: zum Verhältnis von Medienarchäologie und Publikationsformen 125 | 3.2 Anfänge: Zeichnung, Druckgraphik und Buchdruck 132 | 3.3 Technisch-apparativer Auftakt: Photographie und Anatomie im 19. Jahrhundert 146 | 3.4 Der Einbruch des Nicht-Invasiven: Röntgentechnik und Anatomie 168 | 3.5 Die Bildgebung wird digital: Computertomographie und Anatomie 182 | 3.6 Totale visuelle Mobilmachung: das Visible Human Project 199
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4. Der anatomische Atlas aus bildkultureller Perspektive: Bildwissen, Wissenskörper und Körperbilder 211 4.1 Bilder in Bewegung: zum Bildtransfer zwischen visuellen Kulturen 211 | 4.2 Bildtransfer I: Anatomie und Kunst im 16. Jahrhundert 220 | 4.3 Bildtransfer II: Anatomie und klinische Diagnostik im 20. Jahrhundert 234 | 4.4 Transformationen der Anatomie durch den anatomischen Bildhaushalt 254 | 4.5 Körper in Bewegung: anatomische Operationen und das Körperwissen der Bildfläche 267
5. Autorität der Bilder – Bilder der Autorität 297 6. Medienarchäologisches Nachspiel 311 7. Bildanhang 313 8. Literatur 337
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
1. Medienarchäologisches Vorspiel Motivation der Fragestellung »Die Zukunft des Wissens ist bildhaft«1, lautet eine mittlerweile in den Medien-, Bild- und Kulturwissenschaften gängige Prognose hinsichtlich der Funktion von Bildmedien für die zukünftige Produktion und Organisation von Wissen. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß an Bildern und durch Bilder verhandelt werden kann, was buchstäblich nicht zu wissen ist und ausdrücklich bestenfalls erst gewußt werden wird. Dies jedenfalls legt die Rede von Bildwelten des Wissens2, von Bilderwissen3, gar von einem »Wechsel vom text- zum bildvermittelten Wissen«4 oder einer »›Piktorialisierung‹ der Naturwissenschaften«5 nahe. Jedoch ist es nicht immer ausgemachte Sache, welche Bilder und welches Wissen hier überhaupt als Zukunftsversprechen formuliert werden sollen. In diesen und ähnlichen Diskussionen jedenfalls wird medizinisch motivierter Bildgebung in der Regel ein besonderer Stellenwert beigemessen. »Auch die moderne Medizin ist zum großen Teil eine Bildermedizin«, heißt es etwa anläßlich der
1. So heißt es auf dem Einband von: Matthias Bickenbach/Axel Fliethmann (Hg.): Korrespondenzen: Visuelle Kulturen zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002. 2. Vgl. Horst Bredekamp/Gabriele Werner (Hg.): Bildwelten des Wissens. Jahrbuch für Bildkritik, Berlin 2003. 3. Vgl. Martin Kemp: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003. 4. Christa Maar: »Envisioning knowledge – Die Wissensgesellschaft von morgen«, in: dies./Hans-Ulrich Obrist/Ernst Pöppel (Hg.), Weltwissen – Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln 2000, S. 11-19, hier S. 15. 5. Bettina Heintz/Jörg Huber: »Der verführerische Blick: Formen und Folgen wissenschaftlicher Visualisierungsstrategien«, in: dies. (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien, New York 2001, S. 9-37, hier S. 9. 7
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Verleihung des Nobelpreises für Medizin an die Entwickler der Magnetresonanztomographie, Lauterbaur und Mansfield, in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Oktober 2003. Wenige Monate zuvor, nämlich am 7. Mai 2003, erscheint, ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, anläßlich des diesjährigen Internistenkongresses ein Bericht, welcher sich unter dem bezeichnenden Titel ›Eine Bilderflut aus dem Körper – und der Arzt steht im Regen› mit der auf dem Kongreß kontrovers diskutierten Anwendung diverser bildgebender Verfahren in der klinischen Diagnostik befaßt. Dieses Beispiel regt den Befund an, daß technische Machbarkeit und ärztliche Anwendung, bildgebende Verfahren und klinische Diagnostik, letztlich also auch Medientechnik und Bildkultur keineswegs in einem unproblematischen Zusammenhang zueinander stehen. Zudem zeigt es auf, daß mittels bildgebender Verfahren generierte Bilder in der heutigen Medizin einerseits spezifische Erkenntnisprobleme aufwerfen, ihre Anwendung andererseits aber einer gewissen Notwendigkeit unterliegt, eben weil sich die klinische Diagnostik ihrer nicht mehr ohne weiteres entledigen kann. In diesem Sinne könnte sich der Bildstatus im Zuge einer bereits verschiedentlich ausgemachten Bildhaftigkeit des Wissens allerdings als prekär erweisen, denn es drängt sich zuvorderst die Frage auf, seit wann und aus welchem Grund Bilder in der Medizin überhaupt eine derartige Autorität haben entwickeln können, daß sie auf der einen Seite zwar als Notwendigkeit aufgefaßt, auf der anderen Seite aber gleichzeitig als Zumutung erfahren werden. Vor diesem Problemhorizont dürfte demjenigen, was hier als anatomisches Wissen untersucht werden soll, sowohl aus historischer als auch aus systematischer Perspektive eine besondere Bedeutung zukommen. Dies betrifft zunächst den historischen Umstand, daß die Anatomie schon seit der frühen Neuzeit programmatisch und konsequent Bildmedien zur Anwendung gebracht hat, was den anatomischen Bildhaushalt als umfangreiches und mannigfaltiges Archiv medizinisch motivierter Bildgebung im weitesten Sinne ausweist. Darüber hinaus fällt auf, daß der anatomische Bildhaushalt als Katalysator für nahezu alle in der klinischen Diagnostik eingesetzten Bildmedien fungiert, gerade weil anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers für diese bis heute unhintergehbar ist. So hat sich, angefangen mit der Röntgentechnik, noch jedes bildgebende Verfahren seiner anatomischen Dimension vergewissern und anatomischen Wissens rückversichern müssen. Andersherum hat die Anatomie die technischen Innovationen klinischer Diagnostik nahezu vollständig in ihren Bildhaushalt inkorporiert. Die Notwendigkeit des Einsatzes von bisweilen als Zumutung 8
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
empfundenen bildgebenden Verfahren seitens der klinischen Diagnostik läßt sich nicht zuletzt aus medizinhistorischer Perspektive anatomisch fundieren. Wie etwa Foucault in seiner Geburt der Klinik aufzeigt, spielt die pathologische Anatomie für die Ausformung der klinischen Medizin im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert eine ausgezeichnete Rolle gerade deshalb, weil sie ein Untersuchungsverfahren zur Anwendung bringt, welches nicht mehr hauptsächlich in einer etwaigen Symptomologie aufgeht, sondern darum bemüht ist, den Krankheitsherd zu fokussieren und damit die Läsion zu lokalisieren. Dieser Paradigmenwechsel von der naturphilosophischen Humoralpathologie zu einer naturwissenschaftlichen, anatomisch fundierten Pathologie und die damit einhergehende Verräumlichung des Wissens über den Bau des menschlichen Körpers sind bereits Gegenstand eines Vortrags, den Virchow 1894 in der Berliner Klinischen Wochenschrift unter dem Titel ›Morgagni und der anatomische Gedanke‹ veröffentlicht. Tatsächlich besteht zwischen der Geburt der Klinik und dem ›anatomischen Gedanken‹ ein Verhältnis, welches gekennzeichnet ist durch die der Anatomie entlehnte, aber nicht mehr auf diese beschränkte Entfaltung eines Programms der notwendigen Lokalisierung des Pathologischen in Form von Läsionen. Dies ist, wenngleich unter gänzlich anderen medialen und medizinischen Vorzeichen, ein entscheidender Funktionshorizont des Einsatzes bildgebender Verfahren in der klinischen Diagnostik. Pathologische Anatomie und bildgebende Diagnostik funktionieren, dies ließe sich zunächst einmal andenken, gemäß des ›anatomischen Gedankens‹ jener makroskopischen Anatomie, welcher der Auftrag einer Ordnung der Sichtbarkeit bereits nominell eingeschrieben ist. Diesen Auftrag, dies wird zu untersuchen sein, nimmt die Anatomie sowohl autoptisch als auch bildmedial, sowohl mittels Sektion als auch mittels nicht-invasiver bildgebender Verfahren an. Angesichts einer zeitgenössischen ›Bilderflut aus dem Körper‹, wie sie in dem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verhandelt wird, könnte es sich also aus verschiedenen Gründen anbieten, spezifische Ordnungen der Sichtbarkeit – zumal mittels spezifischer Medientechniken und spezifischer Bildpraktiken – jener visuellen Kultur zu untersuchen, welche zumindest auf den ersten Blick schon seit langem über den Körper im Bilde zu sein scheint. Tatsächlich könnte mit der Anatomie, welche als erste der heutigen naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen der Medizin ihre Wissensformation programmatisch der Bildfläche verschrieben hat, der Beweis angetreten werden, daß auch die Vergangenheit des Wissens zumindest bildhafter ist als bisher angenommen. Daraus ergibt sich ein Problemhorizont, welcher ganz wesentlich von der Frage geprägt ist, ob anatomisches Wissen, welches formelhaft kon9
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
stant Wissen über den Bau des menschlichen Körpers ist, nicht auch Wissen durch Bilder und Wissen um Bilder ist, sich also anatomisches Körperwissen und anatomisches Bildwissen nicht gegenseitig bedingen.
Stand der Forschung »There are many possible histories of anatomy«6, erklärt Cunningham und eröffnet damit nicht nur den Horizont vieler möglicher Geschichten der Anatomie, sondern auch denjenigen einer Geschichte verschiedener möglicher Anatomien. Denn tatsächlich ist allererst auszuweisen, von welcher aller möglichen Anatomien überhaupt die Rede sein soll. Wie der überraschend große, vor allem aufmerksamkeitsökonomische Erfolg der Körperwelten-Ausstellung gezeigt hat, bleibt Anatomie in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer nahezu ausschließlich auf die traditionelle Leichensektion der makroskopischen Anatomie bezogen. Indes reicht die Bandbreite dessen, was heute in der Medizin unter ›Anatomie‹ subsumiert wird, von der makroskopischen Anatomie über die sich seit dem 17. Jahrhundert ausformende mikroskopische Anatomie bis hin zu aktuell forschungsintensiven Filiationen wie der Molekular- oder der Neuroanatomie. Deren immer kleiner werdender gemeinsamer Nenner scheint formelhaft die Beschreibung des Baus des menschlichen Körpers abzugeben, selbst wenn dieser schon seit langem makroskopisch nicht mehr zu erkennen und im gerne beschworenen Zeitalter der Digitalisierung und Informatisierung oftmals nur noch als eine imaginäre Projektionsfläche für bildgebende Verfahren auszumachen ist. Gerade die makroskopische Anatomie aber kann – auch jenseits des sich im späten 18. Jahrhundert abzeichnenden und im 19. Jahrhundert vollziehenden Paradigmenwechsels von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft – als ein zentraler Phänomenbereich der Medizingeschichte verbucht werden. Dabei ist ›Medizingeschichte‹ aufzufassen einerseits als Disziplin und andererseits als Phänomenbereich dieser Disziplin.7 So verschränken sich, wenn
6. Andrew Cunningham: The Anatomical Renaissance. The Resurrection of the Anatomical Projects of the Ancients, Aldershot 1997, S. x. 7. Während Medizingeschichtsschreibung sich schon im 18. Jahrhundert abzeichnet, entsteht die Disziplin der Medizingeschichte erst im 19. Jahrhundert. Seit der Approbationsordnung für Ärzte aus dem Jahre 1970 ist die Medizingeschichte fester Bestandteil des Medizinstudiums an deutschen Universitäten. Zu divergie10
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
›Medizingeschichte‹ zur Sprache kommt, zumindest zwei Aspekte miteinander, nämlich ein historischer Problemhorizont und ein Problemhorizont der Historiographie. Diesem konstitutiven Verhältnis von Historie und Historiographie hat etwa Canguilhem in seinem erstmals 1966 erschienenen Beitrag ›Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte‹ Rechnung getragen, in welchem er ausführt: »Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte hat mit dem Gegenstand der Wissenschaft nichts gemeinsam.«8 Dies dürfte gleichfalls für den Phänomenbereich der Medizingeschichte und die Disziplin der Medizingeschichtsschreibung gelten, so daß es auch hier nicht um die Überprüfung des jeweiligen Standes anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers und damit schließlich um die Bewertung des jeweiligen Inhaltes anatomischen Wissens geht. Vielmehr wird zuvorderst die Funktion des Bildes für den Modus der anatomischen Wissensproduktion und -organisation verhandelt und damit die Frage, seit wann, wie und warum anatomisches Körperwissen überhaupt auf der Bildfläche erscheint. Zwar liegen keine aktuellen Monographien zu einer wie auch immer gearteten umfassenden Geschichte der makroskopischen Anatomie vor, doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie gleichwohl einen wesentlichen Bestandteil einer jeden ›Geschichte der Medizin‹9 ausmacht und daß gerade die frühneuzeitliche Ana-
renden disziplinären Selbstverständnissen der Medizingeschichte vgl. zuletzt: Cornelius Borck (Hg.): Anatomien medizinischen Wissens. Medizin-Macht-Moleküle, Frankfurt/Main 1996; Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/Main, New York 1998; Thomas Schnalke/Claudia Wiesemann (Hg.): Die Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive, Köln, Weimar, Wien 1998. Zum spezifischen Status der modernen Medizin zwischen naturwissenschaftlicher Programmatik und ärztlich-klinischer Praxis vgl. schon 1927: Ludwik Fleck: »Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens«, in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main 1988, S. 37-45. 8. Georges Canguilhem: »Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte«, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main 2002, S. 22-37, hier S. 29. Weiter heißt es dort: »Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist in der Tat die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses.« (Ebd., S. 30) 9. Vgl. dazu etwa: Heinrich Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medicin und der epidemischen Krankheiten. Zweiter Band. Geschichte der Medicin in der neueren Zeit, Jena 1881; Max Neuburger/Julius Pagel (Hg.): Handbuch der Geschichte der Medizin. Zweiter Band, Jena 1903; Jean Starobinski: Histoire de la Médecine, Paris 1962; Erwin H. Ackerknecht: Geschichte der Medizin, Stuttgart 1986; W.F. By11
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
tomie umfangreich und mannigfaltig verhandelt worden ist.10 Nicht zuletzt ist eine ›Geschichte der Anatomie‹ häufig integraler Bestandteil eines zu Beginn des anatomischen Atlanten oder Lehrbuchs zu entfaltenden anatomischen Selbstverständnisses.11 Dies gerät oft-
num/Roy Porter (Hg.): Companion Encyclopedia of the History of Medicine. 2 volumes, London, New York 1993; Wolfgang Eckart: Geschichte der Medizin, Berlin, Heidelberg, New York 2000. 10. Als einer der ersten Versuche der historiographischen Erfassung der Anatomie ist der 1770 von dem Physiologen Albrecht von Haller für den 1. Ergänzungsband der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert abgeschlossene Artikel anzusehen. Vgl. dazu: Albrecht von Haller: »Eine Geschichte der Anatomie von Albrecht von Haller«, in: Carlo Zanetti/Ursula Wimmer-Aeschlimann (Hg.), Eine Geschichte der Anatomie und Physiologie von Albrecht von Haller, Bern, Stuttgart 1968, S. 13-75. Neben den zahlreichen und meist unumgänglichen Abhandlungen zur ›Geschichte der Anatomie‹ in Publikationen zur ›Geschichte der Medizin‹ sei hier vor allem verwiesen auf: Charles Singer/C. Rabin: A Prelude to Modern Science, Cambridge 1946; Robert Herrlinger/Fridolf Kudlien (Hg.): Frühe Anatomie. Eine Anthologie, Stuttgart 1967; Jörg Henning Wolf: »Medizin im Widerstreit von Traditionsgebundenheit und Reformbestrebungen am Beginn der Neuzeit«, in: Der Übergang zur Neuzeit und die Wirkung von Traditionen, Göttingen 1978, S. 79-129; Richard Toellner: »›Renata dissectionis ars‹, Vesals Stellung zu Galen in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen und Folgen«, in: August Buck (Hg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance, Hamburg 1981, S. 85-95; Gerhard Baader: »Die Antikenrezeption in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft während der Renaissance«, in: Rudolf Schmitz/Gundolf Keil (Hg.), Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, S. 51-66; T.V.N. Persaud: Early History of Human Anatomy. From Antiquity to the Beginning of the Modern Era, Springfield/Ill. 1984; Richard Toellner: »Zum Begriff der Autorität in der Medizin der Renaissance«, in: Rudolf Schmitz/Gundolf Keil (Hg.), Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, S. 159-179; Michael Sonntag: »Die Zerlegung des Mikrokosmos. Der Körper in der Anatomie des 16. Jahrhunderts«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989, S. 59-96; Roger French: »The Anatomical Tradition«, in: W.F. Bynum/R. Porter (Hg.), Companion Encyclopedia, Volume 1, S. 81-101; A. Cunningham: The Anatomical Renaissance; Roger French: Dissection and Vivisection in the European Renaissance, Aldershot 1999; Renate Wittern: »Kontinuität und Wandel in der Medizin des 14. bis 16. Jahrhunderts am Beispiel der Anatomie«, in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999, S. 550-571; Klaus Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹. Die Versöhnung von Medizin und Humanismus um 1500, Wiesbaden 2001. 11. Vgl. etwa: Fr. Kopsch: Rauber’s Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 12
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
mals, wenngleich nicht ausschließlich und nicht notwendig, zu einer Fortschrittsgeschichte immer präziseren und immer stabileren anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers, welches mit diesem endlich zur Deckung kommt und restlos in diesem aufgeht. Insbesondere zu anatomisch motivierter Bildgebung der frühen Neuzeit liegen geläufige Standardpublikationen medizinhistorischer12, kunsthistorischer13 oder medizin- und kunsthistorischer14 Herkunft vor, nicht zu vergessen zahlreiche Ausstellungskataloge15 sowie unzählige Artikel zu verschiedenen Aspekten des Themas.16
In 6 Abteilungen. Abteilung 1: Allgemeiner Teil., Leipzig 1914, S. 9-34; Thomas O. McCracken: Der-3D-Anatomie-Atlas. Mit interaktiver CD-ROM, Augsburg 1999, S. 13-17. 12. Darunter vor allem: Ludwig Choulant: Geschichte und Bibliographie der Anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst, Leipzig 1852; Robert Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung I. Von der Antike bis um 1600, München 1967; Marielene Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung II. Von 1600 bis zur Gegenwart, München 1972. 13. Vgl. etwa: Lovis Premuda: Storia dell’iconografia anatomica, Milano 1957; Bernard Schultz: Art and anatomy in Renaissance Italy, Ann Arbor 1985; Monique Nicole Kornell: Artists and the study of anatomy in sixteenth-century Italy, London 1992; Harald Moe: The art of anatomical illustration in the Renaissance und Baroque periods, Rhodos, Copenhagen 1995; Andrea Carlino: Paper Bodies: A Catalogue of Anatomical Fugitive Sheets 1538-1687, London 1999. 14. Darunter etwa: K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body. European traditions of anatomical illustration, Oxford 1992; Gerhard Wolf-Heidegger/Anna Maria Cetto: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, Basel 1967. 15. Vgl. dazu vor allem: Mimi Cazort/Monique Nicole Kornell/K.B. Roberts (Hg.): The Ingenious Machine of Nature. Four Centuries of Art and Anatomy, Ottawa 1996; Ludmilla Jordanova/Deanna Petherbridge: The Quick and the Dead. Artists and Anatomy, London 1997; Peter Frieß/Susanne Witzgall (Hg.): La Specola. Anatomie in Wachs im Kontrast zu Bildern der modernen Medizin, Bonn 2000; Martin Kemp/Marina Wallace: Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, Berkeley, Los Angeles, London 2000. 16. Dazu nur folgende Auswahl: William M. Ivins Jr.: »What about the Fabrica of Vesalius?«, in: Samuel W. Lambert/Willy Wiegand/ders., Three Vesalian Essays to accompany the ICONES ANATOMICAE of 1934, New York 1952, S. 43-99; Erwin Panofsky: »Artist, scientist, genius: notes on the ›Renaissance-Dämmerung‹«, in: Wallace K. Ferguson (Hg.), The Renaissance: Six essays, New York, Evanston 1962, S. 123-182; Robert Herrlinger: »Die didaktische Originalität in Leonardos anatomischen Zeichnungen«, in: ders./Fridolf Kudlien (Hg.), Frühe Anatomie, S. 80-107; Francisco 13
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Dabei haben kunsthistorische Ansätze oftmals die Tendenz, das Bildmaterial aus seinem spezifisch anatomischen Funktionshorizont herauszulösen und es auf seine ikonographische Tradition oder seinen ästhetischen Gehalt hin zu untersuchen, es also als Beleg für oder Folge von Kunst aufzufassen. Hingegen weisen medizinhistorische Ansätze oftmals die Tendenz auf, dieses Bildmaterial auf ein bloßes Abbildungsverhältnis zu verpflichten und mit dem ihm scheinbar vorgängigen anatomischen Wissen seiner Zeit gleichzuschalten, es also nicht in seiner bildmedialen Spezifizität, sondern als unproblematische Dokumentation anatomischer Praxis zu deuten. So wird anatomisch motivierte Bildgebung reduziert auf ihr spezifisch disziplinäres Körperwissen und damit zum Gegenstand einer bloßen Kritik an historischen Repräsentationen des immer einen körperlichen Sachverhaltes, welche aus heutiger Perspektive gelungen sind oder nicht. In der Kunstgeschichte gibt es durchaus einige kontroverse Diskussionen – vor allem über den Stellenwert des Anatomischen in der, für die und durch die Kunst der frühen Neuzeit.17 In der Medizingeschichte hingegen läßt sich kaum eine eigentliche Diskussion über die bildmediale Spezifizität anatomisch motivierter
Guerra: »The identity of the artists involved in Vesalius’s Fabrica 1543«, in: Medical History, Volume XIII (1969), S. 37-50; Martin Kemp: »A drawing for the Fabrica; and some thoughts upon the Vesalius muscle-men«, in: Medical History, Volume XIV (1970), S. 277-288; Sigrid Braunfels-Esche: »Leonardo als Begründer der wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung«, in: Rudolf Schmitz/Gundolf Keil (Hg.), Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, S. 23-49; Glenn Harcourt: »Andreas Vesalius and the anatomy of the antique sculpture«, in: Representations 17 (1987), S. 28-61; Jerome J. Bylebyl: »Interpreting the Fasciculo Scene«, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, Volume 45, Number 3 (1990), S. 285-316; Klaus Krüger: »Mimesis und Fragmentation. Körper-Bilder im Cinquecento«, in: Andrea von Hülsen-Esch/Jean-Claude Schmitt (Hg.), Die Methodik der Bildinterpretation. Les méthodes de l’interprétation de l’image. Deutsch-französische Kolloquien 19982000. 1. Teilband, Göttingen 2002, S. 157-202. 17. Dazu stellvertretend zwei unterschiedliche Positionen der Kunstgeschichte. Einerseits wirft Hetzer die Frage auf, »ob die Entdeckung der Perspektive als eines außerkünstlerischen Prinzips nicht als ein störendes Moment in die Malerei gekommen ist, ob nicht mit der Perspektive eine jener Bedrohungen gekommen ist, wie hernach mit Anatomie und Richtigkeit.« (Theodor Hetzer: Zur Geschichte des Bildes von der Antike bis Cézanne, Stuttgart 1998, S. 59) Andererseits stellt Hofmann zur frühneuzeitlichen Kunst fest: »Die Erforschung der Anatomie des menschlichen Körpers gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen der neuen Bildrealität.« (Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1998, S. 92) 14
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
Bildgebung und über deren Funktion für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens insgesamt ausmachen.18 Dabei gerät die bloße Affirmation, Bildgebung sei für die Anatomie von Bedeutung, oftmals zum Programm, welches es erlaubt, gerade nicht die Bilder, sondern das mittels dieser scheinbar unproblematisch und offensichtlich ausgestellte anatomische Körperwissen der jeweiligen Zeit auf den Prüfstand zu stellen. Bestenfalls wird die Aufgabe, eben diese Bilder in den Blick zu nehmen, an die Kunstgeschichte delegiert mit der Aufforderung, diese habe sich anatomisch motivierter Bildgebung stilgeschichtlich oder ikonographisch anzunehmen.19 Der Umstand, daß mittlerweile kunsthistorische Arbeiten, die sich primär einer solchen Aufgabe gewidmet haben, vorliegen, dürfte aber nachdrücklich verdeutlichen, daß es damit durchaus nicht getan ist.20 Jenseits von einschlägigen Momenten wie etwaigen Totentanz-Allegorien, Vanitas-Motiven oder der Präsentation sogenannter ›Muskelmänner› im Kontrapost sind die Möglichkeiten eines ikonographischen Ansatzes, anatomisch motivierte Bildgebung der frühen Neuzeit als künstlerisch-ikonographisch prädeterminierte auszuweisen, allein dadurch schon sehr begrenzt, daß lediglich Ganzkörperdarstellungen und Torsi von ihm erfaßt werden können. Diese machen aber in der Regel nur einen kleinen Teil des im Atlanten katalogisierten Bildmaterials aus. Hingegen verschließen sich insbesondere die Vereinzelung und Nahaufnahme von Organen einer solchen ikonographischen Analyse, welche darum bemüht zu sein scheint, anatomisch motivierte Bildgebung restlos in der Kunst ihrer Zeit aufgehen zu lassen. So verhandelt die Kunstgeschichte – sofern sie es nicht ohnehin vorzieht, Kunstwerke auszuweisen, denen Anatomiestudien dienlich gewesen sind oder eben nicht – das anatomische Bildzeugnis als Beleg für künstlerische Praxis. Sie ist also auf der Suche nach
18. Als Beispiel dafür mag Cunninghams Bewertung der Bildzeugnisse in Vesals Fabrica von 1543 herhalten: »The novelty of what Vesalius did lay elsewhere.« (A. Cunningham: The Anatomical Renaissance, S. 88) 19. So der Fall bei Putscher: »Hätte nicht die Kunstgeschichtsschreibung diesen Anteil der Kunst wegen des Gegenstandes der Darstellung so frühzeitig ausgeschieden, so wäre auch eine Stilgeschichte der anatomischen Abbildung längst geschrieben und die Wechselwirkungen zwischen den beschreibenden Wissenschaften […] und den verschiedenen Künsten, die die Gegenstände dieser Wissenschaften abund nachbilden, bis ins einzelne geklärt.« (M. Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung II, S. 61) 20. Vgl. dazu insbesondere: L. Premuda: Storia dell’iconografia anatomica; B. Schultz: Art and anatomy; M.N. Kornell: Artists and the study of anatomy. 15
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Künstlern, deren Werk durch Bilder dokumentiert wird. Die Medizingeschichte hingegen verhandelt das anatomische Bildzeugnis als Beleg für anatomische Praxis am Seziertisch, mithin als Präparat. Sie ist also auf der Suche nach Entdeckungen, welche durch Bilder dokumentiert werden. In beiden Fällen jedoch wird eine dem Bild inhärente Bedeutung vorausgesetzt, welche es historiographisch zu rekonstruieren gilt – sei es nun mit dem medizinhistorischen Ziel, das im Bild dokumentierte anatomische Körperwissen seiner Zeit zu erkunden, oder sei es mit dem kunsthistorischen Ziel, das im Bild dokumentierte Bildwissen eines Künstlers seiner Zeit zu erforschen. Diese zumindest für die Frage nach dem Status des Bildes für die anatomische Wissensproduktion und -organisation zunächst einigermaßen ernüchternde Bestandsaufnahme des Forschungsstandes dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, daß anatomisch motivierte Bildgebung der frühen Neuzeit sowohl seitens der Kunst- als auch seitens der Medizingeschichte in der Regel aufgeht in Begriffen wie ›Abbildung‹ oder ›Illustration‹.21 Dadurch scheint jegliche Aussicht auf eine bild- und medientheoretische Auseinandersetzung bereits verstellt. In der Tat liegen auch kaum systematische und methodisch fundierte Arbeiten über die bild- und vor allem medienhistorischen Implikationen anatomisch motivierter Bildgebung vor, so daß auf diesem Gebiet bestenfalls von Ansätzen gesprochen werden kann.22 Dies ist vielleicht nicht zuletzt ein genu-
21. Vgl. dazu stellvertretend zwei der Standardwerke, nämlich Herrlingers Geschichte der medizinischen Abbildung sowie The fabric of the body. European traditions of anatomical illustration von Roberts/Tomlinson. Neben der Tatsache, daß beiden Begriffen ein scheinbar gänzlich unproblematisches Bild- und damit auch Medienverständnis eignet, ist dem Begriff der ›Illustration‹ in Hinblick auf die Anatomie freilich noch ein weiteres Mißverständnis eingeschrieben. Darauf machen etwa Daston/Galison aufmerksam: »Tatsächlich täuscht die Bezeichnung ›Illustration‹ völlig über ihre Vorrangstellung hinweg, da sie unterstellt, daß ihre Funktion bloß ein Hilfsmittel sei, um einen Text oder eine Theorie zu illustrieren.« (Lorraine Daston/Peter Galison: »Das Bild der Objektivität«, in: Peter Geimer [Hg.], Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 29-99, hier S. 38) 22. Zu diesen Ansätzen zählen vor allem: L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der Anatomischen Abbildung; W.M. Ivins: »What about the Fabrica«; E. Panofsky: »Artist, scientist, genius«; G. Harcourt: »Andreas Vesalius«; K.B. Roberts/ J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body; A. Carlino: Paper Bodies; K. Krüger: »Mimesis und Fragmentation«. Während Panofsky, Harcourt und Krüger ausschließlich bildtheoretische Fragen erörtern, behandeln Choulant, Ivins, Roberts/Tomlinson und 16
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
in historiographisches Problem, denn bei der Sichtung der umfangreichen Forschungsliteratur zu anatomisch motivierter Bildgebung könnte der Eindruck entstehen, diese würde mit der Photographie im 19. Jahrhundert enden und bestenfalls mit dem Visible Human Project (VHP) am Ende des 20. Jahrhunderts eine ungeahnte Wiedergeburt unter nun scheinbar völlig umgekehrten Vorzeichen feiern.23 So verwundert es kaum, daß jene bildgebenden Verfahren, welche den anatomischen Bildhaushalt des 19. Jahrhunderts mit jenem auch von dem VHP verkörperten verbinden – also etwa die Röntgentechnik, die Computertomographie und die Magnetresonanztomographie24 –, in keiner der Standardpublikationen zu anatomisch motivierter Bildgebung Berücksichtigung finden. Dadurch aber bringen sich Kunst- und Medizingeschichte nicht zuletzt auch in Hinblick auf anatomisch motivierte Bildgebung der frühen Neuzeit um die Möglichkeit der Berücksichtigung bild- und medientheoretischer Ansätze, wie sie etwa von den Science Studies und nun zunehmend auch im Namen der Bildwissenschaften an wissenschaftlichen Bildern und dabei gerade an zeitgenössischen bildgebenden Verfahren der Medizin entwickelt worden sind.25
Carlino hauptsächlich druckgraphische Reproduktionstechniken. Eine Verknüpfung von bild-mit medientheoretischen Fragen bleibt in der Regel allerdings aus. 23. Zum Visible Human Project vgl. vor allem: Paula A. Treichler/Lisa Cartwright/Constance Penley (Hg.): The Visible Woman. Imaging Technologies, Gender, and Science, New York, London 1998; Catherine Waldby: The Visible Human Project. Informatic bodies and posthuman medicine, London, New York 2000; Christina Lammer (Hg.): Digital Anatomy, Wien 2001. 24. Siehe dazu vor allem: Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture, London, New York 1997; Bettyann Kevles: Naked to the Bone. Medical Imaging in the Twentieth Century, New Brunswick 1997. 25. Vgl. dazu etwa: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.): Representation in scientific practice, Cambridge/Mass. 1990; Brian S. Baigrie (Hg.): Picturing Knowledge. Historical and philosophical problems concerning the use of art in science, Toronto, Buffalo, London 1996; Caroline A. Jones/Peter Galison: »Introduction: Picturing Science, Producing Art«, in: dies. (Hg.), Picturing Science, Producing Art, New York, London 1998, S. 1-23; David Gugerli: »Soziotechnische Evidenzen. Der ›Pictorial Turn‹ als Chance für die Geschichtswissenschaft«, in: Traverse 3 (1999), S. 131159; B. Heintz/J. Huber: Mit dem Auge denken; Gunnar Schmidt: Anamorphotische Körper. Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2001; Monika Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen, 1896-1963, Zürich 2003. 17
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Zwar gibt es also eine Geschichte der Anatomie als Geschichte der anatomischen ›Abbildung‹ oder ›Illustration‹, oftmals auch im Rahmen einer weiter gefaßten Geschichte der medizinischen Abbildung26 oder im Namen eines Origins and development of medical imaging27. Auf eine spezifische Bildgeschichte aber, wie sie etwa von den Bildwissenschaften28 in Angriff genommen wird, oder auf eine spezifische Mediengeschichte, wie sie etwa anhand der Photographie nachweisbar ist, kann hinsichtlich der von der und in der Anatomie zur Anwendung gebrachten Bildmedien nicht zurückgegriffen werden. Während neben den sogenannten ›Illustrationen‹ oder ›Abbildungen‹ vor allem Phänomene wie das anatomische Theater29, der anatomische Blick30, anatomische Wachspräparate31 und auch
26. Vgl. R. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung I; M. Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung II. 27. Vgl. T. Doby/G. Alker: Origins and Development of Medical Imaging, Carbondale, Edwardsville 1998. 28. Vgl. dazu etwa: Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Régis Debray: Vie et mort de l’image. Une histoire du regard en Occident, Paris 1992; Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1995; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. Im Gegensatz zu diesen Bestrebungen kann Hetzers Frage nach der »letzten Idee des Bildes« (Th. Hetzer: Zur Geschichte des Bildes, S. 98) als Versuch gewertet werden, nicht künstlerisch motivierte, nicht-figurative sowie durch technisch-apparative Datenerhebungsverfahren generierte Bildformate aus einer etwaigen Geschichte des Bildes auszuschließen. 29. Vgl. etwa: Gottfried Richter: Das anatomische Theater, Berlin 1936; Giovanna Ferrari: »Public anatomy lessons and the carnival: the anatomy theatre of Bologna«, in: Past & Present, Number 117 (1987), S. 50-106; Bernhard Kathan: »Objekt, Objektiv und Abbildung: Medizin und Fotografie«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 80 (2001), S. 3-15. 30. Siehe dazu: Werner Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der ›inneren Natur‹ in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 1986; Christina Lammer: Die Puppe: eine Anatomie des Blicks, Wien 1999; Peter Moeschl: »Die Bilder des Körpers. Zur sinnlichen Wahrnehmung in der Medizin und im Alltag«, in: Gabriele Brandstetter/Hortensia Völckers (Hg.), ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit 2000, S. 286-300. 31. Siehe dazu etwa: Mario Bucci: Anatomia come arte, Firenze 1976; Georges Didi-Huberman: Ouvrir Vénus. Nudité, rêve, cruauté, Paris 1999; P. Frieß/S. Witzgall: La Specola. 18
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
anatomische Instrumente32 bisweilen durchaus umfangreich erforscht sind, liegen Studien zur seit der frühen Neuzeit privilegierten Publikationsform der Anatomie, nämlich dem anatomischen Atlanten, so gut wie gar nicht vor.33 Viele dieser sich explizit oder implizit mit der visuellen Kultur der Anatomie beschäftigenden Arbeiten könnten bereits Beispiele dafür sein, daß Wissenschaftsgeschichtsschreibung, was auch immer deren jeweiliges Selbstverständnis sein mag, nicht notwendig und nicht ausschließlich auf Schriften und Meßdaten verwiesen sein muß, sondern auch weitere Phänomene, darunter etwa Bildmedien, in den Blick nehmen kann.34 Allerdings beinhaltet die Annahme, daß die Anatomie eine visuelle Kultur und deshalb über den Körper im Bilde sei, einige Voraussetzungen, welche ihrerseits erklärungsbedürftig sind. Wenn Carlino von dem »definitive establishment of a visual anatomical culture«35 in der frühen Neuzeit spricht, dann dürfte dies zwar darauf zurückzuführen sein, daß sich die visuelle Kultur der Anatomie in der frühen Neuzeit anhand einschlägiger Phänomene wie dem anatomischen Theater, dem anatomischen Blick sowie dem anatomischen Atlanten ausformt. Doch dürfte die
32. Vgl. dazu: A. Faller: Die Entwicklung der makroskopisch-anatomischen Präparierkunst von Galen bis zur Neuzeit, Basel 1948. 33. Ausnahmen sind: Mathias Pozsgai: »Unmittelbare Vermittlung. Anatomie und Autorschaft in De humani corporis fabrica (1543)«, in: Zeitsprünge – Forschungen zur Frühen Neuzeit, Heft 3/4, Band 5 (2001), S. 254-282; L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«. Cahns aufschlußreicher Beitrag (Michael Cahn: Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation, Wiesbaden 1991), welcher sich der Geschichte wissenschaftlicher Publikationspraktiken aus medienwissenschaftlicher Perspektive annimmt, verhandelt weder den anatomischen Atlanten noch die Funktion von Bildmedien in wissenschaftlichen Publikationen. 34. Auf diese ›non-verbal communication‹ in den Wissenschaften hat etwa Mazzolini nachdrücklich hingewiesen: »While historians, analysing cultural traditions, are accustomed to tracing the intellectual debts of an author by studying his library and tracking down all the written sources he might have read, they seldom ask: which non-verbal material did my author use, study, develop, create, collect, classify; in which non-verbal sources was he trained and which role did all of this play in his cognitive processes and investigations?« (Renato G. Mazzolini: »Preface«, in: ders. [Hg.], Non-verbal communication in science prior to 1900, Firenze 1993, S. VII-XI, hier S. X) Neben Bildmedien führt er wissenschaftliche Instrumente, Modelle, Sammlungen von Präparaten, Museen, Laboratorien und auch das anatomische Theater an. 35. A. Carlino: Paper Bodies, S. 13. 19
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
bloße Akkumulation von Phänomenen, welche selbstverständlich wesentliche Momente einer jeden visuellen Kultur ausmachen, mitnichten für die Qualifizierung der Anatomie als einer veritablen visuellen Kultur ausreichen. Denn von der Anatomie als einer visuellen Kultur zu sprechen, heißt vor allem, die Fragen, was Anatomie sei, wie diese sich artikuliere und wie sie funktioniere, anders zu stellen, als dies bislang in der Regel der Fall gewesen sein dürfte. Dies betrifft zunächst die Annahme, Anatomie sei als Kultur aufzufassen und insofern selbst als kulturelles Phänomen zu fokussieren. Dazu bedarf es eines Kulturbegriffs, welcher es erlaubt, nicht nur die traditionell als kulturelle Sphäre definierten Felder der Literatur, Kunst, Musik oder Philosophie zu erfassen, sondern eben auch und unter anderem die Naturwissenschaften, die Medizin und die Technik, welche lange Zeit als der Sphäre des Kulturellen diametral entgegengesetzt betrachtet worden sind. Ein früher Ansatz dazu findet sich – noch bevor die Cultural Studies einen dynamischen Kulturbegriff, welcher Kultur als sich stets neu im Vollzug setzende und verhandelnde versteht, angedacht haben36 – in Snows kontrovers diskutierter Zwei-Kulturen-These von 1959. Dort diagnostiziert er eine Trennung zwischen naturwissenschaftlicher und künstlerisch-philosophischer Wissenskultur, womit er aber, und dies wird oft oder gerne übersehen, gleichsam eine Denkfigur einführt, welche es erlaubt, die Naturwissenschaften gerade nicht als essentiell autarkes System zu begreifen.37 So werden bestimmte
36. Cartwright/Sturken fassen den extensiven Kulturbegriff der Cultural Studies folgendermaßen zusammen: »Culture is the production and exchange of meanings, the giving and taking of meaning, between members of a society or group.« (Lisa Cartwright/Marita Sturken: Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture, Oxford 2001, S. 4) 37. So betont Snow nachdrücklich: »the scientific culture really is a culture, not only in an intellectual but also in an anthropological sense.« (C.P. Snow: The two cultures and a second look, Cambridge 1965, S. 9) Ein solcher Kulturbegriff muß Kultur nicht mehr als Differenzkriterium etwa zu Zivilisation, Technik oder Naturwissenschaften denken. Vielmehr kann er die grundsätzlich kulturelle Verfaßtheit auch dessen, was traditionell als außerhalb der Sphäre des Kulturellen befindlich deklariert wurde, betonen. Darauf weist etwa Engell hin: »Das Verständnis der Kultur erscheint nun in abnehmendem Maße als Differenz zwischen dem, was Kultur ist und dem, was nicht Kultur ist, sondern zunehmend durch Binnendifferenzierung, nach innen hin, zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen von Kultur.« (Lorenz Engell: »Ausfahrt nach Babylon. Die Genese der Medienkultur aus Einheit und Vielfalt«, in: ders., Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar 2000, S. 263-303, hier S. 273) 20
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
Methoden, Strategien und vor allem Praktiken der sogenannten ›hard sciences‹ überhaupt erst als kulturell bedeutsame Phänomene und vor allem als vergleichbar mit philosophischen, literarischen oder künstlerischen Positionen ausgewiesen. Dadurch erscheint Wissenschaft als kulturelle Praxis.38 Einen besonderen Stellenwert hat dabei die Medizin inne, welche sich gerade durch ihren fragilen Status zwischen Naturwissenschaft und ärztlich-klinischer Praxis als kulturwissenschaftlich relevant im engsten Sinne erweist.39 Damit ist aber noch nicht geklärt, was es heißt, Anatomie nicht nur als Kultur – etwa im Sinne einer Bedeutung stiftenden und Sinn verhandelnden Wissenskultur –, sondern als veritable visuelle Kultur zu untersuchen. Zwar sind zuletzt zahlreiche Arbeiten entstanden, welche den Begriff der ›visual culture‹ im Titel tragen, doch läßt sich daraus eher ein Fragenkatalog als eine Definition ableiten.40
38. Vgl. Hans Erich Bödeker/Peter Hanns Reill/Jürgen Schlumbohm (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750-1900, Göttingen 1999. Dort heißt es: »In diesem Sinne ist die Wissenschaftsgeschichte ein umfassendes multidisziplinäres Projekt geworden, das die Produktion von bestimmten Wissenstypen unter spezifischen historischen Bedingungen untersucht.« (Ebd., S. 11) Dazu auch folgende Ausführungen: »Indem man sich auf Wissenskulturen statt auf Disziplinen oder Spezialgebiete konzentriert, amplifiziert man die Wissenspraxis zeitgenössischer Wissenschaften, bis das gesamte Gewebe technischer, sozialer und symbolischer Elemente sichtbar wird, das diese Praxis ausmacht.« (Karin Knorr Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt/Main 2002, S. 13) 39. Vgl. dazu exemplarisch: »It is clear that medicine, health care, illness and the doctor-patient relationship are cultural activities and experiences, and as such, are appropriate areas of study for sociologists of culture and scholars in the field of cultural studies.« (Deborah Lupton: Medicine as Culture. Illness, Disease and the Body in Western Societies, London, Thousand Oaks, New Delhi 1994, S. 17) 40. Vgl. dazu etwa: Norman Bryson/Michael Ann Holly/Keith Moxey (Hg.): Visual Culture: Images and Interpretation, Hanover, London 1994; Christopher Jenks: Visual Culture, London 1995; Jessica Evans/Stuart Hall (Hg.): Visual Culture. The Reader, London u.a. 1999; L. Cartwright/M. Sturken: Practices of Looking; Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, London/New York 2001. Vgl. ferner den Band ›Visuelle Kultur‹, den die Zeitschrift Texte zur Kunst dem Thema gewidmet hat (Nr. 34, November 1999). Die Bandbreite dessen, was als ›visual culture‹ aufgefaßt wird, reicht von einer »history of images« (N. Bryson/M.A. Holly/K. Moxey: Visual Culture, S. xvi) über eine »social theory of visuality« (Ch. Jenks: Visual Culture, S. 1) bis hin zu der Frage, ob es sich dabei eher um einen methodischen Ansatz oder einen Phänomenbereich handelt. Letzteres wird besonders virulent bei Cartwright/Sturken, welche zunächst ausführen, die methodische Herausforderung bestehe in »to understand how images and their viewers make meaning, to determine what role images 21
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Der Problembereich dessen, was als visuelle Kultur aufgefaßt und verhandelt werden kann, ist dabei ganz wesentlich gekennzeichnet durch die Annahme, daß kulturelle Sinnstiftung – und damit die Antwort auf die Frage, was Kultur je sei – vielleicht nicht zuletzt durch visuelle und bildmediale Praktiken stattfinde.41 Diese Annahme ist auch für den Phänomenbereich der Medizin im allgemeinen geltend gemacht worden und hat dort besonders im Kontext bildgebender Verfahren Niederschlag gefunden.42 So führt der Begriff der ›visuellen Kultur‹ zu einer der zentralen Thesen der vorliegenden Arbeit zurück: Anatomisches Wissen artikuliert sich seit der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie in der frühen Neuzeit nicht nur wesentlich bildhaft, sondern es funktioniert auch wesentlich bildhaft. Diesen Umstand auszuweisen als genuines Signum jener visuellen Kultur, welche in ihrem Selbstverständnis formelhaft konstant über den Körper im Bilde zu sein hat, ist gerade deshalb wichtig, weil visuelle Kulturen eben immer auch und oft zuvorderst Bildkulturen sind.
play in our cultures, and to consider what it means to negotiate so many images in our daily lives.« (L. Cartwright/M. Sturken: Practices of Looking, S. 1) Bezüglich des Phänomenbereichs stellen sie daraufhin fest: »The term ›visual culture‹ encompasses many media forms ranging from fine art to popular film and television to advertising to visual data in fields such as the sciences, law, and medicine.« (Ebd., S. 2) 41. Vgl. dazu programmatisch Mirzoeff: »Visual culture is new precisely because of its focus on the visual as a place where meanings are created and contested.« (N. Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, S. 6) Weiterhin geben Cartwright/Sturken als eine der wesentlichen Thesen ihrer Auffassung von ›visual culture‹ aus, »[…] that meaning does not reside within images, but is produced at the moment that they are consumed by and circulate among viewers.« (L. Cartwright/M. Sturken: Practices of Looking, S. 7) 42. Vgl. dazu exemplarisch Cartwright, welche nach dem »status of visuality in knowledge about and authority over the body« (L. Cartwright: Screening the Body, S. xvi) fragt und damit »the history of a largely unexamined field of visual culture, that of medical and scientific imaging« (Ebd., S. xvii) in Angriff nimmt. Den Stellenwert der Medizin für die Untersuchung visueller Kulturen unterstreicht auch Mirzoeff: »Visualizing has had its most dramatic effects in medicine.« (N. Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, S. 6) 22
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
Methodische Ansätze »Wissenschaftliche Bilder sind integraler Bestandteil einer Bildgeschichte bzw. einer Bildwissenschaft«43, räumt Boehm ein. Doch könnten die kontroversen Diskussionen über Bildwissenschaften bisweilen den Eindruck erwecken, die einzige davon berührte Disziplin sei die Kunstgeschichte.44 Als kleinster gemeinsamer Nenner aller divergierenden bildwissenschaftlichen Ansätze figuriert aber nicht die Kunstgeschichte, sondern die Berufung auf den ›iconic‹ oder ›pictorial turn‹.45 Von daher ist hier zunächst nicht über das – angesichts des bereits konturierten Forschungsstandes einigermaßen offenkundige – Spannungsverhältnis zwischen Kunst- und Bildwissenschaft noch überhaupt über Kunst zu sprechen. Vielmehr ist der Frage nachzugehen, ob der ›pictorial‹ oder ›iconic turn‹ nicht gerade auch in anderen und für andere Wissensfelder fruchtbar gemacht werden kann. Dies betrifft in Hinblick auf die Funktion des Bildes für die anatomische Wissensproduktion und -organisation vor allem die Herausforderung des ›pictorial turns‹ für jene Medizingeschichte, in welcher sich der fokussierte Phänomenbereich wesentlich entfaltet. Die im Begriff der ›Medizingeschichte‹ eingelagerte Verschränkung von einem historischen Problemhorizont mit einem Problemhorizont des Historiographischen ist ein wesentliches Moment auch jenes ›linguistic turns‹46 gewesen, auf welchen diverse
43. Gottfried Boehm: »Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis«, in: Jörg Huber/Martin Heller (Hg.), Konstruktionen Sichtbarkeiten, Wien, New York 1999, S. 215-227, hier S. 227. 44. Dazu etwa: James Elkins: »Art history and images that are not art«, in: The Art Bulletin, Vol. LXXVII, Number 4 (1995), S. 553-571; G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«; H. Belting: Bild-Anthropologie; Jörg Huber: »Bilder zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Forschungsskizze«, in: Juerg Albrecht (Hg.), Horizonte – Beiträge zu Kunst und Kunstwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2001, S. 379-388. 45. Boehm spricht sowohl von einer »ikonischen Wendung« als auch von einem »iconic turn« (Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. [Hg.], Was ist ein Bild?, S. 11-38, hier S. 13), wobei er jene in der Praxis nicht-figurativer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts – also auf Phänomenebene – verwirklicht sieht, wohingegegen dieser als Desiderat kunst- bzw. bildwissenschaftlicher Forschung ausgewiesen wird. Der Begriff ›pictorial turn‹ wurde 1992 von Mitchell geprägt. Vgl. dazu: W.J.T. Mitchell: »Der Pictorial Turn«, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 15-40. 46. Der Begriff ›linguistic turn‹ stammt von Rorty (Richard Rorty: The Linguistic Turn: Recent Essays in Philosophical Method, Chicago 1967), die unter diesem 23
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Proklamationen eines ›iconic‹ oder ›pictorial turns‹ nicht verzichten können oder wollen. Möchte man davon ausgehen, daß sich ein ›iconic‹ oder ›pictorial turn‹ nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem Komplementärverhältnis zum ›linguistic turn‹ bewegt, dann ist zunächst festzustellen, daß ein ›iconic‹ oder ›pictorial turn‹ ebensowenig notwendig etwas mit einer etwaigen ›Bilderflut‹ zu tun hat wie der ›linguistic turn‹ mit einer etwaigen ›Schriftflut‹. Demgemäß formuliert Mitchell: »Der pictorial turn ist keine Antwort auf irgendetwas. Er ist nur eine Art und Weise, die Frage zu formulieren.«47 So geht es auch hier – sicherlich weniger aus medizinhistorischer denn aus medien- oder bildwissenschaftlicher Perspektive auf einen privilegiert medizinhistorischen Phänomenbereich – darum, eine Frage zu spezifizieren, deren Antwort hypothetisch bereits vorliegen könnte: »In verändertem Umriß erscheint auch die Medizingeschichte in einer Bildzeit wie der unseren, die wieder neu und Neues zu sehen lernt.«48 Daß von dieser Aussage Putschers seinerzeit kaum nachhaltige Impulse für die Medizingeschichtsschreibung ausgegangen sind, ist einerseits einem wenig spezifizierten Bild- und Medienbegriff und andererseits einer einigermaßen fatalen Delegierung wesentlicher Bildfragen an die Kunstgeschichte geschuldet. Dennoch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß der von ihr eröffnete Problemhorizont heute aktueller denn je und im Namen des ›pictorial turns‹ medien- bzw. bildwissenschaftlich für einen Phänomenbereich der Medizingeschichte einzulösen ist. Dazu bedarf es einer Klärung des nur auf den ersten Blick unproblematischen Begriffs der ›Bildmedien‹ dessen Bestandteile ›Bild‹ und ›Medien‹ auch den Titel dieser Arbeit prägen. Auf die Notwendigkeit einer solchen Begriffsklärung macht etwa Belting
Begriff seitdem subsumierten methodischen Ansätze und theoretischen Prämissen gehen jedoch weiter zurück. Darauf, daß der linguistic turn keineswegs einen abgeschlossenen und gemeinhin vollzogenen Paradigmenwechsel in den Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt, hat zuletzt noch einmal Sarasin hingewiesen. (Philipp Sarasin: »Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse«, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/Main, S. 10-60) 47. W.J.T. Mitchell: »Der Pictorial Turn«, S. 26. 48. M. Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung II, S. 25. Diese Aussage ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, am bemerkenswertesten ist allerdings wohl die Tatsache, daß sie 1972 getätigt wurde, also sowohl lange Zeit vor den Proklamationen eines ›pictorial‹ oder ›iconic turn‹ als auch noch kurz vor der Etablierung der Computertomographie als erstem digitalen bildgebenden Verfahren in der klinischen Diagnostik. 24
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
nachdrücklich aufmerksam, wenn er feststellt: »Im heutigen Diskurs […] werden Bilder entweder in einem so abstrakten Sinne erörtert, als gäbe es sie medien- und körperlos, oder einfach mit ihren Bildtechniken verwechselt.«49 Damit adressiert Belting seine Kritik einerseits an eine technikzentrierte und damit zumindest latent mediendeterministische Medienwissenschaft.50 Andererseits hinterfragt er den auf Phänomenebene meist an der Kunst, auf methodischer Ebene meist an der Ästhetik geschulten und von daher zumindest latent universalistischen Bildbegriff der Kunstwissenschaft.51 Letzteres ist gerade deshalb von Belang, da Bildwissen – das heißt hier zunächst: Wissen um Bilder – heute ganz offensichtlich weniger denn je notwendig und ausschließlich künstlerisch oder kunsthistorisch diszipliniertes Bildwissen ist, worauf neuerdings auch andere Forschungsbeiträge aus den Medien- und Bildwissenschaften aufmerksam machen.52 Grundsätzlich, aber nachgerade
49. H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 20. 50. Vgl. dazu: »In der Technikgeschichte der Medien […], wird die Bildproduktion gleichsam als Automatismus der Medientechnik geschildert« (H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 28). Für eine derart technikzentrierte Medienwissenschaft tritt etwa Ernst ein, wenn er sich auf den »nachrichtentechnischen Begriff des Mediums« (Wolfgang Ernst: M.edium Foucault: Weimarer Vorlesungen über Archive, Archäologie, Monumente und Medien, Weimar 2000, S. 31) beruft. Winkler hingegen stellt für die Medienwissenschaft fest: »Die Technik selbst in den Blick zu nehmen also war ein wichtiger Schritt. […] was einmal ein berechtigter, kritischer Einwand war, ist zu einer positiven Gewißheit verkommen.« (Hartmut Winkler: »Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung«, in: Heinz-B. Heller u.a. [Hg.], Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg 2000, S. 9-22, hier S. 11) Von daher fordert er von der Medienwissenschaft eine wechselseitige Berücksichtigung dessen, was er als »Einschreibung der Praxen in die Technik und Zurückschreiben der Technik in die Praxen« (Ebd., S. 14) bezeichnet. Dies schlägt sich auch in Zielinskis Rede von »Kulturtechniken und Technikkultur« (Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 20) nieder, wenn er betont: »[…] jede dogmatische Entscheidung für einen ihrer Pole kann nur zu Lähmungen führen.« (Ebd.) Folgerichtig vertritt Faßler die Ansicht, »dass es keine universale Sprache irgendeines Mediums gibt.« (Manfred Faßler: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Köln, Weimar 2002, S. 100) 51. Belting spricht ausdrücklich von einer »Dichtotomie in der Kunst- und in der Bildgeschichte« (H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 17) und betont: »In der Kunstwissenschaft war das Bild streng auf seinen Kunstcharakter beschränkt, weshalb es in eine Geschichte der künstlerischen Formen eingeordnet wurde.« (Ebd., S. 15) 52. So etwa Reck, welcher diagnostiziert: »Die Kunst hat entschieden die 25
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nicht mediendeterministisch oder bildontologisch, geht es also darum, ein operationalisierbares Koordinatensystem zu schaffen, welches es einerseits erlaubt, über Bilder zu sprechen, ohne notwendig über Kunst sprechen zu müssen, und welches es andererseits ermöglicht, über Medien zu sprechen, ohne sich dabei ausschließlich auf Medientechnik beschränken zu müssen. Dazu führt Belting aus: »Es ist der Sinn der […] Fragestellung, daß sie den Bildbegriff aus den engen und traditionellen Denkmustern befreit, in denen er in den verschiedenen akademischen Fächern oder Disziplinen eingeschlossen ist.«53 Den Kern von Beltings Ansatz bildet die heuristische Differenzierung von Bild und Medium, mittels derer das Phänomen Bild jenseits der zunächst unverfänglichen Rede von Bildmedien je spezifisch und damit dynamisch konturiert werden kann. Dabei geht weder das Medium im Bild unter, noch geht das Bild im Medium auf. Von daher fungiert diese heuristische Differenzierung von Bild und Medium als flexibles Scharnier zwischen systematischer und historischer Konzeptualisierung von Bildmedien und eröffnet immer wieder einen bestimmten, stets neu zu bestimmenden Problemhorizont. Dieser kann von geläufigen, tendenziell bildontologischen oder mediendeterministischen Ansätzen kaum erfaßt werden. Entsprechend formuliert Belting: »Die Ambivalenz zwischen Bild und Medium besteht darin, daß sich ihr Verhältnis in nahezu unbegrenzter Vielfalt in jedem einzelnen Fall neu herstellt.«54 Aus diesem Wechselspiel zwischen Bild und Medium läßt sich der prekäre, da instabile Status des Bildes ableiten. Das Bild ist gerade deshalb keine feste Größe an sich, weil seine jeweilige Bedeutung weder ikonographisch noch medientechnisch in ihm selbst verborgen ist. Insofern gilt es, das Bild als Funktion zu verhandeln, und zwar als eine Funktion, welche ganz entschieden von medientechnischen und bildkulturellen Variablen gekennzeichnet ist. ›Medientechnisch‹ verweist vor allem auf Aspekte der Produktion und druckgraphischen Reproduktion von
zentrale Stelle einer Lenkung der visuellen Kultur verlassen. Sie hat keine Prägekraft mehr für die ganze Kultur oder die Kultur als ganzer.« (Hans Ulrich Reck: »Zwischen Bild und Medium. Zur Ausbildung der Künstler in der Epoche der Techno-Ästhetik«, in: Peter Weibel [Hg.], Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001, S. 17-50, hier S. 46) Ähnlich äußert sich auch Faßler: »Sichtbarkeit ist medienkulturell aus dem künstlerischen Rahmen genommen.« (M. Faßler: Bildlichkeit, S. 9) 53. H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 55. 54. Ebd., S. 22. 26
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
Bildmaterial. ›Bildkulturell‹ hingegen umfaßt vor allem Aspekte des Bildgebrauchs, also diejenigen Lesarten, denen das Bildmaterial unterzogen wird, und diejenigen Handlungen, die mit ihm veranstaltet werden. Wenn das Bild eine Funktion von variablen und deshalb je zu spezifizierenden Medientechniken und Kulturpraktiken ist, dann erscheint es folgerichtig, Bild als »kulturelle Handlung«55 ernst zu nehmen. Damit wird zunächst dem Umstand Rechnung getragen, daß das Bild nicht einfach vorliegt, sondern sich in dem und durch den Betrachter ereignet, weshalb ein besonderes Augenmerk auf die medien- und kulturspezifischen Momente der Präsentation von Bildern gelegt werden sollte. Dies bedeutet tatsächlich eine wesentliche Verschiebung der medien- und bildwissenschaftlichen Aufmerksamkeit gegenüber Bildern. Denn nun hat eine »Topographie von Handlungen, nicht von Referenzen«56 im Vordergrund zu stehen. Diese kennzeichnet das komplexe Feld jener Bildpraktiken, welche auf medientechnischer und bildkultureller Ebene die Funktion Bild allererst gewährleisten.57 Möchte man Bild als ›kulturelle Handlung‹ auffassen, dann gilt es also zuvorderst, solche spezifischen Bildpraktiken auszuweisen. Zu diesen Bildpraktiken zählen insbesondere Fragen nach der visuellen Kultur, in welcher Bilder bedeutsam gestaltet und sinnhaft verhandelt werden; Fragen nach etwaigen Bildtransfers zwischen visuellen Kulturen; Fragen nach signifikanten Transformationen von Bildern durch deren Transfer zwischen visuellen Kulturen; Fragen nach bildgebenden Verfahren und druckgraphischen Reproduktionstechniken; und nicht zuletzt Fragen nach den Auswirkungen dieser bildkulturellen und medien-
55. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 65. 56. H.U. Reck: »Zwischen Bild und Medium«, S. 33. 57. So betont Belting: »Es ist etwas anderes, von Bedeutungen in Bildern zu sprechen […], als die Bedeutung, die Bilder in jeder Gesellschaft erwerben und besitzen, zum Thema zu machen.« (H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 15) Trotz des durchaus nicht unproblematischen – da eine Aktualität des Historischen nicht fruchtbar machenden – historischen Bezugs stellt Böhme ähnlich fest: »Was ein Bild jeweils ist, definiert sich nicht, wie in der klassischen Epoche des Bildes, durch den Referenten, sondern vielmehr durch die Art des Gebrauchs.« (Gernot Böhme: Theorie des Bildes, München 1999, S. 133) Vgl. dazu die Argumentation Seels: »Unterschiedliche Arten des Umgangs mit Bildern schaffen unterschiedliche Arten von Bildern.« (Martin Seel: »Dreizehn Sätze über das Bild«, in: ders., Ästhetik des Erscheinens, München 2000, S. 255-293, S. 267) Schließlich kann Reck mit einiger Berechtigung behaupten: »Der pragmatische Rahmen ist unverzichtbar.« (H.U. Reck: »Zwischen Bild und Medium«, S. 38) 27
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technischen Aspekte auf die Verfaßtheit der jeweils beteiligten visuellen Kulturen. Die im Namen eines ›pictorial turns‹ an einen privilegiert medizinhistorischen Phänomenbereich zu richtende medienbzw. bildwissenschaftliche Frage läuft demnach darauf hinaus, was die Anatomie mit Bildern macht und was Bilder mit der Anatomie machen.58 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, wie diese medientechnischen und bildkulturellen Praktiken, welche sich auf Phänomenebene bewegen, auf methodologischer Ebene überhaupt sichtbar gemacht werden können. Dies geschieht zuvorderst dadurch, daß entlang der Publikationsform des anatomischen Atlanten eine Medienarchäologie anatomischen Wissens erprobt wird. Diese ist freilich nicht ohne Foucaults Konzept der Archäologie des Wissens59 zu formulieren, geht gleichwohl aber nicht notwendig und nicht restlos in diesem auf. Darüber geben einerseits der Gegenstand des archäologischen Aktes, nämlich das anatomische Wissen, und andererseits das Präfix ›Medien-‹Auskunft. Eine hier zu erprobende Medienarchäologie anatomischen Wissens unterscheidet sich in ihrem Selbstverständnis von Foucaults Archäologie des Wissens dahingehend, daß sie nicht nur Diskurse im Sinne des ›linguistic turns‹, sondern eben auch und vor allem Bildmedien im Sinne des ›pictorial turns‹ avisiert.60 Zudem unterscheidet sie sich von Ernsts Projekt einer
58. Es erstaunt nicht, daß Mitchell (hier nicht zu verwechseln mit dem Begründer des ›pictorial turns‹) in Abwandlung einer von der linguistischen Pragmatik gestellten Frage (vgl. John L. Austin: How to do Things with Words, London, Oxford 1975) ein ganzes Kapitel seiner Arbeit mit ›How to Do Things with Pictures‹ betitelt und ein entsprechendes Unterkapitel mit ›How Pictures do Things with Us‹ umschreibt. (Vgl. William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the PostPhotographic Era, Cambridge/Mass. 1992) Dort führt er aus: »Thus we can begin to see that the truth, falsehood, or fictionality of an image is not simply a congenital property – one conferred at birth by a particular capture or construction process. It is, at best, only partially determined by the maker of the image. It is a matter, as well, of how that image is being used – perhaps by somebody other than the maker – in some particular context.« (W.J. Mitchell: The Reconfigured Eye, S. 220) 59. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main 2002. 60. Foucault hat freilich selbst hervorgehoben, daß der »Diskurs […] nicht der gemeinsame Interpretationsboden für alle Phänomene einer Kultur« (Michel Foucault: »Die Wörter und die Bilder«, in: Walter Seitter [Hg.], Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim 1996, S. 9-13, hier S. 11) ist. Vielmehr interessiere ihn »das ganze Geflecht des Sichtbaren und des Sagbaren, welches eine Kultur in einem Moment ihrer Geschichte charakterisiert.« (Ebd., S. 10) Zum Verhältnis von Sehen und Wissen vgl. neben der Geburt der Klinik und Überwachen und Strafen vor allem Rajchmans 28
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
»Medienarchäologie des Wissens«61 dahingehend, daß sie sich erstens nachdrücklich als Modus der Historiographie und nicht als deren grundsätzliche Verabschiedung versteht, und daß sie zweitens sowohl medientechnische als auch bildkulturelle Aspekte umfaßt. Schließlich unterscheidet sie sich als Medienarchäologie anatomischen Wissens von Zielinskis Archäologie der Medien62 dahingehend, daß sie nach der Funktion von Bildmedien für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens fragt und demgemäß keine Archäologie des Medialen, sondern eine Medienarchäologie des Anatomischen darstellt. Ähnlich aber wie die zuletzt im Namen einer etwaigen Aktualität des Archäologischen63 ausgewiesenen Positionen befaßt sie sich mit den »Materialitäten des Wissens«64, weshalb sie besonderes Augenmerk auf die »topographische und technische Bedingtheit jedes Wissens«65 legt. Entsprechend fungiert die Publikationsform des anatomischen Atlanten als Monument bildmedialer Praktiken.66 Den anatomischen Atlanten als Monument zu bezeichnen, läuft zunächst darauf hinaus, diesen nicht als bloße Dokumentation von ihm vorgängigen, etwa in anatomischer Praxis am Seziertisch gewonnenen Wissens aufzufassen, sondern ihn selbst als genuin anatomisch motivierte, aber eben bildmediale Praxis zu verstehen. Der Begriff der ›bildmedialen Praktiken‹ entfaltet sich im vorliegenden Problemhorizont einigermaßen notwendig komplementär zu demjenigen der ›diskursiven Praktiken‹ bei Foucault:
Beitrag, in welchem er ausführt: »Sichtbarkeit ist Sache eines positiven, materiellen, namenlosen Körpers von Praktiken.« (John Rajchman: »Foucaults Kunst des Sehens«, in: Tom Holert [Hg.], Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000, S. 40-63, hier S. 43) 61. Vgl. dazu: W. Ernst: M.edium Foucault, S. 9. S.a.: Wolfgang Ernst: »Medien@rchäologie (Provokation der Mediengeschichte)«, in: Georg Stanitzek/ Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften, Köln 2001, S. 250-267. 62. Vgl. dazu: S. Zielinski: Archäologie der Medien. 63. Vgl. dazu: Knut Ebeling/Stefan Altekamp (Hg.): Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/Main 2004. 64. Knut Ebeling: »Die Mumie kehrt zurück II. Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien«, in: ders./St. Altekamp (Hg.), Die Aktualität des Archäologischen, S. 9-30, hier S. 14. 65. Ebd. S. 15. 66. Zur Differenzierung von ›Monument‹ und ›Dokument‹ für dasjenige, was Foucault als »methodologisches Feld der Geschichte« (M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 21) bezeichnet, vgl.: ebd., S. 14f. 29
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»was man in dieser archäologischen Geschichte freizulegen versucht, sind die diskursiven Praktiken, insoweit sie einem Wissen Raum geben und dieses Wissen das Statut und die Rolle von Wissenschaft annimmt.«67 Das heißt freilich aber auch, daß es sich hier zuvorderst um den Ausweis der Positivität anatomischen Wissens durch bildmediale Praktiken handelt und es somit nicht das primäre Anliegen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens ist, Bilder zu beschreiben. Vielmehr geht es darum, Bildpraktiken, wie sie in der Publikationsform des anatomischen Atlanten verkörpert sind, zu beschreiben, also das anatomische Wissen, welches auf der Bildfläche produziert und um die Bildfläche herum organisiert wird. Bei anatomisch motivierter Bildgebung handelt es sich privilegiert um Bilder in Büchern, wobei der Atlas als Ort der Bilder darüber entscheidet, wo und in wessen Namen Bildflächen zur Verfügung gestellt werden, welchem Funktionshorizont sie dort verpflichtet sind und welchen Bildpraktiken sie anheimgegeben werden sollen. Bestimmte medientechnische und bildkulturelle Eingriffe erlauben an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Handlungen mit Bildern, welche dann auch unterschiedliche Wissensbestände mobilisieren und autorisieren. Dieser Umstand verdeutlicht auch, daß der Problemhorizont bildmedialer Praktiken sich in einer Medienarchäologie anatomischen Wissens von denjenigen Ansätzen unterscheidet, welche im Namen einer historischen Rezeptionsästhetik formuliert worden sind.68 Dies vor allem deshalb, da die Publikationsform des anatomischen Atlanten selbst als Monument bildmedialer Praktiken wie etwa Datenerhebungsverfahren, druckgraphischer Reproduktionstechniken und bildkultureller Strategien der Katalogisierung fokussiert wird. Bilder in Büchern sind dort stets schon in Gebrauch. Von daher interessiert es nicht, wie in der historischen Rezeptionsforschung, was Leser mit Atlanten gemacht haben, sondern es interessiert, was Anatomen als Autoren von Publikationen mit jenen Bil-
67. Ebd., S. 271. Vgl. dazu auch: »Anstatt der Achse Bewußtsein – Erkenntnis – Wissenschaft (die vom Index der Subjektivität nicht befreit werden kann) zu folgen, folgt die Archäologie der Achse diskursive Praxis – Wissen – Wissenschaft.« (Ebd., S. 260) 68. Vgl. dazu vor allem: Wolfgang Kemp: »Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik«, in: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, S. 7-27. Dort heißt es: »Die Rezeptionsästhetik hat […] (mindestens) drei Aufgaben: (1) Sie muß die Zeichen und Mittel erkennen, mit denen das Kunstwerk in Kontakt zu uns tritt; sie muß sie lesen im Hinblick (2) auf ihre sozialgeschichtliche und (3) auf ihre eigentlich ästhetische Aussage.« (Ebd., S. 22f.) 30
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
dern gemacht haben, welche im Atlanten legendiert, kommentiert und katalogisiert sind. Dabei ist es ein wesentliches Unterfangen, das diesen bildmedialen Praktiken implizite anatomische Bildwissen sichtbar zu machen. Unter ›Bildwissen‹ soll hier ein Wissen um Bilder – also um Medientechniken und Kulturpraktiken – verstanden werden, welches auf die Frage antwortet, welche kulturellen Handlungen mit welchen Datenerhebungsverfahren und mittels welcher druckgraphischer Reproduktionstechniken an welchen Orten realisiert und autorisiert werden können. Wenn hier untersucht werden soll, ob anatomisches Wissen als formelhaft konstantes Wissen über den Bau des menschlichen Körpers nicht zuvorderst Wissen durch Bilder und damit auch Wissen um Bilder, mithin Bildwissen ist, dann erweist sich der Begriff ›anatomisches Wissen‹ in Hinblick auf Foucaults Konzept der Archäologie zumindest auf den ersten Blick als prekär. Denn zum einen markiert er die Anatomie als diejenige Wissenschaft, deren Wissensformation untersucht werden soll, womit offenkundig ein wissenschaftshistorischer Problemhorizont eröffnet wird. Zum anderen aber handelt es sich bei Foucaults Archäologie weniger um ein wissenschaftshistorisches Instrumentarium denn um ein solches, welches ganz wesentlich die Geschichte des Wissens, wie es quer zu den und durch die Disziplinen formiert wird, in Angriff nimmt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte wird gerade von der jüngsten Foucault-Rezeption, welche sich wahrscheinlich nicht mehr auf den gemeinsamen Nenner einer Subversion des Wissens69 durch die Archäologie bringen läßt, nachdrücklich thematisiert.70 Dabei zeigt sich, daß etwa Canguilhems Konzept der Epistemologie als genuin wissenschaftshistorisches Instrument nach der Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses fragt, wohingegen Foucaults Konzept der Archäologie als genuin wissenshistorisches Instrument die Geschichtlichkeit diskursiver Formationen des Wissens untersucht.71
69. Vgl. dazu: Walter Seitter: Von der Subversion des Wissens. Michel Foucault, München 1974. 70. Vgl. dazu: Ulrich Johannes Schneider: »Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/Main 2003, S. 220-229. 71. Davidson etwa führt aus: »Gegenstand der Epistemologie ist die Wissenschaft, während diskursive Formationen oder Wissen (savoir) Gegenstand der Archäologie sind.« (Arnold I. Davidson: »Über Epistemologie und Archäologie. Von 31
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Zweifelsohne ist Anatomie disziplinär auf Körperwissen geeicht und seit jeher formelhaft konstant mit der ›Beschreibung des Baus des menschlichen Körpers‹ beauftragt. Daraus ergibt sich für eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, welche sich entlang der Publikationsform des Atlanten bewegt, die Frage nach der Funktion von Bildern für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den menschlichen Körper. Hier handelt es sich also um Körperwissen, welches, in welcher Form auch immer, als Wissen durch Bilder verhandelt werden soll. Auf der anderen Seite stellt sich dann aber notwendig die Frage, was mit welchen Bildern an welchen Orten gemacht werden muß, um Körperwissen durch Bilder zu gewinnen. Hier handelt es sich also um Bildwissen, das heißt um Wissen um Bilder, nicht durch Bilder. Daraus ergeben sich medienarchäologisch zwei Wissensformate: zum einen spezifisch anatomisches Körperwissen als Wissen durch Bilder; zum anderen anatomisch spezifiziertes Bildwissen als Wissen um Bilder. ›Spezifiziert‹ läuft darauf hinaus, daß Anatomie spezifisch disziplinär zwar nicht auf Bildwissen angelegt ist, daß sie dieses Bildwissen aber benötigt, um Körperwissen durch Bilder zu formieren. Bezüglich solch disziplinär spezifizierter Wissensformate spricht Foucault im Umfeld der Archäologie von »eingeschlossenem Wissen«72. Für eine Medienarchäologie anatomischen Wissens heißt das, daß Anatomie mit der Spezifizierung von Bildwissen Wissensformate importiert, welche ihr nicht notwendig disziplinär verpflichtet und damit auch nicht ausschließlich eigen sind. Dieser Transfer läßt allerdings auch die transferierten Wissensformate nicht unberührt.73 Vielmehr werden diese zu spezifisch anatomischen Zwecken anatomisch spezifiziert. Mithin geht es so-
Canguilhem zu Foucault«, in: A. Honneth/M. Saar, Michel Foucault, S. 192-211, hier S. 193) Dies heißt aber auch, »daß diese Ebene des Wissens (savoir) weiträumiger und umfassender ist als die der existierenden Wissenschaft und daß Transformationen innerhalb der diskursiven Gesamtheiten des savoir deshalb auch zu Veränderungen in den diskursiven Praktiken von mehr als einer Wissenschaft führen können, selbst wenn sich diese Effekte auf unterschiedliche Weise manifestieren.« (Ebd., S. 204) 72. Michel Foucault: »Titel und Arbeiten«, in: ders., Schriften I, Frankfurt/Main 2001, S. 1069-1075, hier S. 1069. 73. Dazu führt Davidson aus: »Wissenschaftliche Diskurse sind modifizierte Instantiierungen von savoir, niemals dessen unmittelbarer Ausdruck. […] Der Schritt vom savoir zur Wissenschaft erfordert Veränderungen, deren Ausmaß und Beschaffenheit nur historisch zu bestimmen sind.« (A.I. Davidson: »Über Epistemologie und Archäologie«, S. 206) 32
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
wohl um den Transfer als auch um die Transformation von Wissensformaten, ein Umstand, der hier hinsichtlich anatomisch spezifizierten Bildwissens anhand professioneller Bildproduzenten in frühneuzeitlichen Atlanten oder anhand der Kooperation von Anatomen und Radiologen in zeitgenössischen Atlanten zu untersuchen sein wird. In jedem Fall liegt der hier skizzierten Medienarchäologie anatomischen Wissens die These zugrunde, daß jenes spezifizierte Bildwissen, über welches die Anatomie praktisch verfügt, eben nicht theoretisch veräußert wird. Gerade dies unterscheidet die Anatomie wesentlich von der Kunst, welche vor allem spezifisches Bildwissen produziert und auch explizites Bildwissen in Theorien, Traktaten und Manifesten autorisiert. Insofern müssen Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, welche sich im Begriff des ›anatomischen Wissens‹ überlagern, einander auf historischer und historiographischer Ebene nicht ausschließen, denn ihr Wechselverhältnis ergibt sich allererst durch eine bestimmte, je zu bestimmende Perspektivierung. Das Wissen der Anatomie als Wissenschaft wird also weder als ausschließlich disziplinäres angenommen, noch wird davon ausgegangen, daß es notwendig im Praxisfeld der Anatomie verweilt, noch wird auch nur irgendwie ansatzweise behauptet, die Anatomie bleibe durch Disziplinierung von Wissen fortlaufend und unabdinglich bei sich selbst. Diesbezüglich merkt Foucault durchaus programmatisch an: »Wissen ist nicht Wissenschaft in der sukzessiven Bewegung ihrer inneren Strukturen, es ist das Feld ihrer tatsächlichen Geschichte.«74 Genau dieses Feld zwischen visueller Kultur, anatomischem Atlanten und anatomischem Bildhaushalt – hier verstanden als Archiv medientechnisch möglicher und kulturspezifisch notwendiger Bilder – soll im Rahmen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens als spezifisch anatomisches Wissen durch Bilder und anatomisch spezifiziertes Wissen um Bilder bestellt werden.
Zur Anatomie dieses Buches Im Zentrum der Untersuchung stehen vor allem die von der und in der Anatomie zur Anwendung gebrachten Bildmedien und damit nicht zuletzt eher spezifisch bildmediale, mithin medientechnische und bildkulturelle Modi der anatomischen Wissensproduktion und -organisation denn die Frage nach einem historisch oder systema-
74. Michel Foucault: »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie«, in: ders: Schriften I, S. 887-931, hier S. 923. 33
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tisch wie auch immer zu bewertenden Inhalt anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers. Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens zielt also ausdrücklich nicht ab auf eine allgemeine Geschichte der Anatomie, und zwar weder in Hinblick auf deren interne Differenzierung etwa in makroskopische, mikroskopische, Molekular- oder Neuroanatomie, noch notwendig in Hinblick auf deren je wissenschafts- und nicht zuletzt kulturhistorisch relevante naturphilosophische oder naturwissenschaftliche Programmatik. Sie versteht sich ausdrücklich nicht als Fortschrittsgeschichte entlang von Entdeckungen am Seziertisch, aber ganz gewiß auch nicht als Fortschrittsgeschichte medientechnisch determinierter Art auf der Bildfläche. Zudem erhebt sie medienhistorisch in gar keinem Fall den Anspruch einer expliziten oder gar universellen Geschichte, und zwar weder der Druckgraphik, der Zeichnung oder der Photographie, noch der Röntgentechnik oder der Computertomographie. Schließlich kann es auch nicht das Anliegen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens sein, die Geschichte der anatomischen Zeichnung, die Geschichte der anatomischen Photographie oder die Geschichte anatomisch motivierter, nicht-invasiver bildgebender Verfahren auf ihrer jeweilig zweifellos offenbaren Zeitschiene auszuweisen. Vielmehr bewegt sich die hier zu erprobende Medienarchäologie anatomischen Wissens entlang jener zumeist auch, wenngleich nicht nur krisenhaften Momente der Etablierung spezifischer Datenerhebungsverfahren in dem anatomischen Atlanten, während derer Bildpraktiken und Medientechniken noch in Bewegung sind und ihrer zukünftigen Standardisierung harren. Das erste Kapitel befaßt sich mit der Ausformung der visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert, und zwar anhand scheinbar geläufiger Phänomene wie dem sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufenden anatomischen Blick, dem anatomischen Theater als architekturaler Verkörperung anatomischer Modi der Wissensproduktion und -organisation sowie dem perspektivisch entfalteten anatomischen Bildzeugnis als jener Bildfläche, welcher sich anatomisches Wissen seitdem womöglich nachhaltig verschreibt. Die Konturierung dieser historisch manifesten Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie ist einerseits unabdinglich, um zu verdeutlichen, warum Anatomie seit dem 16. Jahrhundert überhaupt nicht anders als notwendig buchstäblich über den Körper im Bilde sein kann. Und sie führt damit andererseits zu der Publikationsform des anatomischen Atlanten, in welcher wesentliche Elemente dieser visuellen Kultur ihre mediale Verkörperung finden. So setzt das zweite Kapitel mit einem Abschnitt ein, welcher die Publikationsform des anatomischen Atlanten in ihrer Spezifizität 34
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1. MEDIENARCHÄOLOGISCHES VORSPIEL
profiliert. Anschließend werden die manuellen, technisch-apparativen und nicht-invasiven Datenerhebungsverfahren sowie die jeweilig für deren Katalogisierung im anatomischen Atlanten zur Anwendung gekommenen druckgraphischen Reproduktionstechniken thematisiert. Während das zweite Kapitel den anatomischen Atlanten also aus einer primär medientechnischen Perspektive fokussiert, eröffnet das dritte Kapitel einen dem anatomischen Atlanten inhärenten bildkulturellen Problemhorizont. Dieser artikuliert sich in mannigfaltigen Transferprozessen zwischen der Anatomie und anderen visuellen Kulturen, von denen hier insbesondere die Kunst des 16. Jahrhunderts und die klinische Diagnostik des 20. Jahrhunderts ausgewiesen werden sollen. Daraus, daß Anatomie Bilder in Bewegung versetzt, indem sie sie in den anatomischen Atlanten transferiert, ergeben sich auch Konsequenzen für die visuelle Kultur der Anatomie, welche selbst in Bewegung gerät und dabei etwaige Transformationen erfährt. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit anatomisches Wissen tatsächlich spezifisch anatomisches Körperwissen und anatomisch spezifiziertes Bildwissen umfaßt. Anatomisch motivierte Bildgebung entlang jeweilig medientechnisch und bildkulturell zu konturierender Bildformate im anatomischen Atlanten als Problem aufzufassen und ihr stets latentes Krisenpotential in Betracht zu ziehen, heißt also zunächst, das Bild in der anatomischen und für die anatomische Wissensproduktion und -organisation tatsächlich ernst zu nehmen, und zwar sowohl hinsichtlich seiner medialen Komplexität als auch hinsichtlich seiner kulturellen Spezifizität. Tatsächlich könnte sich die visuelle Kultur der Anatomie dabei als ein paradigmatisches Untersuchungsfeld für Medien- und Bildfragen und für die Formulierung von Medienund Bildtheorien jenseits der etablierten Kunstproblematik gerade aus dem Grund erweisen, weil es in der Anatomie selbst kaum eine eigentlich theoretische Reflexion über Bildlichkeit gibt. So zwingt der Untersuchungsgegenstand nachgerade dazu, Bild als Praxis und damit genuin kulturell zu denken. Vielleicht tragen Medien- und Bildwissenschaften zu einem differenzierteren, etwa dem Phänomenbereich anatomisch motivierter Bildgebung grundsätzlich adäquateren Medien- und Bildbegriff in der Medizingeschichtsschreibung bei. Und vielleicht nötigt der Phänomenbereich der Medizingeschichte zu einer erst wieder manifeste Problemhorizonte eröffnenden Differenzierung von Bildpraktiken in den Medien- und Bildwissenschaften. Beide, also sowohl Medien- und Bildwissenschaften als auch die Medizingeschichte, könnten, dies gilt es im folgenden zu sondieren, davon idealiter nicht unberührt bleiben. Faßler betont: 35
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»Bild ist kein Ruheraum der Kultur.«75 Dies dürfte allerdings nicht nur auf historischer Ebene für den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation gelten, sondern auch auf historiographischer Ebene einerseits für Medien- und Bildwissenschaften, andererseits für die Medizingeschichtsschreibung einzulösen sein.
75. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 55. 36
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
2. Die visuelle Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert 2.1 Autoren, Werke und Traditionen als historiographische Präparate »Die geborgenen Bilder sind überschrieben von den Modalitäten und der Medialität der Freilegungsakte.«1 Zu Beginn von Lipperts Lehrbuch Anatomie aus dem Jahre 1990 findet sich ein großformatiges Sektionsszenario, das in kolorierter Fassung auch Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998 vorangestellt ist. Zugleich ist es auf dem Veranstaltungsplakat für jene öffentliche Sektion abgedruckt worden, welche am 20. November 2002 in London von von Hagens, dem Entwickler der Plastinate aus der Körperwelten-Ausstellung, vorgenommen wurde. Dies erscheint zumindest auf den ersten Blick einigermaßen erstaunlich, denn bei dem Sektionsszenario, von welchem die Rede ist, handelt es sich um das Titelbild einer ganz anderen Publikation, nämlich der De humani corporis fabrica libri septem (Abb. 1). Zudem handelt es sich um das Titelbild einer Publikation, deren Autorschaft weder Lippert oder Spitzer/Whitlock, noch von Hagens für sich beanspruchen können, sondern Vesal. Schließlich handelt es sich um das Titelbild einer Publikation, welche nicht 1990, 1998 oder 2002 erschienen ist, sondern 1543. Und es ist das Titelbild einer Publikation, welche nicht, wie Lipperts Lehrbuch Anatomie, in München/ Wien/Baltimore, noch, wie Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male, in Boston/London/Singapore verlegt worden ist, sondern in Basel.
1. Vittoria Borsò: »Der Körper der Schrift und die Schrift des Körpers. Transpositionen des Liebesdiskurses in europäischer und lateinamerikanischer Literatur«, in: dies. u.a. (Hg.), Schriftgedächtnis – Schriftkulturen, Stuttgart, Weimar 2002, S. 323-342, hier S. 48. 37
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Die Fabrica Vesals, welche 1543 bei dem Verleger Oporinus in Basel mit dem besagten Sektionsszenario als Titelbild erscheint, umfaßt, wie am Titel ersichtlich, sieben Bücher über den ›Bau des menschlichen Körpers‹. Diesen sieben Büchern sind eine mehrseitige Widmung an Kaiser Karl V. und ein langer Brief Vesals an seinen Verleger vorangestellt. Insgesamt umfaßt die Fabrica über 700 Seiten, katalogisiert über 300 Bilder, darunter etwa 22 ganzseitige Tafeln, zwei Tafeln in Großfolio sowie einige Dutzend Skizzen im Text. Bemerkenswert sind weiterhin das besagte Titelbild, welches ein Sektionsszenario entfaltet, das Autorenporträt Vesals sowie eine Tafel, auf welcher die für die Leichensektion notwendigen Werkzeuge aufgeführt werden. Schließlich finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels Buchinitialen mit anatomischen und chirurgischen Szenen. Obwohl sie einen der drucktechnischen Höhepunkte des 16. Jahrhunderts darstellt, weist die erste Auflage der Fabrica von 1543 auch einige durchaus gravierende Mängel auf, zum Beispiel eine uneinheitliche Paginierung sowie einige spiegelverkehrt reproduzierte Bildtafeln. Zeitgleich mit der umfangreichen Fabrica erscheint im Jahre 1543 auch deren Kurzfassung Epitome, eine Art Handbuch, in welchem wesentliche Wissensbestände der Fabrica zusammengefaßt werden und welches neben einigen wenigen Bildtafeln auch das Autorenporträt Vesals aus der Fabrica sowie deren Titelbild – freilich mit einer anderen Titelinschrift – enthält. Im Jahre 1555 erfährt die Fabrica eine zweite Auflage, bei welcher auch das Titelbild behutsam modifiziert wird.2 Im März 1998 wird eine handkolorierte Erstausgabe der Fabrica für $ 1.652.500 im Auktionshaus Christie’s in New York versteigert3. Dies veranlaßt Hettche dazu, sie als »eine der Ikonen in der Geschichte des wissenschaftlichen Buches«4 auszuweisen. Tatsächlich ist die Fabrica über 450 Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen selbst zu einem Kultbuch geworden, an welchem sich noch heute anatomische Publikationsrituale vollziehen. Allerdings wird nicht nur die Fabrica zum Kultbuch, sondern es wird auch Vesal zum Kultautor, welcher sowohl in der Medizingeschichtsschreibung als auch in aktuellen medizinischen Veröffentlichungen eine zentrale Rolle einnimmt. Dabei steht er mit der Fabrica aus dem Jahre 1543 zunächst bloß chronologisch im Zentrum der
2. Vgl. dazu: J.B. de C.M. Saunders/Charles D. O’Malley (Hg.): The Illustrations from the Works of Andreas Vesalius of Brussels, New York 1950, S. 248ff. 3. Vgl. dazu: Thomas Hettche: Animationen, Köln 1999, S. 82. 4. Th. Hettche, Animationen, S. 91. 38
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
Anatomie des 16. Jahrhunderts. Und doch scheint er dabei eine solche Anziehungs- und Ausstrahlungskraft zu besitzen, daß man von Vesal ausgehend die Anatomie des 16. Jahrhunderts mit einem sauberen Schnitt in zwei Hälften schneiden und dabei die erste über die Klinge springen lassen kann. Dies jedenfalls ist die Einschätzung Frenchs in Hinblick auf den Begriff der sogenannten ›pre-Vesalians‹, welcher 1975 erstmals auch im Titel einer Monographie, nämlich Linds Studies in Pre-Vesalian Anatomy, erschien: »The implication is not merely that they were earlier than Vesalius, but that they were not so good as Vesalius.«5 Zweifelsohne ist diese Kritik nicht unberechtigt, da die prävesalianische Anatomie des frühen 16. Jahrhunderts ein historiographisches Präparat darstellt, welches nicht einfach vorliegt, sondern nach dem Modell von Vesals Fabrica aus dem Jahre 1543 immer wieder diskursiv reproduziert werden muß. Doch hat gerade Lind in seiner Übersetzung von Berengario da Carpis Isagoge breves6 sowie vor allem in seinen Studies in Pre-Vesalian Anatomy7 aufzeigen können, daß die prävesalianische Anatomie der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihrerseits nicht auf einen gemeinsamen und schon gar
5. Roger French: »›Berengario da Carpi‹ and the use of Commentary in Anatomical Teaching«, in: A. Wear/ders./I. Lonie (Hg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, S. 42-74, hier S. 42. Ähnlich argumentiert zuvor schon Herrlinger: »Immer noch gelten die anatomischen Abbildungen vor Leonardo und Vesal als primitiv oder – wie die Amerikaner gerne sagen – ›prevesalian‹, was dasselbe bedeuten soll.« (R. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung I, S. 64) Dabei übersieht Herrlinger jedoch, daß der Begriff ›pre-Vesalian‹, wie er sich dann auch bei Lind (L.R. Lind: Studies in Pre-Vesalian Anatomy. Biography, Translations, Documents, Philadelphia 1975) finden wird, keineswegs amerikanischen Ursprungs ist. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß er eine Übersetzung aus dem Deutschen ist, da die Unterscheidung von ›vorvesalisch‹ und ›nachvesalisch‹ schon 1852 bei Choulant auftaucht. (L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der Anatomischen Abbildung, S. X) Demgemäß spricht etwa Haeser 1881 von einer »vorVesal’schen Periode.« (H. Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medicin, S. 26) 6. Vgl. dazu: Jacopo Berengario da Carpi: A Short Introduction to Anatomy. Isagogae Breves. Translated with an Introduction and Historical Notes by L.R. Lind, Chicago 1959. 7. Lind bietet bio-bibliographische Materialien zu Achillini, Benedetti, Zerbi, Berengario da Carpi, Massa, de Laguna, Dryander sowie Canano und übersetzt und kommentiert unter anderem Benedettis Anatomice (1502), Achillinis Annotationes Anatomicae (1520) und Cananos Musculorum Humani Corporis Picturata Dissectio (~1541). 39
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
nicht grundsätzlich auf einen scholastischen Nenner zu bringen ist: »The cultural background out of which pre-Vesalian anatomy grew was twofold: medieval scholasticism and Renaissance humanism.«8 Interessanter für die vorliegende Untersuchung ist allerdings die sich aus der historiographischen Zentrierung der Anatomie des 16. Jahrhunderts auf das Ereignis der Fabrica ergebende Notwendigkeit, nicht nur von einer prävesalianischen, sondern auch von einer quasi postvesalianischen Anatomie sprechen zu müssen. Denn die anatomisch motivierten Publikationen, welche chronologisch auf die Fabrica Vesals von 1543 folgen – darunter etwa: Estiennes De la dissection des parties du corps humain von 1546, Valverdes Historia de la composición del cuerpo humano von 1556, Colombos De re anatomica libri XV von 1559, Falloppios Observationes anatomicae von 1561 oder Eustachios Opuscula anatomica von 1564 – stimmen nicht notwendig mit dem Programm der Fabrica überein. Insofern stellt sich die Frage, ob eine etwaige postvesalianische Anatomie eine Anatomie gemäß der vesalianischen Anatomie darstellt oder ob sie auf eine Anatomie hinausläuft, welche die vesalianische Anatomie selbst nicht nur historisch, sondern auch obsolet werden läßt. Die Antwort auf diese Frage ist gerade angesichts der Tatsache, daß etwa das Titelbild der Fabrica immer wieder in aktuellen anatomischen Publikationen auftaucht, keineswegs eine ausgemachte Sache. Lippert etwa behauptet in seinem Lehrbuch Anatomie aus dem Jahre 1990, mit der Fabrica habe »die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise ihren Einzug in die Medizin«9 erhalten und die Anatomie sei von daher als »erste anerkannte Naturwissenschaft«10 aufzufassen. Und Spitzer/Whitlock erklären in ihrem Atlas of the Visible Human Male aus dem Jahre 1998, das VHP sei als »›greatest contribution to anatomy since Vesalius’s 1543 publication of De Humani Corporis Fabrica‹«11 zu verstehen. In diesen und zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen geht es also zuvorderst darum, ein aktuelles, genuin anatomisch motiviertes Projekt im Rückblick auf Vesals Fabrica von 1543 zu positionieren. Dabei wird, wenngleich nicht notwendig ausdrücklich, stets auch ein historiographischer Akt vollzogen, mittels dessen der Fabrica ein histori-
8. L.R. Lind: Studies in Pre-Vesalian Anatomy, S. 5. 9. Herbert Lippert: Lehrbuch Anatomie, München, Wien, Baltimore 1990, S. II. 10. Ebd., S. 1. 11. Victor M. Spitzer/David G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male. Reverse engineering of the human body, Boston, London, Singapore 1998, S. xi. 40
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
scher Ort zugewiesen wird. Das dabei geltend gemachte Argumentationsmuster dürfte wesentlich von jener Medizingeschichtsschreibung geprägt sein, für welche Saunders/O’Malley stellvertretend herhalten können: »The publication of the De Humani Corporis Fabrica of Andreas Vesalius in 1543 marks the beginning of modern science.«12 So läßt sich nicht nur in aktuellen anatomischen Publikationen, sondern auch in zahlreichen medizinhistorischen Beiträgen vor allem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine implizite und auch stets reversible Logik ausmachen, derzufolge etwa das Titelbild der Fabrica die Fabrica und diese wiederum das Werk Vesals verkörpere. Das Werk Vesals bürge für den Autor Vesal und dieser seinerseits für jene Anatomie des 16. Jahrhunderts, welche sich unwiderruflich der Naturwissenschaftlichkeit verschreibe und in diesem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis schließlich zu sich selbst finde. Nun stützen sich solche Argumentationen, welche Vesals Fabrica als Gründungsdokument einer naturwissenschaftlich motivierten Anatomie ausweisen und vereinnahmen wollen, zumindest auf drei Kategorien: erstens auf einen Autor, nämlich Vesal; zweitens auf ein Werk, nämlich die Fabrica; und drittens auf einen Wissenschaftsbegriff, nämlich denjenigen der sogenannten ›modernen Wissenschaft‹ oder der ›Naturwissenschaft‹. Indem alle drei Kategorien in diesen Argumentationen eigentümlich unbestimmt bleiben, ermöglichen sie die Eröffnung eines historischen Problemhorizontes, welcher sich unter der Kategorie dessen, was gemeinhin als Tradition verhandelt wird, erfassen läßt. Alle vier Kategorien – der Autor, das Werk, die Naturwissenschaft, die Tradition – sind Elemente eines Diskurses über Anatomie oder eines anatomischen Diskurses, welcher nicht nur das historiographische Selbstverständnis einer bestimmten Richtung der Medizingeschichtsschreibung zu einer bestimmten Zeit, sondern eben auch das wissenschaftliche Selbstverständnis bestimmter Anatomen zu einer bestimmten Zeit markiert. So bietet es sich an, diese in der historiographischen Diskussion über Vesals Fabrica immer wieder explizit oder implizit angeführten Kategorien im folgenden genauer zu betrachten und einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um das scheinbar vorliegende und stets verfügbare Material wieder in Bewegung zu bringen. »Das Wort ›Werk‹ und die Einheit, die es bezeichnet, sind
12. J.B. Saunders/Ch. D. O’Malley: The Illustrations from the Works of Andreas Vesalius of Brussels, S. 19. 41
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wahrscheinlich genauso problematisch wie die Individualität des Autors«13, erklärt Foucault 1969 in Anknüpfung an Barthes’ These vom ›Tod des Autors‹14 aus dem Jahre 1967. Damit eröffnet Foucault jenen autortheoretischen Problemhorizont, welcher auch einen wichtigen Bestandteil der im selben Jahr publizierten Archäologie des Wissens ausmachen sollte.15 Selbst wenn seitdem zahlreiche, vor allem diskursanalytische und literaturtheoretische Arbeiten die Diskussion über die Funktion des Autors nicht als Souverän über seine Textproduktion, sondern als Diskurs- bzw. Medieneffekt fortgeführt haben, erweist sich Foucaults Ansatz für die vorliegende Untersuchung als besonders fruchtbar. Dies gerade deshalb, weil er sich nicht auf die Funktion des Autors in literarischen Texten beschränkt, sondern eben auch dessen Funktionen in den Wissenschaften konturiert: »Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.«16 So könne man zwar »über verschiedene Epochen hinweg eine gewisse Invarianz in den Regeln der Autor-Konstruktion finden«17 – darunter etwa: der Autor als konstanter Wert, als konzeptuelle oder theoretische Kohärenz, als stilistische Einheit und historisch definiertes Moment –, doch wirke die Autorfunktion »nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Kulturformen.«18 Als Beispiel für eine sowohl kulturspezifische als auch kulturhistorische Differenzierung der Autorfunktion zieht Foucault einen Vergleich heran zwischen solchen Texten, welche heute als wissenschaftlich, und solchen, welche heute als literarisch aufgefaßt werden. Im Gegensatz zu der nicht notwendig autorzentrierten Überlieferung literarischer Texte wie Epen, Komödien oder Tragödien wurden, so Foucault, »die Texte, die wir heute wissenschaftlich nennen, über die Kosmologie und den Himmel, die Medizin und die Krankheiten, die Naturwissenschaften oder die Geogra-
13. Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, München 1974, S. 7-31, hier S. 13. 14. Vgl. Roland Barthes: »La mort de l’auteur«, in: ders., Œuvres complètes. Tome II, Paris 1995, S. 491-495. 15. M. Foucault: Archäologie. Zum Autorbegriff vgl. dort vor allem: S. 35ff. 16. M. Foucault: »Was ist ein Autor?«, S. 10. 17. Ebd., S. 20. 18. Ebd., S. 23. 42
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
phie im Mittelalter nur akzeptiert und hatten nur dann Wahrheitswert, wenn sie durch den Namen des Autors gekennzeichnet waren.«19 Foucault spielt hier offensichtlich auf das auch in der und aus der Medizingeschichte bekannte Phänomen der Personalautorität an, argumentiert allerdings mißverständlich, denn die handschriftliche Überlieferung etwa der anatomischen Schriften antiker Personalautoritäten verhandelt im spätmittelalterlichen Scholasmus weder den Text als Original eines Autors noch den Autor als Original eines Textes. Wer sich etwa im Spätmittelalter auf den im 2. Jahrhundert in Rom tätigen griechischen Arzt Galen beruft, beruft sich nicht auf einen Autor von Schriften, sondern er beruft sich auf eine Personalautorität, deren Schriften immer auch und selbstverständlich die Mitschriften der Überlieferung sind.20 Erst durch den Buchdruck wird die Autorfunktion im heute geläufigen Sinne als Antwort auf eine sich aus der technischen Reproduktion von Texten ergebenden institutionellen Schwäche formuliert und mithin zur Sicherung eines instabil gewordenen Überlieferungssystems installiert. Anders als im Zeitalter der handschriftlichen Reproduktion, wo sich die institutionellen Spuren in die Abschrift selbst eingeschrieben haben und sich die Lektüre dieser Abschriften ihrerseits im institutionell gesicherten Rahmen etwa des Klosters oder der Universität vollzogen hat, entstehen mit dem Buchdruck Lektüresituationen und -praktiken, welche nicht mehr am Ort der Institution von dieser selbst kontrolliert werden können.21 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Autorfunktion als Garantie für philologisch rekonstruiertes, originales und authentisches Wissen.22
19. Ebd., S. 19. 20. Zur Überlieferung, Übersetzung und Drucklegung galenischer Schriften vgl. generell: Richard J. Durling: »A chronological census of Renaissance editions and translations of Galen«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Volume twenty-four (1961), S. 230-305; Michael Reinecke: Galen und Vesal. Ein Vergleich der anatomisch-physiologischen Schriften, Münster 1997. 21. Vgl. dazu Giesecke: »Die antiken und mittelalterlichen Autoren waren es gewohnt, sich beim Abfassen ihrer Werke immer eine konkrete Person als Adressaten vorzustellen. Ihr widmete man später das fertige Manuskript. Nunmehr wandten sich die Schreiber an ein kaum vorausberechenbares Publikum.« (Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 1998, S. 529f.) 22. Dazu führt Giesecke aus: »Das alte Manuskript gewann eine neue mediale Funktion, es vermittelte das Gefühl eines unmittelbaren Kontaktes zu längst Verstorbenen.« (Ebd., S. 319) Die Ursache dafür liegt in dem Umstand begründet, daß 43
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Als Beispiel dafür mag der sich durch den Buchdruck in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts rasant ausbreitende Galenismus dienen, welcher sich auf die nun von dem philogisch aufbereiteten Funktionssystem Autor flankierte Personalautorität Galens beruft.23 Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hingegen macht Toellner einen sich abzeichnenden »Wechsel der Berufungsinstanzen von der Lehre der Alten zum Buch der Natur«24 aus und veranschlagt für das 17. Jahrhundert einen Funktionswandel des Begriffs der ›antiquitas‹. Dessen autoritätsstiftendes Moment wird nun nicht mehr abgeleitet von einer philologisch rekonstruierbaren historischen Nähe zur Personalautorität als Verkörperung allen möglichen Wissens, sondern es wird geradewegs andersherum im Rahmen einer propagierten Sachautorität Zeitgenossenschaft als Gewinn an »historischer Erfahrung«25 und Bedingung des jeweils bestmöglichen Wissens aufgewertet. Dieser von Toellner diagnostizierte Funktionswandel des Begriffs der ›antiquitas‹ koinzidiert historisch nicht von ungefähr mit dem von Foucault diagnostizierten Funktionswandel des Autors in den zeitgenössischen Wissenschaften: »Zu einer Umkehrung kam es im 17. oder im 18. Jahrhundert; man begann wissenschaftliche Texte um ihrer selbst willen zu akzeptieren, in der Anonymität einer feststehenden oder immer neu beweisbaren Wahrheit; ihre Zugehörigkeit zu einem systematischen Ganzen sicherte sie ab, nicht der Rückverweis auf die Person, die sie geschaffen hatte. Die Funktion Autor verwischt sich.«26 Auch hier nimmt Foucault sowohl eine kulturspezifische als auch eine kulturhistorische Differenzierung der Autorfunktion vor. Vor dem Hintergrund einer radikalen Individualisierung des Autorbegriffs im literarisch dominanten Geniekult erscheint der sich auf eine Sachautorität, nämlich das ewig wahre liber naturae berufende wissenschaftliche Autor gerade nicht mehr als individualisierte Be-
im Rahmen des Buchdrucks bald jede Publikation, sei es ein aktuelles oder ein antikes Schriftstück, mit einer Autorfunktion versehen wird: »Alle in die typographische Datenverarbeitung eingegebenen Informationen werden von dieser strikt unter dem Gesichtspunkt des Urhebers/Eingebers gespeichert. Jedes typographische Informationsbündel erhält ein Kennzeichen, welches Auskunft darüber gibt, wer a) die Informationen gewonnen und wer b) die Daten eingegeben hat.« (Ebd., S. 323) 23. Vgl. dazu: K. Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹. 24. R. Toellner: »Zum Begriff der Autorität«, S. 172. 25. Ebd., S. 173. 26. M. Foucault: »Was ist ein Autor?«, S. 19. 44
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
rufungsinstanz der Autorität, sondern zunehmend als Verkünder einer experimentell nachweisbaren Wahrheit. Das heißt aber nicht, daß die Autorfunktion seit dem 18. Jahrhundert in den Wissenschaften verabschiedet sei und keine legitimatorische Instanz mehr darstelle. Zwar fungiert der Autor tatsächlich abnehmend als Individuum, doch wird er refunktionalisiert als Repräsentant genau jenes ›systematischen Ganzen‹, von welchem Foucault spricht. Der wissenschaftliche Autor verkörpert seitdem die wissenschaftliche Institution und die institutionalisierte Wissenschaft, welche sich in ihn einschreiben, indem er in ihrem Namen agiert, experimentiert, publiziert. Er wird somit als Berufungsinstanz der Autorität reinstalliert und bürgt im Namen der wissenschaftlichen Institution und der institutionalisierten Wissenschaft für die wissenschaftliche Redlichkeit, welche er bei der Wissensproduktion und -organisation des aus der Sachautorität abgeleiteten einen möglichen Wissens hat walten lassen. Der wissenschaftliche Autor kann also für wissenschaftliche Redlichkeit bürgen, gerade weil er einen Beruf ausübt, welchem eine Berufsbezeichnung eignet. Wirft man einen Blick auf verschiedene, seit dem 19. Jahrhundert publizierte anatomische Atlanten, dann fällt schnell auf, daß die Berufsbezeichnung desjenigen, der als Autor fungiert, eine zunehmend wichtige Rolle spielt. In der Topographisch-chirurgischen Anatomie des Menschen aus dem Jahre 1878 etwa wird Rüdinger als ein promovierter Autor ausgewiesen, welcher als Professor an der Universität München arbeitet. In dem Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen, welcher 1912 in zweiter Auflage erscheint, figuriert Rudolf Grashey nicht nur als Autor, sondern auch als Universitätsprofessor und Assistenzarzt der Königlichen chirurgischen Klinik in München. In radiologischen anatomischen Atlanten gerät die Berufsbezeichnung des Autors naturgemäß zu einem wesentlichen Qualifikationsmerkmal für die Publikation, da hier die Berufsgruppe der Radiologen auf diejenige der Anatomen trifft, entweder also Anatomen Radiologie betreiben oder Radiologen Anatomie. Dies zeigt sich etwa im Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild aus dem Jahre 1926, in welchem der designierte Autor Dr. Albert Hasselwander als Professor der Anatomie an der Universität Erlangen aufgeführt wird. Noch deutlicher wird die disziplinäre Institutionalisierung der Autorfunktion in Gemeinschaftspublikationen wie etwa der GanzkörperComputer-Tomographie aus dem Jahre 1977, an welcher zwei Professoren der Anatomie sowie ein Professor und ein Doktor der Radiologie beteiligt sind. Ein eindringliches Beispiel für den Horizont autortheoreti45
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
scher Reflexionen über zeitgenössische anatomische Publikationspraxis bietet wohl Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie27 aus dem Jahre 1996, als dessen Autoren eine Radiologin sowie drei Anatomen angeführt werden. Unter diesen drei Anatomen – von denen zwei, nämlich Dr. L.J. Romrell und Dr. H. Ross, als Professoren der Abteilung für Anatomie und Zellbiologie der Universität von Florida in Gainsville erscheinen – befindet sich auch ein Mitarbeiter des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Universität Heidelberg. Dieser Autor trägt den Namen G. v. Hagens und sollte sich bald einen ganz anderen Namen machen, und zwar als Entwickler der Plastinate der Körperwelten-Ausstellung.28 Der Ko-Autor der wissenschaftlich motivierten Publikation von 1996, in welcher plastinierte Körperscheiben kontrastiv zu Computertomogrammen und Magnetresonanztomogrammen präsentiert werden, ist nun aber gerade nicht der populärwissenschaftliche Autor der Plastinate der Körperwelten oder der Leiter der am 20. November 2002 in London stattfindenden öffentlichen Sektion. Vielmehr dürfte von Hagens als »Auteur-Dieu«29 den Ko-Autor der wissenschaftlich motivierten Publikation aus dem Jahre 1996 und diese somit selbst insgesamt nicht unberührt lassen. Ob diese Publikation damit rückwirkend und womöglich ungerechtfertigterweise zu einem populärwissenschaftlichen Beitrag gerät, ob der von Hagens der Körperwelten sich durch diese Publikation überhaupt auf seine Laufbahn als Autor wissenschaftlicher Beiträge berufen kann und ob der genuin anatomische Funktionshorizont der plastinierten Körperscheiben in der Publikation gerade durch popularisierende Ausstellungspräparate dem Vergessen anheimgegeben wird – dies alles sei einmal dahingestellt. Sehr deutlich wird am Fall von Hagens jedenfalls, daß auch der Autor wissenschaftlich motivierter Publikationen gerade durch seine institutionelle Funktionalisierung zum Diskurseffekt wird und es durchaus einen Unterschied macht, ob der Name von Hagens das Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Heidelberg als wissenschaftlicher Autor oder aber die Körperwelten-Ausstellung repräsentiert. Dieses Beispiel ist das offenkundigste für die Diagnose, daß
27. L.R. Romrell u.a.: Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie. 2. Auflage, Berlin, Wiesbaden 1996. 28. Vgl. dazu: Gunther von Hagens/Angelica Whalley (Hg.): Körperwelten. Die Faszination des Echten, Heidelberg 2000. Zu den Körperwelten vgl. ferner: Franz Josef Wetz/Brigitte Tag (Hg.): Schöne Neue Körperwelten. Der Streit um die Ausstellung, Stuttgart 2001. 29. R. Barthes: »La mort de l’auteur«, S. 493. 46
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
sich die Autorfunktion in anatomisch motivierten Publikationen seit dem 18. Jahrhundert nicht einfach und notwendig verabschiedet, sondern daß sich zwischen einer individualisierenden und einer institutionalisierenden Autorfunktion unterscheiden läßt. Daß diese Autorfunktionen, welche sich gemäß Foucault kulturspezifisch und kulturhistorisch ausdifferenzieren, von je zeitgenössischen Publikationspraktiken zwar präfiguriert, nicht aber determiniert werden, zeigt ein anderes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert, in welchem sich Institutionalisierung und retrospektive Individualisierung sowie Individualisierung und retrospektive Institutionalisierung stets neu ereignen. Im Jahre 1904 erscheint die erste Auflage des Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von Johannes Sobotta, welcher als Professor für Anatomie an der Universität Würzburg institutionell autorisiert wird. Im Jahre 1999 erscheint die 21. Auflage dieser Publikation unter dem Titel Atlas der Anatomie des Menschen, welche mit dem Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen zunächst kaum mehr etwas verbindet. Doch spielt dies eigentlich keine wesentliche Rolle, da es sich bei der Publikation von 1999 nur um eine weitere, immer wieder neueste Auflage des ›Sobottas‹ handelt, welcher herausgegeben wird von den beiden Anatomen Prof. Dr. med. Putz und Prof. Dr. med. Pabst. Als Begründer des ›Sobottas‹ wird hingegen jener Johannes Sobotta inszeniert, welcher 1869 in Berlin geboren wurde und im Jahre 1945 verstorben ist. Insofern fallen im Atlas der Anatomie des Menschen von 1999 zwei Autorfunktionen sowohl historisch als auch systematisch ineinander. Zum einen diejenige institutioneller Prägung aus dem Jahre 1904 – Sobotta in seiner Funktion als Anatom der Universität Würzburg – mit derjenigen aus dem Jahre 1999 – Putz und Pabst in ihrer Funktion als Anatomen der Universitäten München und Hannover –, und zum anderen die institutionelle Autorfunktion Sobottas von 1904 mit der individualisierten Autorfunktion Sobottas als Sobotta im ›Sobotta‹ von 1999. Ein solches Wechselspiel zwischen Individualisierung und Institutionalisierung der Autorfunktion in den Wissenschaften findet indes schon in der Fabrica aus dem Jahre 1543 statt, auf deren Titelbild Vesal nicht nur als Autor, sondern auch als Professor der medizinischen Schule von Padua fungiert. Wenn Toellner Vesal in einer Zeit verortet, in der »die Autorität der Alten nicht mehr und die Autorität der Natur noch nicht unbestritten herrschte«30, dann wird deutlich, warum Vesal sich mannigfaltiger, sowohl institutionalisierender als auch individualisierender Strategien zur Inszenie-
30. R. Toellner: »Zum Begriff der Autorität«, S. 175. 47
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rung wissenschaftlicher Autorität bedient. Ohne freilich zwischen institutionalisierenden und individualisierenden Momenten der Autorfunktion zu differenzieren, hat Pozsgai diese Strategien anhand des kompletten paratextuellen Apparats der Fabrica – darunter das Titelbild, die Widmung an Kaiser Karl V., den Brief an den Verleger, das individuelle Autorenporträt usf. – aufgezeigt und ist zu dem Schluß gekommen: »Nur die Zentrierung auf die Person des Autors gewährleistet die Autorität seines Buches.«31 Diese historischen »Gesten der Selbstautorisierung«32 indes verbürgen keineswegs die historiographische Autorfunktion Vesals, wie sie sich etwa in Lipperts Lehrbuch Anatomie von 1990 oder Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998 manifestiert. Denn in der Historiographie hat die institutionalisierte Autorfunktion keinen Wert, weil die Institution, welche Vesal auf dem Titelbild verkörpert, noch nicht mit jener wissenschaftlichen Institution und jener institutionalisierten Wissenschaft kurzgeschlossen werden kann, welche scheinbar erst durch Vesal installiert werden und sich von diesem ausgehend geradewegs bis in die Gegenwart zu erstrecken scheinen. Die medizinische Schule von Padua, im 16. Jahrhundert neben Bologna die wohl renommierteste überhaupt, erscheint in der Historiographie also allein deshalb als bemerkenswert, weil zufällig sie es war, an welcher Vesal lehrte und forschte. Und sie erscheint in der Historiographie bemerkenswert vor allem deshalb, weil Vesal sie gewissermaßen durch sein zufällig an ihr verrichtetes Werk zu revolutionieren scheint. Nun soll gar nicht bestritten werden, daß eine Institution sich nicht nur in die von ihr Institutionalisierten einschreibt, sondern daß sich auch die von ihr Institutionalisierten stets in diese Institution einschreiben. In vorliegendem Fall aber zeigt sich, daß die Historiographie das in der Fabrica von 1543 virulente Wechselspiel von institutionalisierter und individualisierter Autorfunktion gerade deshalb nicht zu fassen vermag, weil sie den institutionellen Rahmen, in welchem Vesal sich nachdrücklich positioniert, nicht anerkennt und Vesal mithin als individuellen Autor eines individuellen Werkes zu verhandeln hat. Dies bedeutet allerdings nichts anderes als den Beginn der Geschichte der Fabrica als Gründungsdokument einer scheinbar naturwissenschaftlich motivierten Anatomie durch ihren souveränen Autor Vesal. Dieser individualisiert sich intellektuell, verhält sich autonom gegenüber sämtlichen institutionellen oder personellen Autoritäten, konzentriert also einzig die Sachautorität des liber
31. M. Pozsgai: »Unmittelbare Vermittlung«, S. 279. 32. Ebd., S. 262. 48
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2. DIE VISUELLE KULTUR DER ANATOMIE IM 16. JAHRHUNDERT
naturae auf sich und publiziert das derart formierte Wissen schließlich unvermittelt in der Fabrica. So wird Vesal zu einem historiographischen »›Glaubwürdigkeits‹-Indiz«33, welches dazu dienen soll, die vermeintliche Naturwissenschaftlichkeit der Anatomie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts unter Beweis zu stellen. Selbstverständlich kann es aber nicht die Absicht Vesals gewesen sein, im Jahre 1543 die Anatomie als jene naturwissenschaftliche Grundlagendisziplin der Medizin zu begründen, welche sie heute ist. Ebenso ist die Fabrica ihrerseits sicherlich weder ein Gründungsdokument der naturwissenschaftlichen Anatomie, noch steht sie in der frühen Neuzeit überhaupt in einem naturwissenschaftlichen Funktionshorizont. Demnach fungiert der aktualisierte Autor Vesal reversibel als Ursache für eine und Wirkung von einer Projektion naturwissenschaftlich motivierter Traditionsstiftung auf die Fabrica, welche dann aber gerade nicht mehr die historische Fabrica der Zeit Vesals ist, sondern die aktualisierte Fabrica desjenigen, der in ihrem Namen sein eigenes anatomisches Projekt positioniert. Zu derartigen historiographischen Operationen merkt Foucault an: »das Werk dieser Begründer steht nicht in bezug zur Wissenschaft und nicht in dem Raum, den sie umreißt, sondern die Wissenschaft oder die Diskursivität beziehen sich auf das Werk ihrer Begründer wie auf primäre Koordinaten.« 34 Während also der 1514 in Brüssel geborene, in den Jahren 1533 bis 1536 in Paris und Löwen studierende, 1537 in Padua zum Doktor der Medizin promovierte, dort seit den frühen 40er Jahren eine Professur innehabende und 1544 zum Leibarzt von Kaiser Karl V. auserkorene Vesal im Jahre 1564 auf dem Rückweg von einer Pilgerreise ins Heilige Land seinen historisch letzten Atemzug tat, hört der Autor Vesal nicht auf, von Anatomen, Medizinhistorikern, Kunsthistorikern, Kultur- und Medienwissenschaftlern historiographisch beatmet und in die historische Arena zurückgeschickt zu werden. Gleiches gilt für die Fabrica, welche 1543 beim Verleger Johannes Oporinus in Basel erschienen ist, im Jahre 1555 eine zweite Auflage und etwa im 20. Jahrhundert diverse Neuauflagen im Faksimile-Druck erfahren hat. In diesen Jahrhunderten ist sie immer wieder einem neuen historiographischen Funktionshorizont dienstbar gemacht und somit stets auch einer Bedeutungsverschiebung anheimgegeben worden, obwohl sie als originales (also vesalianisches), authentisches (also historisch dokumentiertes) und stabiles (also abgeschlos-
33. M. Foucault: »Was ist ein Autor?«, S. 20. 34. Ebd., S. 27. 49
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senes) Werk mit gleichbleibendem Textapparat und Bildkatalog scheinbar immer schon vorlag.35 Ein Großteil jener, die in heutigen Publikationen das Titelbild der Fabrica abdrucken, sich auf Vesal als den Begründer einer naturwissenschaftlich motivierten Anatomie stützen und die Fabrica als deren Gründungsakt ausweisen, dürfte unter einer postvesalianischen Anatomie also einigermaßen unmißverständlich eine solche Anatomie verstanden wissen wollen, welche sich auf Vesals Fabrica von 1543 zurückführen lassen kann und gleichzeitig ihrem Selbstverständnis nach auf dieser aufbaut, sich also nicht nur traditionsbewußt in diese einschreibt, sondern sie auch progressiv fortschreibt. Allerdings ist der Begriff der ›Tradition‹ ebenso problematisch wie die Phänomene, die unter ihn subsumiert und von ihm transportiert werden sollen.36 Diesbezüglich bemerken etwa Conrad/Kessel: »Traditionen lassen vergessen, indem sie erinnern.«37 Dies gilt, wie im folgenden aufgezeigt werden soll, auch für eine etwa durch die Rede von Vesal oder durch den Abdruck des Titelbildes der Fabrica bestimmte Tradition naturwissenschaftlich motivierter, quasi immer schon modern gewesener, modern gebliebener und modern bleibender Anatomie. Wenn Traditionen also tatsächlich vergessen lassen, indem und vor allem weil sie erinnern, dann stellt sich hier zuvorderst die Frage, was in der und von der Geschichte der frühneuzeitlichen Anatomie stets vergessen wird, sobald Vesal und seine Fabrica oder die Fabrica und ihr Vesal für eine naturwissenschaftliche Tradition der Anatomie in Anspruch genommen werden. So ist bereits darauf aufmerksam gemacht worden, daß weder Vesal als Begründer noch die Fabrica als Gründungsdokument einer naturwissenschaftlich motivierten Anatomie in Betracht kommen,
35. Bei Foucault ist diesbezüglich von einem ›Aussagesockel‹ die Rede: »ein und dieselbe Menge von Wörtern kann mehreren Bedeutungen, mehreren möglichen Konstruktionen Raum geben; es kann also, miteinander verflochten oder abwechselnd, verschiedene Bedeutungen geben, jedoch auf einem Aussagesockel, der identisch bleibt.« (M. Foucault: Archäologie, S. 160) 36. Vgl. dazu etwa: Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblikke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 43-71; Eric Hobsbawm: »Das Erfinden von Traditionen«, in: Chr. Conrad/M. Kessel, Kultur und Geschichte, S. 97-119; M. Foucault: Archäologie, S. 33. 37. Christoph Conrad/Martina Kessel: »Blickwechsel: Moderne, Kultur, Geschichte«, in: dies. (Hg.), Kultur und Geschichte, S. 9-40, hier S. 24. 50
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da sie sich in einem naturphilosophischen Funktionshorizont, wie er für die frühe Neuzeit insgesamt dominant ist, ereignen.38 Naturwissenschaft und Naturphilosophie basieren auf einem konträren Begriff dessen, was ›Natur‹ sei. Während die Naturwissenschaft einen dynamischen, evolutionären Naturbegriff setzt, rekurriert die frühneuzeitliche Naturphilosophie auf einen letztbegründenden Schöpfergott, also auf einen statischen, perfekten Naturbegriff. So fokussiert die frühneuzeitliche Anatomie den göttlichen Bauplan des menschlichen Körpers, anhand dessen der faber dieser fabrica, also der letztbegründende Schöpfergott, sichtbar wird.39 Nicht umsonst versteht sich die Anatomie in der frühen Neuzeit als Lesart der abgeschlossenen Schöpfungsgeschichte, beispielsweise in der Historia de la composición bei Valverde oder dem Anatomen als dem »historien du corps humain«40 bei Estienne. Zwar wird die makroskopische Anatomie gemäß des ›anatomischen Gedankens‹ eine wesentliche Rolle in der Ausformung einer naturwissenschaftlich motivierten Medizin spielen, doch bleibt auch sie in ihrem kulturellen Selbstverständnis nicht von der Verschiebung ihres Funktionshorizontes unberührt. Naturphilosophische Substrate finden sich etwa noch in der 1742 von von Haller gehaltenen Rede ›Über den Reiz der Anatomie‹: »Gerade diese Aufgabe, die Spuren des ›Geometrie praktizierenden Gottes‹ aus der Nähe zu verfolgen, steht keiner anderen an Reiz oder Adel nach.«41 Ein gutes Jahrhundert später hingegen wird davon keine Rede mehr sein, wenn sich Virchow in seinem Beitrag ›Über die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin‹ programmatisch gegen die Naturphilosophie wendet und für die »naturwissenschaftliche Methode«42 eintritt. Unberührt bleibt die makroskopische Anatomie aber auch nicht von ihrer mikroskopischen Herausforderung, denn es lassen sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Bezüge zwischen dem Aufstieg der Mikroskopie – als deren Pioniere van Leeuwenhoek, Hooke
38. Zu den naturphilosophischen Prämissen der Fabrica vgl. insbesondere: A. Cunningham: The Anatomical Renaissance; R. French: Dissection and Vivisection. 39. Vgl. dazu etwa: M. Sonntag: »Die Zerlegung des Mikrokosmos«. 40. Charles Estienne: De la dissection des parties du corps humain, Paris 1546, S. aii. 41. Albrecht von Haller: »Über den Reiz der Anatomie«, in: Wilhelm Ebel (Hg.), Göttinger Universitätsreden aus zwei Jahrhunderten. 1737-1934, Göttingen 1968, S. 16-19, hier S. 18. 42. Rudolf Virchow: »Über die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, Bd. LXX, Sechste Folge, Bd. X., Heft. 1 (1877), S. 1-10, hier S. 3. 51
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mit seiner 1665 veröffentlichten Micrographia und Mediziner wie Malpighi und Swammerdam gelten – und den ersten Bemühungen zur historiographischen Erfassung der Anatomie herstellen.43 Zu den Beweggründen, die makroskopische Anatomie im 18. Jahrhundert selbst historisch werden zu lassen, führt French aus: »Partly, too, it was that gross anatomy as a finite descriptive science was seen to have left behind in an age of progress, in favour to fine anatomy.«44 In etwa zeitgleich deutet sich in der Anatomie eine andere konservierende Geste an: die Musealisierung.45 Seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert haben – inspiriert von den wegweisenden Arbeiten Gaetano Zumbos – vor allem anatomische Wachspräparate eine weite Verbreitung erfahren und sind bisweilen wesentlicher Gegenstand der medizinischen Ausbildung geworden. Das heute sicher noch bekannteste Museum für anatomische Wachspräparate ist La Specola in Florenz, welches bereits 1775 eingeweiht und für das Publikum eröffnet wurde. Zahlreiche der Ausstellungsstücke wurden eigens für die museale Präsentation angefertigt, so daß hier von einem ersten Schritt zur Musealisierung der makroskopischen Anatomie vor dem Hintergrund ihrer mikroskopischen Herausforderung gesprochen werden kann. Ähnliches gilt auch für das Josephinum in Wien. Die Musealisierung der makroskopischen Anatomie durch anatomische Wachspräparate fällt wohl nicht von ungefähr in genau jene Zeit, in welcher die öffentlichen anatomischen Theater der frühen Neuzeit – deren erstes permanentes 1594 in Padua eröffnet worden ist – ihre Pforten für das Publikum schließen und die jetzt von der Mikroskopie repräsentierte und bald von der Pathologie flankierte anatomische Forschung in die sich ausformenden wissenschaftlichen Institute des 19. Jahrhunderts abwandert. So findet
43. Bereits 1702 veröffentlicht Leclerc in Amsterdam seine Histoire de la médicine, welche 1723 und 1729 überarbeitete Neuauflagen erfahren sollte. 1770 verfaßt von Haller Eine Geschichte der Anatomie, zwischen 1770 und 1773 erscheint in Paris die breit angelegte Histoire de l’anatomie et de la chirurgie von Antoine Portal und 1815 schließlich der 1. Band von Thomas Lauths Histoire de l’anatomie in Straßburg. 44. R. French: »The Anatomical Tradition«, S. 95. 45. Daß auch das Phänomen der Musealisierung, welches – ähnlich wie die historiographische Erfassung von vergangener Gegenwart – eine konservierende Geste voraussetzt, mittels derer etwas als dauerhaft verfügbar festgestellt und ausgestellt wird, gleichsam dasjenige, was bewahrt werden soll, nicht unverändert läßt, hat etwa Sturm aufgezeigt. (Eva Sturm: Konservierte Welt. Museum und Musealisierung, Berlin 1991) 52
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beispielsweise die letzte karnevaleske Inszenierung einer anatomischen Sektion, funzione genannt, in dem 1634 eröffneten anatomischen Theater von Bologna im Jahre 1796 statt, bevor dieses 1803 endgültig schließt. In diesem Sinne kann die von Foucault ausgemachte ›Geburt der Klinik‹ auch verstanden werden als das sich abzeichnende Ende der im öffentlichen Raum stattfindenden makroskopischen Anatomie. Ein ganz wesentliches, wenn nicht das entscheidende Moment des Vergessens in der traditionsstiftenden Erinnerung an Vesal und die Fabrica von 1543 in aktuellen anatomischen Publikationen besteht aber gerade darin, daß die Denkfigur der prä- und postvesalianischen Anatomie notwendig eine Antwort verlangt auf die Frage, was die vesalianische Anatomie überhaupt gewesen ist bzw. je gewesen sein wird. Die Indienstnahme der vesalianischen Anatomie vollzieht sich in der Regel über das als antagonistisch definierte Verhältnis Vesals zu dem im 2. Jahrhundert in Rom tätigen griechischen Arzt Galen. Dessen anatomische Schriften – darunter vor allem: De anatomicis adminstrationibus, De usu partium, De ossibus ad tironibus – bedienen, so wird argumentiert, bis ins 16. Jahrhundert hinein einen scholastischen Galenismus. So faßt etwa Haeser in seinem 1881 erschienenen Lehrbuch der Geschichte der Medicin zusammen: »Die Epoche-machende Bedeutung Vesal’s besteht darin, dass er zuerst es unternahm, die Anatomie von dem seit fast anderthalb Jahrtausenden auf ihr lastenden Joche Galen’s zu befreien, den Bau des Menschen nach eigenen Untersuchungen zu schildern, und durch naturgetreue Abbildungen zu erläutern. Das wichtigste von diesen Verdiensten ist das erstgenannte.«46 Ein gutes Jahrhundert zuvor, nämlich 1770, kommt von Haller in seinem für den ersten Ergänzungsband der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert verfaßten, ›Eine Geschichte der Anatomie‹ betitelten Artikel zu einem durchaus anderen Schluß: »Obwohl er ihn ablehnte, wiederholte Vesal zu häufig nur Galen.«47 Nun ist, wie zahlreiche neuere medizinhistorische Beiträge ausgewiesen haben, die Ablehnung Galens durch Vesal keineswegs eine ausgemachte Sache. Richtig ist, daß Vesal im Vorwort der Fabrica die Behauptung aufstellt, Galen habe niemals menschliche Körper seziert, sein schriftlich überliefertes anatomisches Wissen beziehe sich demnach auf die Sektion von Tieren und sei insofern kein
46. H. Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medicin, S. 39. 47. A. von Haller: »Geschichte der Anatomie«, S. 15. 53
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anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers.48 Gleichwohl wird Vesal nicht müde zu betonen, daß er die Schriften Galens nicht nur aufmerksam gelesen, sondern seine eigenen Sektionen von menschlichen Körpern auch genau nach diesem Vorbild durchgeführt habe. So trifft auf Vesal genau dasjenige zu, was Bergdolt in Hinblick auf die Anatomie des 16. Jahrhunderts erklärt hat: »Wer im 16. Jahrhundert ernsthaft Anatomie betreiben, d.h. für oder gegen Galen oder Mondino Stellung beziehen wollte, mußte Philologe sein und selbst das Skalpell in die Hand nehmen.«49 Tatsächlich nämlich findet die dem zyklischen Geschichtsverständnis der Anatomen des frühen 16. Jahrhunderts entsprechende und aus diesem sich notwendig ergebende Wiederherstellung der Anatomie50 zunächst in den humanistischen Zirkeln51 statt,
48. Vesal proklamiert bezüglich Galen, »that he himself had never cut open a human body.« (Andreas Vesalius: On the Fabric of the Human Body. A translation of De humani Corporis Fabrica Libri Septem. Book I: The Bones and Cartilages. By William Frank Richardson. In collaboration with John Burd Carman, San Francisco 1998, S. liv) Hier und im folgenden werden die ersten beiden Bücher der Fabrica nach der nur bis dorthin vorliegenden neuen Übersetzung von Richardson zitiert. Alle weiteren Zitate aus der Fabrica folgen der Übersetzung von O’Malley (Charles D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels 1514-1564, Berkeley, Los Angeles 1964). 49. K. Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹, S. 42. 50. Die Krisenerfahrung ist der Anatomie des 16. Jahrhunderts Programm. So führt Benedetti 1502 in Anatomice aus: »I have pointed out many things overlooked by the moderns who […] have made thousands of wounds upon the studies of medicine through their ignorance.« (Alessandro Benedetti: »History of the Human Body«, in: L.R. Lind, Studies in Pre-Vesalian Anatomy, S. 81-137, hier S. 82) Und Berengario da Carpi erklärt 1535 in den Isagoge breves: »There are many books which discuss anatomy, but they are not well arranged for the reader’s comfort. The authors seem to have borrowed fables from other volumes instead of writing genuine anatomy.« (J. B. da Carpi: A Short Introduction to Anatomy, S. 35) Vesal schließlich diagnostiziert: »So much did the ancient art of medicine decline many years ago from its former glory.« (A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. li) Sein Ziel besteht demnach darin, »[…] to restore this part of the art to its former glory.« (Ebd., S. l) Aufgrund seiner eigenen anatomischen Tätigkeit schließlich kann er die »art of dissection as now reborn« (Ebd., S. liii) bezeichnen. 51. Dabei findet die Denkfigur des Humanismus im Vergleich zu anderen Wissensfeldern in der Medizin nur zögerlich ihren Niederschlag. Vgl. zum Humanismus in der Medizin: G. Baader: »Antikenrezeption«; K. Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹; R. Toellner: »›Renata dissectionis ars‹«; ders.: »Zum Begriff der Autorität«; R. Wittern: »Kontinuität und Wandel«; J.H. Wolf: »Medizin im Widerstreit«. So spricht Wittern etwa von einer »signifikanten Verspätung« (R. Wittern: 54
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aus denen schließlich zahlreiche Ärzte an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert hervortreten.52 Erst dann kann der sich auf Mondinos Anathomia aus dem Jahre 1316 berufende und über diese seit 1474 in gedruckter Fassung verfügende scholastische Galenismus auf dem Papier philologisch fragwürdig werden.53 Und erst durch die Sektion des menschlichen Körpers und die idealiter auf der Autopsia beruhende anatomische Wissensformation schließlich kann der philologische Galenismus in Bedrängnis geraten. Die von zahlreichen Anatomen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts diagnostizierte Krise wird also zunächst überwunden kraft einer Ablösung des scholastischen Galenismus in Anlehnung an Mondino durch einen philologischen Galenismus humanistischer Motivation. Dieser wiederum wird selbst krisenhaft durch die eigentümliche Verbindung des auf Mondino zurückgehenden menschlichen Körpers als gesichertem Untersuchungsgegenstand der Anatomie und der aus dem philologischen Galenismus hervorgegangenen Autopsia als Dreh- und Angelpunkt selbst der galenischen Anatomie. Zurecht spricht Toellner hier von einem »humanistischen Paradoxon«54, gemäß dessen Galen nicht nur restauriert, sondern in der Geste der Restaurierung ruiniert wird. Vesal knüpft seinem Selbstverständnis nach an das authentische, philologisch rekonstruierte galenische Textcorpus und damit unmittelbar an Galen selbst an. Doch dieses Selbstverständnis trügt. Denn wenn Vesal beweisen möchte, daß Galen kein Galenist
»Kontinuität und Wandel«, S. 561). Bergdolt diagnostiziert eine »für die gesamte ärztlich-akademische Kunst charakteristische, nicht selten in der Öffentlichkeit süffisant kommentierte Retardierung der anatomischen Forschung wie der medizinischen Wissenschaft überhaupt.« (K. Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹, S. 15) Und Baader merkt an: »Um sich die Grenzen der Antikenrezeption in der Medizin zu verdeutlichen, sei darauf hingewiesen, daß diese scholastische Medizin […] im 15. und in einem Teil des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger ungebrochen an den Universitäten dominierte.« (G. Baader: »Antikenrezeption«, S. 53) 52. Premuda konstatiert diesbezüglich: »Jedenfalls wurde der Stand der Anatomie der vorvesalischen Generationen vor allem durch ›philologische‹ Bemühungen bestimmt.« (Lovis Premuda: »Die Anatomie an den oberitalienischen Universitäten vor dem Auftreten Vesals«, in: R. Herrlinger/F. Kudlien, Frühe Anatomie, S. 109125, hier S. 118) Wittern spricht gar von »sogenannten ›Philologenmedizinern‹« (R. Wittern: »Kontinuität und Wandel«, S. 569). 53. Vgl. dazu Toellner: »Die philologische Reinigung des Lehrgebäudes der Alten legte die Spalten und Risse frei, die die Tradition übertüncht hatte.« (R. Toellner: »Zum Begriff der Autorität«, S. 166) 54. R. Toellner: »›Renata dissectionis ars‹«, S. 90. 55
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war, dann gelingt ihm dies nur, weil er wegen des an den Universitäten etablierten Galenismus bei der Sektion über menschliche Körper verfügen kann. Diese menschlichen Körper seziert er aber gerade nicht wie in der galenistischen Kathederanatomie üblich, sondern er seziert sie so, wie es im galenischen Textcorpus empfohlen wird. In einer quasi experimentellen Versuchsanordnung geht der professionelle Anatom Vesal vor wie Galen, seziert wie Galen und präsentiert in der Fabrica, seinem Experiment mit der Publikationsform des anatomischen Atlanten, wie er Galen seziert, indem er wie Galen seziert. Cunningham stellt diesbezüglich fest: »fundamentally what Vesalius sees is the body Galen had wanted to see, and this is new.«55 Insofern kann von einem dezidierten Antigalenimus bei Vesal kaum die Rede sein. Vielmehr berechtigt gerade jenes der Anatomie des 16. Jahrhunderts eigene Spannungsverhältnis zwischen Traditionen, Kontinuitäten und Krisenmomenten dazu, die in diesem Zeitraum stattfindende Anatomie einerseits als Ausdruck einer »Krise«56 und andererseits als »Blütezeit«57 auszuweisen. Ein Umstand, welcher sich bereits in der Etymologie des Begriffs ›Krise‹ manifestiert, wenn man bedenkt, daß gr. krísis dt. ›Entscheidung, entscheidende Wendung von Krankheiten‹ bedeutet und mithin stets ein Ereignis des Übergangs markiert.58 Was hier als ›frühneuzeitliche Anatomie‹ bezeichnet werden soll und gemeinhin immer auf das Ereignis Vesal reduziert wird, erweist sich demnach als widersprüchlich in sich, was in ganz be-
55. A. Cunningham: The Anatomical Renaissance, S. 121. Weiter führt er aus: »For the anatomical project of Galen is precisely what Vesalius was following. […] No one since Galen himself had followed the practice of Galen in anatomy as precisely as Vesalius was now doing.« (Ebd., S. 116) Ähnlich argumentieren auch andere Forschungsbeiträge zur Anatomie der frühen Neuzeit, welche Vesal auf seine konzeptuellen Apriori rückverweisen wollen. So z.B. French: »[…] by Vesalius being more Galenic than Galen, in reconstructing a practice in which Galen had claimed to be skilled, but was not, human dissection.« (R. French: Dissection ans Vivisection, S. 144) 56. M. Sonntag:»Die Zerlegung des Mikrokosmos«, S. 78. 57. Kai Budde: »Der sezierte Tote – ein schreckliches Bild? Über das Verhältnis der Lebenden zum toten präparierten Körper«, in: Körperwelten. Einblicke in den menschlichen Körper. Herausgegeben vom Institut für Plastination, Heidelberg 1998, S. 11-27, hier S. 22. 58. Vgl. dazu: Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 1995, S. 735. 56
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sonderem Maße für die Manifestationen des Anatomischen im 16. Jahrhundert gilt. Diesbezüglich faßt Wolf zusammen: »Die Physiognomie der Renaissance-Epoche weist daher insgesamt heterogene, darunter, mehr als bislang gewürdigt, mittelalterliche Züge auf, die das Gesicht dieser Epoche fürs erste ungeordnet, ja verwirrend vielfältig erscheinen lassen.« 59 So muß der traditionsstiftende Akt, Vesal als Begründer einer naturwissenschaftlich motivierten Anatomie und damit als Überwinder der galenischen Anatomie auszuweisen, unweigerlich dazu führen, sowohl die galenischen als auch die galenistischen Substrate der vesalianischen Anatomie vergessen zu machen. Traditionen sind fragil und müssen immer wieder diskursiv oder bildmedial iteriert werden, um verständlich und auch verfügbar zu bleiben. Es wird deutlich, daß die Rede von Vesal oder der Abdruck des Titelbildes der Fabrica eine Tradition illustrieren sollen, die allererst zu vollziehen ist. Dies unterstreicht einmal mehr den »Sinn kultureller Gedächtnisse als Funktionsgedächtnisse, damit als Vermittler zeitüberdauernder Identitäten.«60 Denn diese Tradition einer naturwissenschaftlich motivierten, sich vom 16. Jahrhundert an kontinuierlich in eine immer wieder neue Zukunft verlängernden Anatomie ist ein latentes Element zumindest des anatomischen Diskurses des 20. Jahrhunderts. Wenn dieses sich in der Geste der diskursiven oder bildmedialen Reproduktion manifestiert, ist es in der Lage, eine gesamte Disziplin historisch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. In seinem programmatischen Beitrag führt Hobsbawm zu Traditionen aus: »Sie versuchen bestimmte Werte und Verhaltensnormen durch Wiederholung einzuschärfen, was automatisch eine Kontinuität mit der Vergangenheit beinhaltet. Wenn möglich, versuchen sie eine Kontinuität mit einer brauchbaren geschichtlichen Vergangenheit herzustellen.«61
59. J.H. Wolf: »Medizin im Widerstreit«, S. 81. 60. Vittoria Borsò: »Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität. Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs«, in: dies./Gerd Krumeich/Bernd Witte (Hg.), Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen, Stuttgart, Weimar 2001, S. 23-53, hier S. 43. 61. E. Hobsbawm: »Das Erfinden von Traditionen«, S. 98. 57
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Eben jenes Verständnis einer kontinuierlichen, immer wieder historiographisch einholbaren Entwicklung der Anatomie, ausgehend von der Publikation der Fabrica durch Vesal im Jahre 1543, artikuliert etwa Budde, wenn er in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog der Körperwelten äußert: »Das, was man heute unter Anatomie versteht, nahm seinen Anfang mit dem Werk Vesals.«62 Läßt sich in Buddes Äußerung noch das Selbstverständnis einer Aktualität des Historischen ausmachen, welches ihn zumindest dazu veranlassen könnte, die Fabrica durch ein aktuelles Anatomieverständnis historiographisch produktiv herauszufordern, so gerät Lipperts Aussage aus dem Lehrbuch Anatomie, die Anatomie sei »eine sehr alte Wissenschaft«63, schlichtweg zum Nonsens. Denn tatsächlich scheint es zunächst bedeutungslos, wie alt dasjenige, was er die Anatomie nennt, ist. Bedeutsam wird dieser Umstand erst in dem Augenblick, in welchem die Rede von ihm dazu dient, sich selbst an der Spitze der zumindest seit Vesals Fabrica ununterbrochenen und womöglich darüber hinaus unendlichen Überlieferung stabilen, unveränderlichen und stets einholbaren anatomischen Wissens zu positionieren. Zu einem solchen auf fortschreitender Akkumulation beruhenden und aufgrund der Akkumulation zur Perfektion neigenden Geschichtswissen bemerkt Foucault: »Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, daß alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann.«64 Diese kontinuierliche Geschichte aber läßt sich nicht nachvollziehen, da sie nicht vorliegt. So erklärt etwa McKusick sogar das Human Genome Project explizit zu einem anatomischen auf neo-vesalianischer Basis und steckt dessen als Versprechen formulierten Bedeutungshorizont paradoxerweise historisch ab, indem er behauptet: »The influence on medicine is fully as great as was that of Andreas Vesalius’ de corporis humani Fabrica, which was published in 1543.«65 Dieses Beispiel verdeutlicht schon auf der Ebene des Textkörpers, daß solche traditionsstiftenden und diese gestiftete Tradition als Projektil in die Zukunft richtenden Maßnahmen das scheinbar unmittelbar Überlieferte eben nicht unberührt lassen, in vorliegendem Fall paradigmatisch an dem falschen Titel der Fabrica
62. K. Budde: »Der sezierte Tote«, S. 22. 63. H. Lippert: Lehrbuch Anatomie, S. 1. 64. M. Foucault: Archäologie, S. 23. 65. Victor A. McKusick: »The Anatomy of the Human Genome. A Neo-Vesalian Basis for Medicine in the 21st Century«, in: JAMA. The Journal of the American Medical Association, Vol. 286, No. 18 (2001), S. 2289-2295, hier S. 2289. 58
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abzulesen. Gleichermaßen ist der Galen der arabischen Überlieferung nicht der Galen in Mondinos Anathomia von 1316. Und dieser geht nicht in dem Galen des scholastischen Galenismus auf, welcher sich seinerseits von dem Galen des philologischen Galenismus unterscheidet. Schließlich erweist sich der Galen Vesals als ein gänzlich anderer als derjenige aus von Hallers ›Geschichte der Anatomie‹ von 1770 oder aus Haesers Lehrbuch der Geschichte der Medicin von 1881.66 Gleiches gilt freilich auch für Vesal, welcher Galen gegen den Galenismus auffährt, bei von Haller beinahe selbst zum Galenisten, bei Haeser zum dezidierten Anti-Galenisten und spätestens im 20. Jahrhundert seinerseits zum Ursprung einer sich unmittelbar auf ihn berufenden anatomischen Tradition wird. Um diesen Ursprung setzen und alle ihn bedingenden und begleitenden Umstände vergessen lassen zu können, bedarf es zumindest der stillschweigenden, besser noch der explizit artikulierten Annahme einer wissenschaftlichen Revolution im Sinne Kuhns.67 Diese fungiert idealiter als diachron unumkehrbare und synchron flächendeckende Garantie für die Unhintergehbarkeit des für die Stiftung einer stabilen Tradition notwendig zu setzenden Ursprunges, von welchem aus sich das Tradierte, welches ein stets zu Tradierendes bleibt, unmißverständlich entfaltet: »Die Idee der Revolution als einer radikalen, nicht wieder rückgängig zu machenden Neuordnung der Dinge entwickelte sich zusammen mit dem Konzept einer gerichteten, linearen Zeit.«68 Als nichts anderes als die Personifizierung einer solchen wissenschaftlichen Revolution schließlich fungiert Vesal, wenn er als Begründer der modernen, naturwissenschaftlich motivierten Anatomie aufgeführt wird. Jedoch kommt Wittern bezüglich Vesal zu einem gänzlich anderen Schluß: »Obwohl er über 200 Irrtümer Galens aufdeckte und berichtigte, ist sein Werk keine Revolution im
66. Zu der Transformation antiker Schriften durch den Buchdruck bemerkt Giesecke: »Die antiken Programme emergieren im 15./16. Jahrhundert auf einer neuen Stufe, als Software in einem völlig neuen Informations- und Kommunikationssystem. Nachdem die Klassiker irgendwann ›leiblich‹ gestorben waren, dann ihre Autographen verschwanden, ›lebten‹ sie als Programme in den skriptographischen Informationssystemen der Antike und des Mittelalters fort. In der frühen Neuzeit werden sie aus diesem Speicher herausgeholt und in eine andere Welt, ein anderes Informationssystem, hineinversetzt.« (M. Giesecke: Der Buchdruck, S. 322) 67. Vgl. dazu: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1967. 68. Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution, Frankfurt/Main 1996, S. 11. 59
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Kuhn’schen Sinn, weder im Selbstverständnis seines Autors noch in seiner tatsächlichen Gestalt.«69 Daraus leitet sie ab: »Im 16. Jahrhundert fand in der Anatomie keine wissenschaftliche Revolution statt.«70 Dennoch hat eine in die Anatomie des 16. Jahrhunderts projizierte wissenschaftliche Revolution nicht nur die Funktion, einer zu stiftenden Tradition einen verläßlichen Ursprung zu verschaffen, sondern sie entscheidet tatsächlich nicht zuletzt auch darüber, was tradiert werden soll und was dem Vergessen anheimgegeben werden muß. Denn bestimmte Aspekte der Geschichte der Anatomie sind einer ihrem Selbstverständnis nach bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Tradition naturwissenschaftlicher Anatomie abträglich und müssen ausgeklammert werden. Nur die seit dem 16. Jahrhundert scheinbar naturwissenschaftliche Tradition der Anatomie erlaubt es etwa, schriftlich überliefertes galenisches Körperwissen schlichtweg als »anatomically impossible«71 zu denunzieren oder wie Hyrtl 1879 vor dem Hintergrund der arabischen Überlieferung des galenischen Textcorpus von einer Zeit zu sprechen, »in welcher über Anatomie geschrieben wurde, obwohl es keine Anatomie gab.«72 Damit wird Anatomie nicht nur auf die anatomische Praxis der Leichensektion reduziert, sondern es wird auch der historische und kulturelle Bedeutungshorizont einer jeden Anatomie ausgeblendet. Gleiches gilt für die Rede von einem etwaigen Anatomieverbot, welches bis mindestens weit ins 15. Jahrhundert hinein Anatomen quasi an der sach- und fachgerechten Ausübung ihres Berufs gehindert und somit zu einer langwierigen Stagnation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers geführt habe. Dabei soll die Rede von einem solchen Anatomieverbot sicherstellen, daß die auf die Fabrica projizierte, sich mit dieser schließlich und unwiderruflich etablierende naturwissenschaftlich motivierte Anatomie der Anatomie im Grunde von Beginn an programmatisch und konzeptuell eingeschrieben gewesen sei, sich aufgrund widriger, selbstverständlich stets äußerlicher Umstände etwa kirchlicher oder staatlicher Prägung aber nicht angemessen habe entfalten können. In dieser Argumentation ist alle eigentliche Anatomie in ihren Wesenszügen immer schon eine naturwissenschaftliche gewesen, die sich aber erst im 16. Jahrhundert erfülle, da sie dort mit
69. 70. 71. 72. 1879, S. XI.
R. Wittern: »Kontinuität und Wandel«, S. 570. Ebd., S. 571. Ch. D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels, S. 154. Joseph Hyrtl: Das Arabische und Hebräische in der Anatomie, Wien
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Vesals Fabrica schlußendlich zu sich selbst finde und in sich selbst aufgehe.73 Stellvertretend für den heutigen Kenntnisstand der Medizingeschichte läßt sich diesbezüglich aber sagen: »However, despite grisly anecdotes to the contrary, and notwithstanding local deviations, the practice of dissecting human cadavers for legal or scientific reasons was generally accepted by the authorities of both Church and State.« 74 So hat sich an dem kanonischen Körperwissen, welches sich aus Mondinos Anathomia von 1316 ableitet, nicht lange Zeit nichts oder doch nur wenig verändert, weil nicht seziert werden durfte, sondern weil die anatomische Wissensformation nicht darauf angelegt war, am geöffneten Leichnam etwas anderes als das kanonisierte Wissen zu bestätigen und in der Bestätigung zu stabilisieren. Wenn der tatsächliche oder vermeintliche Umstand anhaltender Stagnation anatomischen Wissens vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert aber tatsächlich nicht auf ein Anatomieverbot zurückzuführen ist, dann ist er dem Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation selbst geschuldet. Da Anatomie in einschlägigen Argumentationen aber idealiter als auf eine naturwissenschaftliche Logik der Wissensproduktion und -organisation programmierte erscheint, darf es sich – das Nichtvorhandensein eines umfassenden und anhalten-
73. Eine ähnliche Argumentationsstruktur hat Foucault in der Geburt der Klinik bezüglich der klinischen Pathologie ausgemacht. Dazu führt er aus: »In der Geschichte der Medizin hat diese Illusion allerdings einen ganz bestimmten Sinn; sie fungiert als rückwirkende Rechtfertigung: derzufolge den Verboten der alten religiösen Mächte im wissenschaftlichen Streben der Ärzte das verdrängte Bedürfnis nach der Öffnung von Leichen gegenüberstand.« (Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/Main 1999, S. 138) 74. Mimi Cazort: »The Theatre of the Body«, in: dies./M.N. Kornell/K.B. Roberts, The Ingenious Machine, S. 11-42, hier S. 13. Und Rupp stellt fest: »No single clerical or governmental document has been found to the present day in which dissection of human corpses is declared to be forbidden.« (Jan C.C. Rupp: »Michel Foucault, Body Politics and the Rise and Expansion of Modern Anatomy«, in: Journal of Historical Sociology, Vol. 5, No. 1 [1992], S. 31-60, hier S. 36) Aber: »What have been found are documents in which dissections are regulated, which points to practices that already existed.« (Ebd., S. 37) Vgl. dazu auch generell: E. Ackerknecht: Geschichte der Medizin, S. 82; K. Budde: »Der sezierte Tote«, S. 20; W. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 138; R. French: Dissection and Vivisection, S. 11f.; T.V.N. Persaud: Early History of Human Anatomy, S. 96. Vgl. speziell:Mary Niven Alston: »The attitude of the church towards dissection before 1500«, in: Bulletin of the History of Medicine, Volume XVI, Number 3 (1944), S. 221-238. 61
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den Anatomieverbotes vorausgesetzt – bei all jenen, welche sich der der Anatomie scheinbar eigenen Programmatik nicht anverwandeln, nicht um Repräsentanten dessen, was als die Anatomie gesetzt werden soll, handeln. Die bereits angeführten Beispiele Hyrtls und O’Malleys verdeutlichen, daß Traditionen tatsächlich nicht nur vergessen lassen, indem sie erinnern, sondern daß sie vergessen machen müssen, um erinnern zu können. Diejenigen aber, die eine Tradition wieder zur Sprache bringen oder ins Bild rücken, tun dies nicht, weil sie sich als traditionell empfinden, sondern genau andersherum, weil sie sich einer Tradition verpflichtet fühlen, in welche sie sich einschreiben müssen, um sie fortschreiben zu können. Sich in eine Tradition einzuschreiben, heißt aber weder, absichtsvoll eine solche Tradition begründen zu wollen, noch heißt es, selbstbewußt über diese verfügen zu können. Denn Produktion und Reproduktion von Tradition gehen nicht in einer einsichtigen, bloß zu entlarvenden Verschwörung etwa seitens professioneller Anatomen auf, sondern sie haben einen prozeduralen Charakter, in welchem immer wieder neu ausgehandelt wird, wie sich die latente Tradition diskursiv und bildmedial in den sie reproduzierenden, sie zur Sprache bringenden oder ins Bild rückenden institutionalisierten Autor einschreibt. Schließlich wird die Tradition selbst zu einem obligatorischen Passagepunkt des sich durch ihre Reproduktion institutionalisierenden Autors. Wer Anatomie praktiziert und publiziert, ohne diesen obligatorischen Passagepunkt der Fabrica Vesals oder des Vesals der Fabrica zu durchlaufen, wird seiner von der Anatomie institutionalisierten Autorfunktion zwar keineswegs nicht gerecht, schöpft das autorgenerative, wissenschaftspolitische Potenzial traditionalisierter Institutionen und institutionalisierter Traditionen aber nicht aus. So geht jede Tradition auf Kosten einer von ihr vereinnahmten, ihr dienstbar gemachten vergangenen Gegenwart und nimmt zugleich die zukünftige Vergangenheit dessen, der diese Tradition formuliert, in Kauf. Insofern verdeutlicht der Abdruck des Titelbildes von Vesals Fabrica aus dem Jahre 1543 in zahlreichen zeitgenössischen, anatomisch motivierten Publikationen einmal mehr folgenden Umstand: »Speicherungstechniken sind nicht gedächtnisexterne Hilfsmittel zur Reproduktion eines im Funktionsgedächtnis abgelagerten Vorwissens, sondern das Wissen über die Vergangenheit wird durch das Verhältnis von Medium und Form erst produziert.« 75
75. V. Borsò: »Gedächtnis und Medialität«, S. 36. 62
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2.2 Programme der visuellen Kultur der Anatomie auf dem Titelbild der Fabrica Das Titelbild der Fabrica aus dem Jahre 1543 weist zunächst eine ganz besondere Geschichte auf, da es, wie bereits ausgeführt, etwa reproduziert, koloriert und in anderen Publikationen wie Lipperts Lehrbuch Anatomie von 1990 oder Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998 katalogisiert worden ist. Jedoch beschränkt sich die Geschichtlichkeit dieses Titelbildes keineswegs auf die Tatsache, daß es bloß Teil einer möglichen Geschichte der Anatomie geworden ist. Denn es zeigt sich, daß nicht nur eine Geschichte dieses Titelbildes entlang einschlägiger Reproduktionen vorliegt, sondern daß eine mögliche Geschichte der Anatomie auch als eine durch die Positionierung dieses Titelbildes sich zumindest implizit vollziehende Geschichtsschreibung verstanden werden kann. Dies gerade dann, wenn es als Gegenstand traditionsstiftender Maßnahmen im Namen einer sich scheinbar stets schon als naturwissenschaftlich selbstverständigenden Anatomie figuriert. Das Titelbild der Fabrica ist also nicht nur deshalb interesssant, weil es, wie im folgenden gezeigt werden soll, in der Anatomie der frühen Neuzeit selbst Medizingeschichte geschrieben hat, sondern auch, weil mit ihm immer wieder neue und andere Geschichten der Anatomie geschrieben worden sind. So stellt das Titelbild der Fabrica wohl das bekannteste Sektionsszenario in der Geschichte der Anatomie dar. Einerseits, weil es immer wieder in aktuellen Publikationen wie Lipperts Lehrbuch Anatomie von 1990 oder Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998 reproduziert worden ist. Andererseits, weil es nach der Publikation der Fabrica im Jahre 1543 auch die Titelblätter in den sich ausformenden anatomischen Atlanten ikonographisch präfigurieren sollte.76 Gleichwohl ist dieser Holzschnitt in Folioformat weder das erste Sektionsszenario überhaupt, noch verkörpert er das erste gedruckte Sektionsszenario, noch stellt er das erste in einer Buchpublikation gedruckte Sektionsszenario dar. So lassen sich seit dem 14. Jahrhundert zahlreiche Sektionsszenarien in illuminierten Handschriften nachweisen sowie seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun-
76. Vgl. dazu Carlino: »the anatomy lecture displayed on the title page becomes the basis for a series of printed images found in a number of sixteenthcentury treatises that are clearly inspired by the iconographic composition inaugurated by Vesalius’s text.« (Andrea Carlino: Books of the Body. Anatomical Ritual and Renaissance Learning, Chicago, London 1999, S. 53) 63
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derts einige wenige frühe Einblattholzschnitte.77 Im Jahre 1481 erscheint in einer Lyoner Ausgabe des Roman de la Rose das vielleicht erste in einem Buch gedruckte Sektionsszenario. Dieses stellt dar, wie Nero seine Mutter sezieren läßt.78 In etwa zeitgleich wird ein weiteres Sektionsszenario als Holzschnitt publiziert, und zwar in Buch V der von Farget 1482 in Lyon mit dem Titel Le propriétaire des choses herausgegebenen französischen Übersetzung einer lateinischen Schrift von Bartholomaeus Anglicus aus dem 13. Jahrhundert.79 Der Roman de la Rose und Le propriétaire des choses sind freilich weder genuin anatomisch motivierte, noch überhaupt medizinische Publikationen im weiteren Sinne. Hingegen stellt das Frontispiz zu Mondinos 1316 verfaßter Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494 ein in der Anatomie des frühen 16. Jahrhunderts prominentes, wenn nicht das privilegierte Sektionsszenario dar (Abb. 2). Der Fasciculo di medicina von 149480 geht zwar auf den 1491 von Johannes de Ketham in Venedig herausgegebenen und an Ärzte, Chirurgen und Medizinstudenten adressierten Fasciculus medicinae zurück, geht aber keineswegs in einer Übersetzung dessen auf. So beinhaltet der Fasciculo di medicina, als dessen Herausgeber nun Petrus de Montagnana ausgewiesen wird, insgesamt sieben medizinische Beiträge, darunter etwa Ratschläge zur Bekämpfung der Pest oder zum Aderlaß sowie – anders als noch der Fasciculus medicinae von 1491 – eine Übersetzung der 1316 von Mondino in Latein verfaßten Anathomia. Die Anathomia, welche der einzige anatomisch motivierte Beitrag des Fasciculo di medicina ist, umfaßt immerhin 39 der insgesamt 104 Seiten der Publikation. Dies verdeutlicht ebenso wie die Tatsache, daß einzig das Frontispiz zur Anathomia koloriert wurde, den zunehmenden Stellenwert der Anatomie in der Medizin an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.81 Der um
77. Vgl. dazu generell: G. Wolf-Heidegger/A.M. Cetto: Die anatomische Sektion, S. 123-186. 78. Vgl. dazu: ebd., S. 135f. 79. Vgl. dazu: ebd., S. 154f. 80. Als Publikationsdatum des Fasciculo di medicina wird vom Verleger, den Brüdern de Gregori aus Venedig, der 5. Februar 1493 angegeben, welcher nach heutiger Zeitrechnung aber der 5. Februar des Jahres 1494 ist, da der damalige venezianische Kalender erst den 1. März als Jahresbeginn auszeichnete. 81. Zum Stellenwert der Anatomie im Selbstverständnis der Anatomen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. etwa Benedettis Ausführungen in seiner 1502 in Venedig erschienenen Publikation Anatomice: »The entire theory and practice of medicine and the discipline of surgery depend upon anatomy.« (Alessandro Bene64
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die Anathomia Mondinos ergänzte und sich somit nachträglich dem Erfolg seiner erweiterten und übersetzten Fassung anverwandelnde Fasciculus medicinae erfährt in den Jahren 1495, 1500, 1501 und 1513 Neuauflagen, ebenso der Fasciculo di medicina im Jahre 1508. Dabei wird jeweils auch das Frontispiz zu Mondinos Anathomia behutsam überarbeitet, ohne daß sich an dessen konzeptuellen Koordinaten aber grundsätzlich etwas ändern würde.82 So erscheint die Anathomia – sei es in der lateinischen, sei es in der italienischen Fassung – als der prominenteste anatomisch motivierte Text bis zur Publikation der Fabrica. Darüber hinaus ist das Frontispiz zu Mondinos Anathomia das sicherlich bekannteste Sektionsszenario bis zum Titelbild der Fabrica. Das Frontispiz zu Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494 und das Titelbild der Fabrica von 1543 können also mit einiger Berechtigung als konkurrierende Modelle in der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stattfindenden Auseinandersetzung über den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation ausgewiesen und als solche miteinander verglichen werden. Dazu bedarf es allerdings einer in den zahlreichen Forschungsbeiträgen zu diesem Thema noch nicht ausreichend betriebenen
detti: »History of the Human Body«, in: L.R. Lind, Studies in Pre-Vesalian Anatomy, S. 81-137, hier S. 81) Canano spricht im Grußwort seiner um 1541 erschienenen Musculorum corporis picturata dissectio von »[…] the need and the usefulness of skill in anatomy in the practice of medicine, especially for the surgeon.« (Giovanni Battista Canano: »An Illustrated Dissection of the Muscles of the Human Body«, in: L.R. Lind, Studies in Pre-Vesalian Anatomy, S. 309-316, hier S. 309) Vesal bezeichnet die Anatomie als »the prime foundation of the whole art of medicine and the source of everything that constitutes it.« (A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. l) Estienne schreibt in seiner Dissection von 1546: »La fin de laquelle dissection/disent être: à ce que nous puissions plus aisément entendre à […] combattre les maladies: & entretenir la santé des hommes: qui est la principale intention & vacation du médecin.« (Ch. Estienne: Dissection, S. 4) [die Zitate aus Estiennes Publikation von 1546 werden hier und im folgenden vom Verfasser behutsam der Orthographie des heutigen Französisch angepaßt] Ähnliches diagnostiziert auch die heutige Medizingeschichte, wenn etwa Ackerknecht ausführt: »Auf keinem Gebiet der Medizin sind die Veränderungen, die während der Renaissance hervorgebracht wurden, so deutlich, wie auf dem Gebiet der Anatomie.« (E. Ackerknecht: Geschichte der Medizin, S. 5) Zuletzt hat Bergdolt angemerkt, daß sich »die Anatomie spätestens um 1520 als neue medizinische Schlüsseldisziplin« (K. Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹, S. 8) etabliert habe. 82. So weist Carlino sieben Varianten des Frontispizes aus. Vgl. dazu: A. Carlino: Books of the Body, S. 10ff. 65
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Klärung der Reichweite eines solchen Vergleichs.83 Denn offenkundig positioniert sich Vesal – wenn auch nicht explizit, so doch strategisch – zwar zu dem Frontispiz zur Anathomia, doch das Frontispiz zur Anathomia kann auch in der zweiten Auflage des Fasciculo von 1508 selbstverständlich nicht zu dem erst Jahrzehnte später publizierten Titelbild der Fabrica positioniert werden. Zudem handelt es sich bei einem Frontispiz nicht notwendig um ein Titelbild und bei einem Titelbild nicht notwendig um ein Frontispiz. Während das Frontispiz zur Anathomia, wenngleich ebenfalls ein Holzschnitt in Folioformat, ein unbeschriftetes ist, auf welches ein paratextueller Apparat erst folgt, ist dem Titelbild der Fabrica der paratextuelle Apparat, zu welchem es selbst gehört, bereits eingeschrieben.84 Das Titelbild trägt also den Titel der Publikation sowie dessen Verfasser bereits in sich, wohingegen das Frontispiz eine zumindest zunächst bloß illustrative Funktion übernimmt. Darüber hinaus werden das Titelbild und das Frontispiz in ihren jeweiligen Publikationen – also der Fabrica und dem Fasciculo di medicina – nicht an gleicher Stelle präsentiert, denn das Titelbild der Fabrica eröffnet nicht, wie das Frontispiz zur Anathomia, einen Beitrag aus einer Anthologie innerhalb einer Anthologie, sondern es steht am Beginn der gesamten Publikation und hat somit eine rahmende und bedeutungsstiftende Funktion für das ganze Buchprojekt. Wenn, wie
83. Es gibt kaum einen Forschungsbeitrag zur frühneuzeitlichen Anatomie, welcher nicht auf das Sektionsszenario zu Mondinos Anathomia eingegangen wäre. Eine bibliographische Übersicht liefert: J.J. Bylebyl: »Interpreting the Fasciculo Scene«. Vgl. dazu auch insbesondere: A. Carlino: Books of the Body, S. 9-20. Ebenso wie das Sektionsszenario aus dem Fasciculo di medicina ist auch das Titelblatt der Fabrica Gegenstand unzähliger Arbeiten geworden, welche zumeist auch eine Kontrastierung gerade dieser beiden Bilder vorgenommen haben. Von daher kann hier nur eine bibliographische Auswahl an Bildanalysen angegeben werden: Ch. Lammer: Die Puppe, S. 46ff.; Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/Main 1992, S. 88ff.; H. Moe: The art of anatomical illustration, S. 21ff.; K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 131ff.; J.B. Saunders/Ch.D. O‘Malley: The Illustrations from the Works of Andreas Vesalius of Brussels, S. 42ff.; Jonathan Sawday: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture, London, New York 1996, S. 66ff.; G. Wolf-Heidegger/A.M. Cetto: Die anatomische Sektion, S. 214ff. Eine detaillierte, auch bibliographisch kommentierte Analyse, welche den Einfluß des Titelbildes der Fabrica in der frühneuzeitlichen Anatomie nachzeichnet, bietet vor allem: A. Carlino: Books of the Body, S. 39-68. 84. Zur Funktion paratextueller Apparate vgl. grundsätzlich: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/Main 2001. 66
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bereits ausgeführt, gerade die sich aus dem Buchdruck und druckgraphischen Reproduktionstechniken ergebenden unkontrollierbaren Lektüresituationen von und Lektürepraktiken mit Text- und Bildmaterialien zu einer institutionellen Schwäche führen, dann fungiert das Titelbild einer Buchpublikation als Strategie, denjenigen Rahmen für die Lektüre zu offerieren, den es selbst darstellt. Demgemäß bemerkt Carlino: »The title page of a book is one of the few typological elements introduced by printing that is without precedent in the manuscript tradition.«85 Tatsächlich erscheint Vesal auf dem Titelbild der Fabrica nicht nur als Anatom, der am Seziertisch arbeitet, sondern auch als namentlich genannter und von dem Familienwappen mit den drei Wieseln flankierter Autor eben derjenigen Publikation, welcher das Titelbild entstammt. Mit dem Autor auf dem Titelbild seiner Publikation wird also zumindest festgestellt, daß Autor, Publikation und Titelbild eine gegenseitige Zeitgenossenschaft eignet, welche es allererst erlaubt, Vesal eine strategische Positionierung seines anatomischen Projektes nicht zuletzt mittels des Titelbildes zu unterstellen. Ganz anders die Umstände, die zur Präsentation des Frontispizes zu Mondinos Anathomia von 1316 im Fasciculo di medicina von 1494 führen. Denn hier kann es weder die Person Mondino noch der Autor Mondino sein, welche dem Text der Anathomia ein Frontispiz vorangestellt haben, sondern es muß entweder der Herausgeber oder der Übersetzer gewesen sein, welcher einen zeitgenössischen, kolorierten Holzschnitt in Folioformat vor die zeitgenössische Übersetzung der fast 200 Jahre alten Anathomia Mondinos gesetzt hat. Hier liegt also ein weiteres Beispiel für zumindest implizite Geschichtsschreibung durch posthume Publikationspraktiken und -strategien von anatomischem Bildmaterial vor. Ähnlich wie Vesals Fabrica durch die Reproduktion des Titelbildes in aktuellen anatomischen Publikationen wie Lipperts Lehrbuch Anatomie von 1990 oder Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998 nicht unberührt davon bleibt, daß sie in einen naturwissenschaftlich motivierten Traditionszusammenhang gestellt wird, bleibt auch Mondinos Anathomia von 1316 nicht davon unberührt, daß ihr im Jahre 1494 im Fasciculo di medicina ein zeitgenössischer Holzschnitt als Frontispiz hinzugefügt wird. Anders aber als in der aktuellen Reproduktion des der Fabrica zeitgenössischen, zu dieser schließlich unmißverständlich gehörenden Titelbildes gerät in der frühneuzeitlichen Präsentation eines Frontispizes zur Anathomia die Produktion des Bildes selbst zum historiographischen Akt – und dies noch jen-
85. A. Carlino: Books of the Body, S. 8. 67
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seits der ikonographischen Frage, was und vor allem wen es überhaupt darstellen soll. Schon der Bildaufbau des Sektionsszenarios auf dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia verdeutlicht den zentralen Stellenwert des auf dem Katheder positionierten, offensichtlich einen Vortrag haltenden Professors, welcher sich nicht nur in der Bildmitte befindet und den zentralen Fluchtpunkt des Unternehmens darstellt, sondern auch kraft seiner Autorität alle anderen Teilnehmer an der Sektion überragt. So läßt sich der Bildaufbau in vier wesentliche Bildebenen von vorne nach hinten unterteilen: (1) der auf dem Seziertisch aufgebahrte und zur Sektion freigegebene männliche Leichnam, über welchen sich der Prosektor beugt; (2) der Prosektor sowie der an dem rechten Rand ein wenig aus dem Bild fallende Demonstrator, dessen Funktion in der Vermittlung zwischen Professor und Prosektor besteht; (3) die einander verdeckenden kirchlichen und weltlichen Würdenträger; (4) der auf dem Katheder dozierende Professor. Obwohl die ersten drei Bildebenen durch die Parzellierung des Fußbodens zwar deutlich voneinander getrennt sind, bilden sie doch eine funktionelle Einheit, wohingegen die vierte Bildebene, der auf dem Katheder dozierende Professor, dem Geschehen sichtbar entrückt ist. So führt schon im Bildaufbau kein plausibler Weg von den ersten drei Bildebenen zum Katheder. Darüber gibt nicht nur die Tatsache Auskunft, daß die Parzellierung des Fußbodens sich in den drei ersten Bildebenen erschöpft, sondern auch der Umstand, daß zwar alle an den ersten drei Bildebenen beteiligten Figuren sich gegenseitig überdecken oder gleich aus dem Rahmen des Bildes fallen, jedoch keine von ihnen auf der vertikalen Bildachse die durch den Katheder markierte Grenze überschreitet. Als tatsächlicher Rahmen dieses Sektionsszenarios fungiert also der Katheder, welcher auf horizontaler Bildebene in der Mitte und auf vertikaler Bildebene über allem positioniert ist und somit über das Geschehen wacht. Was sich anhand dieses Sektionsszenarios trotz der offenkundigen Sicherung des menschlichen Körpers als Untersuchungsgegenstand der Anatomie mithin feststellen läßt, ist gerade eine schrittweise Entfernung von diesem. Denn das eigentliche Körperwissen ereignet sich weder auf der ersten Bildebene – also am Untersuchungsgegenstand selbst –, noch auf der zweiten oder dritten Bildebene – also zwischen Prosektor, Demonstrator und teilweise abschweifendem Publikum –, sondern es findet gleichermaßen seinen Ursprung und seine Bestätigung auf der vierten Bildebene, nämlich dem Katheder. Der Blick des Professors auf den zur Sektion freigegebenen Leichnam aber scheint versperrt durch den Prosek68
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tor, während die Blicke des Publikums – sofern dieses überhaupt einen Blick wagen möchte und es nicht vorzieht, sich gänzlich dem Vortrag des Professors zu widmen – entweder von dem Prosektor, dem Demonstrator oder auch untereinander behindert werden. Im Grunde aber wirft auch der auf dem Katheder dozierende Professor in diesem Sektionsszenario keinen Blick auf den Untersuchungsgegenstand. Vielmehr wendet er sich an den Betrachter des Bildes, welchen er unterrichtet, und zwar sowohl in Anatomie als auch über die Tatsache, daß das von ihm dozierte anatomische Körperwissen ein an dem Untersuchungsgegenstand des menschlichen Körpers bestätigtes und immer wieder zu bestätigendes ist. Hier wird anatomischer Wissensbestand also aktualisiert, reproduziert und stabilisiert. Dazu bedarf es einer spezifischen Wissensorganisation, nämlich der Anathomia Mondinos, eines zur Sektion freigegebenen Leichnams sowie des den anatomischen Akt vollziehenden Personals. Dieses besteht aus einem Professor, einem Demonstrator und einem Prosektor. Nur durch eine solche institutionelle Organisation der Wissensreproduktion ist es möglich, das anatomische Wissen gerade durch anatomische Praxis am auf dem Seziertisch positionierten menschlichen Körper zu konservieren und vor möglichen Korrekturen zu bewahren. Insofern haben in diesem Sektionsszenario alle Beteiligten eine Statistenrolle in der hierarchischen Gliederung eines monolithischen anatomischen Wissenskörpers inne, dem sie sich je anzuverwandeln haben. Allerdings hat sich an diesem Frontispiz zu Modinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494 eine rege Diskussion darüber entzündet, ob es sich dabei um eine historisierende, rückwirkend auf das frühe 14. Jahrhundert bezogene Darstellung einer Sektion Mondinos selbst, um eine zeitgenössische Dokumentation anatomischer Praxis des ausgehenden 15. Jahrhunderts oder um eine praktische Lektüreanweisung für Mondinos Anathomia handeln solle.86 Dabei erweist sich ein Blick auf die Titelbilder der Commentaria super Anatomia Mundini von 1521 oder der Ausgabe der Isagoge breves von 1535 (Abb. 3) als hilfreich. Denn in beiden Fällen schreibt sich Berengario nicht nur in seinen schriftlichen Ausführungen in die Tradition von Mondinos Anathomia ein, sondern auch mit Abstrichen in eben jenes Sektionszenario, welches auf dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia im Fasciculo di medicina von 1494 präsentiert wird. Auf beiden Bildern nämlich hat der Professor eine ausgezeichnete Stellung inne, welche wesentlich durch die Wahrung
86. Vgl. dazu: J.J. Bylebyl: »Interpreting the Fasciculo Scene«; A. Carlino: Books of the Body, S. 9-20. 69
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einer optischen und haptischen Distanz zum Untersuchungsgegenstand, also dem zur Sektion freigegebenen Leichnam, geprägt ist. Auch wenn gerade Berengario programmatisch ein sich auf die Autopsia berufendes anatomisches Selbstverständnis vertritt, so lassen sich die Titelbilder seiner zwei anatomischen Standardwerke doch als historische Manifestationen eben jenes Bedeutungshorizontes betrachten, welche das im Fasciculo di medicina 1494 präsentierte Sektionsszenario kraft der Anathomia hat entfalten können.87 Insofern verkörpern sowohl das 1494 publizierte Frontispiz zu Mondinos Anathomia als auch das Titelbild zu den Isagoge breves von Berengario jenes Konzept der anatomischen Wissensproduktion und -organisation, welches unter dem Begriff der ›Kathederanatomie‹ zu fassen ist und gegen welches Vesal im Vorwort der Fabrica von 1543 polemisiert. Dort behauptet er: »So the teaching in our colleges is all wrong.«88 Somit adressiert er seine Kritik der Kathederanatomie sowohl institutionell an die Universitäten als auch personell an die diese repräsentierenden Professoren.89 Inhalt seiner Kritik ist die etwa auf dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia manifeste Arbeitsteilung bei der Sektionspraxis in Professor, Demonstrator und Prosektor.90 Zurecht ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Sektionspraxis in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich nahezu ausschließlich in dieser von Vesal kritisierten Form der
87. So stellt Cunningham bezüglich der Commentaria einleuchtend fest: »This little picture clearly puts Berengarius’s teaching enterprise into the same format and tradition as that of Mundinus.« (A. Cunningham: The Anatomical Renaissance, S. 75) 88. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. li. 89. Vgl. dazu: »[…] that detastable ritual whereby one group performs the actual dissection of a human body and another gives an account of the parts: the latter aloft on their chairs croak away with consummate arrogance like jackdaws about things that they have never done themselves but which they commit to memory from the books of others or which they expound to us from written descriptions.« (Ebd.) 90. Vgl. dazu: »Previously this study was uniquely pursued by physicians […]; but when they handed over the task of surgery to others they lost the art of dissection, and this meant that the whole of anatomy went forthwith into a sad decline.« (Ebd.) Und weiter heißt es: »Furthermore, when the whole practice of cutting was handed over to barbers, not only did the physicians lose firsthand knowledge of the viscera but also the whole art of dissecting fell forthwith into oblivion, simply because the physicians would not undertake to perform it, while they to whom the art of surgery was entrusted were too unlettered to understand the writings of the professors of anatomy.« (Ebd.) 70
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Kathederanatomie vonstatten gegangen sei.91 Diese Frage läuft nicht zuletzt auch darauf hinaus, ob die ein solches Konzept der Kathederanatomie verkörpernden Frontispize und Titelbilder tatsächlich dokumentarischer Natur sind bzw. zumindest diesen Anspruch erheben, oder ob sie andersherum vielmehr einer Tradition – sei diese sektionstechnischer, also auf die Praxis der Leichensektion bezogener, oder aber ikonographischer, also publikationspraktischer Art – geschuldet sind, welcher sie sich verpflichtet fühlen. Vesal jedenfalls präsentiert das Titelbild der Fabrica von 1543 als Dokument seiner eigenen Sektionspraxis, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Im Vorwort der Fabrica betont er, daß er anders als die Anatomieprofessoren, welche er unter das Konzept der Kathederanatomie subsumiert, selbst und damit eigenhändig zahlreiche und regelmäßige Sektionen vorgenommen habe.92 Zudem sichert, wie bereits ausgeführt wurde, das im paratextuellen Apparat der Fabrica positionierte Autorenporträt Vesals (Abb. 4) die unzweifelhafte Identifizierung des auf dem Titelbild der Fabrica am Seziertisch operierenden professionellen Anatomen. Und nicht zuletzt bezieht sich Vesal in Buch V der Fabrica noch einmal auf das Titelbild der Publikation, wenn er ausführt: »At Bologna and Padua we prepared an amphitheatre such as is presented at the beginning of this book.«93 Im Mittelpunkt dieser in einem provisorischen anatomischen Theater stattfindenden Sektion steht der auf einem Seziertisch aufgebahrte weibliche Leichnam, dessen Bauchhöhle schon geöffnet und präpariert ist. Der Anatom, der als der Autor Vesal identifiziert werden kann, befindet sich aus Betrachterperspektive links vom Untersuchungsgegenstand, wobei die anatomischen Tatwerkzeuge, derer er sich bereits bedient hat, am Rande des von einer Kerze beleuchteten Seziertisches ausgestellt werden. Im Vergleich zu dem im Fasciculo di medicina präsentierten Sektionsszenario fällt zunächst auf, daß der Bildaufbau sich hier entlang des Untersuchungsgegenstandes gestaltet, welcher in starker, jedoch nicht perfekter perspektivischer Verkürzung die zentrale Blickachse bildet und in die Tiefe des medialen Raums direkt zu dem präparierten Skelett führt.
91. Dazu: »It has proven difficult to find independent corrobation for Vesalius’s claims that anatomies were routinely taught under such inappropiate physical circumstances.« (J.J. Bylebyl: »Interpreting the Fasciculo Scene«, S. 287) 92. Vgl. dazu: »I have performed frequent dissections both here and in Bologna.« (A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body, S. liii) 93. Zitiert nach: Ch.D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels, S. 344. 71
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Vesal, der sich auf einer Bildebene sowohl mit dem sezierten Leichnam als auch mit einem Teil des Publikums – vor allem bestehend aus kirchlichen und weltlichen Würdenträgern sowie Studenten – befindet, übernimmt dabei offenbar alle Funktionen, welche im Sektionsszenario des Fasciculo di medicina nicht zuletzt durch den Bildaufbau von drei verschiedenen Personen repräsentiert wurden: (1) Er hat die Funktion des Prosektors inne, worauf das Sezierbesteck sowie die anderen anatomischen Werkzeuge hinweisen; (2) er hat die Funktion des Demonstrators inne, da er mit der rechten Hand die geöffnete Bauchhöhle anzeigt; (3) schließlich hat er die Funktion des Professors inne, indem er mit dem gestreckten Zeigefinger der linken Hand offenbar die Aufmerksamkeit des Publikums auf seinen Vortrag lenken will. In dieses Sektionsszenario der Fabrica ist offenkundig auch eine bestimmte Reihen- und damit Zeitfolge der anatomischen Wissensproduktion eingeschrieben, welche sich als methodisch wesentlich für die frühneuzeitliche Anatomie erweisen sollte. Während die Kathederanatomie ein vorgeschriebenes, von dem Professor doziertes Körperwissen überwacht, welches der Demonstrator an dem von dem Prosektor sezierten Leichnam aufzeigt, erweist sich die vesalianische Methode – zumindest in ihrem auf dem Titelblatt der Fabrica artikulierten Selbstverständnis – als eine schrittweise Umkehrung dieses Prinzips. Denn es wird deutlich, daß Vesal hier in Personalunion – Prosektor, Demonstrator, Professor – auftritt und eben zuerst die Sektion des Leichnams unternimmt, wovon die schon beiseite gelegten Bestecke und Werkzeuge unmißverständlich Zeugnis ablegen. Dann folgt die Sicherung des erst mittels der Sektion aufgeworfenen Körperwissens durch das Aufzeigen des im anatomischen Akt sichtbar gemachten Körperbaus sowie letztlich die daraus abgeleitete Unterrichtung des Publikums. Was sich auf diesem Titelblatt paradigmatisch ereignet, ist somit die radikale Infragestellung des scholastischen Deutungsmusters der Kathederanatomie, welche angesichts eines monolithischen Wissenskörpers in der Hierarchie der Autoritäten ihre Legitimation erfahren hat. Insofern spielt sich in der Kathederanatomie zumindest idealiter eine Wissensformation ab, welche von der Narration über die Demonstration bis zur Sektion einen jeweilig personifizierten Autoritätsverlust mit sich bringt. Kontrastiv zum Frontispiz zu Mondinos Anathomia findet auf dem Titelbild der Fabrica also ein »Wechsel der Blickrichtung«94 vom Text zum Körper statt. Dies betrifft allerdings, wie auf dem Titelbild ersichtlich, nicht nur
94. R. Wittern: »Kontinuität und Wandel«, S. 563. 72
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die anatomische Wissensproduktion, sondern auch die Organisation anatomischen Wissens. Zwar ist auch der Blick Vesals, ähnlich wie derjenige des Professors auf dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494, an den Betrachter adressiert. Der entscheidende Unterschied besteht allerdings darin, daß Vesal auf dem Titelbild der Fabrica nicht kanonisiertes anatomisches Wissen reproduziert, sondern es scheinbar allererst produziert. Der strenge Blick des Anatomen, welcher aus dem Bildraum hinausführt und dem Betrachter des Bildes gilt, fordert diesen nämlich scheinbar auf, sich ein eigenes Bild von dem geöffneten Leichnam zu machen. So zeigt das Titelbild der Fabrica, was vor der Publikation lag, mithin auch, wie und warum dieses Buch als Folge von anatomischer Praxis am Seziertisch überhaupt legitimiert werden kann. Genau andersherum zeigt das Frontispiz zu Mondinos Anathomia, was nach der Lektüre des Textes mit diesem Text zu tun sein wird, mithin auch, wie und warum anatomische Praxis am Seziertisch nur als Folge dieses Buchs überhaupt legitimiert werden kann. Somit ereignet sich auf dem Titelbild der Fabrica zweierlei: zum einen die Sicherung des menschlichen Körpers als ausgewiesenem Tatort der Anatomie; zum anderen eine programmatische Distanzierung von der Kathederanatomie galenistischer Prägung, verbunden mit der methodischen Prämisse, die anatomische Wissensformation über die Autopsia allererst aus der anatomischen Praxis abzuleiten. Dadurch wird der Anatom als Augenzeuge des von ihm aufgeworfenen Körperwissens bestätigt. Doch es ereignet sich nicht nur etwas auf dem Titelbild, sondern auch mit ihm. Denn mit dem Titelbild ist der in der Fabrica ausgetragene Kampf um den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation eröffnet. Deshalb wird etwa bei Sawday von einer »extravagant idealization of anatomy«95 gesprochen, und bei Carlino wird das Titelbild als »manifesto of the concept of anatomy and the practice of dissection«96 verhandelt. Laqueur faßt zusammen: »Kurz, dies ist ein Bild, in dem es in selbstbewußt theatralischer Manier und öffentlich um die majestätische Macht der Wissenschaft geht, die sich den Wahrheiten des Körpers stellt, sie beherrscht und darstellt.«97
95. J. Sawday: The Body Emblazoned, S. 66. 96. A. Carlino: Books of the Body, S. 43. 97. Th. Laqueur: Auf den Leib geschrieben, S. 90. 73
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Das Titelbild der Fabrica erlaubt es schließlich auch, das »definitive establishment of a visual anatomical culture«98 genealogisch zu erfassen, gerade weil es die spezifischen Elemente der Entstehung einer visuellen Kultur der Anatomie in der frühen Neuzeit zumindest programmatisch offenbart. Das heißt freilich nicht, daß das Titelbild der Fabrica dokumentarisch als Beweisstück für eine seiner Programmatik entsprechende anatomische Praxis Vesals aufgefaßt werden muß. Vielmehr erscheint es als Monument frühneuzeitlicher Anatomie, indem es deren Programmatik druckgraphisch auf der Buchseite des Atlanten verkörpert. Zu den besagten, der visuellen Kultur der Anatomie in der frühen Neuzeit spezifischen Elementen, welche im folgenden untersucht werden sollen, gehören: der sich aus der autoptischen Wissensformation ableitende anatomische Expertenblick; das anatomische Theater als ein der Anatomie eigener und von dieser institutionalisierter Veranstaltungsort; die sich wohl nicht zuletzt aus diesem ergebende Notwendigkeit der bildmedialen Organisation anatomischen Wissens; schließlich der anatomische Atlas als die seit der frühen Neuzeit privilegierte Publikationsform der Anatomie.
2.3 Autopsia und Autopsie: die Ausformung eines anatomischen Expertenblicks »Die instrumentell geschulte Sinnlichkeit der modernen westlichen Medizin ist die der geöffneten Leichen, die der Anatomie.«99 »Das Sehen ist […] nicht natürlich oder spontan, sondern kulturell und historisch variabel«100, stellt Konersmann fest und bringt damit noch einmal den kleinsten gemeinsamen Nenner mittlerweile unzähliger Arbeiten zu diesem Thema auf den Punkt. Wenn dieser eingeforderten kulturellen und historischen Variabilität des Sehens im folgenden Rechnung getragen werden soll, dann gilt es dabei insbesondere, den Untersuchungsgegenstand kulturell und den Untersuchungszeitraum historisch zu konturieren. Zwar ist das ganze Arsenal im 16. Jahrhundert möglicher anatomischer Blicke sicherlich nicht auf den Nenner des einen anatomischen Blicks zu
98. A. Carlino: Paper Bodies, S. 13. 99. P. Moeschl: »Die Bilder des Körpers«, S. 292. 100. Ralf Konersmann: »Die Augen der Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens«, in: ders. (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 9-47, hier S. 40. 74
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reduzieren. Doch lassen sich zumindest bezüglich der sich auf die Autopsia verpflichtenden und über diese selbstverständigenden Anatomie einige programmatische Koordinaten ausmachen, welche ihrerseits ganz unterschiedlichen Manifestationen unterliegen: textuell in den Vorworten anatomisch motivierter Publikationen; architektural in der Etablierung zunächst provisorischer, schließlich permanenter anatomischer Theater; und nicht zuletzt eben auch bildmedial, sei es auf den Titelbildern oder den Bildtafeln anatomischer Atlanten. So geht es hier nicht um den immer einen Blick der Anatomie – nämlich etwa denjenigen, welcher sich im 16. Jahrhundert ausformt – oder den Blick der immer einen Anatomie – nämlich etwa derjenigen, welche sich seit dem 16. Jahrhundert programmatisch auf die Autopsia beruft –, sondern es geht um einen Blick einer Anatomie. Dabei dürften die mannigfaltigen Manifestationen möglicher anatomischer Blicke gerade in ihrer Programmatik archäologisch zu erfassen sein, und zwar ausdrücklich sowohl jenseits des Anspruchs einer Rekonstruktion dessen, was der anatomische Blick des 16. Jahrhunderts gewesen sei, als auch jenseits des Anspruchs einer Dokumentation dessen, wie Anatomen im 16. Jahrhundert tatsächlich geblickt haben mögen. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach der Funktion, welche Autopsia, anatomisches Theater und anatomischer Atlas als Elemente einer sich ausformenden visuellen Kultur der Anatomie für den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation im 16. Jahrhundert haben und wie diese Funktion auf diskursiver, architekturaler und bildmedialer Ebene programmatisch entfaltet wird. Von daher soll hier zunächst der Frage nachgegangen werden, welche programmatische Funktion der Autopsia im Kampf um den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation beigemessen worden ist und welche spezifischen Funktionshorizonte des Blicks sich daraus für die und in der Anatomie des 16. Jahrhunderts ergeben haben. Wenn das Titelbild der Fabrica von 1543 mit einiger Berechtigung als frühneuzeitliches Manifest der visuellen Kultur der Anatomie angesehen werden kann, dann nicht zuletzt deshalb, weil sich auf ihm ein Sektionsszenario abspielt, welches sich deutlich von seinerzeit geläufigen Darstellungen unterscheidet. Wenngleich der bereits präparierte weibliche Leichnam auf dem Seziertisch im Mittelpunkt dieses Bildes steht, so ist er doch immer auch das Resultat des an ihm operierenden professionellen Anatomen, welcher in Personalunion seziert, demonstriert und doziert und damit nicht zuletzt die Aufmerksamkeit des in dem provisorischen anatomischen Theater versammelten Publikums zu gewinnen sucht. Während Vesal seinen Blick an den Betrachter des Bildes adressiert, zieht er selbst 75
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Blicke des Publikums auf sich und führt sie mit demonstrativer Geste zu dem präparierten weiblichen Leichnam weiter. Allerdings kann nicht davon die Rede sein, daß das gesamte Publikum dieser Geste Vesals zu folgen bereit oder in der Lage wäre. Denn viele Zuschauer wenden ihre Blicke ab, lassen sie schweifen, werfen sie in ein Buch, treten in Blickkontakt untereinander oder ahmen Vesals demonstrative Geste aus einiger Entfernung nach, indem sie ihre Zeigefinger auf die geöffnete Bauchhöhle richten und dabei mit ihrem Nachbarn diskutieren. Von den Zuschauern, welche dem von Vesal eröffneten Schauspiel mit ihren Blicken folgen, befinden sich einige in freudiger Erregung, einige geben ein Stoßgebet ab, andere zeigen offenkundig Unruhe. Und wieder andere brechen in blankes Entsetzen aus, wie etwa der unbekleidete junge Mann, welcher sich am linken Bildrand um eine Säule klammert, als befürchte er, als potenzielles Präparat in den Blick der Menge geraten zu können. Dieser Aufregung des Publikums stehen die eigentümliche Ruhe, der unerschütterliche Ernst und die sachkundige Besonnenheit Vesals gegenüber, welcher offenbar schon gesehen und das scheinbar unmittelbar Gesehene jenem anatomischen Körperwissen anverwandelt hat, welches er nun demonstriert und doziert. Während die Zuschauer also einen erregten Massenkörper bilden und sich der präparierte weibliche Leichnam bereits auf dem Weg von einem zergliederten Körper auf dem Seziertisch zu einem Wissenskörper im anatomischen Atlanten befindet, verkörpert Vesal als Autor und Anatom unhintergehbar jenes Wissen, welches er aufgeworfen hat und von welchem er nun berichtet. Dieses von Vesal verkörperte Wissen ist unantastbar, da es sich nicht von der aufgeregten Zuschauerschaft aus der Ruhe bringen läßt und Vesal seinen Blick bereits in die Zukunft richtet, nämlich auf den Leser des anatomischen Atlanten. Insofern liegt es nahe, das auf diesem Titelbild der Fabrica von 1543 programmatisch entfaltete und auf den in Personalunion operierenden Anatomen konzentrierte Konzept der Autopsia auch als Plädoyer für eine Professionalisierung des anatomischen Blicks aufzufassen, mithin also als Plädoyer für einen Expertenblick, welcher sieht, worauf es ankommt, und welcher zeigt, was er gesehen hat. Dabei ist die etwa von Bergmann aufgestellte These, derzufolge die »Entstehung des medizinischen Blicks in den Körper […] identisch mit der Einführung der Leichensektion«101 sei, nicht einmal
101. Anna Bergmann: »Töten, Opfern, Zergliedern und Reinigen in der Entstehungsgeschichte des modernen Körpermodells«, in: Metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis, Nr. 6, II (1997), S. 45-64, hier S. 54. 76
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ausgemachte Sache. Sie ist keine ausgemachte Sache einerseits, weil die Rede von dem medizinischen Blick sowohl aus historischer als auch aus systematischer Perspektive eigentümlich unbestimmt bleibt. Und sie ist keine ausgemachte Sache andererseits, weil nicht ausreichend verdeutlicht wird, in welchem Funktionszusammenhang dasjenige, was als ›der medizinische Blick‹ bezeichnet wird, mit einer etwaigen ›Einführung der Leichensektion‹ stehen soll. Denn wie bereits aufgezeigt wurde, sind Leichensektionen, also Sektionen des menschlichen Körpers, bereits seit dem 14. Jahrhundert verbürgt, und zwar zunächst bei Mondino selbst und dann in der sich wesentlich auf diesen berufenden sogenannten Kathederanatomie. In der Programmatik der Kathederanatomie aber wird, auch dies wurde bereits an dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494 diskutiert, der Blick des Anatomen auf den präparierten Körper nicht als Instrument anatomischer Wissensproduktion verhandelt, noch ist es der Anatom selbst, welcher die Präparation des Körpers vornimmt. Diejenigen, welche in der bis weit ins 16. Jahrhundert hinein praktizierten Kathederanatomie privilegierten Einblick in den menschlichen Körper bekommen, nämlich vor allem die Demonstratoren und Prosektoren, sind in der Regel nicht akademisch ausgebildete Wundärzte, haben ihrerseits ausschließlich praktische Aufgaben zu bewältigen und sind an keinerlei medizinisch-anatomischer Theoriebildung beteiligt. So kann auch hier nicht von einem ›medizinischen Blick‹ im engeren Sinne die Rede sein. Mit dem Umstand, daß der Blick des Anatomen von dem Skalpell des Prosektors und dem Zeigestab des Demonstrators getrennt ist, geht, so wenigstens Vesals Diagnose im Vorwort der Fabrica, der Verlust scheinbar unmittelbarer Produktion anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers auf Seiten der Anatomen einher.102 Das heißt, wie Fleck betont hat, allerdings nicht, »daß der mittelalterliche Gelehrte überhaupt kein positives Verhältnis zur Beobachtung gehabt hätte.«103 Vielmehr fungiert der Blick in der
102. Vgl. dazu noch einmal: »when the whole practice of cutting was handed over to barbers, not only did the physicians lose firsthand knowledge of the viscera but also the whole art of dissecting fell forthwith into blivion, simply because the physicians would not undertake to perform it, while they to whom the art of surgery was entrusted were too unlettered to understand the writings of the professors of anatomy.« (A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body, S. li) 103. Ludwik Fleck: »Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen«, in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main, S. 59-83, hier S. 77. 77
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Kathederanatomie auf eine gänzlich andere Art und Weise, als er es im Namen einer programmatisch entfalteten Autopsia seit der Mitte des 16. Jahrhunderts idealiter tut. Denn in der Kathederanatomie dient der Blick des Anatomen nicht einmal idealiter einer der Sachautorität des menschlichen Körpers verpflichteten anatomischen Wissensproduktion und -organisation, sondern ihm kommt die Aufgabe zu, tradiertes und kanonisiertes Wissen der Personalautoritäten zu kontrollieren und in der Kontrolle zu stabilisieren. Dazu führt Fleck aus: »Vor allem glaubte man Galen nicht deshalb, weil man keine Beobachtungen machte, sondern man machte deshalb keine Beobachtungen in der heutigen Bedeutung des Wortes, weil es dafür kein Erfordernis gab.«104 Insofern ist die von Bergmann aufgestellte These, der medizinische Blick forme sich aus mit der Einführung der Leichensektion, zumindest einigermaßen mißverständlich. Entweder nämlich ist dieser hypostasierte eine medizinische Blick kurzzuschließen mit diesem gleichfalls hypostasierten einen Modus der Leichensektion. Dies liefe unmittelbar darauf hinaus, die Kathederanatomie als Präfiguration eines wie auch immer gearteten Blicks einer wie auch immer gearteten modernen Medizin ausweisen zu müssen. Oder aber, und dies dürfte wahrscheinlicher sein, die von Bergmann aufgestellte These ist unhaltbar, und zwar sowohl aus historischer als auch aus systematischer Perspektive. Vielmehr ergibt sich dasjenige, was als für die Anatomie des 16. Jahrhunderts spezifischer, spezifisch anatomischer Blick konturiert werden soll, aus dem bereits angesprochenen, von Wittern diagnostizierten »Wechsel der Blickrichtung«105 von den Schriften antiker Personalautoritäten zu dem menschlichen Körper als verbürgter Sachautorität. Daraus erwächst erst etwa zweihundert Jahre nach dem Aufkommen der ersten, für das frühe 14. Jahrhundert veranschlagten Leichensektionen die Pflicht des professionellen Anatomen, mittels einer programmatisch gewendeten Autopsia selbst hinzusehen, also den Körper als theoretischen und praktischen Fluchtpunkt seines eigenen, von ihm selbst autorisierten anatomischen Projektes visuell zu fixieren. Die Anatomie des 16. Jahrhunderts operiert demnach ihrem Selbstverständnis gemäß nicht mehr im Namen eines von Galen geliehenen und dadurch genehmigten Blicks, sondern sie operiert zunächst mit einem sich selbst verpflichteten, selbstverständlichen Blick, welcher anatomisches Körperwissen allererst produziert. Während etwa Doby/Alker diesbe-
104. Ebd., S. 76. 105. R. Wittern: »Kontinuität und Wandel«, S. 563. 78
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züglich einigermaßen enthusiastisch von einem »Eye-Opener«106 sprechen, stellt Laqueur – ebenfalls einigermaßen enthusiastisch, aber aus gänzlich anderen Beweggründen – fest: »Die Rhetorik der Renaissance-Anatomen ist von einem militanten Empirismus durchsetzt.«107 Nun hat sich, dies wurde angesprochen, die Kathederanatomie nicht grundsätzlich einem Blick auf den menschlichen Körper verweigert. Und sie hat auch gewiß nicht nichts gesehen. Ebensowenig aber, wie es angebracht ist, bezüglich einer sich im 16. Jahrhundert programmatisch auf die Autopsia berufenden Anatomie von einem ›Eye-Opener‹ zu sprechen, ist es angebracht, dieser Anatomie einen militanten Empirismus zu unterstellen. Auch jenseits der wissenschaftshistorischen Problematik, ob für das 16. Jahrhundert von ›Empirismus‹ überhaupt anders als anachronistisch oder etwa im Namen einer Aktualität des Historischen gesprochen werden kann, ist Laqueurs Kritik zu bequem. Denn sie verkennt offenkundig die Tatsache, daß die Anatomie im 16. Jahrhundert nicht einfach auf eine Tradition der autoptisch motivierten anatomischen Wissensformation zurückgreifen kann, sondern daß diese allererst zu installieren ist – und zwar gegen den institutionalisierten Apparat einer durch antike Personalautoritäten legitimierten anatomischen Wissensformation. Von daher verwundert es auch nicht, daß dieser Kampf um den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation etwa auf dem Titelbild der Fabrica von 1543 programmatisch eröffnet wird. Dabei stellt die Fabrica Vesals weder das erste noch das letzte Plädoyer für eine autoptisch motivierte anatomische Wissensformation im 16. Jahrhundert dar. So hält etwa Massa in seinem 1536 in Venedig publizierten Liber introductorius Anatomiae der Kathederanatomie entgegen: »Yet nonetheless they have tried to write about those things which they have neither seen with their own eyes nor touched with their hands and have clouded the brightest light of the sun with manuscripts accepted from others, corrupted by age and by the carelessness of printed books.«108 Ebenso betont Canano in seiner um 1541 in Ferrara publizierten
106. T. Doby/G. Alker: Origins and Development, S. 33. 107. Th. Laqueur: Auf den Leib geschrieben, S. 82. 108. Niccolò Massa: »Introductory Book of Anatomy«, in: L.R. Lind, Studies in Pre-Vesalian Anatomy, S. 174-253, hier S. 175. 79
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Musculorum humani corporis picturata dissectio, dem womöglich ersten anatomischen Atlanten, den Stellenwert der »personal inspection during dissection.«109 Wenig später, nämlich im Jahre 1546, erscheint Estiennes Dissection, in welcher er sich als Verfechter der »fidélité de l’œil«110 ausweist und gleich mehrmals eindringlich betont, was der Anatom seiner Einschätzung nach mit dem auf dem Seziertisch präparierten Körper zu tun habe: »parcourir des yeux […] le grand bâtiment de ce corps humain.«111 Es zeigt sich, daß die Augen hier in einem instrumentellen Blick gebündelt werden, mithilfe dessen der zu einem anatomischen Parcours, zu einer Hindernisbahn des Auges gewordene Körper gemeistert werden kann.112 Insofern besteht das sich im 16. Jahrhundert über die Autopsia ausformende Projekt dessen, was heute als makroskopische Anatomie verhandelt wird, wohl grundsätzlich in einer Verschiebung der Sichtbarkeitsgrenzen, mit welchen ein opaker Körper das bloße, unbewaffnete Auge des Anatomen konfrontiert. Dem Blickwechsel von der Schrift als verkörperter Personalautorität zum Körper als verbürgter Sachautorität entspricht in der anatomischen Praxis am Seziertisch gleichzeitig jene Bewegung, mit welcher der Anatom zunächst die Schreibfeder gegen das Sezierbesteck eintauscht.113 Mit dem Skalpell in der Hand und dem Blick auf dem Körper durchtrennt der Anatom jene allererste und bis heute spezi-
109. G.B.Canano: »An Illustrated Dissection of the Muscles«, in: L.R. Lind, Studies in Pre-Vesalian Anatomy, S. 309-316, hier S. 309. 110. Ch. Estienne: Dissection, S. 371. 111. Ebd., S. 2. 112. Diese Metaphorik der Reise durch den Körper findet sich u.a. noch in Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male, welcher als »tour guide« (V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xi) durch den Körper fungieren soll. 113. Zu den Instrumenten der makroskopischen Anatomie vgl. generell Fallers detaillierte Studie. Dort weist er nach: »Die Bezeichnung Scalpellum kommt bei Vesal noch nicht vor.« (A. Faller: Die Entwicklung der makroskopisch-anatomischen Präparierkunst, S. 16) Verschiedene für die Zergliederung des Körpers notwendige Bestecke und Werkzeuge – darunter etwa: zahlreiche Arten von Messern, Schreibstifte, Pipetten, Nadel und Faden, Scheren, Hammer, Röhrchen und Sägen – sind z.B. im 7. Kapitel aus Buch II der Fabrica aufgeführt und dort auch abgebildet. (Vgl. Andreas Vesalius: On the Fabric of the Human Body. A translation of De humani Corporis Fabrica Libri Septem. Book II: The Ligaments and Muscles. By William Frank Richardson. In collaboration with John Burd Carman, San Francisco 1999, S. 148-153) Dieses umfangreiche Sezierbesteck wird im folgenden trotz einer gewissen historischen Unschärfe der Übersichtlichkeit halber unter dem Begriff ›Skalpell‹ zusammengefaßt. 80
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fisch anatomische Sichtbarkeitsgrenze, welche der Körper dem Blick entgegenstellt: die menschliche Haut. Diese gilt es aufzuschneiden, um mit dem Blick in die tieferen Regionen des Körpers eindringen zu können, oder besser noch: diese gilt es demonstrativ abzuziehen und als Trophäe des professionellen Anatomen auszustellen, um die vollzogene Bewältigung und Überschreitung dieser natürlichen Sichtbarkeitsgrenze und die damit verbundene Einsicht als unwiderruflich offenbaren zu können. Ausgehend von dem berühmten, sich selbst häutenden und seine Haut dann über die Schultern werfenden Muskelmann aus Valverdes Historia de la composición del cuerpo humano von 1556 wird die abgezogene Haut zu einem zentralen Bildtopos nicht nur in zahlreichen frühneuzeitlichen anatomischen Atlanten, sondern auch auf deren Titelbildern, etwa demjenigen zu Bartholins Anatomia Reformata von 1651.114 Die Haut, immerhin das größte Organ des menschlichen Körpers, spielt als eigentlicher Untersuchungsgegenstand in der frühneuzeitlichen Anatomie kaum eine Rolle.115 Dennoch hat sie eine zentrale, quasi wissenschaftspolitische Funktion inne, denn sie wird nicht einfach nur durchtrennt oder abgezogen, sondern auch verbildlicht und beschriftet. Damit versinnbildlicht sie als unwiderruflich gelüftete Sichtbarkeitsgrenze den Siegeszug anatomischen Wissens über den menschlichen Körper. Von daher erscheint auch bloße Oberflächenanatomie mit dem Ziel der Beschreibung des äußeren Baus des menschlichen Körpers schon im 16. Jahrhundert bald nicht mehr als eigentliche Anatomie. So notiert etwa der Medizinstudent Heseler in seinem Bericht über die 1540 in Bologna von Matteo Corti und Vesal abgehaltene und durch Sektionen menschlicher Körper exemplifizierte Reihe von Vorlesungen zur Anatomie: »The explanation of the external parts is improperly
114. Vgl. dazu insbesondere: Robert Herrlinger: »Die geschundene Haut im barocken anatomischen Theater«, in: Heinz Goerke/Heinz Müller-Dietz (Hg.), Verhandlungen des XX. internationalen Kongresses für Geschichte der Medizin, Hildesheim 1968, S. 474-496. Zur Ikonographie der abgezogenen Haut vor dem Hintergrund von Michelangelos Fresko des gehäuteten Bartholomäus aus der Sixtinischen Kapelle sowie zeitgenössischen Darstellungen des Mythos des Marsyas vgl. insbesondere: J. Sawday: The Body Emblazoned, S. 184ff; Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 111ff. 115. So bemerkt Benthien: »Die Geschichte der Anatomie läßt sich […] auch als eine umgekehrte Archäologie, eine paradoxe Schichtenabtragung lesen, in der die tiefsten Lagen zuerst erobert wurden und der Blick erst nach und nach wieder an die Oberfläche zurückdringt, um dort die zunächst unbeachtet beiseite geklappte Materie durch eine feinere Analyse als signifikant zu entdecken.« (C. Benthien: Haut, S. 65) 81
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called anatomy, since only the explanation of the internal parts of the body may properly be called anatomy.«116 Jene »fidélité de l’œil«117, welcher sich Estienne in seiner Dissection aus dem Jahre 1546 verschreibt, bleibt also notwendig rückgebunden an die der Anatomie schon etymologisch eingeschriebene sezierende Geste.118 Gleiches läßt sich für das Verhältnis von Autopsia und Autopsie feststellen.119 Hier wird eine Sichtweise zum spezifisch anatomisch präfigurierten Moment, welches es ermöglicht, mit dem Skalpell zu präparieren, was man mit dem Blick sieht, und mit dem Blick zu sehen, was man mit dem Skalpell präpariert. In diesem Sinne verwächst der anatomische Blick mit dem Skalpell bzw. das Skalpell mit dem anatomischen Blick, wobei der Blick das Skalpell führt und das Skalpell den Blick ermöglicht. Sowohl die »Macht des Sezierens« als auch die »Autorität des Sehens«120 befinden sich also in einem wechselseitigen Legitimationsverhältnis, da in der etwa von Vesal und Estienne entfalteten Programmatik anatomischer Wissensformation idealiter weder die Autopsia ohne Sektion noch die Sektion ohne Autopsia vonstatten gehen können. Dies bedingt auch, daß der sich im 16. Jahrhundert der Autopsia verschreibende und selbst sezierende Anatom notwendig näher am Präparat positioniert ist, als es bei der Kathederanatomie der Fall ist. Gerade für die autoptische Wissensformation entsteht ein Paradox, da sie auf der einen Seite zwar dem Gesichtssinn verpflichtet bleibt, auf der anderen Seite aber nicht von dem präparierten Körper weichen kann. So geht die Autopsia in der Anatomie des 16. Jahrhunderts auch nicht bedingungslos in jenem Schema auf, welches etwa Flach dem Sehen zugrundelegt: »Sehen stellt ›Fernnähe‹ her, das heißt, der Gesichtssinn kann die Distanz zwischen
116. Baldasar Heseler: Andreas Vesalius’ First Public Anatomy at Bologna 1540. An eyewitness report. Edited, with an introduction, translation into English and notes by Ruben Eriksson, Uppsala, Stockholm 1959, S. 47. 117. Ch. Estienne: Dissection, S. 371. 118. So leitet sich der Begriff ›Anatomie‹ ab aus gr. anatémnein mit der Wortbedeutung ›aufschneiden, zergliedern‹. Vgl. dazu: W. Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch, S. 39. 119. So leitet sich dt. ›Autopsie‹ von dem gr. Etymon autopsía ab, welches ›Sehen mit eigenen Augen, Augenschein‹ bedeutet und zunächst also nicht in einem anatomischen, pathologischen oder forensischen Zusammenhang steht. Vgl. dazu: ebd., S. 83. 120. Th. Laqueur: Auf den Leib geschrieben, S. 95. 82
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den zu erblickenden Dingen überbrücken und gleichzeitig in der Wahrnehmung erhalten; darin besteht die Fähigkeit des Gesichtssinns zur Abstraktion.«121 Auch die aus diesem Umstand oftmals abgeleitete Notwendigkeit einer »Trennung von Berührung und Blick«122 erweist sich bei genauerem Hinsehen zumindest für das Programm der autoptischen Wissensformation in der Anatomie des 16. Jahrhunderts als zweifelhaft. Denn es ist zu bedenken, daß kaum ein Anatom zuvor dem präparierten Körper so nahe gewesen sein dürfte, wie Vesal es demjenigen ist, welcher auf dem Titelbild der Fabrica entfaltet ist. Vesal ist – dies die Programmatik des Titelbildes – mit seiner das Skalpell führenden Hand in den Körper eingedrungen, und er kommt mit seinem Zeigefinger immer wieder zu dem geöffneten Körper zurück, um an ihm anatomisches Wissen zu demonstrieren. Vesal ist demnach nicht nur näher an seinem Präparat als das gesamte Publikum, er kann von seinem Präparat allein schon deshalb gar nicht abweichen, weil die größtmögliche legitime Distanz des professionellen Anatomen zu dem Objekt jener von seinem Arm bestimmte Radius ist, welchen er mit dem Skalpell oder mit dem Zeigefinger beschreibt. Es entsteht der Eindruck, Vesal sei von seinem Präparat gefesselt und könne von diesem nicht abrücken. Und tatsächlich verhält es sich ja auch so, daß Vesal seine wissenschaftliche Autorität als professioneller Anatom unmittelbar mit der autoptischen Wissensformation am Präparat kurzschließt. Hier offenbart sich auch noch einmal der Argumentationshorizont des in Personalunion operierenden professionellen Anatomen, welcher seziert, demonstriert und doziert. Denn gerade für den Kampf um den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation im 16. Jahrhundert gilt, daß »Sichtbarkeit […] genehmigter Blick«123 ist. So müssen etwa Vesal und Estienne im Namen der Autopsia einen Blick wagen, welcher nicht mit dem in der Kathederanatomie eingeübten Blick deckungsgleich ist und daher ein anderes Körperwissen bedingt. Es geht für sie also nicht zuletzt darum, sich einen Blick zu genehmigen, welcher nicht genehmigt ist. Gerade deshalb aber zeugen etwa Vesal und Estienne kraft ihres mit dem Skalpell bewaffneten Blicks am Präparat nicht zuletzt von den Grenzen des galenischen und galenistischen Körperwissens. Schließlich
121. Sabine Flach: »Das Auge. Motiv und Selbstthematisierung des Sehens in der Kunst der Moderne«, in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 49-65, hier S. 51. 122. Chr. Conrad/M. Kessel: »Blickwechsel«, S. 22. 123. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 27. 83
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präparieren sie Sichtbarkeitsgrenzen, an welchen Programme der Sichtbarmachung vor den Augen des Publikums mobilisiert und realisiert werden. Es gilt, dasjenige blickhaft aus dem Körper zu räumen, was Estienne als »tout ce que dedans y est caché«124 ausweist. Dabei wird nicht nur ersichtlich, was der Körper verbirgt, sondern es wird auch ersichtlich, was das galenische bzw. galenistische Körperwissen übersieht. Wenn dies dem Publikum sichtbar gemacht werden kann, dann erscheint der Blick, den sich etwa Vesal und Estienne erlauben, rückblickend als ein durch die scheinbar offensichtliche Verschiebung von Sichtbarkeitsgrenzen genehmigter. Diese Markierung und Verschiebung von Sichtbarkeitsgrenzen verdeutlicht aber auch, daß es ein im Namen der Autopsia genehmigter Blick durchaus auf etwas absieht. Den Umstand, daß ein Wissenschaftler, der im Namen der Autopsia einen Untersuchungsgegenstand fokussiert, nicht einfach und unmittelbar selber sieht, sondern immer notwendig historisch, kulturell und medial implementierten Praktiken der Sichtbarmachung unterliegt, hat Fleck bereits 1935 in seinem Aufsatz ›Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen‹ thematisiert. Dort führt er aus: »Unmöglich ist ein wirklich isolierter Forscher, unmöglich ist eine ahistorische Entdeckung, unmöglich ist eine stillose Beobachtung.«125 Und tatsächlich manifestiert sich der sich auf eine autoptische Wissensformation berufende, mit dem Skalpell bewaffnete Blick in der Anatomie des 16. Jahrhunderts nicht als ein solcher, welcher tradiertes und kanonisiertes anatomisches Körperwissen durchstreicht, indem er es übersieht. Vielmehr richtet er sich sowohl auf den präparierten Körper am Seziertisch als auch auf den Wissenskörper in den Schriften antiker Personalautoritäten. So findet der anatomische Blick im Namen der Autopsia nicht als »Registratur von Daten«126 an einem Nullpunkt anatomischen Wissens statt, wie es etwa Vesal auf dem Autorenporträt der Fabrica nahezulegen scheint.127 Die programmatisch entfaltete Autopsia genehmigt dem Anatomen zwar einen eigenen Blick auf den präparierten Körper und erlaubt es ihm, anders als in der Kathederana-
124. Ch. Estienne: Dissection, S. 2. 125. L. Fleck: »Über die wissenschaftliche Beobachtung«, S. 81. 126. W. Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper, S. 59. 127. Zu der Programmatik des Autorenporträts merkt Pozsgai an: »Hier wird Text nicht reproduziert, sondern produziert […]. Ein leeres Blatt, eine tabula rasa im Wortsinn, hat die Stelle des Lehrbuches eingenommen und den Kanon ausgelöscht, um Platz für einen neuen, auf Autopsie begründeten Text zu schaffen.« (M. Pozsgai: »Unmittelbare Vermittlung«, S. 267) 84
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tomie zu sehen. Doch ist dieser Blick keiner, welcher sich selbst entspringt, um schlußendlich wieder zu sich selbst zu finden und bei sich selbst zu bleiben. Der auf der autoptischen Wissensformation beruhende Blick in der Anatomie des 16. Jahrhunderts räumt das tradierte und kanonisierte Körperwissen also nicht komplett ab, um schrittweise einen neuen Wissenskörper aufzubauen, sondern er faßt den galenischen bzw. galenistischen Wissenskörper selbst als ein Präparat auf, an welchem er operiert und an dessen Grenzen er sich manifestiert. Dieser der Autopsia verpflichtete Blick wird etwa auf dem Titelbild der Fabrica als ein professioneller Blick, als ein anatomischer Expertenblick inszeniert. Allerdings nicht nur deshalb, weil er gegen den institutionalisierten Blick der Kathederanatomie antritt. Während das Publikum sichtlich erregt ist angesichts dessen, was sich auf dem Seziertisch als Präparat ereignet, bleibt Vesal gänzlich unberührt von der um ihn herum herrschenden Aufregung. Er muß seinen Blick nicht abwenden, da er von dem von ihm selbst eröffneten Spektakel nicht betroffen ist.128 Zumindest nämlich liegen neben dem Titelbild der Fabrica zahlreiche Passagen aus anatomisch motivierten Schriften des 16. Jahrhunderts vor, welche die Sektion eines menschlichen Körpers als keineswegs selbstverständlich und durchaus ekelerregend im heutigen Sinne ausweisen. So heißt es etwa bei Leonardo: »Und wenn du auch diesen Dingen zugeneigt bist, wird dich vielleicht der Brechreiz davon abhalten; und wenn der dich nicht abhält, dann vielleicht die Angst, zur Nachtzeit in Gesellschaft der zerstückelten, enthäuteten und grausig anzusehenden Toten zu verweilen.«129 In Benedettis Anatomice von 1502 ist von »the distasteful duty of dissection«130 die Rede. Und Berengario erklärt in der 1535 erschie-
128. Vgl. dazu Flecks Überlegungen: »Diese spezifische Blindheit – mehr oder weniger beabsichtigt – ermöglicht erst die medizinische Beobachtung, inden sie verhindert, daß ein Ekelgefühl entsteht.« (L. Fleck: »Über die wissenschaftliche Beobachtung«, S. 62) Bei Welsch heißt es: »Man anästhesiert, um ästhetische Pein zu ersparen.« (Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 11) Vgl. insbesondere zur Anatomie weiterhin: W. Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper; P. Moeschl: »Die Bilder des Körpers«. 129. Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von André Chastel. Aus dem Italienischen und Französischen übertragen von Marianne Schneider, München 1990, S. 284. 130. A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 81. 85
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nenen Ausgabe der Isagoge breves: »[…] in my opinion, the dissection and handling of the members are vile and repulsive to many.«131 Diese Aussagen von Anatomen müssen nicht notwendig eine repräsentative Körperwahrnehmung des 16. Jahrhunderts dokumentieren, da sie auch als quasi wissenschaftspolitische Geste betrachtet werden können, mittels derer die eigene Arbeit als ausgezeichnete hervorgehoben und verkauft werden soll. In jedem Fall aber wird deutlich, daß auch hier jenes Plädoyer für die Professionalisierung eines anatomischen Blicks im Namen der Autopsia zur Sprache kommt, welches auf dem Titelbild der Fabrica ins Bild gerät. Mithin soll der Blick in der Anatomie durch den in Personalunion operierenden Anatomen professionalisiert und als spezifisch anatomischer diszipliniert werden. So findet eine Monopolisierung von und Privilegierung zu anatomischem Wissen im Namen der Autopsia statt, welche im standardisierten anatomischen Expertenblick dazu führt, Blicke von professionellen Anatomen vergleichbar und damit austauschbar zu machen. Dasjenige, was Turner in Anlehnung an Foucaults Geburt der Klinik für den klinischen Blick konstatiert, dürfte, wenngleich unter anderen wissenschaftshistorischen und wissenschaftskulturellen Vorzeichen, auch für die Anatomie des 16. Jahrhunderts gelten: »The clinical gaze enabled medical men to assume considerable power in defining reality.«132 Dies erscheint gerade deshalb als unabdingbar, weil der Blick nun idealiter ein konstitutives Moment anatomischer Wissensformation darstellt. Die dem Blick in der Programmatik der autoptischen Wissensformation eigene Autonomie ist aber nicht nur eine zugebilligte, sondern auch eine eingeforderte. Deswegen gilt es, die Autonomie des Blicks in der autoptischen Wissensformation zu kontrollieren und zu disziplinieren, wodurch sich gleichsam ein Automatismus des Blicks ergibt. Die Autonomie des anatomischen Blicks besagt nun also gerade nicht, daß ein jeder – sei es ein professioneller Anatom, sei es ein Chirurg, sei es ein Laie – im Namen der Autopsia ganz unbedingt und ganz unvermittelt auf den präparierten Körper blicken würde. Dies zeigt etwa auch die Tatsache, daß die Zuschauer auf dem Titelbild der Fabrica von Vesal durch demonstrative Gesten und eine anatomische Lektion allererst darüber unterrichtet werden müssen, was sie sehen können, wenn sie unterrichtet sind. So werden anatomische Blicke geschult, eingestellt und
131. J.B. da Carpi: A Short Introduction to Anatomy, S. 35. 132. Bryan S. Turner: Medical power and social knowledge, London u.a. 1987, S. 11. 86
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vollzogen. Die im Namen der Autopsia proklamierte Autonomie des Blicks auf das Präparat beinhaltet auf der anderen Seite also gleichsam eine Automatisierung und Institutionalisierung des Blicks. Denn die Autopsia fungiert nicht nur als Projektil innerhalb der Anatomie, welches dazu dient, sich einen anderen Blick als denjenigen der Kathederanatomie zu genehmigen, sondern sie fungiert auch als wesentliches Moment der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie, welche sich ausdifferenziert, spezialisiert und stabilisiert. Dabei stößt auch der Expertenblick des professionellen Anatomen auf Sichtbarkeitsgrenzen, doch manifestieren sich diese anders und an anderen Orten als diejenigen, mit denen sich der Laienblick konfrontiert sieht. So werden schon Estienne makroskopisch nicht zu überwindende Sichtbarkeitsgrenzen aufgezeigt: »ne voudrions nier toutefois que l’œil lequel en plusieurs cas est estimé juge très sûr & certain/ne peut être déçu ou abusé quelquefois/mêmement en choses qui sont trop petites à voir.«133 Diese Feststellung ist nicht allein deshalb bemerkenswert, weil sie makroskopische Sichtbarkeitsgrenzen einer sich programmatisch auf die Autopsia berufenden Anatomie statuiert, sondern vielmehr noch aus dem Grund, daß sie voraussetzt, etwas liege vor, was nicht sichtbar gemacht werden könne und demnach auch nicht zu sehen sei. Denn eine autoptisch motivierte Wissensformation, welche ihrem Selbstverständnis nach je an einem Nullpunkt anatomischen Wissens ansetzt und sich von diesem aus ihrer im Bereich des Möglichen liegenden Vollendung annähert, dürfte idealiter nicht dazu in der Lage sein, eine Aussage zu machen über körperliche Sachverhalte, welche nicht sichtbar sind, der Sichtbarkeit aber anheimgegeben werden sollen. Von daher liegt diese eigentlich unmögliche Aussage Estiennes nicht in einer etwaigen Vorahnung jener mikroskopischen Experimente begründet, welche etwa Leeuwenhoek, Malpighi und Hooke im folgenden Jahrhundert durchführen sollten. Weniger als ein Projekt für die Zukunft nämlich formuliert Estienne hier eine Hypothek der Vergangenheit, welche auch auf Berengarios Commentaria, Vesals Fabrica oder Colombos De re anatomica lastet. Diese Hypothek auf der autoptischen Wissensformation der Anatomie des 16. Jahrhunderts besteht etwa darin, daß Galen in seinen anatomischen Schriften nicht von einer undurchdringlichen Herzscheidewand und damit von einem Blutkreislauf ausgegangen ist, sondern daß er Poren in dieser Herzscheidewand
133. Ch. Estienne: Dissection, S. 371. 87
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ausgemacht hat, durch welche das Blut im Herzen von der rechten in die linke Kammer ströme. Diesbezüglich bermerkt etwa Vesal in Buch VI, Kapitel XI der Fabrica: »Wir müssen die Schöpfung des Allmächtigen bewundern, denn es ist ihm offensichtlich gelungen, den Durchtritt des Blutes von der rechten zur linken Herzkammer durch Poren zu bewerkstelligen, die so winzig sind, daß das menschliche Auge sie nicht mehr zu erkennen vermag.«134 Während Harvey in seiner 1628 erschienenen Publikation De motu cordis den Blutkreislauf nachweist, bleiben auch jene Anatomen des 16. Jahrhunderts, welche sich programmatisch auf die Autopsia berufen, diesbezüglich durchaus den Substraten des in Schriften verkörperten galenischen Körperwissens verhaftet.135 Mehr noch formulieren sie, ausgehend von den Schriften Galens, im Namen der autoptischen Wissensformation quasi makroskopische Sichtbarkeitsgrenzen für solche körperlichen Sachverhalte, welche sich später notwendig auch der mikroskopischen Sichtbarmachung entziehen werden, da sie realiter nicht vorliegen. Nun können die Auflösung dieser und die Verschiebung anderer Sichtbarkeitsgrenzen einerseits als Fortschrittsgeschichte innerhalb der visuellen Kultur der Anatomie aufgefaßt werden. Sie können aber auch andererseits, nämlich in der Fokussierung spezifisch anatomischer Erkenntnisprobleme und epistemologischer Krisen, Auskunft geben über die historische Verfaßtheit anatomischen Wissens. Denn jede Sichtbarkeitsgrenze, mit welcher sich die sich auf die autoptische Wissensformation berufende Anatomie konfrontiert sieht, markiert nicht nur ihren jeweiligen Wissenshorizont und fungiert somit als Voraussetzung der Artikulation eines abgeschlossenen Wissenskörpers, sondern sie läßt das in diesem Wissenskörper artikulierte Wissen gleichzeitig auch als ein Nichtwissen im Sinne eines Noch-Nichtwissens erkennbar werden. Die Markierung von Sichtbarkeitsgrenzen verdeutlicht, daß anatomisches Wissen paradoxerweise als durch die jeweilige Vollendung stets unvollendetes, aber doch immer wieder zu vollendendes aufgefaßt werden kann. Es gibt überschrittene und immer wieder überschreitbare
134. Zitiert nach: W. Eckart: Geschichte der Medizin, S. 143. 135. Zur Geschichte des anatomischen Wissens über den Blutkreislauf vgl. etwa: Thomas Fuchs: Die Maschinisierung des Herzens, Frankfurt/Main 1992; W. Ekkart: Geschichte der Medizin, S. 178ff.; Jonathan Miller: »Die Pumpe. Harvey und der Blutkreislauf«, in: James M. Bradburne/Annette Weber (Hg.), Blut. Kunst – Macht – Politik – Pathologie, München, London, New York 2001, S. 101-109. 88
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Sichtbarkeitsgrenzen, und es gibt Sichtbarkeitsgrenzen, welche noch nicht überschritten worden sind, aber zu überschreiten sein werden. Insofern fungieren für die sich auf die Autopsia berufende Anatomie des 16. Jahrhunderts sowohl die Grenzen des galenischen bzw. galenistischen Wissenskörpers als auch die im Namen der autoptischen Wissensformation aufgeworfenen Sichtbarkeitsgrenzen als Front, an welcher sich in der Folge eine totale visuelle Mobilmachung ereignet. Diese trägt ihrerseits dazu bei, daß anatomisches Wissen sich seitdem in einem unausgesetzten Ausnahmezustand befindet.
2.4 Der Raum, der Blick und das Wissen: zum anatomischen Theater Das Titelbild der Fabrica von 1543 findet sich, wie bereits angeführt, im Jahre 2002 auf einem Veranstaltungsplakat wieder, auf welchem von Hagens, der Entwickler der Plastinate der Körperwelten, zu einer von ihm geleiteten öffentlichen Sektion einlädt. Diese öffentliche Sektion soll am 20. November 2002 stattfinden und wird als die erste ihrer Art seit dem Jahre 1830 angepriesen. Als Veranstaltungsort fungiert dabei das Kesselhaus einer stillgelegten Brauerei in London. Während es für von Hagens Vorhaben, eine öffentliche Sektion im folgenden Jahr auch in München vorzuführen, keine rechtliche Zustimmung seitens des Stadtrats und somit auch keinen Raum gegeben hat, ist für die Veranstaltung in London ein altes Industriegebäude zu einem provisorischen anatomischen Theater umfunktioniert worden. Dies ist bemerkenswert insbesondere deshalb, weil auf dem Veranstaltungsplakat einerseits darauf aufmerksam gemacht wird, von Hagens führe die erste öffentliche Sektion seit 1830 durch, und weil andererseits sowohl das Titelbild der Fabrica, auf welchem ein provisorisches anatomisches Theater zu sehen ist, als auch das permanente anatomische Theater von Padua als jene beispielhaften Veranstaltungsorte abgedruckt werden, in deren Tradition von Hagens sich einschreiben möchte. Tatsächlich aber, dies wird deutlich, liegt eine solche Tradition nicht nur seit 1830 nicht mehr vor, sondern von Hagens Veranstaltung geht angesichts des Umstandes, daß als Veranstaltungsort das Kesselhaus einer alten Brauerei ausgewählt wurde, noch hinter die 1594 stattfindende Etablierung des ersten permanenten anatomischen Theaters in Padua zurück. Gerade weil aber als Veranstaltungsort für die öffentliche Sektion weder ein museales anatomisches Theater noch ein in Gebrauch befindlicher universitärer Hörsaal fungiert, wird auch jenseits der Frage, ob dies eine Notlösung darstellt oder auf Berechnung zurückzuführen ist, deutlich, daß von Hagens Veranstaltung 89
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der Anatomie an diesem Novemberabend des Jahres 2002 in London einen Ort einräumt, welcher nicht ein ihr angestammter ist. Ähnliches gilt, wenngleich unter gänzlich anderen Vorzeichen, für jenes provisorische anatomische Theater auf dem Titelbild der Fabrica von 1543, von welchem Vesal, dies wurde bereits erörtert, behauptet: »At Bologna and Padua we prepared an amphitheatre such as is presented at the beginning of this book.«136 Tatsächlich zeigt das Titelbild ein provisorisches anatomisches Theater in eher bescheidenen Ausmaßen. Die Aussage Vesals, er habe schon in Bologna ein solches provisorisches Theater anfertigen lassen, legt nahe, daß er sich zumindest seit Anfang 1540 auch Gedanken über den geeigneten architekturalen Rahmen, in welchem seine Sektionen stattfinden sollten, gemacht haben muß. Dabei konnte Vesal nicht auf eigens für die Anatomie reservierte Räumlichkeiten zurückgreifen, da die ersten fest installierten, permanenten anatomischen Theater erst ein halbes Jahrhundert später ihrer Bestimmung übergeben werden sollten, darunter zunächst Padua im Jahre 1594 sowie Leiden im Jahre 1597. Richter, welcher 1936 die erste umfassende Architekturgeschichte der Anatomie mit dem Titel Das anatomische Theater vorgelegt hat, stellt bezüglich des anatomischen Theaters von Padua fest: »Padua ist der erste historisch belegte und in seiner Ausführung bekannte Versuch, einen wissenschaftlicher Arbeit dauernd gewidmeten Raum nach seinen betrieblichen Bedürfnissen zu gestalten.«137 Richter unterscheidet bezüglich der ersten fest installierten anatomischen Theater zwischen einem »praktisch-wissenschaftlichen« bzw. einem »repräsentativen Typ«138 und sieht diese je prototypisch verwirklicht in dem 1594 errichteten anatomischen Theater in Padua bzw. demjenigen, welches 1637 in Bologna eröffnet worden ist.139 Diese kategorische Trennung zwischen solchen anatomischen Theatern, welche primär anatomischer Praxis, und solchen, welche primär der Repräsentation anatomischer Praxis verpflichtet sind, dürfte jedoch zumindest der Fragwürdigkeit anheimgegeben werden. Denn angesichts der in der Regel spektakulären öffentlichen Sektionen in anatomischen Theatern scheint vielmehr die Überlegung angebracht, ob anatomische Wissensproduktion und anatomische Wissensreproduktion nicht in der im anatomischen Theater
136. Zitiert nach: Ch.D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels, S. 344. 137. G. Richter: Das anatomische Theater, S. 41. 138. Ebd., S. 36. 139. Zu der Geschichte des anatomischen Theaters von Bologna vgl.: G. Ferrari: »Public anatomy lessons«. 90
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paradigmatisch entfalteten Wissensorganisation wesentlich miteinander verknüpft sind. Das läuft auf die Frage hinaus, ob das anatomische Theater tatsächlich nicht nur Blicke auf den präparierten Körper ermöglicht, sondern gerade dadurch auch immer schon einen Blick auf die Anatomie selbst architektural ausgestaltet. Somit würde das anatomische Theater gleichsam Aspekte der Wissensproduktion, -reproduktion und -organisation präfigurieren. Dafür scheint das Titelbild der Fabrica bereits einige Anhaltspunkte zu bieten, da Vesal den Zuschauern demonstriert, was er präpariert hat, und da er doziert, was er demonstriert hat. Dies verdeutlicht, daß Vesal weiß, was er tut, und daß er sieht, was er weiß. Insofern reproduziert Vesal auf dem Titelbild der Fabrica mittels einer Sektion in einem provisorischen anatomischen Theater anatomisches Wissen, welches er aber – und dies ist wesentlicher Bestandteil seiner sich programmatisch auf die Autopsia berufenden Anatomie – genau auf jene Art und Weise, in der er es nun reproduziert, auch produziert hat. In der Reproduktion anatomischen Wissens im anatomischen Theater gewährt Vesal also nicht zuletzt Einblick in den Modus seiner Wissensproduktion und -organisation. Diese läßt er im Vollzug von Sektion, Demonstration und Lektion am Seziertisch selbst zu einem Präparat werden, an welchem nun aber die Zuschauer eine Autopsie vornehmen sollen. Wenn Vesal in der Fabrica darauf hinweist, er habe seine Sektionen sowohl in Bologna als auch in Padua in einem solchen anatomischen Theater, wie es auf dem Titelbild ersichtlich ist, durchgeführt, dann präpariert er damit nicht nur den Modus seiner Wissensproduktion und -organisation, sondern er konserviert ihn auch, nicht zuletzt programmatisch auf dem Titelbild der Fabrica. Und mehr noch, denn Vesal läßt seinem Hinweis, das Sektionsszenario auf dem Titelbild komme denjenigen Räumlichkeiten, in denen er in Bologna und Padua operiert habe, gleich, eine kurze Anleitung folgen. Dazu führt er in Buch V der Fabrica aus: »Let a theatre and a table, on which the cadaver is to be placed, be made in that way in which you determine the cadaver will be most suitably placed for your purpose, and the theatre most suitable for the reception of spectators.« 140 Schon hier werden einige jener Koordinaten, welche grundlegend für die Funktion des anatomischen Theaters sind, erkennbar: die Positionierung des Untersuchungsgegenstandes auf einem Seziertisch; die Positionierung des professionellen Anatomen an diesem
140. Zitiert nach: Ch.D. O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels, S. 344. 91
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Seziertisch; die Ermöglichung eines freien Blicks seitens der Zuschauer auf das an dem und auf dem Seziertisch gebotene Spektakel. Vesal ist indes nicht der erste Anatom, welcher sich Gedanken über eigens für die Anatomie ausgestaltete Räumlichkeiten gemacht hat und als »Verbreiter gewisser Baugedanken«141 ausgewiesen werden kann. Und er ist auch nicht derjenige, dessen Ausführungen dazu am detailliertesten ausfallen. Bereits in seiner 1502 erschienenen Publikation Anatomice macht sich Benedetti Gedanken über das anatomische Theater und setzt sich damit deutlich ab von denjenigen Räumlichkeiten der Kathederanatomie, wie sie zumindest auf dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494 erscheinen. So fordert Benedetti: »A temporary dissecting theatre must be constructed in an ample, airy place with seats placed in a hollow semicircle such as can be seen at Rome and Verona, of such a size as to accomodate the spectators.«142 Benedetti plädiert hier zunächst also dafür, daß Anatomie unter freiem Himmel und an einem gut durchlüfteten Ort stattzufinden habe, vor allem wohl aufgrund der seinerzeit noch völlig unzureichenden Konservierungstechniken, welche die Präparate innerhalb kürzester Zeit verderben ließen. Weiterhin auffällig ist, daß Benedetti für ein anatomisches Theater eintritt, welches sich an der Architektur des Colosseums in Rom oder der Arena in Verona zu orientieren habe, mithin in amphitheatrischer Form einen Kreis bezeichne, innerhalb dessen die öffentliche Sektion stattzufinden habe.143 Ruft man sich in Erinnerung, daß auch Vesal in Buch V der
141. G. Richter: Das anatomische Theater, S. 7. 142. A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 83. 143. Die Übersetzung Linds ist an dieser Stelle problematisch, denn es wird nicht ersichtlich, warum er angesichts der Originalstelle bei Benedetti – »[…] temporarium theatrum constituendum est circumcaveatis sedilibus, quale Romae ac Veronae cernitur […]« (zit. nach: G. Richter: Das anatomische Theater, S. 24) – von einem halbkreisförmigen Theater – »semicircle« – spricht. Möglicherweise verwechselt er das Teatro Romano mit der Arena in Verona, oder er berücksichtigt nicht die Tatsache, daß bis ins 16. Jahrhundert hinein Amphitheater wie jene in Rom oder Verona fälschlicherweise als architekturale Repräsentanten des antiken Theaters aufgefaßt wurden. Vgl. zu diesem Umstand: G. Richter: Das anatomische Theater, S. 25; G. Ferrari: »Public anatomy lessons«, S. 84f. Vgl. zu frühen Theaterbauten generell: Franco Ruffini: Teatri prima del teatro. Visioni dell’edifico e della scena tra Umanesimo e Rinascimento, Roma 1983, S. 47-53. 92
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Fabrica von einem Amphitheater spricht, in welchem er in Bologna und Padua seine öffentlichen Sektionen abgehalten habe, dann zeigt sich, daß das Titelbild der Fabrica idealiter einen horizontalen Schnitt durch ein solches Amphitheater darstellt. Der eine Halbkreis ist praktisch weggeklappt worden, um dem Betrachter des Bildes Einblick in den auf dem Seziertisch präparierten Körper zu gewähren und ihn damit gleichzeitig auf den Rängen des anatomischen Theaters, welches ein anatomisches Amphitheater ist, zu positionieren. Dieses von Benedetti konzipierte und etwa von Vesal provisorisch realisierte Modell eines amphitheatrisch ausgerichteten anatomischen Theaters sollte prägend werden für die ersten fest installierten, permanenten anatomischen Theater in Padua und Leiden. Estienne hingegen propagiert in der Dissection von 1546 ein anderes Modell des anatomischen Theaters, welches in seiner theatrischen Form allerdings erst in der 1774 von Gondoin fertiggestellten Chirurgen-Akademie von Paris verwirklicht werden sollte.144 So gibt es im dritten Buch von Estiennes Dissection zwei Kapitel, welche sich explizit mit dem anatomischen Theater beschäftigen, und zwar zum einen Kapitel XL – »De l’appareil du théâtre anatomique« –, das die architektonische Ausgestaltung des Theaters und das organisatorische Prozedere einer Sektion betrifft, und zum anderen Kapitel XLI – »De la situation & position du corps que l’on doit disséquer au devant du théâtre anatomique« –, welches sich speziell mit dem in dem anatomischen Theater zur Aufführung kommenden menschlichen Körper befaßt. Zu den Koordinaten des anatomischen Theaters, dessen oberstes Ziel in der »plus grande évidence«145 besteht, erklärt Estienne: »un théâtre/ou commodité de lieu auquel l’on puisse aisément faire anatomie publique: en sorte que chacun des spectateurs puisse également voir à son aise: & qu’il n’y ait aucune confusion.«146 Wenn Estienne den Grundriß und die Ausmaße des von ihm konzipierten Modells beschreibt, wird das anatomische Theater selbst zu einem architekturalen Baukörper, welcher es ermöglicht, den Bau des menschlichen Körpers in öffentlichen Sektionen zu demonstrieren: »Le corps dudit théâtre sera donc fait en demi cercle/ou demi
144. Vgl. dazu: G. Wolf-Heidegger/A.M. Cetto: Die anatomische Sektion, S. 564. 145. Ch. Estienne: Dissection, S. 374. 146. Ebd., S. 373. 93
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rond/& à trois étages/ou à deux pour le moins.«147 Und weiter: »Le nombre des degrés/sera de quinze ou environ.«148 Das theatrische Modell des anatomischen Theaters, wie es Estienne vorschwebt, würde auf drei Rängen mit je etwa 15 Stufen in einem Halbkreis insgesamt bis zu maximal 500 Zuschauern einen Sitzplatz geboten haben, so jedenfalls das Resultat der Rekonstrukion Richters.149 Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, daß in dem auf dem Titelbild der Fabrica dargestellten provisorischen anatomischen Theater ungefähr 80 Zuschauer dicht gedrängt und noch dazu stehend versammelt sind, insgesamt also in etwa die doppelte Anzahl an Zuschauern in dem amphitheatrischen Rund anzunehmen ist, dann werden die gigantischen Ausmaße des Modells Estiennes, welches ja theatrisch ausgerichtet ist und nur über Sitzplätze verfügt, leicht erkennbar. Beide Modelle, sowohl das amphitheatrische Benedettis aus dem Jahre 1502 als auch das theatrische Estiennes aus dem Jahre 1546, haben Vor- und Nachteile. Benedettis Modell ist platzsparend und erlaubt bei gleicher zur Verfügung stehender Grundfläche eine größere Anzahl an Zuschauern, während Estiennes Modell eine je bessere Sicht auf den Unterschungsgegenstand zu ermöglichen scheint. Das amphitheatrische anatomische Theater auf dem Titelbild der Fabrica, welches das Modell Benedettis verkörpert, zeigt nämlich auch, daß der in Personalunion operierende professionelle Anatom einem Teil der Zuschauer den Blick auf den präparierten Körper versperrt, so daß es im Rücken Vesals zu einiger Unruhe kommt. Wenngleich das ebenfalls nach dem Modell Benedettis ausgerichtete anatomische Theater in Leiden etwa einen Sektor im Rücken des Anatomen ausspart, um den Zuschauern einen möglichst nicht durch den sezierenden, demonstrierenden und dozierenden Anatomen selbst getrüben Blick auf das Präparat zu ermöglichen, befindet sich der Anatom doch mit dem Rücken zum Ausgang, so daß er diesen entweder versperrt oder aber selbst von ein- oder austretenden Zuschauern gestört wird. An dieser Stelle wird deutlich, daß der Konzeption des anatomischen Theaters, sei dieses nun amphitheatrisch oder theatrisch modelliert, auf der einen Seite die Motivation eigen ist, einer größtmöglichen Anzahl an Zuschauern eine bestmögliche Sicht auf das Präparat zu erlauben. Auf der anderen Seite ist sie aber gerade deshalb dazu verpflichtet, diese Zuschauer durch die architekturale
147. Ebd. 148. Ebd., S. 374. 149. Vgl. dazu: G. Richter: Das anatomische Theater, S. 31f. 94
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Anordnung der zur Verfügung gestellten Steh- bzw. Sitzplätze selbst in Ordnung zu bringen. Und zwar in eine Ordnung, welche nicht nur Einblick gibt in den Bau des menschlichen Körpers, sondern auch in den Modus der anatomischen Wissensproduktion und -organisation. Dabei scheint die architektural auszuräumende Sorge der Anatomen, den Zuschauern einwandfreien und ungehinderten Einblick zu garantieren, auch durch diese selbst, durch deren der anatomisch motivierten Veranstaltung bisweilen unangemessenes Betragen bedingt zu sein. Darüber gibt schon das Titelbild der Fabrica Auskunft, denn auf dem noch verhältnismäßig ungeordneten, aufgeregten und unruhigen Sektionsszenario findet auch ein Kampf um die Plätze in der ersten Reihe und den damit verbundenen besseren Einblick statt. Die Möglichkeit einer wesentlichen Beeinträchtigung des Spektakels durch die Zuschauer zieht indes schon Benedetti in Betracht, wenn er von der Funktion des anatomischen Theaters spricht und diese folgendermaßen definiert: »to accomodate the spectators and prevent them from disturbing the master of the wounds.«150 Ähnliche Bemerkungen über das Verhalten der Zuschauer finden sich auch in Estiennes Dissection: »quelquefois ils disposent si mal le lieu dédié a ce fait/que tout y est confus: dont advient grand bruit & tumulte des spectateurs: par ce que les dissecteurs ne peuvent commodément faire leur opération.«151 Diese Erfahrungswerte läßt Estienne in sein Modell des anatomischen Theaters einfließen, und zwar dergestalt, daß er die drei Ränge, welche er theatrisch in einem Halbkreis anzuordnen gedenkt, je mit einem eigenen Treppengang und damit einem eigenen Ausgang versieht. Gerade dies macht er als besonderen Vorteil seines Modells aus: »Encore qui plus fait ledit théâtre être commode/c’est quand chacun des spectateurs se peut retirer quand il lui plaît pour ses affaires & nécessités/sans donner fâcherie aux autres.«152 Neben solchen rein architektural motivierten Strategien, den Zuschauern einen bestmöglichen Einblick in das Spektakel zu geben und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit des ungehinderten und störungsfreien Verlassens dieses Spektakels einzuräumen, läßt sich noch eine weitere Strategie ausmachen, das dem anatomischen Theater inhärente Problem, möglichst viele Zuschauer aufnehmen
150. A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 83. 151. Ch. Estienne: Dissection, S. 373. 152. Ebd. 95
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und diese größtmögliche Anzahl an Zuschauern ruhigstellen zu müssen, zu lösen. Diese Strategie bewegt sich zwischen der architekturalen Dimension der Ausformung des Baukörpers – etwa: Anordnung der Ränge, Höhe der Ränge, Abstand zwischen den Stufen, Sitz- oder Stehplätze, theatrische oder amphitheatrische Ausrichtung usf. – und der organisatorischen Dimension der Planung der jeweils stattfindenden öffentlichen Sektionen. So plädiert Benedetti für eine standesgemäße Sitzordnung: »A seating order according to dignity must be given out.«153 Und auch Estienne berücksichtigt eine Sitzordnung, derzufolge die zunehmende Entfernung zum Untersuchungsgegenstand abnehmendes Recht auf Einsicht widerspiegelt. Auf den unteren Rängen nehmen die Professoren Platz, dann folgen die bereits graduierten Studenten, dann die einfachen Medizinstudenten, die nicht-akademischen Chirurgen und schließlich die nicht-medizinische Zuschauerschaft.154 Wenn sich die Zuschauer auf den Rängen des anatomischen Theaters einfinden, dann machen sie damit ein je unterschiedlich geartetes Recht auf Einsicht in den menschlichen Körper geltend. Demnach können durchaus unterschiedlich privilegierte Zugänge zu anatomischem Wissen und auch zu dem Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation festgestellt werden. Ebenso wie der im Namen der Autopsia genehmigte Blick kein völlig autonomer ist, stellt auch das anatomische Theater, aus welchem der Katheder verschwunden ist, keinen Raum nicht-hierarchisch gegliederter anatomischer Wissensproduktion und -organisation dar. Nun ist das anatomische Theater ein Raum, in welchem Blikke stattfinden, und zwar Blicke des professionellen Anatomen und der Zuschauer. Diese in dem Raum des anatomischen Theaters stattfindenden Blicke des professionellen Anatomen und der Zuschauer richten sich naturgemäß wesentlich auf den Untersuchungsgegenstand, also den zur Sektion freigegebenen menschlichen Körper. Von daher kommt der Positionierung des Untersuchungsgegenstandes im anatomischen Theater eine besondere Bedeutung zu. Anders als auf dem Frontispiz zu Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494 – auf welchem der Körper zwar nicht willkürlich, aber auch nicht zentral angeordnet ist – wird dies auf dem Titelbild der Fabrica – auf welchem der präparierte weibliche Leichnam die zentrale Blickachse bildet – ersichtlich. Die Positionierung des Untersuchungsgegenstandes im anatomischen Theater spielt schon in Benedettis Anatomice von 1502
153. A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 83. 154. Vgl. dazu: Ch. Estienne: Dissection, S. 374. 96
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eine Rolle, wenn dieser ausführt: »The cadaver is to be placed on a rather high bench in the middle of the theatre in a lighted spot handy for the dissectors.«155 Dies gilt ebenfalls für Estienne: »Au devant dudit théâtre susdit […] sera posée & assise une table/soutenue d’un seul pied de bois: sur lequel elle puisse tourner en tous sens.«156 Dieser auf der Bühne des anatomischen Theaters aufgestellte Tisch stellt nicht zufällig den zentralen Blickpunkt der im Theater versammelten Zuschauer dar, sondern er ist genau andersherum derjenige Punkt, von welchem ausgehend sich die architekturale Ausformung des anatomischen Theaters vollzieht. Ohne diesen Seziertisch bräuchte es keine Bühne, keine Ränge, keine Reihen, keine Sitz- oder Stehplätze, im Grunde überhaupt kein anatomisches Theater und in der Anatomie des 16. Jahrhunderts auch gar keine öffentlichen Sektionen, mithin auch keine Zuschauer zu geben. Selbst wenn der Seziertisch von den frühneuzeitlichen Anatomen in ihren theoretischen Überlegungen zu der Architektur des anatomischen Theaters immer erst nach dem eigentlichen Baukörper thematisiert wird, ist er doch dasjenige Moment, von welchem die sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufende und öffentliche Sektionen planende Anatomie des 16. Jahrhunderts gerade deshalb auszugehen hat, weil auf ihm der Körper positioniert wird: »Sur laquelle table sera posé & étendu le corps que voudrons disséquer.«157 So plädiert Estienne ausdrücklich für die Plazierung des menschlichen Körpers auf dem Seziertisch und gegen dessen Hängung: »nous semble beaucoup plus sûr & plus commode l’administration qui se fait du corps étant couché sur une table/& tellement colloqué/que la tête & le corselet de celui soient plus élevés & apparents: comme si tout le corps était à demi droit […] afin que ledit corps puisse aisément retenir cette position/le faudra lier à ladite table, avec des bandes assez larges & sûres.«158 Diese Ausführungen verdeutlichen, daß der Körper nicht nur einfach auf dem Seziertisch aufgebahrt wird, um an ihm etwas zu demonstrieren, sondern daß er regelrecht festgezurrt werden muß, um den Blicken der Zuschauer auch dann noch zugänglich zu sein, wenn der in Personalunion operierende professionelle Anatom an ihm schneidet, sägt, hämmert und näht.
155. 156. 157. 158.
A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 83. Ch. Estienne: Dissection, S. 374. Ebd. Ebd., S. 375. 97
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Wenn Kathan diesbezüglich erklärt: »Der Tisch definiert den Körper als Arbeitsfeld«159, dann gilt das sicherlich auch für die Kathederanatomie. Anders als in der Kathederanatomie aber ist es im anatomischen Theater idealiter der professionelle Anatom selbst, welcher an dem Seziertisch arbeitet, indem er dort seziert, demonstriert und doziert. Er thront nicht mehr auf dem Katheder, sondern er befindet sich selbst notwendig auf jener Bühne des anatomischen Theaters, von welcher er nicht weichen kann und welcher er ausgeliefert ist für die Zeit des Spektakels. Nicht nur der zu sezierende Körper wird also auf der Bühne des anatomischen Theaters positioniert, sondern auch der sich auf die autoptische Wissensformation berufende und in Personalunion operierende Anatom positioniert sich unwiderruflich an dem Seziertisch und damit in der Blickachse des auf den Rängen des anatomischen Theaters versammelten Publikums. Während in den Sektionsräumen der Kathederanatomie etwaige Zuschauer ihre Blicke schweifen lassen müssen – vom Katheder zum Seziertisch und zurück zum Katheder, welcher die Sektion begründet und abschließt –, ist es im anatomischen Theater der Seziertisch, welcher alle Blicke konzentriert, und zwar sowohl diejenigen des professionellen Anatomen als auch diejenigen der Zuschauer. Dabei fungiert der Anatom, dies ist auf dem Titelbild der Fabrica ersichtlich, als Vermittler zwischen demjenigen, was er auf dem Seziertisch sieht, und demjenigen, was die Zuschauer auf dem Seziertisch sehen sollen. Dazu bedarf es demonstrativer und dozierender Gesten, welche nur dann gewährleistet werden können, wenn der Anatom nicht von dem auf dem Seziertisch positionierten Untersuchungsgegenstand abrückt. Mithin konzentriert der Seziertisch idealiter alle im anatomischen Theater stattfindenden Blicke, denn auch der wie auf dem Titelbild der Fabrica in den Zuschauerraum gerichtete Blick des professionellen Anatomen dient einzig dazu, abschweifende Blicke der Zuschauer einzufangen und wieder auf den präparierten Körper zu lenken. Dabei spielt nicht zuletzt die Beleuchtung in dem anatomischen Theater eine Rolle, denn aufgrund unzureichender Konservierungsmethoden fanden öffentliche Sektionen privilegiert in der kühleren Jahreszeit oder in den kühleren Abendstunden statt, zu Zeiten also, in denen das Tageslicht nicht notwendig eine ausreichende Beleuchtung gewährleistete. Dies gilt freilich sowohl für öffentliche Sektionen unter freiem Himmel, wie etwa in dem provisorischen anatomischen Theater auf dem Titelbild der Fabrica, als auch für solche, welche in den ersten
159. B. Kathan: »Objekt, Objektiv und Abbildung«, S. 8. 98
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fest installierten, ausschließlich überdachten anatomischen Theatern vollzogen werden. Wirft man einen Blick auf das Titelbild der Fabrica, so fällt auf, daß sich auf dem Seziertisch Kerzen befinden. Der präparierte Körper wird auf der Bühne des anatomischen Theaters nicht nur positioniert, sondern auch ins Rampenlicht gesetzt. Dies alles verdeutlicht, daß der Körper im Rahmen einer sich programmatisch der autoptischen Wissensformation verpflichtenden Anatomie des 16. Jahrhunderts als Sachautorität an Konturen gewinnt und daß diese Konturen andererseits auch in Form des anatomischen Theaters architektural profiliert werden. Die Bedeutung des anatomischen Theaters im Kampf um den Modus der anatomischen Wissensproduktion und -organisation ist also nicht zu unterschätzen. Kathan geht diesbezüglich sogar noch weiter, wenn er die These aufstellt: »Das erste Objektiv der modernen Medizin findet sich in den Anatomischen Theatern des 16. Jahrhunderts. Das Projekt der Körperkartographie wäre ohne die Isolierung des Körpers undenkbar gewesen.«160 Tatsächlich fungiert das anatomisches Theater als architekturale Verkörperung dessen, was Virchow später als ›anatomischen Gedanken‹ bezeichnen und Foucault in seiner Geburt der Klinik als Verräumlichung des Wissens über den menschlichen Körper verhandeln wird. Denn das anatomische Theater lokalisiert, indem es den menschlichen Körper in das Zentrum der in ihm und wegen ihm konzentrierten Blicke rückt. Das anatomische Theater definiert, indem es den Körper als Sachautorität, den professionellen Anatomen als Experten und das Publikum als Laien ausweist. Das anatomische Theater organisiert, indem es anatomisches Wissen produziert, reproduziert und distribuiert. Mithin erscheint das anatomische Theater als ein Raum, welcher das Sehen einrichtet und Wissen eröffnet. Auf den Rängen des anatomischen Theaters wird die Sicht auf den Untersuchungsgegenstand freigeräumt; es werden Blicke auf den Untersuchungsgegenstand zur Verfügung gestellt, unterrichtet und geschult; es wird anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers demonstriert und doziert und damit selbst einer Autopsie unterzogen. Insofern finden nicht nur Blicke auf den Untersuchungsgegenstand statt, sondern auch solche auf die Anatomie und den Modus ihrer Wissensproduktion und -organisation. Das anatomische Theater, wie es zunächst etwa in Benedettis Anatomice von 1502 oder Estiennes Dissection von 1546 als Modell thematisiert, dann als provisorischer anatomischer Veranstaltungsort etwa auf dem Titelbild der Fabrica von 1543 erprobt und schließlich 1594 in Padua und 1597 in Leiden
160. Ebd., S. 5. 99
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fest installiert wird, ist nicht nur ein Raum, in welchem sich anatomisches Wissen reproduziert, sondern auch ein solcher, in welchem es paradigmatisch produziert und organisiert wird, mithin also ein Raum des Wissens, welches architektural ermöglicht, eröffnet und vorgezeigt, also idealiter auch geteilt wird. In den provisorischen anatomischen Theatern des 16. Jahrhunderts macht die sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufende Anatomie einen ihr nicht angestammten Raum für sich geltend. Da sie also vorhandene Räumlichkeiten zumindest temporär besetzt und somit in ihrem Sinne redefiniert, bedarf sie einer besonderen Legitimation. Diese besteht darin, daß eine große Anzahl von Zuschauern Einblick in das im anatomischen Theater paradigmatisch aufgeführte Wissen bekommt und bereit ist, diesen Modus der Wissensproduktion und -organisation als Anatomie und dieses Wissen als anatomisches Wissen anzuerkennen. »Sichtbarkeit«, so heißt es bei Faßler, »zeugt von nichts, aber mit ihr werden Zeugen erzeugt.«161 Genau dies ist die Absicht der im 16. Jahrhundert etablierten Architekturform des anatomischen Theaters, in welcher das Publikum dazu dient, jenes anatomische Wissen zu bezeugen, welches sich doch zumindest programmatisch von dem kanonisierten, in der Kathederanatomie dargebotenen anatomischen Wissen des Galenismus distanziert. Wenn etwa Vesal in der Fabrica darauf aufmerksam macht, er habe in Bologna und Padua zahlreiche Sektionen in einem solchen anatomischen Theater, wie es auf dem Titelbild dargestellt ist, durchgeführt, dann geht es vor allem darum, sich auf Zeugen für seinen Modus der anatomischen Wissensproduktion und -organisation zu berufen und den Leser der Fabrica durch das Titelbild selbst zu einem solchen zu machen. Nicht umsonst befindet sich der Betrachter in der Logik des Titelbildes der Fabrica also auf den Rängen des amphitheatrisch ausgerichteten anatomischen Theaters. So erschließt sich die Anatomie zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach und nach Räume, welche ihr zunächst nur zur Verfügung gestellt werden. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts aber verfügt sie mit den ersten fest installierten anatomischen Theatern schließlich selbst über eigens für sie konzipierte und ausschließlich für sie reservierte Räume, welche als genuine Räume des Wissens die anatomische Wissensproduktion und -organisation modellieren. Wenn Richter bezüglich der Anatomen des 16. Jahrhunderts feststellt: »sie prägten dem Raum, in dem sie arbeiteten, den Stempel auf«162, dann
161. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 110. 162. G. Richter: Das anatomische Theater, S. 7. 100
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deckt er damit allerdings nur einen Aspekt des Funktionshorizontes des anatomischen Theaters im 16. Jahrhundert ab. Denn tatsächlich gilt diese Aussage auch genau andersherum: Die anatomischen Theater prägten den Anatomen, welche in ihnen Anatomie stattfinden ließen, den Stempel auf. Dies äußert sich etwa in dem Umstand, daß der in Personalunion operierende und sich auf die autoptische Wissensformation berufende professionelle Anatom während einer im anatomischen Theater stattfindenden öffentlichen Sektion nicht von dem auf dem Seziertisch positionierten Präparat weichen kann, mit diesem vor den Augen des Publikums förmlich verwachsen muß. Von daher ist der Raum, welcher ihm selbst zugestanden wird, durch denjenigen Radius, welchen er während der Sektion mit dem Skalpell oder während der Demonstration mit dem Zeigefinger beschreiben kann, eingeschränkt. Zudem ist er selbst nicht nur physisch, sondern auch symbolisch ein Teil des Spektakels, da er nicht nur den präparierten Körper demonstriert, sondern immer auch den Modus der anatomischen Wissensproduktion und -organisation reproduziert und damit repräsentiert. Das anatomische Theater als von der Anatomie des 16. Jahrhunderts erschlossener und dem Publikum gleichsam eröffneter Raum des Wissens verdeutlicht demnach, daß Anatomie an den medizinischen Schulen und für das Publikum einerseits zwar als Disziplin an Raum gewinnt, daß dieser disziplinäre Gewinn an Raum aber andererseits auch in eine zunehmende Disziplinierung des professionellen Anatomen mündet. Ähnlich wie dies schon für das Phänomen des im Programm der autoptischen Wissensformation scheinbar autonomen Blicks festgestellt wurde, führt also auch das anatomische Theater zu disziplinär automatisierten Einschreibungen sowohl in den anatomischen Wissenskörper als auch in den Körper des Anatomen. Schließlich produziert das anatomische Theater nicht nur Bilder für die, sondern auch Bilder von der Anatomie, welchen sich die Anatomen auf der Bühne immer wieder anzuverwandeln haben. Diese Anatomie vermag idealiter auch ohne den Anatomen auszukommen, weil sie jeden, der die Bühne des anatomischen Theaters betritt, unweigerlich selbst zu einem Anatomen machen wird und das anatomische Theater somit permanent die Produktion von Anatomen garantiert. Dies jedenfalls legt der das anatomische Theater von Padua darstellende Kupferstich nahe, welcher 1654 in Tomasinis Gymnasium Patavinum erscheint (Abb. 5). Im Gegensatz etwa zu dem Titelbild der Fabrica, welches den Betrachter auf den Rängen des anatomischen Theaters positioniert, wird hier eine Perspektive auf das anatomische Theater eingenommen, welche dieses nicht nur von einem unmöglichen Standpunkt aus fokussiert, son101
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dern auch auf die funktionalen Elemente seiner Architektur reduziert. Die Tatsache, daß in seiner Mitte ein aufgebahrter, wohl zur Sektion freigegebener Leichnam positioniert ist, verweist nicht einzig auf die Zweckbestimmung des Baukörpers, wie etwa Wolf-Heidegger/Cetto vermuten.163 Denn die Bildunterschrift – ›Theatrum Anatomicum Lycei Patavini‹ – erlaubt keinen Zweifel über dasjenige, was an diesem Ort vonstatten gehen soll. Vielmehr treten hier zwei Untersuchungsgegenstände miteinander in Konkurrenz, nämlich zum einen der Leichnam auf dem Seziertisch als Untersuchungsgegenstand der Anatomie, und zum anderen der Baukörper des anatomischen Theaters als Untersuchungsgegenstand der Architekturgeschichte. Gerade weil das anatomische Theater von Padua auf diesem Kupferstich all dessen beraubt ist, was auf einschlägigen zeitgenössischen Darstellungen anatomischer Theater erscheint – darunter etwa: ein professioneller Anatom, ein interessiertes Publikum, benutztes Sezierbesteck usf. –, erscheint der aus seinem architekturalen Umfeld herauspräparierte und isolierte Baukörper selbst als Untersuchungsgegenstand und offenbart eindrucksvoll dessen Status als optisches Dispositiv. Der scheinbar allwissende Blick, welcher auf diesem perspektivisch entfalteten Kupferstich installiert ist, positioniert sich weder an dem Arbeitsplatz des Anatomen, also am Seziertisch, noch ist er auf den Rängen des anatomischen Theaters, also dem Platz der Zuschauer, verortet. Vielmehr befindet er sich außerhalb des anatomischen Theaters und propagiert gerade durch die Leere der Bühne und der Ränge weniger einen bestimmten Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation, wie dies etwa auf dem Titelbild der Fabrica der Fall ist. Vielmehr konfrontiert er das Wissenssystem der Anatomie mit sich selbst, indem er es einer Autopsie unterwirft und quasi architekturale Läsionen diagnostiziert: ein trichterförmiger Baukörper, aus dem es keinen Ausweg gibt; steile Ränge, an welchen sich Blicke abarbeiten; ein Seziertisch, an welchem die Lebenden den Toten das Wissen über das Leben entlocken wollen; eine Bühne, auf welcher ein jeder sich seiner Rolle anverwandelt. So ist das anatomische Theater als ein wesentliches Moment der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert ganz auf visuelle Mobilmachung angelegt und entfaltet ein mannigfaltiges Programm der Sichtbarkeit. Tatsächlich nährt der Kupferstich aus Tomasinis Gymnasium Patavinum aus dem Jahre 1654 den Verdacht, daß der fast geschlos-
163. Vgl. dazu: G. Wolf-Heidegger/A.M. Cetto: Die anatomische Sektion, S. 344. 102
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sene Baukörper sich an einer Stelle bloß öffnet, um den Blick des Betrachters und damit den Betrachter selbst auf den aufgebahrten Körper zu lenken – und dies unter der Voraussetzung, jederzeit sofort zuschnappen zu können. Dies zeigt sehr deutlich, daß nicht nur, wie Richter anführt, die Anatomen über den Raum, in welchem sie arbeiten, bestimmen, sondern daß auch der Raum, in welchem die Anatomen arbeiten, über die Anatomen bestimmt. Insofern arbeitet der Raum, in welchem die Anatomen diszipliniert die Arbeit ihrer Disziplin verrichten, auch mit den Anatomen. Diese aber sind austauschbar, da das Körperwissen der Anatomie dem auf dem Seziertisch positionierten Körper als Sachautorität verpflichtet ist und der Baukörper des anatomischen Theaters nichts anderes als die vermeintlich autonome, hier aber tatsächlich als automatisiert vorgeführte Geste der autoptischen Wissensformation erlaubt. Auf dem Kupferstich ereignet sich mithin eine deutliche Verschiebung von der Personalisierung anatomischen Wissens, wie es auf dem Titelbild der Fabrica von Vesal verkörpert wird, hin zu einer Institutionalisierung anatomischen Wissens, wie es in der Architektur des anatomischen Theaters präfiguriert wird. Mit den Worten Foucaults ließe sich also sagen, daß der Kupferstich das anatomische Theater als »das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage«164 seziert, welches nicht nur das anatomische Wissen nicht unberührt läßt, sondern auch diejenigen betrifft, welche sich wie die Anatomen aus professioneller Motivation oder wie die Zuschauer aus Interesse am Spektakel in diese Arena der Sichtbarkeiten hineinbegeben. Deutlich wird: Wer in der Anatomie etwas werden, wer professioneller Anatom werden möchte, muß sich in diese Falle begeben und sich in den trichterförmigen Baukörper des anatomischen Theaters werfen lassen, muß einer Sektion beiwohnen, sich anatomisches Wissen demonstrieren und dozieren lassen. Und er muß schließlich selbst zu dem Sezierbesteck greifen, an dem Seziertisch auf der Mitte der Bühne sezieren, demonstrieren und dozieren, dabei nicht nur selbst einen disziplinierten, disziplinären Blick auf das Präparat werfen, sondern auch die Blicke der Zuschauer auf sich konzentrieren, diese mit einer demonstrativen Geste zum Präparat hin dirigieren, um schließlich das Wort ergreifen und während der Lektion seinen Blick an die Zuschauer adressieren zu können. Wer an anatomischem Wissen teilhaben möchte, muß sich unwiderruflich dem Gesetz der Räumlichkeiten, in welchen anatomisches Wissen produziert, reproduziert und organisiert
164. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 2003, S. 253. 103
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wird, unterwerfen, den architekturalen Gesetzmäßigkeiten des anatomischen Theaters anverwandeln, um schließlich selbst den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation verkörpern zu können. So entsteht rückblickend fast der Eindruck, der unbekannte Bildproduzent habe mit dem Kupferstich aus Tomasinis Gymnasium Patavinum aus dem Jahre 1654 eine bildmediale Archäologie anatomischen Wissens am Beispiel des anatomischen Theaters vorgenommen. Daß Hettche das anatomische Theater als »hölzerne Übung in Zentralperspektive«165 bezeichnet, kommt deshalb, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, wohl nicht von ungefähr.
2.5 Autopsia als Perspektive: Strategien des anatomischen Bildzeugnisses Anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers ist bis ins 16. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich im Medium der Schrift artikuliertes und tradiertes Wissen. Wenn die Medizin mit dem Corpus hippocraticum den Eintritt in die Schriftkultur vollzieht, dann vollzieht sie in der Mitte des 16. Jahrhunderts unwiderruflich den Eintritt in die Bildkultur. Gleichwohl stellen diejenigen Publikationen, welche als frühe anatomische Atlanten verhandelt werden können – darunter vor allem: Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio von um 1541, Vesals Fabrica von 1543, Estiennes Dissection von 1546 und Valverdes Historia de la composición del cuerpo humano von 1556 –, nicht die ersten anatomisch motivierten Bildbeiträge dar. Denn es liegen zahlreiche Sektionsszenarien in illuminierten Handschriften, auf Einblattholzschnitten und später auch in Buchpublikationen wie etwa dem Fasciculo di medicina von 1494 vor. Diese Sektionsszenarien indes führen vor Augen, wie bereits vorliegendes anatomisches Wissen – nämlich dasjenige, welches in den Schriften Galens oder Mondinos überliefert ist – zu verwalten ist, wie man es sich aneignen und wie man es aufführen kann. Insofern stellen diese Bilder eine Bedienungsanleitung für den Umgang mit kanonisiertem anatomischem Wissen dar, zielen jedoch als Bilder nicht darauf ab, ein solches Wissen zu produzieren oder zu organisieren. Unter gänzlich anderen Vorzeichen indes funktionieren etwa das Titelbild der Fabrica oder das in dieser aufzufindende Autorenporträt Vesals. Denn diese Bilder verschreiben sich nicht dem an-
165. Th. Hettche: Animationen, S. 97. 104
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gemessenen Umgang mit vorliegendem Wissen, sondern sie entfalten eine Programmatik, welche ganz und gar der Wissensproduktion und -organisation gewidmet ist. Wenngleich diese Bilder aber einen spezifischen Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation propagieren, transportieren sie selbst kein anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers. Ihre Funktion ist also eine quasi wissenschaftspolitische. Dasjenige anatomische Wissen, welches sie autorisieren und legitimieren sollen, erscheint hingegen auf einer ganz anders gearteten Bildfläche, selbst wenn diese sich notwendig innerhalb der Buchpublikation des anatomischen Atlanten und damit in dem von dem Titelbild und dem Autorenporträt gesteckten Rahmen befindet. Anatomisches Wissen über den menschlichen Körper findet jenseits programmatischer Fragen, wie sie in etwaigen Titelbildern, Autorenporträts oder Frontispizen verhandelt werden, in spezifisch anatomisch motivierten Körperdarstellungen statt. Diese sind, ganz im Gegensatz zu zahlreichen überlieferten Sektionsszenarien, bis ins 16. Jahrhundert äußerst selten. Zwar liegen kolorierte Zeichnungen etwa aus Guido da Vigevanos Handschrift Anothomia aus dem Jahre 1345 oder eine frühe druckgraphisch reproduzierte GravidaFigur aus dem Fasciculo di medicina von 1494 vor. Beide jedoch demonstrieren weniger, was während der Sektion autoptisch zu sehen ist, als daß sie im Bild reproduzieren, was vor der Sektion bereits schriftlich vorliegt. Für das frühe 16. Jahrhundert sind in Hinblick auf anatomisch motivierte Körperdarstellungen vor allem die anatomischen Zeichnungen Leonardos – welcher mit einiger Berechtigung als »Begründer der wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung«166 angesehen werden kann, jedoch keinerlei unmittelbaren Einfluß auf die professionelle Anatomie des 16. Jahrhunderts gehabt hat167 – und
166. Vgl. dazu: S. Braunfels-Esche: »Leonardo als Begründer der wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung«. 167. Vgl. dazu folgende Ausführungen: »Leonardos retrospektiv betrachtet unzweifelhaft reformversprechendes Œuvre schließlich, das zu Lebzeiten und post mortem nur wenige Personen überhaupt gesehen haben – wir wissen nicht, ob je einer der fortschrittlichen Anatomen ein einziges Leonardo-Blatt vor Augen gehabt hat –, gelangte, soweit wir das bis heute beurteilen können, niemals in den Prozeß wissenschaftlicher Weiterverarbeitung im Rahmen der Medizin.« (J.H. Wolf: »Medizin im Widerstreit«, S. 120f.) Ähnlich äußert sich auch Bergdolt: »Bei aller Bewunderung für Leonardos Zeichnungen […] bleibt zudem festzuhalten, daß die berühmtesten Anatomie-Darstellungen der Renaissance keinen echten Aufbruch in ein neues Anatomie-Zeitalter symbolisierten – von der Tatsache abgesehen, daß sie für private No105
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Berengarios umfangreichen Commentaria von 1521 zu nennen. Abgesehen von der Tatsache, daß sie eine der ersten rein anatomisch motivierten Publikationen ist, in welcher die Reproduktionstechnik des Holzschnitts zum Einsatz kommt, fällt bei den Commentaria auf, daß die Bildzeugnisse hier nicht nur quantitativ einen äußerst geringen Stellenwert haben, sondern daß sie auch qualitativ unzureichend sind und wegen ihrer schematischen Bildkonzeption nur wenig autoptisch produziertes anatomisches Wissen demonstrieren können (Abb. 6). Bis weit ins 16. Jahrhundert hinein beschränkt sich der Einsatz von Bildmedien in der Anatomie also einerseits auf Sektionsszenarien, welche anatomisches Wissen verwalten, und andererseits auf schematische Zeichnungen, welche schriftlich vorliegendes anatomisches Wissen als Wissen durch Schriften veranschaulichen. Dieser Umstand ist nicht zuletzt ein Problem der genuin anatomischen Wissensformation, geht darin allerdings nicht restlos auf, da die Anatomie bis ins 16. Jahrhundert scheinbar auch nicht über das nötige Bildwissen verfügt, welches notwendig ist, körperliche Sachverhalte – seien diese im Namen der Personalautorität oder im Namen der Sachautorität formuliert – visuell plausibel zu demonstrieren. Diesbezüglich merkt Edgerton an: »there was a propensity, continuing right through the sixteenth century, to illustrate
tizbücher bestimmt waren und in der Welt des frühen 16. Jahrhunderts schon deshalb keine Breitenwirkung entfalten konnten.« (K. Bergdolt: Zwischen ›scientia‹ und ›studia humanitatis‹, S. 41) Zudem stellt Bergdolt fest: »seine großartigen Skizzen setzen in der Regel traditionell galenistische Vorstellungen um.« (Ebd.) Hier ist nicht zuletzt zu bedenken, daß Leonardo des Lateinischen nicht mächtig war und insofern die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in rascher Folge erscheinenden Galeneditionen nicht hat konsultieren können, wohingegen er Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina sehr wohl gekannt hat. Der entscheidende Grund, die anatomischen Zeichnungen Leonardos hier nur beiläufig zu erwähnen, liegt jedoch vor allem darin, daß er sein mit dem Anatomen Marcantonio della Torre geplantes Buchprojekt nicht hat verwirklichen können und schließlich auch nicht am Diskurs der professionellen Anatomie zu Beginn des 16. Jahrhunderts teilgenommen hat. Eine andere Frage wäre jedoch diejenige, ob Leonardos Versuch, anatomisches Wissen der Logik des Bildes unterzuordnen, nicht über den Künstler als professionellen Bildproduzenten indirekt Eingang in anatomische Atlanten des 16. Jahrhunderts gefunden hat. Dazu jedoch bedarf es einer minutiösen kunstgeschichtlichen Quellenforschung, welche hier nicht angestrebt wird. Zu den anatomischen Studien Leonardos vgl. vor allem: Sigrid Esche: Leonardo da Vinci. Das anatomische Werk, Basel 1954; Otto Baur: Leonardo da Vinci. Anatomie, Physiognomik, Proportion und Bewegung, Feuchtwangen 1984. 106
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scientific manuals with pictures in split-view or reverse perspective, long after the rules of Brunelleschi and Alberti had been acknowledged by artists generally.« 168 Dies ändert sich mit Abstrichen schon bei Berengarios Commentaria von 1521, einigermaßen offenkundig dann bei Publikationen wie Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio von etwa 1541, Vesals Fabrica von 1543, Estiennes Dissection von 1546 und Valverdes Historia von 1556. So stellt sich die Frage, warum es seitens der professionellen Anatomie plötzlich ein Bedürfnis gibt, spezifisch anatomisches Körperwissen und anatomisch spezifiziertes Bildwissen miteinander kurzzuschließen, anatomisches Wissen mithin auf eine Logik des Bildes zu verpflichten, welche weit über schematische Körperdarstellungen hinausgeht. Mit den ersten anatomischen Atlanten nämlich dürfte sich in der Anatomie auch ein verändertes Bildverständnis manifestieren, welches auf gänzlich anderen Bildfunktionen beruht, als dies in den Illustrationen zu vorliegendem, bereits kanonisiertem anatomischem Wissen antiker Personalautoritäten der Fall ist. So heißt es zur Funktion des anatomischen Bildzeugnisses in Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio: »[…] those who practice medicine but who cannot recognize the parts of the body by personal inspection during dissection might gain some knowledge of them at least by pictures.«169 Und Vesal bemerkt im Vorwort der Fabrica zu den Bildzeugnissen: »In fact, illustrations greatly assist the understanding, for they place more clearly before the eyes what the text, no matter how explicitly, describes.«170 Estienne schließlich sieht die Funktion der Bildzeugnisse in der Dissection darin, dem Betrachter den Eindruck zu vermitteln, als habe dieser die sezierten und präparierten Körperteile »comme […] exposées devant vos yeux.«171 Anhand dieser Aussagen wird die Funktion des anatomischen Bildzeugnisses für die sich im 16. Jahrhundert autoptisch selbstverständigende Anatomie in ihrer ganzen Programmatik ersichtlich. Denn es geht ganz wesentlich um die Speicherung und Übertragung von anatomischem Wissen, und zwar mittels bildmedialer Repräsentation des als Sachautorität verbürgten sezierten Körpers. Das Bild ist keine Zugabe mehr, welche schriftlich vorliegendes anatomisches
168. Samuel Y. Edgerton: The Renaissance rediscovery of linear perpective, New York 1975, S. 24. 169. G.B. Canano: »An Illustrated Dissection of the Muscles«, S. 309. 170. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body II; S. lvii. 171. Ch. Estienne: Dissection, s.a.ii. 107
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Wissen veranschaulicht, verklärt oder schmückt, sondern das Bild wird zu einer unhintergehbaren Notwendigkeit, da es das Präparat auf dem Seziertisch und damit das genuine Objekt autoptischer Wissensformation ersetzt. Die sich programmatisch auf die Autopsia berufende, in Personalunion operierende, vor den Rängen des anatomischen Theaters am Seziertisch demonstrierende Anatomie sieht sich also aufgrund ihres neu formulierten Modus der Wissensproduktion gleichsam verpflichtet, einen Modus der Wissensorganisation zu definieren, in welchem dem Bild diejenige Funktion zukommt, welche zuvor die Schrift innehatte. Und nicht nur das: Auch das Bild selbst hat in der anatomischen Wissensorganisation nun eine Funktion, welche sich wesentlich von der bisherigen Funktion des Bildes, nämlich der Illustration von vorliegendem anatomischen Wissen, unterscheidet. Auch die Bildstrategien, welche die Anatomie nun zu verhandeln hat, stimmen mit denjenigen, auf welche sie zurückgreifen könnte, nicht mehr überein, denn eine sich programmatisch auf die Autopsia berufende Anatomie kann nicht in schematischen Zeichnungen aufgehen. Schließlich werden sich, dies ist anschließend zu zeigen, auch die Bildpraktiken der Anatomie von denjenigen unterscheiden, welche zuvor prägend für das anatomische Bildverständnis gewesen sind. Die Publikationsform des anatomischen Atlanten erfordert spezifische Konzepte der Katalogisierung einer großen Anzahl an Bildmaterial und bedingt mithin eine weitgehende Reflexion über dasjenige, was mit einem Bild überhaupt veranstaltet werden soll. Aus dieser grundsätzlich veränderten Bildfunktion, welche die sich programmatisch auf die Autopsia berufende Anatomie für sich geltend macht, erwachsen also, dies liegt nahe, nicht zuletzt veränderte Bildstrategien und veränderte Bildpraktiken, welche aber allererst erprobt werden müssen. Die Tatsache, daß die Anatomie im 16. Jahrhundert dem Bild eine Funktion zuweist und damit eine Bildfunktion für sich definiert, verdeutlicht, daß sie einen programmatischen Kurswechsel in der Wissensorganisation vornimmt und zeigt auf, daß sie, obgleich sie bislang fast ausschließlich auf schematische Zeichnungen oder Diagramme zurückgegriffen hat, durchaus um einen anderen Bildbegriff weiß.172 Dieser Bildgegriff
172. Bezüglich frühneuzeitlicher, anatomisch motivierter Bildgebung lassen sich in der Forschung diverse terminologische Differenzierungen zwischen schematischen und perspektivischen Bildprogrammen ausmachen. Choulant führt drei Arten dessen, was er als ›anatomische Abbildung‹ bezeichnet, an, nämlich eine schematische, eine individuelle und eine ideale. (Vgl. L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der Anatomischen Abbildung) Roberts/Tomlinson unterscheiden lediglich zwi108
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stammt aus der Kunst, ist von Kunstpraxis und Kunsttheorie seit dem 15. Jahrhundert konzipiert worden und findet sich erstmalig ausformuliert in Albertis Traktat De pictura aus dem Jahre 1435. Von Interesse ist hier vor allem das Buch I aus De pictura, in welchem Alberti das Phänomen Bild auf einen Begriff bringt, wobei die Abstraktionsleistung dieser Begriffsbildung nicht nur als zentrales Modell für die Malerei der Renaissance herhalten, sondern in ihrer Reichweite auch darüber hinaus geltend gemacht werden kann.173 Die Tatsache, daß die Bildzeugnisse in anatomischen Atlanten weder herkömmliche Tafelbilder sind, noch dem in De pictura favorisierten Genre der historia entsprechen, ist nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen, welche im wesentlichen den von Alberti in Buch I skizzierten Bildbegriff fokussieren. Dieser ist zu differenzieren sowohl von bestimmten Medien – also z.B. Tafelmalerei,
schen »diagrams« und »representational images« (K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 10), wobei die Kategorie des ›representational image‹ sowohl die individuelle als auch die ideale Abbildung bei Choulant umfaßt. Ähnlich verfährt auch Hall, welcher die »naturalistic illustration« vom »diagram« trennt. (Bert S. Hall: »The Didactic and the Elegant: Some Thoughts on Scientific and Technological Illustrations in the Middle Ages and Renaissance«, in: Brian S. Baigrie [Hg.], Picturing Knowledge. Historical and philosophical problems concerning the use of art in science, Toronto, Buffalo, London 1996, S. 3-39, hier S. 9) Daston/Galison unterscheiden bezüglich dessen, was bei Hall als ›naturalistic illustration‹ und bei Roberts/Tomlinson als ›representational image‹ verhandelt wird, noch einmal zwischen typischer, charakteristischer und idealer Darstellungsform und nähern sich mit dieser Binnendifferenzierung Choulant an. (Vgl. L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«) Entscheidend ist, zumindest an dieser Stelle, jedoch weniger, ob ein Präparat als charakteristisch, typisch, individuell oder ideal präsentiert wird, sondern daß all diese Kategorien selbst einem einzigen Bildbegriff und damit einem einzigen Bildprogramm verpflichtet sind: demjenigen des perspektivisch entfalteten medialen Raums. 173. Voraussetzung dafür ist das Eingeständnis, daß die konkrete künstlerische Praxis selbstredend sowohl zentripetale als auch zentrifugale Tendenzen offenbart, dabei aber zumindest implizit immer einen Rückbezug auf den Bildbegriff Albertis erlaubt. Vgl. dazu etwa: Victor Stoichita: L’instauration du tableau. Métapeinture à l’aube des temps modernes, Paris 1993; W. Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel. Gleichsam ist auch die bis heute anhaltende Prominenz dieses Bildbegriffs aufgezeigt worden, z.B. in: Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt/Main 1997; Lev Manovich: »Eine Archäologie des Computerbildschirms«, in: Kunstforum International 132 (1995), S. 124-135; Matthias Bickenbach/Axel Fliethmann: »Bilderzeit – Korrespondenz – Textraum«, in: dies., Korrespondenzen, S. 7-26. 109
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Fresko und Holzschnitt – als auch von bestimmten Bildmotiven – also z.B. biblischen Szenen, Stilleben und eben auch anatomischen Präparaten. So ist das, was Alberti in seinem Traktat zu leisten beabsichtigt, auch keine Geschichte des Bildes, sondern eine theoretisch fundierte und praktisch operationalisierbare Definition dessen, was ein Bild sei. Ausdrücklich strebt Alberti eine »picturae definitonem«174 an. Alberti übernimmt die ersten beiden Axiome aus Euklids Optik, denenzufolge die Ausbreitung der Sehstrahlen erstens geradlinig und zweitens gebündelt in einem Sehkegel erfolgt, dessen Spitze im Auge und dessen Basis auf der Oberfläche des erblickten Gegenstandes liegt. Daraus leitet er die Definition des Bildes als einem senkrechten Schnitt durch die Sehpyramide ab: »Also sei ein Gemälde die Schnittfläche einer Sehpyramide.«175 Das Bild in der albertinischen Definition stellt also einen frontalen Schnitt durch einen imaginären Körper, nämlich die Sehpyramide, dar und fungiert gleichzeitig als Projektion der Basisfläche, auf welcher der Gegenstand sich befindet. Der entscheidende Schritt Albertis besteht darin, die perspectiva naturalis der Optik mit der perspectiva artificialis der Bildgebung kurzzuschließen und somit die Gesetzmäßigkeiten jener als Konstruktionsbedingungen dieser festzulegen. Dies gelingt ihm mittels einer tatsächlich rahmengebenden Metapher, nämlich derjenigen des Bildes als ›offenem Fenster‹: »Zuerst zeichne ich auf der Fläche, die das Gemälde tragen soll, ein vierwinkliges Rechteck beliebiger Größe: es dient mir gewissermaßen als offenstehendes Fenster, durch welches der ›Vorgang‹ betrachtet wird.«176 Schmeiser hat diesbezüglich von einer nun zumindest scheinbar eröffneten »Identität der Wahrnehmung«177 zwischen dem phänomenologisch konkreten Wahrnehmungsraum und dem perspektivisch entfalteten Bildraum gesprochen. Und genau diese potenziell illusionistische Identität der Wahrnehmung ist es, welche auch als ideale Realisierung der Funktionsbestimmung des Bildes in der
174. Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 232. 175. Ebd., S. 215. 176. Ebd., S. 225. 177. Leonhard Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002, S. 53. 110
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frühneuzeitlichen Anatomie auszumachen ist. Während nämlich Alberti in seiner Bildtheorie darum bemüht ist, Optik und Bildkonstruktion auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist es ein zentrales Anliegen frühneuzeitlicher Anatomen wie Canano, Vesal oder Estienne, die am Seziertisch praktizierte Autopsia bildmedial zu rekonstruieren und sie sich auf der Bildfläche des anatomischen Atlanten immer wieder ereignen zu lassen. Wenn Alberti bezüglich der Malerei feststellt, »dass sie Abwesende vergegenwärtigt«178, dann kommt er damit den Beweggründen der Anatomie, anatomisches Wissen der Logik der Bildfläche anzuverwandeln, sehr nahe. Denn der auf dem Seziertisch präparierte Körper ist ein vergänglicher und nicht immer verfügbarer Untersuchungsgegenstand, welchen es allererst auf der Bildfläche zu bannen gilt. Diesen Umstand berücksichtigt auch Vesal: »But in addition our pictures of the parts of the body will give particular pleasure to those people who do not always have the opportunity of dissecting a human body or who […] cannot bring themselves to the point of ever actually attending a dissection.«179 Zwar privilegiert Vesal, anders als etwa Leonardo180, die autoptische Wissensformation am Seziertisch gegenüber den anatomischen Bildzeugnissen, von denen er sagt: »it was never my intention that students should rely on these without ever dissecting cadavers.«181 Doch macht Vesal an dieser Stelle eine Strategie geltend, die keineswegs darin besteht, den Stellenwert des anatomischen Bildzeugnisses in der Fabrica und damit die Publikation selbst herabzustufen. Vielmehr ist sein Argument genau andersherum darauf angelegt, das anatomische Bildzeugnis in seiner Autorität zu bekräftigen. Denn als Resultat der für Vesal in der Anatomie unumgänglichen und unhintergehbaren autoptischen Wissensformation demonstriert das Bildzeugnis nichts anderes als das, was der Anatom gesehen hat. Es kann idealiter überhaupt nur deshalb anatomisches Wissen über den menschlichen Körper demonstrieren, weil der in Personalunion
178. L.B. Alberti: Die Malkunst, S. 235. 179. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. lvi. 180. Leonardo führt aus: »Und du, der du sagst, es wäre besser, beim anatomischen Sezieren zuzusehen, als diese Zeichnungen anzusehen, du hättest recht, wenn es möglich wäre, all das zu sehen, was meine Zeichnungen in einer einzigen Abbildung zeigen.« (Leonardo: Schriften zur Malerei, S. 284) 181. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body, S. lvi. 111
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operierende Anatom am Seziertisch genau dieses Präparat und damit auch genau dieses offensichtliche anatomische Wissen produziert hat. Nun wird Vesals Strategie deutlich. Anders nämlich als in der Kathederanatomie, von welcher sich Vesal programmatisch distanziert, wird das auf der Bildfläche erscheinende anatomische Wissen zur Überprüfung freigegeben, und es kann nur zur Überprüfung freigegeben werden, weil es dieser selbstverständlich standhalten wird. Es wird nichts anderes zu sehen sein als dasjenige, was auf der Bildfläche demonstriert wird. Während der Überprüfung am Seziertisch findet das auf der Bildfläche präsentierte anatomische Wissen, welches das Wissen um das Präparat ist, schließlich wieder zu sich selbst zurück, indem es sich an genau jenem Ort beweisen läßt, an welchem es aufgeworfen wurde. So darf die Bekundung Vesals, er bevorzuge grundsätzlich die autoptische Wissensformation am Seziertisch dem auf der Bildfläche entfalteten anatomischen Wissen über den menschlichen Körper, letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Fabrica weder Autopsia noch Bildzeugnis als fragwürdig in Hinblick auf die ihnen wie selbstverständlich zugesprochene Unmittelbarkeit problematisiert werden. Gerade diesem perzeptualistischen Konzept der Gleichschaltung von vermeintlich unmittelbarer Sichtbarwerdung in der Wahrnehmung und vermeintlich unmittelbarer Sichtbarmachung im Bild hat Bryson ein Modell entgegengesetzt, welches die perspektivische Bildkonstruktion als eine auf die Logik des Blicks182 zurückzuführende beschreibt. Eben dieser unterliegt auch Albertis Bildbegriff in De pictura. Schon zu Beginn wird deutlich, daß der Blick – hier im strikt albertinischen Sinne verstanden als Möglichkeit des Einfangens von tatsächlich oder grundsätzlich Sichtbarem183 – eine entscheidende Rolle in Albertis Konzept des Bildes als offenem Fenster spielt: »Was aber dem Blick nicht zugänglich ist, geht nach allgemeinem Einverständnis den Maler nichts an.«184 So enthält Albertis Anleitung zur perspektivischen Entfaltung des bildmedialen Raums zwei wesentliche Qualitäten, welche dem Phänomen Blick eigen sind und diesen zumindest implizit als kei-
182. Vgl. dazu: Norman Bryson: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks, München 2001. 183. So heißt es bei Alberti: »[…] gilt für jene äußeren Strahlen, dass sie den gesamten Saum einer Fläche wie mit Zähnen packen und die Fläche selbst in ihrer ganzen Ausdehnung gleichsam mit einem Käfig umgeben.« (L.B. Alberti: Die Malkunst, S. 205) 184. Ebd., S. 195. 112
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neswegs unmittelbar ausweisen, und zwar weder in der perspectiva naturalis der Optik noch in der perspectiva artificialis der Bildkonstruktion. Als diese sind »einerseits der Abstand, andererseits die Stellung des Zentralstrahls«185 aufzufassen. Dabei verdeutlicht die Stellung, daß der Blick gerichtet ist, also absichtsvoll einen Blickwinkel einnimmt. Hingegen verweist der Abstand darauf, daß der Blick eingestellt ist, also absichtsvoll innerhalb eines Blickwinkels Gegenstände in der Ferne oder in der Nähe seines Standpunktes fokussiert und damit stets divergierende Raumverhältnisse schafft: »Wir betrachten mit einem einzigen Blick ja nicht nur eine einzige Fläche, sondern unter Umständen sehr viele.«186 Dies bedeutet, daß der gerichtete, weil einem Zentralstrahl verpflichtete Blick entlang dieses Zentralstrahls eine nahezu unendlich große Anzahl von Bildern einstellen kann, je nachdem, auf welcher horizontalen Schnittebene der imaginären Sehpyramide er verweilt. Nun befindet sich der Augpunkt als Spitze der Sehpyramide außerhalb der bildmedialen Darbietung, so daß der Blick als solcher selbst nicht manifest wird. Er erscheint aber als latenter, da er, gleichsam ortlos im Bild, als Negativ des Bildes sichtbar wird. Auskunft über die im Bild latente, aber ortlose Geste des Blicks stellt sich von daher nur ein angesichts des von ihm Gezeigten, welches auf das Zeigen selbst rückverweist. Boehm erklärt: »Die jeweilige historische Determination der Seherfahrung muß […] an den Bildern selbst abgelesen werden können.«187 Entsprechend lautet die Frage bezüglich der anatomischen Bildzeugnisse also, wessen Blick in welchem Gezeigten auf welche Art und Weise latent ist. Diesbezüglich ließe sich nun die These formulieren, daß es entgegen der in Albertis Konzept der Bildkonstruktion entwickelten Logik des Blicks eben nicht der Blick des eigentlichen Bildproduzenten ist, welchem sich der Betrachter der anatomischen Bildzeugnisse anverwandelt, sondern der Expertenblick des professionellen Anatomen. Für eine solche These sprechen verschiedene Gesichtspunkte, welche sich aus Bildfunktion und Bildstrategien frühneuzeitlicher anatomischer Bildzeugnisse ableiten lassen und somit entscheidend in deren Verfaßtheit als spezifisch anatomisch motiviertem Bildmaterial begründet liegen. So soll das anatomische Bildzeugnis als Repräsentation des als Sachautorität verbürgten Körpers unmittelbare Beweiskraft gegen die schriftlich überlieferten antiken
185. Ebd., S. 209. 186. Ebd., S. 213. 187. Gottfried Boehm: »Sehen. Hermeneutische Reflexionen«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 272-298, hier S. 290. 113
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Personalautoritäten haben, weshalb einzig der Expertenblick des in Personalunion operierenden professionellen Anatomen beweiskräftig sein kann. Eben jene zum Beispiel in der Fabrica programmatisch eingeforderte Personalunion des Anatomen, welcher eigenhändig seziert, demonstriert und doziert, wird auch im anatomischen Atlanten offenbar: Die Bildtafel macht den sezierten Körper sichtbar; daraufhin leistet die Bildlegende die Demonstration der je präparierten Körperteile; dann läßt der schriftliche Kommentar die Darbietung zu einer Lektion werden. Es werden im anatomischen Atlanten also bestimmte Praktiken und Abläufe aus dem anatomischen Theater aufgegriffen und auf der Buchseite um die Bildfläche herum geltend gemacht. Weiterhin ist dieser Expertenblick des professionellen Anatomen im Rahmen der Autopsia kurzzuschließen mit der perspektivischen Bildkonstruktion, nämlich dahingehend, daß er gleichsam sowohl gerichtet, also zum Beispiel geschärft auf neuralgische Punkte in den Schriften antiker Personalautoritäten, als auch eingestellt, also zum Beispiel am geöffneten Körper Haut, Muskeln, Eingeweide oder Knochen fokussierend, ist. Und nicht zuletzt wird der eigentliche Bildproduzent beispielsweise bei Vesal überhaupt nicht genannt.188 So wird der professionelle Anatom hier als Autor nicht nur des Präparats am Seziertisch und des Textes in dem anatomischen Atlanten bekräftigt, sondern er kann auch als ein dem Betrachter der Bildzeugnisse auf der Bildfläche quasi unmittelbar und unabläßlich seinen Blick zur Verfügung stellender aufgefaßt werden. Vielleicht ist es aber auch weniger der Blick des professionellen Anatomen, welcher anatomisches Körperwissen auf die Bildfläche bringt, als der Blick der Anatomie, also der disziplinierte und disziplinäre anatomische Blick. Denn ähnlich wie bezüglich der autoptischen Wissensformation und des anatomischen Theaters läßt sich auch über den perspektivisch entfalteten medialen Raum sagen, daß er dem Blick zwar eine Autonomie einräumt, ihn im Rahmen dieser Autonomie aber derart automatisiert, daß er sich nicht anders als perspektivisch geregelt manifestieren kann. Auf diesen Umstand
188. Zu der durchaus leidigen Diskussion über den oder die Bildproduzenten der Fabrica vgl. u.a.: F. Guerra: »The identity of the artists«; M. Kemp: »A drawing for the Fabrica«. Die in der Forschung bislang wenig beachtete Tatsache, daß sich das Verhältnis zwischen Kunst und Anatomie, zwischen professionellen Künstlern und professionellen Anatomen im 16. Jahrhundert keineswegs als unproblematisch und ganz sicher nicht, wie gerne behauptet, als harmonisch erweist, wird in Abschnitt 4.2. Thema sein. 114
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hat etwa Panofsky aufmerksam gemacht, wenn er über die Perspektive schreibt: »verdammte Plato sie schon in ihren bescheidenen Anfängen, weil sie die ›wahren Maße‹ der Dinge verzerre, und subjektiven Schein und Willkür an die Stelle der Wirklichkeit […] setze, so macht die allermodernste Kunstbetrachtung ihr gerade umgekehrt den Vorwurf, daß sie das Werkzeug eines beschränkten und beschränkenden Rationalismus sei.«189 Tatsächlich stellt das Verfahren der perspektivischen Bildkonstruktion eine Verschränkung von subjektivistischen und rationalistischen, mithin auch von autonomen und automatisierten Momenten dar. Denn einerseits führt sie den bildmedialen Raum immer wieder notwendig auf das eine Auge eines zu einem Zeitpunkt einen Blick vollziehenden Betrachters zurück.190 Andererseits entfaltet sie eben diesen bildmedialen Raum ebenso notwendig nach den immer gleichen Prinzipien.191 Insofern erlaubt sie eine subjektive Betrachtung dergestalt, daß ein jeder scheinbar unmittelbar der Bildfläche anheimgeben und auf dieser zeigen kann, was er selbst gesehen hat. Trotzdem aber kann ein jeder nur dasjenige zeigen, welches sich
189. Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1964, S. 99-167, hier S. 125. Im Rahmen dessen, was Panofsky als ›allermodernste Kunstbetrachtung‹ bezeichnet, entwickelt sich in der Folge ein bis heute anhaltender, äußerst umfangreicher und äußerst kritischer Apparat zur perspektivischen Bildkonstruktion. Dieser kann hier nicht in seiner Breite diskutiert werden. Vgl. dazu aber: Gottfried Boehm: Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 1969; Hubert Damisch: The Origin of Perspective, Cambridge/Mass. 1994; James Elkins: The poetics of perspective, Ithaca, London 1994; N. Bryson: Die Logik des Blicks; L. Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive. 190. Winter diagnostiziert hier ein »Beliebigkeitspotential« der perspektivischen Bildkonstruktion: »Denn mit der perspektivisch orientierten Sichtweise kam immer nur ein (subjektiv) bestimmter, d.h. jeweils ausgewählter Aspekt von Welt in den Blick, folglich nicht alle Aspekte bzw. das Ganze. Man sah einansichtig, die Welt als jeweilige.« (Gundolf Winter: »Das Bild zwischen Medium und Kunst«, in: ders./ Yvonne Spielmann [Hg.], Bild – Medium – Kunst, München 1999, S. 15-30, hier S. 22) 191. Boehm spricht diesbezüglich von einer »Rationalisierung […], die das reale Sehen (die perspectiva videndi) mit dem Sehen von dargestellter Realität (der perspectiva pingendi) zur Deckung zu bringen erlaubt.« (Gottfried Boehm: »Vom Medium zum Bild«, in: G. Winter/Y. Spielmann, Bild – Medium – Kunst, S. 165-177, hier S. 173) 115
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den Gesetzen der geregelten Perspektivkonstruktion auf der Bildfläche anverwandelt. Von daher manifestiert sich die Verschränkung von autonomem und automatisiertem Blick vor allem in der der Perspektivkonstruktion im albertinischen Sinne inhärenten Reduktion des Sehens auf ein Auge und auf einen unbewegten Betrachterstandpunkt sowie in der Vorgängigkeit des konstruierten bildmedialen Raumes gegenüber den diesem eingeschriebenen Gegenständen. Panofsky fragt folgerichtig, »ob die perspektivische Anlage des Gemäldes sich nach dem tatsächlichen Standpunkt des Betrachters zu richten habe«192, oder »ob umgekehrt der Betrachter sich ideell auf die perspektivische Anlage des Gemäldes einstellen müsse.«193 Da anatomische Bildzeugnisse aber privilegiert auf der Buchseite des anatomischen Atlanten präsentiert werden, es sich also um Bilder in Büchern, nicht um Bilder in Sakral- oder Profanbauten handelt, stellt sich diese Frage hier kaum. Denn die Publikationsform des Atlanten erlaubt es, unzählige mögliche Blicke auf den perspektivisch entfalteten medialen Raum zu werfen. Von daher ist der Betrachter des anatomischen Atlanten, welcher immer auch und immer wieder ein Leser ist, stets von neuem dazu angehalten, sich dem der ›perspektivischen Anlage‹ eingelagerten Blick des professionellen Anatomen oder der professionellen Anatomie anzuverwandeln und sich damit gleichzeitig dessen oder deren privilegierten Standpunkt einzugestehen. Wenn die Perspektivkonstruktion von Panofsky als »Befestigung und Systematisierung der Außenwelt«194 bezeichnet wird, dann heißt dies schließlich auch, daß dem Betrachter – sofern er den von dem Bild geforderten optimalen Standpunkt einnimmt, sich also selbst regelrecht und regelgerecht verortet – die in dem perspektivisch entfalteten Raum angeordneten Gegenstände verfügbar werden: »Macht über die Dinge sollte auch der Betrachter im zentralperspektivisch konstruierten Bild gewinnen, wurde doch alles auf ihn hin, sein Sehen geordnet, nahm er so alle Dinge optisch in Besitz.«195 Diese optische Inbesitznahme beruht ganz wesentlich auf dem Umstand, daß alle Gegenstände, welche auf der Bildfläche erscheinen sollen, notwendig der Logik des perspektivisch entfalteten medialen Raums verpflichtet sind.196 Insofern sind es nicht die fo-
192. 193. 194. 195. 196.
E. Panofsky: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, S. 123. Ebd., S. 124. Ebd., S. 123. G. Winter: »Das Bild zwischen Medium und Kunst«, S. 25. Zum Verhältnis von Raum und Körper in der Perspektivkonstruktion vgl. 116
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kussierten Gegenstände, welche den Raum definieren, sondern es ist genau umgekehrt der Raum, in welchen sich die Gegenstände einschreiben müssen, um auf der Bildfläche zur Erscheinung zu kommen. Deshalb präfiguriert der perspektivisch entfaltete mediale Raum alles, was in ihm und nur durch ihn zur Erscheinung kommen kann und unterwirft es der Logik des Bildes.197 Dazu bemerkt Müller: »Durch das ganze Regelwerk der geometrischen Perspektivkonstruktion wird eine Notation der (Bild-) Welt erreicht […], die für alles Dargestellte gleichermaßen gilt. Was sich dieser Geltung entzieht, was davon divergiert, treibt ins ikonische Abseits.«198 Diese scheinbar selbstverständliche Ordnung der Sichtbarkeit ist es,
etwa: »Durch die jetzt erstmals vorhandene Möglichkeit einer exakten Ortsbestimmung der Dinge in einem grenzenlosen Netzwerk von Koordinaten und Geraden […] gewinnen die vielen Dinge der Welt – nun als Objekte betrachtet – lokale Eindeutigkeit, Festigkeit und Stand.« (Axel Müller: »Blickwechsel. Überlegungen zum ›iconic turn‹ in der Moderne«, in: Tilman Borsche [Hg.], Blick und Bild im Spannungsfeld von Sehen, Metaphern und Verstehen, München 1998, S. 95-112, hier S. 103f.) Und weiter: »Der Raum hat nun diejenige Struktur und Bedeutung angenommen (bzw. gewonnen), welche er im neuzeitlichen Gegenstandsbewußtsein landläufig hat: nämlich als eines gedanklich den Körpern Voraufliegendes.« (Ebd., S. 104) Ähnlich argumentiert schon Hetzer: »Das Bild wird räumlich, einheitlich räumlich. Der Raum ist eine Ordnungsform, die erscheinenden Dinge zu sehen, eine Ordnungsform, die auf ein einfaches naturwissenschaftliches Prinzip gebracht ist.« (Th. Hetzer: Zur Geschichte des Bildes, S. 65) Weiter führt er aus: »Die Körper werden in dem Raume aufgestellt und in die Fläche mit geometrischen Mitteln geordnet, ohne von sich aus gestaltend in Raum und Fläche einzugreifen.« (Ebd., S. 66) 197. Florenskij hat bereits 1920 ausgeführt, man könne ein Ei nur mittels vollständiger Pulverisierung der Schale tatsächlich auf die Bildfläche bekommen. (Vgl. dazu: Pavel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive. Texte zur Kunst, München 1989, S. 63) Boehm spricht diesbezüglich von einer Verzerrungsregel: »Denn der richtige Durchblick kommt dann zustande, wenn der Künstler die Kunst der systematischen Verzerrung beherrscht. Falschheit hinzunehmen ist die Voraussetzung eines ›realistischen‹, d.h. ›richtigen‹ Bildsehens […] Pro-spectiva, im Sinne der Renaissance meint aber Ermöglichung eines Durchblicks durch Beherrschung der Verzerrungsregel.« (Gottfried Boehm: »Die Bilderfrage«, in: ders., Was ist ein Bild?, S. 325-343, hier S. 337) Diesen Aspekt unterstreicht auch Elkins: »All representations of the body distort it by pressing it flat.« (James Elkins: Pictures of the body. Pain and metamorphosis, Stanford 1999, S. 282) 198. A. Müller: »Blickwechsel«, S. 103. 117
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welche die sich programmatisch auf die Autopsia berufende Anatomie des 16. Jahrhunderts eben nicht zuletzt auch auf der Bildfläche sicherstellen möchte, indem sie Blicke im Namen der autoptischen Wissensformation genehmigt und gleichzeitig regelt, feststellt und vorschreibt. Der Bildfläche des Bildzeugnisses ist ein Expertenblick eingelagert, der notwendig weiß, worauf es ankommt, und der ausschließlich sieht, was zu zeigen ist. Diese Verschränkung von Autonomie und Automatismus des Blicks verdeutlicht auch, daß es sich bei den Bildzeugnissen wohl eher um den Blick der Anatomie denn um den Blick des professionellen Anatomen handelt. Oder genauer: Der disziplinierte Blick des Anatomen verkörpert den disziplinären Blick der Anatomie, welchem er sich professionell verschrieben hat. Zwar ist es auf den Bildzeugnissen etwa der Fabrica, in welcher der professionelle Bildproduzent nicht genannt wird, der Expertenblick Vesals, welcher das im perspektivisch entfalteten Raum angeordnete Wissen über den Bau des menschlichen Körpers autorisiert. Tatsächlich aber könnte es der Blick eines jeden sein, wenn er sich diesem Expertenblick nur anverwandele, wenn er seinen Blick nur so diszipliniere, daß er dem disziplinären Blick der Anatomie entspricht. Dazu ist eine Schulung nötig, und darin besteht ein wesentliches Moment dieser Bildzeugnisse. Wenn Boehm also feststellt: »Wer im strikten Sinne perspektivisch konstruiert, sieht alles nur daraufhin an«199, dann gilt diese Feststellung im weitest überhaupt nur möglichen Sinne für das anatomische Bildzeugnis. Denn genau darum geht es letztendlich in der visuellen Kultur der Anatomie, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert ausformt: Präparate sollen dem anatomischen Expertenblick anheimgegegeben werden; der anatomische Expertenblick soll sich auf der Bildfläche manifestieren; die sezierten Körper sollen auf der Bildfläche erscheinen; die perspektivische Entfaltung des medialen Raums soll diesen als einen disziplinierten und disziplinären Raum des Wissens ausweisen; die in diesem Raum des Wissens abgestellten Körper sollen verortbar und verfügbar sein, mithin wiedererkennbar. Schließlich sollen in der visuellen Kultur der Anatomie, wie sie sich im 16. Jahrhundert auch bildmedial manifestiert, Blicke immer wieder genehmigt werden; sie sollen auf der Bildfläche miteinander gleichgeschaltet und miteinander kurzgeschlossen werden; sie sollen miteinander vergleichbar sein und sich in immer gleichen Koordinaten bewegen; sie sollen austauschbar sein und verwechselbar. Und professionelle Anatomen sollen sich einander solche Blicke zugestehen können, zu denen sie einen vermeintlich unmittelbaren
199. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 222. 118
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Zugang haben, der es ihnen erlaubt, sich in demjenigen Raum des Wissens, den sie bildmedial entfalten, zu orientieren. Wenn es der visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert also darum geht, anatomisches Wissen bildmedial einzuräumen, dann ist der albertinische, sich aus der Perspektivkonstruktion ableitende Bildbegriff dafür eine unumgängliche Voraussetzung. Dieser von der Anatomie bildmedial eröffnete Raum anatomischen Wissens erweist sich jedoch als nicht durchgehend dekkungsgleich mit der Konzeption des Bildes, wie sie von Alberti in De pictura formuliert worden ist. Selbst wenn der albertinische Bildbegriff des ›offenen Fensters‹ als notwendige Voraussetzung für die Einlösung der bildmedialen Verpflichtung eines sich programmatisch auf die Autopsia berufenden Anatomieverständnisses angesehen werden muß, so ist er doch aus verschiedenen Gründen nicht hinreichend für die angestrebte Profilierung spezifisch anatomisch motivierter Bildgebung. Ein bestimmtes Deutungsmuster, demzufolge sich frühneuzeitliche anatomische Bildzeugnisse problemlos in einen ihnen vorgängigen künstlerischen Bildbegriff eingeschrieben hätten, wird vor allem von der Kunstgeschichte immer wieder gerne vertreten.200 Dies dürfte nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, daß in der Kunstgeschichte mit Vorliebe jene anatomischen Ganzkörperdarstellungen – wie etwa die Serie der Muskelmänner aus Buch II der Fabrica (Abb. 7) – einer ikonographischen Analyse unterzogen worden sind, welche in der Regel nur einen verschwindend geringen Anteil am Bildkatalog eines anatomischen Atlanten für sich beanspruchen können. Hingegen soll im folgenden anhand zweier Bildbeispiele aufgezeigt werden, daß sich anatomische Bildzeugnisse zwar einerseits in einen künstlerischen Bildbegriff einschreiben und dabei auf von der Kunst erprobte Bildstrategien zurückgreifen, daß dieser Bildbegriff andererseits aber gerade im Rahmen eines offensichtlich anatomisch indizierten Funktionszusammenhanges gleichsam differenziert und modifiziert wird. Indem bei Albertis Bildbegriff die perspectiva naturalis mittels der Metapher des ›offenen Fensters‹ mit der perspectiva artificialis kurzgeschlossen wird, verpflichtet er das Bild auf eine imaginäre Kohärenz von Zeitpunkt, Blickwinkel und Bildraum. Das heißt, daß zu einem Zeitpunkt stets nur ein Blick an der Generierung eines perspektivisch entfalteten bildmedialen Raums beteiligt ist. Über diese für die Plausibilität des albertinischen Bildbegriffs zentrale
200. Vgl. dazu etwa: E. Panofsky: »Artist, scientist, genius«; K. Krüger: »Mimesis und Fragmentation«; L. Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive. 119
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Prämisse aber gehen frühneuzeitliche anatomische Bildstrategien in Form einer produktiven, d.h. spezifizierenden Aneignung von Bildwissen oftmals hinweg. Betrachtet man die in der Mitte des 16. Jahrhunderts im Auftrag des Anatomen Bartholomeo Eustachio von Giulio de Musi als Kupferstich angefertigte, aber erst 1714 von Giovanni Maria Lancisi in den Tabulae anatomicae201 publizierte Bildtafel zu Lungen, Zwerchfell und Herz (Abb. 8), so läßt sich nicht nur eine Transformation des Zeitpunktes in einen Zeitraum ausmachen, sondern auch eine empfindliche Kollision zwischen eingenommenem Blickwinkel und entfaltetem Bildraum. Denn die sechs perspektivisch erfaßten Figuren (I-VI), welche sowohl verschiedene Ansichten, sprich: Blickwinkel, als auch verschiedene Stadien der Zergliederung, sprich: Zeitpunkte, eines einzigen Präparats anzeigen, sind gleichsam Teil eines Bildzeugnisses, sprich: Tafel XV. Darauf deutet konkret zweierlei hin. Erstens rahmt das für die Legende angelegte und von Lancisi auch tatsächlich aufgenommene Koordinatensystem alle sechs Figuren und ist von daher auch für alle sechs Figuren als Bestandteil eines Bildzeugnisses gleichermaßen von Belang.202 Zweitens unterliegen alle sechs Figuren den gleichen, aber nicht denselben Lichtverhältnissen, was an dem stets auf die Figuren als solchen beschränkten, aber scheinbar durch eine gemeinsame Lichtquelle bedingten Schattenwurf abzulesen ist. In den Figuren zu den Muskeln der Zunge aus Buch II der Fabrica (Abb. 9) lassen sich neben der in anatomischen Bildzeugnissen stets virulenten Problematik des Verhältnisses zwischen Blickwinkel, Zeitpunkt und Bildraum noch weitere spezifische Qualitäten anatomisch motivierter Bildstrategien festmachen. Denn hier kehrt sich der im Bildzeugnis latente Expertenblick – also der durch den disziplinären Blick der Anatomie disziplinierte Blick des professionellen Anatomen – durch Nahaufnahme und Vereinzelung von Or-
201. Jo. Maria Lancisius (Hg.): Tabulae Anatomicae clarissimi viri Bartholomaei Eustachii, Rom 1714. 202. Interessant ist dabei die Tatsache, daß der schriftliche Kommentar Eustachios zu diesen Tafeln nicht erhalten ist. Insofern hatten sowohl Lancisi als auch weitere, spätere Herausgeber diese selbst zu kommentieren bzw. nach geeigneten Kommentatoren Ausschau zu halten. Gerade vor dem Hintergrund der Frage nach dem im anatomischen Bildzeugnis latenten Expertenblick des professionellen Anatomen in Verbindung zu Legende und Kommentar ließe sich die hier nicht weiter zu diskutierende These aufstellen, daß das die Bildtafel rahmende Koordinatensystem als quasi stumme Legende aufzufassen ist und sich die Zeigefinger Eustachios und Lancisis bei der Demonstration dieses Präparats gewissermaßen überkreuzen. 120
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ganen gegen den Betrachter. Die größte Nähe erscheint als die größtmögliche Ferne, da der illusionistische Kurzschluß zwischen perspektivisch entfaltetem Bildraum und phänomenologisch konkretem Wahrnehmungsraum empfindlich gestört und nicht mehr auf der Bildfläche selbst sichergestellt werden kann. Das scheinbar selbstverständliche Bild erlaubt keinen ungestörten Durchblick durch das ›offene Fenster‹ mehr, sondern es bedarf bestimmter bildkultureller Strategien, um überhaupt bedeutsam gestaltet und sinnhaft verhandelt werden zu können. Zum einen betrifft dies den ikonischen Funktionszusammenhang der drei Figuren untereinander, welche tatsächlich zu zwei Bildzeugnissen gehören.203 Zum anderen betrifft dies die dem anatomischen Atlanten inhärenten Strategien der Legende und des schriftlichen Kommentars, welche allererst sowohl zu der Einsicht in den Funktionszusammenhang der Figuren untereinander als auch zu der Einlösung einer zumindest möglichen ›Identität der Wahrnehmung‹, wie sie laut Schmeiser der Programmatik der Perspektivkonstruktion inhärent ist, führen. So weist die Legende A – welches als einziges Körperteil in allen drei Figuren präsentiert und demonstriert wird – folgendermaßen aus: »This is the part of the tongue that can be seen in the open mouth before cutting begins.«204 Die Funktion des Kommentars hingegen besteht darin, die drei Figuren bezüglich des Blickwinkels und des Stadiums der Zergliederung zu verorten. So heißt es: »Figure 1 shows the tongue and its muscles detached from the rest of the body and viewed from the right side.«205 Die zweite Figur, so führt Vesal aus, sei zwar rückgebunden an den gleichen Blickwinkel, aber: »[…] we have bent upwards the third [E] and seventh [G] muscles of the tongue to give a rather clear view of the nature of the first [D] and ninth [H] muscles than is afforded in figure 1.«206 Zu der dritten Figur schließlich bemerkt Vesal: »all nine muscles of the tongue have been cut away and the tongue is seen divided in two lengthwise.«207 Beide Beispiele – sowohl die Bildtafel XV Eustachios als auch die Figuren zu den Muskeln der Zunge aus Vesals Fabrica – ver-
203. Die Figuren I und II werden durch einen einigermaßen paradoxen Schattenwurf miteinander kurzgeschlossen, während Figur III im Original erst auf der nächsten Seite erscheint. Vgl. dazu: Andreas Vesalius: De Humani corporis fabrica Libri septem, Basel 1543, S. 252f. 204. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body II, S. 195. 205. Ebd. 206. Ebd. 207. Ebd. 121
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deutlichen die Tatsache, daß anatomische Bildzeugnisse als solche immer nur im Rahmen einer spezifisch anatomisch ausgeformten visuellen Kultur intelligibel gestaltet werden können. So ergeben sich unter besonderer Berücksichtigung von Bildfunktion und Bildstrategien wesentliche Einsichten in die mediale Verfaßtheit frühneuzeitlicher Anatomie. Dies betrifft zum einen den Status des Bildzeugnisses für die Produktion und Organisation spezifisch anatomischen Körperwissens und erlaubt zum anderen eindeutige Rückschlüsse auf dessen Implementierung in der visuellen Kultur der Anatomie. Denn diese generiert ein anatomisch spezifiziertes Bildwissen, welches auf den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation zugeschnitten ist und sich sowohl von vereinzelten früheren Bildtafeln, welche anatomisches Wissen präsentieren, als auch von geläufigen künstlerisch motivierten Bildpraktiken unterscheidet. Ein wesentliches Charakteristikum aller anatomischen Bildzeugnisse – und dies wird später auch für anatomisch motivierte Bildgebung durch die Photographie, die Röntgentechnik oder die Computertomographie gelten – ist dabei die Legende. Diese wird zwar nicht erst im 16. Jahrhundert eingeführt, doch hat sie seit der sich der autoptischen Wissensformation verpflichtenden Anatomie des 16. Jahrhunderts eine gänzlich andere Funktion, als dies in früheren schematischen Zeichnungen der Fall gewesen ist. Denn nun ist es nicht mehr der Text, aus welchem das Bild als Illustration erwächst, sondern es ist idealiter genau umgekehrt das Bild, auf welches sich die Legende in demonstrativer Funktion bezieht. Dabei lassen sich schon im 16. Jahrhundert mannigfaltige Strategien ausmachen, die aus dem anatomischen Theater entlehnte demonstrative Geste am nun auf der Bildfläche erscheinenden Präparat zu vollziehen. Neben der in der Fabrica Vesals vorherrschenden Strategie, das Präparat zu alphabetisieren und damit buchstäblich zu bezeichnen sowie dem Koordinatensystem der Bildzeugnisse Eustachios, in welchem das Präparat einer visuellen Rasterfahndung unterworfen wird, ist vor allem eine Linienführung vom demonstrierten Präparat zur Legende häufig anzutreffen, so etwa bei den Knochenmännern aus Estiennes Dissectione (Abb. 10). Dies verdeutlicht nicht zuletzt, daß anatomisch motivierte Bildgebung sich zwar in einen albertinischen Bildbegriff einschreibt, diesen aber gleichsam den von ihr definierten, dem Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation spezifischen Bildfunktionen dienstbar macht. Anders schließlich als in Albertis bevorzugter Bildgattung, der historia, steht das anatomische Bildzeugnis in einem gänzlich anderen Textbezug, welcher jenseits einer wie auch immer durch die inventio des Künstlers gestalteten Bilddarbietung weder 122
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biblisch noch antik-mythisch, sondern in extremis – also etwa bei Nahaufnahmen von vereinzelten Organen – überhaupt nicht allegorisch-ikonographisch zu deuten ist. Auch mit den frühen anatomischen Bildzeugnissen emanzipiert sich das Bild, ähnlich wie schon in der Porträtmalerei und im Stilleben, von einer humanistisch motivierten Schriftkultur, denn es geht nun auch nicht mehr idealiter auf in der Darstellung biblischer und antik-mythischer Szenen oder in der Illustration philologisch aufbereiteter Schriften antiker anatomischer Personalautoritäten. Seit der sich programmatisch auf die Autopsia berufenden Anatomie des 16. Jahrhunderts ist Anatomie also über den Körper im Bilde, und zwar notwendigerweise buchstäblich. Das anatomische Wissen erscheint im 16. Jahrhundert erstmals privilegiert auf der Bildfläche und ist seitdem von dieser nicht mehr wegzudenken. Gleichwohl ist diese Bildfläche, auf welcher anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers präsentiert wird, weder eine stabile noch eine unproblematische, denn sie unterliegt, wie noch zu zeigen sein wird, diversen medientechnischen und bildkulturellen Transformationen. Wer jedoch Anatomie betreiben und am anatomischen Diskurs teilhaben möchte, muß sich ein Bild von dem Körper am Seziertisch machen und dafür Sorge tragen, daß sich dieses Bild auf der Bildfläche eines anatomischen Atlanten oder Traktats medial materialisiere. Das Bild wird zur Autorität in der Anatomie gerade deshalb, weil es die Sachautorität des sezierten Körpers scheinbar unmittelbar repräsentiert. Von daher verwundert es kaum, daß seit dem 16. Jahrhundert eine Bilderflut nach der anderen über die Anatomie hinweggeht. Und es verwundert auch kaum, daß es seit der Publikation von Vesals Fabrica im Jahre 1543 nur wenige nicht mit einem umfangreichen Bildkatalog ausgestattete anatomisch motivierte Publikationen gegeben hat, Dabei sind prominente Ausnahmen am ehesten noch im 16. Jahrhundert zu finden, darunter etwa Realdo Colombos De re anatomica aus dem Jahre 1559. Schließlich verwundert es auch nicht, daß von Haller in seiner 1770 für den Ergänzungsband der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert verfaßten ›Geschichte der Anatomie‹ von einem Anatomen des 17. Jahrhunderts berichtet, der in den Augen von Hallers durchaus über den Körper im Bilde gewesen, aber nicht auf der Bildfläche der Anatomie erschienen ist. Angesichts dessen schlußfolgert von Haller: »Domenico Marchetti […] genießt nicht das Ansehen, das er verdiente, vielleicht einzig deshalb, weil er keine Bilder seiner Entdeckungen stechen ließ.«208
208. A.von Haller: »Geschichte der Anatomie«, S. 24. 123
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
3. Der anatomische Atlas aus medientechnischer Perspektive: Datenerhebungsverfahren und druckgraphische Reproduktionstechniken 3.1 Bilder in Büchern: zum Verhältnis von Medienarchäologie und Publikationsformen »Das Projekt einer Geschichte der wissenschaftlichen Publikation ist weder ein bibliographischer Positivismus, noch eine bibliophile Ästhetisierung des Wissens.«1 Die Bezeichnung ›anatomischer Atlas‹ impliziert für anatomisch motivierte Publikationen des 16. Jahrhunderts einen anachronistischen Begriffsgebrauch. So taucht die Bezeichnung ›Atlas‹ erstmalig in Gerhard Mercators Weltkarte von 1596 auf und findet vor allem seit dem frühen 18. Jahrhundert eine weite Verbreitung in astronomischen Kartenwerken. Dazu bemerken Daston/Galison: »Der Begriff ist anscheinend auf alle illustrierten wissenschaftlichen Arbeiten im mittleren neunzehnten Jahrhundert übertragen worden […] Als Text und Abbildung zu einem einzigen, oft überdimensionalen Band verschmolzen, begann Atlas für das ganze Werk zu stehen und Atlanten für das ganze Genre solcher wissenschaftlichen Bildbände.«2 So unterscheidet sich der anatomische Atlas von einem anatomischen Sektionshandbuch oder Lehrbuch. Ein anatomischer Atlas kann auf der anderen Seite jedoch – wie etwa bei Vesal und Estienne – auch praktische Hinweise für die konkrete Sektion beinhal-
1. M. Cahn: Der Druck des Wissens, S. 31. 2. L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«, S. 36. 125
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ten, oder – wie etwa in Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen von 1912 oder in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977 – eine Einführung in die technischen Grundlagen der zur Anwendung gebrachten Datenerhebungstechnologie leisten. Sein primäres Ziel jedoch besteht in der je vollständigen, historisch gleichwohl quantitativ als auch qualitativ variablen Katalogisierung eines bestimmten und immer erst zu bestimmenden Untersuchungsgegenstandes. Darüber geben bisweilen schon die Titel einschlägiger Atlanten Auskunft, darunter in Hinblick auf den gesamten menschlichen Körper etwa: Estiennes De la dissection des parties du corps humain von 1546, Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild von 1926 oder die Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977. Und in Hinblick auf systematische oder topographische Aspekte des Körpers etwa: Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio von um 1541, Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems des menschlichen Körpers von 1861 oder Prescher/Bohndorfs Radiologische Anatomie und Topographie des Halses von 1996. In diesem Kontext sind durchaus auch ebenfalls bildmedial gestützte Publikationen wie Taschenatlanten zu nennen, etwa das Epitome Vesals von 1543 oder der Taschenatlas der Röntgenanatomie von Möller aus dem Jahre 1991. Wenn die Anatomie mit der Ausgestaltung der ersten provisorischen anatomischen Theater zu Beginn und mit der Errichtung der ersten permanenten anatomischen Theater gegen Ende des 16. Jahrhunderts einen ihr eigenen Veranstaltungsort ausformt, so entsteht gewissermaßen dazwischen mit den ersten Publikationen, welche trotz eines anachronistischen Begriffsgebrauchs einigermaßen problemlos als ›anatomische Atlanten‹ bezeichnet werden können, eine der Anatomie eigene Publikationsform.3 Deren wesentliches
3. Es überrascht nicht, daß schon das Titelbild früher anatomischer Atlanten als inszenierte Schwelle zum anatomischen Theater erscheint, so etwa beispielhaft in Vesals Fabrica von 1543, wo sich der Betrachter tatsächlich nicht mehr im anatomischen Theater, aber auch noch nicht im anatomischen Atlanten befindet. Die Beispiele für die Inszenierung des anatomischen Atlanten als einem Abonnement auf Lebenszeit für das an sich zeitlich und räumlich verortete und also begrenzte, nicht wiederholbare Spektakel im anatomischen Theater sind zahlreich und gerade in der frühen Neuzeit oftmals Programm auf den Titelbildern einschlägiger Atlanten. Darüber hinaus lassen einige Titel frühneuzeitlicher Atlanten erkennen, daß eine quasi unmittelbare Verschränkung zwischen anatomischem Atlanten und anatomischem Theater angedacht worden ist, so etwa in Bauhins Theatrum anatomicum von 1605 126
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
Merkmal besteht in ihrer primär bildmedialen Ausrichtung, wodurch sich der anatomische Atlas von frühen illustrierten Abhandlungen zur Anatomie, etwa Berengarios Commentaria von 1521, unterscheidet.4 Für eine Annäherung an das, was ein anatomischer Atlas sei, bieten sich also folgende Koordinaten an: ein gedrucktes Werk in Buchform, in dessen paratextuellem Apparat – in der Regel ein Titelbild oder Titelblatt, ein Vorwort, bisweilen eine Widmung – ein Autor und/oder Herausgeber, ein Erscheinungsort und ein Erscheinungsjahr ausgewiesen sind. In dieser Publikationsform wird anatomisch motiviertes Bildmaterial – das heißt: Bildzeugnisse, Photographien, Röntgenbilder, Computertomogramme usf. – mit der Funktion katalogisiert, bestimmte Teile des menschlichen Körpers sichtbar zu machen. Dieses Bildmaterial ist nahezu ausschließlich mit einer Bildlegende und bisweilen mit einem schriftlichen Kommentar versehen. Das heißt aber gerade nicht, daß die Anatomie in der oder durch die Publikationsform des anatomischen Atlanten notwendig und seit der frühen Neuzeit fortdauernd eine Bildtheorie formuliert hätte. Tatsächlich nämlich findet in der Anatomie eine explizite bildtheoretische Reflexion über die von ihr zur Anwendung gebrachten Bildmedien und deren Konsequenzen für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers kaum statt. Dieser Umstand zeichnet sich schon während der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert ab, und an ihm hat sich bis heute nur wenig geändert, wenngleich Anatomie mittlerweile unter gänzlich anderen bildmedialen Vorzeichen agiert. Während allein aus der italienischen Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts unzählige Traktate, Manifeste und Schriften vorliegen, welche Barocchi in ihren Publikatio-
oder in Fludds Anatomiae amphitheatrum von 1623. Die Inszenierung des anatomischen Atlanten als anatomischem Theater ist allerdings nicht auf die frühe Neuzeit beschränkt und findet selbst unter gänzlich veränderten bildmedialen Vorzeichen ihre Fortsetzung etwa im Rahmen des VHP. So wird dem VHP der Status eines »global amphitheater able to serve an unlimited audience«(V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xii) beigemessen. 4. Dazu führen Daston/Galison aus: »Was immer der Umfang und die erklärte Funktion des Textes in einem Atlas ist (der zwischen langen und wesentlichen bis hin zu nichtexistierenden und verschmähten Texten variiert), die Illustrationen haben die zentrale Rolle inne.« (L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«, S. 37) 127
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nen Scritti d’arte del Cinquecento5 und Trattati d’arte del Cinquecento6 anthologisiert hat, beschränkt sich die anatomisch motivierte Bildgebung dieser Zeit auf die Definition einer Bildfunktion. Darüber geben etwa Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio, Vesals Fabrica oder Estiennes Dissection nachdrücklich Auskunft. Schon hier erscheint anatomisch motivierte Bildgebung, in der frühen Neuzeit verkörpert vom anatomischen Bildzeugnis, als alternativlos, somit selbstverständlich und offensichtlich. Bildmedien bleiben aber nicht nur in anatomisch motivierter Bildgebung der frühen Neuzeit – zumindest auf den ersten Blick – bildtheoretisch unhinterfragt. Eine veritable, programmatisch formulierte Bildtheorie findet weder im 16. Jahrhundert noch später, etwa im Rahmen der Etablierung der Röntgentechnik oder der Computertomographie, statt. Am ehesten ließe sich eine solche zur Sprache kommende Bildtheorie noch in den Diskussionen über den Einsatz der Photographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachen. Erstaunlicherweise aber, dies wird zu zeigen sein, kollidiert gerade hier eine einigermaßen explizite mit einer impliziten Bildtheorie, welche sich in medial manifesten Bildpraktiken zeigt. Eben diese in Bildpraktiken manifeste und durch Bildpraktiken ausgeformte Bildtheorie der Anatomie gilt es im Rahmen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens kenntlich zu machen. Denn sollte auch eine solche implizite Bildtheorie nicht vorliegen, dann würde das bedeuten, daß die Anatomie über gar keine Bildtheorie und damit auch über gar kein Bildwissen verfügen würde. Dadurch indes würde die Geschichte anatomisch motivierter Bildgebung, wie sie sich in der Publikationsform des anatomischen Atlanten seit der frühen Neuzeit materialisiert, zu einem einzigen und fortlaufenden Zufallsprodukt geraten. Dies wäre tatsächlich fatal, vor allem dann, wenn man bedenkt, als wie kostenaufwändig und arbeitsintensiv sich die Publikationsform des anatomischen Atlanten seit Jahrhunderten erwiesen hat. Dies wird schon deutlich anhand des Briefs, welchen Vesal an seinen Verleger in Basel adressiert und welcher von diesem der Fabrica vorangestellt wird.7 Dieser Brief gibt nachdrücklich Auskunft darüber, daß der professionelle Anatom nicht nur sezieren,
5. Vgl. Paola Barocchi (Hg.): Scritti d’arte del Cinquecento. 3 Bände, Milano, Napoli, 1971ff. 6. Vgl. Paola Barocchi (Hg.): Trattati d’arte del Cinquecento. Fra Manierismo e Controriforma. 3 Bände, Bari 1960ff. 7. Vgl. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. lix-lxii. 128
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
demonstrieren und dozieren muß, daß er nicht nur Galen und das liber naturae lesen muß, daß er nicht nur ein anatomisches Theater einrichten und in diesem dem Publikum anatomisches Wissen einräumen muß. Vielmehr muß er auch Bilder des Präparats von einem professionellen Bildproduzenten anfertigen und dann von einem Formschneider in Holz schneiden lassen. Gerade weil Vesal den gesamten Prozeß der Wissensproduktion und -organisation auf sich konzentrieren möchte, dürfte ihn die Tatsache, daß er den Akt der Drucklegung dem Verleger überantworten muß, beunruhigen. Dieser Brief an seinen Verleger in Basel ist denn auch das letzte Moment im Produktionsprozeß der Fabrica, an welchem Vesal selbst noch beteiligt ist. Und es zeigt sich, daß er nichts dem Zufall überlassen möchte. So sind die Zeichnungen, welche der unbekannte Bildproduzent angefertigt hat, bereits von einem Formschneider in Holz geschnitten worden und druckfertig. Zudem läßt Vesal Bildproben der in Italien geschnittenen Holzblöcke drucken, welche er dann zusammen mit den Blöcken nach Basel schickt: »In among the series of blocks we have packed, piece by piece, an exemplar together with a printed copy of each figure.«8 Die besondere Sorge Vesals gilt dabei der Tatsache, daß die anatomischen Bildzeugnisse in der Fabrica auch an der richtigen Stelle positioniert werden, daß ihnen die richtige Legende zugewiesen wird und daß sie in dem von ihm selbst definierten Bezug zum Fließtext stehen. Deshalb ist auf jedem geschnittenen Holzblock dessen Ort in der Publikation vermerkt: »I have written on each of these where it is to go, so that you and your office will not have problems with their allocation and arrangement or print the figures out of order.«9 Jedoch ist es nicht nur für die anatomischen Bildzeugnisse relevant, wo sie in der Fabrica positioniert werden, sondern es ist auch für die Fabrica relevant, daß die anatomischen Bildzeugnisse sowohl an ihrem richtigen Ort positioniert als auch in bestmöglicher Druckqualität reproduziert werden. Dazu führt Vesal aus: »Particular care must be given to the printing of the illustrations, since these have not been executed merely as simple diagrams in textbooks but have been given a proper pictorial quality.«10 Da das anatomische Bildzeugnis selbst Beweiskraft für die authentische und professionelle Expertise des Anatomen entfalten soll, muß es auch authentisch und professionell reproduziert werden: »you should
8. Ebd., S. lix. 9. Ebd. 10. Ebd., S. lx. 129
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follow the exemplar as closely as possible, as it has been printed off by the block cutter as his own proof.«11 Werden Holzschnitte schlecht reproduziert oder an einer falschen Stelle der Publikation positioniert, dann geht – dies legt Vesals Rede nahe – anatomisches Wissen verloren. Mithin verschränken sich in dem an seinen Verleger in Basel adressierten Brief Vesals medientechnische Aspekte der druckgraphischen Reproduktion mit bildkulturellen Aspekten der Katalogisierung, Legendierung und Kommentierung von Bildern. Das anatomische Bildzeugnis wird im Rahmen einer solchen Bildlogistik in dem anatomischen Atlanten abgedruckt, steht innerhalb des anatomischen Atlanten in einem komplexen bildkulturellen und medientechnischen Funktionszusammenhang und kann nur unter wesentlichen Bedeutungsverschiebungen wieder aus dem Buchkörper herauspräpariert werden. Diese Fragen der Bildlogistik sind allerdings ein wesentliches Moment nicht nur der Ausformung des anatomischen Atlanten im 16. Jahrhundert, sondern sie prägen, dies wird zu zeigen sein, diese in der Anatomie seitdem privilegierte Publikationsform bis heute. Im anatomischen Atlanten zu katalogisierende Bilder sind – unabhängig von dem jeweiligen Datenerhebungsverfahren – dem Akt ihrer druckgraphischen Reproduktion, welcher allererst zu deren Erscheinen in der Publikationsform führt, stets vorgängig. Da dies freilich nicht nur für anatomische Atlanten gilt, hat Rebel im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Druckgraphik den Aspekt der Transmedialisierung stark gemacht und dazu ausgeführt: »Das meint der Begriff Transmedialisierung: dass das einzelne Medium Teile seiner Eigenschaften an ein anderes, technisch übergeordnetes Medium abtritt bzw. von diesem gänzlich ersetzt wird.«12 Dabei markiert Rebel drei technologisch bedingte Einschnitte, an welchen sich Phänomene der Transmedialisierung in ganz besonderer Weise manifestieren: (1) die Etablierung der manuellen Druckgraphik durch Holzschnitt und Kupferstich um 1500; (2) die Etablierung des industriellen Rasterverfahrens der Autotypie um 1900; (3) die Etablierung digitaler Bildbearbeitung durch die Computertechnologie gegen Ende 20. Jahrhunderts. Alle drei Zäsuren lassen sich auch an der medienarchäologischen Ausgrabungsstätte des anatomischen Atlanten ausfindig machen, so daß Akte der Transmedialisierung in der Anatomie immer wieder in die
11. Ebd. 12. Ernst Rebel: Druckgrafik. Geschichte – Fachbegriffe, Stuttgart 2003, S. 117. 130
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Publikationsform des anatomischen Atlanten münden. Im Gegensatz zu dem gängigen Begriff der ›Transmedialität‹ betont ›Transmedialisierung‹ nicht zuletzt jenes transitorische Moment der Bilder, von welchem Belting spricht: »Vielleicht läßt sich sagen, daß Bilder Nomaden ähneln, die in den geschichtlichen Kulturen ihren Modus verändern und dabei die aktuellen Medien wie Stationen auf Zeit benutzt haben.«13 Diese Perspektive verpflichtet allerdings dazu, bestimmte bildmediale Schichtungen anhand als paradigmatisch vorausgesetzter Einschnitte in der Geschichte der von der Anatomie zur Anwendung gebrachten Bildmedien zu markieren. Diese Markierung entspringt sowohl medientechnischer als auch bildkultureller Motivation und kennzeichnet folgende Abschnitte: (1) die Entstehung des anatomischen Atlanten im 16. Jahrhundert vor dem Hintergrund der bildmedialen Reproduktionstechniken des Holzschnitts und des Kupferstichs; (2) die im 19. Jahrhundert stattfindende Diskussion über die Photographie als dem ersten technisch-apparativen Datenerhebungsverfahren in der Anatomie; (3) die Röntgentechnik als erstes nicht-invasives Datenerhebungsverfahren in der Anatomie des frühen 20. Jahrhunderts; (4) die Computertomographie als das erste in der Anatomie zur Anwendung gekommene digitale bildgebende Verfahren in den 70er Jahren; (5) das VHP als genuin anatomisches Projekt der digitalen Konvergenz diverser Datenerhebungstechnologien im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei den Momenten der Etablierung dieser Bildmedien in der Anatomie gewidmet werden, da an diese gleichsam medientechnische als auch bildkulturelle Fragen zu stellen sind, welche wesentlichen Aufschluß über das Spannungsverhältnis zwischen Medientechniken und Bildpraktiken, zwischen medientechnischer Innovation und bildkulturellen Strategien in der Anatomie erlauben. Schließlich ist auch der medientechnische Aspekt der Transmedialisierung eine kulturelle Handlung, vor deren Hintergrund anhand der Publikationsform des anatomischen Atlanten die Frage spezifiziert werden kann, was Anatomie mit Bildern macht und was Bilder mit Anatomie machen. Wenn Koschatzky die Graphik als eine »wahre Bildenzyklopädie der Kultur«14 bezeichnet und Rebel sie als »Archäologie unserer modernen Mediengeschichte«15
13. H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 32. 14. Werner Koschatzky: Die Kunst der Graphik. Technik, Geschichte, Meisterwerke, München 1999, S. 20. 15. E. Rebel: Druckgrafik, S. 10. 131
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verhandelt, dann sind im Rahmen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens, welche sich entlang der Publikationsform des anatomischen Atlanten bewegt, genau jene Datenerhebungsverfahren und druckgraphischen Reproduktionstechniken zu kennzeichnen, welche im Akt der Transmedialisierung kulminieren. Ein solcher Ansatz unterscheidet sich, darauf wurde bereits hingewiesen, grundsätzlich von solchen Ansätzen, wie sie im Namen der historischen Rezeptionsforschung geltend gemacht worden sind und welche darauf hinauslaufen, bestimmte, stets zu bestimmende individuelle oder kollektive Bilderfahrungen historisch zu rekonstruieren. Stattdessen wird davon ausgegangen, daß schon der anatomische Atlas selbst stets eine Bildpraxis darstellt und damit als Repertoire historisch divergierender anatomischer Bildpraktiken figuriert. Diese Bildpraktiken sollen medienarchäologisch sichtbar gemacht werden, wobei in diesem Kapitel zunächst die medientechnischen Aspekte der Datenerhebung und der druckgraphischen Reproduktion im Vordergrund stehen werden. Das bildkulturelle Pendant der Transmedialisierung, also der Bildtransfer zwischen visuellen Kulturen, wird im nächsten Kapitel zu fokussieren sein.
3.2 Anfänge: Zeichnung, Druckgraphik und Buchdruck »Auch wenn wir uns dem Reiz des Slogans ›weg von den Büchern und hin zur Natur‹ nicht verschließen, müssen wir die Wichtigkeit der Aufgabe anerkennen, die darin besteht, mehr von der Natur in die Bücher zu bringen.«16 Die »gedruckte Buchillustration […] ist das Ergebnis eines zunächst zeichnerischen Arbeitsvorganges«17, stellt Westfehling bezüglich des Verhältnisses zwischen Zeichnung und Druckgraphik im 15. und 16. Jahrhundert fest. Tatsächlich ist die Zeichnung das erste und bis zum Aufkommen der Photographie in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch das einzige Medium, welches im Namen einer Aktualität des Historischen als bildmediales Datenerhebungsverfahren der visuellen Kultur der Anatomie bezeichnet werden kann. Die sich seit dem 16. Jahrhundert programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufende und damit gleichsam auf einen bildmedialen Modus
16. Elizabeth Eisenstein: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien, New York 1997, S. 234. 17. Uwe Westfehling: Zeichnen in der Renaissance. Entwicklung – Techniken – Formen – Themen, Köln 1993, S. 193. 132
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der Wissensorganisation verpflichtende Anatomie weist dem anatomischen Bildzeugnis die Funktion zu, den disziplinierten, der Disziplin der Anatomie verschriebenen Blick des professionellen Anatomen auf die Bildfläche zu übertragen. Dabei stellt die Zeichnung dasjenige manuelle Datenerhebungsverfahren dar, welches idealiter noch am Seziertisch das autoptisch aufgeworfene anatomische Körperwissen der Logik des perspektivisch entfalteten bildmedialen Raums unterwirft. In der italienischen Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts wird die Zeichnung gemeinhin als disegno verhandelt, wobei der konzeptuelle Funktionshorizont des disegno in den zahlreichen Traktaten und Schriften zur Kunst weit über den konkreten Akt des Zeichnens hinausgeht und einen Entwurf, einen Plan oder auch eine Idee umfassen kann.18 Für die Planung eines Gemäldes spielt der disegno eine Rolle etwa dahingehend, daß die zunächst unbezeichnete Bildfläche zeichnerisch in einen perspektivisch entfalteten bildmedialen Raum transformiert wird; daß Flächen, Körper und Standorte umschrieben sowie Flächen und Körper komponiert werden; daß die sich aus der perspektivischen Verkürzung ergebenden Körperdarstellungen mittels eines Proportionskanons vorgefertigt werden; daß die Zeichnung mithin etwas vorlegt, was bei der Ausgestaltung des eigentlichen Gemäldes aber notwendig von dem Farbauftrag überzeichnet wird. Doch variieren auch der Stellenwert der Zeichnung in der und des Zeichnens für die Malerei der frühen Neuzeit, denn der disegno beschränkt sich schon bald nicht mehr notwendig auf bloße Skizzen oder Studien, also auf die Planung zu grundsätzlich weiter angelegten Bildprojekten oder auf einen gestalterischen Zwischenschritt bei der Ausführung eines Gemäldes. Dadurch gewinnt er nicht zuletzt einen eigenständigen Werkcharakter. So führt Westfehling aus: »Außerdem wachsen dem Zeichnen in der Renaissance Funktionen und Bedeutungen zu, die über diesen werkstattechnischen Arbeitszusammenhang hinausweisen […]. Es wird durch diese neuen Aufgaben und Bedingungen zu einer Tätigkeit, die gewissermaßen eigenständigen Erkenntniswert besitzt. In diesem Zusammenhang muß besonders auf die Studien nach der Natur und speziell nach der menschlichen Anatomie hingewiesen werden.«19 Gleichwohl liegt es nahe, daß ein bedeutsamer Unterschied besteht zwischen einer Zeichnung, welche in einer Künstlerwerkstatt zu
18. Vgl. dazu etwa: ebd., S. 74-97. 19. Ebd., S. 79f. 133
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Studien-, Ausbildungs- oder Planungszwecken im Namen der Künstleranatomie entworfen wird, und einer solchen Zeichnung, deren Entwurf und Ausgestaltung von Beginn an mit dem Ziel vorangetrieben wird, der druckgraphischen Reproduktion anheimgegegeben und in der Publikationsform des anatomischen Atlanten katalogisiert zu werden. So besteht anatomisch motivierte Bildgebung vom 16. Jahrhundert an nahezu ausschließlich in der Produktion von Bildmaterial für den anatomischen Atlanten, weshalb der bildmediale Akt der druckgraphischen Reproduktion der im Namen der professionellen Anatomie entworfenen Zeichnung von vorneherein eingeschrieben ist. Wenn Westfehling feststellt: »Grundsätzlich ist die Druckgraphik in ihren darstellenden Mitteln der Zeichenkunst aufs engste verwandt. Grundfaktoren wie Punkt, Linie und Fläche oder Gestaltungsmittel wie die Schraffur sind beiden gemeinsam«20, dann heißt dies für anatomisch motivierte Bildgebung der frühen Neuzeit nicht, daß die für die Anatomie angefertigten Zeichnungen eben auch druckgraphisch reproduzierbar sind, sondern es heißt genau andersherum, daß sie nur deshalb angefertigt worden sind, weil sie druckgraphisch reproduzierbar sein müssen. Die Zeichnung im Rahmen anatomisch motivierter Bildgebung hat also idealiter immer einen eigenständigen Werkcharakter. Selbstverständlich kann nicht davon ausgegangen werden, daß der professionelle Bildproduzent anatomischer Bildzeugnisse diese ohne zeichnerische Skizzen gewissermaßen in einem Zug ex nihilo vollendet. Doch dies unterstreicht bloß die Tatsache, daß hier die Zeichnung im Namen der Zeichnung als Planungsinstrument verstanden wird und nicht etwa im Namen eines über diese hinausgehenden Gemäldes. Die Zeichnung findet im Rahmen anatomisch motivierter Bildgebung also einerseits, nämlich auf bildlicher Ebene, zu sich selbst und wird zu einer autonomen, selbstverständlichen Gestaltung. Darüber gibt etwa auch der Umstand Auskunft, daß keine Gemälde vorliegen, welche die Funktionsbestimmung des anatomischen Bildzeugnisses erfüllen.21 Andererseits aber, nämlich
20. Ebd., S. 199. 21. Die beliebten Darstellungen von Anatomiestunden, welche in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts etwa bei Rembrandt, Pietersz oder van Mierevelt vorzufinden sind, stellen selbstverständlich keine spezifisch anatomisch motivierten Bildzeugnisse dar. Tatsächlich haben sie auch keinerlei Funktion für den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation und damit für die Positivität anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers. 134
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auf medialer Ebene, bleibt die Zeichnung notwendig nicht bei sich selbst, denn nach ihrer gestalterischen Fertigstellung steht noch der Akt der druckgraphischen Reproduktion aus, und zwar für die Publikationsform des anatomischen Atlanten. Dies ist entscheidend, denn der Vorteil der Zeichnung gegenüber dem Gemälde liegt in ihrer druckgraphischen Reproduzierbarkeit. Zwar sind seit dem 16. Jahrhundert zahlreiche Gemälde in zeichnerische Formate transformiert und daraufhin druckgraphisch reproduziert worden, doch gibt es für anatomisch motivierte Bildgebung keinen Grund, diesen Prozeß der Transformation in Kauf zu nehmen, wenn anatomisch motivierte Bildzeugnisse von Beginn an einen eigenständigen Charakter innehaben. Natürlich hätte die Anatomie anatomische Zeichnungen in den medizinischen Schulen aushängen und den professionellen Anatomen anhand dieser Zeichnungen demonstrieren und dozieren lassen können – und die Vermutung, daß anatomischer Unterricht an den medizinischen Schulen unter anderem auch dergestalt stattgefunden hat, ist durchaus nicht abwegig. Doch erfordert dies ebenso wie die Sektion im anatomischen Theater die Anwesenheit der Betrachter vor Ort. Einzig die druckgraphisch reproduzierte und in dem anatomischen Atlanten publizierte, dort mit Legende und Kommentar des professionellen Anatomen versehene Zeichnung indes ermöglicht es, daß anatomisches Wissen mobilisiert wird und daß nicht mehr notwendig derjenige, der sich anatomisches Wissen aneignen möchte, mobil werden muß. Diese Mobilisierung anatomischer Wissensproduktion und -organisation durch die druckgraphische Reproduktion der Zeichnung und deren Katalogisierung im anatomischen Atlanten macht deutlich, warum die Zeichnung tatsächlich als genuin anatomisch motiviertes Datenerhebungsverfahren fungiert. Zum einen findet die Zeichnung bildlich zu sich selbst, zum anderen ist die druckgraphische Reproduktion dieser Zeichnung eine Originalgraphik und keine solche, welche die Gemälde gängiger Künstler zunächst in die Logik der Zeichnung transformiert und dann reproduziert. Weiterhin ist die Zeichnung als Datenerhebungsverfahren für die Publikation im anatomischen Atlanten und für nichts anderes bestimmt, was nicht zuletzt den Atlanten von solchen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts vorliegenden Buchpublikationen unterscheidet, in welchen Sammler ihre Bildsammlungen präsentieren. Dazu führt Rebel aus:
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»Doch Grafik ist nicht nur Objekt des Sammelns, sie ist auch sein Medium. Dann nämlich, wenn Reproduktionsstiche Teile eines Sammlungsbesitzes publizieren oder seinen katalogisierten Bestand buchartig illustrieren.«22 Gegenüber solchen Buchpublikationen, in welchen etwas, was vorliegt, einer »Logik der Sammlung«23 unterworfen wird, erfährt das druckgraphisch reproduzierte und im anatomischen Atlanten publizierte Datenerhebungsverfahren der Zeichnung eine ganz andere Bildpraxis, zumindest aus medientechnischer und produktionslogistischer Perspektive. Da sich die gesamte anatomisch motivierte Bildgebung seit der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert auf die Publikationsform des anatomischen Atlanten konzentriert, und zwar sowohl in medientechnischer als auch in bildkultureller Hinsicht, unterliegen anatomische Zeichnungen nicht einer Logik der Sammlung, sondern der Logik des anatomischen Atlanten, und dies schon in ihrem Produktionsakt. Wenn die Zeichnung als manuelles Datenerhebungsverfahren einer sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufenden Anatomie von Beginn an der Logik des anatomischen Atlanten verpflichtet ist, dann kann sie sich nur deshalb in den Funktionshorizont des anatomischen Atlanten einschreiben, weil dieser medientechnisch machbar ist. Denn der Status der Zeichnung als Datenerhebungsverfahren steht und fällt mit ihrer druckgraphischen Reproduzierbarkeit, und diese steht und fällt, zumindest in der visuellen Kultur der Anatomie, mit der Möglichkeit des Buchdrucks. Plinius der Ältere etwa steckt in Buch XXV, Kapitel IV seiner Naturalis historiae den Stellenwert der Malerei für die Botanik ab und macht dabei grundsätzliche Zweifel an ihrer Funktion geltend, was vor allem medientechnische Gründe hat. So berichtet er über griechische Gelehrte: »Sie haben nämlich die Pflanzen in Bildern dargestellt und ihre Wirkung darunter geschrieben. Aber auch die Malerei trügt bei so zahlreichen Farben, zumal wenn man die Natur nachzuahmen trachtet, und auch die Fahrlässigkeit der Kopisten verdirbt viel.«24
22. E. Rebel: Druckgrafik, S. 236. 23. Vgl. dazu: Boris Groys: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München 1997. 24. Gaius Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch XXV. Herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp und Wolfgang Glöckner, München 1996, S. 23. 136
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
Plinius der Ältere macht hier sehr deutlich, daß die Wissensproduktion und -organisation, sofern sie auf der Bildfläche stattfinden soll, sowohl eines spezifischen Datenerhebungsverfahrens als auch eines Modus der druckgraphischen Reproduktion bedarf. Dabei macht es zunächst keinen wesentlichen Unterschied, ob der Botaniker Pflanzen oder der Anatom Körperteile katalogisiert. Die Kopisten jedenfalls, welche bis zum Aufkommen des Buchdrucks im 15. Jahrhundert das Bildmaterial etwa illuminierter Handschriften manuell reproduziert haben, stellen keine Garantie für die getreue Reproduktion von auf der Bildfläche gespeichertem botanischem Wissen dar, weshalb Plinius der Ältere auch von dem Einsatz von Bildmedien in der Botanik abrät und dem Medium der Schrift größeres Vertrauen entgegenbringt. An diesem Umstand sollte sich von der römischen Antike bis weit ins 15. Jahrhundert hinein wenig verändern: »Bevor es den Buchdruck gab, war die detaillierte Wiedergabe von Naturphänomenen tatsächlich eine ›marginale‹ Tätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes.«25 Jedoch ist es keinesfalls so, als hätte anatomisches Wissen auf jene bildtheoretischen und drucktechnischen Innovationen des 15. und 16. Jahrhunderts gewartet, welche es ihm ermöglichen sollten, endlich auf der Bildfläche des anatomischen Atlanten zu erscheinen und dort zu sich selbst zu finden. Darauf hat Choulant schon 1852 in seiner Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung aufmerksam gemacht: »Als nach der Erfindung der Buchdruckerkunst bereits in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts die Vervielfältigung der Bücher eifrig betrieben wurde und für bildliche Darstellung zu jener Zeit der Holzschnitt ein Gleiches möglich machte, zeigte sich bei den Aerzten auch kein anderes Verlangen, als das nach anatomisch-schematischer Darstellung: man wollte das bis jetzt blos durch Worte und im Gedächtniss Festgehaltene bildlich ausgedrückt zur Erinnerung vor sich haben.« 26 Interessant an dieser Feststellung Choulants ist auch, daß er, wenngleich nicht ausdrücklich, zwischen Bildbegriff und Druckgraphik,
25. E. Eisenstein: Die Druckerpresse, S. 177. Vgl. dazu auch die Bemerkung von Ivins: »one of the basic requirements of any descriptive science […] is a method of making and distributing exactly similar pictorial statements of things observed. Without the ability to make precisely duplicable images, it is impossible to carry a descriptive science far or beyond the confines of a very restricted local group of men.« (W.M. Ivins: »What about the Fabrica«, S. 49) 26. L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der Anatomischen Abbildung, S. VII. 137
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zwischen manuellem Datenerhebungsverfahren, druckgraphischer Reproduktionstechnik und medialem Bildträger und damit schließlich zwischen Bild und Medium unterscheidet. Denn wie etwa Gravida-Figuren aus dem Fasciculo di medicina von 1494 verdeutlichen, garantieren innovative druckgraphische Reproduktionstechniken keinen innovativen Bildbegriff. Und wie etwa das Beispiel des Malers Jean Fouquet, welcher in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts perspektivisch entfaltete Bilder für illuminierte Handschriften angefertigt hat, verdeutlicht, garantiert ein innovativer Bildbegriff auch keine innovativen druckgraphischen Reproduktionstechniken. Wenn Eisenstein also behauptet: »Die Druckerpresse legte sowohl die Basis für den buchstäblichen Fundamentalismus wie auch für die moderne Wissenschaft«27, dann ist diese Behauptung in Hinblick auf die Anatomie des 16. Jahrhunderts weder ganz zutreffend noch ganz unzutreffend. Richtig ist, daß die anatomische Zeichnung nur durch druckgraphische Reproduktion und Katalogisierung im anatomischen Atlanten Sinn macht. Das Beispiel Leonardos, dessen Plan zur Veröffentlichung eines anatomischen Atlanten nicht über den Projektstatus hinausgekommen ist und dessen umfangreichen anatomischen Studienblätter somit auch nicht zur anatomischen Wissensformation ihrer Zeit haben beitragen können, spricht hier eine deutliche Sprache. Richtig ist aber auch, daß die Bildfunktion der anatomischen Zeichnung notwendig erst durch die perspektivische Entfaltung des bildmedialen Raumes eingelöst werden kann, welche in keinerlei unmittelbarem Verhältnis zur druckgraphischen Reproduktion von Bildmaterial steht. Und nicht zuletzt ist es richtig, daß die Notwendigkeit bildmedialer Wissensproduktion und -organisation erst dann entsteht, als sich die Anatomie des 16. Jahrhunderts programmatisch auf die autoptische Wissensformation beruft und diese auch durch den im anatomischen Theater idealiter in Personalautorität operierenden professionellen Anatomen institutionalisiert. Der institutionalisierte Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation indes verlangt ein Bildwissen, und zwar ein spezifisch anatomisch motiviertes Bildwissen, welches seinerseits allererst zu produzieren und zu organisieren ist. Dabei allerdings kann die Anatomie auf ein Bildwissen zurückgreifen, welches von Kunsttheorie und Kunstpraxis, Kunstmarkt und Buchmarkt, Verlags- und Druckwesen bereits formiert ist und welches aus bildtheoretischer und medientechnischer Perspektive nun anatomisch zu
27. E. Eisenstein: Die Druckerpresse, S. 250. 138
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spezifizieren ist. So kommt es, daß die Formation anatomischen Bildwissens nicht nur gegenüber ihrer bildtheoretischen, sondern auch gegenüber ihrer medientechnischen Bedingung um mehrere Jahrzehnte verspätet einsetzt. Deshalb gelangen Roberts/Tomlinson zu folgender Einschätzung anatomisch motivierter Bildgebung des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts: »Medical illustration was benefiting by the skill of Renaissance artists and woodcutters, but the anatomical figures were still largely determined by medieval ideas. Beautiful though they are, the illustrations hardly advanced anatomical science.« 28 Wenn die Zeichnung das erste und bis ins 19. Jahrhundert das einzige bildmediale Datenerhebungsverfahren der Anatomie darstellt, dann erweisen sich Holzschnitt und Kupferstich als die ersten und lange Zeit einzigen druckgraphischen Reproduktionstechniken für die Publikationsform des Atlanten. Jedoch sind sowohl das Hochdruckverfahren des Holzschnitts als auch das Tiefdruckverfahren des Kupferstichs dem Buchdruck mit beweglichen Lettern, wie er um 1450 von Johannes Gutenberg realisiert wird, vorgängig. Während der Holzschnitt spätestens seit Beginn des 15. Jahrhunderts in der Form des Einblattholzschnitts – ein einseitig bedrucktes Blatt – bekannt ist und sich der Kupferstich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts als erstes Tiefdruckverfahren etabliert, beschränkt sich der Buchdruck bis zu Gutenbergs Erfindung auf sogenannte Blockbücher, welche nur eine einseitige Bedruckung des Papiers erlauben.29 Hier werden in der Regel je zwei Buchseiten auf eine Seite des Papiers gedruckt und dieses dann gefaltet und gebunden. Der Buchdruck hingegen sollte es ermöglichen, den Widerdruck einzuführen, welcher darin besteht, ein Blatt Papier beidseitig zu bedrucken und eine jede Seite des Blatts als tatsächliche Buchseite auszuweisen: »Das hochdruckgrafische Verfahren, Bücher mit Text und Bild zu vervielfältigen, bildet zeitlich zusammen mit der Erfindung von Holzschnitt und Kupferstich die erste große Umwälzung in der Nachrichtenübermittlung.«30
28. K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 37. 29. Vgl. dazu: E. Rebel: Druckgrafik, S. 146f. 30. Ebd., S. 147. Vgl. dazu auch folgende Anmerkung von Bickenbach/ Fliethmann: »Zum einen ist das Medium des Buchdrucks, darin dem Computer ähnlich, ein Integrationsmedium. Bilder und Texte wurden erstmals auf einer Oberfläche reproduzierbar. Zum anderen rückt die Norm des perspektivischen Blicks auch als Norm 139
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Dabei ist das Hochdruckverfahren des Holzschnitts schon seit den 60er Jahren des 15. Jahrhunderts in den Buchdruck zu integrieren, da dieser seinerseits auf dem Verfahren des Hochdrucks beruht. Der Kupferstich als Tiefdruckverfahren hingegen erscheint erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Buchpublikationen, da hier typographische (also hochdrucktechnische) und bildmediale (in diesem Fall tiefdrucktechnische) Reproduktionsverfahren nicht unmittelbar miteinander konvergieren und zunächst medientechnisch kompatibel gestaltet werden müssen. Gerade diese medientechnisch ermöglichte Verschränkung von Schrift und Bild im gedruckten Buch ist für die Publikationsform des anatomischen Atlanten entscheidend. So merkt etwa Giesecke an: »Die Qualität der technischen und der naturwissenschaftlichen Bücher in der Neuzeit läßt sich nicht begreifen, wenn nicht die neue Form des Zusammenspiels von Text und Bild gewürdigt wird.«31 Denn mittels des Buchdrucks kann nun eine jede Seite des geplanten anatomischen Atlanten entweder als ausschließlich schriftlich angelegte, als ausschließlich bildlich angelegte oder eben auch als schriftliche und bildliche Elemente verbindende Buchseite konzipiert, organisiert und reproduziert werden. Der medientechnisch bedingte Umstand, daß das Hochdruckverfahren des Holzschnitts lange vor dem Tiefdruckverfahren des Kupferstichs in den Buchdruck integriert werden kann, spiegelt sich auch in der Abfolge früher anatomisch motivierter Buchpublikationen wider. Berengarios Commentaria von 1521, Vesals Tabulae anatomicae von 1538, die Fabrica von 1543 und Estiennes Dissection aus dem Jahre 1546 beruhen alle auf dem druckgraphischen Reproduktionsverfahren des Holzschnitts. Während die Holzschnitte in Berengarios Commentaria sowohl in Hinblick auf ihre drucktechnische Qualität als auch in Hinblick auf ihr Bildverständnis weit hinter den zu dieser Zeit längst gängigen künstlerischen Holzschnitten zurückbleiben, Berengario also noch mit dem Holzschnitt in anatomischen Publikationen und mit spezifisch anatomisch motiviertem Bildwissen experimentiert, weisen vor allem die Buchpublikationen Vesals bereits ein Bildwissen auf, welches der künstlerischen Druckgraphik ihrer Zeit in nichts nachsteht. Schon rund zwei Jahre vor der Publikation der Fabrica aber
der schriftlichen Mitteilung, zumal der wahrheitsgetreuen Information, in die textuelle Organisation der Schriften ein.« (M. Bickenbach/A. Fliethmann: »Bilderzeit – Korrespondenz – Textraum«, S. 22) 31. M. Giesecke: Der Buchdruck, S. 626. 140
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erscheint mit Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio in Ferrara nicht nur der vielleicht erste anatomische Atlas überhaupt, sondern auch die erste bildmedial konzipierte anatomische Publikation, deren Bildzeugnisse mit dem Tiefdruckverfahren des Kupferstichs reproduziert worden sind. So enthält die Musculorum humani corporis picturata dissectio 27 Tafeln von Girolamo da Carpi, die aber auf so dünnem Papier gedruckt sind, daß die drucktechnische Qualität der Kupferstiche als problematisch erscheint. Auch Eustachio experimentiert – und zwar auf Anraten Cananos, mit welchem er 1552 in Rom zusammentrifft – mit der druckgraphischen Reproduktionstechnik des Kupferstichs und läßt in den 50er Jahren des 16. Jahrhunderts jene anatomischen Bildzeugnisse stechen, welche erst 1714 in Lancisis Ausgabe der Tabulae anatomicae in einem Atlanten publiziert werden sollten. Ebenfalls in Rom veröffentlicht Valverde 1556 seine Historia. Deren Bildmaterial beruht zu einem erheblichen Teil auf den Bildzeugnissen der Fabrica Vesals, welche aber nicht nur aus spezifisch anatomisch motivierter Perspektive korrigiert, sondern auch von dem Hochdruckverfahren des Holzschnitts in das Tiefdruckverfahren des Kupferstichs transmedialisiert werden. Allerdings wird schon anhand der Fabrica deutlich, daß die Konzentrierung anatomisch motivierter Bildgebung auf die Publikationsform des anatomischen Atlanten nicht immer unproblematisch ist. Wenn der Holzschnitt ein Hochdruckverfahren darstellt, dann bedeutet dies, daß ein Zeichner auf dem polierten Holzblock mit einer Feder oder einem spitzen Pinsel Linien, Punkte und Schraffuren einzeichnet. Die Aufgabe des Formschneiders besteht darin, all jene nicht von dem Zeichner mit Feder oder Pinsel bezeichneten Flächen mit Messern und Hohleisen so auszuschneiden, daß ein Druckrelief entsteht, welches, wenn der Holzblock mit Farbe eingeschwärzt wird, die Zeichnung auf das Papier überträgt. Dabei muß beachtet werden, daß der Zeichner seine Zeichnung spiegelverkehrt auf dem Holzblock anbringt, da sie sonst natürlich spiegelverkehrt auf dem Papier erscheinen wird. In Buch I der Fabrica aber gibt es verschiedene anatomische Bildzeugnisse, bei denen dieser Umstand nicht berücksichtigt worden ist, so etwa in Kapitel XXIV. Zwar hat Vesal dieses Mißgeschick bemerkt und in seinem Bildkommentar angezeigt, doch scheint dies erst in einem so späten Stadium des Druckprozesses geschehen zu sein, daß er zwar den Text durch Oporinus hat austauschen lassen können, dies aber bezüglich der aufwändig hergestellten Holzblöcke nicht mehr möglich gewesen ist. Dieses Beispiel führt vor Augen, daß der Akt der Transmedialisierung keineswegs ein unmittelbarer ist und das manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung von 141
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ihrer druckgraphischen Reproduktion durch den Holzschnitt keineswegs unberührt bleibt. Neben diesen allgemeinen Aspekten druckgraphischer Reproduktionstechniken weist die Publikationsform des anatomischen Atlanten aber auch von Beginn an einige Spezifika auf, welche vor allem das in ihm katalogisierte Bildmaterial betreffen und somit eine Geschichte des anatomischen Bildzeugnisses nicht einfach in einer Geschichte der Druckgraphik aufgehen lassen. So wird die Graphik schon im späten 15. Jahrhundert zu einer »selbständigen Kunstgattung«32, etwa durch Künstler wie Pollaiuolo, Botticelli oder Mantegna. Darüber gibt nicht zuletzt der Umstand Auskunft, daß auf dem Holzschnitt oder Kupferstich die Signatur des Künstlers, des inventors, in Form eines Monogramms vermerkt wird, »ein Siegel für voll entfaltete künstlerische Individualität, stolze Eigenhändigkeit, somit Garantiezeichen namentlich verbürgter Qualität.«33 Davon kann hinsichtlich früher anatomischer Atlanten überhaupt keine Rede sein, und zwar ganz unabhängig von der Tatsache, ob es sich dabei um Holzschnitte oder Kupferstiche handelt. Wie bereits ausgeführt, ist etwa die Fabrica ganz auf die Autorfunktion des professionellen Anatomen konzentriert, so daß der professionelle Bildproduzent an keiner Stelle des Textes – nicht in dem paratextuellen Apparat des Titelbildes, nicht in der Widmung, nicht im Vorwort – zur Sprache kommt, geschweige denn, daß er namentlich genannt werden würde. Gleiches wiederholt sich nun auf den Bildflächen der in der Fabrica druckgraphisch reproduzierten Holzschnitte, denn nicht ein einziges der anatomischen Bildzeugnisse trägt die Signatur des professionellen Bildprodzenten. Auf dem Titelbild der Fabrica indes findet sich die Signatur IO, also das Monogramm des Verlegers Johannes Oporinus, welches dieser nachträglich in den von Vesal verschickten Holzblock eingefügt hat, um seinem Beitrag zur Drucklegung Geltung zu verschaffen. Dabei stellt diese in der Fabrica manifeste Bildpraxis, die druckgraphisch reproduzierten Bildzeugnisse nicht mit der Signatur des professionellen Bildproduzenten zu versehen, in der Publikationsform des anatomischen Atlanten zumindest im 16. Jahrhundert keineswegs einen Einzelfall, sondern eine Regel dar. Diese gerät auch in Berengarios Commentaria, Cananos Musculorum humani corporis picturata dissectio oder den Kupferstichen zu Eustachios
32. W. Koschatzky: Die Kunst der Graphik, S. 21. 33. E. Rebel: Druckgrafik, S. 248. Vgl. dazu etwa auch: W. Koschatzky: Die Kunst der Graphik, S. 18ff. 142
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Tabulae anatomicae zur Anwendung. Einzig in einigen anatomischen Bildzeugnissen der Dissectione Estiennes läßt sich als Signatur das Monogramm S.R. ausmachen (Abb. 10). Dieses steht für den Bildproduzenten zumindest eines Teils des Bildmaterials in der Dissectione, nämlich für Stephanus Riverius respektive Estienne de la Rivière. Auch in der Publikationsform des anatomischen Atlanten also wird die Graphik autonom. Sie wird autonom allerdings nicht im Namen des professionellen Bildproduzenten, sondern im Namen des professionellen Anatomen, autonom also nicht im Namen der Kunst, sondern im Namen der Anatomie, autonom also auch nicht als Objekt einer Logik der Sammlung auf dem sich ausformenden Kunstmarkt, sondern als Objekt einer Logik der Publikationsform in der und für die Anatomie. Gerade weil die Graphik im anatomischen Atlanten aber nicht vom Bildproduzenten, sondern vom Anatomen autorisiert wird, gewinnt sie im Rahmen einer »post-Vesalian consolidation of printed illustration«34 in der Anatomie selbst an Autorität und ist aus dem Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation bald nicht mehr wegzudenken. Giesecke stellt für den frühneuzeitlichen Buchdruck fest: »Erst die Normierung der Adressierung der verschiedenen Nachrichten machte es möglich, daß die Autoren unmißverständlich mit ihren Botschaften aneinander anschließen konnten.«35 Und weiter: »Als anschlußfähige Nachrichten gelten zunehmend nur jene Informationen, die typographisch gespeichert und mit einer Adresse versehen sind.«36 In Hinblick auf die Publikationsform des anatomischen Atlanten gilt diese Feststellung allerdings nicht nur in ihrer typographischen Dimension, also bezüglich der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg, sondern sie ist auch in ihrer spezifisch druckgraphischen Dimension in Betracht zu ziehen. Nämlich dann, wenn es darum geht, das mittels des Datenerhebungsverfahrens der Zeichnung formierte anatomische Wissen bildmedialen Reproduktionstechniken wie dem Holzschnitt und später dem Kupferstich anheimzugeben. Wenn ein wesentliches Ziel anatomisch motivierter Bildgebung seit dem 16. Jahrhundert darin besteht, anatomisches Wissen bildmedial zu mobilisieren, dann kommen dem Holzschnitt und dem Kupferstich dabei größte Bedeutung zu: »the new processes made it possible to repeat end-
34. K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 616. 35. M. Giesecke: Der Buchdruck, S. 424. 36. Ebd., S. 425. 143
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lessly and exactly the same pictorial statements about natural forms.«37 Tatsächlich hat die Druckgraphik im Verbund mit dem Buchdruck und nicht zuletzt dem Buchmarkt dazu geführt, daß im anatomischen Atlanten organisiertes anatomisches Wissen als Grundlage der wissenschaftlichen Kommunikation unter Anatomen etabliert werden konnte: »one of the consequences of printed anatomical illustrations is that they are ›correctable‹. Mistakes were identified by Vesalius’ contemporaries, and with this came, in some, an urge to produce figures that they considered more truthfully represented structures seen on dissection – not that the new figures were, in actual execution, always an overall improvement on those in the Fabrica. […] Few artists, anatomists, and their publishers attempted to produce, from scratch, totally new illustrations to a totally new text on the anatomy of the human body.« 38 Das bekannteste Beispiel dafür ist Valverdes Historia von 1556, welche allein bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts 15 Auflagen in verschiedenen Sprachen erfahren sollte und deren Bildmaterial zu zwei Dritteln aus dem Inventar der Holzschnitte der Fabrica besteht, welche jedoch teilweise wesentlichen anatomischen Korrekturen unterzogen wurden. So spielen die Bildzeugnisse in anatomischen Atlanten im Verlauf des 16. Jahrhunderts eine zunehmend zentrale Rolle in der Kommunikation anatomischen Wissens über den menschlichen Körper, was auch der Appendix von Bauhins Theatrum anatomicum von 1605 verdeutlicht. Dieser umfaßt eine Liste derjenigen anatomischen Werke, aus welchen Bauhin Bildzeugnisse übernommen oder entlehnt hat, darunter auch solche von Berengario, Estienne, Vesal und Valverde.39 Von daher wird die durch den Buchdruck überhaupt erst denkbare Publikationsform des anatomischen Atlanten nicht zuletzt zu einem Rechenschaftsbericht über das eigene anatomische Projekt, gerade auch im Verhältnis zu konkurrierenden bzw. komplementären Publikationen. Jedoch ist die Anzahl der im 16. Jahrhundert in Angriff genommenen, aber nicht vollendeten anatomisch motivierten Buchprojekte überaus groß ist. Darunter fallen nicht nur die gescheiterten Pläne Leonardos mit Marcantonio della Torre und Michelangelos mit Realdo Colombo, sondern auch die erst 1714 von Lancisi pu-
37. W.M. Ivins: »What about the Fabrica«, S. 51. 38. K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 209f. 39. Vgl. dazu: ebd., S. 224. 144
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blizierten Tabulae anatomicae Eustachios sowie die Kupferstiche zu Giulio Casserios unvollendetem Buchprojekt. Diese wurden ebenfalls erst posthum, unter anderem in Adrian Spieghels De humani corporis fabrica von 1627, publiziert. Ebenfalls nicht aus dem Blick geraten darf die Tatsache, daß anatomisch motiviertes und in Buchform publiziertes Bildmaterial von Beginn an Gegenstand mannigfaltiger Raubkopien geworden ist.40 Darüber beklagt sich etwa Vesal in dem an seinen Verleger in Basel adressierten Brief, welcher auch in der Fabrica abgedruckt ist, ausdrücklich. So berichtet er über die Holzschnitte aus seinen Tabulae anatomicae aus dem Jahre 1538: »my Anatomical Tables, first published three years ago in Venice and since then pirated in many other places in deplorably bad editions with more grandiose titles.«41 Es ist auffällig, daß druckgraphisch reproduzierte Bildzeugnisse aus anatomischen Atlanten, wenn sie als nicht autorisierte Kopien in der Form von Loseblattsammlungen oder Flugblättern auftreten, in der Regel diejenigen Körperdarstellungen betreffen, deren druckgraphische Präparation aus dem anatomischen Atlanten heraus die geringsten Erkenntnisprobleme aufwirft. Denn es sind vor allem jene Ganzkörperdarstellungen des Knochen- oder Muskelsystems kopiert worden, welche gegebenenfalls auch ohne Legende und Kommentar auskommen, mithin solche Bildzeugnisse, welche auf der einen Seite das Laienpublikum zwar am meisten interessieren, auf der anderen Seite aber die wenigste Relevanz für die genuin anatomisch motivierte Wissensformation haben dürften. Sowohl die Tatsache, daß zahlreiche Pläne zur Publikation eines anatomischen Atlanten im 16. Jahrhundert nicht über den Projektstatus hinausgekommen sind, als auch der Umstand, daß Raubkopien von anatomischen Bildzeugnissen sich auf die notfalls auch außerhalb des Atlanten verständlichen Körperdarstellungen beschränkt haben, unterstreichen einigermaßen eindeutig den privilegierten Status der Publikationsform des anatomischen Atlanten für eine sich im 16. Jahrhundert programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufende professionelle Anatomie. Diese Anatomie ist nun nicht mehr nur notwendig buchstäblich über den Körper im Bilde, indem sie ihre Wissensproduktion und -organisation der Bildfläche verschreibt, sondern sie formt im Atlanten auch ein anatomisch spezifiziertes Bildwissen aus.
40. Zu diesem im 16. Jahrhundert weit verbreiteten Phänomen vgl.: A. Carlino: Paper Bodies. 41. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body, S. lxi. 145
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3.3 Technisch-apparativer Auftakt: Photographie und Anatomie im 19. Jahrhundert Die Photographie ist das älteste der sogenannten ›neuen Medien‹ und gleichzeitig dasjenige Bildmedium, zu welchem mittlerweile sowohl aus systematischer als auch aus historischer Perspektive die meisten Ansätze vorliegen.42 Spätestens angesichts der Herausforderung der analogen Photographie durch die sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts etablierende digitale Photographie scheint der Begriff ›Photographie‹ jedoch an vermeintlicher oder tatsächlicher Schärfe zu verlieren.43 Entsprechend hat sich die Frage aufgedrängt, »ob es überhaupt noch sinnvoll ist, dem heterogenen Korpus fotografisch erzeugter Bilder in einer autonomen ›Geschichte der Fotografie‹ zu einer fraglichen Identität zu verhelfen.«44 So nehmen vor allem neuere Ansätze Abstand von der verallgemeinernden Rede von der Photographie und suchen photographische Diskurse und photographische Praktiken in ihren je spezifisch kulturellen und historischen Manifestationen auf.45 Denn es ist deutlich geworden, daß die rein medientechnisch motivierte Reduktion des photographischen Bildes auf seinen indexikalischen Status, seine technisch-apparative Produktion sowie auf die sich daraus scheinbar unvermittelt ableitende Implementierung kultureller
42. Neben den vier Bänden zur Theorie der Fotografie (Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I-III, München 1979ff.; Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, München 2000) vgl. etwa folgende Standardpublikationen: Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main 1997; Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1998, S. 45-64; B. Busch: Belichtete Welt; Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch eines theoretischen Dispositivs, Amsterdam, Dresden 1998; Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1992; Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998; Rosalind Krauss: Das Fotografische. Eine Theorie der Abstände, München 1998. 43. Vgl. dazu insbesondere: W.J. Mitchell: The Reconfigured Eye; Hubertus von Amelunxen/Stefan Iglhaut/Florian Rötzer (Hg.): Photography after Photography. Memory and Representation in the Digital Age, Amsterdam 1992. 44. Peter Geimer: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 7-25, hier S. 13. 45. Vgl. dazu etwa: G. Schmidt: Anamorphotische Körper; P. Geimer: Ordnungen der Sichtbarkeit; Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2002. 146
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Wahrnehmungsmodalitäten immer auch medienontologische Prämissen transportiert.46 Von daher überrascht es nur wenig, daß ein Großteil dieser neueren Ansätze auch nicht mehr wesentlich von dem Bemühen geleitet ist, die Kunstfähigkeit der Photographie unter Beweis zu stellen.47 Vielmehr treten neuerdings Anwendungsbereiche der Photographie auch jenseits einschlägiger kunsttheoretischer Reflexionen in den Vordergrund, wobei gerade die wissenschaftliche und hier insbesondere die medizinische Bildkul-
46. Diesbezüglich führt etwa Schmidt aus: »Die Bildleistung scheint auf den ersten Blick gänzlich medial definiert, eigensinnig dem ästhetischen Artefakt eingegeben zu sein: Ein Foto vermag anderes als ein Gemälde, ein Film anderes als ein Foto usf. Es ist aber der sich ändernde symbolische Repräsentationsbedarf der Wissenschaften, der die Bildleistung je mitdefiniert und die Bildfunktion festlegt.« (G. Schmidt: Anamorphotische Körper, S. 2) Ähnlich argumentiert Geimer: »Beinahe sieht es so aus, als würde das Prinzip der großen Zusammenschau das alte Ordnungsprinzip der Teleologie ersetzen. Die Einheit dessen, was als ›Geschichte der Fotografie‹ formiert werden soll, wird jetzt nicht mehr durch das Diktum eines permanenten Fortschritts erwirkt, sondern dadurch, daß man alle Bilder pluralistisch nebeneinanderhält, sofern sie nur auf photographischem Wege in die Welt gekommen sind.« (P. Geimer: »Einleitung«, S. 13) Und Stiegler merkt an: »kann es nicht darum gehen, eine Photographietheorie zu entwickeln, sondern vielmehr der Heterogenität der verschiedenen Anwendungsbereiche der Photographie Rechnung zu tragen. Es handelt sich also im folgenden weder um die Geschichte noch um die Theorie der Photographie, sondern um die Rekonstruktion der verschiedenen Elemente einer Theoriegeschichte der Photographie im 19. Jahrhundert, die in spezifischen Kontexten entstehen und daher auch in ihrem jeweiligen diskursiven Zusammenhang darzustellen und zu untersuchen sind.« (B. Stiegler: Philologie des Auges, S. 19) 47. Freilich steht die Kunstfähigkeit der Photographie heute nicht mehr in Frage. Noch in den 80er Jahren aber war man damit befaßt, Photographie als Kunst historisch unter Beweis zu stellen und damit für die zeitgenössische Ausstellungspraxis strategisch zu positionieren. Vgl. dazu Geimer: »[…] in der retrospektiven Sichtung des Bildmaterials wurde die künstlerische Absicht jetzt auch solchen Fotografien unterstellt, deren historische Funktionen ganz andere gewesen waren.« (P. Geimer: »Einleitung«, S. 11) Dieser durchaus nicht ungewöhnliche bildkulturelle Transferprozeß muß allerdings kenntlich gemacht werden, um nicht falschen Schlußfolgerungen über die vermeintlich tatsächliche Verfaßtheit der jeweiligen Bilder Vorschub zu leisten. Diese Problematik, welche nicht nur, aber in besonderem Maße für die Diskussion um die Kunstfähigkeit der Photographie zu Beginn der 80er Jahre auszumachen ist, prägt nicht zuletzt auch den 1980 von Kemp herausgegebenen ersten Band der Theorie der Fotografie. Dessen Zusammenstellung diverser phototheoretischer Schriften von 1839 bis 1912 erweckt den durchaus unzutreffenden Eindruck, die Photographie habe im 19. Jahrhundert um nichts anderes als um ihre Kunstfähigkeit gekämpft. 147
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tur einen zunehmend bedeutsamen Stellenwert einzunehmen scheint, wie etwa Geimers Sammelband Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie oder Schmidts Monographie Anamorphotische Körper. Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert anzeigen. Auch Stiegler betont in der Philologie des Auges nachdrücklich den Stellenwert der Wissenschaften, wenn er schreibt: »Die Ästhetik der Photographie wird auf dem Feld der Wissenschaften geschrieben.«48 Gleichwohl liegen bislang erstaunlich wenige historiographische Versuche vor, den Stellenwert von Daguerreotypie und Photographie als den ältesten der ›neuen Medien‹ und als den ersten technisch-apparativen Datenerhebungsverfahren der Medizin im allgemeinen bzw. der Anatomie im besonderen zu umreißen.49 Weitaus häufiger indes finden sich Bemerkungen, welche von einer eher systematisch bedingten Strukturanalogie zwischen diesen Bildmedien und medizinisch bzw. anatomisch motivierter Bildgebung oder gar der Medizin insgesamt ausgehen.50 Solche Struktur-
48. B. Stiegler: Philologie des Auges, S. 44. 49. Darunter vor allem zwei Monographien (G. Schmidt: Anamorphotische Körper; Renata Taureck: Die Bedeutung der Photographie für die medizinische Abbildung im 19. Jahrhundert, Feuchtwangen 1980) sowie ein Ausstellungskatalog (Jacques Grasser/Stanley B. Burns (Hg.): Photographie et médecine 1840-1880, Lausanne 1991). 50. So führt etwa Benjamin aus: »Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik, Medizin zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Porträt.« (W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, S. 50) An anderem Ort setzt Benjamin die in beiden Fällen sezierenden Qualitäten der Chirurgie und der Kamera in Bezug zueinander: »Die Kühnheiten des Kameramanns sind in der Tat denen des chirurgischen Operateurs vergleichbar.« (Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/ Main, S. 7-44, hier S. 32) Findet bei Benjamin das photographische bzw. filmische Bild seine Entsprechung im invasiven und sezierenden Gestus der Chirurgie, so verhält es sich etwa bei Kathan genau andersherum: »Die Feststellung, die Struktur der Medizin habe die Fotografie lange vor ihrer Erfindung vorweggenommen, stützt sich nicht zuletzt auf die Tatsache, daß das ärztliche Handeln unter allen Sinnen den Sehsinn betont.« (B. Kathan: »Objekt, Objektiv und Abbildung«, S. 9) Und bezüglich des anatomischen Theaters, welches 1594 in Padua errichtet wurde, stell Kathan fest: »Würde man einen Längsschnitt durch das Anatomische Theater in Padua ziehen, und zwar mitten durch den Arbeitstisch, es ließe sich als Modell des Fotoapparates le148
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analogien haben zweifelsohne etwas für sich, erweisen sich bei genauerem Hinsehen jedoch gerade in Hinblick auf den Einsatz der Photographie als technisch-apparativem Datenerhebungsverfahren in der Anatomie des 19. Jahrhunderts als wenig hilfreich oder gar als problematisch. Denn sie vermitteln den Eindruck, es kämen das photographische Medium in der Anatomie und die Anatomie im photographischen Medium quasi gleichsam zu sich selbst. Davon kann jedoch, wie im folgenden zu zeigen sein wird, überhaupt keine Rede sein. Von daher bedarf es einer bildkulturellen Spezifizierung, welche etwa zwischen künstlerisch und wissenschaftlich motiviertem, wissenschaftlich und medizinisch motiviertem, medizinisch und anatomisch motiviertem Bildgebrauch trennt und in der Bildgebung der makroskopischen Anatomie gegebenenfalls noch einmal zwischen systematischer und topographischer Anatomie differenziert. Zudem bietet sich eine medientechnische Spezifizierung an, welche es erlaubt, Phänomene der Transmedialsierung photographischer Bilder in die Publikationsform des anatomischen Atlanten zu beschreiben. Sowohl die Dimension bildkultureller als auch die Dimension medientechnischer Spezifizierung basieren auf folgender Einschätzung Stieglers: »Die Theorien der Photographie entstehen im 19. Jahrhundert vor allem in ihren verschiedenen Anwendungsfeldern. Dort und nicht im Bereich der Philosophie und Literatur- bzw. Kunstkritik finden sich die interessantesten und aufschlußreichsten Überlegungen zur Ästhetik der Photographie.«51 Und tatsächlich: Wenn es je eine differenzierte und explizite Theorie anatomisch motivierter Bildgebung seitens der Anatomie gegeben haben sollte, dann sicherlich in den Diskussionen über den Einsatz der Photographie in der Anatomie des 19. Jahrhunderts. Doch diese explizite Theorie des photographischen Bildes in der Anatomie des 19. Jahrhunderts ist nicht notwendig kongruent mit jener Theorie der Photographie, welche sich aus der bildkulturellen Praxis des in der makroskopischen Anatomie des 19. Jahrhunderts zur Anwendung gebrachten technisch-apparativen Datenerhebungsverfahrens der Photographie ergibt und welche ihrerseits rückgebunden bleibt an die in der visuellen Kultur der Anatomie privilegierte
sen.«(Ebd., S. 6f.) Hier also finden die Medizin und dabei vor allem die Anatomie ihre Entsprechung im photographischen Bild. 51. B. Stiegler: Philologie des Auges, S. 20. 149
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Publikationsform des anatomischen Atlanten. Von daher bietet es sich im folgenden an, sowohl die explizite Theorie der Photographie, wie sie sich in theoretischen Schriften der Medizin und auch der Anatomie des 19. Jahrhunderts manifestiert, als auch die der Bildund Publikationspraxis der Anatomie implizite Theorie der Photographie zu berücksichtigen und beide Theorien des Photographischen einer möglicherweise auch kontrastiven Lektüre zu unterziehen. Im Jahre 1886 erscheint in Halle/Saale Band 1 von Sigmund Theodor Steins Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung in der zweiten Auflage. Diese erstmals 1876 aufgelegte und sehr umfangreiche Abhandlung, welche mit 476 Text-Illustrationen und acht phototypischen und chronolithographischen Tafeln versehen ist, widmet ihr zweites Kapitel der ›Anwendung des Lichtes und der Photographie auf Anatomie, Physiologie, ärztliche Diagnostik und Anthropologie‹. Dort führt Stein bezüglich der Anatomie aus: »Wohl kaum für irgend einen Zweig der auf naturwissenschaftlicher Basis sich stützenden ärztlichen Forschung ist die graphische Darstellung der in Frage kommenden Objekte so wichtig geworden wie für die Anatomie.«52 Diese Aussage gibt nicht nur Auskunft über den sich im 19. Jahrhundert programmatisch vollziehenden Paradigmenwechsel von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft, sondern sie verdeutlicht auch, daß die Anatomie die erste der seit dem 19. Jahrhundert naturwissenschaftlich motivierten Grundlagendisziplinen der Medizin ist, welche ihren Modus der Wissensproduktion und -organisation der Bildfläche verschrieben hat. Somit verfügt die visuelle Kultur der Anatomie im 19. Jahrhundert sowohl historisch über das größte Bildwissen als auch systematisch über den differenziertesten Bildhaushalt in der Medizin. Dieser Einschätzung verleiht auch Choulant in seiner 1852 in Leipzig erschienenen Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung Ausdruck, in welcher er ein Zeitfenster öffnet für dasjenige, was er historiographisch zu erfassen versucht, nämlich das auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhende anatomische Bildzeugnis.53 Diese Geschichte des anatomischen
52. Sigmund Theodor Stein: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung. 1. Band, 2. Auflage, Halle/Saale 1886, S. 323. 53. Dabei gliedert Choulant die Geschichte der auf dem Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhenden, anatomisch motivierten Bildgebung in folgende sechs Abschnitte: »(I) Bis Berengar da Carpi; (II) Von Berengar bis Vesal; (III) Von 150
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Bildzeugnisses sieht Choulant, darauf macht er schon in dem Vorwort aufmerksam, zu seiner Zeit mannigfaltigen wissenschaftskulturellen und bildmedialen Herausforderungen ausgesetzt, von denen er besonders »das Aufblühen der histologischen und mikroskopischen Anatomie, die Benutzung des Steindruckes, des Stahlstiches, des Daguerreotyps«54 betont. Da es die Absicht Choulants ist, sowohl die wissenschaftliche als auch die Künstleranatomie zu berücksichtigen, muß er angesichts der oben skizzierten Herausforderungen feststellen: »Zur Zeit des vorhin angedeuteten Abschlusses in der wissenschaftlichen Anatomie ist aber ein solcher Abschluss in der Kunstanatomie nicht bemerkbar.«55 Auch jenseits des Umstandes, daß gerade die Künstleranatomie im 19. Jahrhundert in den Verdacht des Akademismus geraten und spätestens seit diversen Avantgardismen im frühen 20. Jahrhundert an Bedeutung verlieren sollte, ist Choulants Diagnose von 1852 aus verschiedenen Gründen erstaunlich. Denn zum einen gelingt ihm bezüglich anatomisch motivierter Bildgebung eine Verschränkung von wissenschaftskulturellen und medientechnischen Aspekten, welche ihre historisch prägnanteste Ausformung sicherlich in dem 1845 von Alfred Donné in Paris publizierten Cours de microscopie erfährt, einem, wie es im Untertitel heißt, ›Atlas exécuté d’après nature au microscope-daguerréotype‹. Dieser unter Mitwirkung von Léon Foucault konzipierte Atlas präsentiert 86 Zeichnungen, welche auf der Grundlage von mikroskopischen Daguerreotypien angefertigt worden sind, und er gilt als die erste genuin medizinisch motivierte Publikation, in welcher die Daguerreotypie als technisch-apparatives Datenerhebungsverfahren eine tragende Rolle gespielt hat. Zum anderen ist die Tatsache erstaunlich, daß Choulant deshalb eine Zäsur in der von ihm fokussierten anatomisch motivierten Bildgebung prognostiziert, nämlich dahingehend, daß sich gerade die makroskopische Anatomie durch ihre mikroskopischen und bildmedialen Herausforderungen grundsätzlich verändern wird. Während Choulant also 1852 eine historiographische Konservierung des auf der Zeichnung beruhenden anatomischen Bildzeugnisses, dessen Ende er prognostiziert, anstrebt, nimmt Stein 1886 eine gänzlich andere Perspektive ein. Zwar verweist auch er indirekt
Vesal bis Casserio; (IV) Von Casserio bis Albinus; (V) Von Albinus bis Sömmerring; (VI) Von Sömmerring bis in die Neuzeit.« (L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der Anatomischen Abbildung, S. VI) 54. Ebd., nicht paginiert [= Seite 1 des Vorwortes]. 55. Ebd. 151
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auf die Tatsache, daß es mit Donnés Cours de microscopie von 1845 die Anatomie gewesen ist, welche sich als erste medizinische Disziplin auf das technisch-apparative Datenerhebungsverfahren der Daguerreotypie – hier verstanden als Prototyp der Photographie – gestützt hat, wenn er behauptet: »Sofort bei ihrem ersten Erscheinen wurde die Photographie zur Abbildung anatomischer Präparate genutzt.«56 Was Stein aber im Namen der Photographie verschweigt, ist genau dasjenige, was Choulant betont, nämlich der Umstand, daß weder die makroskopische Anatomie noch das auf der Zeichnung beruhende anatomische Bildzeugnis bei sich selbst bleiben werden. Tatsächlich liegt die Motivation Choulants darin begründet, eine historische Arbeit über etwas zu verfassen, was der Vergangenheit angehört und seiner Einschätzung zufolge keine Zukunft haben wird. Insofern beruft sich Choulant auf eine Tradition, welche zu ihrem Ende gekommen ist, wohingegen Stein sich in seiner systematisch angelegten Arbeit auf eine Tradition anatomisch motivierter Bildgebung beruft, welche durch die Errungenschaften des technisch-apparativen Datenerhebungsverfahrens der Photographie schlußendlich und folgerichtig zu sich selbst gefunden habe. Hier wird deutlich, daß Choulant und Stein keineswegs über den gleichen Gegenstand schreiben, denn Choulant befaßt sich mit der makroskopischen Anatomie, welche auf eine nun vermeintlich beendete Tradition anatomisch motivierter Bildgebung zurückblikken kann, während Stein sich in dem Unterkapitel seiner Abhandlung zwar auch auf diese Tradition beruft, diese aber nicht historiographisch konservieren, sondern unter anderen bildmedialen Vorzeichen in die Zukunft projizieren will. Dem Selbstverständnis nach verwaltet Choulants Publikation das Ende, wohingegen Steins Publikation an der Zukunft arbeitet. Als imaginäre Umschlagstelle fungiert indes eine andere Publikation, nämlich Donnés Cours de microscopie aus dem Jahre 1845, welcher zwar bei Choulant und Stein nicht ausdrücklich erwähnt wird, andererseits aber die Koordinaten der jeweiligen Argumentationen absteckt. Da noch Putscher in ihrer Geschichte der medizinischen Abbildung von 1972 zu dem Schluß kommt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts ereigne sich durch das Aufkommen der Daguerreotypie und der Photographie der »Untergang der alten Bildwelt«57 und damit die Verabschiedung der Zeichnung aus der medizinischen Bildkultur, bietet es sich an, zunächst einen kurzen Blick auf die Ausformung einer expliziten Theorie der
56. S.Th. Stein: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung, S. 323. 57. M. Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung II, S. 141. 152
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Photographie in der Medizin bzw. der Anatomie des 19. Jahrhunderts zu werfen. Dort nämlich werden der Photographie ganz selbstverständlich bestimmte Qualitäten zugesprochen, welche diese als technisch-apparatives Datenerhebungsverfahren von dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung unterscheiden sollen. Dabei stehen in der Regel zwei Aspekte im Vordergrund: einerseits die vorausgesetzte Naturtreue der Photographie, andererseits die Verabschiedung des mannigfaltig verdächtig gewordenen Bildproduzenten. Dies zeigt sich beispielhaft etwa in Ludwig Jankaus 1893 publizierter Arbeit mit dem Titel Die Photographie in der praktischen Medizin, in welcher festgestellt wird, »dass die Photographie uns jeden Gegenstand naturgetreu wiedergibt, d.h. ohne dass subjective Anschauungen wie z.B. durch den idealisierend wirkenden Zeichenstift des Zeichners hineingetragen werden können […] und es erfreuen sich heute alle medicinischen Disciplinen der regen Unterstützung der Photographie.« 58 Die der Photographie in der Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigemessene Bedeutung liegt zunächst also in dem Umstand begründet, daß sie es als technisch-apparatives Datenerhebungsverfahren erlaubt, den professionellen Bildproduzenten aus dem Modus medizinischer Wissensproduktion und -organisation zu streichen und diese damit gleichsam einer sich unmittelbar auf dem Bildträger einschreibenden Natur anheimzugeben. So jedenfalls heißt es in Ausgabe 47 der Wiener Medizinischen Wochenschrift aus dem Jahre 1877: »Das Präparat wird nicht blos ersetzt, sondern geradezu vervielfältigt, in gleicher handsamer wie belehrender Form.«59 Auf die Tatsache, daß die Photographie als Datenerhebungstechnologie nicht mehr – wie noch die Zeichnung – auf die vermittelnden Fertigkeiten eines Bildproduzenten angewiesen ist, macht etwa auch Benjamin aufmerksam, wenn er feststellt: »Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen.«60 Dies gilt selbstverständlich auch für anatomisch motivierte Bildgebung. Vorsicht geboten ist allerdings, wenn Daston/Ga-
58. Zitiert nach: G. Schmidt: Anamorphotische Körper, S. 22. 59. Zitiert nach: ebd., S. 22. 60. W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 10f. 153
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lison angesichts der Etablierung der Photographie in der Medizin des 19. Jahrhunderts behaupten: »Die Mediziner haben keinerlei Verwendung mehr für die großen Künstler der Zeit, wie noch Vesal sie hatte.«61 Denn es darf nicht vergessen werden, daß schon der professionelle Bildproduzent anatomischer Atlanten des 16. Jahrhunderts nur äußerst selten in den Autorisierungsprozeß anatomischen Wissens einbezogen wurde, daß er dort so gut wie nie nominell angeführt wurde und daß ihm auf den mittels des Holzschnitts oder des Kupferstichs druckgraphisch reproduzierten Zeichnungen nur in wenigen Ausnahmefällen eine Signatur erlaubt wurde. Schließlich ist auch die Logik des anatomischen Bildzeugnisses seit dem 16. Jahrhundert idealiter eine der völligen medialen Transparenz, wie sie sich am eindrucksvollsten in Albertis Definition des Bildes als Schnitt durch die Sehpyramide und in der Metapher des Bildes als ›offenem Fenster‹ artikuliert. So bleibt zunächst einmal festzustellen, daß sich die expliziten theoretischen Diskussionen über die Anwendung der Photographie in der Medizin des 19. Jahrhunderts insgesamt weniger gegen das Datenerhebungsverfahren der Zeichnung insgesamt als gegen den an diesem notwendig beteiligten professionellen Bildproduzenten richten. Dies verdeutlicht aber auch, daß die Bildkultur der Anatomie im 19. Jahrhundert bereits eine etablierte ist. Die Photographie wird auch nicht mehr, wie dies noch bei dem anatomischen Bildzeugnis in der frühen Neuzeit der Fall gewesen ist, gegen die Schrift in Stellung gebracht wird, sondern gegen ein anderes bildmediales Datenerhebungsverfahren, nämlich die Zeichnung und die von ihr nicht zu lösende Funktion des professionellen Bildproduzenten. So findet auch hier ein Kampf um den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation statt, wobei sich die Argumentationen dieses Mal, anders als in der frühen Neuzeit, direkt auf die Bildfläche beziehen, ohne allerdings notwendig auf dieser stattzufinden. Denn tatsächlich dauert es sehr lange, bis die Photographie als technisch-apparatives Datenerhebungsverfahren der Anatomie in die Publikationsform des anatomischen Atlanten Eingang findet. Im Jahre 1861 erscheint in München die erste Auflage von Nicolaus Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems des menschlichen Körpers, wobei es sich hier nicht eigentlich um einen Atlanten handelt. Was Rüdinger vorlegt, ist eine fortlaufende, nicht gebundene Publikationsreihe, welche aus zehn in einer Kartonmappe zu sammelnden Lieferungen zwischen 1861 und 1867 besteht.
61. L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«, S. 58. 154
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Dabei umfaßt jede Lieferung fünf Photographien und fünf Seiten Text in deutscher und französischer Sprache. Es ist zwar bemerkenswert, daß Rüdinger als »erster fast ausschließlich durch Photographien illustrieren ließ.«62 Die der jeweiligen Lieferung beigefügten Photographien sind allerdings umfangreichen Retouchierungen unterworfen worden. Dazu merkt Maehle an: »Some of its photographs are so retouched that they can hardly be recognized as such, but rather look like the former engravings made from drawings.«63 Wirft man einen Blick auf Figur XXXXIII der neunten Lieferung aus dem Atlas des peripherischen Nervensystems aus dem Jahre 1865 (Abb. 11), dann wird schnell ersichtlich, wovon Maehle hier spricht. Im Jahre 1878 veröffentlicht Rüdinger seine Topographischchirurgische Anatomie des Menschen. Diese ist in vier Abteilungen angelegt, umfaßt 43 Tafeln mit insgesamt 132 Figuren, welche allesamt in Lichtdruck reproduziert worden sind, einem aufwändigen und kostenintensiven, um 1870 von Albert in München entwickelten Verfahren.64 Hinzu kommen vier Stahlstichtafeln sowie 27 Holzschnitte. Die erste und zweite Abteilung von Rüdingers Topographisch-chirurgischer Anatomie des Menschen aus dem Jahre 1878, welche sich mit dem Thorax und dem Abdomen beschäftigen, enthalten auch zahlreiche photographische Gefrierschnitte, welche, wie Rüdinger ausführt, »mit Farben versehen«65 und mittels Lichtdruck auf die Buchseite des Atlanten transmedialisiert worden sind. Ein Jahr später erscheint ein Supplement zur Topographisch-chirurgischen Anatomie des Menschen, in dessen Vorbemerkung es heißt: »Die nachfolgenden Abbildungen werden gewiss als photographische Copien der natürlichen Objekte manchen Freunden der topographischen Anatomie willkommen sein.«66 Wie schon in dem
62. Frank Heidtmann: Wie das Photo ins Buch kam, Berlin 1984, S. 101. 63. Andreas-Holger Maehle: »The search for objective communication: medical photography in the nineteenth century«, in: Renato G. Mazzolini (Hg.), Nonverbal communication in science prior to 1900, Firenze 1993, S. 563-586, hier S. 571. 64. Vgl. dazu: E. Rebel: Druckgrafik, S. 196f. Es sei angemerkt, daß eben jener Josef Albert, welcher um 1870 den Lichtdruck – oder, wie es bisweilen heißt, die Alberttypie – erfunden hat, auch derjenige Photograph ist, von dem die in Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems des menschlichen Körpers von 1861 präsentierten Photographien stammen. 65. Nicolaus Rüdinger: Topographisch-chirurgische Anatomie des Menschen, Stuttgart 1878, S. iv. 66. Nicolaus Rüdinger: Supplement zur topographisch-chirurgischen Anatomie des Menschen, Stuttgart 1879: nicht paginiert. 155
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Hauptband und in dem Atlas des peripherischen Nervensystems sind auch die hier mittels Lichtdruck reproduzierten Photographien mannigfaltigen Retouchierungen – Kolorierung, Konturierung usf. – unterzogen worden. Eine ganz andere Strategie der Anwendung der Photographie als technisch-apparativem Datenerhebungsverfahren in der Anatomie entwickelt Johannes Sobotta um die Jahrhundertwende für seinen 1904 erstmals erschienenen, 1913 in zweiter Auflage und in drei Bänden veröffentlichten Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen. In dem Vorwort zur ersten Auflage von 1904 heißt es: »Um möglichste Naturtreue der Abbildungen zu erreichen, werden sämtliche in dem Atlas dargestellten Präparate photographiert.«67 Diese Aussage ist durchaus mißverständlich. Denn die Funktion der Photographie geht bei Sobotta nicht darin auf, das Präparat auf der photographischen Bildfläche aufzuzeichnen und diese dann druckgraphisch in den Atlanten zu transmedialisieren. So führt Sobotta aus: »In der grossen Mehrzahl der Fälle wurden Pausen der Photographien für die Anlage der Abbildungen benutzt, nur einige Figuren sind direkte Reproduktionen von photographischen Aufnahmen oder stellen einfach überarbeitete Photographien dar.« 68 Insofern fungiert die Photographie in Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 zwar durchaus als Datenerhebungstechnologie, doch es ist nicht das von der Datenerhebungstechnologie generierte Bild, welches daraufhin im Atlanten präsentiert wird. Dabei dient die Photographie des Präparats nicht nur als Vorlage für mannigfaltige Retouchierungen, wie es schon bei Rüdingers Topographisch-chirurgischer Anatomie des Menschen aus dem Jahre 1878 der Fall war, sondern auch für gänzlich neue Bildverhältnisse, nämlich dann, wenn sie abgepaust, zeichnerisch umgestaltet und letztlich koloriert wird (Abb. 12). Für die druckgraphische Reproduktionstechnik heißt das, daß das genuine Datenerhebungsverfahren der Photographie gar nicht notwendig Gegenstand der druckgraphischen Reproduktion ist. Dennoch führt Sobotta im Vorwort zur ersten Auflage von 1904 aus: »Was die Reproduktionsmethode betrifft, so wurde in diesem Atlas – meines Wissens zum ersten Male für den Zweck der anatomischen Abbildung – die mehrfarbige Lithographie verwandt.«69 In der er-
67. Johannes Sobotta: Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen. I. Abteilung, 2. Auflage, München 1913, S. VI. 68. Ebd. 69. Ebd. 156
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sten Abteilung der zweiten Auflage des Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1913 sollte sich zunächst auch die druckgraphische Reproduktionstechnik ändern, denn diese ersetzt die lithographischen Tafeln von 1904 durch die Autotypie und katalogisiert 166 farbige und 143 schwarz-weiße Abbildungen auf autotypischen Tafeln sowie 27 teils farbige Figuren im Text. Diese sind, dies ist auf dem Titelblatt vermerkt, von ›Maler K. Hajek‹ angefertigt worden. Zudem, und hier vollzieht sich ein weiterer Rückzug der Photographie aus der Anatomie, sind die Tafeln zum Muskelsystem in der zweiten Auflage nicht mehr nach photographischen Vorlagen entstanden, sondern die Zeichnung wird als manuelles Datenerhebungsverfahren rehabilitiert. Beide Beispiele für die Katalogisierung photographischen Bildmaterials im anatomischen Atlanten, also sowohl Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems von 1861 als auch Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904, verdeutlichen, daß die Photographie in der visuellen Kultur der Anatomie des 19. Jahrhunderts offenbar ganz bestimmte Probleme aufwirft. Diese gehen über die in den theoretischen Beiträgen einigermaßen euphorischen Momente der Verabschiedung des professionellen Bildproduzenten und der Verherrlichung der unwiderruflichen Naturtreue hinaus. Es zeigt sich, daß die spezifisch anatomisch motivierte Publikationspraxis eine andere Theorie des photographischen Bildes in der und für die Anatomie zu schreiben erlaubt. Diese hat sich ganz wesentlich auf zwei Aspekte des Photographischen zu beziehen, nämlich einerseits auf druckgraphische Reproduktionstechniken, welche es ermöglichen, die Photographie in die Publikationsform des Atlanten zu transmedialisieren – dies spielt vor allem hinsichtlich Rüdingers Experimente aus den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Rolle –, und andererseits auf genuin bildkulturelle Probleme, mit welcher sich anatomisch motivierte Bildgebung bei der Anwendung der Photographie als Datenerhebungstechnologie konfrontiert sieht, was sich sowohl in Rüdingers als auch in Sobottas Atlas zumindest implizit zeigt. Die Anwendung der Photographie in der Anatomie wirft also einerseits Fragen nach ihrem Status als Datenerhebungstechnologie und andererseits Fragen nach Möglichkeiten ihrer duckgraphischen Reproduktion auf. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Photographie im 19. Jahrhundert selbst als Reproduktionstechnologie in Konkurrenz etwa zu Kupferstich und Holzschnitt sowie weiteren manuellen druckgraphischen Reproduktionstechniken verhandelt
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wird.70 Gleichwohl ist, wie Rebel betont, die »Fotografie […] keine druckgrafische Technik«71, welche es erlauben würde, Bildformate unvermittelt in Buchpublikationen zu transmedialisieren. So sind die seit dem Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts von Pionieren wie Nicéphore Niépce, Louis-Jacques Daguerre und Henry Fox Talbot experimentell entwickelten photographischen Prototypen ihrerseits keineswegs von Anfang an für eine massenhafte Reproduktion geeignet. Gerade die 1839 auf den Markt kommende Daguerreotypie war als auf einer silberbeschichteten Kupferplatte befindliche zunächst selbst ein Unikat, welches erst einige Jahre später, vor allem durch die 1847 entstandenenen Negative auf Glas, reproduzierbar wurde. Es folgen Jahrzehnte mannigfaltigen Experimentierens mit verschiedenen Reproduktionstechniken und Bildträgern.72 Lange Zeit aber noch waren Abzüge photographischer Negative sowohl qualitativen als auch quantitativen Beschränkungen unterworfen. Während diese auf die Tatsache zurückzuführen sind, daß ein jedes Negativ nur ein begrenzte Anzahl an Abzügen erlaubt, lassen sich qualitative Abstriche besonders daran festmachen, daß die photographischen Abzüge einerseits selbst nicht unendlich konservierbar gewesen sind und andererseits die Bildqualität des photographischen Originals vielfach korrumpiert haben. Aufgrund dieser in der Jahrhundertmitte festzustellenden grundsätzlichen Schwierigkeit, das photographische Bild durch dessen Negativ zu reproduzieren und in hoher Auflage in den Umlauf zu bringen, verwundert es nicht, daß die druckgraphische Reproduzierbarkeit der Photographie für etwaige Publikationen anfangs überhaupt noch nicht oder zumindest nur in äußerst begrenztem Umfang gegeben war. So hat etwa Talbot mangels geeigneter Drucktechniken Abzüge photographischer Negative in seine mehrbändige, in den Jahren 1844 bis 1846 erschienene Publikation The Pencil of Nature eingeklebt, was nicht nur einen unverhältnismäßig großen Zeitaufwand, sondern gerade wegen der begrenzten Reproduzierbarkeit der Negative auch eine nur geringe Auflagenzahl mit sich brachte.73
70. Vgl. dazu grundsätzlich: W. Benjamin: »Das Kunstwerk«. 71. E. Rebel: »Druckgrafik«, S. 107. 72. Vgl. hierzu vor allem: Sylvie Aubenas: »Fotografie und Druckgrafik. Vervielfältigung und Beständigkeit des Bildes«, in: M. Frizot, Geschichte der Photographie, S. 224-231; F. Heidtmann: Wie das Photo ins Buch kam; Rolf H. Krauss: »Photographs as Early Scientific Book Illustrations«, in: History of Photography. Volume 2, Number 4 (1978), S. 291-314; E. Rebel: Druckgrafik. 73. Vgl. dazu: Hubertus von Amelunxen: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Berlin 1988. 158
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
Mit der Autotypie aber erfindet Georg Meisenbach 1881/82 ein Verfahren des Rasterdrucks, welches schnell zum führenden System des industriellen Buchdrucks werden und in seiner Weiterentwicklung bis zur Jahrhundertwende die druckgraphische Reproduktion fast eines jeden Bildmediums erlauben sollte: »Der industrielle Rasterdruck um 1900 ist der Einverleiber aller vorgängigen Medien und Formen, der quasi-authentische Einebner aller Erscheinungsunterschiede.«74 Die Bedeutung der Autotypie für den Einsatz der Photographie in der Medizin und die damit einhergehende Verbesserung der Bildqualität läßt sich etwa bei Richard Kretz festmachen. Dieser schreibt in einem Beitrag der Wiener Klinischen Wochenschrift aus dem Jahre 1894: »In der That sieht man in den letzten Jahren Publicationen aus den verschiedenen Gebieten der Medizin mit photographischen Abbildungen versehen, die zum Theil, was Deutlichkeit und Schönheit betrifft, guten Zeichnungen vollkommen gleichgestellt werden können, an Naturwahrheit dieselben aber bei weitem übertreffen.« 75 Hier wird deutlich, daß die von Beginn an vielfach betonte Option der Naturtreue der Photographie in der Medizin erst in dem Augenblick eingelöst und die Photographie als Datenerhebungstechnologie erst dann zu einer wirklichen bildmedialen Alternative zur herkömmlichen Zeichnung werden kann, als sie selbst druckgraphisch einwandfrei reproduzierbar wird. Von diesem Augenblick an allerdings spielt die Publikationsform des anatomischen Atlanten als drucktechnischer Verwendungszweck idealiter eine andere Rolle, als dies etwa für die zur Publikation angefertigte, manuell druckgraphisch zu reproduzierende anatomische Zeichnung in der frühen Neuzeit gilt. Denn seit dem Aufkommen der Autotypie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts führt dieser der Anatomie genuine Verwendungszweck nicht mehr notwendig zu einer dem Buchdruck vorgängigen Reflexion über die konkrete materielle Verfaßtheit der der druckgraphischen Reproduktion anheimzugebenden bildmedialen Vorlage. Für die traditionelle anatomische Zeichnung ist der zeichnerische Gestaltungsspielraum des Bildproduzenten zumindest bis zum Aufkommen des Flachdruckverfahrens der Lithographie um 1800 eingeschränkt, so daß sie sich den Bedingungen ihrer medientechnischen Reproduzierbarkeit antizipatorisch anzuverwandeln
74. E. Rebel: Druckgrafik, S. 116f. 75. Zitiert nach: G. Schmidt: Anamorphotische Körper, S. 23. 159
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hat. Dies gilt für im Atlanten zu katalogisierendes photographisches Bildmaterial seit der Autotypie nicht mehr. Diese druckgraphischen Aspekte der Transmedialisierung haben nicht zuletzt auch bildkulturelle Implikationen, von denen etwa die seit dem 16. Jahrhundert privilegierte Publikationsform der Anatomie, der anatomische Atlas, eine darstellt. Betrachtet man die ersten Jahrzehnte des Einsatzes der Photographie in der Medizin, so wird schnell deutlich, daß auf der einen Seite zwar sowohl die pathologische als auch die mikroskopische Anatomie eine gewisse Vorreiterfunktion eingenommen haben, daß auf der anderen Seite aber die makroskopische Anatomie so gut wie gar keine Rolle gespielt hat. So verwundert es nicht, daß Taureck in ihrer materialreichen Studie zur Photographie in der Medizin des 19. Jahrhunderts zwar weit gefaßte Anwendungsgebiete von der Histologie und der Bakteriologie über die Pathologie bis hin zur Psychiatrie ausweisen kann, die makroskopische Anatomie aber überhaupt gar nicht erwähnt, geschweige denn behandelt wird.76 Die Gründe dafür erschöpfen sich jedoch keineswegs in dem medientechnischen Umstand, daß die makroskopische Anatomie die Datenerhebungstechnologie der Photographie erst mit dem Aufkommen der Autotypie qualitativ und quantitativ befriedigend in die von ihr privilegierte Publikationsform des Atlanten transmedialisieren lassen kann. Vielmehr läßt sich das nahezu vollständige Ausbleiben des photographischen Bildes auf der Buchseite des anatomischen Atlanten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch auf spezifisch bildkulturelle Probleme zurückführen. Die eigentliche Frage dabei ist, warum diese aus der anatomischen Publikationspraxis des 19. Jahrhunderts abzuleitende implizite Theorie des photographischen Bildes kaum deckungsgleich ist mit jener expliziten, welche sich in zahlreichen Schriften und Beiträgen niederschlägt. Möglicherweise schreibt die makroskopische Anatomie durch ihre spärliche und – gerade angesichts der euphorischen Affirmation der Photographie durch die medizinische Fachliteratur – einigermaßen seltsam anmutende Publikationspraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch weniger eine implizite Theorie der Photographie denn eine verspätete, aber gleichfalls implizite Theorie des auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhenden anatomischen Bildzeugnisses. Daston/Galison propagieren die Unterscheidung zwischen einem naturphilosophisch motivierten Begriff der Wahrheit und
76. Vgl. dazu: R. Taureck: Die Bedeutung der Photographie. 160
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einem naturwissenschaftlich motivierten Begriff der Objektivität. Deren Spannungsverhältnis manifestiere sich wissenschaftshistorisch auch auf der Bildfläche des anatomischen Atlanten des 19. Jahrhunderts.77 Bezüglich des Datenerhebungsverfahrens der Zeichnung, welches seit der Ausformung der visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert die Bildfläche des anatomischen Atlanten präfiguriert hat, machen Daston/Galison zahlreiche Möglichkeiten der bildmedialen Aufbereitung körperlicher Sachverhalte aus, darunter etwa typisierende, idealisierende, charakterisierende und naturalisierende Strategien.78 Hingegen verpflichte sich die Photographie aufgrund ihrer Indexikalität demjenigen, was Daston/Galison als »›mechanische‹ Objektivität«79 bezeichnen, da sie in jedem Fall ein individuelles Präparat auf der Bildfläche aufzeichne. Diese mechanische Objektivität entbehre notwendig dem gestalterischen Spielraum des professionellen Bildproduzenten und garantiere insofern eine möglichst subjektfreie Form anatomisch motivierter Bildgebung. Diese sei schon seit dem frühen 19. Jahrhundert auch als Desiderat des auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhenden anatomischen Bildzeugnisses auszumachen. Darin sehen Daston/Galison eine Distanzierung von den idealisierenden Tendenzen naturphilosophischer Wahrheit im Namen naturwissenschaftlicher Objektivität. Von daher kommen sie zu dem Schluß:
77. Vgl. dazu: L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«. 78. Eine präzise Differenzierung dieser explizit genannten Strategien bleiben Daston/Galison allerdings schuldig. So differenzieren sie folgendermaßen zwischen idealisierenden und charakterisierenden Strategien: »Kurz gesagt möchte das ›ideale‹ Bild nicht nur das Typische, sondern das Perfekte wiedergeben, während das ›charakteristische‹ Bild das Typische in einem Einzelphänomen verortet.« (Ebd., S. 42) Bezüglich der Idealisierung stellen sie fest: »[…] zögerten Albinus und andere idealisierende Atlasautoren nicht, Bilder niemals gesehener Objekte zu zeigen, dies jedoch durchaus im Interesse der Naturtreue und nicht im Verstoß gegen sie.« (Ebd., S. 47) Zu der charakteristischen Strategie merken sie an: »Atlanten mit ›charakteristischen‹ Bildern können als eine Mischform zwischen dem idealisierenden und dem anturalisierenden Ansatz angesehen werden: Obwohl ein Einzelobjekt (und keine vorgestellte Komposition oder ein korrigiertes Ideal) dargestellt ist, wurde das Bild erstellt, um eine ganze Klasse von ähnlichen Objekten zu repräsentieren.« (Ebd., S. 51) Daraus folgt: »Das Typische mußte nun am Einzelfall beispielhaft gemacht werden, aber nichtsdestoweniger existiert das Typische, das durch Einschätzungsvermögen und lange Vertrautheit mit dem Phänomen erkannt wird.« (Ebd., S. 54) 79. Ebd., S. 31. 161
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»Zunächst mag man glauben, daß es aufgrund der Einführung der Fotografie zum Wandel von Idealtypen zur individuellen Darstellung gekommen ist […] Aber wie wir gesehen haben, begann der Widerstand gegen die Abbildung eines abstrahierten Typus oder Ideals, lange bevor der fotografische Beweis sich auf den Seiten der medizinischen Atlanten nach den 1870er Jahren breitmachte.« 80 Diese Argumentation ist auf der einen Seite, nämlich aus wissenschaftshistorischer Perspektive, aufschlußreich, da sie ganz spezifisch wissenschaftskulturelle Gründe für einen möglichen Einsatz der Photographie als technisch-apparativem, subjektfreiem und mechanische Objektivität garantierendem Datenerhebungsverfahren geltend macht. Auf der anderen Seite, nämlich aus medien- bzw. bildwissenschaftlicher Perspektive, ist diese Argumentation aber problematisch. Denn sie übersieht, daß die Photographie nicht einfach eine Datenerhebungstechnologie ist, welche wissenschaftskulturelle Prämissen der Anatomie des 19. Jahrhunderts medientechnisch perfektioniert und damit die Anatomie auf der Bildfläche schlußendlich zu sich selbst bringt. Freilich macht es durchaus einen Unterschied, ob das manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung oder das technischapparative Datenerhebungsverfahren der Photographie für eine naturalisierende Strategie eingesetzt wird. Doch dieser Unterschied geht nicht unmittelbar in einem medientechnisch bedingten Fortschritt anatomisch motivierter Bildgebung auf. Darüber geben die photographischen Bildpraktiken etwa in Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems von 1861 und in Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 unmißverständlich Auskunft. Und sie geben auch Auskunft darüber, daß anatomisch motivierte Bildgebung durch den Einsatz der Photographie als Datenerhebungstechnologie nicht zu einer subjektfreien Zone automatisierter, mechanischer Objektivität wird, sondern daß genau andersherum anatomisch motivierte Bildgebung nicht mit dem eigentlichen photographischen Akt zum Abschluß kommt. Dies ist durchaus verwunderlich, wenn man bedenkt, daß etwa Jules Janssen 1883 für die Photographie als technisch-apparativem Datenerhebungsverfahren in den Wissenschaften prognostiziert: »la plaque photographique sera bientôt la véritable rétine du savant.«81 Damit verhandelt Janssen die Photographie als etwas, auf dessen Bildfläche sich Natur scheinbar unmittelbar selbst einschreibt und was sich als bildgebendes Verfahren fundamental von
80. Ebd., S. 57. 81. Zitiert nach: B. Stiegler: Philologie des Auges, S. 33. 162
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der Zeichnung unterscheidet. Während die Zeichnung nicht von dem professionellen Bildproduzenten absehen kann, sie also notwendig immer ein Erfahrungsbild darstellt, auch wenn in ihr naturalisierende bildmediale Strategien geltend gemacht werden, findet in der Photographie zunächst eine Delegierung der Bildproduktion an den Apparat statt. Insofern handelt es sich hier nicht um ein Erfahrungs-, sondern um ein Informationsbild. Indem Janssen dieses Informationsbild als die wahrhaftige Netzhaut des Wissenschaftlers kennzeichnet, verdeutlicht er, daß das technisch-apparative Datenerhebungsverfahren der Photographie den Modus der Wissensproduktion und -organisation in diversen Wissenschaften nicht unberührt lassen und selbst zu einem Objekt der Forschung werden sollte. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, daß die Photographie eine in den Naturwissenschaften zunehmend als dynamisch konzipierte Natur augenblicklich zur Verschlußsache des Objektivs geraten läßt und sich insofern als ein der Physiologie des menschlichen Auges technisch überlegenes Verfahren offenbart.82 Prominente Beispiele dafür geben photographische Serien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab – darunter vor allem Eadweard Muybridges Animal Locomotion aus dem Jahre 1887 oder Étienne Jules Mareys Die Chronophotographie von 1893 –, welche in schneller Bewegung befindliche Objekte auf der Bildfläche bannen und dabei Bewegungsabfolgen festhalten, die dem menschlichen Auge entgehen. Diesen besonderen Stellenwert der Photographie betont auch Stein im Vorwort seiner erstmals 1876 erschienenen Arbeit über Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung: »Während die Zeichenkunst und Malerei nur Gegenstände, die neben einander in dem Raume existiren, mit ihren sichtbaren Eigenschaften darzustellen im Stande sind, wurde es Aufgabe der Lichtbildkunst, nicht allein alle im Raume existirenden Körper, sondern auch deren fortdauernden Bewegungen, welche in jedem Augenblicke der
82. Dazu führt Busch aus: »Die Kamera wurde im 19. Jahrhundert zu einem Werkzeug, einem ›Ersatz‹ des mit Mängeln behafteten menschlichen Auges.« (B. Busch: Belichtete Welt, S. 240) Und Stiegler merkt an: »Die Welt der Kamera ist nicht die des Auges. Sie wird neue Felder der Sichtbarkeit erobern, die dem Auge verborgen geblieben sind, so wie es seinerseits dem Auge zukommt, seinen Blick auf die Dinge neu zu bestimmen.« (B. Stiegler: Philologie des Auges, S. 40) Zu der These, Medien präfigurierten die Wahrnehmungsmodalitäten oder fungierten gar als Prothesen des menschlichen Körpers, vgl. prominent: W. Benjamin: »Das Kunstwerk«; Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. ›Understanding Media‹, Düsseldorf, Wien 1992. 163
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Dauer sich ändern können, sowie die augenblicklich entstehenden und vergehenden Erscheinungen im Bilde zu fesseln.«83 Somit erscheint die Photographie nicht nur als ein dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung überlegenes Bildmedium wissenschaftlicher Forschung, sondern sie fungiert auch, wenngleich nicht ausdrücklich, als jene ›rétine du savant‹, welche Janssen als eine dem menschlichen Auge überlegene kennzeichnen sollte. Mithin wird der Photographie gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Informationsbild eine zweifache Bedeutung zugeschrieben, denn zum einen erlaubt sie es den Wissenschaften, sich der vermittelnden, als subjektiv disqualifizierten Tätigkeit des professionellen Bildproduzenten zu entledigen, und zum anderen erlaubt sie eine technisch-apparative Wissensformation, welche über die autoptische Wissensformation, wie sie sich etwa in der Anatomie des 16. Jahrhunderts programmatisch entfaltet, hinausgeht. Dies mag für verschiedene Wissenschaften und insbesondere auch für den Einsatz der Chronophotographie gelten, erweist sich in Hinblick auf die makroskopische Anatomie des 19. Jahrhunderts aber als fragwürdig und kommt dort erst im Rahmen der Etablierung der Röntgentechnik, dies wird später zu diskutieren sein, zur Geltung. Denn tatsächlich verhält es sich so, daß die autoptische, seit dem 16. Jahrhundert programmatisch der Physiologie des Auges des professionellen Anatomen verpflichtete Wissensformation in den Diskussionen über den Einsatz der Photographie in der Anatomie des 19. Jahrhunderts überhaupt gar nicht und sicherlich nirgendwo zur Diskussion steht. Dies liegt zunächst einmal darin begründet, daß die Photographie sich einerseits zwar als Datenerhebungstechnologie von der Zeichnung unterscheidet, sie andererseits aber genau wie die Zeichnung die Sektion des menschlichen Körpers und damit die Anfertigung eines zu photographierenden Präparats erfordert. Neben der Tatsache, daß das Präparat als Gegenstand der photographischen Aufnahme in der Anatomie naturgemäß nicht in Bewegung ist, wird deutlich, daß die der Photographie beigemessene mechanische Objektivität durchaus selbst zu einem Problem werden kann. Denn die Photographie zeigt nichts anderes als das von dem professionellen Anatomen mit dem Skalpell angefertigte und temporär vorliegende Präparat. Und sie zeigt es, zumindest auf den ersten Blick, genau so, wie es präpariert und auf dem Seziertisch positioniert worden ist, und zwar genau in jenem Zustand der Zergliede-
83. S.Th. Stein: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung, S. vf. 164
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rung, in welchem es sich augenblicklich – also in dem Moment des photographischen Aktes – befindet.84 Das heißt bezüglich des Einsatzes der Photographie für anatomische Zwecke aber auch, daß dem photographischen Bild gerade aufgrund seines Status als Informationsbild einige derjenigen Operationen auf der Bildfläche verschlossen sind, welche die auf der Zeichnung beruhenden Bildzeugnisse in frühen anatomischen Atlanten als spezifisch anatomisches Bildmaterial gekennzeichnet haben. Die Photographie ist vielfach als technisch-apparativer Vollzug des perspektivisch entfalteten bildmedialen Raums ausgewiesen worden.85 Gerade deshalb aber erlaubt es ihr Status als Informationsbild nicht mehr, die im perspektivischen Bildprogramm idealiter verankerte Einheit von Blick, Bildraum und Zeitpunkt derart zu durchbrechen, wie es in zahlreichen Bildzeugnissen der Fall ist. An dieser Stelle sei noch einmal an die Bildtafel zu Lungen, Zwerchfell und Herz aus Eustachios Tabulae anatomicae (Abb. 8) erinnert. Zudem wird beim anatomisch motivierten Gebrauch von photographischem Bildmaterial nicht mehr, wie noch bei der Zeichnung, darüber entschieden, ob ein vorliegendes Präparat nun mittels charakterisierender oder idealisierender Bildstrategien auf die Bildfläche zu transformieren und im anatomischen Atlanten zu katalogisieren sei. Dieser im folgenden Kapitel zu fokussierende Gestaltungsspielraum, welcher mannigfaltige Operationen zwischen Seziertisch und Bildfläche erlaubt und ein ganz wesentliches Merkmal vor allem des anatomischen Bildzeugnisses ist, geht mit der Photographie verloren. Diese beschränkt sich darauf, dasjenige, was als Präparat vorliegt, photographisch zu reproduzieren.86 Insofern wer-
84. Vgl. dazu: »Anders als bei diesen Imitationen [Malerei, Schrift; M.B.] läßt sich in der Photographie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit«. Daraus folgert Barthes: »Der Name des Noemas der Photographie sei also: ›Es-ist-so-gewesen‹.« (R. Barthes: Die helle Kammer, S. 87) 85. Vgl. dazu: »Die Scharfsinnigkeit des Perspektivs, das war ein wesentlicher Legitimationsgrund der von der Fotografie bescherten anschaulichen Begreifbarkeit der Welt. Authentizität […] verdankte sich dem Erkenntnismodell der Perspektive, die in der Kamera technisch geworden war.« (B. Busch: Belichtete Welt, S. 242) 86. Vgl. dazu: »In the field of scientific illustration the debate continues to this day as to whether a photograph of a single specimen is truer to the essence of the subject than an artistic, or electronically generated, synthesis.« (M. Cazort: »The Theatre of the Body«, S. 23) Diesbezüglich führt Herrlinger aus: »Einer der Gründe, warum in der makroskopischen Anatomie die Photographie sich nicht durchgesetzt 165
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den den Fragen nach der Auswahl des zu sezierenden Körpers, nach dem Zeitpunkt der Aufnahme des Präparats, nach der Positionierung des Präparats für die Aufnahme und schließlich nach der Auswahl der im Atlanten zu katalogisierenden Bilder in der Photographie eine noch viel größere Bedeutung beigemessen werden müssen, als es beim anatomischen Bildzeugnis je nötig gewesen ist.87 Dem Einsatz der Photographie in der Anatomie sind schließlich auch dahingehend Grenzen gesetzt, daß sie sich bestenfalls für eine topographische Anatomie wie Rüdingers Topographischchirurgische Anatomie des Menschen aus dem Jahre 1878, kaum aber für eine systematische Anatomie eignet, welche darauf abzielt, etwa das Nervensystem oder das Muskelsystem zu präsentieren. Dies wird nicht nur offensichtlich anhand der mannigfaltigen Retouchierungen in Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems von 1861, sondern manifestiert sich auch anhand der Tatsache, daß Sobotta für die 1913 erschienene zweite Auflage seines Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen gerade die Tafeln zum Muskelsystem nicht mehr nach der Vorlage photographischer Bilder hat zeichnen lassen. Diese frühen Beispiele für den Einsatz der Photographie in anatomischen Atlanten widersprechen also folgender Behauptung Daston/Galisons: »Nichtintervention – und nicht Ähnlichkeit – war das Herzstück der mechanischen Objektivität.«88 Tatsächlich verhält es sich in der Anatomie des 19. Jahrhunderts bisweilen wohl genau andersherum, worüber etwa die Buchseiten und Bildflächen anato-
hat, liegt in der von Leonardo gemachten Erfahrung. Er war aber nicht nur ein Meister der Typisierung, sondern er beherrschte auch in großartiger Weise die Kunst des Weglassens als ein Prinzip guter Didaktik.« (R. Herrlinger: »Die didaktische Originalität«, S. 92) Ähnlich sehen es Roberts/Tomlinson: »Indeed an artist can create approaches to ›truths‹ in anatomy that are beyond the reach of a photographer. An artist can generalize in one illustration the knowledge gained by investigating a structure in a number of different ways.« (K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 609) 87. Diese Auswahl des zu sezierenden Körpers spielt indes auch in Vesals Fabrica eine gewichtige Rolle. (Vgl. dazu: Jackie Pigeaud: »Formes et normes dans le De Fabrica de Vésale«, in: Jean Céard/Marie Madeleine Fontaine/Jean-Claude Margolin (Hg.), Le corps à la Renaissance, Paris 1990, S. 399-421; Nancy G. Siraisi: »Vesalius and human diversity in De Humani Corporis Fabrica«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 57 (1994), S. 60-88) Sie ist dort aber zunächst weniger entscheidend, da das Datenerhebungsverfahren der Zeichnung es erlaubt, das Präparat auf der Bildfläche mannigfaltig zu modellieren. Vgl. dazu vor allem Abschnitt 4.5. 88. L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«, S. 94. 166
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mischer Atlanten Auskunft geben. Nicht die Photographie als Informationsbild ist die ›véritable rétine du savant‹, von welcher Janssen 1883 spricht, sondern die auf der Physiologie des menschlichen Auges und dem Expertenblick des professionellen Anatomen beruhende autoptische Wissensformation. Diese überschreibt das photographische Bild, indem sie es nach dem eigentlichen photographischen Akt mannigfaltigen manuellen Manipulationen unterwirft, es konturiert, koloriert und modifiziert. Das heißt, der Expertenblick des professionellen Anatomen weiß mehr, als der zumindest implizit propagierte Pencil of Nature auf der photographischen Bildfläche einschreibt, und er hat mehr zu zeigen, als es die Datenerhebungstechnologie der Photographie erlaubt. Es ist zwar richtig, daß es im 19. Jahrhundert Tendenzen in der anatomisch motivierten Bildgebung gibt, welche darauf hinauslaufen, den professionellen Bildproduzenten von der Bildfläche zu verabschieden, doch ist dies nicht eine Ausnahme, sondern seit der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert die tatsächlich geläufige Regel. Insofern geht es, zumindest in der Anatomie, nicht, wie Daston/Galison behaupten, um eine grundsätzliche Nichtintervention, sondern viel eher um die Frage, wer in den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation interveniert. Denn zumindest die Intervention des professionellen Anatomen bleibt auch bei dem Einsatz der Photographie in der Anatomie bestehen, allein schon deshalb, weil sie ein Präparat und damit die Sektion voraussetzt. Diese Sektion aber funktioniert nun gerade nicht jenseits des Prinzips der autoptischen Wissensformation, denn es ist weiterhin der mit dem Skalpell bewaffnete Expertenblick des professionellen Anatomen, welcher diese leitet. Wenn der professionelle Bildproduzent hingegen als in den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation intervenierendes Moment ausgezeichnet und gerade wegen dieser Intervention im Namen des technisch-apparativen Datenerhebungsverfahrens der Photgraphie durchgestrichen werden soll, dann schreibt die Anatomie des 19. Jahrhunderts eine Bewegung fort, welche schon im 16. Jahrhundert angelegt ist, und zwar in ganz besonderem Maße bei Vesal. Schließlich war es ein ganz wesentliches Anliegen Vesals, den Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation auf den in Personalunion sezierenden, demonstrierenden und dozierenden Anatomen zu konzentrieren und damit anatomisches Wissen zu professionalisieren. Der professionelle Bildproduzent soll in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Namen der Photographie gerade deshalb eliminiert werden, da seine Hand – wie die Geschichte anatomisch motivierter Bildgebung ausweist – zwar eine durch den Anatomen und die Anatomie disziplinierte ist, nie aber 167
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eine disziplinäre werden wird. Insofern geht es in der Anatomie des 19. Jahrhunderts auch im Rahmen der Diskussion über die Photographie gar nicht notwendig um Nichtintervention, sondern darum, daß die disziplinierte Hand des professionellen Bildproduzenten nicht die disziplinäre Hand des professionellen Anatomen ist. Diese nämlich ist ohne jeden Zweifel dazu autorisiert, am Seziertisch zu operieren und auf der Bildfläche der Photographie zu konturieren, zu kolorieren und zu modellieren. Dadurch wird der der Photographie als Informationsbild eingelagerte Blick des technisch-apparativen Datenerhebungsverfahrens selbst noch einmal Objekt eines Blicks, nämlich desjenigen des professionellen Anatomen, welcher das Bild gewissermaßen gerade rückt. Anhand der mannigfaltigen Retouchierungen gerade in Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems aus dem Jahre 1861 und in seiner Topographisch-chirurgischen Anatomie des Menschen aus dem Jahre 1878 zeigt sich, daß eine sich scheinbar selbst aufzeichnende Natur durch bildstrategische Eingriffe als solche auf der Bildfläche allererst besiegelt wird, und zwar von der Hand des weiterhin in Personalunion, nun aber offensichtlich auch auf der Bildfläche operierenden professionellen Anatomen.
3.4 Der Einbruch des Nicht-Invasiven: Röntgentechnik und Anatomie In einem Brief an Zehnder vom 15. Januar 1896 schreibt Wilhelm Conrad Röntgen: »Das Photographieren war mir Mittel zum Zweck, und nun wurde daraus die Hauptsache gemacht.«89 Bekanntlich war es kein Anliegen des Physikers Röntgen, bei seinen Experimenten mit den von ihm ursprünglich und im englischsprachigen Raum noch immer analog so bezeichneten ›X-Strahlen‹ ein bildgebendes Verfahren zu entwickeln. Ebensowenig hat sich die heute zu diagnostizierende Monopolstellung der Medizin in der Anwendung der Röntgentechnik von Beginn an abgezeichnet. Als Röntgen im Winter 1895 seine Experimente zu einem vorläufigen Abschluß brachte und seine Ergebnisse am 28. Dezember unter dem Titel ›Über eine neue Art von Strahlen‹ mit mehreren Röntgenbildern bei der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg einreichte, ging es ihm wesentlich darum, diese noch unbekannten und dem menschlichen
89. Zitiert nach: Angelika Schedel: Der Blick in den Menschen. Wilhelm Conrad Röntgen und seine Zeit, München u.a. 1995, S. 172. 168
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Auge nicht unmittelbar ersichtlichen Strahlen aufzuzeichnen und damit deren Existenz unter Beweis zu stellen. In diesem Sinne erscheint die Röntgentechnik in ihrer bildmedialen Dimension zunächst als ein Zufallsprodukt genuin physikalisch motivierter Forschung. Jedoch ist es vor allem die am 22. Dezember 1895 von Röntgen selbst angefertigte und dem besagten Artikel beigefügte Aufnahme der linken, beringten Hand seiner Frau Bertha, welche von Beginn an nicht nur als physikalischer Beweis für die X-Strahlen, sondern auch als genuin bildmediales Phänomen für große Furore sorgt. Was in der Folge einsetzt, geht weit über den initialen Bedeutungshorizont der Physik hinaus. So spricht Cartwright etwa von einer sich unmittelbar nach der Veröffentlichung von Röntgens Artikel ausbreitenden »›X-ray mania‹«90, während bei Kevles die mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen einhergehende Ausformung der Röntgentechnik zum Signum einer ganzen Epoche, eben den »the X-Ray Years«91, gerät. In der Tat verbreitet sich die Kunde von der Möglichkeit, mittels der Röntgentechnik Bilder aus dem bis dahin für das bloße Auge unsichtbaren Inneren des lebendigen menschlichen Körpers bereitszustellen, mit großer Geschwindigkeit, so daß Röntgenbilder recht bald zu einem beliebten Objekt der Schaulust auch auf Jahrmärkten und in Photostudios werden. Diesbezüglich führt Barclay in einem 1949 im British Journal of Radiology erschienenen Artikel mit dem bezeichnenden Titel ›The old order changes‹ aus: »for the first five years X-ray apparatus was more an interesting toy than a weapon of value in medicine.«92 Dies sollte sich bald ändern, denn das Röntgenverfahren wird in der Folge medientechnisch geschärft und bildkulturell eingestellt, worüber zahlreiche, sich mit der Röntgentechnik befassende Publikationen allein im – allerdings seinerzeit besonders forschungsintensiven – deutschen Sprachraum unmißverständlich Auskunft geben. Dabei zu nennen sind etwa: Albers-Schönbergs Röntgentechnik und Jedlickas Atlas der normalen und pathologischen Anatomie in typischen Röntgenbildern von 1900, Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder von 1905, Groedels Atlas und Grundriß der Röntgendiagnostik in der Inneren Medizin von 1909, Kuchendorfs Einführung in die
90. L. Cartwright: Screening the Body, S. 107. 91. B. Kevles: Naked to the Bone, S. 7. 92. Zitiert nach: Bernike Pasveer: »Knowledge of shadows: the introduction of X-ray images in medicine«, in: Sociology of Health and Illness. Vol. 11, No. 4 (1989), S. 360-381, hier S. 361. 169
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Röntgentechnik von 1912 oder das Kompendium der Röntgenaufnahme und Röntgendurchleuchtung von Dessauer/Wiesner aus dem Jahre 1915. Hinzu kommen zahlreiche einschlägige Zeitschriften wie etwa die Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen und auch Kongreßakten wie etwa die Verhandlungen der Deutschen Röntgengesellschaft. Insofern sind ab der Jahrhundertwende nicht mehr, wie in den Anfangsjahren, zentrifugale Tendenzen fort von der Strahlenphysik am Werk, sondern zentripetale hin zur Medizin: »Erst die Anwender, Mediziner vor allem, verstehen die Röntgentechnik als Fortsetzung ihrer endoskopischen Praxis mit anderen Mitteln. Sie sind interessiert an der Dinglichkeit, der Anatomie, der Blicklichkeit.«93 Dabei gilt es in den frühen Jahren des Einsatzes der Röntgentechnik in der Medizin nicht einmal als ausgemachte Sache, daß diese vor allem als bildgebendes Verfahren in der klinischen Diagnostik zu gebrauchen sei. Vielmehr wird auch diskutiert, ob Röntgenstrahlen an sich nicht auch eine therapeutische Funktion einnehmen könnten.94 Albers-Schönberg stellt, als er 1915 im Vorwort zur 4. Auflage seiner Röntgentechnik einen Rückblick auf die ersten Jahre des Einsatzes der Röntgentechnik in der Medizin wagt, fest: »Die rastlos fortschreitende Röntgentechnik hat sich in den letzten Jahren vielfach spezialisiert, denn fast alle Zweige medizinischer Diagnostik bedürfen ihrer und verwenden sie in ausgedehntem Maße […] Für den Röntgenologen ist es nicht mehr möglich, sämtliche diagnostische Gebiete technisch gleichmäßig gut zu beherrschen.«95 Daran läßt sich ablesen, daß die Röntgentechnik, welche von der Medizin nahezu unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden zu Beginn
93. G. Schmidt: Anamorphotische Körper, S. 227. 94. Dazu führt Kevles aus: »The struggle between technicians and physicians was petering out when dissent erupted within the medical profession itself. There were two different battles. The first was among advocates for X-rays as diagnosis, the second among those who used X-rays in therapies.« (B. Kevles: Naked to the Bone, S. 59) Daß Röntgenstrahlen ganz im Gegenteil höchstgradig gesundheitsschädlich sind, wird bereits sehr früh erkannt. Vgl. dazu etwa die folgenden zeitgenössischen Beiträge: Dominik Kuchendorf: Einführung in die Röntgen-Technik für Ärzte, Studierende und das Hilfspersonal, Berlin, Leipzig 1912, S. 62-67; H. Albers-Schönberg (Hg.): Die Röntgentechnik. Handbuch für Ärzte und Studierende. 4. Auflage, Hamburg 1913, S. 332-351; Friedrich Dessauer/B. Wiesner: Kompendium der Röntgenaufnahme und Röntgendurchleuchtung. Band I, 2. Auflage, Leipzig 1915, S. 240-247. 95. Albers-Schönberg: Die Röntgentechnik, S. III. 170
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des Jahres 1896 mit großer Begeisterung entdeckt worden ist, sich schnell zu einer medientechnischen und bildkulturellen Herausforderung für die Medizin selbst entwickelt. Die Tatsache nämlich, daß es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleichzeitig zu einer Professionalisierung der und einer Spezialisierung in der Röntgentechnik kommt, läßt sich wohl weniger zurückzuführen auf eine von Beginn an unproblematische und souveräne Handhabung der Röntgentechnik durch die Ärzteschaft. Sie gibt auf der einen Seite zwar durchaus Auskunft darüber, daß die Röntgentechnik in der Medizin sehr früh als spezifisch diagnostische Option wahrgenommen und als solche mit einem Fortschrittsversprechen behaftet worden ist. Sie unterstreicht auf der anderen Seite aber auch, daß damit Probleme aufgeworfen worden sind, welche erstens erkannt und zweitens gelöst worden mußten. So dürfte sich die Einschätzung Gugerlis als zutreffend erweisen, »dass Röntgenbilder produktionsseitig standardisiert und rezeptionsseitig normalisiert werden mussten […]. Ihre Bedeutung war in aufwendigen Kommunikationsprozessen auszuhandeln.«96 Von daher bietet es sich an, beiden Dimensionen, also der medientechnischen Standardisierung der Röntgentechnik und der bildkulturellen Standardisierung des Röntgenbildes, Rechnung zu tragen. Damit sind die entscheidenden Gesichtspunkte aufgeworfen, welche den Horizont der Röntgentechnik in einer Medienarchäologie anatomischen Wissens kennzeichnen. Auf der einen Seite geht es um spezifisch bildkulturelle Gründe, welche dazu geführt haben, Röntgenbilder in der Medizin im allgemeinen und in der Anatomie im besonderen einzusetzen. Zum anderen ist die Röntgentechnik als Medientechnologie zu begreifen. In diesem Zusammenhang spielt nicht zuletzt auch die Katalogisierung von röntgenographischem Bildmaterial in der Publikationsform des anatomischen Atlanten eine nicht unerhebliche Rolle. In seinem Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild von 1926 führt Hasselwander aus: »Wer sich nicht die Mühe gibt, das Geschehen der Bilderzeugung durch die Projektion einmal ganz durchzudenken, dem wird auch bei sonst guter Kenntnis der Anatomie die Einsicht in die jeweils vorliegenden Verhältnisse nie zu voller Klarheit gedeihen […]. Erst wenn wir das Geschehen bei der Bilderzeugung kennen, werden wir das Erreichbare beurteilen können.«97
96. D. Gugerli: »Soziotechnische Evidenzen«, S. 141. 97. Albert Hasselwander: Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild, München 1926, S. 5. 171
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Tatsächlich ist das Röntgenbild das Resultat eines komplexen technisch-apparativen Datenerhebungsverfahrens, welches darin besteht, Röntgenstrahlen in einer aus einer Glühkathode und einer Anode bestehenden Röntgenröhre zu erzeugen. Röntgenstrahlen sind elektromagnetische, hochenergetische Wellen mit einer sehr kurzen Wellenlänge, die Körper durchdringen können, selbst aber dem Auge unsichtbar bleiben. Um ein Röntgenbild anzufertigen, muß ein zu untersuchender Körper zwischen der Röntgenröhre und einem als Bildträger fungierendem Detektor positioniert werden. In der Frühphase der Röntgentechnik kommen als Bildträger silberbeschichtete, photosensitive Platten bzw. Filme oder auch fluoreszierende Bildschirme in Betracht, während heute durch die Computertechnik auch digitale Detektoren zur Anwendung kommen. Dabei gelangen nicht alle gesendeten Röntgenstrahlen auf den Bildträger, denn der zwischen Röntgenröhre und Bildträger positionierte und von Röntgenstrahlen durchdrungene Körper weist an verschiedenen Stellen einen unterschiedlich hohen Absorptionsgrad der Strahlen auf, welche dementsprechend unterschiedlich starker Schwächung unterworfen sind. Während Luft etwa so gut wie gar keine und weiches Gewebe wie Fett, Muskeln und Haut nur sehr wenige Strahlen absorbieren, ist der Absorptionsgrad bei Knochen sehr hoch, so daß hier nur wenige Strahlen die photosensitive Röntgenplatte bzw. den photosensitiven Film errreichen. Erreicht ein Röntgenstrahl den Bildträger, so wird dieser an der Stelle des Eintrittes des Röntgenstrahls geschwärzt. Mit zunehmendem Absorptionsgrad der Körperteile kommt es demnach zu einer zunehmend verminderten Schwärzung des Bildträgers. Von daher erscheinen etwa die Knochen auf dem Röntgenbild sehr hell, während weiches Gewebe in Abhängigkeit von dessen jeweiligem Absorptionsgrad in verschiedenen, teils sehr dunklen Grauschattierungen auftritt. Ähnlich wie in der Frühphase der Photographie spielt auch in der Röntgentechnik die Aufnahmezeit zunächst eine wesentliche Rolle, welche sich nicht zuletzt aus dem jeweiligen Untersuchungsziel und der Lage des zu untersuchenden Körpers ergibt. Wirft man einen Blick auf einen der frühen Röntgenatlanten, Rudolf Grasheys 1905 in erster Auflage erschienenen Atlas typischer Röntgenbilder, dann fällt auf, daß die Aufnahmezeit der einzelnen Röntgenbilder hier noch sehr großen Schwankungen unterliegt. So vermerkt Grashey für die Knochen der Hand oder den Kieferknochen wenige Sekunden, für die Brustwirbelsäule und für die Stirnhöhle eine Minute, für tieferliegende Gewebestrukturen auch bisweilen mehrere Minuten. In Abhängigkeit von Strahlenqualität und chemischer Wirkung der Röntgenröhre ist zu beachten, daß eine Überexposition des Körpers durch Strahlen das Röntgenbild als zu dicht, also als zu 172
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wenig kontrastreich in den Übergängen erscheinen läßt. Eine unterexponierte Röntgenplatte hingegen führt gerade in Hinblick auf die wenig durchlässigen Körperteile, also etwa die Knochen, zu gänzlich undifferenzierten Bildverhältnissen. Von daher wird der Datenerhebungstechnologie in einschlägigen Publikationen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. So besteht etwa Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder in seiner zweiten, gerade in Hinblick auf die Anzahl der katalogisierten Bilder erheblich erweiterten Auflage von 1912 tatsächlich zu mehr als einem Drittel aus Informationen über das notwendige Instrumentarium, über die sorgfältige Einstellung der Röntgenröhre, über die optimale Positionierung des Untersuchungsgegenstandes, über die Entwicklung des Röntgenbildes von der photosensitiven Platte bzw. dem photosensitiven Film bis hin zu der Art und Weise, das Röntgenbild bei der Lektüre gegen das Licht zu halten. Nicht zuletzt werden auch hier schon Verfahren des Einsatzes von Kontrastmitteln angeführt, welche dazu dienen sollen, die Absorptionsdichte einzelner Gewebestrukturen zu manipulieren. Die Notwendigkeit der Standardisierung der Röntgentechnik ergibt sich zunächst aus der von Medizinern bald gemachten Erfahrung, daß technisch bedingte Fehler – von der Auswahl der Geräte über die eigentliche Aufnahme bis hin zur Entwicklung des Röntgenbildes – an der Tagesordnung liegen. So katalogisiert Kuchendorf in seiner Einführung in die Röntgentechnik von 1912 allein für das Originalnegativ des Röntgenbildes weit über ein Dutzend möglicher Fehler, darunter verschiedene Schleier wie Grau-, Rand- oder Farbschleier sowie vor allem zahlreiche Entwicklungsstreifen.98 Einem jeden Fehler wird hier tabellarisch mindestens eine Fehlerquelle zugeordnet. Einer jeden ausgemachten Fehlerquelle wiederum entspricht eine Anweisung zur Fehlerbehebung oder Fehlervermeidung. Ist die Abhandlung zu Fehlern, zum Ausmachen der jeweiligen Fehlerquellen und zur Behebung oder Vermeidung dieser Fehlerquellen bei Kuchendorf ausschließlich in schriftlicher Form angelegt, so bieten Dessauer/Wiesner in ihrem Kompendium der Röntgenaufnahme von 1915 zwölf Tafeln mit Röntgenbildern, an welchen erfahrungsgemäß häufig auftretende Fehler exemplarifiziert werden, so zum Beispiel Entwicklungs- und Sekundärstrahlenschleier, Entwicklungsflecken oder Unterbelichtung. Diese am Ende des umfangreichen Bandes angeführten Tafeln werden im Fließtext
98. Vgl. dazu: D. Kuchendorf: Einführung in die Röntgen-Technik, S. 181185. 173
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einzeln erläutert und in Hinblick auf Fehlerquelle und Fehlerbehebung verhandelt.99 Die Feststellung solcher Fehler ist aber noch einmal zu trennen von der Entdeckung sogenannter ›Artefakte‹, unter welchen man in der bildgebenden Diagnostik ein Element des Bildes versteht, welches keine tatsächliche Entsprechung am menschlichen Körper aufweist. Bei Grashey ist diesbezüglich auch von »Kunstprodukten«100 die Rede. Diese Artefakte stellen als medientechnische Effekte eine bedeutsame Fehlerquelle bei der Einlösung der diagnostischen Funktion des Röntgenbildes dar und müssen, falls sie nicht zu beheben sind, bei der Befundung mit in Betracht gezogen werden. So gilt es zu unterscheiden zwischen drei aus der Röntgentechnik erwachsenden Bildqualitäten, nämlich erstens dem Auftreten von Fehlern aufgrund unsachgemäßer Handhabung, zweitens dem Auftreten von teils medieninhärenten Störfaktoren wie etwa den Artefakten, und drittens dem medientechnischen Status des Röntgenbildes als Überlagerungsbild. Das heißt ganz konkret, daß in Hinblick auf das Röntgenbild gelernt werden muß, mit Fehlern zu rechnen. Gerade bezüglich der Artefakte wird aber auch deutlich, daß diese allererst auszumachen sind, wenn andere Fehlerquellen ausgeschlossen werden können. Um Fehlerquellen aber ausschließen zu können, bedarf es der Standardisierung vor allem der Aufnahmetechnik, welche Dessauer/Wiesner unter dem Begriff der »Aufnahmeregeln«101 fassen. Darunter subsumieren sie unter anderem die Qualität der Röntgenröhre und der Stromkurve, die Bemessung des Fokalabstandes sowie »vor allen Dingen absolute Ruhe des Objektes und der Röhre.«102 Durch das Befolgen solcher Aufnahmeregeln werden Röntgenbilder vom Grundsatz her miteinander vergleichbar und ihre jeweiligen Bildqualitäten aus medientechnischer Perspektive befundbar. Um bei etwaigen diagnostisch relevanten Vergleichen und Befundungen auf einen konkreten und möglichst großen Erfahrungsschatz von Röntgenbildern zurückgreifen zu können, welche nach einschlägigen Aufnahmeregeln entwickelt worden sind, bietet es sich in den Augen etwa von Dessauer/Wiesner an, ein Archiv von
99. Vgl. dazu: F. Dessauer/B. Wiesner: Kompendium der Röntgenaufnahme, S. 346-351. 100. Rudolf Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen. 2. Auflage, München 1912, S. 40. 101. F. Desauer/B. Wiesner: Kompendium der Röntgenaufnahme, S. 344. 102. Ebd., S. 345. 174
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Röntgenbildern anzulegen.103 Dabei sollen die Originalnegative des Röntgenbildes in Taschen aus säurefreiem Papier aufbewahrt und auf diesen Taschen unter anderem Kriterien wie die Aufnahmenummer, das Datum, der Patientenname, das fokussierte Objekt sowie die ausgewälte Röntgenröhre, die Härte der Strahlen, der Plattenabstand sowie die Expositionsdauer verzeichnet werden. Für solche Archivierungsverfahren sind aufgrund der rasch zunehmenden Anzahl von zu archivierenden Röntgenbildern früh schon spezielle Registraturmethoden entwickelt worden. Diesbezüglich erklärt etwa Stein: »Einmal soll es möglich sein, die Platte eines bestimmten Patienten, der vor langer Zeit photographiert wurde, rasch und sicher aufzufinden […] andererseits soll es möglich sein, Platten, die besonders typische Bilder bieten, in wenigen Augenblicken zur Hand zu haben, wenn dieselben während des klinischen Unterrichts verlangt werden.«104 Auch Holzknecht/Kienböck verlangen vom Archiv die »rasche Entnahme der Platten nach allen praktischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten.«105 Entsprechend kommen sie zu dem Schluß: »Die Führung des Archivs hat sich nun nach drei Bedürfnissen zu richten. Man muss die Platte finden 1. nach dem Namen des Patienten, 2. nach Diagnosen und 3. nach Körperteilen, aus bekannten praktischen und didaktischen Gründen.« 106 Hier zeigt sich noch einmal, daß das Röntgenarchiv gerade dort, wo neben der klinischen Diagnostik zudem Forschung und Lehre stattfinden, vielseitigen Lesarten Rechnung zu tragen hat. Deutlich wird, daß die Archivierung von Röntgenbildern in der Frühphase der medizinischen Anwendung der Röntgentechnik weder ausschließlich noch notwendig der Sicherung von Patientendaten in einer personalisierten Kartei dient, sondern daß sie auch wesentlich in dem Bemühen um eine wissenschaftliche und didaktische Aufbereitung des Röntgenverfahrens begründet liegt. Tatsächlich kann ein jeder
103. Vgl. dazu: ebd., S. 356f. 104. Albert E. Stein: »Die Einordnung und Buchung der exponierten Röntgenplatten«, in: Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. Fünfter Band, Hamburg 1901-02, S. 183-185, hier S. 183. 105. Guido Holzknecht/R. Kienböck: »Über die Einrichtung des Plattenarchivs«, in: Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. Fünfter Band, Hamburg 1901-02, S. 308-310, hier S. 308. 106. Ebd., S. 309. 175
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Griff ins klinische Archiv ganz unterschiedlichen Funktionshorizonten verpflichtet sein, abhängig davon, ob er diagnostisch (Patientenakte), didaktisch (Lehrbetrieb) oder wissenschaftlich (Anatomie/ Pathologie) motiviert ist. Diese Standardisierung der Röntgentechnik führt einerseits zu einer medientechnischen Stabilisierung der Bildqualität, wirft auf der anderen Seite aber gleichzeitig die Frage auf, wie diese Röntgenbilder intelligibel gestaltet werden können. Das daraus abzuleitende Projekt einer bildkulturellen Standardisierung der neuen Datenerhebungstechnologie basiert auf Erfahrungen aus der ärztlichklinischen Praxis, worauf zum Beispiel Grashey hinweist: »Fehldiagnosen, zum Teil folgenschwerer Art, haben die Röntgenologen veranlasst, sich immer eingehender mit dem Studium normaler Röntgenbilder zu befassen und sich so eine exakte Grundlage für die Röntgenuntersuchung kranker Körperteile zu schaffen. Wer sich viel mit Röntgenologie beschäftigt, muss sich eine Normalsammlung von Bildern zweifellos gesunder Objekte anlegen, muss die Schattenlinien dieser Normalbilder möglichst genau studieren und anatomisch deuten.«107 Diese Aussage Grasheys legt nahe, daß es sich für die Röntgentechnik insgesamt als hilfreich erweist, auf das Wissen der makroskopischen Anatomie über den Bau des menschlichen Körpers und damit gleichsam auf den anatomischen Bildhaushalt zurückzugreifen. Daraus ergeben sich Fragen nach der Funktion der Anatomie für die Röntgentechnik und nach der Funktion der Röntgentechnik für die Anatomie. Die Verschränkung von Anatomie und Röntgentechnik und damit die Verschränkung einer tradierten medizinischen Disziplin mit einem innovativen medientechnischen Dispositiv findet sich schon sehr bald in einschlägigen Publikationen wieder und wird dort zum Programm, etwa in Jedlickas Atlas der normalen und pathologischen Anatomie in typischen Röntgenbildern von 1900 oder in Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder von 1905. In dessen Vorwort wird auch der Begriff der »Röntgenanatomie«108 verwendet. Hasselwander faßt in seinem 1926 erschienenen Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild das Wechselverhältnis von Anatomie und Röntgentechnik in der frühen Jahren wie folgt zusammen: »Es ist eine Symbiose, bei der jeder Teil den reichsten Nutzen empfängt und gewährt.«109 Und auch Holzknecht betont die
107. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. III. 108. Ebd., S. IV. 109. A. Hasselwander: Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild, S. 5. 176
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für den spezifisch medizinischen Gebrauch der Röntgentechnik konstitutive »Verwebung von technischen, anatomischen und klinischen Elementen.«110 Der wesentliche Beweggrund für die baldige Verschränkung von spezifisch röntgenologischen und spezifisch anatomischen Fragestellungen ist, wie Rowland schon 1896 betont, zunächst in der Notwendigkeit einer »exact knowledge of the anatomical conditions obtained by the new radiation«111 angelegt. Diese ›anatomischen Verhältnisse‹, von denen Rowland spricht, umfassen im Rahmen der bildkulturellen Standardisierung verschiedene Sachverhalte. Denn zum einen ist es ein spezifisches Anliegen der Röntgenologen, die diagnostische Bildfunktion des Röntgenbildes vor dem Hintergrund anatomischer Normalbefunde zu schärfen. Zum anderen ist es ein spezifisches Anliegen der Anatomen, das nicht-invasive bildgebende Verfahren auch in der Anatomie zur Anwendung kommen zu lassen. Das heißt, die Anatomie muß röntgenkompatibel und das Röntgenbild muß anatomiekompatibel werden. Beide Bewegungen vollziehen sich paradigmatisch im anatomischen Röntgenatlanten, wovon am eindrucksvollsten die Tatsache zeugt, daß diese schon in den frühen Jahren der Röntgentechnik teils von Anatomen, teils von Röntgenologen, teils von Chirurgen oder gleich in Kooperation dieser Spezialisten herausgegeben worden sind. Jedenfalls gilt für die anatomischen Grundlagen der Lektüre eines Röntgenbildes, wie Grashey nachdrücklich feststellt: »Mit dem einfachen Studium der makroskopischen Anatomie kommt man nicht aus.«112 Dies liegt auch daran, daß das Röntgenbild ein Überlagerungsbild ist. Alle von dem Röntgenstrahl durchstrahlten Elemente des Untersuchungsgegenstandes, in der Medizin also des menschlichen Körpers, tragen bei zu denjenigen Bildverhältnissen, welche der Röntgenstrahl bei dem Auftreffen auf der Röntgenplatte in Grauschattierungen aufzeichnet. In der Überlagerungsdarstellung auf der Bildfläche des Röntgenbildes werden also immer nur ganz bestimmte und von der frühen Röntgenologie zu bestimmende Gewebestrukturen des Körpers sichtbar. Dazu bemerkt Grashey:
110. Guido Holzknecht: »Vorwort«, in: Leon Lilienfeld, Anordnung der normalisierten Röntgenaufnahmen des menschlichen Körpers, Berlin,Wien 1928, S. IIIVI, hier S. V. 111. S. Rowland: »Report on the application of the new photography to medicine and surgery«, in: British Medical Journal I (1896), S. 361-364, hier S. 362. 112. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. IIIf. 177
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»Manche im Röntgenbild scharf hervortretende Umrisse und Linien entsprechen keinem abgeschlossenen anatomischen Begriff. Für andere, makroskopisch-anatomisch sich deutlich abhebende Punkte und Linien suchen wir vergebens einen entsprechenden Ausdruck im Röntgenbild.«113 Gerade aber weil es sich bei dem Röntgenbild um ein nicht-invasives Überlagerungsbild handelt, muß es in Bezug zu anatomischem Wissen gesetzt werden, welches auf in der Anatomie bereits tradierten Bildmedien – also vor allem dem Bildzeugnis – beruht. Nur so ist es möglich, die spezifische Qualität des Röntgenbildes zu statuieren und zu dessen bildkultureller Standardisierung beizutragen. Von daher führt etwa Grashey aus: »Das Studium der Bilder glaubte ich durch Einstreuung von Skeletansichten noch bequemer machen zu sollen. Zu diesem Zweck musste ich eine Anleihe bei den Anatomen machen.«114 So ist in anatomischen Röntgenatlanten nicht nur der Frühphase der Rückgriff einerseits auf das traditionelle anatomische Bildzeugnis und andererseits auf bewährte Strategien wie Bildlegende oder Kommentar die Regel. Dieser im Atlanten sich ereignende Transferprozeß, dies wird später zu zeigen sein, läßt allerdings weder das Röntgenbild noch das anatomische Bildzeugnis unberührt. Mithin läßt sich zunächst einmal festhalten, daß die medientechnische Standardisierung der Röntgentechnik und die bildkulturelle Standardisierung des Röntgenbildes ineinander greifen und sich nicht zuletzt in der Publikationsform des anatomischen Atlanten exemplarisch manifestieren. Röntgenbilder sollen im anatomischen Röntgenatlanten also intelligibel gestaltet werden, wofür nicht zuletzt auch die druckgraphische Qualität des reproduzierten Röntgenbildes eine entscheidende Voraussetzung ist. Nicht nur deshalb aber spielt die Druckqualität eine besonders große Rolle, sondern auch, weil die mittels der druckgraphisch zu reproduzierenden Röntgenbilder sichtbar gemachten körperlichen Sachverhalte anders als bildmedial überhaupt nicht überprüft werden können. Die druckgraphische Reproduktion des Röntgenbildes, welchem Status und Qualität der mechanischen Objektivität grundsätzlich beigemessen werden, ist nicht zuletzt Vertrauenssache und bedarf somit zumindest in den frühen Röntgenatlanten einer ausführlichen Erläuterung. Auch hier wird in der Regel auf das industrielle Rasterdruckverfahren der
113. Ebd., S. III. 114. Ebd., S. V. 178
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Autotypie zurückgegriffen, welches seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts die übergreifende druckgraphische Reproduktionstechnik darstellt und sich besonders in der Photographie schon bewährt hatte. Daß sich bei der Verwendung der Autotypie für Röntgenbilder spezifische Probleme ergeben und daß die druckgraphische Qualität der Reproduktion dieser weiterhin ein ernsthaftes Anliegen der Herausgeber anatomischer Röntgenatlanten ist, wird deutlich anhand einer Aussage Grasheys aus der zweiten Auflage seines Atlas typischer Röntgenbilder von 1912. Dort führt er aus: »Die Kopie einer Röntgenplatte ist schon viel schlechter als das Originalnegativ; und unsere besten Reproduktionsverfahren für den Buchdruck unterschlagen wieder eine Menge von Einzelheiten, welche auf der Kopie noch erkennbar waren.« 115 Um die Reichweite dieser Aussage nicht zuletzt für die visuelle Kultur der Anatomie ganz erfassen zu können, ist es nötig, noch einmal all jene von Grashey hier aufgeführten Reproduktionsschritte zu beleuchten, welche schließlich dazu führen, daß Röntgenbilder überhaupt auf der Buchseite des anatomischen Atlanten erscheinen können. Gerade in Hinblick auf den auch aus der analogen Photographie bekannten und in diesem Kontext sicherlich gängigeren Begriff des ›Negativs‹ ist Vorsicht geboten. Dasjenige, was Grashey hier als ›Originalnegativ‹ bezeichnet, hat in der Röntgentechnik einen gänzlich anderen Bildstatus als in der herkömmlichen Photographie. Dazu bemerken Dessauer/Wiesner in ihrem Kompendium der Röntgenaufnahme von 1915: »Diese Bilder heißen negative, aber nicht in dem vollen Sinne des Tageslichtnegativs. In der Photographie erscheint auf der Platte was rechts ist links, und umgekehrt. In der Röntgenographie dagegen nicht, weil wir es hier mit einer einfachen Zentralprojektion zu tun haben.«116 Um aus diesem Negativ mittels Reproduktion ein Positiv zu entwikkeln, gibt es seinerzeit verschiedene Verfahren, darunter vor allem das Kopierverfahren, das photographische Verfahren und das Diapositivverfahren.117 Dabei aber erscheint das röntgenographische
115. Ebd., S. 2. 116. F. Dessauer/B. Wiesner: Kompendium der Röntgenaufnahme, S. 292. 117. Vgl. dazu: ebd., S. 298ff., 364ff. 179
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Positiv als eigentliches Negativ: »Der Lage nach ist das röntgenographische Positiv ein Negativ.«118 Dies äußert sich bezüglich der Bildverhältnisse darin, daß hier genau dem Röntgennegativ entgegengesetzt diejenigen Stellen des Bildträgers, auf welche sich die Röntgenstrahlen nur schwach eingeschrieben haben, dunkel erscheinen. Von daher zeigt das Röntgenpositiv etwa die Knochen in dunklen Schattierungen, während das durchlässigere Gewebe in hellen Grauschattierungen zu sehen ist (Abb. 13). Wenn Grashey also von Kopien von Originalnegativen spricht, dann meint er Röntgenpositive, welche daraufhin noch einmal einer druckgraphischen Reproduktion anheimzugeben sind. Diese schrittweise Reproduktion ist notwendig, da die Röntgenplatte als Negativ nicht reproduktionstauglich im druckgraphischen Sinne ist. Objekt der druckgraphischen Reproduktion durch die Autotypie ist also das Röntgenpositiv, nicht das in der klinischen Diagnostik seinerzeit üblicherweise zur Befundung herangezogene Röntgennegativ. Neben der Autotypie, welche etwa in Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder oder in dem Kompendium der Röntgenaufnahme von Dessauer/Wiesner Anwendung findet, kommt in der Frühphase anatomischer Röntgenatlanten auch noch der Lichtdruck in Frage, mit welchem zum Beispiel Hasselwander in seinem Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild von 1926 experimentiert. Da dieses Verfahren jedoch sehr kostenaufwändig und nur in sehr begrenzter Auflage einzusetzen ist, hat es mit dem Aufkommen der Autotypie schon seit den 1880er Jahren auch in der medizinischen Publikationspraxis nicht gegen diese bestehen können. Der Weg des Röntgenbildes aus der Klinik in den Röntgenatlanten geht über das Röntgenpositiv sowie das druckgraphische Reproduktionsverfahren der Autotypie vonstatten. Dabei werden die Röntgenologen mit einem Problem konfrontiert, welches aus der Bildkultur der Anatomie und ihrer seit der frühen Neuzeit privilegierten Publikationsform des anatomischen Atlanten erwächst und sowohl bildkultureller als auch medientechnischer Art ist. Denn zum einen wird in der Frühphase der Röntgentechnik immer wieder mit Nachdruck empfohlen, in ärztlich-klinischer Praxis für die jeweilige Befundung am Röntgenbild ausschließlich die Negative auf der Röntgenplatte zu gebrauchen. So bedürfen die Röntgenologen des anatomischen Röntgenatlanten bei der bildkulturellen Standardisierung des Röntgenbildes. Gleichzeitig aber unterlaufen die Röntgenatlanten ganz offensichtlich die Bemühungen um eine Standardisierung der Röntgentechnik insofern, als sie ausschließlich Rönt-
118. Ebd., S. 299. 180
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
genpositive katalogisieren können. Zudem führt der zweifache Reproduktionsprozeß des Originalnegativs, an welchem die Befundung in ärztlich-klinischer Praxis stattzufinden hat, zu einer teils erheblichen Beeinträchtigung der Bildqualität. Gerade deshalb ist die proklamierte mechanische Objektivität auch der Röntgentechnik – ähnlich wie schon bei dem frühen Einsatz der Photographie in anatomischen Atlanten, etwa bei Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems von 1861 – allererst mittels manueller Eingriffe einzulösen. Kaum anders jedenfalls ist die folgende Aussage Grasheys aufzufassen: »Man muss […] notgedrungen auf der Kopie mancher Bilder einige Konturen nachfahren, damit sie im Druck ›kommen‹.«119 Hier wird deutlich, daß die Röntgentechik auf der einen Seite zwar von der Präparation des Leichnams mit Skalpell und anderen Instrumenten absehen kann, daß sie in der Frühphase aber dazu nötigt, das Röntgenbild selbst als Präparat aufzufassen und für seinen druckgraphischen Verwendungszweck im anatomischen Atlanten zu präparieren. So bemerkt Grashey zu etwaigen Retouchierungen: »Aber man muss dies in der Publikation vermerken, und man muss solche Retouche selbst vornehmen […] Das geübte Auge entdeckt leicht, wo nachgeholfen wurde.«120 Dies aber unterscheidet den Status des Röntgenbildes im Röntgenatlanten von demjenigen in der ärztlich-klinischen Diagnostik. Denn für letztere gilt, zumindest gemäß den Ausführungen von Dessauer/Wiesner: »Bei Röntgenaufnahmen darf unter keinen Umständen, auch dann nicht, wenn sie zur Reproduktion bestimmt sind, die geringste Linie hineingezeichnet werden. Wenn das geschieht, so hat man nicht mehr das Ergebnis einer objektiven physikalischen Methode, sondern es wird die Subjektivität des betreffenden Experimentators hineingetragen.«121 An dieser Stelle schließlich wird die Publikationsform des Atlanten, welche eigentlich damit beaufragt ist, die Lektüre von Röntgenbildern zu erleichtern, selbst zum Problem. Zwar hat das Röntgenbild schon sehr schnell nach der Erfindung der Röntgentechnik Einzug in anatomische Atlanten erhalten. Dort ist das Röntgenbild im Rahmen umfangreicher Transmedialisierungen nicht nur Gegenstand bereits etablierter bildmedialer Strategien geworden, sondern es hat auch zur Entwicklung gänzlich neuer herausgefordert. Diese aber sollten die Anatomie insgesamt nicht unverändert lassen.
119. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. 2. 120. Ebd. 121. F. Dessauer/B. Wiesner: Kompendium der Röntgenaufnahme, S. 300. 181
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Das Röntgenbild spielt für eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, welche sich entlang der Publikationsform des anatomischen Atlanten bewegt, eine ganz ausgezeichnete Rolle, da es einerseits an die Tradition analoger technisch-apparativer Bildmedien wie etwa der Photographie anschließt, andererseits aber als das erste in der Medizin zur Anwendung gebrachte nicht-invasive bildgebende Verfahren gänzlich neue bildmediale Dimensionen ermöglicht. Damit wirft die Röntgentechnik Fragen nach Bildfunktionen, Bildstrategien und Bildpraktiken auf, welche in den frühen Röntgenatlanten verhandelt werden und später im Rahmen der Computertomographie wieder aufgegriffen werden sollten.
3.5 Die Bildgebung wird digital: Computertomographie und Anatomie Nachdem der britische Ingenieur Godfrey N. Hounsfield im Jahre 1972 den ersten funktionstüchtigen Computertomographen und damit die Technik der Computertomographie und das Bildphänomen des Computertomogramms eingeführt hat, publiziert er im folgenden Jahr einen Artikel im British Journal of Radiology. In diesem erläutert er einerseits die technischen Grundlagen dieses bildgebenden Verfahrens und markiert andererseits die Koordinaten seines zukünftigen Funktionshorizontes. Diesbezüglich führt er aus: »It is possible that this technique may open up a new chapter in X-ray diagnosis.«122 Was hier noch als Möglichkeit, also gewissermaßen als Versprechen formuliert ist, sollte innerhalb weniger Jahre Wirklichkeit werden. Dabei ist schon in dieser Aussage Hounsfields das gesamte Spektrum der Computertomographie angelegt. Er betont, daß es sich um eine Technik handele, und zwar um eine Technik, welche sich auf der einen Seite einer Tradition, nämlich in diesem Fall der Röntgentechnik, verpflichtet fühle, welche auf der anderen Seite aber ein neues Kapitel aufschlagen werde. Zudem wird die Computertomographie als diagnostisches Instrumentarium verstanden, womit ihr privilegiert medizinischer Einsatzbereich bereits definiert ist. Anders als bei der Erfindung der Röntgentechnik sind Einsatzgebiet und Einsatzzweck des bildgebenden Verfahrens der Computertomographie also von Beginn an klar kalkuliert.
122. G.N. Hounsfield: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 1. Description of system«, in: The British Journal of Radiology. New Series, Volume 46 (1973), S. 1016-1022, hier S. 1021. 182
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Die Tatsache aber, daß Hounsfield seinen richtungsweisenden Artikel gerade im British Journal of Radiology, also in einer Zeitschrift zur medizinischen Radiologie publiziert, ist nicht bloß dem Umstand geschuldet, daß die Computertomographie auf einer Konvergenz von Röntgen- und Computertechnik beruht. Sie liegt auch darin begründet, daß die Entwicklung der Computertomographie zu spezifisch medizinischen Zwecken sich aus bestimmten, in langjähriger Erfahrung gemachten technischen und diagnostischen Unzulänglichkeiten des traditionellen Röntgenbildes erst ergeben hat. Mit dieser Feststellung jedenfalls eröffnet Hounsfield seinen Artikel: »For many years past, X-ray techniques have been developed along the same lines, namely the recording on photographic film of the shadow of the object to be viewed. Recently, it has been realized that this is not the most efficient method of utilizing all the information that can be obtained from the X-ray beam.« 123 Als besonderer Mangel des herkömmlichen Röntgenbildes erweist sich dabei der Umstand, daß es die sukzessive Absorptionsleistung aller von dem jeweiligen Röntgenstrahl durchstrahlten Körperteile komplett aufzeichnet und somit immer ein Summationsbild ergibt: »In the conventional film technique a large proportion of the available information is lost in attempting to portray all the information from a three-dimensional body on a two-dimensional photographic plate, the image superimposing all objects from front to rear.«124 Insofern erlaubt das Röntgenbild keine oder nur eine sehr begrenzte Weichteildiagnostik. Anders als das Röntgenbild stellt das digitale Bildformat des Computertomogramms den Körper auf transversaler Schnittebene in Scheiben dar: »The technique to be described divides the head into a series of slices.«125 Und anders als das Röntgenbild ist das Computertomogramm somit überlagerungsfrei: »unlike conventional X-ray techniques, the information derived from any object within the slice is unaffected by variations in the material on either side of the slice.«126 Daraus ergibt sich die seinerzeit durch andere bildgebende Verfahren nicht zu überbietende Kontrastschärfe des Computertomogramms. Der Mediziner James Ambrose, welcher 1972 zusammen mit
123. 124. 125. 126.
Ebd., S. 1016. Ebd. Ebd. Ebd. 183
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Hounsfield den klinischen Einsatz der Computertomographie im Atkinson Morley’s Hospital in London erprobt hat, bringt sowohl die technischen Grundlagen als auch den spezifischen Bildstatus der Computertomographie auf den Punkt: »Computerized transverse axial tomography is a new and fundamentally different diagnostic X-ray method. Modern electronic and computer technology have been allied to X-ray detection.«127 Diese Konvergenz von Computerund Röntgentechnik manifestiert sich offensichtlich in der Anordnung technischer Geräte, welche zur Durchführung eine Scans benötigt werden. Dazu gehören etwa eine Röntgenröhre, ein sogenannter Kollimator, welcher die Röntgenstrahlen bündelt, eine Vorrichtung zur Lagerung des Patienten, ein Detektor, ein Rechner sowie nicht zuletzt ein Bildschirm. Die Durchführung eines Scans läuft dergestalt ab, daß Röntgenstrahlung parallel aus verschiedenen Richtungen oder um eine transversale Achse durch eine in der Regel +/- 1cm dicke Schicht des Körpers gesendet wird. Die durch unterschiedliche Absorption abgeschwächte Strahlung wird von digitalen Detektoren aufgezeichnet. Aus den so gewonnenen numerischen Meßwerten ergeben sich Voxel (Volumenelemente), aus denen man die aus Pixeln (Bildelemente) bestehende Bildmatrix der Schwächungsverteilung der gescannten Schicht mittels diverser mathematischer Verfahren errechnet.128 Dabei wird jedem numerischen Pixelwert ein Graustufen- oder Farbwert zugeordnet. Diese Zuordnung der Schwächungsverteilung der Röntgenstrahlen wird mittels der heute so bezeichneten ›Hounsfield-Skala‹ realisiert, welche entsprechend in ›Hounsfield-Einheiten‹ unterteilt ist. Diese Hounsfield-Einheiten tragen der unterschiedlichen Absoptionsleistung verschiedener Körperteile Rechnung. Als Nullwert wird Wasser gesetzt. Ursprünglich umfaßte die Skala eine Spanne von -500 bis 500 Einheiten, wobei der Wert -500 der Luft und der Wert 500 den Knochen zugewiesen wurde.129
127. James Ambrose: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 2. Clinical application«, in: The British Journal of Radiology. New Series, Volume 46 (1973), S. 1023-1047, hier S. 1038. 128. Zu diesen spezifischen Verfahren vgl. etwa: J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie. Ein anatomischer Atlas von Serienschnitten durch den menschlichen Körper. Anatomie-Radiologie-Scanner, Berlin, Heidelberg, New York 1977, S. 13-24; Willi Kalender: Computertomographie. Grundlagen, Gerätetechnologie, Bildqualität, Anwendungen, München 2000, S. 35-47. 129. Vgl. dazu: J. Ambrose: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 2«, S. 1027. 184
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Schon wenig später wurde die Spanne der Skala weiter ausdifferenziert von -1000 bis 1000 Einheiten, um eine größere Kontrastschärfe bei der Darstellung einzelner Körperteile zu erlangen.130 Wenn der Nullwert bei Wasser liegt, der Minimalwert bei Luft und der Maximalwert bei Knochen, so befinden sich in der nach oben offenen Hounsfield-Skala die meisten Gewebe mit Ausnahme von Fettgewebe und der Lunge im unteren positiven Bereich. Die aus einem Scan sich ergebende numerische Schwächungsverteilung wird schließlich mittels der Hounsfield-Skala übersetzt, und zwar in der Regel in Graustufen-, heute bisweilen auch in Farbwerte. Dabei kann die Anzahl der Graustufen zwar medientechnisch variieren, doch ist die Kapazität des menschlichen Auges, Graustufen zu unterscheiden, beschränkt. So schwankt die Zahl der wahrnehmbaren Graustufen je nach Einschätzung der Autoren zwischen 20-30131, 30132 oder auch 60-80133. CT-Scanner aber decken heute eine Skala von üblicherweise -1024 bis +3071 Hounsfield-Einheiten ab, wobei die meßbaren Maximalwerte für Knochen bei ca. 2000 Hounsfield-Einheiten liegen. Wenn das menschliche Auge tatsächlich in der Lage wäre, 80 Graustufen zu unterscheiden, würde sich selbst bei einer Skala von ca. -1000 bis ca. 1000 Hounsfield-Einheiten eine Graustufenrasterung von 25 Hounsfield-Einheiten pro Graustufe ergeben. Vergleicht man die Skala, dann wären etwa die Niere (2040) nicht mehr sauber von Wasser (0) oder Blut (50-60) nicht mehr sauber von der Bauchspeicheldrüse (30-50) zu trennen. Dieses Problem wurde schon sehr früh erkannt: »Will man den gesamten Bereich der möglichen Schwächungswerte wiedergeben, so erhält man ein sehr kontrastarmes Bild. Viele Meßwerte sind in einer Grau- oder Farbstufe zusammengefaßt und Details der Messung können nicht bildlich wiedergegeben werden. Daher ist man dazu übergegangen, Teilbereiche der Schwächungswerte auszuwählen und diese in vollem Detail wiederzugeben. Man bedient sich dazu eines sog. Fensters.«134 Dieser Akt der Fensterung stellt schon bei Hounsfield eine wesentli-
130. Vgl. dazu: J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. 3. 131. Ebd. 132. M. Farkas: Querschnittanatomie zur Computertomographie. Eine Einführung mit ausgewählten Schnitten aus dem Kopf-, Hals-, Brust- und Beckenbereich, Berlin u.a. 1986, S. 7. 133. W. Kalender: Computertomographie, S. 32. 134. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. 3. 185
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che Strategie zur Gewährleistung von Kontrastschärfe auch bei wenig kontrastreichem Gewebe dar.135 Die Fensterung erlaubt mannigfaltige ikonische Realisierungen des erhobenen Datensatzes, darunter etwa: Knochenfenster C/W 1000, 2500; Mediastinumfenster C/W -50, 400; Lungenfenster C/W -600, 1700.136 Dabei bezeichnet C das Zentrum (›center‹) des Fensters als Schwächungswert laut Hounsfield-Skala, während W die Weite (›width‹) des Fensters definiert. Das heißt etwa für das oben angeführte Mediastinumfenster, daß es auf der Hounsfield-Skala einen Bereich von -250 bis 150 abdeckt, wobei sein Zentrum auf -50 liegt. Die hohen Werte erscheinen in einem solchen Fenster – ähnlich wie bei dem herkömmlichen Röntgenbild – hell und die tiefen dunkel. Die Fensterung ergibt sich also jeweilig aus dem diagnostisch indizierten Untersuchungszweck und ermöglicht so die kontrastreiche Darstellung auch wenig kontrastreicher Gewebe. Dabei spielt neben der Zuordnung von Graustufenwerten die Verteilung der Pixel auf der schließlich auf dem Bildschirm erscheinenden Bildmatrix eine wesentliche Rolle. Die in den frühen 70er Jahren vorliegende Bildmatrix von 80x80 Pixeln, mit welcher etwa Hounsfield und Ambrose gearbeitet haben, führt allerdings zu einer geringen Bildqualität und einem rasterartigen Bildeindruck. Schon wenig später ist die Auflösung höher und beträgt etwa in der von Gambarelli & co erstmals 1976 herausgegebenen, 1977 in deutscher Fassung veröffentlichten Ganzkörper-Computer-Tomographie schon 256x256 Pixel. Die heute mögliche Auflösung von 1024x1024 erlaubt freilich ein digitales Bildformat, welches der analogen Bildqualität etwa der Photographie kaum mehr nachsteht. Wenn Hounsfield in seinem Beitrag von 1973 prognostiziert, die Computertomographie sei nun in der von ihm entwickelten Form eines funktionstüchtigen CT-Scanners in der Lage, ein neues Kapitel in der diagnostischen Anwendung der Röntgentechnik seitens der Medizin aufzuschlagen, darf nicht vergessen werden, daß auch Hounsfields Entwicklung nicht ohne die Pionierarbeiten zahlreicher anderer Forscher vonstatten gegangen ist. Unter diesen sind vor allem der Mathematiker J.H. Radon – welcher schon 1917 die mathematischen Grundlagen zur Errechnung von Querschnittbildern vorlegt –, der Astronom Ronald Bracewell, der Mediziner und Ingenieur William Oldendorf, der Radiologe David Kuhl und vor allem der Nuklearphysiker Alan Cormack – welcher 1963 ein Verfahren
135. Vgl. dazu: G.N. Hounsfield:»Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 1«, S. 1019. 136. Vgl. dazu: W. Kalender: Computertomographie, S. 31. 186
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zur Berechnung der Absorptionsdichte verschiedener Körperteile entwickelt – zu nennen.137 Bei den Pionieren dessen, was Hounsfield zu Beginn der 70er Jahre schließlich als Computertomographie auf den Markt bringt, besteht das Ziel der Bemühungen jedoch, dies gilt es zu betonen, weder notwendig in der Entwicklung eines medizinisch relevanten diagnostischen Instrumentariums noch notwendig in der Ausarbeitung eines bildgebenden Verfahrens. So stellt die von Hounsfield durchgesetzte Computertomographie nicht nur eine genuine Konvergenz von Computer- und Röntgentechnik, sondern auch eine solche von medizinisch motivierter Bildgebung und technisch-apparativem Datenerhebungsverfahren dar. Denn anders als bei der Erfindung der Röntgentechnik erscheint die Medizin von Beginn an als ausgewiesenes Anwendungsgebiet der Computertomographie. So findet die Erprobung der Computertomographie in der Klinik statt, und zwar im Londoner Atkinson Morley’s Hospital, wo der Ingenieur Hounsfield und der Mediziner Ambrose am 1. Oktober 1972 Aufnahmen einer 41jährigen Frau mit dem Verdacht auf einen Hirntumor scannen. Wie Ambrose in seinem ebenfalls 1973 im British Journal of Radiology erschienenen und als Fortsetzung des Artikels von Hounsfield gekennzeichneten Beitrag unter dem Titel ›Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 2. Clinical application‹ ausführt, beträgt die Aufnahmezeit für das transversale Schnittbild des Schädels zu Beginn etwa vier Minuten.138 Aufgrund dieser langen Aufnahmezeit darf der Patient sich nicht bewegen, um etwaige Aufnahmefehler, wie sie schon aus der herkömmlichen Röntgentechnik bekannt sind, zu vermeiden. Jedoch, so argumentiert Ambrose, sei von einer möglichen Anästhesierung des Patienten abzusehen, da der Mediziner der aktiven Kooperation des Patienten bei der Positionierung im Scanner bedürfe.139 Schon sehr bald aber sollte sich die Aufnahmezeit auf wenige Sekunden verringern und somit die einigermaßen problemlose Anfertigung einer diagnostisch relevanten Serie von Scans ermöglichen. Auch beschränkt sich die Computertomographie seit 1974 nicht mehr auf den Schädelscanner. In diesem Jahr nimmt der Radiologe Robert S. Ledley am Georgetown University Hospital den ersten Ganzkörperscanner in Betrieb. Trotz hoher Kosten für Anschaffung und Unterhalt der Computertomographie setzt diese sich
137. Vgl. dazu vor allem: B. Kevles: Naked to the Bone, S. 147-155. 138. Vgl. dazu: J. Ambrose: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 2«, S. 1025. 139. Vgl. dazu: ebd., S. 1039f. 187
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noch in den 70er Jahren in der medizinischen Diagnostik durch und gehört seitdem zur radiologischen Standardausrüstung der Kliniken. Dabei verändern sich sowohl die technischen Grundlagen als auch die Einsatzgebiete der Computertomographie. Es entstehen verschiedene Gerätegenerationen noch in den 70er Jahren.140 Die Aufnahmezeit verringert sich dabei auf unter eine Sekunde, die Auflösung der Bildmatrix vergrößert sich, die Dicke der gescannten Schicht läßt sich auf unter 1mm festsetzen.141 Auch bleibt die Computertomographie nicht mehr auf die transversale Schnittebene beschränkt, sondern sie läßt sich durch die sogenannte ›multiplanare Reformatierung‹ auch auf sagittale oder frontale Ebenen beziehen. Im Rahmen der 3D-Rekonstruktion erlaubt die Computertomographie mittlerweile auch die Darstellung dreidimensionaler Körperteile. Neben der interventionellen Computertomographie, welche etwa eine Biopsie unter Computertomographie-Sichtkontrolle ermöglicht, wird die Computertomographie auch für die virtuelle Endoskopie oder zur Simulation von diagnostischen und therapeutischen Eingriffen eingesetzt. Nicht zuletzt wird durch digitale Datenkonfiguration in der bildgebenden Diagnostik heute eine Bildfusion möglich, welche etwa ein Computertomogramm in einem Magnetresonanztomogramm oder ein Positronenemissionstomogramm in einem Computertomogramm zeigt. Dies verdeutlicht, daß die in den 80er Jahren durch das Aufkommen der Magnetresonanztomographie zunächst in eine Krise geratene Computertomographie sich nun nicht mehr notwendig in einem Konkurrenzverhältnis zu dieser verhält, sondern daß beide Verfahren, wie vor allem auch das VHP unter Beweis stellen sollte, durchaus kompatibel sind.142 »Most people knew that CT scans were produced by X-rays, but few understood that the X-rays in CT scanners do not make any initial picture, much less an image on film«143, führt Kevles aus. Damit verdeutlicht sie noch einmal den Umstand, daß die Computertomographie einerseits zwar auch auf dem indexikalischen Datenerhebungsverfahren der Röntgentechnik beruht, sie andererseits
140. Vgl. dazu etwa: Gary T. Barnes/A.V. Lakshminarayanan: »Computed Tomography: Physical Principles and Image Quality Considerations«, in: Joseph K.T. Lee u.a. (Hg.), Computed Body Tomography. With MRI Correlation. 2. Auflage, New York 1989, S. 1-21. 141. Vgl. dazu etwa: W. Kalender: Computertomographie, S. 35-39. 142. Vgl. dazu etwa: ebd., S. 172ff. 143. B. Kevles: Naked to the Bone, S. 147. 188
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aber keineswegs selbst ein indexikalisches Verfahren darstellt. Vielmehr ist das Computertomogramm ein digitales Bildformat, welches aus der mathematischen Rekonstruktion von Meßdaten errechnet wird und auf dem Bildschirm in Form einer Pixelmatrix erscheint. Ob es sich deshalb anbietet, das Computertomogramm als grundsätzlich numerisches und bloß willkürlich ikonisches Verfahren zu beschreiben, mag jedoch bezweifelt werden. In der zeitgenössischen Medientheorie ist es üblich, die Numerizität des digitalen Datensatzes gegen die Ikonizität der Bildformate auszuspielen. Dies gibt zwar Auskunft über den komplexen Status digitaler Bildgebung, entbehrt jedoch einem Bildbegriff, welcher sowohl historisch als auch systematisch operationalisierbar ist. Als Beispiel dafür mag folgende Feststellung von Pias herhalten: »Computer haben das Verhältnis von Bild und Text verändert, denn Bilder haben mit ihrer Digitalisierung fundamentale Eigenschaften von Texten übernommen.«144 Dabei ist zu betonen, daß Pias sich in der Folge ausdrücklich auf den digitalen Datensatz in Form des binären Codes bezieht und diesen mit dem Phänomen Bild auf einen Nenner bringt. Tatsächlich aber hat dieser digitale Datensatz selbst überhaupt keinen Bildstatus, weshalb er auch kaum als Beleg dafür dienen kann, daß die Bilder im Zeitalter ihrer digitalen Generierung notwendig Eigenschaften von dem Text aufweisen würden. Weiterhin kann festgehalten werden, daß selbst die mittels algorithmischer Datenbearbeitung vollzogene Transformation des digitalen Datensatzes zu einer Pixelmatrix auf dem Bildschirm es noch nicht erlaubt, diese als Bild im eigentlichen Sinne zu verhandeln. Darauf macht etwa Faßler aufmerksam, wenn er schreibt: »Keine Ansammlung von Pixeln […] ist ein Bild. Sie werden zu diesem erst durch das gezielte Sehen des Menschen. Die Sicherheit, mit der Bild-Element-Muster als Bilder angeschaut werden, ist kulturelle Konvention.«145 Wenn hingegen die aus diskreten Bildelementen bestehende Pixelmatrix selbst schon als eigentliches Bild ausgewiesen wird, dann wird einem Bildbegriff das Wort geredet, in welchem das Bild restlos im Medium aufgeht und von diesem nicht nur präfiguriert, sondern regelrecht determiniert wird. Ein solcher im Namen einer Medienontologie formulierter Bildbegriff führt allerdings dazu, daß ein jedes mittels digitaler Datenerhebungstechnologien gene-
144. Claus Pias: »Ordnen, was nicht zu sehen ist«, in: Wolfgang Ernst/Stefan Heidenreich/Ute Holl (Hg.), Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin 2003, S. 99-108, hier S. 100. 145. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 70. 189
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riertes Bildformat notwendig bei sich selbst bleibt, das heißt, daß es gar nicht anders erscheinen kann denn in digitalisierer Form als Pixelmatrix auf einem Bildschirm. Eine digitale Datenerhebungstechnologie setzt aber nicht notwendig voraus, daß das mittels dieser digitalen Datenerhebungstechnologie zu generierende Bild auch auf einem Bildträger wie dem Bildschirm erscheint. Insofern können, wenn nicht zwischen Bild und Medium oder zwischen Bild, Datenerhebungsverfahren und Bildträger differenziert wird, wesentliche Aspekte der Transmedialisierung von Bildformaten gar nicht in Betracht gezogen werden. Richtig ist zwar, daß der Speichermodus digital generierter Bildformate im Computer kein ikonischer, sondern ein numerischer ist. Richtig ist aber auch, daß im Rahmen der Transmedialisierung auf dem Bildschirm zu generierende Bilder ausgedruckt und etwa in analoger Form druckgraphisch reproduziert werden können, so daß sich auch der Speichermodus transformiert. Insofern ist die Argumentation, derzufolge digitale Bilder in ihrer Struktur textuell verfaßt seien, mißverständlich, weil sie eine Antwort auf die Frage, was ein digitales Bild sei und wo es als digitales Bild erscheine, schuldig bleibt. Nicht zuletzt wird in einer solchen medienontologischen Argumentation natürlich vergessen, daß der mittels digitaler Datenerhebungstechnologien erhobene Datensatz an und für sich völlig bedeutungslos ist, wenn er nicht transformiert auf der Anwendungsoberfläche des Computerbildschirms erscheint und dort eine medienkulturelle Adressierung erfährt, vollziehe sich diese nun in der Schrift oder im Bild. Tatsächlich lassen auch weder ihr Entwickler, der Ingenieur Hounsfield, noch ihr erster Anwender im klinischen Bereich, der Mediziner Ambrose, den geringsten Zweifel darüber aufkommen, daß es sich bei der Computertomographie um ein bildgebendes Verfahren handelt. So reiht Ambrose die Computertomographie in seinem bereits erwähnten Artikel aus dem Jahre 1973 ein in die von dem Röntgenbild eröffnete Tradition nicht-invasiver bildgebender Verfahren in der Medizin: »Computerized transverse axial scanning is a new method of ›imaging‹.«146 Im folgenden erwähnt Ambrose drei verschiedene Arten, die aus den erhobenen Meßdaten errechneten Datensätze zu präsentieren: erstens als Computerausdruck der Bildmatrix mittels der in numerischer Form vorliegenden Hounsfield-Einheiten; zweitens als Bild auf dem Computerbild-
146. J. Ambrose: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 2«, S. 1024. 190
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schirm; drittens als von diesem Computerbildschirm abphotographiertes Polaroid.147 Eine weitere Variante, die von Ambrose nicht angeführt wird, wäre der Ausdruck des gesamten Datensatzes eines Scans gewesen, welcher aber die Seitenanzahl mehrerer Bücher in Anspruch genommen hätte und somit überhaupt nicht operationalisierbar gewesen wäre. Dies gilt weitgehend aber auch für die erste Variante, welche schon bei einer Bildmatrix von 80x80 auf gängigem Papierformat höchst unübersichtlich wird und bei einer höheren Auflösung Postergröße beanspruchen würde. Hingegen haben sich die beiden letzten Varianten, also die Präsentation als Bild auf dem Computerbildschirm bzw. das von diesem abphotographierte Polaroid in der klinischen Diagnostik der frühen 70er Jahre durchgesetzt. Zu diesen Strategien gesellen sich wenig später die bis heute dominante Dokumentation auf Röntgenfilm und der nur eine reproduktionstechnische Alternative darstellende einfache Computerausdruck des Bildes. Insgesamt ist es also sowohl aus medientechnischer als auch aus bildkultureller Perspektive unsinnig, anhand der Numerizität des digitalen Datensatzes die Ikonizität des Computertomogramms prinzipiell in Frage zu stellen. Wie insbesondere das Verfahren der Fensterung zeigt, ist das Computertomogramm selbst rein medientechnisch in seiner ikonischen Dimension durchaus kein automatisches Resultat eines Datenerhebungsverfahrens, sondern die durch dieses Verfahren erhobenen Daten werden durch gezielte und diagnostisch motivierte Manipulation allererst zu einem bestimmten, vom Anwender zu bestimmenden Bild konvertiert. So gilt es aus medientechnischer und bildkultureller Perspektive bezüglich des Verhältnisses zwischen Numerizität und Ikonizität der Computertomographie zu betonen, daß es ohne die numerische Dimension zwar keine ikonische geben könnte, daß es aber ohne die ikonische Dimension überhaupt keine numerische geben müßte. Die medien- und bildwissenschaftlich eigentlich interessante Frage ist also nicht, ob der digitale Datensatz nicht auch numerisch oder akustisch oder textuell präsentiert werden könnte. Vielmehr besteht sie darin, warum er gerade ikonisch realisiert wird. Denn diagnostische Relevanz und medizinische Bedeutung erlangt die Computertomographie wohl erst in ihrer ikonischen Dimension. Darüber geben etwa Gambarelli & co in ihrer Ganzkörper-Computer-Tomographie aus dem Jahre 1977 Auskunft:
147. Vgl. dazu: ebd., S. 1024. 191
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»Der Anwender muß sich darüber im klaren sein, daß zwar die Maschine das Meßergebnis liefert, daß es aber Sache des Arztes ist, dieses Ergebnis zu interpretieren und durch die Interpretation die Diagnose zu finden.«148 Entsprechend wird, wie schon bei der Etablierung des Röntgenbildes an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert festzustellen war, das neue bildgebende Verfahren recht bald zu einer Herausforderung auch für den anatomischen Bildhaushalt. Dies liegt nicht zuletzt in dem von Burri folgendermaßen gekennzeichneten Umstand begründet: »Für das Verstehen und die Verwendung digitaler visueller Repräsentationen spielt […] ihre Anschlußfähigkeit an Körperdarstellungen, wie sie in konventionellen Anatomie-Lehrbüchern als Illustrationen zu finden sind, eine wesentliche Rolle.«149 Gerade diese Anschlußfähigkeit – welche von Burri hier nur aus einer Perspektive, nämlich derjenigen der Computertomographie, gedacht wird – erweist sich in vielerlei Hinsicht als problematisch. Zunächst einmal ist festzustellen, daß es bezüglich des Verhältnisses zwischen Computertomographie und Anatomie zwei Tendenzen gibt. So wird seit den 70er Jahren nicht nur die Anschlußfähigkeit der Computertomographie an anatomisches Wissen im Format des auf der Sektion beruhenden anatomischen Bildzeugnisses erprobt, sondern es wird andersherum auch die Anschlußfähigkeit der Anatomie an das Bildformat des Computertomogramms ausgelotet. Auf der einen Seite also Anatomie für die Computertomographie, auf der anderen Seite Computertomographie für die Anatomie. Dabei sind die Grenzen zwischen beiden Tendenzen, dies wird zu zeigen sein, oftmals fließend. Da die Computertomographie ähnlich wie die herkömmliche Röntgentechnik ein primär diagnostisches Instrumentarium darstellt, ist auch hier im Rahmen der Befundung des Pathologischen allererst das Normale zu statuieren. Dies besteht für das bildgebende Verfahren der Computertomographie zunächst in einer normalen Schwächungsverteilung, wohingegen etwaige Läsionen als »alterations of normal density«150 erscheinen. Gerade diese normale Dichte muß aber visualisiert, statu-
148. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. 9. 149. Regula Burri: »Doing Images: Zur soziotechnischen Fabrikation visueller Erkenntnis in der Medizin«, in: B. Heintz/J. Huber, Mit dem Auge denken, S. 277303, hier S. 291. 150. J. Ambrose: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 2«, S. 1023. 192
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iert und anatomisch katalogisiert werden. Aus diesem Grund präsentieren schon die frühesten Atlanten zur Computertomographie – darunter vor allem: Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co sowie Cross-sectional anatomy – an atlas for computerized tomography von Ledley & co – sogenannte normale, also auf einem negativen Befund beruhende Computertomogramme. Ein weiteres Problem der Computertomographie liegt zu Beginn darin begründet, daß die Computertomogramme aufgrund der niedrigen Bildmatrix nur einen rasterartigen Einblick in körperliche Sachverhalte erlauben. So reduziert sich, wie Ambrose feststellt, der anatomische Gehalt der ersten Scans auf »some of the major anatomical features which can be seen in computerized transverse axial scans.«151 Die »resolution of small detail anatomy«152 indes ist seinerzeit technisch kaum möglich. Aus diesem Grund gerät die Anatomie zur Herausforderung für die Computertomographie, während gleichzeitig die Computertomographie zur Herausforderung für die Anatomie wird: »With the advent of the whole-body computerized tomographic scanner (CT scanner) and its important applications in diagnostic radiology, the need arises for a crosssectional anatomy book that correlates actual CT scans with detailed anatomical structures.«153 Die frühen Atlanten zur Computertomographie suchen deshalb auch den Anschluß an in herkömmlichen anatomischen Atlanten bereits etablierte Bildstrategien. Anders aber als etwa Grashey, welcher in der zweiten Auflage seines Atlas normaler Röntgenbilder von 1912 auf anatomische Bildzeugnisse aus dem Atlas von Sobotta zurückgreifen konnte, sieht sich das Computertomogramm als transversales Schnittbild damit konfrontiert, daß es so gut wie gar keine makroskopisch-anatomische Tradition von Schnittbildern gibt. Mit der Ausnahme einiger weniger Vorläufer – z.B. von Leonardo (Abb. 14), aus Joessels Lehrbuch der topographisch-chirurgischen Anatomie von 1884 oder photographischen Gefrierschnitten aus Roy-Camilles Coupes horizontales du tronc von 1959 – sind transversale Schnittbilder so gut wie nie Gegenstand anatomisch motivierter Bildstrategien gewesen. So gilt für die allererst zu entwerfende Schnittbildanatomie:
151. Ebd., S. 1025. 152. Ebd., S. 1047. 153. Robert S. Ledley u.a. (Hg.): Cross-sectional anatomy. An atlas for computerized tomography, Baltimore 1977, S. IX. 193
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»In the study of cross-sectional anatomy, it is important to consider two fundamental differences from the more conventional study of anatomy. First, only the structures within the thin two-dimensional slice of the cross section are not seen at all. Conventional anatomical pictures, on the other hand, usually try to present some three-dimensional continuity of overlying and underlying structures. Second, the conventional anatomy usually illustrates anterioposterior or lateral views, in which the entire organ, muscle, or bone can most often be seen; while in cross-sectional anatomy, an entire organ, muscle, or bone is rarely visible in one picture.«154 Wirft man einen Blick auf Atlanten zur Computertomographie, dann fällt auf, daß die Schnittbildanatomie mannigfaltige Strategien entwickelt hat, das Computertomogramm anatomisch intelligibel zu gestalten. Zu diesen Strategien gehört notwendig eine schematische Zeichnung, welche die transversale Schnittebene des Scans in zumeist lateraler Ansicht kennzeichnet. Weiterhin läßt sich in der Regel eine Zeichnung finden, welche die auf dem Computertomogramm sichtbaren anatomischen Strukturen verdeutlicht. Dies ist etwa in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co (Abb. 15) und in der Cross-sectional anatomy von Ledley & co der Fall. Eher fakultativ hingegen ist die Katalogisierung von weiterem Bildmaterial, welche von einem herkömmlichen Röntgenbild – etwa in der Ganzkörper-Computer-Tomographie oder in der Cross-sectional anatomy – über einen photographischen Gefrierschnitt – ebenfalls in der Ganzkörper-Computer-Tomographie – bis hin zu den mittlerweile einigermaßen bekannten Plastinaten in Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie von Romrell & co aus dem Jahre 1996 reichen kann. Einer der ganz wenigen radiologischen Atlanten, welcher vollständig auf über die jeweiligen bildgebenden Verfahren hinausgehende Bildformate verzichtet und ausschließlich bildgebende Verfahren wie Röntgentechnik, Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Angiographie und Ultraschall bedient, ist Die Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik von Weir/Abrahams aus dem Jahre 1992. Dieser Atlas versteht sich allerdings, wie im Vorwort versichert wird, als eine Ergänzung zum im gleichen Verlag wie die englische Originalfassung erschienenen Colour Atlas of Human Anatomy von McMinn/Hutchings.155 Eine dem Atlanten
154. R.S. Ledley u.a.: Cross-sectional anatomy, S. IX. 155. Vgl. dazu: Jamie Weir/Peter H. Abrahams: Die Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik. Röntgentechnik, Magnetresonanz-, Computertomographie, Angiographie und Sonographie, Berlin 1992, S. 3. 194
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von Weir/Abrahams genau entgegengesetzte Alternative besteht in dem von Koritké und Sick 1982 auch in deutscher Fassung herausgegebenen Atlas anatomischer Schnittbilder des Menschen, welcher die Notwendigkeit einer Schnittbildanatomie zwar aus der Entwicklung digitaler bildgebender Verfahren ableitet, aber keinerlei Computertomogramme oder Magnetresonanztomogramme präsentiert, sondern ausschließlich auf Leichensektionen beruhende Zeichnungen und photographische Gefrierschnitte.156 Die durch digitale schnittbildgebende Verfahren wie die Computertomographie oder die Magnetresonanztomographie wieder zunehmende Bedeutung der makroskopischen Anatomie insgesamt und die damit verbundenen Bemühungen um eine topographische Schnittbildanatomie dokumentieren die zahlreichen Auflagen des erstmals 1966 erschienenen Lehrbuches Topographische Anatomie des Anatomen Rohen. Hier wurde der Text bis zur 10. Auflage aus dem Jahre 2000 sukzessive gekürzt zugunsten der Aufnahme und Erklärung diverser bildgebender Verfahren. Ein Großteil dieser Atlanten beruft sich in erster Linie auf die Computertomographie und liefert somit Schnittbildanatomie für das bildgebende Verfahren. Dennoch verstehen sich die meisten Atlanten als Beitrag sowohl zur Anatomie als auch zur bildgebenden Diagnostik und richten sich an ein breites Spektrum des medizinischen Personals. Stellvertretend für diesen Sachverhalt heißt es in der Ganzkörper-Computer-Tomographie aus dem Jahre 1977: »Diese Arbeit scheint uns in der vorliegenden Form von besonderem Interesse für die Anatomen, die noch immer beim anatomisch-klinischen Unterricht bleiben, sowie für Ärzte, die in ihren Krankenakten Scanner-Schnitte ihrer Patienten finden, die sie ebenso leicht interpretieren müssen wie eine konventionelle Röntgenaufnahme, und schließlich die Röntgenologen, die privilegierten oder potentiellen Benutzer dieser modernen Anlagen, die in diesem Atlas alle topographischen Anatomie-Informationen für ihren Fachbereich finden.«157 Eine ganz andere Frage ist allerdings, wie ein Computertomogramm vom Computerbildschirm in den anatomischen Atlanten gerät. Rebel setzt, wie bereits angesprochen wurde, drei wesentliche Zäsuren in der Geschichte der Druckgraphik an, welche allesamt durch eine
156. Vgl dazu: J.G. Koritké/H. Sick: Atlas anatomischer Schnittbilder des Menschen. Frontal-, Sagittal- und Horizontalschnitte. I. Band, München, Wien, Baltimore 1982, S. XI. 157. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. v. 195
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Erweiterung des Spektrums der Transmedialisierung bestimmt sind. Die dritte Zäsur der Transmedialisierung veranschlagt er in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts: »Die alten Binärcodes haben sich in einen binären Rechnungsmodus und ein PixelUniversum verwandelt, worin der Unterschied von Produktion und Reproduktion des technischen Bildes grundsätzlich aufgehoben ist.«158 Diesbezüglich ließe sich die These aufstellen, daß die visuelle Kultur der Anatomie mit dem Einsatz der Computertomographie einerseits zwar den Schritt in das ›Pixel-Universum› tut, sie dieses aber mit der traditionellen Publikationsform des anatomischen Atlanten wieder in Richtung Gutenberg-Galaxis verläßt. Denn wirft man noch einmal einen Blick auf zu Beginn der 70er Jahre zur Verfügung stehende medientechnische Verfahren der Materialisierung des digitalen Datensatzes im Bildformat, dann fällt auf, daß zwar die Präsentation auf dem Bildschirm etwa durch mannigfaltige Fensterung eine interaktive Bearbeitung des Computertomogramms erlaubt, die Variante der Reproduktion durch ein vom Bildschirm abphotographiertes Polaraoid aber schon nicht mehr. So beruhen sowohl die in dem 1973 im British Journal of Radiology erschienenen Artikel von Ambrose präsentierten Computertomogramme als auch diejenigen in den frühen anatomischen Atlanten wie etwa der GanzkörperComputer-Tomographie oder der Cross-sectional anatomy auf vom Bildschirm abphotographiertem Bildmaterial. Dazu heißt es in der Ganzkörper-Computer-Tomographie: »Die Bilder im Format 10x8cm sind Photographien von einem Fernsehschirm; sie haben deshalb die üblichen Mängel.«159 Aufgrund der seinerzeit ohnehin nur verhältnismäßig niedrigen Bildmatrix – welche weit von den heute fast photorealistischen Bildformaten entfernt ist – erleiden die Computertomogramme bei der Transformation vom Bildschirm auf das Photo einen weiteren Qualitätsverlust. Als Alternative zur Dokumentation der Computertomogramme durch ein vom Bildschirm abphotographiertes Polaraoid führen die Autoren den Röntgenfilm an: »Die Dokumentation auf Röntgenfilm hat gegenüber dem Polaroid-Film den Vorteil, daß mehr Graustufen gespeichert werden können.«160 Beide Verfahren allerdings, sowohl das Polaroid als auch der Röntgenfilm, überführen das digitale bildgebende Verfahren der Computertomographie in
158. E. Rebel: Druckgrafik, S. 256f. 159. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. 27. 160. Ebd., S. 4. 196
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den Status des analogen Bildes zurück und erlauben keine interaktive Manipulation des Bildphänomens mehr: »Das Bild ist zwar direkt betrachtbar, enthält jedoch nur einen geringen Teil der gesamten Information, da nur ein Teilbereich mit vorgegebener Fensterlage und Fensterbreite bildlich festgehalten ist.«161 Indem sich also das Computertomogramm anders als auf dem Computerbildschirm manifestiert, geht der Rest des erhobenen Datensatzes quasi verloren. In der Publikationsform des anatomischen Atlanten wird mithin immer nur ein Teil des digitalen Datensatzes adressiert und als Bild realisiert. Eine Alternative dazu stellt die Speicherung des digitalen Datensatzes auf Magnetband dar, wobei diese nicht nur im klinischen Alltag unpraktisch, sondern vor allem für die Veröffentlichung und die damit beabsichtigte breite Leserschicht ungeeignet ist. Heute bieten sich, wie nicht zuletzt Kalender in seiner Computertomographie aus dem Jahre 2000 betont, insbesondere CD-ROMs zur Speicherung und Verbreitung des initialen digitalen Datensatzes an: »Zur Dokumentation eines der oben erwähnten Fälle wären ca. 50 Filme erforderlich, während eine einzige CD-ROM dieses Datenvolumen problemlos erfaßt.«162 Entsprechend plädiert Kalender in der ärztlich-klinischen Praxis vehement für eine Befundung des Computertomogramms am Bildschirm, um die Möglichkeiten des gesamten Datensatzes ausnutzen zu können: »Die Befundung muss aus praktischen wie prinzipiellen Gründen interaktiv am Monitor erfolgen. […] Der Abschied vom Film scheint vielen Radiologen schwer zu fallen.«163 Zwar sind diverse digitale bildgebende Verfahren seit den 90er Jahren auch in internetbasierten anatomischen Atlanten präsentiert worden, doch scheint das medientechnisch Mögliche dieser digitalen Publikationsform in bisherigen Projekten noch nicht ausgeschöpft zu sein. Ein durchaus prominentes Beispiel dafür bietet das Projekt DAVID des Centre d’Imagerie Diagnostique in Lausanne, welches allerdings als einzig interaktives Moment die Auswahl verschiedener durchnumerierter Schnittebenen anbietet und sich somit nur unwesentlich von der traditionellen Publikationsform des anatomischen Atlanten unterscheidet, in welchem natürlich auch geblättert werden kann. Für die Computertomographie insgesamt gilt, daß sie das erste digitale bildgebende Verfahren, welches in der klinischen Diagnostik und in der Anatomie zum Einsatz kommt, ist. Doch bleibt
161. Ebd. 162. W. Kalender: Computertomographie, S. 158. 163. Ebd. 197
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festzuhalten, daß – durchaus ähnlich wie schon bei dem analogen Röntgenbild – der anatomisch motivierte Versuch, das bildgebende Verfahren intelligibel zu gestalten, gleichzeitig zu dessen grundsätzlicher Transformation im anatomischen Atlanten beiträgt. Zwar ist das Computertomogramm als Bild in seiner ikonischen Dimension ohne die Numerizität des digitalen Datensatzes nicht zu realisieren. Doch verhält es sich so, daß die Anatomie Computertomogramme aus dem ›Pixel-Universum› in die Gutenberg-Galaxis importiert und in dem analogen Bildhaushalt des traditionellen anatomischen Atlanten archiviert. Damit trägt sie im Grunde zu einer reversiblen Tendenz dessen, was bei Rebel als ›Transmedialisierung‹ verhandelt wird, bei. Denn hier werden nicht genuin analoge Bilder digitalisiert und im digitalen Bildformat manipuliert, sondern es werden genau andersherum genuin digitale Bildformate in analogen Bildformaten katalogisiert, legendiert und kommentiert. Im Rahmen der bildkulturellen Standardisierung des Computertomogramms im traditionellen anatomischen Atlanten spielt eine etwaige medientechnische oder bildkulturelle Abgrenzung gegenüber analogen bildgebenden Verfahren wie Photographie und Röntgentechnik mithin auch keine zentrale Rolle mehr. Gerade der analogen Photographie als dem ältesten technisch-apparativen Datenerhebungsverfahren allerdings kommt eine ihr bis dahin in der Anatomie noch kaum beigemessene Bedeutung zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen dient sie in den Anfangsjahren dazu, das Computertomogramm vom Bildschirm abzulichten und für die bildmediale Reproduktion im Atlanten bereitzustellen. Zum anderen sind es in anatomischen Atlanten zur Computertomographie vor allem photographische Gefrierschnitte, welche zusammen mit dem auf der Zeichnung beruhenden anatomischen Bildzeugnis einen wesentlichen Stellenwert bei der Klärung körperlicher Sachverhalte im Computertomogramm einnehmen. Damit ist allerdings kein grundsätzliches Konkurrenzverhältnis zwischen diversen Bildmedien bei ihrem anatomisch motivierten Einsatz angezeigt, worauf beispielsweise in der Ganzkörper-Computer-Tomographie hingewiesen wird: »Unsere Anatomieunterlagen sollen nicht als Ersatz für die Abbildungen in den klassischen Werken […] betrachtet werden; in dieser Arbeit soll vielmehr die röntgenologische Anatomie, wie sie sich bei der Betrachtung der neuen Tomodensimetrie ergibt, behandelt werden.«164
164. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. v. 198
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3.6 Totale visuelle Mobilmachung: das Visible Human Project Das VHP erfährt seine Taufe im Jahre 1988, als die National Library of Medicine (NLM) in Bethesda im US-Bundesstaat Maryland beschließt, eine für Mediziner frei zugängliche Bilddatenbank mit digital konfigurierten, dreidimensionalen Datensätzen des kompletten menschlichen Körpers einzurichten: »NLM should undertake a first project building a digital image library of volumetric data representing a complete, normal adult male and female.«165 Die daraufhin erfolgte Ausschreibung für das mit $ 1.400.000 Fördermitteln dotierte Projekt geht an ein Forscherteam unter der Leitung von Victor Spitzer und David Whitlock von der University of Colorado, welches zum September 1991 die Arbeit offiziell aufnimmt. 1994 wird der Datensatz des Visible Human Male und 1995 derjenige der Visible Human Female urheberrechtlich geschützt veröffentlicht und der Forschung kostenlos zur Verfügung gestellt. In den Jahren 1996 und 1998 finden zwei große Konferenzen in Bethesda statt, auf welchen zahlreiche Forschergruppen aus verschiedenen Universitäten, Instituten und Disziplinen – darunter: Mathematiker, Informatiker, Ingenieure, Mediziner – über ihre bisherigen Ergebnisse bei der Bearbeitung der Datensätze zu unterschiedlichen Zwecken berichten.166 Bis zum Jahr 1998 sind über 700 Lizenzen des Datensatzes des VHP in über 26 Länder vergeben worden. Das VHP tritt in der Folge noch durch zwei umfangreiche Buchpublikationen in Erscheinung, nämlich zum einen durch den Atlas of the Visible Human Male von Spitzer/Whitlock aus dem Jahre 1998 und zum anderen durch den New Atlas of Human Anatomy von McCracken aus dem Jahre 1999. Dieser erscheint im gleichen Jahr unter dem Titel Der-3D-Anatomie-Atlas auch in deutscher Übersetzung. Dort heißt es: »Das Visible Human ProjectTM war allein schon eine Errungenschaft. Im Hinblick auf die virtuelle Anatomie war es jedoch gerade erst der Anfang.«167 Wenn McCracken hier vom VHP in der Vergangenheitsform spricht, gilt es zu bedenken, daß die ei-
165. http://www.nlm.nih.gov/pubs/factsheets/visible_human.htlm, gesehen am 10. Februar 2002. 166. vgl. dazu die ›Visible Human Project Conference Proceedings‹: http://www.nlm.nih.gov/research/visible/vhp_conf/vhpconf.htm, gesehen am 10. Februar 2002; http://www.nlm.nih.gov/research/visible/vhp_conf98/MAIN.HTM, gesehen am 10. Februar 2002. 167. Th.O. McCracken: Der-3D-Anatomie-Atlas, S. 25. 199
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gentliche Ausschreibung der NLM unter dem Titel VHP in der Erhebung des volumetrischen Datensatzes bestand und daß dieses Projekt tatsächlich mit der Veröffentlichung der Daten zur Visible Human Female im Jahre 1995 abgeschlossen worden ist. Auf der anderen Seite aber ist das VHP auch jenseits seines urheberrechtlich geschützten Status als ›Trademark‹ (VHPIM) zum Synonym für die zeitgenössischen Bemühungen um eine virtuelle Anatomie geworden, welche sich wesentlich entlang der digitalen Datensätze bewegen. Von daher bietet es sich im folgenden an, das Verfahren zur Erhebung der Daten des VHP genauer zu betrachten. In ihrem 1998 in Buchform erschienenen Atlas of the Visible Human Male geben Spitzer/Whitlock einigermaßen ausführlich Auskunft über die von ihnen zur Anwendung gebrachten Datenerhebungstechnologien.168 Deren Auswahl war allerdings an verschiedene, in der Ausschreibung der NLM formulierte Auflagen gebunden. So heißt es in der Ausschreibung bezüglich der obligatorisch zur Anwendung zu bringenden bildgebenden Verfahren: »This Visible Human Project will include digitized photographic images for cyrosectioning, digital images derived from computerized tomography and digital magnetic resonance images of cadavers.«169 Aufgrund der in der Ausschreibung geforderten Nutzung digitalphotographischer Gefrierschnitte war es zunächst notwendig, einen geeigneten Leichnam für das Projekt ausfindig zu machen, und zwar einen Leichnam »that could be taken as ›normal‹ or representative of a large population.«170 Wesentliche Bedingung dafür war ein Alter zwischen 21 und 60 Jahren, ein Leichnam frei von traumatischen Verletzungen und eine Todesursache nicht infektuöser Natur. Zudem hatte der Leichnam bestimmte Körperproportionen nicht zu überschreiten, was gerade durch die Größe des für die digitalphotographischen Gefrierschnitte zur Verfügung stehenden Cromacrotoms – einem Präzisionsschneidegerät – bedingt war. Die Wahl fiel schließlich auf einen 38jährigen, kürzlich in Texas durch Giftinjektion hingerichteten Strafgefangenen, welcher zuvor seinen zukünftigen Leichnam
168. Vgl. dazu: V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xii-xvii. 169. http://www.nlm.nih.gov/pubs/factsheets/visible_human.htlm, gesehen am 10. Februar 2002. 170. V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xii. 200
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der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte.171 Bei der Erhebung des Datensatzes des Visible Human Male für die Bilddatenbank des VHP kamen schließlich sechs diverse bildgebende Verfahren zur Anwendung: »traditional X-rays and CT […] scans to optimally visualize bone, MRI […] for soft tissue, and three types of color photographs for definitive resolution.«172 Die Gründe für die Vielzahl der Datenerhebungstechnologien beschreiben Spitzer/Whitlock folgendermaßen: »This would make up the multispectral database of images that would be captured by the most clinically useful imaging techniques currently available and one technique – photography – that would provide the ultimate standard of comparison.« 173 So wurden an dem Leichnam schließlich Röntgenbilder, 1878 transversale CT-Scans von 1mm Dicke sowie MRT-Scans auf transversaler Ebene am Schädel und auf frontaler Ebene am restlichen Körper vorgenommen. Aufgrund der begrenzten Größe des für die digitalphotographischen Gefrierschnitte benutzten Cromacrotoms mußte der gefrorene Gesamtkörper zunächst in vier Teile geschnitten werden, wobei versucht wurde, die Schnitte genau dort anzusetzen, wo zuvor ein Computertomogramm vorgenommen worden war. Trotz der Bemühungen, den Sägeschnitt so fein wie möglich ausfallen zu lassen, wurde der gefrorene Körper an einigen, in der Publikation ausgewiesenen Stellen unsachgemäß seziert.174 Dies hat zu blinden Flecken im Gesamtdatensatz geführt: »The missing images in the Dataset represent anatomy destroyed by the saw.«175 Daraufhin begannen die eigentlichen digitalphotographischen Aufnahmen dieser analog zu den CT-Scans je 1mm dicken Gefrierschnitte, welche Millimeter für Millimeter abgehobelt wurden: »Each slice, including cutting, preparation, photography, refreezing, and repositioning took anywhere from four to ten minutes.«176 Die derart durch CT- und MRT-Scans sowie digitalphotographische Gefrierschnitte am menschlichen Leichnam erhobenen Daten mit einem Umfang von 15 Gigabyte, also über 20 CD-ROMs, sind entsprechend der Datenerhebungstechnologien zunächst zwei-
171. Vgl. dazu vor dem frühneuzeitlichen Hintergrund der Sektion von hingerichteten Straftätern kritisch: C. Waldby: The Visible Human Project, S. 52ff. 172. V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xii. 173. Ebd. 174. Vgl. dazu: ebd., S. 87, 171, 237. 175. Ebd., S. xv. 176. Ebd., S. xvi. 201
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dimensionale Schnittbilder. Diese müssen, um den Anforderungen der in der Ausschreibung der NLM formulierten volumetrischen Daten zu entsprechen, mittels spezifischer Datenkonfigurationen volumetrisch berechnet und auf dem Bildschirm in dreidimensionale Bildformate transformiert werden. Das dabei zur Anwendung gekommene Verfahren wird von dem Team um Spitzer/Whitlock als ›Reverse Engineering of the Human Body‹ (Abb. 16) bezeichnet. Es besteht zunächst darin, auf einer großen Anzahl (~500-700, je nach zu rekonstruierendem Organ) von aufeinander folgenden digitalphotographischen Gefrierschnitten mit einem Konturenzeichner anatomisch zu identifizierende Umrisse einzuzeichnen, also die je bestimmten Organe bzw. anatomischen Strukturen zu segmentieren und zu klassifizieren. Diese große Anzahl segmentierter und klassifizierter digitalphotographischer Gefrierschnitte wird daraufhin übereinandergelegt und zu einem gitterförmigen Gerüst gebündelt, so daß ein schematisches dreidimensionales Bildphänomen entsteht. Dessen Oberfläche wird anschließend rekonstruiert, woraus sich ein vollständiges, dreidimensional generiertes Modell des bestimmten Organs ergibt. Die Organe bzw. anatomischen Strukturen des menschlichen Körpers werden also aus je getrennten Daten rekonstruiert, sind aber miteinander konfigurierbar. Deshalb erlaubt es dieses Verfahren auch, vollständig dreidimensional rekonstruierte Organe bzw. anatomische Strukturen auf verschiedenen Ebenen in den gesamten Körper zu integrieren bzw. aus diesem zu extrapolieren. Weiterhin können die jeweilig auf dem Bildschirm interaktiv generierten Präparate nicht nur de- und refiguriert, sondern auch gleichzeitig gedreht und gewendet werden. Eben diese interaktive Realisierung des Datensatzes auf dem Bildschirm wird sowohl von dessen Entwicklern, also dem Team um Spitzer/Whitlock, als auch von dessen Anwendern und Weiterentwicklern, so etwa McCracken, als Spezifikum des VHP hervorgehoben und als das eigentlich innovative Moment markiert. So heißt es im Atlas of the Visible Human Male: »We now have a renewable cadaver […]. Not only can we dissect it, we can put it back together again and start all over.«177 Und McCracken, welcher darum bemüht ist, auf der Basis des Datensatzes des VHP eine virtuelle Anatomie zu entwickeln, betont: »Ein ganz besonderer Vorteil der dreidimensionalen, computergenerierten Anatomie ist, dass der Anwender das Datenmaterial interaktiv nutzen […] kann.«178
177. Ebd., S. xix. 178. Th.O. McCracken: Der-3D-Anatomie-Atlas, S. 28. 202
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Das VHP im engeren Sinne ist der digitale, von dem Team um Spitzer/Whitlock erhobene Datensatz in der Datenbank der NLM, welche auch via Internet im Rahmen eines Lizenzvertrages heruntergeladen werden kann. Das VHP im weiteren Sinne sind die aus diesem Datensatz durch etwaige Manipulationen und Operationen zu realisierenden Bildformate. Dabei macht es zunächst keinen Unterschied, ob sich diese schließlich auf dem Bildschirm oder auf der Bildtafel eines herkömmlichen anatomischen Atlanten materialisieren. Insofern ist das VHP im engeren Sinne ein bezüglich der Ausschreibungsmodalitäten der NLM rechtskräftig abgeschlossenes Projekt, welches seines Projektstatus im weiteren Sinne jedoch noch lange nicht verlustig gegangen ist. Dies bekräftigen auch Spitzer/ Whitlock mit Nachdruck: »The real future of medical education is not in the Visible Human Dataset itself but rather in the manipulation, distortion, and modification of the data to produce whole populations of virtual humans of every age, race, and pathology.« 179 Die von den Entwicklern des VHP hier vorgenommene Unterscheidung zwischen dem originalen digitalen Datensatz als Resultat mannigfaltiger Datenerhebungstechnologien und dem aus diesem Datensatz zu generierenden Bildformaten verdeutlicht auch, daß es sich bei dem VHP nicht um ein Bildmedium handelt. Insofern kommt dem VHP auch nicht notwendig jener Status zu, welcher etwa dem frühneuzeitlichen Bildzeugnis, der Photographie, dem Röntgenbild oder der Computertomographie beigemessen werden kann. Das VHP ist kein neues Bildmedium, welches sich in einer etwaigen Komplementär- oder Konkurrenzsituation zu bereits in der visuellen Kultur der Anatomie etablierten Bildmedien sukzessive zu positionieren hätte oder zu einer Neuverteilung der Anwendungsgebiete auch dieser etablierten Bildmedien führen müßte. So verkörpert das VHP auf dem Bildschirm die Konvergenz diverser Datenerhebungstechnologien mittels digitaler Datenkonfiguration. Dabei läßt sich eine Konvergenz von optischen (Photographie, Röntgentechnik) und nicht-optischen (Computertomographie, Magnetresonanztomographie) Datenerhebungstechnologien sowie von invasiven (photographischer Gefrierschnitt) und nicht-invasiven Verfahren (Röntgentechnik, Computertomographie, Magnetresonanztomographie) ausmachen. Was indes wegfällt, ist das traditionelle, auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhende anatomische Bildzeugnis.
179. V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xix. 203
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Anders, als dies etwa aus einschlägigen anatomischen Atlanten zur Computertomographie bekannt ist, präsentiert das VHP nicht diverse Bildmedien wie etwa ein Computertomogramm, einen photographischen Gefrierschnitt sowie eine Zeichnung in ihrer je spezifischen bildmedialen Verfaßtheit. In Atlanten zur Computertomographie kommt der Katalogisierung diverser Datenerhebungsverfahren die Funktion zu, das Computertomogramm kontrastiv intelligibel zu gestalten, um dessen Spezifizität vor Augen zu führen. Die grundsätzliche Funktion des VHP hingegen besteht in einem Programm reiner Sichtbarkeit. Diese wird jenseits der im Rahmen des Verfahrens der Datenerhebung zur Anwendung gekommenen Bildmedien eröffnet. Die photographischen Gefrierschnitte, Röntgenbilder, Computer- und Magnetresonanztomogramme sind in ihrer jeweiligen Spezifizität auf dem Bildschirm nicht mehr rekapitulierbar. Dennoch kommt ihnen die Rolle eines Zeugen für das Projekt zu. Derart jedenfalls ließe sich die Tatsache erklären, daß Spitzer/ Whitlock zumindest in ihrem Atlas of the Visible Human Male dasjenige, was in den Bildern des VHP quasi restlos konvergiert, einer schon aus anatomischen Atlanten zu bildgebenden Verfahren bekannten kontrastiven Lektüre anheimgeben. So präsentieren sie den photographischen Gefrierschnitt 1107 – 1107 bedeutet in der Logik des digitalphotographischen Datenerhebungsverfahrens, daß es sich, von oben gezählt, um Schnitt 107 des ersten der vier Blöcke handelt, in welche der gefrorene Körper für das Cromacrotom geteilt wurde – mit einem Computertomogramm und einem Magnetresonanztomogramm gleicher Ebene sowie mit einem Röntgenbild (Abb. 17). Betrachtet man das Verhältnis zwischen dem genuin digital angelegten VHP und der in der Anatomie seit Jahrhunderten privilegierten Publikationsform des anatomischen Atlanten, dann erscheint eine Veröffentlichung von mittels des digitalen Datensatzes realisierten Bildern in Buchform zumindest auf den ersten Blick als einigermaßen befremdlich. So stellt etwa Waldby bezüglich des VHP fest: »its difference from the conventional atlas is that it writes not as analogue inscription but as digital data. It reads and writes the anatomical body according to the logic of the screen and the computer rather than the page and the book.« 180 Dennoch lassen sich seit dem Ende der 90er Jahre anatomisch moti-
180. C. Waldby: The Visible Human Project, S. 71. 204
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
vierte und auf dem VHP basierende Publikationen in Buchform ausmachen. Diese tragen nicht nur den Begriff ›Atlas‹ im Titel, sondern sie sind auch damit beauftragt, die dem VHP laut Waldby eigene ›Logik des Bildschirms‹ in eine ›Logik der Buchseite‹ zu übersetzen. Zu diesen Publikationen zählen, dies ist bereits angesprochen worden, insbesondere der Atlas of the Visible Human Male von Spitzer/Whitlock aus dem Jahre 1998 sowie Der-3D-Anatomie-Atlas von McCracken aus dem Jahre 1999. McCrackens Atlas verhandelt die beiden geläufigen Bereiche der systematischen und der topographischen Anatomie, katalogisiert zahlreiche großformatige, farbige Bilder samt Legende und Kommentar und bietet zudem eine CD-ROM mit Anwendungsbeispielen des Datensatzes durch die Firma Visible Productions. Zu Beginn gibt McCracken einen kurzen Überblick über dasjenige, was er als ›Die Geschichte des anatomischen Zeichnens‹ betitelt.181 Diese beginnt bei ihm mit Vesals Fabrica von 1543 und endet mit Henry Grays Anatomy Descriptive and Surgical von 1858. Ein zweiter Abschnitt unter dem Titel ›Lehrbuch-Illustrationen‹ beschäftigt sich mit einigen Atlanten des 19. und 20. Jahrhunderts.182 Einigermaßen auffällig ist also die Tatsache, daß McCracken anatomisch motivierte Bildgebung als ausschließlich auf der traditionellen Zeichnung beruhende vorstellt, was allerdings im folgenden dazu dient, den Innovationscharakter des VHP in den Vordergrund zu stellen: »An der Schwelle zum dritten Jahrtausend befinden wir uns mitten in einer weiteren Aufsehen erregenden Entwicklung, die dieser Anatomie-Atlas in Buchform vorstellt, obwohl die Entwicklung selbst auch andere Medien einbezieht.«183 Diese heuristische Trennung zwischen denjenigen Bildmedien, welche für die Datenerhebung zum Einsatz gekommen sind, und demjenigen, mittels dessen der Datensatz in Bildformat manifest wird, erweist sich gerade in Hinblick auf die Publikation in Buchform als hilfreich, um den spezifisch medialen Stellenwert des anatomischen Atlanten für die und in der visuellen Kultur der Anatomie zu erfassen. Denn das Verfahren der Datenerhebung ist notwendige Voraussetzung für die Realisierung der interaktiven Bilder auf dem Bildschirm und für deren Manifestation auf der Buchseite des Atlanten. Darüber hinaus aber ist jene gleichzeitig eine Voraussetzung für diese, weshalb die farbigen und großformatigen Bilder in dem 3D-
181. Vgl. dazu: Th.O. McCracken: Der-3D-Anatomie-Atlas, S. 14f. 182. Vgl. dazu: ebd., S. 16f. 183. Ebd., S. 12. 205
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Anatomie-Atlas von McCracken das Resultat nicht nur einer in Hinblick auf bildmediale Reproduktionstechniken komplexitätssteigernden, sondern auch einer in medientechnischer und vor allem bildkultureller Hinsicht komplexitätsreduzierenden Strategie sind. So ist es die etwa der Paginierung oder der Bildreihenfolge im herkömmlichen anatomischen Atlanten zumindest auf den ersten Blick gänzlich entgegengesetzte Nicht-Linearität der Bildserien, welche anatomisch motivierter Bildgebung am Bildschirm eine gänzlich neue Dimension eröffnet. Dies gerade deshalb, weil das VHP das Präparat per Mausklick manipulierbar gestaltet, drehbar und wendbar macht und somit immer neue anatomische Körper zu produzieren in der Lage ist. Diese Dimension allerdings geht in der Publikationsform des gedruckten anatomischen Atlanten verloren, worauf McCracken nachdrücklich hinweist: »Der Nachteil bei der Umsetzung der elektronisch gespeicherten in die gedruckte Form ist, dass die dritte Dimension verloren geht.«184 Ähnlich wie schon im Rahmen der spezifisch anatomisch motivierten Katalogisierung von computertomographischem Bildmaterial ist festzustellen, daß auch in diesem Fall eine reversible Transmedialisierung stattfindet. Diese läuft darauf hinaus, interaktiv zu realisierende Bilder aus Rebels ›PixelUniversum‹ in McLuhans ›Gutenberg-Galaxis‹ zu überführen und auf einem statischen Bildträger, nämlich der gedruckten Buchseite, zu fixieren. Indem ein mittels des digitalen Datensatzes realisiertes Bildformat auf der Buchseite des anatomischen Atlanten manifest wird, geht gleichzeitig eben dieser Datensatz nicht nur seines interaktiven und manipulativen Potenzials verlustig, sondern er geht als solcher in der Zielpublikation vollständig unter. Diese reversible Transmedialisierung beschreibt McCracken folgendermaßen: »Merkwürdigerweise ist dieser Vorgang die Umkehrung der konventionellen Bilderstellung, die mit einem zweidimensionalen Bild (Foto oder Grafik) beginnt, dieses in digitale Daten umsetzt und dann auf einem Computerbildschirm wiedergibt.« 185 Der Atlas of the Visible Human Male von Spitzer/Whitlock aus dem Jahre 1998 hingegen beschränkt sich weitestgehend auf die Bildmedien des Datenerhebungsverfahrens und dabei vornehmlich auf die digitalphotographischen Gefrierschnitte. Diese sind komplett katalogisiert, jeder zwölfte von ihnen wird großformatig präsentiert und mit einer Legende sowie einer schematischen Darstellung der
184. Ebd., S. 19. 185. Ebd. 206
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
Schnittebene versehen (Abb. 18). Diese Präsentationsform nimmt knapp 500 Seiten in Anspruch. Auf weiteren 20 Seiten wird in der abschließenden ›Image Gallery‹ ein »potpourri of some exciting views and applications of the Visible Human Male dataset«186 vor Augen geführt, darunter einige per Computer rekonstruierte frontale und horizontale Schnitte sowie vor allem Beispiele aus der systematischen Anatomie wie etwa das kardiovaskuläre oder das Verdauungssystem. Diese ›Image Gallery‹ ist, anders als in McCrackens Atlas, im übrigen nicht mit einer Legende versehen. Der Aspekt der Legendierung erweist sich jedoch als interessant, wenn man sich die Frage stellt, aus welchem Grund die Bildfläche im Rahmen eines genuin digitalen anatomischen Projektes wie eben dem VHP weiterhin auch von der Publikationsform des anatomischen Atlanten zur Verfügung gestellt wird. Spitzer/ Whitlock geben im Vorwort ihres Atlas of the Visible Human Male darüber Auskunft und legen nahe »[…] to not ignore the old and trusted media, the printed page, even for this entirely digital project.«187 Buchpublikationen wie diejenigen von Spitzer/Whitlock oder McCracken sind aber durchaus mehr als bloße Begleitpublikationen für das genuin digitale Projekt, und sie sind auch mehr als eine bloße Hommage an einen angesichts des vielfach propagierten digitalen Zeitalters scheinbar überkommenen Bildträger. Ein wesentliches und in der Geschichte der von der Anatomie zur Anwendung und schließlich zur Publikation gebrachten Bildmedien einzigartiges Defizit des digitalen Datensatzes des VHP besteht nämlich darin, daß er keine Legende aufweist, wohingegen, wie gezeigt wurde, die Publikationen in Buchform mit einer solchen versehen sind. So verwundert es nur mit Abstrichen, daß gerade Spitzer bezüglich des VHP feststellt: »The Visible Man is useful if you already know anatomy. It’s difficult to learn any anatomy from him.«188 Angesichts des extrem umfangreichen Archivs an auf dem Bildschirm interaktiv zu realisierenden Bildformaten bleibt der Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes also sprachlos, da ihm keine Legende zur Verfügung gestellt wird. Dies zeigt sich wohl beispielhaft an McCrackens 3D-Anatomie-Atlas. Während die Publikation in Buchform anhand einiger ausgewählter, also auch vorgesehener Bildformate eine Legende präsentiert, gilt für die beigefügte CDROM diesbezüglich weitgehende Sprachlosigkeit. Hier werden ver-
186. V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. 489. 187. Ebd., S. ix. 188. Zitiert nach: Lisa Cartwright: »A cultural anatomy of the Visible Human Project«, in: P. Treichler/dies./C. Penley, The Visible Woman, S. 21-43, hier S. 36. 207
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schiedene Anwendungsbeispiele, ›interaktive Demonstrationsbeispiele‹, ›hergestellt von Visible Productions auf Grundlage des Visible Human Projects‹ vorgeführt, und zwar dreh- und wendbare 3D-Modelle, sogenannte ›Seziermodelle› und schließlich einige Animationen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist eine Legende dort kaum möglich, da bei Drehung bzw. De- und Refiguration des Körpers der Betrachter einer chaotisch organisierten Bildfläche anheimgegeben wäre. Würden die Partien hingegen nur bei Mausklick mit einer Nomenklatur bezeichnet, so würde der Gesamtüberblick über die jeweiligen anatomischen Zusammenhänge fehlen. Ähnlich wie schon bei der Röntgentechnik in Hinblick auf die Frage nach dem Positiv/Negativ-Status des Röntgenbildes und ähnlich wie schon bei der Computertomographie hinsichtlich idealiter digitaler Befundung und analoger Publikation in anatomischen Atlanten wird auch an dieser Stelle sehr deutlich, daß ein jedes Medium in seiner spezifischen Anwendung Grenzen aufweist, welche dessen jeweiligen Vor- und Nachteile definieren. Im Gegensatz allerdings zu bildgebenden Verfahren wie der Röntgentechnik oder der Computertomographie ist das VHP ein genuin anatomisch motiviertes Projekt, eine »anatomy lesson for the twenty-first century.«189 Diese beschränkt sich zwar tatsächlich auf die makroskopische Anatomie, holt diese aber zum wiederholten Male nicht nur ins Zentrum der zeitgenössischen Apparatemedizin, sondern auch ins Zentrum des öffentlichen Interesses zurück. Denn hier reagiert die Anatomie nicht auf genuin diagnostisch motivierte bildgebende Verfahren wie die Röntgentechnik, die Computertomographie oder die Magnetresonanztomographie. Vielmehr fungiert sie durch die Konfiguration diverser Datenerhebungstechnologien selbst als Motor medizinischen Wissens durch das Bild und über das Bild. Im Rahmen der Erprobung der Telechirurgie etwa dient das VHP zur Simulation von Operationen und als Modell für all jene Forschungen, welche es ermöglichen sollen, einen am Operationstisch positionierten Patienten mittels ferngesteuerter chirurgischer Instrumente am Bildschirm zu operieren. Auf der einen Seite also dürfte sich das VHP zumindest mittelfristig als auch von klinischer Relevanz erweisen, womit etwa Spitzer/Whitlock spekulieren: »This dataset should change the way doctors are trained and surgery is practiced.«190 Auf der anderen, spezifisch anatomisch motivierten
189. V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xi. 190. Ebd. 208
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3. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS MEDIENTECHNISCHER PERSPEKTIVE
Seite aber gilt: »The Visible Human Project is an apparatus which recapitulates an entire history of anatomy within itself.«191 Diese Aussage betrifft allerdings nicht nur einschlägige kulturwissenschaftliche Fragestellungen, zum Beispiel in Hinblick auf die aus der frühen Neuzeit schon bekannten Sachverhalte, daß für das VHP ein hingerichteter Straftäter als Objekt des Datenerhebungsverfahrens ausgewählt worden ist, daß der Visible Human Male vor der Visible Human Female enstanden ist oder daß das VHP mittels einer quasi pornographischen Entblößung des Körpers die Definitionshoheit über diesen beansprucht und damit ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Körper-Politik aufschlägt.192 Das VHP markiert nämlich auch eine bedeutsame Zäsur in der Mediengeschichte der Anatomie, ist von dieser aber gleichwohl weder abgetrennt noch ohne diese überhaupt verständlich. Dies beginnt mit den frühneuzeitlichen Versuchen, mittels perspektivischer Raumkonstruktion dreidimensionale Phänomene auf einem zweidimensionalen Bildträger anschaulich zu gestalten. Weiterhin von Belang sind das stets virulente Spannungsverhältnis zwischen Datenerhebungsverfahren und druckgraphischen Reproduktionstechniken sowie die notwendige Kooperation zwischen Bildproduzenten und Anatomen in der frühen Neuzeit und zwischen Medizinern und Mathematikern, Informatikern und Ingenieuren im Kontext aller nicht-invasiver bildgebender Verfahren. Schließlich zu betonen ist die für das VHP signifikante Konvergenz optischer und nicht-optischer sowie invasiver und nicht-invasiver Datenerhebungstechnologien.
191. C. Waldby: The Visible Human Project, S. 51. 192. Vgl. zu diesen interessanten, hier aber nicht fokussierten Problemfeldern aufschlußreich: L. Cartwright: »A cultural anatomy of the Visible Human Project«; C. Waldby: The Visible Human Project; Ch. Lammer: Digital Anatomy. 209
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) vak 210.p 91249174972
4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
4. Der anatomische Atlas aus bildkultureller Perspektive: Bildwissen, Wissenskörper und Körperbilder 4.1 Bilder in Bewegung: zum Bildtransfer zwischen visuellen Kulturen »Transmettre, c’est organiser.«1 »Bild ist kein Ruheraum der Kultur«2, merkt Faßler an und eröffnet damit einen Problemhorizont, der sich als wesentlich auch für eine Medienarchäologie anatomischen Wissens entlang der Publikationsform des anatomischen Atlanten erweist. Zudem gilt diese Anmerkung Faßlers auch im gegenteiligen Sinn, nämlich dahingehend, daß Kulturen keinen Ruheraum für Bilder darstellen. Denn es hat sich bislang gezeigt, daß Bilder in der visuellen Kultur der Anatomie von Beginn an in Bewegung sind, da ein Datenerhebungsverfahren ein Bild generiert, welches daraufhin mittels diverser druckgraphischer Reproduktionstechniken in die Publikationsform des anatomischen Atlanten transmedialisiert wird. Dieses medientechnische Phänomen der Transmedialiserung, welches anhand der Zeichnung, der Photographie, der Röntgentechnik, der Computertomographie und des VHP verfolgt wurde, führt dazu, daß die visuelle Kultur der Anatomie seit dem 16. Jahrhundert diverse Datenerhebungsverfahren (manuell, technisch-apparativ, invasiv, nicht-invasiv, indexikalisch, digital) mittels diverser druckgraphischer Reproduktionstechniken (Hochdruck, Tiefdruck, Flachdruck, manuell, industriell) stets von neuem in ihren Bildhaushalt hat übernehmen können. Dies manifestiert sich insbesondere in der Katalogisierung von Bildmaterial im anatomischen Atlanten.
1. Régis Debray: Cours de médiologie générale, Paris 2001, S. 195. 2. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 55. 211
2005-08-05 15-26-25 --- Projekt: T370.kumedi.buschhaus.körper / Dokument: FAX ID 00b291249174716|(S. 211-295) T01_04 kapitel.p 91249175004
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Anatomie macht also etwas mit Bildern der Kunst oder der klinischen Diagnostik, indem sie diese in ihren Bildhaushalt transferiert, der Logik des anatomischen Atlanten anheimgibt und mithin für ihre eigene visuelle Kultur Bildwissen spezifiziert. Doch gibt es bezüglich anatomisch motivierter Bildgebung auch eine gegenläufige Tendenz, welche darin besteht, etwas mit den Bildern der Anatomie zu machen. Dabei geht es nicht darum, Bilder in den anatomischen Atlanten und damit in die visuelle Kultur der Anatomie hereinzuholen, sondern genau andersherum darum, Bilder aus dem anatomischen Atlanten und damit gegebenenfalls aus der visuellen Kultur der Anatomie herauszuholen, sie somit einer anderen visuellen Kultur und auch anderen Lesarten dienstbar zu machen. Dabei haben die Kunst und die Kunstgeschichtsschreibung stets eine ganz besondere Rolle gespielt. Dies zeigt sich darin, daß anatomisch motivierte Bildzeugnisse aus anatomischen Atlanten in Kunstausstellungen neben genuin künstlerisch motivierten Bildern präsentiert werden, wie dies etwa in der Ausstellung Specatcular Bodies, welche 2000/2001 in der Hayward Gallery in London stattfand, der Fall gewesen ist.3 Dies zeigt sich auch darin, daß bestimmte Ausstellungen im Namen der Kunstfähigkeit der Photographie zu Beginn der 80er Jahre eine Refunktionalisierung auch solcher photographischen Bilder vollzogen haben, welche im 19. Jahrhundert keinesfalls als künstlerisch motivierte Bildformate verbucht worden sind.4 Dies zeigt sich weiterhin darin, daß die Kunstgeschichtsschreibung das anatomische Bildzeugnis in der Regel aus seinem spezifischen Funktionshorizont, nämlich dem anatomischen Atlanten, herausgelöst hat, um es einer ikonographischen Tradition der Kunst und damit auch einem stilgeschichtlichen Kanon künstlerischer Formen einverleiben zu können.5 Dies zeigt sich schließlich
3. Vgl. dazu: M. Kemp/M. Wallace: Spectacular Bodies. 4. Vgl. dazu noch einmal die Feststellung Geimers, welche bereits im Abschnitt zur Photographie angeführt wurde: »[…] in der retrospektiven Sichtung des Bildmaterials wurde die künstlerische Absicht jetzt auch solchen Fotografien unterstellt, deren historische Funktionen ganz andere gewesen waren.« (P. Geimer: »Einleitung«, S. 11) Vgl. dazu auch folgende Ausführungen: »Überall gibt es gegenwärtig den Versuch, das photographische Archiv – die Ansammlung von Praktiken, Institutionen und Beziehungen, zu der die Photographie des 19. Jahrhunderts ursprünglich gehörte – auseinanderzunehmen, um es gemäß den Kategorien, die früher von der Kunst und von der Kunstgeschichte eingebracht worden sind, neu anzuordnen.« (R. Krauss: Das Fotografische, S. 58) 5. Vgl. dazu etwa: L. Premuda: Storia dell’iconografia anatomica. Zu diesen historiographischen Strategien bemerkt Elkins: »As a general rule, art history has 212
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
auch darin, daß etwa Röntgenbilder seit Beginn des 20. Jahrhunderts von diversen Avantgarden als Gegenstand künstlerischer Bildproduktion in Anspruch genommen worden sind.6 Die bildwissenschaftliche Brisanz solcher Transferprozesse von Bildern besteht dabei allerdings keineswegs in dem Umstand, daß anatomisch motiviertes Bildmaterial, sofern es aus dem Atlanten herausgeholt und einer anderen visuellen Kultur als der anatomischen dienstbar gemacht wird, einer möglicherweise wesentlichen Bedeutungsverschiebung unterliegt, handele es sich nun um avantgardistische, historiographische oder museale Transferprozesse. Das Brisanz besteht, gerade für die beiden letzteren Fälle, vielmehr darin, daß hier stets ein konservatorisches Moment geltend gemacht wird, welches aber tatsächlich nicht dasjenige, was präsentiert wird, passiv bewahrt, sondern welches genau andersherum dazu führt, dasjenige, was präsentiert wird, aktiv in Kunst zu transformieren. Diese Transferprozesse, welche Boehm hinsichtlich wissenschaftlicher Bilder als Akte einer »sekundären Ästhetisierung«7 umschreibt, gilt es bildlogistisch kenntlich zu machen. Und diese Transferprozesse, welche ein bedeutungskonstitutives Moment selbstverständlich nicht nur anatomisch motivierter Bildgebung sind, sollen im folgenden genauer betrachtet werden. Dabei sollen hier nicht künstlerische oder kunsthistorische Bildlogistiken und mithin das Bildwissen von Kunst oder Kunstgeschichtsschreibung
treated scientific and other informational images as ancillary sources for the interpretation of fine art, rather than as interesting images in their own right.« (J. Elkins: »Art history and images that are not art«, S. 555) Und: »When art history encounters nonart images, it tends to use them to illustrate the history of fine art.« (Ebd., S. 557) Diese Einschätzung erweist sich als besonders virulent gerade in Hinblick auf anatomisch motivierte Bildgebung. Andererseits ist es aber vielleicht noch nicht ausgemachte Sache, was überhaupt als ›nonart image‹ bezeichnet werden kann. Dabei gilt es zu betonen, daß auch anatomisch motivierte Bildgebung museal als Kunst ausgestellt oder historiographisch als Kunst verhandelt werden kann, die entsprechenden Bilder dann aber nicht mehr in der visuellen Kultur der Anatomie aufgesucht werden, sondern ihrerseits eine Transformation durch museale oder historiographische Akte erfahren. Ob in solchen Fällen, die durchaus die Regel darstellen, überhaupt noch von anatomisch motivierter Bildgebung gesprochen werden kann, ist allerdings zweifelhaft. So kann mit einiger Berechtigung die These aufgestellt werden, daß sich das Phänomen anatomisch motivierter Bildgebung gängigen Strategien der Kunstgeschichtsschreibung nachhaltig entzieht. 6. Vgl. dazu: B. Kevles: Naked to the Bone, S. 116-141. 7. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 227. 213
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im Vordergrund stehen. Stattdessen soll aufgezeigt werden, daß die Bildkultur der Anatomie selbst mannigfaltige Logistiken ausgeformt hat, welche Bildmaterial unweigerlich in die Publikationsform des anatomischen Atlanten münden lassen. Die Beschränkung auf diejenigen Transferprozesse, welche sich bei der Inkorporierung von Bildern in den anatomischen Atlanten manifestieren, liegt vor allem darin begründet, daß nur diese für die Produktion und Organisation von positivem anatomischem Wissen konstitutiv sind und Transferprozesse aus dem anatomischen Atlanten heraus nicht Gegenstand einer Medienarchäologie anatomischen Wissens sein können. Damit soll aber keinesfalls behauptet werden, daß diese Transmedialisierungen und Transferprozesse aus dem anatomischen Atlanten heraus das Bild dessen, was in der öffentlichen Wahrnehmung historisch und systematisch gemeinhin als die Anatomie verhandelt wird, unberührt lassen. Und damit soll auch nicht behauptet werden, daß anatomisch motivierte Bildgebung, sofern sie in der visuellen Kultur der Anatomie bleibt, nichts anderes als anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers transportiert. So haben gerade neuere Beiträge zu medizinisch motivierter Bildgebung im weiteren Sinne nachdrücklich auf den Umstand hingewiesen, daß diese Bilder weder in einer autonomen Sphäre der Medizin produziert, noch exklusiv in dieser Sphäre verhandelt werden.8 Vielmehr erweist sich medizinische Bildgebung als nicht ausschließlich auf die medizinische Kultur beschränkte und ist immer auch schon durch jene nicht genuin medizinisch indizierten Strategien der Sinnstiftung bedingt, auf welche sie ihrerseits zurückwirkt. Von daher bedeutet die Beschränkung auf etwaige bildkulturelle Transferprozesse in den anatomischen Atlanten hinein auch keinen
8. So führen Schuller/Reiche/Schmidt aus: »Wir gehen von der heuristischen Annahme aus, daß das medizinische Bild nicht nur spezifische Fachbedeutung hat, sondern auch Träger eines weit gefaßten kulturellen Sinns ist. Dieser Sinn dechiffriert sich, wenn ein Kontext medialer Verknüpfungen hergestellt und berücksichtigt wird.« (Marianne Schuller/Claudia Reiche/Gunnar Schmidt: »Für eine Kulturwissenschaft der Zwischenräume. Plädoyer zur Einführung«, in: dies. [Hg.], BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998, S. 717, S. 10) Und Cartwright merkt an: »Here I begin with the premise that medical techniques have, from their origins, been informed by popular and subcultural views of the body.« (L. Cartwright: Screening the Body, S. xiv) Elkins erklärt bezüglich medizinischer Bildgebung: »medical illustration inevitably evokes affective questions of gender, pleasure, and pain.« (J. Elkins: »Art history and images that are not art«, S. 556) 214
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
Rückfall in die mittlerweile wohl überkommene Debatte zwischen Internalisten und Externalisten in Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie.9 Indem Anatomie einerseits als visuelle Kultur mit einem anatomisch spezifizierten Bildwissen befragt und andererseits als visuelle Kultur unter visuellen Kulturen untersucht wird, treten solche Transferprozesse in den Vordergrund, welche sich an der Grenze der Publikationsform des anatomischen Atlanten ereignen.10 Denn während etwa Kunst seit dem 19. Jahrhundert privilegiert im Museum ausgestellt oder dort erst her- und damit festgestellt wird11,
9. Vgl. dazu etwa folgende Einschätzung: »Etwa um die gleiche Zeit, als die Wissenschaftshistoriker ihren Ansatz um kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Fragestellungen erweiterten, haben die Kulturwissenschaften begonnen, die Bedeutung von Wissen und Wissenschaft für die Gesamtheit kultureller Handlungszusammenhänge neu zu würdigen. Diese sich wechselseitig ergänzenden Entwicklungen haben den scharfen Gegensatz obsolet gemacht, der einst die ›Externalisten‹, die die Wissenschaft als Produkt von sozialen Kräften auffaßten, von den ›Internalisten‹ trennte, welche einer autonomen Entwicklung der einzelnen Disziplinen – von der Physik bis zur Geschichte, von der Ästhetik bis zur Medizin – das Wort redeten.«(H.E. Bödeker/P.H. Reill/J. Schlumbohm: Wissenschaft als ulturelle Praxis, S. 13) 10. Vgl. dazu: »Gerade die Respektierung der Disziplingrenzen führt dazu, einen Gegenstand medizinischer Wissensbildung in einer neuen Weise zu erschließen.« (M. Schuller/C. Reiche/G. Schmidt: »Für eine Kulturwissenschaft der Zwischenräume«, S. 10) Und weiter: »Nicht die vereinnahmende Integration der divergierenden Disziplinen mit ihrem Spezialwissen ist das Ziel, sondern die Exposition der Leistungsfähigkeit des Spezialwissens, sofern es sich fachfremden Gegenständen zuwendet und aussetzt.« (Ebd., S. 11) 11. Vgl. dazu: B. Groys: Logik der Sammlung. Dort führt er aus: »Der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst ist selbst künstlich. Dieser Unterschied kann nicht begründet, entdeckt oder befohlen, sondern nur hergestellt werden: Das Museum ist der Ort, an dem der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst hergestellt wird.« (Ebd., S. 10) Und weiter: »Sicherlich werden auch in unserer Zeit Kunstwerke produziert, die ihren Platz nicht im Museum finden und trotzdem als Kunstwerke empfunden werden. Sie werden allerdings nur deswegen so empfunden, weil sie zumindest imaginär in den musealen Kontext gestellt werden.« (Ebd.) Diesen Umstand fokussiert Belting in Bild und Kult auch historisch: »Der objektive Bildbegriff, der nicht an der Vorstellung von Kunst hing, war dem modernen Bewußtsein nicht mehr adäquat. Seine Abschaffung öffnete den Raum für eine ästhetische Neubestimmung des Bildes, für das die ›Regeln der Kunst‹ galten. Künstlerische und unkünstlerische Bilder traten nun nebeneinander und wandten sich an Leute mit verschiedener Bildung.« (H. Belting: Bild und Kult, S. 511) Vgl. insgesamt auch die Thesen Benjamins 215
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
mündet anatomisch motivierte Bildgebung privilegiert in die Publikationsform des anatomischen Atlanten und erfährt im Bildhaushalt der Anatomie vielfältige Transformationen medientechnischer und bildkultureller Art. Deshalb ist anatomisch motivierte Bildgebung auch nie im ursprünglichen Sinne bei sich selbst, sondern ihr Bildhaushalt – der Zu- und Abgänge von Bildern sowie Bedeutungszuschreibungen und Bedeutungsverschiebungen verzeichnet – ist seinerseits selbst fortlaufend in Bewegung. Dies legt nahe, daß die bildkulturellen Grenzen, welche Bilder überschreiten, nicht Teil eines natürlichen und selbstverständlichen Ordnungssystems sind, sondern daß auch sie mittels spezifischer Bildpraktiken konstituiert, stabilisiert oder destabilisiert, reproduziert oder transformiert werden und somit ihrerseits das Produkt bildmedialer Transferprozesse zwischen visuellen Kulturen darstellen. Demgemäß dürften sich die Grenzverhältnisse zwischen Anatomie und Kunst heute anders verhalten als in der frühen Neuzeit – allein schon deshalb, weil anatomisch motivierte Bildgebung nicht mehr notwendig auf einen professionellen Bildproduzenten angewiesen ist und Anatomiestudien in der zeitgenössischen Kunstpraxis bei weitem nicht mehr jenen Stellenwert haben, der ihnen etwa im 16. Jahrhundert beigemessen wurde. Gleichsam dürften sich die Grenzverhältnisse zwischen Anatomie und klinischer Diagnostik im Rahmen des VHP auf ganz andere Art und Weise manifestieren, als dies in Hinblick auf die Röntgentechnik oder die Computertomographie der Fall gewesen ist – nicht zuletzt deshalb, weil das VHP ein genuin anatomisches Projekt darstellt, welches sich zwar bildgebender Verfahren bedient, diese in ihrer jeweiligen bildmedialen Spezifizität aber nicht im Zentrum seines Interesses positioniert. Wenn Bilder die dynamischen Grenzen zwischen visuellen Kulturen überschreiten – und zwar sowohl in der medientechnischen Dimension der Transmedialisierung als auch in der bildkulturellen Dimension des Bildtransfers –, dann, so eine weitere leitende These der folgenden Untersuchungen, ereignet sich aber nicht nur eine signifikante Transformation der jeweiligen Bilder, sondern auch eine signifikante Transformation derjenigen visuellen Kulturen, deren Grenzen je überschritten werden. Dies bedeutet mithin, daß Bilder, welche in Bewegung sind, auch visuelle Kulturen in Bewegung halten. Jede visuelle Kultur verfügt über ein Bildwissen, welches nicht zuletzt das Resultat etablierter und innovativer, expliziter und impliziter, sanktionierter und häretischer Bildpraktiken ist
zum Verhältnis zwischen ›Kultwert‹ und ›Ausstellungswert‹. (W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 18-21) 216
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und insofern einschlägige Bildlektüren nahelegt. Diese werden ihrerseits bei Transferprozessen von Bildern aus einer visuellen Kultur in eine andere visuelle Kultur nachhaltig und bisweilen grundsätzlich herausgefordert. Gerade weil Bilder medientechnisch und bildkulturell in Bewegung und somit, wie Faßler erklärt, kein Ruheraum der Kultur sind, erweist sich die Bildfläche mitunter auch als Arena, in welcher visuelle Kulturen ihren Kampf um symbolische Macht austragen. Darüber geben historisch und systematisch mannigfaltig differenzierte Ikonoklasmen, welche quer durch alle Disziplinen und Kulturen gehen, nachdrücklich Auskunft. Diese »Schlacht um die Augäpfel«12 ist aber keineswegs auf geläufige Phänomene des Bildersturms zu beschränken, geht also nicht in jenen traditionellen ikonoklastischen Gesten der konkreten Zerstörung von Bildmaterial auf, wie sie etwa aus der Zeit der Reformation oder der französischen Revolution bekannt sind. Wie gerade neuere Arbeiten zur Erforschung des Ikonoklasmus aufgezeigt haben, machen solche offensichtlich gewaltsamen Eingriffe, welche auf die Zerstörung der materiellen Bildträger gerichtet sind, nur einen sehr kleinen Teil von denjenigen Bildpraktiken aus, welche als ikonoklastisch gekennzeichnet werden können.13 Zudem ist das Phänomen des produktiven Ikonoklasmus in Betracht zu ziehen, welches sich darin offenbart, daß sich Bildproduktion und Bilddestruktion oftmals in einem innigen Wechselverhältnis zueinander befinden, so etwa in den künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts.14 Hier zeigt sich, daß der ikonoklastische Akt immer auch ein produktives Moment enthält, welches zumindest darauf hinausläuft, sich ins rechte Bild zu rücken, indem man sich ein Bild von einem anderen macht, welches es zu beschädigen oder zu zerstören, zu subvertieren oder zu ruinieren gilt. Insofern ist der Ikonoklasmus ein Phänomen, welches Bedeutung allererst stiftet und Sinn auf eben jener Bildfläche verhandelt, welche er der Beschädigung anheimzugeben entschlossen ist.15
12. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 51. 13. Vgl. dazu zuletzt: Dario Gamboni: Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert, Köln 1998; Bruno Latour/Peter Weibel (Hg.): Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art, Cambridge/Mass. 2002. 14. Dazu bemerkt Gamboni: »Die Erforschung der Zerstörung von Kunst darf sich nicht auf die Rezeption beschränken, sie muß auch die Produktion von Kunstwerken berücksichtigen.« (D. Gamboni: Zerstörte Kunst, S. 11) 15. Vgl. dazu Gamboni: »Es darf nicht vergessen werden, daß die oft auf217
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Gemeinhin aber vollziehen sich ikonoklastische Gesten weniger an dem Medium, sondern sie zielen zuvorderst auf das Bild als »kulturelle Handlung«16 ab. Es ist das Bild, welches im Zentrum des ikonoklastischen Interesses steht, denn es ist das Bild, durch welches und an welchem in einer bestimmten visuellen Kultur Handlungen vollzogen werden, die von einer bestimmten anderen visuellen Kultur als falsche Handlungen identifiziert und mithin als mythisch, naiv, fanatisch oder fundamentalistisch diskreditiert werden.17 Um solche Bilder zu entwerten und ihnen ihre Macht in einer visuellen Kultur zu nehmen, reicht es oftmals aus, sie aus ihrer visuellen Kultur herauszulösen und in eine andere visuelle Kultur zu transferieren. Dies wird bisweilen auch dahingehend bewerkstelligt, daß im Namen einer Ikonophilie die Deutungshoheit über die Definition dessen, was ein Bild sei, beansprucht wird, wodurch diejenigen Bilder, welche sich dieser Definition nachhaltig entziehen, als Bilder durchgestrichen werden und diejenige visuelle Kultur, welche diese Bilder verhandelt, selbst als ikonoklastische ausgewiesen wird.18
wendig inszenierte Zerstörung von Kunstwerken keineswegs nur Ausdruck oder Symptom einer Rezeption ist, sondern vielmehr ein eigenständiges Kommunikationsmittel, auch wenn das dafür verwendete ›Material‹ seinerseits ein Medium des Ausdrucks und der Kommunikation ist beziehungsweise war.« (Ebd., S. 22) An genau dieser Stelle setzt Latour mit dem Konzept des Iconoclashs an, welches den Ikonoklasmus selbst als Bildstrategie ausweisen und die spezifisch bildmedialen Praktiken, welche er zur Produktion eines scheinbar reflexiven Bildwissens geltend macht, konturieren möchte: »Anstatt den Ikonoklasmus als Metasprache zu betrachten, die als Herrscher über allen Sprachen thront, soll die Verehrung des Bildersturms selbst befragt und beurteilt werden.« (Bruno Latour: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin 2002, S. 14) 16. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 65. 17. Vgl. dazu die Klassifizierung von ikonoklastischen Gesten, welche Latour vornimmt: »Typ A der Bilderstürmer ist gegen alle Bilder« (B. Latour: Iconoclash, S. 47); »Typ B ist gegen das Einfrieren von Bildern, nicht gegen Bilder« (Ebd., S. 49); »Typ C ist nicht gegen Bilder, sondern gegen die Bilder der Gegner« (Ebd., S. 52); »Typ D zertrümmert Bilder, ohne es zu wollen« (Ebd., S. 55); »Typ E ist einfach das Volk, das weder Ikonoklasten noch Ikonophile [achtet]« (Ebd., S. 58). 18. So etwa bei Boehm: »Gelungene Simulation macht vom Bild freilich einen strikt ikonoklastischen Gebrauch.« (Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders., Was ist ein Bild?, S. 11-38, hier S. 12) Weiter führt er aus: »Wenn das Modell der Simulation […] die Möglichkeiten des Bildes bis zur ikonoklastischen Aufhebung überanstrengt (oder unterläuft), so ist das Abbild dazu angetan, sie zu entkräften, sie auszuhöhlen.« (Ebd., S. 16) So kommt Boehm zu dem Schluß: »Das vielbeschworene neue Zeitalter des Bildes […] ist ikonoklastisch.« (Ebd., S. 35) Dabei 218
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Von daher muß ein ikonoklastischer Akt nicht notwendig ein auch explizit als solcher deklarierter sein. Denn Bilder werden durch Transferprozesse von einer visuellen Kultur in eine andere visuelle Kultur in der Regel derart transformiert, daß sie wesentlichen Bedeutungsverschiebungen unterliegen, ohne daß konkrete Eingriffe auf der Bildfläche vorgenommen würden und ohne daß eine solche signifikante Transformation der Bilder überhaupt in der Absicht der transferierenden visuellen Kultur liegen würde. Dafür stellt die Kunstgeschichtsschreibung, zumindest in Hinblick auf anatomisch motiviertes Bildmaterial, sicherlich ein eindringliches Beispiel dar. Diese verschiedenen Dimensionen dessen, was als Ikonoklasmus verhandelt werden kann – von der Zerstörung von Bildern über die Ruinierung von Bildern bis hin zum Bildtransfer; von dem produktiven Ikonoklasmus zum destruktiven Ikonoklasmus; von dem intendierten zum nicht-intendierten, vom offensichtlichen zum verborgenen Ikonoklasmus usf. –, verbuchen Latour/Weibel unter dem Begriff ›Ionoclash‹.19 Ein solcher Iconoclash muß nicht not-
stellt sich allerdings die Frage, ob Boehm nicht selbst eine ikonoklastische Geste geltend macht, indem er die für die visuelle Kultur der Kunst seit der frühen Neuzeit virulente und seit der Moderne dominierende Funktion der Metaikonizität als Grundbedingung von Bildlichkeit ausweist und mithin als Ausschlußkriterium für die Definition dessen, was ein Bild sei, kennzeichnet. Schließlich bleibt ein derart definierter Bildbegriff notwendig Fragen der Referenz verhaftet, denn er beschränkt sich auf die mimetische bzw. dezidiert anti-mimetische Dimension des Bildes. Diese läuft immer Gefahr, einer idealisierenden Rede von dem Bild an sich, von authentischer Ikonizität usf. Vorschub zu leisten. Genau diese Rede aber wird dem Phänomen Bild als »kultureller Handlung« (M. Faßler: Bildlichkeit, S. 65) kaum gerecht und erlaubt auch keine Fokussierung der dynamischen Momente von Bildkulturen. Genau dafür klagt etwa Reck eine »Topographie von Handlungen, nicht von Referenzen« (H.U. Reck: »Zwischen Bild und Medium«, S. 33) ein. Wenn ein Bild – oder das Bild – als solches nicht vorliegt, dann gibt es freilich auch keinen Grund, bestimmten Kulturen, welche Artefakte als Bilder bedeutsam gestalten und sinnhaft verhandeln, abzusprechen, daß sie es mit Bildern zu tun haben, obwohl diese nicht restlos in künstlerischen oder kunsthistorischen Vorstellungen dessen, was ein Bild zu sein habe, aufgehen. Entsprechend bringt Latour auf den Punkt: »The difficulty is to learn how to be iconophilic for one form of visual culture without being iconoclastic for the others.« (Bruno Latour: »How to Be Iconophilic in Art, Science, and Religion?«, in: C.A. Jones/P. Galison [Hg.], Picturing Science, Producing Art, S. 418-440, hier S. 417) 19. Vgl. dazu vor allem: B. Latour/P. Weibel: Iconoclash. Beyond the Image Wars. Latour führt aus: »Bei einem Ikonoklasmus, einem Bildersturm wissen wir, was im Akt des Zertrümmerns geschieht und was die Motivationen sind für ein klares und deutliches Zerstörungswerk; um Iconoclash hingegen handelt es sich, wenn wir es 219
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wendig ein Bilderstreit sein oder gar in einem Bildersturm enden, sondern er kennzeichnet die Spuren, welche sich in Bilder einschreiben, sobald sie durch Transferprozesse die Grenzen der beteiligten visuellen Kulturen überschreiten. Insofern bietet es sich an, den Iconoclash als ein wesentliches und konstitutives Element einer jeden sich durch Transmedialisierungen und Transferprozesse ausformenden Bildkultur aufzufassen und fruchtbar zu machen. Nachdem in dem vorherigen Kapitel primär medientechnische Aspekte der Datenerhebung sowie der Transmedialisierung untersucht worden sind, sollen im folgenden deren bildkulturellen Implikationen aufgezeigt werden. Dies läuft zunächst ganz konkret auf die Frage hinaus, was es für ein mittels welchem Datenerhebungsverfahren auch immer generiertes Bild bedeutet, in den anatomischen Bildhaushalt inkorporiert und in die Publikationsform des anatomischen Atlanten transmedialisiert zu werden. Weiterhin ist zu bedenken, inwiefern die dabei manifesten bildmedialen Transferprozesse den Horizont dessen, was hier als visuelle Kultur der Anatomie verhandelt wird, stets neu präfigurieren. In diesem Kontext liegt es nahe, zwei der dynamischsten Grenzverhältnisse in der Geschichte anatomisch motivierter Bildgebung zu konturieren, nämlich einerseits den Bildtransfer zwischen Kunst und Anatomie im 16. Jahrhundert und andererseits den Bildtransfer zwischen klinischer Diagnostik und Anatomie seit dem frühen 20. Jahrhundert. Schließlich ist eine solche Bildlogistik, welche im Namen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens medientechnische Transmedialisierungen und bildkulturelle Transferprozesse sichtbar macht, genau jenem Umstand geschuldet, auf welchen Gamboni nachdrücklich hinweist: »Daß jeder Eingriff, was auch sein Zweck sei, Veränderungen nach sich zieht, ist in der Tatsache begründet, daß es auf physischer, technischer und ästhetischer Ebene keine Bewahrung ohne Transformation gibt.«20
4.2 Bildtransfer I: Anatomie und Kunst im 16. Jahrhundert Im Jahre 1545 erscheint in Paris Estiennes De dissectione partium corporis humani – die französische Fassung, die Dissection, erscheint
nicht wissen, wenn wir zögern, von einer Aktion verstört sind, von der sich ohne weitergehende Untersuchung nicht genau sagen läßt, ob sie destruktiv oder konstruktiv ist.« (B. Latour: Iconoclash, S. 8) 20. D. Gamboni: Zerstörte Kunst, S. 26. 220
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im Jahr darauf, also 1546 –, eine der frühen anatomisch motivierten Publikationen, welche mit einigem Vorbehalt, aber auch mit einiger Berechtigung als anatomische Atlanten bezeichnet werden können. Wirft man indes einen Blick auf die Tafel zum weiblichen Abdominal- und Genitalbereich (Abb. 19), dann wird man feststellen können, daß der spezifisch anatomische Gebrauchswert dieses ganzseitigen, präzise gerahmten und perspektivisch entfalteten Bildzeugnisses auf ein quasi anatomisches Schaufenster beschränkt ist. Dieses wurde offenkundig erst später in den Holzschnitt eingefügt. Besagte Tafel ist allerdings nicht die einzige ihrer Art, denn die Dissectione bzw. Dissection enthält noch weitere solcher einigermaßen erstaunlichen Bildzeugnisse. Da die Dissection bereits in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts fertiggestellt, aber erst nach der Fabrica Vesals aus dem Jahre 1543 veröffentlicht worden ist, bestehen zwei Hypothesen bezüglich dessen, was durch dieses anatomische Schaufenster ersetzt wurde: (1) eine durch die Publikation der Fabrica obsolet gewordene anatomische Darstellung; (2) ein überhaupt nicht anatomisch motivierter Bildausschnitt, also etwa der Schoß der weiblichen Figur als Teil eines Aktes. Dabei spricht vieles für diese zweite These, unter anderem die Tatsache, daß stilgeschichtliche Untersuchungen den Holzschnitt in den Umkreis der manieristischen École de Fontainebleau, namentlich Rosso Fiorentino und Perino del Vaga, eingereiht haben.21 Nun sind solche stilgeschichtlichen Arbeiten einerseits weder ein unwiderruflicher Beweis für diejenige Zuschreibung, welche sie vornehmen, noch ist es andererseits überhaupt ausgemachte Sache, daß – angenommen Rosso Fiorentino oder Perino del Vaga hätten die zeichnerische Vorlage für diesen Holzschnitt angefertigt – sie nicht auch anatomische Studien auf der Bildfläche hätten geltend machen wollen. Dies ist angesichts des Umstandes, daß es sich nicht um eine Studienzeichnung, sondern um einen aufwändig gestalteten Holzschnitt handelt, zwar wenig wahrscheinlich, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Von daher bietet es sich an, die Frage nach dem Produktionsprozeß dieses Bildzeugnisses aus der Perspektive der Anatomie zu formulieren. Denn ohne jeden Zweifel ist der anatomisch motivierte Ausschnitt für eine detaillierte Demonstration körperlicher Sachverhalte nicht nur an sich, sondern auch und vielleicht gerade
21. Vgl. dazu etwa: C.E. Kellett: »Perino del Vaga et les illustrations pour l’anatomie d’Estienne«, in: Aesculape 37 (1955), S. 74-89; ders.: »A note on Rosso and the illustrations to Charles Estienne’s De dissectione«, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences. Volume 12 (1957), S. 325-336. 221
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in Hinblick auf die sonstigen Bildverhältnisse dieser Tafel zu klein. Die Legende beschränkt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal auf den Ausschnitt des Schaufensters und erscheint dort als einigermaßen unübersichtlich, wohingegen die gezielt für die Dissection angefertigten Holzschnitte durchweg eine andere, vorteilhaftere Strategie der Legendierung aufweisen (Abb. 10). Auch wenn die Schrifttafel in der oberen rechten Ecke des Bildzeugnisses sowohl in der lateinischen Fassung der Dissectione als auch in der französischen der Dissection deutlich Bezug auf die mittels der Legende demonstrierte Gebärmutter nimmt, muß dies nicht notwendig ein Hinweis darauf sein, daß es sich bei dieser Bildtafel um ein genuin anatomisch motiviertes Bildzeugnis handelt. Gerade ein Vergleich der lateinischen und der französischen Anmerkungen in den jeweiligen Fassungen zeigt, daß der Austausch von bloßen Textpartien seinerzeit druckgraphisch problemlos zu bewerkstelligen war und keinerlei Spuren des Eingriffs auf der Buchseite des anatomischen Atlanten hat hinterlassen müssen. Insofern ist es durchaus im Bereich des Möglichen, daß ein gemäß der zweiten These angenommener weiblicher Akt von einem wie auch immer motivierten Spruch auf dieser Schrifttafel begleitet war, welcher später ebenfalls ausgetauscht wurde. Diese These unterstreichen auch Roberts/Tomlinson: »It seems […] that these blocks were cut originally for another purpose […]; not being used, they were modified for anatomical use, by replacing central areas and by recutting the surrounds.«22 In beiden Fällen aber liegt, dies wird deutlich, ein Ikonoklasmus vor, und zwar im Sinne jenes produktiven Ikonoklasmus, welchen etwa Gamboni in den Fokus der Auseinandersetzung mit Ikonoklasmen gerückt hat. Denn es läßt sich zunächst einmal feststellen, daß ein vor der Reproduktion des Bildzeugnisses in der Publikationsform des anatomischen Atlanten angefertigter Holzschnitt materiell beschädigt worden ist, indem aus seiner Mitte ein rechtwinkliger Holzblock ausgeschnitten wurde. Die Beschädigung eines Bildkörpers hat mittels des Austauschs des ausgeschnittenen Holzblocks durch einen anderen Holzblock zu der Schaffung eines zweiten, aber eines anderen Bildes geführt. Dieses ist in der Folge druckgraphisch reproduziert worden und findet sich schließlich auf der Buchseite des anatomischen Atlanten wieder. Unter Voraussetzung der These, es sei ein nicht anatomisch motivierter durch einen anatomisch motivierten Bildausschnitt ersetzt worden, findet indes nicht nur ein produktiver Ikonoklasmus,
22. K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 172. 222
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sondern auch ein Iconoclash statt. Denn auf der Bildtafel zum weiblichen Abdominal- und Genitalbereich aus Estiennes Dissection verdichtet sich paradigmatisch die Frage, ob sie den Einbruch des Anatomischen in die Kunst veranschaulicht oder ob sie das künstlerisch motivierte Bild als Grundlage für die professionelle Anatomie ausweist. Beide Aspekte sind vor allem innerhalb der Kunstgeschichte kontrovers diskutiert und unterschiedlich bewertet worden. Während Wertschätzung bzw. Ablehnung des Anatomischen in der frühneuzeitlichen Kunst seitens der Kunstgeschichtsschreibung bereits einleitend thematisiert worden sind, steht nun das spezifische Verhältnis zwischen Anatomie und Kunst im Vordergrund. Oder genauer: das Verhältnis zwischen professionellen Anatomen und professionellen Bildproduzenten sowie anatomisch und künstlerisch motivierter Bildgebung. Möglicherweise nämlich sind es gerade die Bildern wie der Tafel aus Estiennes Dissectione von 1545 eingelagerten Bildpraktiken, welche es erlauben, die beiden visuellen Kulturen der Anatomie und der Kunst miteinander auseinander zu denken. Ein solches Vorgehen versteht sich in Abgrenzung zu Versuchen, einen bloß einseitigen Einfluß von der Kunst auf die Anatomie zu deklarieren und diese dadurch als von jener grundsätzlich abhängig und letztlich restlos wieder in jener aufgehend zu beschreiben. Als Beispiel dafür mag Panofsky herhalten: »it has been said, not without justification, that in the Renaissance the greatest advances in natural science were made by engineers, instrument-makers and artists rather than professors.«23 Ähnlich, wenngleich vorsichtiger, argumentiert Sonntag: »Ohne die Entwicklungen in der Malerei des 15. und frühen 16. Jhs. wären die Illustrationen und damit die Fabrica selbst so nicht denkbar gewesen.«24 Wie aber die bereits geleistete Untersuchung der von der frühneuzeitlichen Anatomie propagierten Verschränkung von Autopsia und Perspektive, also von vermeintlich unmittelbarer Wissensformation und vermeintlich unmittelbarer Bildkonstruktion nahelegt, geht anatomisch motivierte Bildgebung eben nicht restlos in einem spezifisch künstlerischen Bildwissen auf. Vielmehr eignet sie sich einen bestimmten – nämlich den albertinischen, sicherlich aus Kunstheorie und künstlerischer Praxis stammenden – Bildbegriff produktiv an. So betreibt anatomisch motivierte Bildgebung etwa die Nahaufnahme und Vereinzelung von Organen, verletzt die albertinische Einheit von Zeitpunkt, Blickwinkel und Bildraum, versieht die Bilder mit einer Legende
23. E. Panofsky: »Artist, scientist, genius«, S. 136. 24. M. Sonntag: »Die Zerlegung des Mikrokosmos«, S. 81. 223
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und einem Kommentar und katalogisiert sie in der Publikationsform des anatomischen Atlanten. Indem die sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufende Anatomie des 16. Jahrhunderts somit ein anatomisch spezifiziertes Bildwissen etabliert und damit gleichsam eine spezifische Bildkultur ausformt, transformiert sie aber nicht zuletzt genau jenen künstlerischen Bildbegriff Albertis, welchen sie aus der Sicht etwa Panofskys oder Sonntags scheinbar bloß entlehnt. In genau diesem Sinne antwortet Harcourt auf die oben angeführte Aussage Panofskys, derzufolge frühneuzeitliche Anatomie als von Künstlern betriebene Wissenschaft aufgefaßt werden könnte: »Rather, I would argue […] that Vesalius quite consciously deploys representation to his own specifically scientific ends.«25 Vor dem Hintergrund dieser Kontroversen dürfte jedenfalls deutlich werden, daß der auf der Bildtafel aus Estiennes Dissectione latente Iconoclash zwischen Kunst und Anatomie von grundsätzlicher Bedeutung für die medien- bzw. bildwissenschaftliche Auseinandersetzung mit anatomisch motivierter Bildgebung vor allem der frühen Neuzeit ist. Eben jener frühneuzeitliche Iconoclash steht gerade aus der Perspektive anatomisch motivierter Bildgebung jedoch im Schatten eines zumindest auf den ersten Blick offensichtlicheren, weshalb er auch kaum Gegenstand einschlägiger Untersuchungen geworden ist. So merkt etwa Schmidt bezüglich der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts manifestierenden Diskussionen über den Einsatz der Photographie in der Medizin und die damit verbundene Hoffnung auf die Ablösung des als subjektiv disqualifizierten professionellen Bildproduzenten an: »Die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft, die in der alten anatomischen Abbildung noch harmonisch funktionierte, steht in der Krise.«26 Diese Krise, die Schmidt für das späte 19. Jahrhundert mit einiger Berechtigung diagnostiziert, verdeutlicht eine markante, zunächst medientechnisch bedingte Herausforderung, welche aber, dies wurde ausgewiesen, keineswegs zum von Choulant schon 1852 prognostizierten Ende des anatomischen Bildzeugnisses führen sollte. Interessanter aber erscheint hier vor allem die Tatsache, daß angesichts eines sich im späten 19. Jahrhundert abzeichnenden, tatsächlich an der Photographie entzündenden Iconoclashs ein anderer Iconoclash zwischen Kunst und Anatomie in Vergessenheit zu geraten scheint. Denn selbst wenn anatomische Bildzeugnisse »the
25. G. Harcourt: »Andreas Vesalius«, S. 34. 26. G. Schmidt: Anamorphotische Körper, S. 25. 224
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longest unbroken collaboration between scientists and artists in Western culture as we know it today«27 markieren, so dürfte es noch keine ausgemachte Sache sein, als wie unproblematisch und bar jeder Krise diese Zusammenarbeit beschrieben werden kann. Genauer gesagt: Es läßt sich zwar die seit der frühen Neuzeit währende Zusammenarbeit von Kunst und Anatomie nachvollziehen und mit der Feststellung versehen, daß es weder vor dem Aufkommen der Photographie noch seit deren Anwendung in der Anatomie je zu einem Stillstand in der Produktion anatomischer Bildzeugnisse gekommen ist. Dessen ungeachtet aber stellt sich durchaus die Frage, von welcher Qualität diese vermeintlich harmonische Zusammenarbeit gewesen ist, zu welchen Zwecken sie betrieben worden ist und welche besonderen Problemkonstellationen sich daraus nicht nur für die jeweiligen künstlerisch oder anatomisch motivierten Projekte, sondern auch für die daran beteiligten visuellen Kulturen ergeben haben. Deshalb wird es im folgenden ganz wesentlich darum gehen, den Bildtransfer zwischen Kunst und Anatomie anhand von Bildfunktionen, Bildstrategien und Bildpraktiken als genuinen Iconoclash auszuweisen. So soll die These überprüft werden, daß sich die Entstehung des anatomischen Bildzeugnisses in der frühen Neuzeit sowohl als Ursache als auch als Wirkung eines Iconoclashs zwischen visuellen Kulturen, nämlich derjenigen der Kunst und derjenigen der Anatomie, ereignet. Bekanntlich wird der menschliche Körper schon in der Kunsttheorie des 15. Jahrhunderts einer Logik des Visuellen unterworfen, welche von der professionellen Anatomie, wie sie an Universitäten doziert und praktiziert wird, erst viele Jahrzehnte später aufgegriffen und überdacht werden sollte. Während die professionelle Anatomie zu dieser Zeit noch nicht einmal ihre philologisch-humanistische Wende vor Augen hat, wird visuell erhobenes anatomisches Wissen über den menschlichen Körper wenn nicht wesentlicher, so doch bedeutsamer Bestandteil eines künstlerischen Bildprogramms. Mit diesem setzt die »theoretical tradition of artistic anatomy«28 ein. In Albertis De pictura von 1435, in welchem die theoretischen Grundlagen des auf der perspektivischen Entfaltung des medialen Raums basierenden Bildbegriffs formuliert werden, spielt das anatomische Wissen über den menschlichen Körper wohl erstmals eine tragende Rolle:
27. Shirley L. Thomson: »Foreword«, in: M. Cazort/M.N. Kornell/K.B. Roberts, The Ingenious Machine, S. 7-8, hier S. 7. 28. B. Schultz: Art and anatomy, S. 27. 225
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»Man stelle sich – sollen Lebewesen gemalt werden – zuerst die unter der Oberfläche liegenden Knochen vor und weise ihnen ihre Lage zu […]. In der Folge kommt es darauf an, dass die Nerven und die Muskeln genau an den Orten sitzen, wo sie hingehören, und am Ende wird man dafür sorgen, dass Knochen und Muskeln mit Fleisch und Haut umkleidet sind.«29 Ähnliche Überlegungen finden sich in Lorenzo Ghibertis erstem Buch der I Commentarii aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Dort führt er bezüglich der Bildhauerei aus: »It is necessary to have a knowledge of the discipline of medicine and to have seen anatomy so that the scupltor, when forming a statue of man, knows how many bones are in the human body and knows the muscles and all the nerves and ligatures.« 30 Anatomie wird schon sehr früh zu einem regelrechten und regelgerecht zu befolgenden Projekt der frühneuzeitlichen Kunst.31 Neben Leonardo32 oder Michelangelo33 arbeiten vor allem im 16. Jahrhundert zahlreiche, zum Teil auch weniger bekannte Künstler an anatomischen Projekten, darunter zum Beispiel Rosso Fiorentino, Vincenzo Danti, Alessandro Allori oder Bartolomeo Passarotti. Zum Teil werden anatomische Reflexionen auch in kunsttheoretische Schriften und Traktate aufgenommen, etwa in Dantis Il primi libro del trattato delle perfette proporzioni34 aus dem Jahre 1567 oder Alloris Le regole del disegno35. Auf die Beweggründe der Künstler, sich in ihren kunsttheoretischen Schriften und Traktaten eingehend und anhaltend mit anatomischem Wissen zu beschäftigen, macht schon Alberti in De pictura aufmerksam, wenn er die künstlerische Darstellung des Körpers anspricht als etwas, anhand dessen »sich die
29. L.B. Alberti: Die Malkunst, S. 259. 30. Zitiert nach: M.N. Kornell: Artists and the study of anatomy, S. 29. 31. Vgl. dazu: B. Schultz: Art and anatomy; M.N. Kornell: Artists and the study of anatomy. 32. Vgl. dazu etwa: O. Baur: Leonardo da Vinci. Anatomie; S. Esche: Leonardo da Vinci. 33. Vgl. dazu: Heinrich Schmidt/Hans Schadewaldt: Michelangelo und die Medizin seiner Zeit, Stuttgart 1965. 34. Vgl. dazu: Vincenzo Danti: »Il primo libro del trattato delle perfette proporzioni«, in: P. Barocchi, Trattati d’arte (1960), S. 209-269. 35. Vgl. dazu: Alessandro Allori: »Il primo libro de’ ragionamenti delle regole del disegno d’Alessandro Allori con M. Agnolo Bronzino«, in: P. Barocchi, Scritti d’arte (1973), S. 1941-1981. 226
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Begabung des Künstlers insgesamt bewährt und worauf sein Ruhm hauptsächlich beruht.«36 Wirft man einen Blick auf Strategien und Praktiken künstlerisch motivierter Körperdarstellung in der frühen Neuzeit, dann hat die Anatomie dort neben der antiken Skulptur und Aktmodellen sowie den einschlägigen Proportionstheorien37 sicher eine ausgezeichnete Stellung inne, welche sich eben nicht oder nicht nur auf die kunsttheoretische Reflexion über das Anatomische beschränkt. So hat Kornell in ihrer materialreichen Studie über den Stellenwert des Anatomischen in der frühneuzeitlichen Kunst aufgezeigt, daß Künstler nicht nur als Zuschauer an Sektionen entweder im anatomischen Theater oder im privaten Bereich teilgenommen, sondern auch selbst zum Sezierbesteck gegriffen und Sektionen am menschlichen Leichnam vorgenommen haben.38 Abgesehen von der Berücksichtigung anatomischer Fragestellungen bei der Ausbildung junger Künstler in den Künstlerwerkstätten gerät die Anatomie auch zum Lehrfach in den in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien gegründeten Kunstakademien, etwa der 1563 eröffneten Accademia del Disegno in Florenz, der zu Beginn der 80er Jahre des 16. Jahrhunderts den Lehrbetrieb aufnehmenden Carraci-Akademie in Bologna oder der Academia di San Lucca in Rom.39 Auch anatomische Atlanten gelten neben in der Regel ausschließlich für den künstlerischen Gebrauch angefertigten Ecorchés – plastische Miniaturmodelle sogenannter ›Muskelmänner‹ – als Anschauungsunterricht für Künstler.40 Dies verwundert nur mit Abstrichen, denn in der Tat sind schon die frühesten anatomischen Atlanten explizit mit dem Hinweis aufgetreten, ihre Bildzeugnisse eigneten sich auch als
36. L.B. Alberti: Die Malkunst, S. 265. 37. Vgl. dazu etwa: Jürgen Fredel: »Ideale Maße und Proportionen: Der konstruierte Körper«, in: Ilsebill Fliedl/Christoph Geissmar (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg, Wien 1992, S. 11-42; Erwin Panofsky: »Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung«, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, S. 169-204; Frank Zöllner: Vitruvs Proportionsfigur. Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur im 15. und 16. Jahrhundert, Worms 1987. 38. Vgl. dazu: M.N. Kornell: Artists and the study of anatomy, S. 52-70. 39. Vgl. dazu: ebd., S. 75-87. 40. Dazu bemerkt Kornell: »Illustrated anatomy books provided one of the alternatives to the study of anatomy through dissection. There are several indications that artists consulted such books, particulary those of Vesalius and Valverde.« (Ebd., S. 88) 227
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anatomisches Studienmaterial für Künstler bzw. dienten generell zu deren Belehrung. Vesal zum Beispiel bemerkt einleitend zu den ersten Tafeln der berühmten Serie von Muskelmännern aus Buch II der Fabrica: »The first and second ones show nothing which we have not every day seen erudite painters and sculptors portray in muscular and, as I may say, thick-set figures […] However, the membranes apparent in the face and neck of the third table and also the muscular fibers depicted, are more inclined to trouble the painter, the sculptor and the molder, to whose pursuits I wish to be of benefit.«41 Genau diese Bemerkung Vesals offenbart einen Iconoclash gleich in mehrfacher Hinsicht: bezüglich eines etwaigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen anatomischem und künstlerischem Bildbegriff; bezüglich der Kritik an bestimmten Praktiken der Künstleranatomie; bezüglich des Stellenwertes des professionellen Bildproduzenten in anatomischen Atlanten; und nicht zuletzt bezüglich jener Aspekte der professionellen Anatomie, welche für die Künstleranatomie überhaupt von Interesse sein könnten. Dabei fällt auf, daß Vesal hier eine Grenze zwischen künstlerischer und professioneller Anatomie markiert, und zwar auf der Bildfläche selbst. Indem er zwischen den ersten beiden Tafeln der Serie von Muskelmännern aus Buch II der Fabrica und den folgenden unterscheidet, legt er nahe, die professionelle Anatomie, welche auf der Bildfläche offensichtlich von der künstlerischen Praxis bislang nicht aufgeworfene Sichtbarkeitsgrenzen verschiebt, beginne allererst mit der dritten Tafel. Dadurch, daß ab der dritten Tafel auf der Bildfläche also etwas erscheint, was dazu angelegt ist, den Horizont des künstlerisch motivierten Bildgebrauchs zu überschreiten und somit Künstlern neue Einsichten in körperliche Sachverhalte zu gewähren, findet eine eigentümliche Inversion zwischen Anatomie und Kunst statt. Hier ist es nicht mehr das künstlerische Bild im Sinne Albertis, welches sich die Anatomie aneignet, sondern es ist umgekehrt das anatomische Bildzeugnis, an welchem die Künstler sich ein Beispiel nehmen können oder gar sollen. Zudem erlaubt sich Vesal eine ausdrückliche Kritik an der auf etwaigen Anatomiestudien beruhenden künstlerischen Körperdarstellung, und zwar dahingehend, daß er diese als ungelenk oder wenig maßvoll bezeichnet. Was bei Vesal wie eine Kritik an künstlerischen Körperdarstellungen und auch pauschalisierend wie eine Kritik an der visuellen Kultur der Kunst klingt, ist auf der anderen
41. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body II, S. 5. 228
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Seite und unter anderen Vorzeichen aber auch als Kritik in der visuellen Kultur der Kunst zu vernehmen. Denn es entwickelt sich im 16. Jahrhundert eine vehemente Kritik von Künstlern an exzessiv anatomisch fundierten künstlerischen Körperdarstellungen. So hat Leonardo schon früh gewarnt: »Gib acht, anatomischer Maler, daß deine allzu große Kenntnis der Knochen, Sehnen und Muskeln nicht einen hölzernen Maler aus dir macht, der möchte, daß seine Akte ihr ganzes ›Innenleben‹ zeigen.«42 Und Ascanio Condivi schreibt in seiner 1553 in Rom erschienenen Vita di Michelagnolo Buonarroti: »parlo della cognitione che al’arte della pittura et scoltura è necessaria, non del’altre minutie che osservano i notomisti.«43 Neben der Tatsache, daß aus künstlerischer Perspektive Anatomiestudien nichts anderes als ein Mittel zum Zweck – nämlich zum Zweck angemessener Körperdarstellung auf der Bildfläche – sind, wird gerade hier noch etwas anderes deutlich, was Kornell eindrucksvoll auf den Punkt gebracht hat: »The acceptable limits of anatomical research […] were initially defined not in terms of how much but rather how little was felt to be necessary for the artist.«44 Wenn man Kornells Feststellung umkehrt – die ertragbaren Grenzen künstlerischer Betätigung in anatomischen Atlanten werden nicht durch die Antwort auf die Frage, wie groß diese zu sein habe, sondern durch die Antwort auf die Frage, wie gering diese zu halten sei, bezeichnet –, dann gelangt man zu einem weiteren Krisenmoment zwischen Kunst und Anatomie in der frühen Neuzeit. Denn es besteht ein nachweisliches Mißverhältnis zwischen dem Stellenwert des Künstlers in seiner Funktion als professionellem Bildproduzenten für die Anatomie und der Wertschätzung des Künstlers durch die Anatomie. Darüber gibt etwa Vesals lakonische Rede von dem »bad temper of sculptors and painters who made me more miserable than did the bodies I was dissecting«45 sicherlich nachdrücklich, nicht aber hinreichend Auskunft. Vergegenwärtigt man sich noch einmal Vesals Vorstellung, derzufolge die Serie von Muskelmännern aus Buch II der Fabrica insbesondere ab der dritten Tafel künstlerisch motivierter Körperdarstellung als Lehrmaterial dienlich sei, eben weil sie in den Bereich der professionell praktizierten Anatomie falle und somit künstlerisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers übersteige, dann fällt auf, daß Vesal an dieser Stelle in seiner Funktion als auf dem Titelbild des Atlanten
42. 43. 44. 45.
Leonardo: Schriften zur Malerei, S. 287. Zitiert nach: M.N. Kornell: Artists and the study of anatomy, S. 49. Ebd. Zitiert nach: Ch.D. O’Malley: Adreas Vesalius of Brussels, S. 124. 229
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gekennzeichneter Autor der Fabrica spricht. Dabei beansprucht er sowohl die Autorschaft über die am Seziertisch produzierten Präparate als auch die Autorschaft über den im Atlanten vorliegenden Text. Hier sei an das Autorenporträt erinnert, auf welchem Vesal mittels Sezierbesteck und Schreibfeder seine Autorität inszeniert. Wenn Vesal nun aber über die künstlerisches Körperwissen übersteigenden Tafeln der Muskelmänner aus Buch II der Fabrica spricht, so spricht er nicht bloß in seiner Funktion als Autor der Präparate und des Textes über Bilder, sondern er spricht auch als Autor der Bildzeugnisse. Damit verhehlt er die Tatsache, daß er zwar in seiner Rede über die von ihm präsentierten Bilder als Autor des Atlanten fungiert, keinesfalls aber als Autor der Bildzeugnisse selbst in Betracht kommt. Indem Vesal also hier über die Grenzen künstlerischen Körperwissens und über die Reichweite anatomischer Bildzeugnisse im anatomischen Atlanten spricht, schweigt er über den Autor dieser in der Fabrica zwar von ihm selbst katalogisierten, aber nicht von ihm selbst produzierten Bildzeugnisse. Es steht einerseits außer Frage, daß so gut wie gar keine Künstler Projekte zur professionellen Anatomie in Angriff, geschweige denn zur Publikation gebracht haben.46 Andererseits besteht kein Zweifel darüber, daß so gut wie gar keine professionellen Anatomen die Bildzeugnisse der in ihrem Namen publizierten anatomischen Atlanten selbst angefertigt haben. Die Produktion von Bildzeugnissen für den anatomischen Atlanten haben stattdessen in der Regel Künstler übernommen, also professionelle Bildproduzenten.47 Von daher liegt es auch jenseits der bis heute in der Forschung nicht abschließend geklärten Frage nach dem oder den professionellen Bildproduzenten der Fabrica nahe, daß Vesal in seiner Funktion als Autor des anatomischen Atlanten an dieser Stelle zumindest künstlerische Ko-Autorschaft aberkennt, indem er sie nicht als solche kenntlich macht. Die Kritik an künstlerischer Körperdarstellung gelingt ihm gerade dadurch, daß er die Autorschaft eines Künstlers in seiner Funktion als professionellem Bildproduzenten der Fabrica nicht zur Sprache kommen läßt. Nur indem alle Spuren der Autorschaft eines Künstlers an den be-
46. Vgl. dazu: »few artists have initiated work on scientific human anatomy; a large number have produced works of artistic anatomy.« (K.B. Roberts/ J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 621) 47. Vgl. dazu: »the makers of the images were, for the most part, trained as artists and continued to call themselves ›painters‹ or ›sculptors‹, sustaining the practice of their art outside the realm of medical imagery.« (M. Kemp/M. Wallace: Spectacular Bodies, S. 11) 230
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sagten Bildzeugnissen getilgt werden, wird eine Kritik an der Kunst möglich, welche die Bedingungen ihrer eigene Rede vergessen läßt. So wird von einem professionellen Anatomen in einem anatomischen Atlanten ein von einem Künstler produziertes Bildzeugnis als wissenschaftliches Bild autorisiert, was es Vesal erlaubt, künstlerisch motivierte Bildpraktiken zu diskreditieren. Daran zeigt sich nachdrücklich die nicht nur medientechnisch relevante Bedeutung der Publikationsform des anatomischen Atlanten für die visuelle Kultur der Anatomie. Ein etwaiges Bildzeugnis erscheint hier nämlich immer als ein Fenster auf dem Papier des Atlanten, dessen paratextueller Apparat (etwa Autor, Erscheinungsjahr, Erscheinungsort, Vorwort usf.) dazu führt, daß der eigentliche Bilproduzent – in der Regel also ein Künstler, der aber nicht als Künstler figuriert – nur in seltenen Fällen überhaupt genannt, geschweige denn als Autor der Bilder ausgewiesen werden muß. Dabei stellt die Fabrica zumindest in der Phase der Etablierung des Atlanten in der Anatomie keine Ausnahme dar. Ähnliche Krisenmomente zwischen professionellem Bildproduzenten und professionellem Anatomen lassen sich auch in Cananos um 1541 publizierter Musculorum humani corporis picturata dissectio oder in Estiennes Dissection von 1546 ausmachen. So gilt insbesondere für das 16. Jahrhundert: »The anatomist has almost always been granted full recognition in any anatomy publication; the anatomical illustrator sometimes.«48 Schließlich ist auffällig, daß Vesal seine Kritik an der künstlerisch motivierten Körperdarstellung gerade in Buch II der Fabrica, also bei den Muskelstudien anbringt, nicht aber bei der Nahaufnahme und Vereinzelung etwa von Organen. Damit plaziert er seine Kritik aufschlußreich, denn für die künstlerische Bildpraxis interessant sind vornehmlich Skelett- und Muskelstudien, nicht aber die detaillierte, ausführlich kommentierte und nicht zuletzt kostspielige komplette Katalogisierung des Körpers in den anatomischen Atlanten. So legen sowohl die einschlägigen Schriften und Traktate, welche sich mit der Funktion anatomischer Studien für die künstlerische Praxis befassen, als auch die konkrete Kunstproduktion des 16. Jahrhunderts selbst nahe, daß Künstler einen anatomischen Atlanten durchaus selektiv gelesen haben. Während Skelett- und Muskelanatomie als ein wesentlicher Bestandteil eines Großteils der im 16. Jahrhundert angefertigten Gemälde angesehen werden können – anatomische Studien seitens der Künstler sich also in deren Kunst-
48. K.B. Roberts/J.D.W. Tomlinson: The fabric of the body, S. 622. 231
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produktion niedergeschlagen haben –, wird man nach der detaillierten Darstellung etwa von Organen in einem Gemälde wohl vergeblich suchen. Für Künstler sind vor allem Skelett- und Muskelanatomie von Bedeutung, während Kopf, Brust- und Bauchhöhle sowie die Darstellung einzelner Organe so gut wie gar keine Funktion für sie haben. So nimmt die medial manifeste Ausformung in professionelle und Künstleranatomie ihren Anfang im Jahre 1608, als Odoardo Fialetti mit seinem Il vero modo ed ordine per dissegnar tutte le parti et membra del corpo humano die erste rein für den künstlerischen Bildgebrauch konzipierte Künstleranatomie veröffentlicht. Dazu merkt Putscher treffend an: »Um 1600 haben sich Künstleranatomie und wissenschaftliche Anatomie getrennt.«49 Die aus künstlerischer Motivation entstandene anatomische Zeichnung – auch jenseits der Frage, ob sie als Hilfsmittel für ein geplantes Gemälde oder als Anschauungsunterricht beispielsweise für Schüler in Künstlerwerkstätten oder Akademien fungieren soll – ist stets ein anatomisches Mittel zum künstlerischen Zweck. So überrascht es nicht wirklich, daß die anatomisch motivierte Bildproduktion der Kunst, obwohl sie bereits in Albertis Traktat De pictura von 1435 angelegt und somit tatsächlich jener aus wissenschaftlichen Beweggründen betriebenen um fast ein Jahrhundert vorgängig ist, erst sehr viel später in Druck gegangen ist. Ebenfalls nicht wirklich überraschend ist ferner die Tatsache, daß die künstlerische Anwendung druckgraphischer Reproduktionstechniken einerseits zwar sehr viel früher schon eine sehr viel höhere Qualität erreicht hat, sie andererseits aber sehr viel länger keine anatomischen Zeichnungen als Holzschnitt oder Kupferstich in Druck gegeben hat. Hingegen ist der Abdruck von Zeichnungen in der Publikationsform des anatomischen Atlanten ein der wissenschaftlichen Anatomie zentrales Anliegen von dem Augenblick an, in welchem diese sich selbst als programmatisch auf die Autopsia und damit substantiell auf bildmediale Strategien verpflichtete begreift. Hier nämlich ist das durch Holzschnitt oder Kupferstich druckgraphisch zu reproduzierende manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung nicht nur von Beginn an publikationswürdig, sondern es ist vielmehr grundlegend und zielgerichtet auf eine nicht zuletzt kosten- und arbeitsintensive Publikation hin angelegt. Dementsprechend wird deutlich, daß für die Anatomen das Bild im Dienste der Anatomie und damit im Dienste anatomischer Wissensproduktion und -organisation steht, während sich für die Künstler die Anatomie
49. M. Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung II, S. 18. 232
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im Dienste des Bildes befindet, also der künstlerischen Wissensproduktion und -organisation dienstbar gemacht wird. »The human body was the critical link between the observational sciences and figurative painting«50, stellt Cazort fest. Gleiches ließe sich freilich auch vom Bild behaupten. Erst indem Kunst und Anatomie sich in der frühen Neuzeit ein Bild über den Körper machen, gelangen sie zu einem Selbstverständnis, welches sich programmatisch auf der Bildfläche manifestiert. Dabei findet sowohl eine Professionalisierung der Kunst – von der Ausformung einer dezidierten Kunstheorie bei Alberti über die Ausbildung von Künstlern in Werkstätten und Akademien bis hin zu einem Kunstmarkt – als auch eine Professionalisierung der visuellen Kultur der Anatomie statt. Insofern ereignen sich in der frühen Neuzeit dynamische Bildtransfers zwischen Anatomie und Kunst, wobei Künstler anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers und Anatomen künstlerisches Wissen, welches offensichtliches Bildwissen ist, in Anspruch nehmen. Dadurch kommt es zur Ausformung von beweglichen Grenzverhältnissen, welche sich unter stetigen Brechungen und Rückkoppelungen zwischen einem künstlerisch motivierten Bildbegriff zum Bildzeugnis im anatomischen Atlanten und vom anatomisch motivierten Bildzeugnis im Atlanten zur künstlerischen Produktion etwa von Gemälden bewegen. Was in diesen Bildtransfers in Form eines umfassenden Iconoclash wechselseitig ausgehandelt und schrittweise verfestigt wird, ist die Trennung zwischen zwei visuellen Kulturen, nämlich derjenigen der Kunst, welche sich bald auf die ihren Zwecken dienliche Künstleranatomie, also auf künstlerisch spezifiziertes Körperwissen beruft, von derjenigen der Anatomie, welche bald ein ihr eigenes, anatomisch spezifiziertes Bildwissen in der Publikationsform des anatomischen Atlanten etabliert. Insofern erscheint diese sich in Fialettis Il vero modo von 1608 nachhaltig manifestierende Trennung von künstlerischem und anatomischem Bildbegriff in der frühen Neuzeit als das Resultat eines Kulturkontaktes zwischen Künstlern und Anatomen, welche Bildfunktionen, Bildstrategien und Bildpraktiken nicht nur miteinander austauschen, sondern durch diesen Austausch ihre eigene visuelle Kultur ausdifferenzieren, spezifizieren und dabei nicht zuletzt auch grundsätzlich professionalisieren. Deshalb bleibt hier zunächst festzuhalten, daß der Bildtransfer zwischen Kunst und Anatomie in der frühen Neuzeit das aus einem spezifisch anatomi-
50. M. Cazort: »The Theatre of the Body«, S. 41. 233
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schen Bildverständnis sich herleitende Bildzeugnis entstehen läßt, gerade weil er nicht harmonisch und unproblematisch vonstatten geht.
4.3 Bildtransfer II: Anatomie und klinische Diagnostik im 20. Jahrhundert »Die Deutung eines Bilds stellt sowohl im klinischen Alltag wie insbesondere im Forschungsprozeß das Hauptproblem bei der Verwendung von Visualisierungen in der Medizin dar.«51 Bildgebende Verfahren erscheinen gleichzeitig als »Instrumente der Erkenntnis«52 für die und als genuine Erkenntnisprobleme in der Medizin. Darüber geben zahlreiche Stellungnahmen von Medizinern einigermaßen unmißverständlich Auskunft.53 Dabei kann die Anatomie mit einiger Berechtigung als die Matrix medizinisch motivierter Bildgebung verhandelt werden. Dies ist zunächst darauf zurückzuführen, daß Anatomie als erste der heutigen naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen der Medizin auf der Bildfläche erscheint und seit dem 16. Jahrhundert im Namen der autoptischen Wissensformation programmatisch und konsequent Bildmedien zur Anwendung gebracht hat. Anatomie hat bis zum Aufkommen der nicht-invasiven, diagnostisch motivierten bildgebenden Verfahren, von denen die Röntgentechnik die erste darstellt, verschiedene Datenerhebungsverfahren manueller und technisch-apparativer Art erprobt, darunter vor allem die Zeichnung und die Photographie. Sie hat gleichfalls mannigfaltige druckgraphische Reproduktionstechniken zur Transmedialisierung ihres Bildmaterials in die Publikationsform des Atlanten eingeübt, darunter etwa den Holzschnitt, den Kupferstich, die Lithographie, den Lichtdruck sowie die Autotypie.
51. R. Burri: »Doing Images«, S. 288. 52. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 215. 53. Vgl. dazu etwa die Aussage Sochureks: »Our ability to make pictures is greater than our ability to understand them.« (Howard Sochurek: Medicine’s New Vision, Easton/Pa. 1988, S. 151) Und Doby/Alker kolportieren folgende Bemerkung eines Radiologen: »›Stop it, please stop it. We cannot follow the rapid changes any more in such a short time‹.« (T. Doby/G. Alker: Origins and Development, S. iv) Vgl. auch noch einmal den Titel des Tagungsberichtes aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Mai 2003, welcher verdeutlicht, daß es das Bild selbst ist, welches zu einem Problem der Medizin geworden ist: ›Eine Bilderflut aus dem Körper – und der Arzt steht im Regen‹. 234
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Zudem hat die Anatomie in ihrer privilegierten Publikationsform ein differenziertes Bildwissen ausgeformt, welches dazu geführt hat, daß der Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation der Logik des anatomischen Atlanten und damit nicht zuletzt auch der Logik der Bildfläche verschrieben ist. Demgemäß führt Hall in seinem Beitrag ›Vesalius Revisited‹, in welchem er primär diagnostisch motivierte bildgebende Verfahren wie die Röntgentechnik, die Computertomographie und die Magnetresonanztomographie vor dem Hintergrund von Vesals Fabrica aus dem Jahre 1543 behandelt, aus: »To find a period comparable in change to today’s dramatic advances in medical cartography and diagnostic imaging, one would have to return to the days when Vesalius extended the Renaissance to human anatomy.«54 Zwar wird hier die Verknüpfung von anatomisch und diagnostisch motivierter Bildgebung als sich auf der Bildfläche ereignende gekennzeichnet. Doch ist die bloße Feststellung, die Anatomie des 16. Jahrhunderts und die klinische Diagnostik des ausgehenden 20. Jahrhunderts seien beide einem bildmedialen Funktionshorizont verpflichtet, keine ausreichende Erklärung dafür, daß diagnostisch motivierte bildgebende Verfahren überhaupt in der ärztlich-klinischen Praxis verortet worden sind. Dabei läßt sich die Notwendigkeit bildgebender Verfahren in der klinischen Diagnostik zurückführen auf denjenigen Paradigmenwechsel in der Medizin, welchen etwa Foucault in der Geburt der Klinik thematisiert.55 Die klinische Diagnostik, wie sie sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf der Grundlage der pathologischen Anatomie ausformt, fragt nicht nach Symptomen, sondern sie lokalisiert Läsionen gemäß dessen, was Virchow in seinem 1894 in der Berliner Klinischen Wochenschrift abgedruckten Vortrag ›Morgagni und der anatomische Gedanke‹ verhandelt. Dabei betont Virchow den Umstand, daß der anatomische Gedanke nicht restlos in einem etwaigen Begriff dessen, was Anatomie sei, aufgeht: »Der anatomische Gedanke reicht […] weit hinaus über das pathologisch-anatomische Gebiet.«56 Vielmehr erschließt der anatomische Gedanke, indem er von der Anatomie auf die Pathologie über-
54. Stephen S. Hall: »Vesalius Revisited«, in: ders., Mapping the next millenium. The discovery of new geographies, New York 1992, S. 141-154, hier S. 144. 55. Bei Foucault heißt es: »Daher ist der große Einschnitt in der Geschichte der abendländischen Medizin genau der Augenblick, in dem die klinische Erfahrung zum anatomisch-klinischen Blick wird.« (M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 160) 56. Rudolf Virchow: »I. Morgagni und der anatomische Gedanke«, in: Berliner Klinische Wochenschrift, No. 14a (1894), S. 345-350, hier S. 350. 235
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springt, auch und vielleicht vor allem der ärztlich-klinischen Praxis einen diagnostisch-therapeutischen Funktionshorizont, welchen Virchow folgendermaßen absteckt: »Ich behaupte, daß kein Arzt ordnungsgemäss über einen krankhaften Vorgang zu denken vermag, wenn er nicht im Stande ist, ihm einen Ort im Körper anzuweisen.«57 Damit unterscheidet sich die im Namen des anatomischen Gedankens praktizierte Diagnostik als »topographisches Kranheitsregister«58 ganz entscheidend von der Säftelehre, wie sie in der Humoralpathologie vertreten wurde. Dies bringt nicht zuletzt wesentliche Bedeutungsverschiebungen in der ärztlich-klinischen Praxis mit sich: »The anatomical viewpoint on illness […] drew medical observers into a focus on parts, not wholes; on the site of the illness, not the system it affected.«59 Da die der autoptischen Wissensformation verpflichtete Anatomie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts notwendig auf der Leichensektion beruht, was im übrigen auch für die pathologische Anatomie gilt, das Ziel der ärztlich-klinischen Diagnostik aber unmittelbar mit deren therapeutischer Relevanz verknüpft ist, kommt es seit dem frühen 19. Jahrhundert zu einer Professionalisierung diagnostischer Verfahren nicht zuletzt durch die Entwicklung diagnostischer Instrumente.60 Diese horchen, wie das Stethoskop, in das Innere des Körpers, oder sie blicken, wie das 1850 erfundene Ophtalmoskop, in das Innere des Auges. Wenig später, nämlich im Jahre 1857, kommt das Laryngoskop auf den Markt, welches einen diagnostisch motivierten Blick in das Innere des lebendigen menschlichen Körpers ermöglicht. Dem Laryngoskop folgen bald diverse weitere endoskopische Instrumente, welche für diagnostische Eingriffe wie die Gastroskopie oder die Rektoskopie verwendet werden. Zu dem Umstand, daß im 19. Jahrhundert zahlreiche diagnostische Instrumente entwickelt und erprobt wurden, führt Reiser aus: »The key antecedent circumstances that produced this innovation were the rise of anatomical perspective on illness.«61
57. Ebd., S. 349. 58. Cornelius Borck: »Anatomien medizinischer Erkenntnis. Der Aktionsradius der Medizin zwischen Vermittlungskrise und Biopolitik«, in: ders., Anatomien, S. 9-52, hier S. 38. 59. Stanley Joel Reiser: »The science of diagnosis: diagnostic technology«, in: W.F. Bynum/R. Porter, Companion Encyclopedia, Volume 2, S. 826-851, hier S. 827. 60. Vgl. hierzu insbesondere: Jens Lachmund: Der abgehorchte Körper. Zur historischen Soziologie der medizinischen Untersuchung, Opladen 1997. 61. St.J. Reiser: »The science of diagnosis«, S. 826. 236
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Gleichwohl stellen auch jene diagnostischen Instrumente, welche optischer Natur sind, keine technisch-apparativen bildgebenden Verfahren dar, liefern also kein Informationsbild. Vielmehr fungieren sie im Sinne der Autopsie und erlauben in extremis die Produktion eines Erfahrungsbildes durch das manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung. Zwar betont Stein in Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung, seiner 1886 in zweiter Auflage erschienenen Arbeit zur Photographie in den Wissenschaften: »Die Grundlagen der meisten ärztlichen Untersuchungsmethoden stehen mit den Ergebnissen der Anatomie und Physiologie in innigem Zusammenhang; sie sind aus diesen Wissenschaften hervorgegangen; sie stützen sich in allen ihren Konsequenzen auf deren Resultate.«62 Doch kommt auch er zu dem Schluß, daß die Photographie als Datenerhebungstechnologie, welche ein Informationsbild liefert, nicht diejenigen diagnostischen Funktionen erfüllen kann, welche diverse endoskopische Instrumente realisieren – seinerzeit freilich noch jenseits der medientechnischen Möglichkeiten, welche es heute erlauben, endoskopische Instrumente mit einer Kamera auszustatten oder mittels digitaler bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomographie eine virtuelle, nicht-invasive Endoskopie vorzunehmen. Deshalb führt Stein aus: »Die innere Medizin bietet […] wenig Gelegenheit, durch photographische Darstellung einen Krankheitsverlauf zu kontroliren.«63 Dies sollte sich erst mit der nicht-invasiven Röntgentechnik ändern, welche ein Informationsbild ermöglicht, auf Grundlage dessen die klinische Diagnostik über etwaige therapeutische Eingriffe entscheiden kann. Mittlerweile stellen bildgebende Verfahren »our premier diagnostic instruments«64 dar, doch muß jedes für die klinische Diagnostik entwickelte bzw. in dieser einzusetzende nicht-invasive bildgebende Verfahren allererst in den anatomischen Bildhaushalt integriert werden, um vor der Folie des in diesem zu statuierenden Normalen das in jener zu diagnostizierende Pathologische sichtbar machen zu können.65 Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Hasselwander in seinem Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild aus dem Jahre 1926, wenn er bezüglich der
62. S.Th. Stein: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung; S. 381. 63. Ebd., S. 383. 64. Reiser 1993: 844. 65. Vgl. dazu vor allem: Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München 1974. 237
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Anatomie feststellt: »sie selbst bildet […] in jedem praktischen Falle den Grundstein und Ausgangspunkt für die Beurteilung der krankhaft gestörten oder abnormen Verhältnisse.«66 Ähnlich betont auch Holzknecht die für den spezifisch medizinischen Gebrauch der Röntgentechnik konstitutive »Verwebung von technischen, anatomischen und klinischen Elementen.«67 Wenn als privilegierter Ort anatomisch motivierter Bildgebung der anatomische Atlas erscheint, dann ist der privilegierte Ort diagnostisch motivierter Bildgebung die Klinik bzw. die Praxis niedergelassener Ärzte. Dennoch läßt sich seit dem 18. Jahrhundert eine bildmedial fundierte Publikationstätigkeit auch im Gebiet der Pathologie ausmachen, welche etwa Edgar Goldschmidt in seiner Entwicklung und Bibliographie der pathologisch-anatomischen Abbildung, 1925 in Leipzig erschienen, historiographisch und bibliographisch erfaßt hat. Zudem liegt eine ganze Reihe früher Röntgenatlanten vor, welche auch oder nur die pathologischen Verhältnisse, wie sie sich auf der röntgenographischen Bildfläche manifestieren, vor Augen führen. Dazu zählen etwa Jedlickas Atlas der normalen und pathologischen Anatomie in typischen Röntgenbildern von 1900 oder Grasheys Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder von 1908. Wenn in der ärztlich-klinischen Praxis diagnostisch motivierte Bildgebung dazu dient, eine Befundung am lebendigen menschlichen Körper vorzunehmen, also entweder einen positiven oder einen negativen Befund zu erheben, dann fungieren diese pathologischen Atlanten als Kataloge einer wie auch immer repräsentativen positiven Befundung auf der Bildfläche. Hingegen gibt der anatomische Atlas eine wie auch immer repräsentative negative Befundung auf der Bildfläche zu sehen. Doch gilt es allererst, einen positiven Befund zu erheben und als solchen zu kennzeichnen. So merken Heintz/Huber hinsichtlich der Frage nach einem positiven oder negativen Befund in der ärztlich-klinischen Diagnostik an: »Das Hauptverfahren, um diese Entscheidung zu treffen, ist der Vergleich, und der Bezugspunkt ist das Wissen um das ›Normale‹. Was gesehen wird, wird in Bezug gesetzt zu Musterbeispielen, Normalverteilungen, Referenzbildern.«68
66. A. Hasselwander: Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild, S. 5. 67. G. Holzknecht: »Vorwort«, S. V. 68. B. Heintz/J. Huber: »Der verführerische Blick«, S. 24. 238
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
Eben jene Musterbeispiele, Normalverteilungen und Referenzbilder katalogisiert der anatomische Atlas, wodurch er das Normale statuiert, auf daß das Pathologische zu diagnostizieren sei. Den besonderen Stellenwert des anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers und damit auch des anatomischen Atlanten als privilegierter Publikationsform der Anatomie für nicht-invasive bildgebende Verfahren betont auch Burri, wenn sie schreibt: »Für das Verstehen und die Verwendung digitaler visueller Repräsentationen spielt […] ihre Anschlußfähigkeit an Körperdarstellungen, wie sie in konventionellen Anatomie-Lehrbüchern als Illustrationen zu finden sind, eine wesentliche Rolle.«69 Bildgebende Diagnostik – und diese ist, das verdeutlicht das Beispiel der Röntgentechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nicht notwendig auf digitale Bildformate beschränkt – bedarf also anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers, und zwar anatomischen Wissens, welches sich notwendig auf der Bildfläche formiert. Denn nur diese ermöglicht es, den normalen Absorptionsgrad der Röntgenstrahlen oder die Schwächungsverteilung der gescannten Schicht in der Computertomographie kontrastiv zum diagnostisch motivierten Informationsbild in ärztlich-klinischer Praxis vor Augen zu führen. Nur deshalb allerdings ist die Anatomie dauerhaft dazu angehalten, Datenerhebungstechnologien der klinischen Diagnostik in die Publikationsform des anatomischen Atlanten zu befördern. Tatsächlich nämlich ist kein nicht-invasives bildgebendes Verfahren, wenngleich es anatomisches Wissen idealiter am lebendigen menschlichen Körper erheben kann, dazu in der Lage, die autoptische Wissensformation am sezierten Leichnam gänzlich zu ersetzen. Insofern findet, anders als Burri ausweist, eine doppelte Bewegung statt, wenn sich klinische Diagnostik und Anatomie auf der Bildfläche begegnen. Zum einen benötigt die Diagnostik die Anatomie, zum anderen bedient sich die Anatomie diagnostischer bildgebender Verfahren. Im folgenden soll zunächst deren Transfer in die Publikationsform des anatomischen Atlanten untersucht werden, um im nächsten Abschnitt zu hinterfragen, inwieweit auch die visuelle Kultur der Anatomie und damit anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers von eben diesem Transfer keineswegs unberührt bleiben. Im Vorwort zur ersten Auflage des Atlas typischer Röntgenbil-
69. R. Burri: »Doing Images«, S. 291. 239
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der aus dem Jahre 1905 beklagt Grashey, dies wurde bereits angeführt, »Fehldiagnosen, zum Teil folgenschwerer Art.«70 Ähnlich führt Hasselwander in seiner 1926 erschienenen Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild aus, »[…] wie hilflos die Ärzte dem Röntgenbild gegenüberstanden«71 und führt dies zurück auf einen »Mangel an Methode bei der Betrachtung des Röntgenbildes.«72 Es ist einigermaßen bezeichnend, daß die Motivation zur Publikation eines anatomischen Röntgenatlanten in den frühen Jahren der Erprobung der Röntgentechnik in der klinischen Diagnostik nicht etwa darin begründet liegt, daß das Röntgenbild eine spezifische Funktion für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers hat. Vielmehr reagiert sie genau andersherum auf eine Krise, welche sich die klinische Diagnostik mit dem Einsatz der Röntgentechnik eingehandelt hat. Eben jene durch die Röntgentechnik herbeigeführte Krise mündet nicht in die Frage, ob das Röntgenbild diagnostische Relevanz habe. Und sie mündet auch nicht in die Frage, ob eine Befundung am Röntgenbild vorteilhaft sei. Und sie mündet schon überhaupt gar nicht in die Frage, ob dieses nicht-invasive bildgebende Verfahren angesichts der von ihm aufgeworfenen Probleme wieder aus den diagnostischen Programmen zu entfernen sei. Vielmehr besteht diese Krise darin, daß sich die klinische Diagnostik einem bildgebenden Verfahren ausgesetzt hat, welches, gerade weil es Probleme löst, welche mit traditionellen endoskopischen Instrumenten nicht zu bewältigen sind, auch Probleme aufwirft, welche nicht oder nicht nur mit traditionellen anatomischen Strategien der Beschreibung des Baus des menschlichen Körpers zu beheben sind. Von daher erklärt etwa Hasselwander im Vorwort seiner Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild bezüglich dieser Krise der Diagnostik: »Dies bekräftigte die Verpflichtung, für das breitere ärztliche Publikum eine Darstellung der normalen Anatomie gerade von dem Gesichtspunkt aus zu liefern, wie denn durch die Strahlen die übereinanderliegenden Teile auf die Bildfläche der Platte oder des Schirmes projiziert werden und wie diese Bilder zu lesen sind.«73 Dabei greifen frühe Röntgenatlanten – von denen im folgenden vor
70. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. III. 71. A. Hasselwander: Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild, S. 5. 72. Ebd. 73. Ebd., S. 6. 240
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allem Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder sowie, mit Abstrichen, auch Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild im Vordergrund stehen sollen – zunächst einmal auf durchaus traditionelle Strategien anatomisch motivierter Bildgebung zurück. Das zeigt sich bereits darin, daß die seit der frühen Neuzeit privilegierte Publikationsform des anatomischen Atlanten beibehalten und somit in ihrem spezifisch anatomischen Funktionshorizont stabilisiert wird. Zu den traditionellen Strategien, welche schon bei der Präsentation anatomischer Bildzeugnisse in frühen Atlanten wie etwa der Fabrica Vesals von 1543 auszumachen sind, gehört vor allem die Legende. In Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild etwa wird ein Verfahren der Legendierung geltend gemacht, welches darin besteht, eine schematische Skizze zu dem entsprechenden Röntgenbild anzufertigen und diese mittels Hinweislinien zu bezeichnen (Abb. 20). Hingegen sind in Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder Ziffern auf der Bildfläche eingezeichnet, welche auf der dem Röntgenbild gegenüber liegenden Seite des Atlanten eine Entsprechung und Erklärung erfahren (Abb. 13). Dabei verdeutlicht hier die Legende mit der Nummer 29, daß es sich bei dem T-förmigen Gegenstand, welcher auf der rechten Seite des Röntgenbildes mittig zu sehen ist, um eine Kopfstütze handelt. Dies weist darauf hin, daß hier ein Leichnam geröntgt worden ist, ein Umstand, den auch der Kommentar auf der rechten Seite, welcher den Untersuchungsgegenstand als mazierierten Schädel kennzeichnet, erklärt. Ein solcher Kommentar ist, ähnlich wie die Legende, ebenfalls als eine jener traditionellen Strategien anatomisch motivierter Bildgebung im Atlanten anzusehen, welche schon in den frühen Atlanten des 16. Jahrhunderts Anwendung gefunden haben. Dabei ist der Kommentar, welcher in Atlanten wie der Fabrica Vesals das dozierende Moment nach der anatomischen Sektion und nach der Demonstration der präparierten Körperteile ausmacht, in frühen Röntgenatlanten eher die Regel, in späteren eher die Ausnahme. Während Grashey in seinem Atlas typischer Röntgenbilder stets zu einem einigermaßen umfangreichen Kommentar ansetzt, kann davon in Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild kaum die Rede sein. Allerdings hat der Kommentar, welchen Grashey der Präsentation des Röntgenbildes zur Seite stellt, nicht mehr die gleiche Funktion wie etwa in der Fabrica von 1543. Dort nämlich läßt sich Vesal ausführlich über seine mit dem schriftlich tradierten galenischen Körperwissen nicht zu vereinbarenden Befunde und nicht zuletzt auch über den naturphilosophischen Horizont seines anatomischen Projektes aus. Hingegen beschränkt sich Grashey vor 241
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allem auf technische Daten wie den Abstand zwischen Röntgenröhre und Untersuchungsgegenstand, die Positionierung des Untersuchungsgegenstandes oder auch die bei der Aufnahme gewählte Expositionsdauer. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß der Kommentar auch in frühneuzeitlichen Atlanten dazu gedient hat, die jeweiligen anatomischen Bildzeugnisse in visuell plausible Bildverhältnisse zu überführen und dem Leser des Atlanten einen Standpunkt vorzuschreiben. Hier sei etwa an die Figuren zu den Muskeln der Zunge aus Buch II der Fabrica erinnert. Was einst der Kommentar für die Verortung des anatomischen Bildzeugnisses geleistet hat, soll nun in den Röntgenatlanten standardisiert werden, und zwar zunächst durch ein nominelles Koordinatensystem von Aufnahmerichtungen. Dazu führt Grashey aus: »Was die Nomenklatur betrifft, so besteht noch keine Einigkeit bezüglich der Bezeichnung der einzelnen Aufnahmerichtungen.«74 Den beiden Bildbeispielen aus Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder und aus Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild jedenfalls liegt ein gleiches nominelles Koordinatensystem zugrunde. Grashey bezeichnet die Aufnahmerichtung als ›dorsoventral‹, was darauf hinausläuft, daß die Vorderseite des menschlichen Körpers auf der Röntgenplatte positioniert ist und der Strahlengang also von der Rückseite zur Vorderseite des Körpers erfolgt. Bei Hasselwander indes verhält es sich genau andersherum, wenn er die Aufnahmerichtung als ›ventrodorsal‹ bezeichnet. Die Kennzeichnung der Aufnahmerichtung ist in der Röntgentechnik vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil das Röntgenbild erstens ein Überlagerungsbild darstellt und weil es zweitens einer Zentralprojektion entspringt. Von daher gilt es, darauf macht Grashey aufmerksam, zu bedenken: »Will man eine Platte mit der entsprechenden Region eines Skelets vergleichen, so muss man das Skelet in umgekehrter Richtung betrachten, als der Gang der Strahlen bei der Aufnahme war.«75 So beschreibt Grashey in seinem Kommentar auch ausführlich, was sich bei der Aufnahme auf der Röntgenplatte befunden hat, um daran anschließend die Einstellung der Röntgenröhre zu thematisieren. An dieser Stelle – und dies ist ein spezifisches Moment der Katalogisierung bildgebender Verfahren in anatomischen Atlanten,
74. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. 1. 75. Ebd., S. 37. 242
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welches über traditionelle Strategien anatomisch motivierter Bildgebung hinausgeht – verweist Grashey auf Figur A, eine kleinformatige, schematische Skizze, welche den Strahlengang erläutert. Damit weist diese Figur A einen Bezug zu dem Röntgenbild auf, welcher vor allem darin besteht, den technisch-apparativen Produktionsprozeß des Röntgenbildes zu veranschaulichen. Insofern illustriert diese schematische Skizze das Röntgenbild, welches nicht nur auf einer mittels der Autotypie aufwändig reproduzierten Bildtafel und mithin als reproduktionstechnisch privilegiert, sondern auch als bildkulturell zentrales Moment dieser Doppelseite aus Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder erscheint. Diese schematische Skizze aber ist nicht die einzige visuelle Navigationshilfe, welche Grashey heranzieht, um das Röntgenbild intelligibel zu gestalten, denn am rechten unteren Rand der rechten Seite befindet sich ein anatomisches Bildzeugnis. Dazu bemerkt Grashey: »Das Studium der Bilder glaubte ich durch Einstreuung von Skeletansichten noch bequemer machen zu sollen […]. Besonders das freundliche Entgegenkommen von Herrn Prof. Sobotta ermöglichte mir, eine grössere Anzahl Skeletansichten aus seinem im gleichen Verlage erschienenem Atlas herüberzunehmen.« 76 Das auf Seite 83 von Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder angeführte anatomische Bildzeugnis findet sich in Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen aus dem Jahre 1904 als Figur 97 auf Seite 60 (Abb. 12). Es ist bereits in dem Abschnitt zur Anwendung der Photographie in der Anatomie darauf hingewiesen worden, daß die Bilder aus Sobottas Atlas zunächst auf dem technisch-apparativen Datenerhebungsverfahren der Photographie beruhen, daß daraufhin Zeichnungen nach photographischer Vorlage angefertigt und diese schließlich der druckgraphischen Reproduktion anheimgegeben worden sind. Die Figur 97 aus dem Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 aber erscheint bei Sobotta größer als bei Grashey, worauf dieser auch ausdrücklich hinweist. Zudem weist sie bei Sobotta eine andere Legende als bei Grashey auf, und sie ist bei Sobotta koloriert, nicht zuletzt deshalb, weil sie auf der Bildtafel in einem interikonischen Zusammenhang mit zwei weiteren Bildern steht. Dies verdeutlicht gerade auch die Farbgebung,
76. Ebd., S. V. 243
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denn, so führt Sobotta aus: »In Fig. 97-99 ist das Stirnbein violett, Siebbein orange, Oberkiefer gelb, Keilbein grün, Gaumenbein blau […].«77 Für den Atlas typischer Röntgenbilder von Grashey wurde Figur 97 aus Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen also nicht nur, wie Grashey erklärt, druckgraphisch verkleinert, sondern sie wurde auch in ein schwarz-weißes Bild transformiert. Das Bild befindet sich in Sobottas Atlas auf einer drucktechnisch hochwertigen Bildtafel, wohingegen es in Grasheys Atlas, anders als dessen Röntgenbilder, auf einer Textseite positioniert ist, mithin also im Kommentar zu einem anderen Bild. Zudem ist das Bild bei Sobotta Teil einer Serie, wie sie aus frühen anatomischen Atlanten, welche auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhen und anatomische Bildzeugnisse katalogisieren, bereits bekannt ist, etwa aus Vesals Fabrica oder den Tabulae anatomicae von Eustachio. Solche Serien liegen auch in Röntgenatlanten vor. Interessant ist in Grasheys Atlas aber gerade der Umstand, daß hier ein Bildzeugnis aus einem anderen Atlanten in den Röntgenatlanten transferiert worden ist, um ein gleichfalls in den Röntgenatlanten transferiertes Röntgenbild intelligibel zu gestalten. Insofern präsentiert diese Doppelseite aus dem Atlas typischer Röntgenbilder ein Röntgenbild als Resultat eines technisch-apparativen Datenerhebungsverfahrens, welches durch den druckgraphischen Akt der Transmedialisierung vom Negativ zum Positiv invertiert wurde und deshalb die Knochen in dunkler Schattierung präsentiert. Dieses Röntgenbild wird kommentiert durch ein auf einer photographischen Vorlage beruhendes, gezeichnetes Bildzeugnis, welches durch einen neuerlichen Akt der Transmedialisierung entkoloriert und in einen ganz anderen Funktionszusammenhang transferiert wurde. Mithin präsentiert diese Doppelseite ein technisch-apparatives Informationsbild mit einer eigentümlichen Konfiguration aus Informations- und Erfahrungsbild. Zudem präsentiert diese Doppelseite, wenngleich die Daten an einem mazierierten Schädel erhoben worden sind, ein nicht-invasives bildgebendes Verfahren mit einem invasiven Datenerhebungsverfahren, welches notwendig auf der Sektion eines Leichnams beruht. Und sie präsentiert weiterhin ein diagnostisch relevantes bildgebendes Verfahren mit einem nicht diagnostisch relevanten Datenerhebungsverfahren. Dabei hat das Röntgenbild im anatomischen Atlanten keine diagnostische, sondern
77. Johannes Sobotta: Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen. I. Abteilung, München 1904, S. 61. 244
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eine deskriptive Funktion. Weil es nicht das Pathologische diagnostiziert, sondern das Normale statuiert, bedarf es der kontrastiven Lektüre mit dem Bildzeugnis aus Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen. Tatsächlich, dies dürfte deutlich werden, ist Figur 97 aus Sobottas Atlas nicht mehr dieselbe Figur, wenn sie in Grasheys Atlas erscheint. Aus Figur 97 bei Sobotta wird Figur B bei Grashey. Im Vorwort ihrer Ganzkörper-Computer-Tomographie aus dem Jahre 1977 kommen Gambarelli & co bezüglich der Computertomographie zu einem Befund, welcher schon prägend für die Publikation von Röntgenatlanten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen ist: »Die Benutzung des transversalen Axialtomographen für Ganzkörperuntersuchungen (Scanner) stellt als neues Mittel der Röntgendiagnose einige Probleme bei der Interpretation bestimmter normaler oder pathologischer Bilder.« 78 Ähnlich äußern sich Weir/Abrahams in ihrer 1993 publizierten Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik: »Der vorliegende Atlas […] erleichtert einerseits dem Studenten in der Vorklinik den Zugang zu den Grundlagen der Anatomie, ist aber zugleich in der klinischen Ausbildung und Tätigkeit eine umfassende Interpretationshilfe für morphologische Befunde und deren diagnostische Relevanz.«79 Für anatomisch motivierte Bildgebung stellt das Computertomogramm ein besonderes Problem dar. Anders als das Röntgenbild, welches auch mittels traditioneller anatomischer Bildzeugnisse einer kontrastiven Lektüre unterzogen werden kann, bannt die Computertomographie als schnittbildgebendes Verfahren gänzlich andere körperliche Sachverhalte auf der Bildfläche. Auf diesen Umstand machen etwa Koritké/Sick in ihrem 1982 erschienenen Atlas anatomischer Schnittbilder des Menschen aufmerksam, wenn sie bezüglich der Computertomographie und der Magnetresonanztomographie ausführen: »Beide Methoden liefern Schnittbilder des menschlichen Körpers (Schichtbilder),
78. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. v. 79. J. Weir/P.H. Abrahams: Die Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik, S. 3. 245
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deren Deutung wegen fehlender analoger anatomischer Atlanten große Schwierigkeiten bereiten können [sic!].«80 Tatsächlich stellen Schnittbilder des menschlichen Körpers bis zum Aufkommen der Computertomographie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts keinen zentralen Bestandteil des anatomischen Bildhaushaltes dar. Gleichwohl lassen sie sich immer wieder ausfindig machen, zum Beispiel als anatomische Bildzeugnisse bei Leonardo oder bei Casserio in der frühen Neuzeit, in Joessels Lehrbuch der topographisch-chirurgischen Anatomie von 1884 oder auch in Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904. Wenngleich dieser in Figur 97 (Abb. 12) unter anderem einen frontalen Schnitt durch den vorderen Teil des Schädels präsentiert, handelt es sich dabei doch nicht um ein Schnittbild im eigentlichen Sinne. Denn es wird deutlich, daß auch dieses Bild auf perspektivisch entfalteten bildmedialen Raumverhältnissen beruht. Zu den wenigen systematischen Versuchen der Katalogisierung genuiner Schnittbilder im anatomischen Atlanten zählt etwa Roy-Camilles Coupes horizontales du tronc von 1959, in welchem photographische Gefrierschnitte katalogisiert sind.81 So wird deutlich, daß der Bildtransfer des Computertomogramms aus der klinischen Diagnostik in den anatomischen Atlanten eine ganz besondere Herausforderung darstellt, da es einer umfassenden visuellen Mobilmachung bedarf, um es überhaupt einer kontrastiven Lektüre im Atlanten unterziehen zu können. Doch auch die Katalogisierung von Computertomogrammen in der Publikationsform des anatomischen Atlanten bedient sich zunächst einmal traditioneller Strategien wie der Legende. Diese funktioniert in der Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik von 1993 durch auf der Bildfläche des Computertomogramms eingezeichnete Ziffern und in Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie von 1996 durch Hinweislinien. Hingegen wird sie in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von
80. J.G. Koritké/H. Sick: Atlas anatomischer Schnittbilder des Menschen, S. xi. 81. Allerdings ist festzustellen, daß ein Computertomogramm die entsprechende Schnittfläche von unten zeigt, wohingegen sämtliche Zeichnungen und auch die photographischen Gefrierschnitte diese von oben zeigen. Dieser Umstand wird erst im Jahre 1983 bekannt, worüber etwa Kevles berichtet: »When Lee, Sagel, and Stanley’s textbook with body CT images appeared in 1983, all earlier images of cross-sectional anatomy from the 1920s became obsolete.« (B. Kevles: Naked to the Bone, S. 162) 246
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1977 an einer schematischen Zeichnung demonstriert (Abb. 15), was auch für die im gleichen Jahr erschienene Cross-sectional anatomy gilt. Während der Kommentar in frühen Röntgenatlanten wie etwa Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder noch eine tragende, wenngleich andere Rolle als in frühneuzeitlichen Atlanten gespielt hat, kann davon in anatomischen Atlanten zur Computertomographie kaum noch die Rede sein. Eine Ausnahme bildet der 1996 von Romrell & co publizierte Atlas Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie. Was sich bei Grashey bereits abgezeichnet hat – nämlich daß der Kommentar in Atlanten zu bildgebenden Verfahren weniger die narrative Funktion einer anatomischen Lektion denn die informative Funktion einer Kennzeichnung technischer Einstellungen einnimmt – wird in anatomischen Atlanten zur Computertomographie zum Programm. Dabei zeigt sich auch, daß es nun vor allem visuelle Navigationshilfen sind, welche eine Verortung des im Zentrum des Interesses stehenden radiologischen Bildes vornehmen. Denn zunächst einmal ist die Katalogisierung eines Computertomogramms dazu verpflichtet, diejenige Schnittebene zu kennzeichnen, welche auf der Bildfläche erscheint. Diese Kennzeichnung orientiert sich an einem aufrecht stehenden menschlichen Körper, wie er etwa von Drenckhahn/Zenker in der Benninghoff Anatomie von 1994 als ›anatomische Nullstellung‹ vorgeführt wird (Abb. 21). Dabei lassen sich drei grundlegende Schnittebenen ausmachen: eine sagittale, eine frontale und eine transversale bzw. horizontale. Dementsprechend gehört es zum Standardprogramm, in anatomischen Atlanten zur Computertomographie eine schematische Skizze anzuführen, welche sowohl die gewählte Schnittebene als auch die gewählte Schnittstelle kennzeichnet. Solche schematischen Skizzen finden sich etwa in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977, in der Cross-sectional anatomy von Ledley & co aus dem Jahre 1977 und in Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie von Romrell & co aus dem Jahre 1996. Hingegen markieren Weir/Abrahams in ihrer Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik von 1992 die Schnittebene zu einem transversalen Computertomogramm in einem sagittalen Computertomogramm. Und Ledley & co präsentieren in ihrer Cross-sectional anatomy zusätzlich zu der schematischen Skizze noch ein Pneumoencephallogramm, welches ebenfalls die Schnittebene verdeutlicht. Zu dieser schematischen Skizze kommen in allen angeführten Atlanten, abgesehen von der Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik, schematische Zeichnungen, anhand derer nicht die Schnittebene, sondern die sich daraus je ergebende Bild247
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fläche des Computertomogramms angezeigt wird. Zudem lassen sich in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co photographische Gefrierschnitte sowie Röntgenbilder ausmachen. Und in Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie von Romrell & co aus dem Jahre 1996 sind photographierte Plastinate katalogisiert, welche, dies wurde bereits angeführt, von dem KoAutor von Hagens angefertigt worden sind. Diese verschiedenen visuellen Navigationshilfen sollen dazu dienen, das Computertomogramm intelligibel zu gestalten. Sie verdeutlichen, daß die Doppelseite eines radiologischen anatomischen Atlanten mittlerweile eine ganze Serie von diversen Datenerhebungsverfahren und diversen Bildformaten aufweist, welche alle in einem spezifischen Verhältnis zu dem Computertomogramm stehen und sich auf dieses konzentrieren. Zu den Beweggründen einer solchen visuellen Mobilmachung erklären etwa Gambarelli & co: »[…] erscheint es uns unerläßlich, die mit diesem Gerät hergestellten normalen Bilder zu untersuchen und mit den entsprechenden Serienschnitten des menschlichen Körpers zu vergleichen. Jeder Schnitt wurde photographiert, geröntgt, nach Sezierung gezeichnet und mit einem Scanner-Bild der entsprechenden Ebene verglichen. Die Interpretation des tomodensimetrischen Dokumentes wurde hierdurch stark erleichtert.«82 Das bedeutet aber, daß in der Ganzkörper-Computer-Tomographie nicht nur Computertomogramme katalogisiert werden müssen – wie etwa in Vesals Fabrica von 1543 anatomische Bildzeugnisse und in Rüdingers Topographisch-chirurgischer Anatomie des Menschen von 1878 Photographien katalogisiert werden –, sondern daß es auch spezifischer bildlogistischer Strategien bedarf, das umfangeiche und mannigfaltige Bildmaterial, welches die Präsentation eines Computertomogramms begleitet, zu positionieren. Anders als Grashey, welcher in seinem Atlas typischer Röntgenbilder nicht jedes einzelne Röntgenbild mit einer schematischen Skizze zur Einstellung der Röntgenröhre oder mit einem Bildzeugnis aus Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen versieht, entscheiden sich Gambarelli & co in ihrer Ganzkörper-Computer-Tomographie für eine einheitliche und durchgehende Organisation einer jeden Doppelseite. Diese erleichtert die kontrastive Lektüre der jeweiligen Bildphänomene untereinander und gewährleistet auch eine problemlose Orientierung durch den gesamten anatomischen Atlanten hindurch.
82. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. v. 248
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In dem einleitenden Teil zu ihrem Atlanten, also noch vor der Katalogisierung des von ihnen erhobenen Bildmaterials, liefern Gambarelli & co unter dem Stichwort »Hinweise für den Leser«83 einen für sämtliche Doppelseiten des Atlanten gültigen Schlüssel bezüglich der Anordnung der Bilder, der jeweiligen Datenerhebungsverfahren, des jeweiligen Formats usf. (Abb. 22). Diese Seite aus der Ganzkörper-Computer-Tomographie stellt ein eindrucksvolles Zeugnis dessen, was hier als Bildlogistik zwischen Transmedialisierung und Bildtransfer verhandelt wird, dar. Dies gerade deshalb, weil sich hier aus spezifisch anatomisch motivierten Bildpraktiken nicht nur, wie bei allen anderen anatomischen Atlanten auch, ein implizites Bildwissen herleiten läßt, sondern weil ein solches Bildwissen hier ausdrücklich zur Sprache kommt. So wird sehr deutlich, was Anatomie mit Bildern macht, wenn sie sie in die Publikationsform des anatomischen Atlanten transmedialisiert und transferiert. Diese konkreten Bildbeispiele aus radiologischen Atlanten – vor allem aus Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder von 1912 und aus der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977 – unterstreichen noch einmal den Umstand, daß der medientechnische Akt der Transmedialisierung eines Röntgenbildes oder eines Computertomogramms in die Publikationsform des anatomischen Atlanten das jeweilige Bildmaterial nicht unberührt läßt. So erscheinen auf dem Röntgenbild in frühen anatomischen Röntgenatlanten etwa die Knochen sehr dunkel anstatt sehr hell, wie es auf dem Originalnegativ der Fall ist, während bei dem vom Bildschirm abphotographierten Computertomogramm im anatomischen Atlanten das interaktive Moment verloren geht, so daß keine differenzierte oder weiter differenzierende Fensterung mehr möglich ist. Andererseits lassen sich aber auch bildkulturell bedingte Transformationen derjenigen Bilder ausmachen, welche in die Publikationsform des anatomischen Atlanten transferiert werden. Dazu gehören zum einen traditionelle Bildstrategien wie die Legende und der Kommentar und zum anderen spezifische Bildstrategien radiologischer Atlanten wie visuelle Navigationshilfen, schematische Zeichnungen, anatomische Bildzeugnisse, photographische Gefrierschnitte oder plastinierte Körperscheiben. Nicht zuletzt dient die Präsentation nicht-invasiver, technisch-apparativer bildgebender Verfahren in anatomischen Atlanten dazu, jenes Normale auf der Bildfläche zu statuieren, vor dessen Folie in der ärztlich-klinischen Praxis das Pathologische diagnostiziert werden kann. Dazu führt etwa Grashey aus:
83. Ebd., S. 27. 249
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»Es ist etwas sehr Verschiedenes, ob man gesunde Körperteile röntgenographiert und ihre Bilder analysiert, wie im vorliegenden Atlas, oder ob man das Röntgenogramm eines Körperteils nach pathologischen Veränderungen absucht, welche als objektive Grundlage für vorhandene Beschwerden gedeutet werden könnten.« 84 Gleiches gilt, freilich unter anderen bildmedialen Vorzeichen, auch für die Computertomographie, so daß durch den Transferprozeß bildgebender Verfahren der klinischen Diagnostik in die Publikationsform des anatomischen Atlanten etwas verloren geht, nämlich die diagnostische Funktion und therapeutische Option der jeweiligen Bilder. Aber es wird auch etwas gewonnen, nämlich dadurch, daß das Röntgenbild oder das Computertomogramm anhand einer ganzen Anzahl weiterer Bildformate einer kontrastiven Lektüre unterworfen werden kann, welche nicht zuletzt Auskunft über die spezifische bildmediale Verfaßtheit desjenigen Bildes gibt, auf welches sich die visuelle Mobilmachung auf einer Doppelseite im anatomischen Atlanten konzentriert. Dabei stellt sich auch heraus, daß gerade die Photographie in radiologischen Atlanten zu schnittbildgebenden Verfahren wie der Computertomographie einen besonderen Stellenwert einnimmt, weil sie es erlaubt, photographische Gefrierschnitte der dem Computertomogramm entsprechenden Schnittebene anzufertigen. Es stellt sich aber auch heraus, daß sowohl das anatomische Bildzeugnis als auch schematische Zeichnungen mit dem Aufkommen radiologischer Atlanten keineswegs aus dem anatomischen Bildhaushalt verschwinden, sondern daß sie dort sehr wohl noch ihren Ort haben. Zu dem Verhältnis zwischen anatomischem Bildzeugnis, welches auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruht, und Röntgenbild, welches das Resultat eines technisch-apparativen und nicht-invasiven Datenerhebungsverfahrens darstellt, bemerken Daston/ Galison: »In der Röntgenfotografie ist die Zeichnung nie als eine konkurrenzfähige Form angesehen worden – das Radiogramm oder ›Skiagramm‹ wurde zum Hauptschauplatz einer neuen visuellen Realität, die in einer Weise unsichtbar für menschliche Zeichner war, wie dies selbst für Zellen unter einem Mikroskop nicht galt.«85 Dies ist, zumindest hinsichtlich anatomisch motivierter Bildgebung, jedoch nicht der einzige und möglicherweise auch nicht der entscheidende Grund, welcher den Funktionshorizont von Röntgenbild
84. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. 40. 85. L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«, S. 68. 250
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
und anatomischem Bildzeugnis – mithin auch von manuellem und technisch-apparativem Datenerhebungsverfahren – in radiologischen Atlanten kennzeichnet. Denn wenn Sobotta in seinem Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 keine Photographien einsetzt, obwohl diese seinerzeit durch die Autotypie schon einigermaßen problemlos zu reproduzieren sind, dann hat dies nicht zuletzt, dies wurde ausgewiesen, spezifische wissenschafts- und bildkulturelle Gründe. In anatomischen Röntgenatlanten wie Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder – dessen erste Auflage im Jahr darauf, also 1905, und noch dazu im gleichen Verlag erscheint – oder Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild aus dem Jahre 1926 hingegen zögern die Autoren nicht, Röntgenphotographien zu präsentieren, welche wie die Photographie auch auf einem indexikalischen Verfahren beruhen. So stellt sich die Frage, warum nicht auch Grashey oder Hasselwander einen Zeichner damit beauftragen, die Röntgenbilder nach demjenigen Muster zu präparieren, welches Sobotta in seinem Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 vorgelegt hat, sie also abzupausen, zu konturieren und zu kolorieren. Die Antwort liegt nahe: weil der Referent nicht der Körper ist, oder besser: weil der Referent zwar der Bau des menschlichen Körpers ist, jedoch der Bau des menschlichen Körpers, wie er auf der mittels einer nichtinvasiven Datenerhebungstechnologie generierten Bildfläche, also auf dem Röntgenbild, erscheint. Zwar hätten auch Röntgenbilder abgemalt oder abgezeichnet werden können, doch ist hier die Idealisierung des normalen Körpers gar nicht das Ziel, da der Referent das diagnostisch motivierte Röntgenbild ist und nicht das Präparat. Obwohl beide Informationsbilder darstellen, unterscheidet sich das Röntgenbild wesentlich von der Photographie, da diese, darauf hat etwa Stein 1886 in Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung hingewiesen, keine oder so gut wie keine diagnostische Funktion in der inneren Medizin hat. Die Frage nach dem Referenten anatomisch motivierter Bildgebung erweist sich aber gerade in Hinblick auf den Bildtransfer zwischen Anatomie und bildgebender Diagnostik als besonders virulent. Es dürfte außer Zweifel stehen, daß der eigentliche Referent früher anatomischer Illustrationen die Schriften antiker Personalautoritäten sind. Und es dürfte gleichsam außer Zweifel stehen, daß der Referent des anatomischen Bildzeugnisses, wie es sich in der sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation berufenden Anatomie des 16. Jahrhunderts ausformt, zumindest idealiter das Präparat auf dem Seziertisch ist, unabhängig von der Tatsache, ob nun idealisierende oder individualisierende Bildstrategien zum Tragen kommen. Weiterhin dürfte es außer Zweifel stehen, daß der 251
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Referent eines Röntgenbildes oder eines Computertomogramms in der ärztlich-klinischen Diagnostik der Körper des Patienten ist, welcher einer positiven oder negativen Befundung unterzogen werden muß, um daraufhin gegebenenfalls therapeutische Maßnahmen, etwa chirurgische Eingriffe, vorzunehmen. Der Referent eines Röntgenbildes oder eines Computertomogramms in der Publikationsform des anatomischen Atlanten ist aber weder das Präparat am Seziertisch noch der Körper des Patienten, sondern das diagnostisch motivierte Röntgenbild oder Computertomogramm. Denn das Ziel radiologischer Atlanten besteht selbstverständlich nicht darin, einen notwendig negativen Befund eines individuellen Patienten zu publizieren. Vielmehr ist anatomisch motivierte Bildgebung in radiologischen Atlanten darauf eingestellt, sich denjenigen Datenerhebungstechnologien und damit denjenigen Bildverhältnissen anzuverwandeln, welche in der klinischen Diagnostik Anwendung finden. Während ein eine negative Befundung erlaubendes Röntgenbild auf der Röntgenplatte oder ein Computertomogramm auf dem Bildschirm für die klinische Diagnostik in der Regel obsolet wird, stellt es für anatomisch motivierte Bildgebung allererst denjenigen Augenblick dar, von welchem ausgehend es mannigfaltigen medientechnischen und bildkulturellen Transformationen unterzogen wird. Dies äußert sich auch in dem Umstand, daß sich im radiologischen Atlanten ein anatomisch motiviertes Computertomogramm auf ein anatomisch motiviertes Computertomogramm beziehen und dieses illustrieren kann. Dies ist etwa der Fall in der Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik von Weir/Abrahams, in welcher ein sagittales Computertomogramm die transversale Schnittebene des zur Diskussion stehenden Computertomogramms kennzeichnet. Von diesen bildkulturellen Transferprozessen bleibt schließlich auch das anatomische Bildzeugnis nicht unberührt, denn im radiologischen Atlanten verweist es nicht mehr oder nicht mehr notwendig auf ein Präparat. Dies wird etwa in Hasselwanders Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild deutlich, wo eine Zeichnung als »Erklärung zu Abb. 21«86, also als bildlicher Kommentar zu einem anatomisch motivierten Röntgenbild vorgeführt wird. Und es zeigt sich auch in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977, wenn bezüglich der eigens für diesen Atlanten angefertigten Bildzeugnisse erklärt wird:
86. A. Hasselwander: Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild, S. 25. 252
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
»Die Interpretation des tomodensimetrischen Dokumentes wurde hierdurch stark erleichtert.«87 Am deutlichsten aber werden die Auswirkungen bildkultureller Transferprozesse am Beispiel des Atlas typischer Röntgenbilder, in welchem das aus Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen übernommene Bildmaterial nicht mehr, wie bei Sobotta, ein Präparat als Referenten aufweist. Vielmehr wird es signifikant dahingehend transformiert, daß es sich nun auf das Röntgenbild bezieht und wie die Legende, der Kommentar und die schematischen Skizzen zu dessen Illustration beiträgt. Wenn also Lynch/Woolgar erklären: »The organization, sense, value and adequacy of any representation is ›reflexive‹ to the settings in which it is constituted and used«88, dann gilt dies in ausgezeichnetem Maße auch für die diversen Transferprozesse nichtinvasiver bildgebender Verfahren in die Publikationsform des anatomischen Atlanten. Dabei erscheint der anatomische Bildhaushalt als Negativ bildgebender Verfahren aus der klinischen Diagnostik allein schon deshalb, weil er nichts anderes als einen negativen Befund präsentiert und damit auf der Bildfläche jenes Normale statuiert, welches eine Diagnose des Pathologischen allererst ermöglicht. Schließlich wird das anatomische Wissen, welches einer Befundung in der klinischen Diagnostik idealiter zugrundeliegt, im anatomischen Atlanten evident und manifest, denn hier wird es auf der Bildfläche standardisiert und zur Verfügung gestellt. Daß diese Inkorporierung nicht-invasiver bildgebender Verfahren wie der Röntgentechnik und der Computertomographie in die bewährte Publikationsform des anatomischen Atlanten durch medientechnische Transmedialisierung und bildkulturelle Transferprozesse nicht nur zu einer Transformation der jeweils beteiligten Bilder führt, sondern letztlich auch eine Transformation der visuellen Kultur der Anatomie mit sich bringt, wird im folgenden Abschnitt zu konturieren sein.
87. J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. v. 88. Michael Lynch/Steve Woolgar: »Introduction: Sociological orientations to representational practices in science«, in: dies., Representation in scientific practice, S. 1-18, hier S. 11. 253
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4.4 Transformationen der Anatomie durch den anatomischen Bildhaushalt Wenn Carlino das »definitive establishment of a visual anatomical culture«89 in der frühen Neuzeit verortet, dann erscheint diese Etablierung einer visuellen Kultur der Anatomie als in zweifacher Hinsicht definitiv. Denn einerseits wird die Anatomie spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts selbst zu einer visuellen Kultur, und andererseits ist sie seitdem eine visuelle Kultur, so daß besagte Etablierung sich als unumkehrbar erweist. Als signifikante Elemente der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie fungieren im 16. Jahrhundert: der in Personalunion sezierende, demonstrierende und dozierende professionelle Anatom; die sich programmatisch auf die autoptische Wissensformation stützende anatomische Praxis; die damit einhergehende Autonomisierung und Automatisierung des anatomischen Blicks; das eine Institutionalisierung der anatomischen Wissenproduktion und -organisation erlaubende anatomische Theater als architekturale Verkörperung der autoptischen Wissensformation; der anatomische Atlas als privilegierte Publikationsform eines sich der Bildfläche verpflichtenden Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation; schließlich das anatomische Bildzeugnis als bildmediale Verkörperung sezierender, demonstrierender und dozierender Gesten im anatomischen Atlanten. Die Kennzeichnung der Irreversibilität dieser Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie sollte aber nicht zu der Annahme verleiten, die visuelle Kultur der Anatomie sei seit dem 16. Jahrhundert ungebrochen und unverändert bei sich selbst geblieben und habe ihr Programm einer totalen visuellen Mobilmachung immer wieder und immer wieder auf die gleiche Art und Weise geltend gemacht. Zwar zeichnet sich bereits ab, daß anatomisches Wissen seit dem 16. Jahrhundert Körperwissen und Bildwissen umfaßt, da sich der Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation in der frühen Neuzeit unwiderruflich der auf der Buchseite des anatomischen Atlanten eröffneten Bildfläche verschreibt und damit ein neues Kapitel in der Geschichte der anatomischen Wissensformation aufschlägt. Von diesem Kapitel läßt sich einerseits sagen, daß es bis heute nichts von seiner Aktualität und seiner Relevanz verloren hat, doch fällt andererseits auf, daß es gerade deshalb noch immer Gegenstand mannigfaltiger Einschreibungen, Fortschreibungen und Umschreibungen ist. Damit gerät die Anatomie als visuelle Kultur in Bewegung,
89. A. Carlino: Paper Bodies, S. 13. 254
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und zwar in eine Bewegung, welche untrennbar mit dem Unstand verbunden ist, daß sie selbst auch Bilder in Bewegung bringt, einerseits durch medientechnische Aspekte der Transmedialsierung und andererseits durch bildkulturelle Aspekte des Bildtransfers. Die visuelle Kultur gerät also in der frühen Neuzeit in Bewegung, indem sie Bilder in Bewegung versetzt. Aber sie gerät in Bewegung nicht nur deshalb, weil sie auf immer wieder neue Datenerhebungsverfahren, druckgraphische Reproduktiontechniken und spezifisch anatomisch motivierte Bildstrategien zurückgreift, sondern auch und gerade deshalb, weil sie dadurch, daß sie Bilder in Bewegung versetzt, ihre eigenen Bildpraktiken modifizieren, transformieren oder revidieren, ihr eigenes Bildwissen reformulieren und damit nicht zuletzt auch ihr eigenes Wissen über den Bau des menschlichen Körpers differenzieren muß. So gerät, dies wird im folgenden zu konturieren sein, auch die visuelle Kultur der Anatomie in Bewegung, ohne dabei notwendig bei sich selbst zu bleiben, da sie sich stets von neuem auf der Bildfläche ereignet. Dies ist zunächst auf eine allgemeine Beobachtung zurückzuführen, die seit Benjamins, spätestens seit McLuhans medientheoretischen Beiträgen in der Forschung Berücksichtigung findet.90 Zuletzt ist sie noch einmal von Belting auf den Punkt gebracht worden: »Das Schauspiel der Bilder ist in der Abfolge der Medien stets wieder neu eingerichtet worden. Es zwang die Zuschauer dazu, neue Techniken der Wahrnehmung zu erlernen, um auf neue Techniken der Darstellung zu reagieren.« 91 Dabei haben alle in der und von der Anatomie zur Anwendung gebrachten Datenerhebungsverfahren, seien sie manuell oder technisch-apparativ, zumindest in der Chronologie ihrer Implementierung im anatomischen Bildhaushalt Gemeinsamkeiten. Denn die Photographie als das erste technisch-apparative Datenerhebungsverfahren eint mit der Zeichnung als erstem und einzigem manuel-
90. So heißt es bei Benjamin: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.« (W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 14) Diese These Benjamins wurde bekanntlich von McLuhan aufgegriffen und führte diesen zu dessen nicht minder prominenten These, derzufolge das Medium die Botschaft sei. (Vgl. dazu: M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 13-41) 91. H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 32. 255
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len Datenerhebungsverfahren der Umstand, daß beide sich auf ein Präparat beziehen und insofern einer Sektion durch den professionellen Anatomen bedürfen. Die Röntgentechnik als das erste nichtinvasive bildgebende Verfahren eint mit der Photographie, daß beide Bilder generieren, welchen ein indexikalischer Status eignet, und daß beide insofern körperliche Sachverhalte als Verschlußsache eines technischen Objektivs auf der Bildfläche bannen. Die Computertomographie als das erste digitale bildgebende Verfahren eint mit der Röntgentechnik, daß beide als nicht-invasive Datenerhebungstechnologien kein Präparat, also auch keine Sektion durch den professionellen Anatomen und damit zumindest idealiter nicht einmal einen Leichnam voraussetzen, wenngleich die radiologische Datenerhebung am Leichnam durchaus nicht unüblich ist. Das VHP schließlich vereint diverse Qualitäten und Charakteristika aller Datenerhebungsverfahren: Es liegt, wie bei der Zeichnung und der Photographie, ein Präparat vor; es werden mit der Röntgentechnik, der Computertomographie und der Magnetresonanztomographie nicht-invasive Datenerhebungsverfahren eingesetzt; es wird mit der Digitalphotographie, der Computertomographie und der Magnetresonanztomographie ein digitaler Datensatz erhoben. Und selbst wenn das manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung nicht zum Einsatz kommt, eignet der Rekonstruktion des konvergierten digitalen Datensatzes am Bildschirm doch eine ikonische Dimension, welche zeichnerischen Bildqualitäten näher steht als etwa dem indexikalischen Bildstatus der Photographie oder der Röntgentechnik.92 Solche offensichtlichen Gemeinsamkeiten in der Chronologie der Implementierung diverser Datenerhebungsverfahren dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß etwaige Konkurrenzoder Komplementärverhältnisse zwischen ihnen nicht notwendig der Logik dieser Chronologie gehorchen. Für die Röntgentechnik ist die Zeichnung wichtiger als die Photographie; für die Computertomographie ist, obwohl sie auf einer Konvergenz von Röntgen- und Computertechnik basiert, der photographische Gefrierschnitt wichtiger als das Röntgenbild; das VHP läßt sämtliche Datenerhebungstechnologien restlos in sich aufgehen. Auch darf nicht vergessen
92. So hat Mitchell die medientechnischen Koordinaten digitaler Bildmedien folgendermaßen abgesteckt: »the essential characteristic of digital information is that it can be manipulated easily and very rapidly by computer. It is simply a matter of substituting new digits for old […] Computational tools for transforming, combining, altering, and analyzing images are as essential to the digital artist as brushes and pigments to a painter.« (W.J. Mitchell: The Reconfigured Eye, S. 7) 256
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werden, daß diese manuellen oder technisch-apparativen Datenerhebungsverfahren anschließend sowohl einer medientechnischen Transmedialisierung als auch einem bildkulturellen Transferprozeß unterworfen werden. So haben alle in der und von der Anatomie zur Anwendung gebrachten Bilder – seien sie gezeichnet, photographiert, röntgenographiert oder digitalisiert; seien sie analog oder digital produziert; seien sie primär der Dimension des Indexikalischen oder des Ikonischen zuzurechnen – zumindest den Umstand gemeinsam, daß sie mittels druckgraphischer Reproduktionstechniken in die Publikationsform des anatomischen Atlanten transmedialisiert werden. Diese Feststellung trifft unabhängig der Frage zu, ob diese Reproduktionstechniken manuell oder industriell funktionieren und ob es sich dabei um Holzschnitte, Kupferstiche, Lithographien, Lichtdrucke, Autotypien oder um welches Verfahren auch immer handelt. Im anatomischen Atlanten haben alle Bilder die Gemeinsamkeit, daß sie – seien sie auf einer eigenen Bildtafel, welche sich auch von der Papierqualität des Textteils abheben kann, oder ganzseitig auf einer Buchseite oder in dem Fließtext oder wo auch immer präsentiert – dort spezifisch anatomisch motivierten Bildpratiken und Bildstrategien dienstbar gemacht werden. Diese führen zu einer Katalogisierung gemäß Kapiteln, also etwa abhängig davon, ob es sich um eine systematische oder um eine topographische Anatomie handeln soll. Auch erfahren diese Bilder im anatomischen Atlanten eine Verortung einerseits durch die Paginierung der Buchseite – hier erscheinen sie als Elemente der gesamten Publikation und ordnen sich deren Logik unter – und andererseits durch eine dem Bildkatalog inhärente Numerierung, nämlich als Figuren auf Tafeln oder im Fließtext – hier erscheinen sie als autonome Elemente einer fortlaufenden visuellen Mobilmachung und entwickeln dementsprechend eine eigene Logik. Der Atlas stellt also eine Buchseite und die Buchseite stellt eine Bildfläche zur Verfügung. Dazu gehört auch der Bilderrahmen, als welcher entweder die Buchseiten oder die Bildtafeln fungieren. Oder es liegen zusätzlich zu diesen publikationstechnischen Begrenzungen spezifische Rahmen einzelner Bilder vor, welche die jeweilige Bildfläche auf der Buchseite bzw. der Bildtafel noch einmal kennzeichnen. Diese Rahmen der Bilder führen zurück zu Albertis Bildprogramm, denn Albertis frontaler Schnitt durch eine imaginäre Sehpyramide, die Kennzeichnung der zu bezeichnenden Bildfläche und die Definition des Bildes als ›offenem Fenster‹ legen nahe, den Rahmen als Fensterrahmen zu verstehen, welcher den Raum des Betrachters von dem perspektivisch entfalteten Bildraum trennt und somit für übersichtliche und aufgeräumte Bildverhältnisse bürgt. 257
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Dabei fällt auf, daß in anatomisch motivierter Bildgebung das offene Fenster zum Standardprogramm wird, selbst wenn es sich um technisch-apparative Datenerhebungsverfahren handelt und nicht um das manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung, auf welches Alberti sich bezieht. Dies gilt für die Photographie, welche noch mit einiger Berechtigung als technisch-apparativer, einäugiger und augenblicklicher Vollzug des perspektivisch entfalteten Bildraums im Sinne Albertis verhandelt werden kann. Dies gilt weiterhin für die Bildstrategie der sogenannten ›Fensterung‹ in der Computertomographie.93 Und dies gilt auch für die Bildwelten des VHP, welches als Fenster zu unbekannten Körperwelten propagiert wird.94 Diese Metaphorik in dem anatomischen Diskurs über Bilder ganz unterschiedlicher manueller und technisch-apparativer Datenerhebungsverfahren ist auf den ersten Blick einigermaßen erstaunlich. Zumal deshalb, weil schnittbildgebende Verfahren wie die Computertomographie weder einen Bildraum entfalten, noch ein genuin optisches Datenerhebungsverfahren darstellen. Beide Aspekte aber sind für die Metapher des ›offenen Fensters‹ bei Alberti zentral, wenn er die perspectiva naturalis der Optik mit der perspectiva artificialis der Bildkonstruktion kurzschließt. Insofern liegt die Vermutung nahe, daß in diesen Fällen der Berufung auf das Bild als unmittelbarem Durchblick auf körperliche Sachverhalte weniger tatsächlich perspektivische Bildwelten im Vordergrund stehen denn ein perspektivisches Weltbild.95 Gleichwohl hat etwa Manovich in seiner ›Archäologie
93. Zum Begriff des ›window‹ siehe zuerst: G.N. Hounsfield: »Computerized transverse axial scanning (tomography): Part 1«, S. 1019f. Vgl. dazu auch noch einmal: »Will man den gesamten Bereich der möglichen Schwächungswerte wiedergeben, so erhält man ein sehr kontrastarmes Bild. Viele Meßwerte sind in einer Grauoder Farbstufe zusammengefaßt und Details der Messung können nicht bildlich wiedergegeben werden. Daher ist man dazu übergegangen, Teilbereiche der Schwächungswerte auszuwählen und diese in vollem Detail wiederzugeben. Man bedient sich dazu eines sog. Fensters.« (J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. 3) 94. Vgl. dazu die Ausführungen von Spitzer/Whitlock: »For the lay audience it is a window into the unknown.« (V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xi) Auch Waldby kommt zu dem Schluß, das VHP repräsentiere »a new kind of window through which to see the human body.« (C. Waldby: The Visible Human Project, S. 9) 95. Der Begriff des ›Weltbildes‹ läuft freilich weniger darauf hinaus, sich ein Bild von der Welt zu machen, sondern er liegt darin begründet, die Welt als Bild 258
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des Computerbildschirms‹ darauf aufmerksam gemacht, daß der perspektivisch entfaltete Bildraum, wie ihn Alberti in De pictura für das Tafelbild organisiert, durchaus einem ähnlichen Mechanismus unterliegt wie der Bildschirm, nämlich einer distinkten, durch den Rahmen institutionalisierten Trennung von Erfahrungsraum und Bildraum. Insofern, dies die These Manovichs, präfiguriere Albertis Bildbegriff den Bildschirm nicht nur medienhistorisch, sondern das Tafelbild könne bereits selbst im Namen einer Aktualität des Historischen als Bildschirm betrachtet werden.96 Wenn Fenster in anatomisch motivierter Bildgebung einmal keinen unmittelbaren Durchblick gewähren, dann müssen sie auf der Buchseite des anatomischen Atlanten aufgesperrt werden. So ist eine viereckige Rahmung das gängige Bildformat nahezu aller in der Publikationsform des anatomischen Atlanten präsentierten Bilder, und zwar ganz unabhängig von den jeweils zur Anwendung gekommenen Datenerhebungsverfahren. Das viereckig gerahmte Bildformat auf der Buchseite des anatomischen Atlanten ist somit eine auf das traditionelle Tafelbild und die damit verbundene Implementierung von bildmedialen Sehgewohnheiten rekurrierende Entlastungsstrategie anatomisch motivierter Bildgebung. Diese läuft darauf hinaus, das Auge des Betrachters nicht stärker zu belasten, als es mittels diverser Datenerhebungsverfahren und Transmedialisierungen medientechnisch ohnehin schon der Fall ist. So könnte ein Computertomogramm auch rund oder oval oder überhaupt nicht gerahmt sein, doch erscheint es auf dem Bildschirm als durch diesen gerahmtes Bildformat, wird dann vom Bildschirm – dessen Rahmen
zu verhandeln. Vgl. dazu: Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt/Main, S. 75-113. Dort führt er aus: »Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen.« (Ebd., S. 89) Und weiter: »Sobald die Welt zum Bilde wird, begreift sich die Stellung des Menschen als Weltanschauung.« (Ebd., S. 93) Zum ›Technological Frame‹ des VHP anhand von Heideggers Weltbild-Aufsatz vgl. speziell: C. Waldby: The Visible Human Project, S. 27-33. Zum Verhältnis von Perspektivkonstruktion und Weltbild vgl. speziell: G. Boehm: Studien zur Perspektivität, S. 77-86. Zur Metaphorizität des Perspektivischen vgl. auch: J. Elkins: The poetics of perspective, S. 1-44. 96. So führt Manovich aus: »Der Bildschirm in meiner Definition – ein flaches Rechteck, das als Fenster in einen virtuellen Raum fungiert – tritt mit der modernen Malerei in der Renaissance auf.« (Manovich 1995: 134) Demzufolge wurde die Logik des Bildschirms »seit Jahrhunderten zur Darstellung visueller Informationen benutzt – von der Malerei der Renaissance bis zum Kino des 20. Jahrhunderts.« (L. Manovich: »Eine Archäologie des Computerbildschirms«, S. 124) 259
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freilich nicht mehr Gegenstand der photographischen Bildnahme ist – abphotographiert und in den anatomischen Atlanten transmedialisiert. Von daher besteht die Publikationsform des anatomischen Atlanten aus lauter gerahmten offenen Fenstern auf der Buchseite, in welche Bilder immer wieder eingesetzt werden können, wodurch sie austauschbar und vergleichbar gemacht werden. Darüber geben die ›Hinweise für den Leser‹ aus der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977 eindrucksvoll Auskunft. Denn anhand der numerierten Rahmen, deren Anordnung festgelegt ist und für jede Doppelseite im Atlanten Gültigkeit besitzt, wird deutlich, daß der Rahmen jeweils auch eine identifikatorische Funktion innehat. Erst diese gestattet eine kontrastive Lektüre verschiedener Bildformate und ermöglicht eine Standardisierung und Stabilisierung des Bildkatalogs über hunderte von Seiten. Mittels dieser rahmengebenden Strategien versucht die visuelle Kultur der Anatomie, bei sich selbst zu bleiben, was allerdings nachhaltig verdeutlicht, daß sie es nicht tut. Der Bilderrahmen beinhaltet eine grenzziehende und ausschließende Geste, indem er die Bildfläche als solche allererst definiert, sie gegenüber demjenigen Feld, welches nicht als bezeichnete Bildfläche in Betracht kommen soll, privilegiert. Gleichwohl gilt diese einschlägige Beobachtung für Bilder in der Publikationsform des anatomischen Atlanten nur mit Abstrichen. Dies gerade deshalb, weil der Atlas, welcher die bildkulturellen Implikationen der Katalogisierung, Legendierung und Kommentierung von Bildmaterial auf der Buchseite manifest werden läßt, verdeutlicht, daß Bilder nicht einfach vorliegen und auch nicht einfach in Fragen nach ihrem Referenten aufgehen. Vielmehr sind sie in konkrete Bildpraktiken eingebettet, welche den gerahmten Ausschnitt der Bildfläche moderieren und modellieren. Denn neben diesen konkreten Rahmen haben alle in der Publikationsform des anatomischen Atlanten katalogisierten Bilder die Gemeinsamkeit, daß ihnen eine bildkulturelle Rahmung anheimgegeben wird, welche seit der Ausformung der visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert ganz wesentlich und unhintergehbar in der Legende und dem Kommentar besteht. Die Manifestationen des Kommentars in der Publikationsform des antomischen Atlanten aber sind mannigfaltig. So gibt es einen umfangreichen schriftlichen Kommentar in Form eines Fließtextes etwa bei Vesals Fabrica von 1543, Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 und McCrackens Der-3D-Anatomie-Atlas von 1999. Ein auf technische Details des Datenerhebungsverfahrens reduzierter Kommentar, welcher auch schematische Skizzen und weitere Bilder 260
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als visuelle Navigationshilfen umfaßt, liegt in Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder von 1912 oder in Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie von Romrell & co aus dem Jahre 1996 vor. Dazu kommt noch eine Form des Kommentars, welcher kein schriftlicher ist, sondern ein bildlicher Kommentar zu dem im Zentrum des Interesses stehenden Bild, so etwa in der GanzkörperComputer-Tomographie von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977, der Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik von Weir/Abrahams aus dem Jahre 1993 oder dem Atlas of the Visible Human Male von Spitzer/Whitlock aus dem Jahre 1998. Mehr noch als der Kommentar ist es indes die Legende, welche vor Augen führt, daß der Rahmen anatomisch motivierter Bildgebung immer wieder und notwendigerweise durchbrochen und Hand an das Bild angelegt werden muß, da es sonst seiner spezifisch anatomischen Bildfunktion nicht gerecht werden kann. Dabei erweist sich der Zugang zu der Überschreitung des Rahmens von Beginn an als disziplinär geregelt, so daß idealiter nur der professionelle Anatom Hand an das Bild anlegen darf, da nur er im Namen der Anatomie dazu autorisiert ist und nur er die dabei erforderliche Disziplin gewährleisten kann. So fungiert die Legende etwa in Vesals Fabrica von 1543 als demonstrierende, gleichsam demonstrative Geste, welche unterstreicht, daß der in Personalunion sezierende professionelle Anatom sieht, worauf es ankommt, und daß er weiß, was er sieht, daß er mithin sowohl auf der Bühne des anatomischen Theaters als auch auf der Bildfläche des anatomischen Atlanten Wissen über den Bau des menschlichen Körpers zu sehen gibt. Vesal zeigt durch das Bild hindurch auf das Präparat als Referenten anatomisch motivierter Bildgebung und kennzeichnet mit dieser demonstrativen Geste nicht zuletzt die seinem anatomischen Selbstverständnis entsprechende Unhintergehbarkeit sowohl der Sektion des menschlichen Körpers – dies in programmatischer Abgrenzung zu Galen – als auch der autoptischen Wissensformation – dies in programmatischer Abgrenzung zu den Galenisten. In radiologischen Atlanten kann davon, dies soll im folgenden als das entscheidende Moment, als die signifikante Transformation der visuellen Kultur der Anatomie verhandelt werden, überhaupt nicht mehr die Rede sein. So führen Heintz/Huber aus: »Visuelle Darstellungen sind in den Naturwissenschaften nichts Neues […]. Neu ist aber das Ausmaß der Visualisierung und die Technik ihrer Erzeugung. Daten, die früher vom Auge erhoben wurden – wenn auch mit einem Auge, das technisch ›aufgerü-
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stet‹ war –, lassen sich heute durch Geräte aufzeichnen, verarbeiten und anschließend visuell veranschaulichen.«97 Entsprechend diagnostiziert auch Gugerli eine ›Automatisierung des ärztlichen Blicks‹ in der klinischen Diagnostik.98 Dabei ist der Begriff der ›Automatisierung‹ bei Gugerli nicht dem Umstand geschuldet, daß etwa Blicke auf das Präparat trainiert, diszipliniert und standardisiert würden. Es geht hier also nicht um das Thema Autonomisierung und Automatisierung des Blicks. Vielmehr konturiert Gugerli damit den Sachverhalt, daß sich die klinische Diagnostik einer technisch-apparativen Instrumentalisierung des Diagnoseverfahrens verschrieben hat, welche sich ganz wesentlich von den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten, weiterhin auf der autoptischen Wissensformation beruhenden und somit bestenfalls ein Erfahrungsbild ermöglichenden endoskopischen Instrumenten unterscheidet. Ähnlich erklären Schuller/Reiche/Schmidt in ihrem Band zu medizinischer Bildgebung seit dem 19. Jahrhundert: »Die Technologie als Drittes zwischen Erkennendem und Objekt wird zu einer machtvollen Grundfigur der modernen Wissenschaft.«99 Zwar gilt diese Aussage auch für endoskopische Instrumente und auch für die Photographie als erstem technisch-appararativen Datenerhebungsverfahren der Medizin, welches ein Informationsbild generiert. Doch betritt die ›Automatisierung des ärztlichen Blicks‹ in der klinischen Diagnostik erst mit der Röntgentechnik und dann auch mit diversen nicht-invasiven Datenerhebungstechnologien, von denen die Computertomographie eine darstellt, die Bildfläche.100 Und erst mit ihnen spitzt sich in der klinischen Diagnostik
97. B. Heintz/J. Huber: »Der verführerische Blick«, S. 15. 98. Vgl: David Gugerli: »Die Automatisierung des ärztlichen Blicks. (Post)moderne Visualisierungstechniken am menschlichen Körper«, in: http:// www.tg.ethz.ch, gelesen am 13. Dezember 2002. 99. M. Schuller/C. Reiche/G. Schmidt: »Für eine Kulturwissenschaft der Zwischenräume«, S. 13. 100. Vgl. dazu die Ausführungen Lachmunds: »Spätestens mit der Einführung der Röntgenuntersuchung endete das klassische Zeitalter der physikalischen Diagnostik […] Die privilegierte ärztliche Wahrnehmung ist inzwischen wieder auf den Blick übergegangen: nicht auf den Blick, der die Zeichen der Krankheit im äußeren Erscheinungsbild des Patienten aufspürt wie im traditionellen Krankenexamen, und auch nicht auf den Blick in die geöffnete Leiche wie in der pathologischen Anatomie, sondern auf den technisierten Blick, der sein Objekt über Bildplatten, Monitore und graphische Ausdrucke der modernen Diagnosetechnik zu finden sucht.« (J. Lachmund: Der abgehorchte Körper, S. 250) 262
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die Frage ›Observer la nature, ou observer les instruments‹101 zu, von welcher freilich auch die visuelle Kultur der Anatomie nicht unberührt bleibt. Zumal dann nicht, wenn sie nicht-invasive Datenerhebungstechnologien der klinischen Diagnostik mittels Transmedialiserung und Bildtransfer in die Publikationsform des anatomischen Atlanten überführt und damit ihren Bildhaushalt wieder in Bewegung geraten läßt. So ersetzen bildgebende Verfahren den diagnostischen Blick auf den Patienten oder, wenn endoskopische Instrumente zum Einsatz kommen, den diagnostischen Blick in den Patienten. Und sie ersetzen auch denjenigen mit dem Skalpell bewaffneten Blick des professionellen Anatomen auf das Präparat, welcher sich im Namen der autoptischen Wissensformation im 16. Jahrhundert programmatisch ausformt, etwa in Vesals Fabrica von 1543 oder Estiennes Dissection von 1546. Das heißt aber keineswegs, daß die visuelle Kultur der Anatomie durch die Inkorporierung nicht-invasiver, technischapparativer Datenerhebungsverfahren in die Publikationsform des anatomischen Atlanten zu ihrem natürlichen Ende gekommen wäre, zu einem Ende mithin, welches den Blick des professionellen Anatomen angesichts einer totalen, medientechnisch determinierten ›Automatisierung des ärztlichen Blicks‹ mit einem Mal obsolet werden ließe. Vielmehr ereignet sich gerade durch den Akt der Transmedialisierung sowie bildkulturelle Transferprozesse von bildgebenden Verfahren in die Publikationsform des anatomischen Atlanten und damit in den anatomischen Bildhaushalt eine signifikante Transformation der visuellen Kultur der Anatomie. Diese stellt zwar noch immer eine visuelle Kultur dar, dies jedoch unter gänzlich anderen bildmedialen Vorzeichen, zumindest dann, wenn sie sich in radiologischen anatomischen Atlanten manifestiert. Denn wie der Bildtransfer zwischen Diagnostik und Anatomie verdeutlicht hat, werfen bildgebende Verfahren in der klinischen Diagnostik spezifische Probleme auf, welche dazu führen, daß das Pathologische auf der Bildfläche erst dann diagnostiziert werden kann, wenn das Normale im anatomischen Atlanten statuiert worden ist.
101. Trevor Pinch: »Observer la nature ou observer les instruments«, in: Culture technique 14 (1985), S. 88-107. Wenngleich Pinch sich nicht auf medizinische Bildgebung bezieht, definiert er das Ziel seiner Studie folgendermaßen: »explorer la notion d’observation dans les sciences modernes.« (Ebd., S. 90) Und weiter: »L’observation scientifique, en ce qu’elle crée entièrement le contexte de preuve et les instruments en boîte noire, est peut-être la clef qui permet de comprendre le succès et la stabilité de telle ou telle culture noétique (dans la connaissance) au sein de la science.« (Ebd., S. 105) 263
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Dieser Umstand macht klar, daß auch bildgebende Verfahren, welche auf nicht-invasiven Datenerhebungstechnologien beruhen und einer ›Automatisierung des ärztlichen Blicks‹ Vorschub leisten, allererst gelesen werden müssen, um überhaupt eine diagnostische oder anatomische Relevanz zu haben. Zwar ist eine Automatisierung des Datenerhebungsverfahrens auf Kosten der autoptischen Wissensformation am Patienten oder am Präparat auszumachen. Doch befindet sich die Automatisierung der Befundung auf der mittels nicht-invasiver bildgebender Verfahren generierten Bildfläche durch entsprechende Computerprogramme noch in der Entwicklung, so daß von einer etwaigen vollständigen ›Automatisierung des ärztlichen Blicks‹ zunächst einmal kaum die Rede sein kann. Von daher besteht die Transformation der visuellen Kultur der Anatomie durch die Übernahme bildgebender Verfahren aus der klinischen Diagnostik auch weniger darin, daß der Expertenblick des professionellen Anatomen verabschiedet würde. Eher liegt sie darin begründet, daß sich »das geübte Auge«102 vom Präparat auf die Bildfläche verlagert, ein Umstand, welcher sich paradigmatisch in der spezifisch anatomischen Bildstrategie der Legende niederschlägt. Denn der Anatom zeigt nicht, wie Vesal in der Fabrica von 1543 oder Sobotta im Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904, mit der demonstrativen Geste der Legende durch das Bild auf ein Präparat, um dieses zu kommentieren, sondern er zeigt, wie Grashey im Atlas typischer Röntgenbilder von 1912 oder Gambarelli & co in der Ganzkörper-Computer-Tomographie von 1977, auf die Bildfläche, um diese zu kommentieren und damit allererst intelligibel zu gestalten. Körperliche Sachverhalte werden in der radiologischen Anatomie also ausschließlich auf der Bildfläche, nicht auch auf dem Seziertisch verhandelt, denn selbst photographische Gefrierschnitte ordnen sich in Atlanten zur Computertomographie der Logik des Computertomogramms, nicht der Logik des Päparats unter. Insofern findet hier nicht wie in auf dem manuellen Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruhenden Atlanten ein inszenierter Blick auf körperliche Sachverhalte statt, sondern ein Blick auf das auf einem technisch-apparativen, nicht-invasiven Datenerhebungsverfahren beruhende Bild. Die in radiologischen anatomischen Atlanten mittels der Legende realisierte Expertise anatomischen Wissens durch den professionellen Anatomen ist eine Expertise am Informationsbild, da sie dem Datenerhebungsverfahren nachträglich ist. Hinge-
102. R. Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder, S. 2. 264
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gen macht die in traditionellen anatomischen Atlanten mittels der Legende realisierte Expertise anatomischen Wissens eine Expertise durch das Erfahrungsbild aus, welches idealiter bereits gänzlich vorliegendes Wissen verkörpert. Wenn die Legende im traditionellen, auf dem anatomischen Bildzeugnis beruhenden Atlanten die Funktion einer Demonstration innehat – also dahingehend, daß der in Personalunion sezierende, demonstrierende und dozierende professionelle Anatom anzeigt, was es zu sehen gibt –, dann verweist sie im radiologischen anatomischen Atlanten nicht mehr auf das Präparat auf dem Seziertisch, sondern steht ein für einen gänzlich anderen Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation. Es ist nicht mehr wie im perspektivisch entfalteten anatomischen Bildzeugnis der Expertenblick des professionellen Anatomen, welcher das Bild konzipiert und sich in diesem als latent erweist. Stattdessen beschreibt der Anatom das Informationsbild, indem er mittels Legende und Kommentar eine Expertise zu diesem vorlegt. Geht es etwa bei Vesal für den Anatomen darum, den eigenen, im Rahmen der autoptischen Wissensformation eingestellten und gerichteten Blick auf das richtige Präparat bildmedial festzuhalten, so handelt es sich bei dem Einsatz der Photographie in der Anatomie des späten 19. Jahrhunderts darum, körperliche Sachverhalte mit dem Objektiv zu fokussieren und technisch-apparativ aufzuzeichnen. Bei nicht-invasiven bildgebenden Verfahren wie der Röntgentechnik oder der nicht einmal mehr optisch basierten Datenerhebungstechnologie der Computertomographie schließlich muß der Anatom bzw. Radiologe den Blick des Betrachters nicht mehr auf das Bild des richtigen Präparats lenken, sondern auf den körperlichen Sachverhalt auf der Bildfläche des richtigen Bildes. An dieser Stelle kommen spezifisch anatomisches Körperwissen und anatomisch spezifiziertes Bildwissen nahezu zur Deckung, und zwar nicht mehr nur in dem Sinne, daß sich jenes im Bild und durch das Bild manifestiert, sondern vielmehr dahingehend, daß es ohne das Bild gar nicht mehr zu produzieren oder zu organisieren wäre. Lange haben die Anatomen über die Schriften anderer Anatomen geschrieben, so etwa Mondino in seiner Anathomia von 1316 oder Berengario in seinen Commentaria von 1521. Dann haben sie über das geschrieben, was sie gesehen und was sie mittels des anatomischen Bildzeugnisses im Atlanten gezeigt haben. Damit haben sie begonnen, sich Bildwissen anzueignen und auch über Bilder zu schreiben, so etwa Vesal in seiner Fabrica von 1543 oder Sobotta in seinem Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904. Später haben sie damit angefangen, nur noch über Bilder zu schreiben bzw. über ihre Bildlektüre, so etwa Grashey in seinem Atlas typi265
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scher Röntgenbilder von 1912. Schließlich haben sie damit aufgehört, überhaupt noch etwas zu schreiben und haben stattdessen Bilder mit Bildern kommentiert, so etwa Gambarelli & co in ihrer Ganzkörper-Computer-Tomographie von 1977. Wenngleich diese Transformationen der visuellen Kultur der Anatomie keineswegs darauf hinauslaufen, einander in einer chronologischen Fortschrittsgeschichte anatomischen Wissens abzulösen und zu verabschieden, hat sich das Spektrum anatomischer Wissensproduktion und -organisation auf synchroner Ebene doch erheblich erweitert. Auch bleiben diejenigen Elemente, welche im 16. Jahrhundert wesentlich zu der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie geführt haben, von diesen Bewegungen nicht unberührt. Mit demjenigen, was Foucault als ›Geburt der Klinik‹ gekennzeichnet hat, schließt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert das anatomische Theater seine Pforten. Mit dem Aufkommen der Photographie werden, zumindest auf theoretischer Ebene, die Dienste des professionellen Bildproduzenten ersetzbar, wenngleich die anatomische Publikationspraxis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, man denke an Rüdingers Topographisch-chirurgische Anatomie des Menschen von 1878, eine andere Sprache spricht. Nicht zuletzt ermöglicht die Photographie einerseits, nämlich als technisch-apparatives Datenerhebungsverfahren, bereits die Loslösung anatomisch motivierter Bildgebung von der autoptischen Wissensformation, wobei sie andererseits noch ein Präparat und damit eine autoptisch orientierte Sektion am Seziertisch voraussetzt. Mit dem nicht-invasiven, technisch-apparativen Datenerhebungsverfahren der Röntgentechnik sowie später der Computertomographie schließlich tritt die Anatomie ein in einen Bildtransfer mit der klinischen Diagnostik und inkorporiert solche bildgebenden Verfahren in den anatomischen Bildhaushalt, welche weder ein Präparat noch eine autoptische Wissensformation notwendig erscheinen lassen. Wenn das VHP oftmals als Digital Anatomy103 oder als virtuelle Anatomie104 verhandelt wird, dann gilt es zu bedenken, daß Ana-
103. Vgl. dazu: Ch. Lammer: Digital Anatomy. 104. So betont McCracken hinsichtlich des VHP programmatisch: »Das Zeitalter der virtuellen Anatomie ist damit angebrochen.« (Th.O. McCracken: Der 3-D-Anatomie-Atlas, S. 12) In ihrem Beitrag zum VHP aber unterstreicht Cartwright noch einmal grundsätzlich: »It is important to note that, as in any virtual reality system, it is not the simulation that is virtual (or virtually real) in this account, but the experience of the user.« (Lisa Cartwright: »The Real Life of Biomedical Body Images«, in: Ch. Lammer, Digital Anatomy, S. 31-49, hier S. 43) Insofern fungieren bereits die Röntgentechnik und die Computertomographie als Elemente einer virtuellen Anato266
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tomie nicht mit dem VHP virtuell wird, sondern mit der Röntgentechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und sie wird nicht mit dem VHP digital, sondern mit der Computertomographie im späteren 20. Jahrhundert. Diese bildgebenden Verfahren bedürfen keiner Autopsia am Seziertisch mehr, sondern sie führen dazu, daß Anatomie ohne das ihr etymologisch eingeschriebene einschneidende Moment vollzogen wird und insofern mit einiger Berechtigung von einer visuellen Kultur der Anatomie nach der Anatomie, oder besser: einer visuellen Kultur der Anatomie nach dem Anatomischen gesprochen werden kann. Die visuelle Kultur der Anatomie gelangt von der autoptischen Erfahrung am Präparat zur bildmedialen Information auf dem Bildschirm und von dort zur anatomischen Expertise auf der Buchseite des anatomischen Atlanten. Mit der Inkorporierung nicht-invasiver bildgebender Verfahren aus der klinischen Diagnostik in den anatomischen Bildhaushalt bleibt die visuelle Kultur der Anatomie nicht bei sich selbst, sondern sie gerät dadurch, daß sie Bilder medientechnisch und bildkulturell in Bewegung versetzt, schließlich selbst in Bewegung. Was das für anatomisches Wissen, welches spezifisch disziplinär auf Wissen über den Bau des menschlichen Körpers geeicht ist, bedeutet, wird im folgenden anhand bestimmter anatomischer Operationen auf den Bildflächen des anatomischen Atlanten und um diese herum zu untersuchen sein.
4.5 Körper in Bewegung: anatomische Operationen und das Körperwissen der Bildfläche »Die Anatomie des Menschen ändert sich nicht, wohl aber die Möglichkeit, sie darzustellen.«105 »Übereinstimmend wird in den Kulturwissenschaften angenommen, daß trotz der Unhintergehbarkeit der Physis nur der zur Sprache gebrachte Körper zum Bestandteil kulturellen Wissens gehört«106,
mie, welche anatomisches Wissen produzieren, ohne dabei eines Päparats auf dem Seziertisch zu bedürfen. Zur Frage der Virtualität im allgemeinen vgl. etwa die divergierenden Ansätze in: Sibylle Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität, Frankfurt/ Main 1999. 105. J. Weir/P.H. Abrahams: Die Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik, S. 3. 106. V. Borsò: »Der Körper der Schrift«, S. 323. 267
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erklärt Borsò. Damit markiert sie präzise den kleinsten gemeinsamen Nenner all jener Ansätze, welche Lorenz unter der Rubrik der »historischen Körperforschung«107 zusammengefaßt hat. Dabei spielen spezifisch anatomische Körperpraktiken, wie sie sich vor allem seit der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert mannigfaltig manifestieren, traditionell eine bedeutsame Rolle und sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden.108 Weiterhin läßt sich mit einiger Berechtigung die These formulieren, daß der von Virchow 1894 diagnostizierte ›anatomische Gedanke‹ durchaus auch zu einem Leitparadigma der historischen Körperforschung geworden ist. Allerdings wird schon bei Virchow deutlich, daß der ›anatomische Gedanke‹ nicht in einem etwaigen Begriff dessen, was Anatomie sei, aufgeht.109 Insofern handelt es sich bei Virchows Wendung des ›anatomischen Gedankens‹ um einen metaphorischen Gebrauch des Begriffs ›Anatomie‹. Darüber, daß Virchow diesbezüglich weder der erste noch der letzte ist, geben unzählige Publikationen seit der frühen Neuzeit Auskunft, wobei sich nicht zuletzt eine Verschiebung der Bewertung des Anatomischen gerade durch seinen metaphorischen Gebrauch
107. Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000, S. 10. Rheinberger spricht diesbezüglich gar von einem »body turn« (Hans-Jörg Rheinberger: »Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur«, in: ders./Bettina Wahrig-Schmidt/Michael Hagner [Hg.], Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 7-23, hier S. 11). 108. Vgl. dazu etwa: Georges Canguilhem: »L’homme de Vésale dans le monde de Copernic: 1543«, in: ders., Études d’histoire et de philosophie des sciences, Paris 1970, S. 27-35; W. Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper; M. Sonntag: »Die Zerlegung des Mikrokosmos«; Katherine Park: »The Criminal and the Saintly Body: Autopsy and Dissection in Renaissance Italy«, in: Renaissance Quarterly, Volume XLVII, Number 1 (1994), S. 1-33; Reinhard Hildebrandt: »Zum Bilde des Menschen in der Anatomie der Renaissance: Andreae Vesalii De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1543«, in: Annals of Anatomy 178 (1996), S. 375-84; J. Sawday: The body emblazoned; A. Bergmann: »Töten, Opfern, Zergliedern«; David Hillman/Carla Mazzio (Hg.): The Body in Parts. Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe, London, New York 1997; C. Benthien: Haut; Ch. Lammer: Die Puppe; M. Kemp/M. Wallace: Spectacular Bodies; P. Moeschl: »Die Bilder des Körpers«; Karin Stukenbrock: ›Der zerstückte Körper‹. Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800), Stuttgart 2001; K. Krüger: »Mimesis und Fragmentation«. 109. So führt er aus: »Der anatomische Gedanke reicht […] weit hinaus über das pathologisch-anatomische Gebiet.« (R. Virchow: »Morgagni und der anatomische Gedanke«, S. 350) 268
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ausmachen läßt. Auf der einen Seite standen lange solche metaphorischen Wendungen im Vordergrund, welche den Begriff ›Anatomie‹ auf einen der wissenschaftlichen Anatomie beigemessenen Grad an Präzision bei der Beschreibung etwaiger Phänomene zurückführten und eben diese Präzision für die eigenen Beschreibungen und Untersuchungen geltend machen wollten.110 Betrachtet man auf der anderen Seite die wieder zunehmende Metaphorisierung des Anatomischen vor allem in den letzten Jahren, so fällt auf, daß der Anspruch auf tatsächliche oder vermeintliche anatomische Präzision heute scheinbar weniger zentral ist denn spezifische Aspekte einer Körperpolitik. So spricht Foucault von einer »politischen Anatomie des menschlichen Körpers.«111 Diese stützt sich wesentlich auf die der Anatomie entlehnte Methode der Verräumlichung und Verortung des Wissens über den menschlichen Körper und weist diesen damit als Schlachtfeld miteinander um symbolische Macht konkurrierender Diskurse des Wissens aus.112
110. So schon sehr früh die Gedichtsammlung Blasons anatomiques du corps féminin aus dem Jahre 1539 oder Robert Burtons The Anatomy of Melancholy aus dem Jahre 1621. 111. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/Main 2003, S. 135. Auch in Überwachen und Strafen markiert Foucault die »politische ›Anatomie‹« als Gegenstandsbereich historischer Körperforschung und führt dazu weiter aus: »Gemeint wäre damit nicht die Analyse eines Staates als ›Körper‹ (mit seinen Elementen, Energiequellen, Kräften), aber auch nicht die Analyse des Körpers und seiner Umgebung als ›kleiner Staat‹. Zu behandeln wäre der ›politische Körper‹ als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen.« (M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 40) Auf eine gegenläufige Bewegung hat etwa Borsò hingewiesen, wenn sie betont, daß die »Materialität der Körpereinschreibungen Auskunft über indirekte Formen eines ›anderen Wissens‹ über den Körper« (V. Borsò: »Der Körper der Schrift«, S. 323) geben kann. 112. Vgl. dazuvor allem: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek bei Hamburg 2001; Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001. Ferner explizit in Anlehnung an Foucault: François Ewald: »Anatomie et corps politiques«, in: Critique 343 (1975), S. 1228-1265; David Armstrong: Political Anatomy of the Body. Medical Knowledge in Britain in the Twentieth Century, Cambridge 1983; David Armstrong: »Bodies of knowledge. Foucault and the problem of human anatomy«, in: Graham Scambler (Hg.), Sociological theory and medical sociology, London 1987, S. 59-76. Angesichts dessen verwundert es auch kaum, daß gerade ver269
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Verloren gehen dabei aber stets die genuin disziplinären Strategien, Techniken und Praktiken der professionellen Anatomie zur Produktion spezifisch anatomischen Wissens über den Körper, denn der in diesem Kontext nachhaltig betriebenen Metaphorisierung des Anatomiebegriffs eignet ein seltsam statisches Verständnis dessen, was Anatomie sei und wie diese funktioniere. Der steten Aktualisierung der Anatomie als Metapher zur Konturierung etwaiger Phänomene steht mithin ein stets unaktualisierter, scheinbar unveräußerlicher Begriff von Anatomie entgegen, welcher professionelle Anatomie als dasjenige setzt, was metaphorisch gefällig ist. Es ist also durchaus die Frage, von welcher Anatomie jeweils die Rede ist. Gleichwohl treffen sich spezifisch anatomische Körperpraktiken und das Anatomische als Strukturmetapher für Körperpolitik dahingehend, daß anatomisches Wissen allererst Wissen über den Bau des menschlichen Körpers ist.113 Darüber geben auch die Titel zahlreicher anatomisch motivierter Publikationen seit der frühen Neuzeit unmißverständlich Auskunft. So etwa Benedettis Anatomia sive historia corporis humani aus dem Jahre 1502, Vesals De humani corporis fabrica aus dem Jahre 1543, Estiennes De la dissection des parties du corps humain aus dem Jahre 1546 und Valverdes Historia de la composición del cuerpo humano aus dem Jahre 1556; aber eben auch Hasselwanders Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers im Röntgenbild aus dem Jahre 1926, die Ganzkörper-Computer-Tomographie. Ein anatomischer Atlas von Serienschnitten durch den menschlichen Körper von Gambarelli & co aus dem Jahre 1977 oder Der menschliche Körper. Schnittanatomie und Tomographie von Romrell & co aus dem Jahre 1996. Zudem treffen sich spezifisch anatomische Körperpraktiken und das Anatomische als Strukturmetapher
meintlich oder tatsächlich, in jedem Fall aber ausdrücklich nicht-anatomische Momente eines etwaigen Körperlichen Konjunktur haben. Dies etwa in der von Artaud begründeten und vor allem von Deleuze wieder aufgenommenen Rede vom »organlosen Körper« (vgl. etwa: Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation. Band I, München 1995, S. 32 ff.) oder in Ausstellungen wie derjenigen mit dem Titel Anatomically Incorrect, welche im Jahre 2000 im New Yorker Museum of Modern Art stattfand. 113. Diesbezüglich heißt es etwa in der Benninghoff-Anatomie: »Das Ziel der modernen Anatomie und des vorliegenden Lehrbuches besteht darin, die aus dem makroskopischen, mikroskopischen und molekularen Bereich erhaltenen strukturellen Informationen über den Bau des menschlichen Körpers zu einem funktionellen Gesamtbild zusammenzufügen.« (Detlev Drenckhahn/Wolfgang Zenker [Hg.]: Benninghoff Anatomie. Makroskopische Anatomie, Embryologie und Histologie des Menschen. Band 1. 15. Auflage, München, Wien, Baltimore 1994, S. 1) 270
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für Körperpolitik dahingehend, daß anatomisches Wissen einerseits zwar allererst Wissen über den Bau des menschlichen Körpers ist, es gleichsam aber nicht bei sich selbst bleibt, sondern immer schon und immer auch Wissen über dasjenige, was der Mensch je sei oder je zu sein habe, beinhaltet.114 Auch dies zeigt sich – zunächst durchaus unabhängig von der Frage, ob dieses Wissen über den Menschen naturphilosophisch oder anthropologisch motiviert sei115 – anhand einiger Titel einschlägiger anatomischer Atlanten. So etwa in Rüdingers Topographisch-chirurgischer Anatomie des Menschen von 1878, Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904, Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen von 1912, in Die Anatomie des Menschen in der bildgebenden Diagnostik von Weir/Abrahams aus dem Jahre 1993 oder in dem Atlas of the Visible Human Male von Spitzer/Whitlock aus dem Jahre 1998.
114. Deshalb folgert Foucault: »Daher hat die Medizin ihren bestimmenden Platz in der Gesamtarchitektur der Humanwissenschaften: keine von ihnen ist der sie alle tragenden anthropologischen Struktur so nahe wie sie.« (M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 208) 115. So mutmaßt Kamper: »Begriff und Anschauung des Körpers stammen aus der Theologie des toten kruzifizierten Herrenleibs und aus jener Medizin, die ihre fundamentalen Kenntnisse mittels der Leichensektion der Anatomietheater gewonnen hat.« (Dietmar Kamper: »Der Körper als Leiche. Menschenbilder vom Anatomietheater«, in: P. Frieß/S. Witzgall, La Specola, S. 30-37, hier S. 31) Petherbridge spricht von »Dissecting the dead in order to depict the living.« (Deanna Petherbridge: »Art and Anatomy: The Meeting of Text and Image«, in: L. Jordanova/dies., The Quick and the Dead, S. 7-98, hier S. 7) Bei Wolf-Heidegger/Cetto heißt es dazu: »Und auch das gebieterische […] ›Erkenne den Bau deines Körpers‹ […] ist wie eh und je das Leitmotiv anatomischer Präparation am menschlichen Leichnam.« (G. Wolf-Heidegger/A.M. Cetto: Die anatomische Sektion, S. 98) Faßler merkt an: »In wissenschaftlicher Tradition und in Systemen kultureller Selbstbeschreibung […] beschreibt Spiegelung keineswegs ein flüchtiges Ereignis, sondern eine dauerhafte, gesetzmäßige oder ontologische Speicherform, eine Prothese des menschlichen Denkens, einen Katalysator der Welt- oder Selbsterkenntnis. Spiegel ist hierin nicht nur einzelmenschlich gerichtetes, fast delphisches Medium, das die Forderung präsentiert: Erkenne Dich selbst. Spiegel ist als Wahrheitsgenerator zur Schau gestellt.« (Manfred Faßler: »Im künstlichen Gegenüber/Ohne Spiegel leben«, in: ders. [Hg.], Ohne Spiegel leben. Sichtbarkeiten und posthumane Menschenbilder, München 2000, S. 11-120, hier S. 105) Die Antwort des VHP auf die anthropologisch motivierte Frage, was der Mensch sei, läßt sich indirekt folgendermaßen konturieren: »The entire Visible Male archive consists of 1,878 24-bit digitised images of slices, and occupies 15 gigabytes of computer storage space, the equivalent of 23 CD-Roms.« (C. Waldby: The Visible Human Project, S. 14f.) 271
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Dennoch steht hier kein Beitrag zur historischen Körperforschung, zur historischen Anthropologie oder zu dem ›Körperbild als Menschenbild‹116 in Aussicht. Vielmehr geht es aus der Perspektive einer Medienarchäologie anatomischen Wissens um die Frage, wie Anatomie spezifisch anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers auf der Bildfläche des anatomischen Atlanten produziert und organisiert. Dabei wird die These leitend sein, daß anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers weniger zur Sprache gebracht als geradewegs im Bild her- und festgestellt wird. Eine wesentliche Funktion kommt dabei dem anatomischen Körper zu, also demjenigen Körper, welcher Gegenstand anatomischer Körperpraktiken mannigfaltiger Art und somit auch Gegenstand anatomischen Wissens wird. Möglicherweise ist es noch gar nicht ausgemachte Sache, daß der Körper eine Anatomie hat, sondern es stellt sich zuvorderst die Frage, was die Rede vom anatomischen Körper überhaupt begünstigt. Wirft man einen Blick auf Wörterbucheinträge und auf die Etymologie des Begriffs ›Anatomie‹, dann fällt auf, daß ›Anatomie‹ sowohl als Wissenschaft, als Ort der Ausübung dieser Wissenschaft, als Ergebnis dieser Wissenschaft, aber auch als Untersuchungsgegenstand, nämlich als Körperbau verhandelt werden kann.117 In extremis also fallen die Wissenschaft ›Anatomie‹ und deren wesentlicher Untersuchungsgegenstand zusammen und werden deckungsgleich. Dabei leitet sich der Begriff ›Anatomie‹ ab aus dem griechischen Etymon anatémnein mit der deutschen Wortbedeutung ›aufschneiden, zergliedern, sezieren‹. So bezieht er sich auf ein transitives Verb, welches einen Operationsmodus bezeichnet, mittels dessen jemand etwas behandelt. Von daher müßte Anatomie als Wissenschaft verstanden werden, eben jenen Körper intelligibel zu gestalten, welchem die Anatomie, also die Intelligibilität, nicht eigentlich ist. Zumindest in einem engeren etymologischen Sinne hätte der Körper selbst demnach keine Anatomie, sondern er würde sich als ein anatomischer erst dann erweisen, wenn er Gegenstand anatomischer Untersuchungen wird.
116. Vgl. dazu insbesondere: H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 87-113. Dort führt er aus: »Wo immer Menschen im Bilde erscheinen, werden Körper dargestellt. Also haben auch Bilder dieser Art einen metaphorischen Sinn: sie zeigen Körper, aber sie bedeuten Menschen.« (Ebd., S. 87) 117. Vgl. dazu die Etymologie von ›Anatomie‹: »›Lehre von der Zergliederung der Lebewesen sowie von Form und Bau ihrer Organe‹, dann auch ›Körperbau‹, […]. Seit 1800 auch auch ›wissenschaftliches Institut für anatomische Studien‹.« (W. Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch, S. 39) 272
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
In zahlreichen anatomisch motivierten Publikationen der frühen Neuzeit liegen zudem Definitionen dessen vor, was als Anatomie verhandelt werden soll. So bezeichnet Benedetti in der 1502 in Venedig veröffentlichten Anatomia sive historia corporis humani Anatomie als »the history of the human body, which the Greeks call anatomice and we call the dissection of the members.«118 Achillini erklärt in seinen 1520 posthum in Bologna erschienenen Annotationes Anatomicae: »Anatomy is the skillful dissection of the members and is a clarification of those members hidden beneath the surface of the body.«119 Niccolò Massa führt in seinem 1536 in Venedig publizierten Liber Introductorius Anatomiae aus: »I do not think the definition of the word anatomy is necessary since dissection itself seems to be the most important objective, that is, the knowledge which is obtained by cutting. Therefore let me say this much by way of definition: anatomy is the knowledge of the members gained through skillful dissection.«120 Berengario versucht sich in den 1535 in Venedig erschienenen Isagoge Breves in einer etymologischen Herleitung des Begriffs: »according to some this name ›anatomy‹ is derived from the Greek ana-, which in latin means ›upward from below‹, i.e. ›straight‹, and -tomos, which means ›division‹ or ›section‹; in other words, straight through the parts, or a division around the parts, of the body. But a more accurate interpretation of ana- signifies in addition to other things investigation of the separate parts of the body. Thus in the composition of the word, ›temno‹, i.e., ›incido‹, signifies ›I cut‹ into the separate parts to discover what and how many they are. Whatever the reason for using the word in connection with things which have parts, the custom of using it concerning animals and especially concerning man has prevailed.«121 In der Dissection, 1546 in Paris publiziert, kommt Estienne zu folgendem Schluß: »disons/qu’anatomie/est la vraie dissection & division du corps humain/ faite avec raison & bon jugement/en ses parties simples & composées: à ce que par ce moyen la parfaite connaissance de celui nous en puisse demeurer.«122
118. A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 81. 119. Alessandro Achillini: »Anatomical Notes«, in: L.R. Lind, Studies in PreVesalian Anatomy, S. 42-65, hier S. 42. 120. N. Massa: »Introductory Book of Anatomy«, S. 176. 121. J.B. da Carpi: A Short Introduction to Anatomy, S. 37. 122. Ch. Estienne: Dissection, S. 4. 273
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Und Vesal schließlich verhandelt in der Fabrica von 1543 Anatomie als »[…] the nature of the parts into which we normally inquire when dissecting.«123 Wirft man also einen Blick auf frühneuzeitliche Definitionen dessen, was Anatomie sei, dann stehen in der Regel zwei Aspekte im Vordergrund, einerseits nämlich eine vorausgesetzte körpereigene Gliederungsordnung und andererseits deren sachgerechte Zergliederung durch den Anatomen. Diese Auffassung findet ihren paradigmatischen Niederschlag in den Titeln zweier bedeutender frühneuzeitlicher Atlanten, und zwar in Valverdes Historia de la composición del cuerpo humano und Estiennes Dissection des parties du corps humain. Während der Begriff der ›composición‹ auf eine vorausgesetzte körpereigene Gliederungsordnung rückzuverweisen ist, betont der Begriff ›dissection‹ den eingangs erwähnten Akt der sachgerechten Zergliederung. In Anbetracht der Tatsache, daß bloße Oberflächenanatomie, also die Beschreibung des nicht sezierten menschlichen Körpers, in der frühen Neuzeit oftmals schon nicht mehr als eigentliche Anatomie aufgefaßt wird – worüber zum Beispiel Heseler in seinen Notizen zu den anatomischen Lehrstunden von Corti und Vesal 1540 in Bologna Auskunft gibt124 –, bewegt sich das frühneuzeitliche Verständnis dessen, was Anatomie sei und wie sie funktioniere, entscheidend zwischen ›composición‹ und ›dissection‹. Dieses Spannungsverhältnis erweist sich als besonders virulent in dem Titel eines anderen frühneuzeitlichen Atlanten, nämlich Vesals De humani corporis fabrica aus dem Jahre 1543. Für diese gilt: »il faut prendre à la lettre le terme de Fabrica.«125 Diesem Hinweis Canguilhems aus dem Jahre 1970 sind inzwischen verschiedene Beiträge nachgegangen. Diese haben aufgezeigt, daß der Begriff ›fabrica‹ bei Vesal polysemisch verhandelt wird: als Bau des menschlichen Körpers, als Handwerk des professionellen Anatomen und als Baukunst des Schöpfergotts.126 Nicht umsonst versteht sich
123. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. lv. 124. Vgl. dazu noch einmal: »The explanation of the external parts is improperly called anatomy, since only the explanation of the internal parts of the body may properly be called anatomy.« (B. Heseler: Andreas Vesalius’ First Public Anatomy, S. 47) 125. G. Canguilhem: »L’homme de Vésale«, S. 34. 126. Sonntag hat sogar vier Begriffsfelder von ›fabrica‹ ausmachen können, darunter: Bau; Werkstätte; Handwerk, Baukunst; Kunstgriff, List. (Vgl. dazu: M. Sonntag: »Die Zerlegung des Mikrokosmos«, S. 84) Entsprechend führt er aus: »das theatrum anatomicum wird zur Werkstätte, das Anatomieren zum Handwerk, zur Kunst 274
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
die Anatomie in der frühen Neuzeit auch als Lesart der Schöpfungsgeschichte, beispielsweise in der Historia de la composición bei Valverde, dem Anatomen als dem »historien du corps humain«127 in Estiennes Dissection von 1546 oder in der Definition der Anatomie selbst als »the history of the human body«128 in Benedettis Anatomia sive historia corporis humani von 1502. Im folgenden soll jedoch nahegelegt werden, die Anatomie weniger als Lesart der Schöpfungsgeschichte denn als Schöpfung selbst aufzufassen, wodurch sich eine »signifikante Verschiebung vom göttlichen auf den menschlichen Künstler«129 ergibt. Denn das Spannungsverhältnis zwischen vorausgesetzter körpereigener Gliederungsordnung und sachgerechter Zergliederungskunst spiegelt sich bereits in den Begriffen von ›composición‹ und ›dissection‹ wider und pendelt zwischen Zerstörung und Nacherschaffung, zwischen Analyse und Synthese, letztlich also zwischen Defiguration und Refiguration. Dies gilt jedoch nicht nur für die frühneuzeitliche Anatomie, da jede Form von makroskopischer Anatomie, gleich wel-
des Zerlegens, die in enge Korrespondenz zur Kunst des Bauens tritt. So kommen der fabrica im Titel des vesalischen Hauptwerkes drei konvergierende Bedeutungen zu: der kunstvolle Bau des menschlichen Körpers; die göttliche Baukunst, die sich an ihm zeigt; aber auch das Geschick und die Kunstgriffe des Anatomen, der diesen Bau kongenial zerlegen und daran die Geheimnisse des Körpers demonstrieren kann.« (Ebd., S. 85) Zu einem ähnlichen Schluß gelangt Hildebrandt, wenn er nahelegt: »In der fabrica dieses Körpers könnte überhaupt der Gedanke von der Werkstatt der Renaissance, mit dem sich der Entstehungsprozeß von Vesals Werk als Ganzes umschreiben läßt; seine Analogie über den Ort, an dem etwas geschieht, mit dem Körper in Bau und Funktion als lebendes Wesen finden.« (R. Hildebrandt: »Zum Bilde des Menschen in der Anatomie«, S. 377) Auch Pigeaud hat den Begriff der ›fabrica‹ untersucht: »Si l’on fait attention à l’utilisation massive du terme fabrica chez Vésale, les deux utilisations s’y trouvent. Vésale parle continuellement de la fabrica Naturae, et bien entendu, ne serait-ce que dans son titre, de la fabrica humani corporis. Fabrica peut désigner […] à la fois l’atelier et l’objet fabriqué, le résultat d’une fabricatio. Si l’on traduit par mécanisme, par structure, on oublie la valeur essentielle du terme fabrica. Il s’agit d’une oeuvre, qui est le résultat d’une opération, d’une fabrication.« (J. Pigeaud: »Formes et normes«, S. 401) Daraus schlußfolgert sie: »Le corps humain est donc le résultat d’une fabrication, celle de la Nature.« (Ebd., S. 402) Vgl. dazu noch einmal die Ausführungen Hildebrandts: »In der fabrica des menschlichen Körpers wird also ihr faber sichtbar.« (R. Hildebrandt: »Zum Bilde des Menschen in der Anatomie«, S. 377) 127. Ch. Estienne: Dissection, s.a.ii. 128. A. Benedetti: »History of the Human Body«, S. 81. 129. M. Sonntag: »Die Zerlegung des Mikrokosmos«, S. 84. 275
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cher Datenerhebungsverfahren und Bildmedien sie sich bediene, die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem des Körpers aufwirft. Diese Feststellung betrifft auch jene bildgebenden Verfahren, welche als nicht-invasive, also nicht auf einer konkreten Sektion beruhende angeführt worden sind, also etwa die Röntgentechnik und die Computertomographie. Eben jener Konstellation soll mit dem Begriff der ›anatomischen Operationen‹ Rechnung getragen werden. ›Operationen‹ soll hier auf zweierlei verweisen, nämlich zum einen auf den konkreten anatomischen Akt der Operation mit dem Sezierbesteck am Seziertisch, und zum anderen auf ein bestimmtes und zu bestimmendes operatives Moment der Anatomie, also den modus operandi der Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers.130 Der Ausweis solcher anatomischen Operationen soll verdeutlichen, daß es sich bei Anatomie möglicherweise weniger um einen natürlichen Zugriff – rekurriere dieser nun auf die Rekonstruktion der Schöpfungsgeschichte aus naturphilosophischer oder die Objektivierung einer sich selbst verständlichen Natur aus naturwissenschaftlicher Motivation – denn um einen willkürlichen Eingriff in einen körperlichen Sachverhalt handelt. ›Willkürlich‹ ist hier zu verstehen im Sinne des Arbiträren und läuft darauf hinaus, daß es für den jeweiligen anatomischen Eingriff, welcher unveräußerlich auf die Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers abzielt, verschiedene Optionen gibt: Kathederanatomie versus autoptische Wissensformation; topographische versus systematische Anatomie; manuelle versus technisch-apparative Datenerhebungsverfahren; invasive versus nichtinvasive Datenerhebungsverfahren usf. Dabei steht im folgenden vor allem die Frage im Vordergrund, wo sich diese anatomischen Operationen derart manifestieren, daß sie überhaupt als bedeutsam und bedeutungsstiftend für die jeweilige Ausformung des anatomischen Körpers aufgefaßt werden können, ob sich also der anatomische Körper vor, während oder nach der Sektion, am Seziertisch oder auf der Bildfläche, im anatomischen Theater oder im anatomischen Atlanten ereignet. In Hinblick auf das der Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers inhärente Spannungsverhältnis zwischen körpereigener Gliederungsordnung und
130. Vgl. dazu die Ausführungen Canguilhems: »[…] concevoir la connaissance comme une opération et non plus comme une contemplation.« (G. Canguilhem: »L’homme de Vésale«, S. 32) Und weiter: »la connaissance anatomique est rendue opérative par Vésale.« (Ebd., S. 32) 276
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sachgerechter Zergliederung und auch in Hinblick auf das sich daraus unmittelbar ableitende Problem von Kohärenz und Reversibilität zwischen dem Ganzen und den Teilen des Körpers wird schließlich zu prüfen sein, »in welchem Verhältnis physische Eingriffe in den Körper und symbolische Zerteilungsverfahren zueinander stehen.«131 Dieses Verhältnis zwischen der Sektion von Körpern auf dem Seziertisch und weiteren Momenten der De- und Refiguration auf der Bildfläche veranschaulicht beispielhaft das Schema, welches Spitzer/Whitlock in ihrem Atlas of the Visible Human Male von 1998 anführen und welches das Konzept des ›Reverse engineering of the human body‹ verkörpert (Abb 16). Hier zeigt sich, daß ein etwaiger anatomischer Körper im Rahmen des VHP in einer aus sechs Schritten – ›Section‹, ›Segmentation and Classification‹, ›3D Feature Extract‹, ›3D Model Construction‹, ›Whole Body Integration‹, ›Reassembly‹ – bestehenden Kreisbewegung aufgehoben ist, welche sich ausschließlich auf dem Bildschirm manifestiert. Zunächst aber, dies wurde bereits diskutiert, wurde ein Körper geröntgt, computerund magnetresonanztomographiert, daraufhin schockgefroren, mit einem Cromacrotom seziert und digitalphotographisch erfaßt. Dieser durch unterschiedliche Datenerhebungsverfahren gewährleisteten totalen visuellen Mobilmachung folgt mittels diverser Datenkonfigurationen und diverser Datenrekonfigurationen die Auformung eines anatomischen Körpers, und zwar auf dem Bildschirm, auf welchem er immer wieder defiguriert und refiguriert, gedreht und gewendet und mannigfaltig manipuliert werden kann. Zu diesem ›reverse engineering‹, welches ein wesentliches Moment des VHP darstellt, bemerken Spitzer/Whitlock in ihrem Atlas of the Visible Human Male: »We now have a renewable cadaver […]. Not only can we dissect it, we can put it back together again and start all over.«132 Das ›reverse engineering‹ spielt auch in dem 1999 erschienenen, gleichfalls auf dem digitalen Datensatz des VHP beruhenden 3D-Anatomie-Atlas eine bedeutende Rolle, wenn McCrakken bezüglich des Verhältnisses zwischen systematischer und topographischer Anatomie ausführt:
131. Claudia Benthien/Christoph Wulf: »Einleitung. Zur kulturellen Anatomie der Körperteile«, in: dies., Körperteile, S. 9-26, hier S. 16. 132. V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xix. Weiter führen sie aus: »The pieces we present can be reassembled in sections, just the brain, for example, or as a complete unit. It is what we like to call reverse engineering.« (Ebd., S. xii) 277
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»Dieser Anatomie-Atlas kann dank dieser Abbildungen etwas leisten, was es bisher im Printmedium noch nicht gegeben hat: Er bringt sowohl eine systematische als auch eine topographische Anatomie, die aus derselben physischen Grundlage erarbeitet wurden.«133 Weiterhin erlaubt das ›reverse engineering‹ die Präsentation von Bildfolgen, welche entweder einem defigurativen oder einem refigurativen Akt entsprechen, den Körper auf Bildschirm oder Bildfläche also entweder auseinandernehmen oder zusammensetzen oder eben auseinandernehmen und zusammensetzen usf. Dafür lassen sich in Der 3D-Anatomie-Atlas vielfältige Beispiele finden, etwa eine defigurative Bildsequenz vom Kopf, welche McCracken folgendermaßen kommentiert: »Durch die Entfernung einer Schicht nach der anderen werden die Lagebeziehungen der einzelnen anatomischen Details untereinander erkennbar.«134 Gleichwohl kennzeichnet auch McCracken, welcher ja einen anatomischen Atlanten mit CD-ROM zum VHP publiziert, einen seiner Ansicht nach wesentlichen Unterschied zwischen der Buchseite eines anatomischen Atlanten und der Bildfläche eines Bildschirms. An diesem lasse sich das ›reverse engineering‹ interaktiv operationalisieren: »Im Gegensatz zum konventionellen Unterricht, bei dem das Umblättern einer Seite den Übergang zum nächsten Thema darstellt, ist die virtuelle Anatomie nicht linear.«135 Diese hier scheinbar vorausgesetzte und unhintergehbare Linearität der Publikationsform des anatomischen Atlanten aber ist, wie im folgenden ausgewiesen werden soll, keineswegs eine ausgemachte Sache. Richtig ist, daß der anatomische Atlas, welcher Bilder medientechnisch transmedialisiert und bildkulturelle Transferprozesse vollzieht, diejenige Lektürepraxis von Bildern, welche er selbst verkörpert, indem er Bilder im Rahmen einer Bildlogistik katalogisiert, legendiert und kommentiert, auch nahelegt. Richtig ist aber auch, daß die Publikationsform des anatomischen Atlanten seit der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert mannigfaltige Bildlektüren erlaubt, welche zumindest nicht notwendig in einer linearen Lektürepraxis aufgehen müssen. Dieser Umstand hat sich bereits bei der Diskussion eines spezifisch anatomisch motivierten Bildbegriffs, welcher in der frühen Neuzeit vom anatomischen Bildzeugnis verkörpert wird, angedeutet. Hier sei etwa
133. Th.O. McCracken: Der 3-D-Anatomie-Atlas, S. 20. 134. Ebd., S. 29. 135. Ebd., S. 28. 278
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verwiesen auf Eustachios Bildtafel XV zu Lungen, Zwerchfell und Herz, welche sechs Figuren in unterschiedlicher Ansicht und in unterschiedlichen Stadien der Zergliederung präsentiert (Abb. 8). Ähnlich verhält es sich auch in Vesals Figuren zu den Muskeln der Zunge in Buch II der Fabrica, welche im Original auf zwei Buchseiten angeordnet sind und gleichermaßen verschiedene Ansichten des Präparats offenbaren (Abb. 9). Von daher gilt es im folgenden zu zeigen, daß bestimmte und möglicherweise auch wesentliche Aspekte des ›reverse engineering‹ schon in frühneuzeitlichen anatomischen Atlanten wenn nicht medientechnisch, so doch zumindest bildkulturell präfiguriert sind. Diese Überlegung läßt sich etwa an einer Bildtafel aus dem Kapitel 49 aus Buch II der Fabrica konturieren, welche Figuren zu dem männlichen Becken präsentiert (Abb. 23). Diese Bildtafel umfaßt vier Figuren (1-4), welche stillebenartig auf einem Podest niedergelegt sind: (1) zeigt einen Unterleib mit gespreizten Schenkeln, von welchen Haut, Nerven und Blutbahnen entfernt worden sind sowie in der Mitte einen unpräparierten Penis; (2) zeigt die bloßgelegten Beckenknochen sowie »the muscles of the anus and penis«136; (3) zeigt einen transversalen Schnitt durch den abgetrennten Penis; (4) zeigt den Penis zusammen mit der Harnröhre und der Harnblase. Es fällt zunächst auf, daß hier keine logische Zergliederung aufgezeigt wird. Die Numerierung der Figuren erscheint anatomisch nicht stimmig, da der abgetrennte Penis in Figur 3 in der folgenden Figur 4 wieder angefügt worden ist. Auch die aus der Anordnung der Figuren sich ergebende Bildlektüre erweist sich auf den ersten Blick als ungewohnt. Denn der Betrachter muß seinen Blick von der oberen Stufe auf die untere, dann wieder nach links auf die obere und schließlich geradewegs von der linken oberen auf die linke untere Stufe schweifen lassen, wenn er der Numerierung der Figuren Folge leisten will. Was im anatomischen Sinne und aufgrund der Numerierung der Figuren aber als nicht unbedingt sinnvoll erscheint, führt auf der anderen Seite zu stabilen Bildverhältnissen und einer ausgeglichenen Anordnung der einzelnen Figuren, so daß diese Tafel vor allem graphisch kompakt angeordnet ist. Aber es läßt sich diese Bildtafel auch einer anderen, anatomisch plausibleren Lektüre zugänglich machen, indem man den Blick im Uhrzeigersinn kreisen läßt und somit zu folgender Figurenreihenfolge gelangt: 1, 2, 4, 3. Diese Lektüre fokussiert dann den Penis als Zielpunkt der dargestellten Zergliederung, was aber eben-
136. A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body II, S. 383. 279
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falls im vesalianischen Sinne ist, da Vesal selbst angibt, diese im Kontext des Muskelsystems angesiedelte Tafel sei relevant auch für weitere Abschnitte der Fabrica.137 Dies gilt insbesondere für Buch V. Von daher handelt es sich bei dieser Tafel, anders als bei den meisten anderen aus Buch II, auch nicht nur um einen Beitrag zur systematisch erfaßten Muskelanatomie, sondern auch um einen zu einer topographischen Anatomie. Nimmt man also den Penis als Zielpunkt der Zergliederung, dann fällt auf, daß dieser schrittweise fokussiert wird, wobei Figur 4 noch eine weitere Sichtbarkeitsgrenze, welche sich bei Figur 1 auftut, überschreitet, indem sie die Harnblase ans Licht befördert. An dem abgetrennten Penis in Figur 3 werden mittels der Legende bestimmte Teile demonstriert, welche schon in den Figuren 1 und 2 aufgeführt, dort aber weniger zentral sind, nämlich Vorhaut und Eichel unter D, die beiden Schwellkörper unter A bzw. B sowie die Harnröhre unter G – daß auch diese auf der Höhe des Schaftes ein schwacher Schwellkörper ist, führt Vesal hier nicht an. Der Penis ist jedoch nicht einfach bloß ab- oder durch-, sondern gleichsam auch ausgeschnitten, und zwar insofern, als er schnittweise dekontextualisiert wird und schließlich als isoliertes Körperteil erscheint. Liest man die Figuren aber nicht in der Reihenfolge 1, 2, 4 und 3, sondern genau im umgekehrten Uhrzeigersinn, so läßt sich der Penis schrittweise rekontextualisieren: 3, 4, 2, 1. Zunächst also wird der Penis wieder an Harnröhre und Harnblase angeschlossen, daraufhin wird diese im Becken versenkt und dieses wiederum von den Muskeln verpackt. Während die Figuren 1, 2 und 4 Körperteile anzeigen, welche je einer weiteren Zergliederung zugänglich gemacht werden können oder sollen, stellt Figur 3 dahingehend ein Endstadium dar: Der Penis ist ausgeschnitten, präpariert und demonstriert. Alles, was man an ihm zeigen kann oder will, ist gezeigt. Er wird nicht mehr Gegenstand des mit dem Skalpell bewaffneten anatomischen Blicks sein und in seiner hier dargestellten, gewissermaßen ganzen, ganz fragmentarischen Form bestehen bleiben. Das Präparat ist komplett fragmentarisiert, und es ist in dieser fragmentarisierten Form komplett. Diesen komplett fragmentarischen Status zeitigt auch jenes Verfahren, welches Estienne in der Dissection im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der architekturalen Ausformung des anatomischen Theaters beschreibt:
137. Vgl. dazu: »The table on the previous page comprises four numbered figures; it will be found relevant not only to this chapter but to several others as well.« (Ebd., S. 382) 280
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»Au surplus s’il est métier proposer particulièrement quelque chose tirée hors du corps/comme pourrait être le coeur/la matrice/& autres semblables: nous entendons que lesdites parties soient portées par les degrés du théâtre & montrées à un chacun pour plus grande évidence.«138 Hier ist also von solchen auf den Zuschauerrängen herumzureichenden Körperteilen die Rede, die offenkundig nicht mehr und nicht weiter zergliedert werden sollen oder können, so daß sie aus dem praktisch-anatomischen Aktionsradius, welchen der professionelle Anatom am Seziertisch mit Blick und Skalpell beschreibt, entlassen werden können. Ist dieses Präparat auf den Rängen herumgereicht und begutachtet worden, wird es entsorgt und geht gewissermaßen den Weg allen Fleisches. Dies aber unterscheidet den Vorschlag Estiennes von jener Strategie anatomischer Operationen, welche sich in der Tafel zum männlichen Genitalbereich aus Buch II der Fabrica manifestiert. Denn hier, wo die Reihenfolge der Demonstration auf der Bildfläche nicht derjenigen der Sektion am Seziertisch entspricht, finden schnittweise Zergliederung und schrittweise Eingliederung gleichermaßen auf der Bildfläche statt und können immer wieder neu in beiden Richtungen vollzogen werden. So kann ein konservierendes Moment anatomischer Operationen festgestellt werden, welches die ›composición‹ des menschlichen Körpers durch die ›dissection‹ allererst bedingt und nachhaltig festigt. Während in diesem Fall der anatomische Atlas eine Buchseite zur Verfügung stellt, die Buchseite eine Bildtafel und diese Bildtafel vier Figuren, liegen in frühneuzeitlichen anatomischen Atlanten auch Serien von Bildzeugnissen vor, deren Serialität nur durch das Umblättern im Atlanten selbst zur Entfaltung kommt und damit Bildflächen auf Buchseiten umfaßt, deren Beziehung zueinander sich erst durch einschlägige Bildlektüren ergibt. Das sicherlich herausragende Beispiel dafür liefern die berühmten Ganzkörperdarstellungen zum Muskelsystem aus Buch II der Fabrica von 1543 (Abb. 7). Buch II der Fabrica enthält 16 Tafeln zur Darstellung des Muskelsystems. Von den 16 Tafeln sind 14 (I-XIV) Ganzkörperdarstellungen des männlichen Körpers, während zwei (XV + XVI) den Unterschenkel bzw. das Bein fokussieren. Sieben der 14 Ganzkörperdarstellungen (I, III, IV, V, VI, VII, VIII) zeigen eine Vorderansicht, sechs (IX, X, XI, XII, XIII, XIV) zeigen eine Rückenansicht, eine (II) zeigt eine Seitenansicht. Aus der Numerierung der Bildtafeln ergibt sich zunächst eine lineare Bildlektüre, nämlich zum
138. Ch. Estienne: Dissection, S. 374. 281
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einen Muskelmänner, welche in Vorderansicht, also frontal, defiguriert werden: I, (II), III-VIII; und zum anderen Muskelmänner, welche in Rückenansicht, also dorsal, defiguriert werden: IX-XIV. Vesal selbst aber regt eine alternative Bildlektüre an, indem er angibt, jeder Tafel mit einer Vorderansicht entspreche eine Tafel mit einer Rückenansicht: »Each table showing a frontal view has a corresponding one showing a rear view.«139 Nach Vesal sieht diese defigurative Bildlektüre mit Muskelmännern in Vorderansicht und Rückenansicht mithin folgendermaßen aus: III, IX, IV, X, V, XI, VI, XII, VII, XIII, VIII, XIV. Es fehlen in dieser alternativen Bildlektüre nach Vesal also Tafeln I und II. Bei Tafel II verwundert dies nur bedingt, da sie eine Seitenansicht zeigt. Tafel I aber zeigt eine Vorderansicht, ohne eine ihr entsprechende Rückenansicht aufweisen zu können. Dies liegt daran, daß Vesal selbst die Tafeln I und II nicht unbedingt als Beginn der Darstellung von Vorderansichten, sondern gewissermaßen als Einleitung in das gesamte Kapitel zum Muskelsystem ansieht. Wie bereits angeführt, erklärt er diesbezüglich: »The first and second ones show nothing which we have not every day seen erudite painters and sculptors portray in muscular and, as I may say, thickset figures.«140 Bezüglich Tafel I und II führt Vesal weiter aus: »I had intended to leave this table and the following one free of symbols so that they should be less cluttered for study.«141 Tafel III hingegen sei die erste spezifisch anatomische Tafel zum Muskelsystem, und erst mit dieser beginne die professionelle anatomische Defiguration des menschlichen Körpers: »Table III is actually the first one which we had prepared for teaching purposes.«142 Insofern gibt es nach vesalianischem Selbstverständnis je sechs Tafeln von spezifisch anatomischer Relevanz für die Vorderansicht (III-VIII) und die Rückenansicht (IX-XIV), während die Tafeln I und II dazu dienen, den nicht professionellen, nicht über einen Expertenblick verfügenden Leser an den Stoff heranzuführen. Das anatomische Allgemeinwissen, welches sich in den Tafeln I und II artikuliert und welches Vesal durch künstlerische Arbeiten bereits als bekannt und somit standardisiert voraussetzt, erfährt ab Tafel III eine Vertiefung, welche den ungeübten, nicht professionellen Blick herausfordert: »However, the membranes ap-
139. 140. 141. 142.
A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body II, S. 1. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. 282
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parent in the face and neck of the third table and also the muscular fibers depicted, are more inclined to trouble the painter, the sculptor and the molder, to whose pursuits I wish to be of benefit.«143 Diese Aussage ist, wie bereits diskutiert wurde, interessant in zweierlei Hinsicht. Denn zum einen verhehlt Vesal hier die Tatsache, daß auch diese Bildtafel von einem professionellen Bildproduzenten, seinerzeit zweifelsohne einem Künstler, angefertigt worden ist. Zum anderen ist damit nahegelegt, daß es auch eine künstlerische Tradition anatomischer Operationen gibt. Dies wird insbesondere deutlich, wenn Vesal unterscheidet zwischen Tafel I und Tafel III und dabei ganz wesentlich sowohl künstlerisches Bildwissen als auch künstlerisches Körperwissen mit in Betracht zieht. Tatsächlich hat, auch dies wurde bereits angeführt, Alberti schon 1435 in De pictura ein anatomisches Dreistufenmodell angeregt. Von anatomischer Relevanz sind bei diesem vor allem Skelettund Muskelstudien. Dabei geht es dem Künstler darum, in anatomischen Studienblättern oder Traktaten dasjenige anatomische Wissen über den menschlichen Körper zu vermitteln, welches nötig ist, um beispielsweise einen Akt visuell plausibel darzustellen. Entscheidend sind hier also nicht die Modi der Defiguration, sondern diejenigen der Refiguration: Der Künstler soll lernen, aus Skelettund Muskelstudien einen ganzen Körper zu bilden. Eine beispielhafte Verwirklichung erfährt dieses albertinische Dreistufenmodell durch Alessandro Alloris Beinstudie aus dem 16. Jahrhundert (Abb. 24). Dieser refigurativen Dimension anatomischer Operationen kann auch in der Fabrica Rechnung getragen werden, indem man die Muskelmänner in Rückenansicht und Vorderansicht (XIV, VIII, XIII, VII, XII, VI, XI, V, X, IV, IX, III), die Muskelmänner in Rückenansicht (XIV-IX) oder die Muskelmänner in Vorderansicht (VIII-III, II, I) einer refigurativen Bildlektüre zugänglich macht. Dabei fehlen hier sowohl der Akt als auch das bloße Skelett, so daß allein anhand der Tafeln zum Muskelsystem aus Buch II der Fabrica das künstlerische Dreistufenmodell im Sinne Albertis oder Alloris144 nicht befriedigend eingelöst werden kann. Vesal aber hat die Gliederung der Fabrica ausdrücklich gemäß dem galenischen Vorbild angelegt.145 Ausgangspunkt des der
143. Ebd. 144. Allori etwa führt zu den Knochen aus, sie seien »il fondamento nella fabricca de’corpi umani e parimente in tutti gli animale, così siano il fondamento de’ nostri studii.« (A. Allori: Il primo libro, S. 1947) 145. So führt er aus: »In determining the order of these books I have fol283
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galenischen Anatomie zugrundeliegenden Körperverständnisses ist das Knochensystem, welches Galen in Buch II von De anatomicis administrationibus als das Fundament des Körperbaus ausweist.146 So auch Vesal, welcher das Knochensystem in Buch I und das Muskelsystem in Buch II abhandelt. Dies unterscheidet die – in medizinischer Terminologie – eher systematische Anatomie Vesals von der eher topographischen Anatomie in der Tradition Mondinos. Da es sich deshalb in den Augen Vesals anbietet, über ein präpariertes Skelett für verschiedene Demonstrationszwecke im Rahmen des anatomischen Unterrichtes zu verfügen, liefert er in Buch I der Fabrica eine detaillierte Anleitung zur Anfertigung eines solchen.147 Dies hat offenkundig zwei Gründe. Zum einen wird das Knochensystem zwar als Fundament des menschlichen Körperbaus aufgefaßt, ist in der Zergliederungslogik aber derjenige Teil des Körpers, welcher als letzter präpariert und demonstriert wird. Zum anderen ist es so möglich, schon während der Zergliederung Rückverweise auf das noch nicht Zergliederte vornehmen zu können. Dies erlaubt auch die Fabrica. Sie erlaubt aber noch mehr, denn sie erlaubt einerseits dem Medizinstudenten oder dem professionellen Anatomen die Zergliederung eines einzigen Körpers auf der Bildfläche, und sie erlaubt dem Künstler wenn nicht einen tieferen, so doch einen vielschichtigeren Einblick in den Bau des menschlichen Körpers als das albertinische Dreistufenmodell. So wird anhand dieser mannigfaltigen Querverweise und Bildlektüren deutlich, daß die Fabrica selbst dazu einlädt, anatomische Operationen auf verschiedenen Ebenen durchzuführen. Um noch einmal auf McCrackens These zurückzukommen, der traditionelle anatomische Atlas funktioniere notwendig und ausschließlich in linearer Bildlektüre, läßt sich feststellen, daß in der Publikationsform des anatomischen Atlanten Buchseiten nicht nur umgeblättert werden, also von der ersten bis zur letzten Seite der Paginierung gefolgt wird. Vielmehr wird auch hin- und her-, vor- und zurückgeblättert, und zwar von einer Buchseite zu anderen Buchseiten, von einer Bildfläche zu anderen Bildflächen, von einer Figur zu
lowed Galen’s instructions; his view was that the account of the muscles should be followed by the anatomy of the veins, arteries, nerves and lastly the viscera.« (A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. lv) 146. So erklärt Galen: »Since, therefore, the form of the body is assimilated to the bones, and the nature of the other parts follows them, I would have you first gain an exact experience of human bones.« (zitiert nach: A. Cunningham: The Anatomical Renaisance, S. 27) 147. Vgl. dazu: A.Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. 370ff. 284
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anderen Figuren und nicht zuletzt freilich von Bildern zu Legenden und Kommentaren und wieder zurück. Damit lassen sich zunächst zwei wesentliche Strategien anatomischer Operationen unterscheiden, nämlich eine fragmentarische und eine quasi vestignomische. Die fragmentarische Strategie stellt den Körper in Stücken dar, liegt im Ausschneiden begründet und zeigt sich beispielhaft in der Isolierung von Körperteilen, so etwa in der Bildtafel zum männlichen Becken aus Buch II der Fabrica. Die vestignomische Strategie hingegen stellt den Körper in Hüllen dar, liegt im Abschneiden bzw. Abziehen begründet und zeitigt in ganz besonderem Maße die prominente Bildfolge von Tafeln zum Muskelsystem in Buch II der Fabrica. Anatomische Operationen zwischen Defiguration und Refiguration auf allen Ebenen legen aber auch Schnittbilder nahe. Diese tomographische Strategie stellt den Körper in Scheiben dar, liegt im Durchschneiden begründet und zeigt sich beispielhaft in anatomischen Atlanten zu bildgebenden Verfahren wie Computertomographie und Magnetresonanztomographie. Selbst wenn sich diese tomographische Strategie erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen bildgebender Verfahren durchsetzt, so ist sie, freilich mit Abstrichen, schon in jener anatomisch motivierten Bildgebung angelegt, welche sich auf das manuelle Datenerhebungsverfahren der Zeichnung beruft, also etwa bei Casserio oder Joessel. Einigermaßen nachdrücklich verdeutlicht Leonardos Beinstudie das Funktionsprinzip anatomischer Operationen, wenn sie sich tomographischer Strategien bedienen (Abb. 14). So präsentiert Leonardo in seiner Studie ein nicht präpariertes Bein, auf welchem die jeweiligen transversalen Schnittebenen, welche in den beiden anderen Skizzen veranschaulicht werden, gekennzeichnet sind. Von den sieben Schnitten, die Leonardo an dem nicht präparierten Bein ansetzt, werden in der mittleren Skizze eine und in der linken Skizze zwei als Schnittbilder angeführt, wobei das zweite Schnittbild von oben eine zunehmende Präzisierung erfährt und schließlich noch einmal isoliert der Betrachtung anheimgegeben wird. Dabei ist eine Legende auszumachen, welche die entsprechenden Körperpartien ausdrücklich ausweist. Dieses Beispiel führt vor Augen, daß auch tomographische Strategien im Rahmen anatomischer Operationen nur dann funktionieren, wenn die Schnittebene des entsprechenden Schnittbildes am ganzen Körper markiert wird, so daß eine schrittweise Eingliederung des Schnittbildes in visuell plausible körperliche Zusammenhänge ermöglicht wird. Tatsächlich nämlich funktioniert Leonardos Studie genau andersherum, das heißt, er geht von einem mit einer Legende versehenen Schnittbild aus, welches daraufhin schrittweise auf den ihm 285
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zugrundeliegenden körperlichen Sachverhalt eines ganzen, nicht präparierten Beines zurückgeführt wird. Auffällig ist, daß sich auch anatomische Atlanten zu schnittbildgebenden Verfahren wie etwa der Computertomographie ähnlicher Strategien bedienen, wenn es darum geht, das jeweils im Zentrum des Interesses stehende Schnittbild zu verorten. Dazu gehört, darauf ist bereits nachdrücklich hingewiesen worden, neben der unumgänglichen schematischen Skizze, welche die Schnittebene kennzeichnet, auch die ›anatomische Nullstellung‹ (Abb. 21), welche den ganzen Körper in ein Koordinatensystem von möglichen Schnittebenen transversaler, frontaler und sagittaler Art transformiert. Auch anhand tomographischer Strategien zeigt sich also, daß im Rahmen anatomischer Operationen der Körper auf der Bildfläche immer wieder und auch wechselseitig Akten der De- und Refiguration unterworfen werden kann. Durch anatomische Operationen erweist sich der anatomische Körper mithin als ein perpetuum mobile auf der Bildfläche, genauer: als ein perpetuum mobile auf jenen Bildflächen, welche der anatomische Atlas schon seit der frühen Neuzeit auf seinen Buchseiten zur Verfügung stellt. Dabei ist das Konzept des ›reverse engineering‹ von dem Augenblick, wo der Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation sich der Bildfläche verpflichtet, ein wesentliches Funktionsprinzip anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers. Damit gilt jene von Dällenbach/Hart Nibbrig aufgestellte Regel für das Verhältnis von Teil und Ganzen, von Ganzem und Teil auch für den Phänomenbereich anatomischer Operationen: »das Fragment, ob es sich von der Totalität abstößt oder auf sie integrativ bezieht, ist von ihr unabhängig nicht zu denken.«148 Zweifelsohne ist dem konkreten anatomischen Eingriff zwar ein Körper vorgängig, doch kann dieser kaum als anatomischer Körper bezeichnet werden, zumindest nicht im Sinne eines spezifisch disziplinär autorisierten anatomischen Körpers. Der anatomische Körper indes entsteht erst durch die an diesem Körper sichtbar gemachten und gezeigten Teile, ist diesen somit nachträglich. Somit findet in der Anatomie eine Doppelbewegung statt: einerseits von einem vorgestellten Ganzen zu tatsächlich ausgemachten, durchaus
148. Lucien Dällenbach/Christian L. Hart Nibbrig: »Fragmentarisches Vorwort«, in: dies. (Hg.), Fragment und Totalität, Frankfurt/Main 1984, S. 7-17, hier S. 14. Dällenbach/Hart Nibbrig unterscheiden weiterhin zwischen drei Spielarten des Verhältnisses zwischen Fragment und Totalität, nämlich einem reversiblen, demjenigen des pars pro toto und einem autarken. (Vgl. dazu: ebd.) 286
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unterschiedlich ausfallenden Teilen, und andererseits von diesen Teilen zu einem dann dargestellten Ganzen. Diesbezüglich haben Benthien/Wulf treffend ausgeführt: »Ebenso wenig wie ›den‹ Körper gibt es ›die‹ Körperteile. Sie sind nur in der jeweiligen kulturellen Klassifikation und der (imaginären) Bezugnahme auf ein Ganzes existent.«149 Ein ganzer Körper wird also hergestellt durch die Feststellung seiner Teile – und die Teile werden hergestellt durch die Feststellung ihres ganzen Körpers. Es ist dies nicht nur zu verstehen als Absage an Totalitätskonzepte des Körpers, welche dessen durch die Feststellung seiner Teile erst hergestellte Integralität zu naturalisieren versuchen. Gleichsam fragwürdig werden nämlich auch solche Körperkonzepte, welche die durch die Feststellung ihres Ganzen erst hergestellten Körperteile zu naturalisieren versuchen und welche, ausgehend von Lacans Begriff des »zerstückelten Körpers«150, allzu eindringlich nur den sogenannten ›Mythos des Ganzen Körpers‹151 zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht haben. So hat Butler auf Lacans Annahme, der ganze Körper sei dem zerstückelten Körper nachträglich, gekontert: »Wie ist dieser Körper zerstückelt worden und zerteilt worden? Einen Sinn für ein Bruchstück oder Teil zu haben bedeutet, von vornherein einen Sinn für das Ganze, zu dem sie gehören, zu haben.«152 Von daher ist es nicht nur angesichts dessen, was bislang als anatomische Operationen und ›reverse engineering‹ verhandelt wurde, einigermaßen erstaunlich, daß gerade Vesals 1543 in Basel erschienene Fabrica bei Benthien/Wulf zum Auslöser eines Para-
149. C. Benthien/Ch. Wulf: »Zur kulturellen Anatomie der Körperteile«, S. 17. 150. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, in: ders., Schriften 1, Olten 1973, S. 61-70, hier S. 67. 151. Vgl. dazu: Sigrid Schade: »Der Mythos des ›Ganzen Körpers‹. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte«, in: Ilsebill Barta u.a. (Hg.), Frauen Bilder Männer Mythen, Berlin 1987, S. 239-257. 152. Judith Butler: Körper von Gewicht, Frankfurt/Main, S. 121. Vgl. dazu auch folgende Feststellung Wenners: »Das Phantasma der Zerstückelung hat gewissermaßen seine phantasmatische Wirkung nicht verfehlt, wenn es – im Gegensatz zum Phantasma der Ganzheit des menschlichen Körpers – nicht weiter auf seine bildende Funktion befragt wird.« (Stefanie Wenner: »Ganzer oder zerstückelter Körper. Über die Reversibilität von Körperbildern«, in: C. Benthien/Ch. Wulf, Körperteile, S. 361-380, hier S. 377) 287
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digmenwechsels in der Vorstellung vom ganzen Körper und seinen Teilen bzw. von den Teilen und ihrem ganzen Körper gerät: »Die Modernität der anatomischen Methode, wie sie für die Medizin und die Kunst gleichermaßen gilt, liegt seit Vesalius in ihrem Fokus auf dem Fragment (im Gegensatz zur Totalität) […] der fragmentarische Status des Körpers oder Körperteils gilt fortan als irreversibel.«153 Doch dieser fragmentarische Status des Körpers ist nur zu denken, wenn auch ein totaler Status des Körpers gedacht werden kann. Wenn aber dieser ohne jenen und jener ohne diesen in der Anatomie nicht zu denken ist, stellt sich die Frage, aus welchen Beweggründen hier auf der Irreversibilität, sei es je rückwärtig vom Ganzen zum Teil oder vom Teil zum Ganzen, beharrt wird. Dies ist indes schon bei Hillman/Mazzio – auf welche sich Benthien/Wulf ausdrücklich beziehen –, der Fall, wenn sie ausführen: »the emergence in early modern culture of what may be called a new aesthetic of the part, which is to say an aesthetic that did not demand or rely upon the reintegration of the part into a predetermined whole.«154 Einen besonderen Stellenwert messen Hillman/Mazzio dabei dem pars pro toto bei, welches ihnen zum Sinnbild frühneuzeitlicher Zergliederungsverfahren überhaupt gerät. Inwiefern ein Teil in der Anatomie überhaupt nur einstehen kann für ein Ganzes, wenn es als Teil eines Ganzen ausgemacht wird, spielt hier offenbar keine Rolle. Diese von Hillman/Mazzio proklamierte neue ›Ästhetik des Teils‹ im Sinne des pars pro toto mag gültig sein als Beschreibungskriterium für bestimmte frühneuzeitliche Phänomene, sie ist es jedoch ganz sicher nicht für das Spannungsverhältnis von vorausgesetzter körpereigener Gliederungsordnung und sachgerechter vollständiger Zergliederung in anatomischen Atlanten – und zwar weder in der frühneuzeitlichen, noch in der modernen, noch in der zeitgenössischen Anatomie. Von einer Irreversibilität von Teil und Ganzem kann in anatomischen Atlanten tatsächlich also überhaupt keine Rede sein. Es verhält sich geradewegs umgekehrt, denn das Prinzip der Reversibi-
153. C. Benthien/Ch. Wulf: »Zur kulturellen Anatomie der Körperteile«, S. 13. 154. David Hillman/Carla Mazzio: »Introduction: Individual Parts«, in: dies. (Hg.), The Body in Parts, S. xi-xxix, hier: xiv. 288
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lität artikuliert sich nicht nur in dem anatomischen Selbstverständnis sowohl der frühen Neuzeit als auch des 19. und 20. Jahrhunderts.155 Vielmehr – dies dürfte deutlich geworden sein – manifestiert sich dieses Prinzip der Reversibilität auch in allen drei vorgestellten Variationen anatomischer Operationen. Die von Wenner aufgeworfene Frage, »[…] wie das Körperbild der Zerstückelung mit dem der Ganzheit korrespondiert, inwiefern also von einer Reversibilität von Körperbildern gesprochen werden kann«156, ist im Zusammenhang mit anatomisch motivierter Bildgebung also von größter Bedeutung. Denn hier erscheint das Teil nur dann als stabil, wenn es in einem reversiblen Bezug zu einem vorgestellten oder dargestellten Ganzen steht, nämlich der ›composición‹ des menschlichen Körpers. So wie es aus dieser durch die ›dissection‹ scheinbar gewonnen ist, kann es auch in diese wieder eingefügt werden. Ist also die Zergliederung schnittweise an ihr Ende gekommen, beginnt schrittweise die Eingliederung der Fragmente in die vorgestellte und darzustellende Gliederungsordnung. Zwar hat Sampson hinsichtlich der frühneuzeitlichen Anatomie zurecht auf folgendes aufmerksam gemacht: »Die mittelalterliche Darstellung der Auflösung des menschlichen Körpers durch die Würmer wird zunehmend durch die menschliche Steuerung seiner Zerlegung in Einzelteile mittels des Skalpells abgelöst. Die Auflösung des Körpers wird zu einem kul-
155. Neben den eingangs geklärten Begriffen der ›fabrica‹ bei Vesal, der ›composición‹ bei Valverde sowie der ›dissection‹ bei Estienne ist hier zunächst auf das Konzept des ›Reverse engineering‹ in Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998 und in McCrackens Der-3D-Anatomie-Atlas von 1999 hinzuweisen. Weiterhin erklärt etwa der Anatom Hyrtl: »[Die Anatomie] zerstört mit den Händen einen vollendeten Bau, um ihn im Geiste wieder aufzuführen, und den Menschen gleichsam nachzuerschaffen.« (zitiert nach: K. Budde: »Der sezierte Tote«, S. 205) In einem einschlägigen Atlanten heißt es: »[…] ist das Ziel der Anatomie immer das gleiche: die Form des lebendigen Körpers zu verstehen. Es ist dies nur möglich durch Auflösung des Ganzen in seine Teile (Analyse) und Wiederaufbau des Ganzen aus seinen Teilen (Synthese).« (Hermann Braus/Curt Elze: Anatomie des Menschen. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Erster Band: Bewegungsapparat. 3. Auflage, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1954, S. 1) Bei Lippert heißt es gar: »In der Anatomie geht es aber primär nicht um das Aufschneiden, sondern um das Zusammenfügen der Teile zu einem funktionsfähigen Ganzen. Wir können dies mit der Berufsbezeichnung ›Schneider‹ vergleichen. Das Zerschneiden des Stoffes ist zwar auch nötig, aber Ziel ist das Zusammennähen zu einem passenden Kleidungsstück.« (H. Lippert: Lehrbuch Anatomie, S. 1) 156. St. Wenner: »Ganzer oder zerstückelter Körper«, S. 361. 289
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turellen, wissenschaftlichen Prozeß, der unter der Herrschaft des Menschen steht […] Die Anatomie gab dem Menschen die Kontrolle über die Fragmentierung des Körpers.«157 Doch geht Anatomie eben nicht restlos in dem Akt der Zergliederung auf. Somit unterscheidet sich das anatomische Präparat grundsätzlich von gleichsam fragmentarischen Körpern wie den mittelalterlichen Darstellungen von verwesenden Kadavern oder dem in der Renaissance einigermaßen modischen antiken Torso. Denn es hat die Zergliederung im Rahmen anatomischer Operationen gleichsam eine konstituierende und eine konservierende Funktion.158 Das anatomische Prinzip der Kohäsion durch Reversibilität funktioniert in den einschlägigen Atlanten mithin folgendermaßen: Die durch die Feststellung des Ganzen hergestellten Teile stabilisieren rückwirkend die Feststellung des Ganzen, und das durch die Feststellung der Teile hergestellte Ganze stabilisiert rückwirkend die Feststellung der Teile. Der anatomische Körper erscheint nur dann als ganzer im Sinne der Vollständigkeit der an ihm präparierten und durch ihn demonstrierten Teile, wenn ein Körper vollständig und sachgerecht zergliedert worden ist. Denn das vorausgesetzte Ganze wird nur durch die dargestellten Teile ersichtlich. Wenn aber beispielsweise die Fabrica alle drei Strategien anatomischer Operationen zur Anwendung bringt, wird deutlich, daß die Logik der sachgerechten Zergliederung eine konventionelle ist, welche ihrerseits die vorausgesetzte körpereigene Gliederungsordnung im Vollzug ihrer Darstellung verhandelt. Konfrontiert wird also die Vorstellung eines Körpers, welcher gemäß seiner eigenen Gliederungsordnung angeordnete Teile hat, mit der Darstellung eines Körpers, welcher gemäß der an ihm vorgenommenen Zergliederung angeordnete Teile hat. Die sich aus der Zergliederung ergebenden und anschaulich gemachten Teile erwei-
157. Philip J. Sampson: »Die Repräsentation des Körpers«, in: Kunstforum International 132 (1995), S. 94-111, hier S. 98. 158. So spricht Serres davon, die Zergliederung sei als eine »konservierende Operation« (Michel Serres: »Zerstückelung«, in: Sabine Schulze [Hg.], Das Fragment – Der Körper in Stücken, Frankfurt/Main, Bern 1990, S. 33-37, hier S. 34) anzusehen. Denn, so Serres weiter: »Die Fragmente sind nicht zerbrechlich: je kleiner sie sind, desto besser widerstehen sie.« (Ebd., S. 37) Die Zergliederung als konservierende Operation in der Anatomie ist demnach zunächst rückzuverweisen auf die Tatsache, daß einer funktional und historisch variablen Gliederungsordnung – also etwa systematische versus topographische Anatomie – stets instrumental und technologisch variable Zergliederungsmöglichkeiten begegnen. 290
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sen sich einerseits als vielgestaltig, stecken andererseits gerade dadurch den Funktionshorizont eines, aber eben nicht nur eines Ganzen ab. So sind sowohl der ganze Körper und seine Teile als auch die Teile und ihr ganzer Körper als dynamische Phänomene aufzufassen, welche sich nach Maßgabe historischer, anatomischer und nicht zuletzt bildmedialer Variablen je unterschiedlich manifestieren. Deshalb kommt Cunningham zu dem Schluß: »Different projects of inquiry – different spectacles – make different bodies visible in anatomy.«159 Dies betrifft allerdings Augenblicke des Anatomischen vor, während und nach der konkreten anatomischen Praxis am Seziertisch. So ist der Körper in der Anatomie stets das Ergebnis einer methodischen Prämisse, welche noch vor dem Eingriff mit dem Skalpell auf die Unterscheidung zwischen topographisch oder systematisch motivierter Anatomie hinausläuft. Besteht das Ziel dieser darin, die Systemhaftigkeit des Baus des menschlichen Körpers durch eine sukzessive Beschreibung zum Beispiel des Knochensystems, des Muskelsystems oder des Nervensystems unter Beweis zu stellen, verhandelt jene den Körper unter regionalen Gesichtspunkten, also etwa den Schädel, die Brusthöhle, die Bauchhöhle und die Extremitäten. In der frühen Neuzeit stellt Vesals Fabrica von 1543 ein Beispiel für eine systematische160, Berengarios Isagoge breves von 1535 ein Beispiel für eine topographische Anatomie161 dar. Diese Unterscheidung läßt sich etwa auch zwischen Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen von 1904 und Rüdingers Topographisch-chirurgischer Anatomie des Menschen von 1878 ausmachen. Systematische und topographische Anatomie führen also un-
159. A. Cunningham: The Anatomical Renaissance, S. 8. Und Boehm merkt diesbezüglich an: »Unterschiedliche Techniken eröffnen differente Sichten auf den gleichen körperlichen Sachverhalt, dienen einer anderen, einer verfeinerten diagnostischen Erkenntnis.« (G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 224) Schließlich betont Waldby »the ways in which the media of anatomical demonstration condition anatomical knowledge and practice.« (C. Waldby: The Visible Human Project, S. 59) 160. Vgl. dazu noch einmal: »In arranging the order of these books I have followed Galen’s instructions; his view was that the account of the muscles should be followed by the anatomy of the veins, arteries, nerves, and lastly the viscera.« (A. Vesalius: On the Fabric of the Human Body I, S. lv) 161. Dort führt er aus: »But we must begin with the body as a whole, as from something that is better known […] You should know that the body is to be divided into four parts: that is, into three prominent cavities and the extremities, that is, hands and feet along with certain other things.« (J.B. da Carpi: A Short Introduction to Anatomy, S. 38) 291
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terschiedliche Gliederungsordnungen des ganzen Körpers auf, welche hernach einer unterschiedlichen Zergliederung zugänglich gemacht werden sollen. Das Spannungsverhältnis zwischen ›composición‹ und ›dissection‹ erweist sich demnach schon als variabel, bevor der erste Schnitt am Körper getätigt worden ist. Mehr noch: Der Körper ist schon zerteilt, bevor er überhaupt auf dem Seziertisch liegt. Weiterhin ist dasjenige, was in der Regel als Objekt bildlicher Repräsentation in der Anatomie aufgefaßt wird, nämlich das Präparat auf dem Seziertisch, niemals ein unbezeichnetes objet trouvé, welches im epistemischen Sinne einfach vorliegt. Vielmehr offenbart sich das Präparat in einem Status, in welchem es als »Gegenstand gewissermaßen seine eigene Darstellung ist.«162 Bereits im Rahmen der Präparation also wird ein Körper dem Bild, das man sich von dem Körper gemacht hat, schnittweise anverwandelt. Anhand frühneuzeitlicher Bildzeugnisse, welche allesamt auf dem Datenerhebungsverfahren der Zeichnung und mithin zumindest idealiter auf der Leichensektion beruhen, diagnostiziert Krüger »eine Verschiebung und Umbesetzung des anatomischen Körperdiskurses in einen Diskurs des Bildes vom Körper, also dessen visueller Disposition unter der medialen Bedingung bildlicher Repräsentation.«163 Boehm stellt angesichts der mannigfaltigen manuellen und technisch-apparativen, invasiven und nicht-invasiven Datenerhebungsverfahren, welche anatomisch motivierter Bildgebung heute zur Verfügung stehen, fest: »Jeder Partikel des menschlichen Körpers läßt sich im Prinzip und bei Bedarf als ein optisches Präparat darstellen.«164 Berücksichtigt man an dieser Stelle auch die Aussage Faßlers: »Bildlichkeit ist gemacht […] Sie ist ein Präparat«165, dann kulminieren in dem Begriff des ›optischen Präparats‹ hinsichtlich anatomisch motivierter Bildgebung in der Publikationsform des anatomischen Atlanten zwei präparatorische Akte. Zum einen nämlich derjenige, welche Körper am Seziertisch und auf der Bildfläche präpariert, und zum anderen derjenige, welche das Bild auf der Buchseite des anatomischen Atlanten präpariert. Gleichwohl, dies dürfte deutlich geworden sein, ist auch das optische Präparat kein statisches Objekt, denn einerseits gerät es selbst in Bewegung, indem es Gegenstand mannigfaltiger Transme-
162. 163. 164. 165.
B. Heintz/J. Huber: »Der verführerische Blick«, S. 13. K. Krüger: »Mimesis und Fragmentation«, S. 174. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 225. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 52. 292
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
dialisierungen und bildkultureller Transferprozesse ist, und andererseits kann der anatomische Körper auf der Bildfläche und zwischen den Bildflächen des anatomischen Atlanten immer wieder neu präpariert werden. Allerdings werden im anatomischen Atlanten ausschließlich sachgerechte anatomische Schnitte demonstriert, wobei diese Schnitte nicht notwendig den realen, am konkreten Körper gemachten Schnitten entsprechen. Vielmehr stellen sie ein auf den Körper projiziertes Schnittmuster in idealisierter Form nach. Somit werden – was sich für nicht-invasive bildgebende Verfahren freilich von selbst versteht – auf der Bildfläche nicht nur oder nicht notwendig am Seziertisch vollzogene Schnitte repräsentiert, sondern auch solche vollzogen, welche dort nicht stattfinden bzw. nicht stattfinden können. Am Seziertisch werden auch Körperteile beschädigt oder zerstört und damit abfällige Reste durch Schnitte produziert.166 Das optische Präparat hingegen geht auf der Bildfläche in der Regel restlos und unversehrt, unblutig und unbeschädigt auf. Eine Ausnahme bildet dabei Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998, welcher, dies wurde ausgeführt, 1878 photographische Gefrierschnitte katalogisiert, gleichzeitig aber auch Bildbeispiele für nicht sachgemäße Schnitte liefert, welche mit dem Cromacrotom am gefrorenen Körper vollzogen worden sind.167 Insgesamt aber kann Boehm bezüglich anatomisch motivierter Bildgebung mit Berechtigung feststellen: »Sie folgen […] einer impliziten Ästhetik, die am Körperlichen alles ›Organische‹ zurückdrängt: Körpersäfte, Gewebe, Fleisch, Haut usw. erscheinen als ein gereinigtes, ein ›cleanes‹ Präparat.«168 Dies verwundert jedoch nicht wirklich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß etwa Wunden oder Blut keine positiven Gegenstände anatomischer Wissensformation sind, son-
166. Dafür gibt es zahlreiche Belege. So betont etwa Canano in seiner Musculorum humani corporis picturata dissectio »wounds inflected by dissection itself« (G.B. Canano: »An Illustrated Dissection of the Muscles«, S. 309). Vgl. dazu die Ausführungen Leonardos: »The completeness of the membranes is broken during the process of investigation of the parts which they enclose […] you cannot attain to any knowledge of the one without confusing and destroying the other.« (Leonardo da Vinci: The notebooks of Leonardo da Vinci. Arranged, rendered into English and introduced by Edward MacCurdy. Volume 1, London 1977, S. 154) 167. Dazu führen Spitzer/Whitlock aus: »The missing images in the Dataset represent anatomy destroyed by the saw.« (V.M. Spitzer/D.G. Whitlock: Atlas of the Visible Human Male, S. xv) 168. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 225. 293
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
dern daß sie deren Negativ darstellen, mithin dasjenige, was nicht sichtbar werden darf, wenn es sich um professionelles anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers handeln soll. Anatomische Operationen erlauben es also, sowohl den Seziertisch als auch die Bildfläche bei der Entfaltung des spezifisch anatomischen Körpers in Betracht zu ziehen und das Verhältnis zwischen Fragment und Totalität in der Rede von dem Ganzen und seinen Teilen sowie den Teilen und ihrem Ganzen als dynamisch aufzufassen. Zudem verdeutlichen sie durch die erst bildmedial gestiftete Reversibilität von Ganzem und Teil, daß die Kohäsion anatomischer Körperbilder nicht trotz, sondern wegen mannigfaltiger Manipulationen auf den Bildflächen des anatomischen Atlanten zustande kommt. Schließlich verhindern sie dadurch eine naive Repräsentationskritik und zeigen den Status anatomisch motivierter Bildgebung als ›Instrument der Erkenntis‹ auf. Diese geht darüber hinaus, ihr vorgängiges anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers bloß zu vermitteln. Zwar geht es hier zuvorderst darum, was Anatomie mit Bildern macht, nicht darum, was sie mit Körpern macht. Indem sie aber ihr Wissen über den Bau des menschlichen Körpers der Bildfläche verschreibt, gestaltet Anatomie, wenn sie etwas mit Bildern und für Bilder macht, auch Körper. Ebenso wie Anatomie Bilder und damit sich selbst als visuelle Kultur in Bewegung bringt, bringt sie auch anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers und damit Körper in Bewegung. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Folgerung, daß der anatomische Körper nur dann festgestellt werden kann, wenn er im anatomischen Atlanten auf und zwischen Bildflächen in Bewegung versetzt wird. Demnach erscheint der anatomische Körper als eine Medienprojektion, wobei es den anatomischen Körper nur im kulturellen Imaginären als Resultat einer totalen visuellen Mobilmachung gibt. Hingegen sollen medial manifeste anatomische Körperbilder den anatomischen Körper zwar repräsentieren, tragen tatsächlich aber zu einer Heterogenität dessen bei, was gemeinhin als ›anatomischer Körper‹ bezeichnet wird. Angesichts dieser bildmedial manifesten Pluralität macht die Rede von dem anatomischen Körper eigentlich kaum noch Sinn, so daß man dem Phänomen vielleicht nur noch im Plural – also: den anatomischen Körpern – gerecht werden kann. Denn trotz des unbestrittenen und unbestreitbaren Funktionierens anatomisch motivierter Bildgebung in medizinischer Ausbildung und klinischer Praxis ist der anatomische Körper nur mehr ein unsichtbarer Referent. Anatomie, welche vielfach als wissenschaftliche Ermächtigung von Körperlichkeit aufgefaßt wird, zeitigt also in gleichem 294
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4. DER ANATOMISCHE ATLAS AUS BILDKULTURELLER PERSPEKTIVE
Maße eine Entzugserscheinung: Der anatomische Körper ist unsichtbar. Das universale anatomische Projekt, diesen sichtbar zu machen, markiert die Leerstelle, die sich als blinder Fleck zwischen unsichtbaren Körpern und sichtbaren Bildern eröffnet. Anhand anatomischer Operationen wird letztlich also auch beschreibbar, warum und auf welche Weise die Anatomie noch immer über jenen Körper im Bilde ist, welcher doch eigentlich kein Bild abgibt.
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) vak 296.p 91249175012
5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
5. Autorität der Bilder – Bilder der Autorität Schlußbetrachtung »Die Zukunft des Wissens ist bildhaft«1, lautet eine mittlerweile gängige Prognose. Doch auch die Vergangenheit des Wissens erweist sich als bildhafter, als dies bislang angenommen wurde. Eine solche vielleicht weniger gängige Diagnose jedenfalls legt die Anatomie nahe, denn anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers artikuliert sich seit der Ausformung einer visuellen Kultur der Anatomie im 16. Jahrhundert nicht nur privilegiert bildhaft, sondern es funktioniert auch privilegiert bildhaft. Da der Modus anatomischer Wissensproduktion und -organisation durch die im 16. Jahrhundert programmatisch gewendete Autopsia ganz wesentlich der Bildfläche verpflichtet ist, erscheint der anatomische Atlas seitdem als das zentrale Publikationsorgan der Anatomie. So stellt er eine Buchseite zur Verfügung, diese eine Bildtafel, diese eine Bildfläche, diese wiederum Figuren. Und zwischen den Buchseiten, zwischen den Bildtafeln, zwischen den Bildflächen und zwischen den Figuren ereignet sich anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers und mithin auch dasjenige, was als anatomischer Körper je abhängig von Datenerhebungsverfahren, Bildstrategien und Bildtransfers festzustellen ist. Mittels mannigfaltiger druckgraphischer Reproduktionstechniken werden Bilder unterschiedlicher, manueller und technisch-apparativer, invasiver und nicht-invasiver, optischer und nicht-optischer Datenerhebungsverfahren in die Publikationsform des anatomischen Atlanten transmedialisiert und somit in den anatomischen Bildhaushalt übernommen. Anatomisches Wissen organisiert sich mithin durch jene Bilder und auf jenen Bildflächen, um welche die Anatomie seit einer programmatisch gewendeten Autopsia, seit der Ausformung eines Expertenblicks, seit der Errichtung anatomischer Theater im 16.
1. So heißt es auf dem Einband von: M. Bickenbach/A. Fliethmann: Korrespondenzen. 297
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Jahrhundert nicht mehr herumkommt. Einerseits also macht Anatomie etwas mit Bildern, indem sie sie produziert, transmedialisiert und transferiert, katalogisiert, legendiert und kommentiert. Andererseits machen Bilder gerade deshalb auch etwas mit Anatomie, was sich in ausgezeichneter Weise anhand der Implementierung nicht-invasiver bildgebender Verfahren wie der Röntgentechnik oder der Computertomographie zeigt. Denn dort besteht das Ziel anatomisch motivierter Bildgebung nicht mehr eigentlich in der Beschreibung des Baus des menschlichen Körpers, sondern in der Beschreibung des Baus des menschlichen Körpers als röntgenographischem oder computertomographischem Vollbild. So wird Anatomie ohne das ihr etymologisch eingeschriebene einschneidende Moment vollzogen bzw. dieses gänzlich vom Seziertisch auf die Bildfläche verlagert. Von daher gilt insbesondere für die radiologische Anatomie: »Die Beurteilungsinstanz sind aber in jedem Fall andere Bilder und nicht eine dem Bild äußere Wirklichkeit.«2 Dem Umstand, daß in wissenschaftlich motivierter Bildgebung ein Bild oftmals notwendig aus einem anderen herrührt und gleichzeitig zu einem wieder anderen führt, trägt auch Latour Rechnung: »Ein isoliertes wissenschaftliches Bild ist bedeutungslos, es beweist nichts, sagt nichts, zeigt nichts, es hat keinen Referenten. Wieso? Weil ein wissenschaftliches Bild […] ein Satz von Instruktionen ist, um ein anderes, weiter hinten in der Kette zu erreichen.«3 Ein solcher Kaskadierungseffekt entlang einer Bilderkette eignet etwa der Präsentation von Computertomogrammen in anatomischen Atlanten, wenn neben dem Computertomogramm Zeichnungen, photographische Gefrierschnitte, plastinierte Körperscheiben, schematische Skizzen oder auch das Koordinatensystem der ›anatomischen Nullstellung‹ einer signifikanten Komplementärlektüre anheimgegeben werden. So nehmen insbesondere in solchen radiologischen Atlanten Bilder unterschiedlicher Formate oftmals die Funktion des Kommentars ein, wodurch Bilder durch Bilder veranschaulicht werden. Dies gilt jedoch nicht nur für nicht-invasive bildgebende Verfahren, sondern läßt sich, wie anhand einschlägiger
2. B. Heintz/J. Huber: »Der verführerische Blick«, S. 24. 3. B. Latour: Iconoclash, S. 67. Latour bezieht sich an dieser Stelle ausdrücklich auf Pinchs Artikel aus dem Jahre 1985, in welchem dieser gleichfalls »une chaîne d’inférences« (T. Pinch: »Observer la nature ou observer les instruments«, S. 91) in wissenschaftlich motivierter Bildgebung diagnostiziert. 298
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5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
anatomischer Operationen auf der Bildfläche ausgeführt wurde, auch bei Bildzeugnissen in frühneuzeitlichen anatomischen Atlanten nachweisen, etwa in den Figuren zu den Muskeln der Zunge aus Vesals Fabrica von 1543. Wenn das Corpus hippocraticum als Eintritt der Medizin in die Schriftkultur aufgefaßt werden kann, dann erscheint die frühneuzeitliche Anatomie als Eintritt der Medizin in eine veritable Bildkultur, welche seitdem nicht zuletzt durch die stete Transmedialisierung und durch den steten Transfer von Bildern in den anatomischen Atlanten funktioniert. Dabei repräsentieren die für die Publikation eines anatomischen Atlanten jeweilig notwendigen Datenerhebungsverfahren und druckgraphischen Reproduktionstechniken auch die medientechnischen Innovationen der modernen Apparatemedizin, wohingegen sich die Funktion der Schrift wenn nicht als statisch, so doch als flexibel immer nur in Hinblick auf zunächst genuin bildmedial bedingte Herausforderungen der Anatomie erweist. Gleichwohl ist anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers, selbst wenn es zuvorderst Wissen durch Bilder darstellt und somit Wissen um Bilder voraussetzt, keineswegs sprachlos.4 So ist in der Publikationsform des anatomischen Atlanten die visuelle Kultur, in welcher anatomisch motiviertes Bildmaterial katalogisiert wird, nicht zuletzt schriftlich präfiguriert. Dieser Umstand manifestiert sich von der institutionalisierenden Autorfunktion über den kompletten paratextuellen Apparat bis hin zum Kommentar und zur Legende. Denn wenn die Anatomie anhand der Publikationsform des anatomischen Atlanten eben jene Bildpraxis, welche dieser selbst verkörpert, und eben jene Bildlektüre, welche dieser selbst vorsieht, implementieren und standardisieren will, dann gehört dazu notwendig ein ganzer Apparat von Legitimationsund Autorisierungsstrategien. Daß Bilder in der Anatomie eine Autorität haben, heißt freilich nicht, daß sie anatomisches Wissen selbst autorisieren würden, denn ihre Autorität in der visuellen Kultur der Anatomie und für die visuelle Kultur der Anatomie geht nicht restlos in der medientechnischen Dimension von Datenerhebungsverfahren und Transmedialisierung auf. Deshalb reicht es auch nicht, bloß die manuellen oder apparativ-technischen Datenerhebungsverfahren zu untersuchen,
4. Vgl. dazu folgende Feststellung Mazzolinis: »It should not be expected that non-verbal communication in science be independent or totally autonomous of verbal communication since the two, at least at a historical level of analysis, seem to have been integrated in various ways in the communicative processes.« (R.G. Mazzolini: »Preface«, S. XI) 299
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sondern gerade der Horizont dessen, was als Bildlogistik medientechnische und bildkulturelle Dimensionen eröffnet, ist zu fokussieren. Entsprechend attestieren etwa Lynch/Woolgar naturwissenschaftlichen und medizinischen visuellen Kulturen ein »naturalistic reading«5 in Hinblick auf die von ihnen zur Anwendung gebrachten Bildmedien. Da die Anatomie heute zu den naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen der Medizin zählt, die visuelle Kultur der Anatomie also medizinisch und naturwissenschaftlich geprägt ist, dürfte dieses Attest durchaus auch an die Anatomie adressiert sein. Dabei entspricht dieses ›naturalistic reading‹, welches Lynch/ Woolgar ausmachen, jener bildkulturell implementierten Lektürepraxis, welche Barthes in seinem Beitrag zur Photographie als studium bezeichnet und von einer alternativen Lektürepraxis, nämlich derjenigen des punctums, unterschieden hat. Dazu führt er aus: »Das studium anerkennen heißt unausweichlich den Intentionen des Photographen begegnen, in Harmonie mit ihnen eintreten, sie billigen oder sie mißbilligen, doch stets sie verstehen, mich mit ihnen beschäftigen, denn Kultur (der das studium entstammt) ist ein zwischen Urhebern und Verbrauchern geschlossener Vertrag.« 6 Gleichwohl liegt ein solcher Vertrag weder rein medientechnisch noch ein für allemal einfach vor, sondern er muß immer wieder bildkulturell ausgehandelt werden. So sind auch bezüglich anatomisch motivierter Bildgebung jene ›soziotechnischen Evidenzen‹7 als bildmediale Praktiken in den Blick zu nehmen, welche allererst dazu beitragen, daß das studium formiert, strukturiert, organisiert und standardisiert werden kann.
5. Michael Lynch/Steve Woolgar: »Preface«, in: dies., Representation in scientific practice, S. vii-x, hier S. vii. 6. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 37. Weiter führt er zum studium aus: »es verweist stets auf eine konventionelle Information.« (Ebd., S. 35) Sowie: »Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht.« (Ebd., S. 60) Von daher ist es das punctum, welches die Lektürepraxis des studiums skandieren und damit destabilisieren kann. Dies freilich nur unter der Voraussetzung, daß eine solche überhaupt ausgemachte Sache ist. Daß diese Unterscheidung von bildmedialen Lektürepraktiken nicht auf das photographische Bild, wie es bei Barthes der Fall ist, beschränkt bleiben muß, liegt auf der Hand. 7. Vgl. dazu: D. Gugerli: »Soziotechnische Evidenzen«. Waldby führt diesbezüglich aus: »Medical imaging tends to rely on a rhetoric of verisimilitude and transparent communication to articulate its trajectories, to present its innovations as gains in accuracy, and its framing practices as gains in transparency.« (C. Waldby: The Visible Human Project, S. 26) 300
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5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
Das heißt letztlich auch, daß anatomisch motivierte Bildgebung zunächst quasi verunmittelbart werden muß, um als unmittelbar erscheinen zu können. Verfolgt man nämlich die Momente der Implementierung und Etablierung diverser Bildmedien in der visuellen Kultur der Anatomie, dann stellt sich durchaus die Frage, ob es sich diesbezüglich nicht anbietet, eher von einer naturalisierenden denn von einer naturalistischen Lektüre zu sprechen. Denn gerade die Krisen in der Geschichte der von der Anatomie in der Publikationsform des anatomischen Atlanten zur Anwendung gebrachten Bildmedien verdeutlichen, daß Bildmedien in der Anatomie gleichermaßen als ›Instrumente der Erkenntnis‹ und als spezifische Erkenntnisprobleme fungiert haben. Dies gilt schon für die Bildzeugnisse in frühneuzeitlichen anatomischen Atlanten wie der Fabrica Vesals von 1543, in welcher es teils mannigfaltiger Strategien wie der Legende oder des Kommentars bedurfte, um überhaupt etwas als körperlichen Sachverhalt anschaulich machen zu können. Dies gilt in sicherlich zunehmendem Maße für nicht-invasive bildgebende Verfahren wie die Röntgentechnik oder die Computertomographie. Deren Anwendung in der Anatomie ist wohl nicht zuletzt dadurch bedingt, daß eine diagnostische Bildfunktion in ärztlich-klinischer Praxis nur kontrastiv durch die spezifisch anatomische Statuierung des Normalen im anatomischen Atlanten einlösbar zu sein scheint. Insofern kann der anatomische Atlas zwar als paradigmatische Verkörperung eines ›naturalistic reading‹ angesehen werden. Doch geht er aus medien- bzw. bildwissenschaftlicher Perspektive gerade in dem Augenblick über dieses hinaus, wo die Implementierung und die Etablierung neuer Bildmedien im anatomischen Atlanten erprobt wird. Dabei nämlich geraten nicht nur scheinbar oder tatsächlich im Atlanten naturalisierte und somit einem ›naturalistic reading‹ anheimgegebene Bilder in den Blick, sondern vielmehr auch die spezifischen Strategien der Gestaltung ihrer Lesbarkeit sowie die prozeduralen Aspekte ihrer Naturalisierung. Gerade hier dürfte sich der anatomische Atlas als Katalysator einer einerseits tradierten und andererseits dynamischen visuellen Kultur der Anatomie erweisen und Bildfunktionen, Bildstrategien und Bildpraktiken manifest werden lassen, welche nicht zuletzt Auskunft über die Autorität der Bilder und die Bilder der Autorität bei der Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers geben. »Sichtbeweise machen Karriere«8, diagnostiziert Faßler. Dabei ist es freilich nicht das Bildmaterial selbst, welches etwas be-
8. M. Faßler: Bildlichkeit, S. 10. 301
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weist, sondern es wird in der und von der visuellen Kultur, in welcher es aufgeführt wird, allererst zu einem Beweisstück gemacht und dann als Beweis verhandelt. Insofern ist ›Karriere‹ hinsichtlich anatomisch motivierter Bildgebung auch durchaus wörtlich zu nehmen als Dienstweg des Bildes in den Atlanten. Hier lassen sich zunächst vielfältige Momente der Standardisierung ausmachen, darunter etwa: die Publikationsform des anatomischen Atlanten; der paratextuelle Apparat des Atlanten; Aspekte der Bildlogistik wie Kapitel, Buchseite, Bildtafel, Figuren; Bildstrategien wie Perspektive und anatomische Operationen; Eingriffe in Datenerhebungsverfahren wie die Disziplinierung des professionellen Bildproduzenten bei der Zeichnung, die standardisierte Einstellung der Röntgenröhre oder die Fensterung bei der Computertomographie; weiterhin die Notwendigkeit, Bilder entweder durch methodische Anleitung etwa in Vorwort und Kommentar oder durch dezidierte Anleitung zur Geräteeinstellung vergleichbar zu gestalten. Daraus ergibt sich zuvorderst die Frage, wer autorisiert ist, im Namen der Anatomie etwas mit Bildern zu machen und Bilder auf eben jenen Dienstweg, auf welchem Sichtbeweise Karriere machen, zu schicken. Schließlich ist anatomisch motivierte Bildgebung nicht automatisch visuell plausibel und verlangt nach einer professionellen Expertise, handele es sich nun um ein Erfahrungsbild als Expertise oder um eine Expertise zum Informationsbild. Alle in der Publikationsform des anatomischen Atlanten katalogisierten Bilder bedürfen einer solchen Expertise mittels Legende und Kommentar – manifestiere sich dieser bildmedial oder schriftlich –, um als Bilder der Autorität bekräftigt werden zu können. Dabei ist eine grundsätzliche Autorität des Bildes in der Anatomie seit der frühen Neuzeit einerseits zwar immer schon vorauszusetzen, doch erscheint diese als von der institutionellen Autorität – verkörpert von der Autorfunktion des professionellen Anatomen – stets zu klärende und somit kontinuierlich klärungs- und erklärungsbedürftige. Dies eint alle in der Anatomie zur Anwendung gebrachten Bildmedien. Bilder haben dort eine Autorität, die sie aber scheinbar nur entfalten und offensichtlich zur Geltung bringen können, wenn sie ihrerseits durch die Expertise des professionellen Anatomen autorisiert werden. Bilder im anatomischen Atlanten funktionieren also nicht trotz, sondern wegen mannigfaltiger manipulativer Eingriffe. Das heißt, sie funktionieren nicht obwohl, sondern weil die Bildfläche selbst präpariert wird. Und so erlaubt anatomisch motivierte Bildgebung einen scheinbar unmittelbaren Durchblick auf körperliche Sachverhalte nur deshalb, weil sich die Spuren eines Durchblicks in die jeweilig katalogisierten Bilder eingeschrieben haben und weil diese somit als bereits durchblickte und also auch immer wieder zu 302
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5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
durchblickende erscheinen. Insofern sind der paratextuelle Apparat, die Legende und der Kommentar Beleg für und Folge von institutionalisierter anatomischer Praxis und leisten eine Verortung der Bilder in genau jener visuellen Kultur der Anatomie, von welcher sie vorgesehen werden und für welche sie vorgesehen sind. Anatomisch motivierte Bildgebung in der Publikationsform des anatomischen Atlanten funktioniert in der visuellen Kultur der Anatomie aus medienarchäologischer Perspektive also notwendig genau entgegengesetzt jener bildmedialen Lektürepraxis, welche Barthes unter dem Begriff des punctums verhandelt. Dazu erklärt er: »ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben.«9 Gerade weil in der Publikationsform des anatomischen Atlanten eine in der visuellen Kultur der Anatomie implementierte Bildpraxis und eine standardisierte, dem studium verpflichtete Bildlektüre manifest sind, wird deutlich, daß anatomisches Wissen über den Bau des menschlichen Körpers auch Wissen durch Bilder und damit Wissen um Bilder darstellt. Und zwar um jene Bilder, welche autorisieren und autorisiert werden, mithin eine Autorität in der Anatomie haben und gleichzeitig Bilder der Anatomie als Autorität sind. Entsprechend erklärt etwa Hall: »In the end, scientific illustrations could only become fully credible by appealing to the contextual authority of institutionalized ›science‹ itself.«10 Ähnlich formulieren es auch Cartwright/Sturken: »Because scientific imagery often comes to us with confident authority behind it […], we often assume it represents objective knowledge.«11 Daraus ableiten läßt sich eine Doppelbewegung. Das Bild wird seit dem 16. Jahrhundert in der visuellen Kultur der Anatomie idealiter mit der Funktion versehen, eine Sachautorität zu repräsentieren, wodurch es eine Autorität in der Anatomie erlangt. Auf der anderen Seite wird das derart von der Anatomie in Gebrauch ge-
9. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 60. 10. B.S. Hall: »The Didactic and the Elegant«, S. 39. 11. L. Cartwright/M. Sturken: Practices of Looking, S. 279. Latour indes kommt diesbezüglich zu einem anderen Schluß: »Gerade weil es so viele Vermittlungen gibt, sind sie in der Lage, so objektiv wahr zu sein.« (Latour 2002: 25) Dies gelingt ihm, indem er den folgenden, repräsentationskritischen Automatismus umkehrt: »Je mehr demonstriert werden kann, daß Menschen am Bild gearbeitet haben, desto schwächer sein Wahrheitsanspruch […] Der Trick, den Trick aufzudecken, besteht immer darin, den ordinären Ursprung des Werks aufzuzeigen, den hinter den Kulissen auf frischer Tat ertappten Manipulator, Heuchler, Betrüger.« (B. Latour: Iconoclash, S. 17) 303
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nommene Bild als spezifisch anatomisches Bild autorisiert, wodurch es die Anatomie disziplinär repräsentieren kann. Somit stehen die Autorität der Bilder und die Bilder der Autorität in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis, welches permanent Evidenzen generiert. Das bedeutet schließlich aber auch, daß anatomisch motiviertes Bildmaterial nur dann als autorisiertes und autorisierendes Moment der Produktion und Organisation anatomischen Wissens über den Bau des menschlichen Körpers geltend gemacht werden kann, wenn es in der Publikationsform des anatomischen Atlanten katalogisiert ist. Also in jenem anatomischen Atlanten, welcher nicht nur die visuelle Kultur, in welcher die Bilder zur Aufführung geraten sollen, verkörpert, sondern welcher auch Lektürepraktiken präfiguriert, standardisiert und reproduziert. Ohne studium, dies ist der unhintergehbare Imperativ der Publikationsform des anatomischen Atlanten, kein spezifisch anatomisches Körperwissen.
Ausblick Anatomisch motivierte Bildgebung ist im Namen einer Medienarchäologie anatomischen Wissens als solche mithin genau dort aufzusuchen, wo sie privilegiert stattfindet, nämlich in der Publikationsform des anatomischen Atlanten. So dürfte es einen erheblichen Unterschied machen, ob eine Bildtafel etwa aus Vesals Fabrica von 1543 auf der Buchseite dieses anatomischen Atlanten oder isoliert in einer Kunstausstellung verhandelt wird.12 Ebenso dürfte es einen erheblichen Unterschied machen, ob eine solche Bildtafel zu einem aktuellen Computertomogramm oder zu aktuellen künstlerischen Arbeiten in Beziehung gesetzt wird.13 Anatomisch motivierte Bildgebung nicht in ihrer genuinen visuellen Kultur aufzusuchen, ist selbstverständlich legitim und in kunsthistorischer Bildpraxis, dies wurde ausgewiesen, nachgerade implizites Programm. Allerdings schreibt man sich dann nicht in einen medizin-, sondern in einen kunsthistorischen Phänomenbereich ein und verschließt damit zweifellos nachhaltig jenen angesichts des eingangs skizzierten Forschungsstandes ohnehin fragilen Problemhorizont, welchen eine
12. So etwa in der Ausstellung Pygmalions Werkstatt, München 2001. Vgl. dazu: Helmut Friedel (Hg.): Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, Köln 2001. 13. So etwa in der Ausstellung Spectacular Bodies, London 2000. Vgl. dazu M. Kemp/M. Wallace: Spectacular Bodies. 304
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5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
Medienarchäologie anatomischen Wissens allererst zu eröffnen versucht hat. Wird anatomisch motivierte Bildgebung indes aus der Publikationsform des anatomischen Atlanten herausgenommen, in andere visuelle Kulturen transferiert und also auch anderen – alternativen, komplementären oder subversiven – Lektürepraktiken anheimgegeben, dann kommt es zu demjenigen, was Boehm als »sekundäre Ästhetisierung«14 kennzeichnet und etwa Jones/Galison unter ›Picturing Science, Producing Art‹15 verhandeln. Diese mannigfaltigen Transferprozesse von Bildern betreffen nicht zuletzt auch die Verfaßtheit der jeweilig beteiligten visuellen Kulturen. Gleichwohl geben sie keinen nachvollziehbaren Anlaß zu Aussagen wie der folgenden: »Wissenschaftliche Bilder sind ›schwache Bilder‹, soweit sie ihren Zweck notwendigerweise außer sich selbst haben.«16 Denn dafür, daß wissenschaftliche Bilder, zu denen zweifelsohne auch der Bereich anatomisch motivierter Bildgebung gehört, schwach sein sollen, machen sie doch erstaunlich viel, und es wird auch erstaunlich viel mit ihnen gemacht. Insofern handelt es sich bei dem Zeugnis, demzufolge wissenschaftliche Bilder notwendig ›schwache Bilder‹ zu sein haben, um ein kunstwissenschaftliches Mißverständnis. Über die Autorität der Bilder in der visuellen Kultur der Anatomie entscheidet sicherlich nicht die Kunstwissenschaft. Diese kann zwar unbestritten kompetent und sogar privilegiert über als Kunst verbuchte oder zu Kunst gemachte Bilder sprechen, ist aber nicht dazu aufgerufen, den Funktionshorizont anatomisch motivierter Bildgebung in der visuellen Kultur der Anatomie ästhetisch zu reformulieren und damit qualitativ zu besetzen. Denn die Autorität des Bildes – davon abhängig seine etwaige Stärke oder Schwäche – liegt nicht einfach vor, sondern sie wird bildkulturell und medientechnisch ausgehandelt. Ebenso wie man einem figurativen Gemälde der Kunst als solchem nicht gerecht
14. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 227. 15. Vgl. dazu: C.A. Jones/P. Galison: »Introduction: Picturing Science, Producing Art«. Dort wird die Frage aufgeworfen: »What are the conditions under which objects become visible in culture, and in what manner are such visibilities characterized as ›science‹ or ›art‹?« (Ebd., S. 1) Dabei gehen sie zurecht von der folgenden Beobachtung aus: »What much of this focus on ›art‹ and ›science‹ as discrete products ignores are the commonalities in the practices that produce them. Both are regimes of knowledge, embedded in, but also constitutive of, the broader cultures they inhabit.« (Ebd., S. 2) 16. G. Boehm: »Zwischen Auge und Hand«, S. 226. 305
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wird, wenn man etwa behauptet, es würde Gegenstände darstellen, die es entweder nicht gibt oder die tatsächlich keinesfalls so aussehen, wird man einem wissenschaftlichen Bild als solchem nicht gerecht, wenn man es mit Maßstäben einer visuellen Kultur mißt, die ihm eigentlich äußerlich sind. Nur weil in der visuellen Kultur dessen, was hier – wenngleich zweifellos historisch und systematisch arg verkürzend – als ›Kunst‹ bezeichnet wurde, seit der frühen Neuzeit, allerspätestens aber seit diversen Avantgardismen des frühen 20. Jahrhunderts Metaikonizität und Selbstreferenzialität zu einem Qualitätskriterium an sich geworden sind17, muß das nicht als Maßstab für Bildlichkeit in einem quasi universalistischen Sinne gelten. Insofern ist einer ästhetischen Kolonisierung anatomisch motivierter Bildwelten durch die Kunstgeschichtsschreibung durchaus Vorschub zu leisten. Hier zeigt sich abermals die Notwendigkeit, den Bildbegriff vom Kunstbegriff zu trennen, ein Desiderat neuerer medien- bzw. bildwissenschaftlicher Forschung, auf welches bereits nachdrücklich hingewiesen wurde. Daß dies nicht immer einfach ist, läßt sich schon an dem Umstand festmachen, daß gerade diejenigen Beiträge, welche sogenannten wissenschaftlichen Bildern das Wort reden, diese gerne als »nonart images«18 oder »nicht-künstlerische Bilder«19 kennzeichnen. Damit wird freilich zumindest implizit der Anspruch einer etwaigen Unhintergehbarkeit künstlerischer Bildbegriffe, und sei es nur in deren Negativität, transportiert. Derartige Begriffsbildungen seitens einer programmatisch wohlmeinenden Kunstwissenschaft gilt es ohne jeden Zweifel in aller Konsequenz zu überdenken. Andererseits hat sich gezeigt, daß ein technikzentrierter, mediendeterministischer Bildbegriff, wie er von bestimmten Filiationen der Medienwissenschaft propagiert wird, zumindest in Hinblick auf anatomisch motivierte Bildgebung nicht tragbar ist. So kann von einer exklusiv medientechnisch determinierten Fortschrittsgeschichte anatomischen Wissens überhaupt keine Rede sein. Denn eine solche Rede bleibt prinzipiell der Voraussetzung verhaftet, die Photographie habe die Zeichnung, die Röntgentechnik die Photographie, die Computertomographie die Röntgentechnik und das
17. Vgl. dazu etwa: W. Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel; V. Stoichita: L’instauration du tableau. 18. J. Elkins: »Art history and images that are not art«, S. 557. 19. Horst Bredekamp: »Bildwissenschaft«, in: Ulrich Pfister (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 56-58, hier S. 56. 306
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5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
VHP die Computertomographie ersetzt. In der visuellen Kultur bereits etablierte Datenerhebungsverfahren werden durch medientechnisch bedingte Innovationen aber nicht einfach verabschiedet und damit schlichtweg obsolet. So dürfte der Einsatz diverser Datenerhebungsverfahren in der Anatomie nicht auf eine bloß medientechnisch bedingte Zunahme an Objektivität zu beschränken und anhand dieses Kriteriums auch nicht angemessen zu beurteilen sein.20 Betrachtet man hingegen das Bild als Funktion von Medientechniken und Kulturpraktiken und den anatomischen Bildhaushalt als Archiv medientechnisch möglicher und kulturspezifisch notwendiger Bilder, dann kommt man zu durchaus anderen Resultaten. Dabei wird deutlich, daß Bilder nur dann aus dem Bildhaushalt der Anatomie verschwinden, wenn sie aus spezifisch bildkulturellen Gründen nicht mehr den jeweiligen Stand des Wissens verkörpern können. Aus spezifisch medientechnischen Gründen aber sind zwar Zugänge von Datenerhebungsverfahren in den anatomischen Bildhaushalt zu verzeichnen, aber es lassen sich keine unmittelbar daraus abzuleitenden Abgänge aus diesem ausmachen. Dies zeigt sich etwa darin, daß das Datenerhebungsverfahren der Zeichnung noch immer ein wesentliches Moment anatomisch motivierter Bildgebung darstellt. Eine chronologisch reduzierte Fortschrittsgeschichte medientechnischer Art in dem Sinne, daß ältere Medientechniken aus dem anatomischen Bildhaushalt herausfallen, läßt sich am ehesten noch an genau jener Stelle ausmachen, an welcher Bilder aus dem Bildhaushalt in den anatomischen Atlanten transmedialisiert wer-
20. Selbst auf Phänomenebene lassen sich diesbezüglich durchaus divergierende Standpunkte ausmachen. So heißt es etwa im Kontext des VHP: »Anatomical atlases have historically consisted of artistic illustrations based on observations from multiple cadaver dissections. More recently, photographic atlases of cadaver dissections have gained favour due to their improved anatomical accuracy and detail […] Much as photographic atlases added a higher degree of accuracy and information, the Visible Human data sets have provided a new level of dimensional and relational information to be realised.« (John P. Kerr u.a.: »Photorealistic volume rendered anatomical atlases and interactive virtual dissections of the dissectable human«, in: http://www.nlm.nih.gov/research/visible/vhp_conf/kerr/nlmpaper.htm, gesehen am 20. September 2001) Hingegen wird andernorts ausgeführt: »Unsere Anatomieunterlagen sollen nicht als Ersatz für die Abbildungen in den klassischen Werken […] betrachtet werden; in dieser Arbeit soll vielmehr die röntgenologische Anatomie, wie sie sich bei der Betrachtung der neuen Tomodensimetrie ergibt, behandelt werden.« (J. Gambarelli u.a.: Ganzkörper-Computer-Tomographie, S. v) 307
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den, also bei druckgraphischen Reproduktionstechniken. So wird in der heutigen visuellen Kultur der Anatomie keine Zeichnung mehr durch Holzschnitte oder Kupferstiche reproduziert; es wird kein Röntgenbild mehr durch die Autotypie reproduziert und dadurch hinsichtlich der Schwächungsverteilung invertiert; und es wird auch kein Computertomogramm mehr vom Bildschirm abphotographiert. Das bedeutet für die Geschichte des anatomischen Bildhaushaltes als Archiv, daß er auf der einen Seite Datenerhebungsverfahren manueller und technisch-apparativer, invasiver und nicht-invasiver, optischer und nicht-optischer Art akkumuliert, auf der anderen Seite aber eine kulturspezifische Differenzierung dieser Datenerhebungsverfahren anhand jeweilig bestimmter Bildfunktionen erfährt. An dieser Stelle schließlich zeigt sich, daß in einer Medienarchäologie weder – wie zumindest tendenziell in der Kunstgeschichtsschreibung – das Medium im Bild unter, noch – wie in exklusiv technikzentrierten Filiationen der Medienwissenschaft – das Bild im Medium aufgeht. Für die Medizingeschichtsschreibung legt eine Medienarchäologie anatomischen Wissens nahe, die medien- bzw. bildwissenschaftliche Herausforderung des ›pictorial turns‹ anzunehmen und zu untersuchen, ob nicht auch andere Bereiche medizinischen Wissens bildhafter funktionieren, als dies bislang angenommen wurde. Andererseits dürfte deutlich geworden sein, daß sich der privilegiert medizinhistorische Phänomenbereich als ein exemplarisches Untersuchungsfeld für medien- und bildwissenschaftliche Fragestellungen erweist. So erlaubt die visuelle Kultur der Anatomie, welche ganz wesentlich auch eine Bildkultur ist, eine Spezifizierung und Differenzierung des medienarchäologischen Konzeptes gerade deshalb, weil sie – ganz im Gegensatz insbesondere zur Kunst – über keine explizite Bildtheorie verfügt und ihr Bildwissen somit nicht programmatisch zur Sprache kommt. Insofern zwingt sie nachgerade dazu, Bild als Funktion von Medientechniken und Kulturpraktiken zu denken, ein Umstand, welcher entscheidend dazu beiträgt, medien- und bildwissenschaftliche Instrumente zu schärfen. Dies liegt auch in der Tatsache begründet, daß sich die medienarchäologische Frage nach der Funktion des Bildes für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens weniger auf ein singuläres Bild in seiner spezifischen Verfaßtheit bezieht, wie dies in der Regel in der Kunstgeschichtsschreibung, in der Ausnahme auch in den Medienwissenschaften der Fall ist. Vielmehr hat hier der Plural der Bilder interessiert und damit der Horizont einer Bildlogistik, welche das Dazwischen der Bilder thematisiert, also den Status von Bildern zwischen Medientechniken und Kulturpraktiken, zwischen Datenerhebung und druckgraphischer Reproduktion, zwischen visuellen 308
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5. AUTORITÄT DER BILDER – BILDER DER AUTORITÄT
Kulturen und zwischen Figur, Bildtafel, Buchseite und anatomischem Atlanten. In diesem Sinne sind aus einer medienarchäologischen Perspektive mannigfaltige Bildpraktiken, welche sich in der Publikationsform des anatomischen Atlanten manifestieren, ausgewiesen worden. Dies führt zu dem Ergebnis, daß anatomisches Wissen nicht nur Wissen über den Bau des menschlichen Körpers ist, sondern daß es auch als Wissen durch Bilder und als Wissen um Bilder, also als Bildwissen verhandelt werden muß. Auf der einen Seite also hat das Bild mit dem Aufkommen einer sich programmatisch auf die Autopsia berufenden Anatomie im 16. Jahrhundert eine Autorität in der visuellen Kultur der Anatomie. Auf der anderen Seite sind die im anatomischen Atlanten katalogisierten Bilder von dem professionellen Anatomen, welcher als Autor des Atlanten und damit als Autor des in diesem verkörperten anatomischen Wissens fungiert, autorisiert. Anatomisch motivierte Bildgebung funktioniert, auch dies wurde bereits ausgewiesen, von daher nicht trotz, sondern wegen der Tatsache, daß Bilder, wenn sie ihren Dienstweg in die privilegierte Publikationsform des anatomischen Atlanten antreten, mannigfaltigen medientechnischen und bildkulturellen Manipulationen unterworfen werden.
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6. MEDIENARCHÄOLOGISCHES NACHSPIEL
6. Medienarchäologisches Nachspiel »Wer hinter oder unter den Bildern, die wissenschaftliche Objektivität hervorbringen, Menschen am Werk sieht […] wird als Bilderstürmer betrachtet. In diesem paradoxen Iconoclash bin auch ich gefangen gewesen: eine neue Wertschätzung für die Bilder der Wissenschaft gilt als Zerstörung der Wissenschaft.«1 Vermutlich liegt es nicht gerade im Ermessen des Verfassers, eine wie auch immer geartete Anatomie zu zerstören. So dürfte die Anatomie überleben. Zumal deshalb, weil die Motivation dieser Untersuchung weder in der Verdammung noch in der Verherrlichung anatomischen Wissens bestand. Vielmehr sollte sie dazu beitragen, der Funktion des Bildes für die Produktion und Organisation anatomischen Wissens seit der frühen Neuzeit Rechnung zu tragen. So bleibt am Ende einer Medienarchäologie anatomischen Wissens jene Frage Latours offen, welche auf Phänomenebene bereits beantwortet ist, auf methodischer Ebene aber durchaus als Aufruf an medien- und bildwissenschaftliche Forschung adressiert werden kann: »Was würde geschehen, wenn durch die Aussage, ein Bild sei von Menschenhand geschaffen, man seinen Wahrheitsanspruch erhöhte, anstatt ihn herabzusetzen?«2
1. B. Latour: Iconoclash, S. 17. 2. Ebd., S. 18. 311
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) T01_06 kapitel.p 91249175100
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) vak 312.p 91249175124
7. BILDANHANG
7. Bildanhang
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Abbildung 1: Titelbild von Vesals Fabrica von 1543
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7. BILDANHANG
Abbildung 2: Frontispiz zu Mondinos Anathomia aus dem Fasciculo di medicina von 1494
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Abbildung 3: Titelblatt von Berengarios Isagoge breves von 1535
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7. BILDANHANG
Abbildung 4: Autorenporträt aus Vesals Fabrica von 1543
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Abbildung 5: Das anatomische Theater in Padua nach Tomasinis Gymnasium Patavinum von 1654
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7. BILDANHANG
Abbildung 6: Muskelmann aus Berengarios Commentaria von 1521
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Abbildung 7: Komponierte Serie aus Vesals Fabrica von 1543
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7. BILDANHANG
Abbildung 8: Bildtafel aus Eustachios Tabulae Anatomicae
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Abbildung 9: Figuren zu den Muskeln der Zunge aus Vesals Fabrica von 1543
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7. BILDANHANG
Abbildung 10: Knochenmann aus Estiennes Dissectione von 1545
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Abbildung 11: Retouchierte Photographie aus Rüdingers Atlas des peripherischen Nervensystems, 9. Lieferung, 1865
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7. BILDANHANG
Abbildung 12: Buchseite aus Sobottas Atlas der deskriptiven Anatomie von 1904
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Abbildung 13: Doppelseite aus Grasheys Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen von 1912
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7. BILDANHANG
Abbildung 14: Tomographische Beinstudie Leonardos
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Abbildung 15: Doppelseite aus der Ganzkörper-ComputerTomographie von Gambarelli & co, 1977
Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science and Business Media
Abbildung 16: Schema aus Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998
Mit freundlicher Genehmigung von Jones and Bartlett Publishers International.
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7. BILDANHANG
Abbildung 17: Photographischer Gefrierschnitt, CT, MRT und Röntgenbild aus Spitzer/ Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998
Mit freundlicher Genehmigung von Jones and Bartlett Publishers International.
Abbildung 18: Bildtafel aus Spitzer/Whitlocks Atlas of the Visible Human Male von 1998
Mit freundlicher Genehmigung von Jones and Bartlett Publishers International.
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Abbildung 19: Bildtafel aus Estiennes Dissectione von 1545
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7. BILDANHANG
Abbildung 20: Bildtafel aus Hasselwanders Atlas der Anatomie des menschlichen Körpers von 1926
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Abbildung 21: ›Anatomische Nullstellung‹ aus der Benninghoff Anatomie von 1994
Mit freundlicher Genehmigung der Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag München
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7. BILDANHANG
Abbildung 22: Buchseite aus der Ganzkörper-Computer-Tomographie von Gambarelli & co, 1977
Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science and Business Media
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ÜBER DEN KÖRPER IM BILDE SEIN
Abbildung 23: Bildtafel aus Vesals Fabrica von 1543
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7. BILDANHANG
Abbildung 24: Beinstudie Alloris aus dem 16. Jahrhundert
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) vak 336.p 91249175140
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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:
Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video Thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen
Andreas Becker, Saskia Reither, Christian Spies (Hg.) Reste Umgang mit einem Randphänomen
Oktober 2005, ca. 350 Seiten, kart., ca. 200 Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-383-6
Oktober 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-307-0
Julia Glesner Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert
Christoph Ernst Essayistische Medienreflexion Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien
Oktober 2005, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-389-5
Oktober 2005, 506 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-376-3
Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht
Markus Buschhaus Über den Körper im Bilde sein Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens
Oktober 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-375-5
Joanna Barck, Petra Löffler u.a. Gesichter des Films Oktober 2005, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-416-6
Christian Schuldt Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« und den frühen Romanen Flann O’Briens
September 2005, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-370-4
Natascha Adamowsky (Hg.) »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet« Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis September 2005, 288 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-352-6
Oktober 2005, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 3-89942-402-6
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2005-08-05 15-28-37 --- Projekt: T370.kumedi.buschhaus.körper / Dokument: FAX ID 00b291249174716|(S. 354-355) anzeige kumedi august 05.p 91249175156
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Andreas Sombroek Eine Poetik des Dazwischen Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge August 2005, 320 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-412-3
Veit Sprenger Despoten auf der Bühne Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze August 2005, 356 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-355-0
Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock August 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-327-5
Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft August 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 50 Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-317-8
Horst Fleig Wim Wenders Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie August 2005, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb. , 27,80 €, ISBN: 3-89942-385-2
F.T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film Juli 2005, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3
Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen Juli 2005, 320 Seiten, kart., 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X
Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform - eine Spurensuche Juli 2005, 234 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5
Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien Juni 2005, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-274-0
Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur Juni 2005, 350 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-343-7
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2005-08-05 15-28-38 --- Projekt: T370.kumedi.buschhaus.körper / Dokument: FAX ID 00b291249174716|(S. 354-355) anzeige kumedi august 05.p 91249175156
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Holger Schulze Heuristik Theorie der intentionalen Werkgenese. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde Mai 2005, 208 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-326-7
Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Aus dem Takt Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur Mai 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-292-9
Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards
Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch, was Geschichte? Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie
Mai 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9
Mai 2005, 380 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-266-X
Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999
Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.) Die Google-Gesellschaft Vom digitalen Wandel des Wissens
Mai 2005, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-344-5
Mai 2005, 410 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-305-4
Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart Mai 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-338-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2005-08-05 15-28-38 --- Projekt: T370.kumedi.buschhaus.körper / Dokument: FAX ID 00b291249174716|(S. 354-355) anzeige kumedi august 05.p 91249175156