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German Pages 320 Year 2016
Gabriel Duttler, Boris Haigis (Hg.) Ultras
Kulturen der Gesellschaft | Band 17
Gabriel Duttler, Boris Haigis (Hg.)
Ultras Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 „Unser ganzes Leben – unser ganzer Stolz“
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 11
DIE LEBENSKULTUR DER ULTRAS Ultras und Werte – ein Interview mit Jan-Henrik Gruszecki
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 57 Die Ultra-Fußballfankultur
Steven Adam | 63 Entwicklung einer Fanszene am Beispiel der Würzburger Kickers – ein Interview mit Marco Bartsch
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 87 Doing Gender und Ultra
Judith von der Heyde | 95 Italien als Wiege der Ultra-Kultur – ein Gespräch mit Kai Tippmann
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 117
ULTRAS UND HIP HOP „Auswärtsfahrt“
Ludger Krol | 129
ULTRAS UND STREETART Ultras und Graffiti – Ein Aufeinandertreffen zweier Subkulturen
Andreas Grün | 157 Ultraaufkleber – Botschaft und Kunst im urbanen Raum?
Patrick Bresemann | 173
Sticker-Kleben und Graffiti – ein Interview mit dem Pressesprecher der Stadt Neuburg an der Donau Bernhard Mahler
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 189
ULTRAS UND IHRE SYMBOLIK „Wenn Du es nicht fühlst, kannst Du es nicht verstehen“ – Fußballfans, Ultras und Tätowierungen
Dirk Hofmeister | 195 Ultra „cool“, ultra hart und ultra männlich
Agnes Trattner | 229
ULTRAS UND PUNK Dat is Punk, dat raffst du nie!
Nils Hüttinger | 249 Punk und der FC St. Pauli – ein Interview mit Sven Brux
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 269
ULTRAS UND POLITIK Ultras und Politik
Claudia Luzar | 287 Ultras als Protestbewegung im internationalen Vergleich – ein Interview mit James M. Dorsey
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 295
ULTRAS UND DROGENKONSUM Subkulturen und Drogenkonsum – ein Interview mit Dr. Roland Härtel-Petri
Gabriel Duttler & Boris Haigis | 305 Autorinnen und Autoren | 317
Vorwort G ABRIEL D UTTLER & B ORIS H AIGIS
Der Fußball ist allgegenwärtig. Täglich hat man die Möglichkeit, Fußballspiele live zu sehen. Pressekonferenzen, Stammtische, sogar Regionalligaspiele – das TV sendet mehr oder weniger rund um die Uhr. Aber nicht nur medial, sondern auch ansonsten ist der Fußball Teil des täglichen Lebens. Rastplätze und UniToiletten mit Klebern von Ultra-Gruppen, aufwendige Graffitis, Tätowierungen, politische Demonstrationen, die Charts – überall finden sich Bezüge zu „König Fußball“. Diese Präsenz im Alltag ist dabei durchaus als Gegenpart zum medial präsentierten Fußball zu verstehen. Reviermarkierungen, Zurschaustellung des Stolzes auf die eigene Gruppe oder den eigenen Verein sind bekannte Motive der Ultra-Szene. Dabei ergeben sich Schnittstellen zu anderen „klassischen“ Szenen einer Stadt. Eben diese Berührungspunkte sind es, die Gegenstand des vorliegenden Bandes sein sollen. Um einige Kritikpunkte vorwegzunehmen: Es ist nachvollziehbar, dass einige Protagonisten entweder gar nicht mit uns sprechen wollten oder aber ein zunächst geäußertes Interesse an einer Mitwirkung an diesem Buch schnell wieder einschlief. Nachvollziehbar deswegen, weil die Ultra-Bewegung in den letzten Jahren negative Erfahrungen mit sog. Fanforschern, aber auch Journalisten und der Polizei gemacht hat. Dennoch ist es uns gelungen, namhafte Kenner der Szene für Beiträge oder Interviews zu gewinnen. Nachvollziehbar auch deswegen, weil niemand gerne ausgeforscht wird. Wer mit großer Keule auf die Ultra-Bewegung einschlägt, tut dies in erster Linie, weil sie ihm nicht geheuer ist und er gewisse Einordnungen nicht vornehmen kann. Mithin steht die menschliche Angst vor dem Unbekannten im Vordergrund. Es ist schlichtweg befremdlich, weshalb V-Leute im Fußballbereich eingesetzt werden – auch nicht unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Ausforschens von rechten Strömungen. Wenn man bedenkt, dass kürzlich der Verfas-
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sungsschutz eine Anfrage zur Überwachung von PEGIDA durch V-Leute ablehnte, wird die Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens gegen Fußballfans noch deutlicher. Auch die Stadionverbotspraxis und der generelle juristische Umgang mit Ultras sind zumindest zu hinterfragen. Es mag auch an der Unterbezahlung von Journalisten liegen, dass Polizeiberichte medial ungefragt übernommen werden und die Möglichkeit einer umfangreichen Recherche durch die Schnelllebigkeit der neuen Medien vielleicht gar nicht möglich, unter Umständen sogar gar nicht gewollt ist. Auch ist es durchaus positiv, dass in Zeiten von Facebook und NSA Fan-Gruppen gegensteuern und gerade nicht im Schaufenster stehen wollen. Datenschutz und Privatsphäre sind hohe Güter und beinhalten eben nicht gleichzeitig die Aussage, dass diese Personen etwas zu verbergen haben. Trotz der genannten Schwierigkeiten war uns der entstandene Sammelband ein wichtiges Anliegen. Denn die Vielschichtigkeit der Ultra-Kultur fasziniert:
So ist die Ultra-Bewegung möglicherweise der legitime Nachfolger der 68erBewegung. Politische Umwälzungen in Deutschland erscheinen heute nur unter erheblicher Einflussnahme von Ultra-Gruppen möglich. In Ägypten, der Türkei und der Ukraine waren Ultras maßgeblich an politischen Aufständen beteiligt – in der Regel an vorderster Front. Ultras verhalten sich nicht konform. Ultras lassen sich nicht in Schablonen pressen. Sie sind oft unangenehm und ihre Verhaltensweisen lassen sich als Provokation auffassen. Sie kosten die Vereine durch Pyro-Aktionen Geld. Sie sind auch eine Protestbewegung. Ultras sind aber in aller Regel gut organisiert: Auswärtsfahrten mit An- und Abreisezeiten, Eintrittskarten, die Buchung von Bussen – allein an diesem Aufwand würden viele „Normalbürger“ scheitern. Dennoch ist nicht alles, was Ultras tun, immer geplant. Die Szene lebt auch von ihrer Spontaneität und Emotionalität. Ultras sind in Vereinen oft ein Politikum. Andere Fans sehen sie aufgrund des melodischen, aber scheinbar teilweise völlig unabhängig vom Spiel verlaufenden Supports als Selbstdarsteller, die primär sich selbst inszenieren. Ultras stehen aber auch für traditionelle Werte und reklamieren für sich, selbst „der Verein zu sein“. Sie sind es, die stundenlange Auswärtsfahrten antreten, egal wo der Verein gerade spielt. Sie sind es, die stundenlang aufwändige Choreographien malen, um für die verhältnismäßig kurze Zeit bei Anpfiff ein Bild ins Stadion zu zaubern, dass selbst den größten UltraGegnern oft ein Lächeln ins Gesicht treibt. Sie kämpfen gegen die Umbenennung der Stadionnamen, für fangerechte Anstoßzeiten und vertretbare
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Eintrittspreise; und damit auch dafür, dass alle sozialen Schichten zum Stadion Zugang haben. Ultras fallen aber auch dadurch auf, dass Gewalt ausgeübt wird. Notfalls mit „Hausbesuchen“ machen sie gegnerischen Ultras klar, wer die Hoheit in einem gewissen Gebiet hat. Immer wieder gibt es Berichte über Auseinandersetzungen zwischen Gruppen oder mit der Polizei.
Die Bewegung ist in sich teilweise widersprüchlich, aber unheimlich facettenreich und das ist es, was Behörden, Staat, Justiz und Polizei oftmals überfordert. Ultras bilden die Vielseitigkeit einer Jugendkultur ab. Sie sind nicht greifbar und wollen es auch nicht sein. Sie sind die Gegenbewegung zum FacebookMainstream. Deswegen sind Ultras die wichtigste und attraktivste aktuelle Jugendbewegung, Gegenkultur oder Subkultur in Deutschland. All die genannten Aspekte sind und waren Inhalt von diversen Veröffentlichungen. Ziel dieses Buches ist es, in gebündelter Form aufzuzeigen, mit welchen klassischen Subkulturen Berührungspunkte bestehen, also der Frage nachzugehen, wie sich Szenen wechselseitig befruchten. Im Kontext der Fanforschung wird aus unserer Sicht oftmals das Gewalt- zu sehr mit dem Fanphänomen verbunden und vermischt. Wir denken, dass Gewalt von und für Ultras durchaus ein bedeutendes Thema ist, aber ihre Kultur und ihr Fantum nicht auf diesen Ausschnitt reduziert werden dürfen. Daher scheint es uns wichtig, das Phänomen Fan, seine unterschiedlichen Ausprägungsformen und kulturellen Entwicklungen ins Zentrum unseres Interesses zu stellen. In diesem Sammelband spielt das Thema Gewalt daher in den einzelnen Beiträgen lediglich eine untergeordnete Rolle. Wir richten uns mit diesem Sammelband an alle Interessierten, im Speziellen an Wissenschaftler und Fans. Daher besteht der Sammelband auf der einen Seite aus wissenschaftlichen Beiträgen zur aufgezeigten Thematik, auf der anderen Seite aus Interviews, die ein authentisches Bild der Szenen liefern sollen. Dieses Werk erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil stellen die Beziehungen zwischen Szenen dynamische ständig wachsende Prozesse dar, deren weiterer Verlauf nicht abzusehen ist. Auch gibt es sicherlich andere interessante Subkulturen, die gleichermaßen Wechselwirkungen mit der UltraSzene entfalten und hier nicht zur Sprache kommen. Abschließend möchten wir uns auf diesem Wege ganz herzlich bei allen Mitwirkenden bedanken! Wir freuen uns auf Rückmeldungen jedweder Art. Würzburg im Dezember 2015
„Unser ganzes Leben – unser ganzer Stolz“1 Ultras und andere Subkulturen – eine Annäherung G ABRIEL D UTTLER & B ORIS H AIGIS
S UBKULTUREN
UND DIE
W ISSENSCHAFT „Sich fügen heißt lügen“ (Slime, Albumtitel 2012)2
Subkulturen, spezielle Formen der Vergemeinschaftung, „die Teil eines größeren kulturellen Ganzen sind, jedoch Normenordnungen aufweisen, die von der Gesamtkultur abweichen“ (Lipp, 2002, S. 583), sind seit vielen Jahren wichtige Bestandteile gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. Waren es in früheren Jahren Teds, Rocker, Popper oder Punks, stellen seit einigen Jahren Fußball-Ultras eine der größten Subkulturen in Deutschland dar, die für junge Menschen außergewöhnlich attraktiv ist (Gabriel & Goll, 2012). Auf mindestens 25.000 Menschen wird die Zahl der aktiven Ultras in Deutschland geschätzt, mithin dürfte es sich zahlenmäßig um die größte jugendliche Subkultur in Deutschland handeln (Ruf, 2013). Als Ultras bezeichnen sich aktive Fußballfans, die den Support der eigenen Mannschaft als Wettstreit mit den gegnerischen Fans kultiviert haben, ihre Freundschaft weit über das Stadion hinaus ausleben, sehr verschworen sind und
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Fangesang von Borussia Dortmund.
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Das Album beinhaltet ausnahmslos Gedichte von Erich Mühsam (1878-1934). Der anarchistische deutsche Schriftsteller und Publizist war 1918 an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt und wurde 1934 im KZ Oranienburg ermordet. Die Band Slime erachtete seine Gedichte auch im Jahr 2012 noch als brandaktuell zur Beschreibung des Zustands der Gesellschaft (taz.de, 2012).
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zudem eine gesellschaftliche Mitsprache einfordern (Gabler, 2010). In ihrem Streben nach fankultureller Verwirklichung kommt es oftmals zu Überschneidungsbereichen mit anderen Subkulturen; so beispielsweise zur Hip-Hop- oder Graffiti-Kultur. Neben diesen Überschneidungsformen – Szene-Crossing – wird auch das Phänomen des Szene-Hoppings beschrieben (Hitzler, 2008), welches das Erkunden und Kennenlernen unterschiedlicher Kulturen auf der Suche nach individueller Selbstfindung beinhaltet (Sommerey, 2010). Eben jene Formen kultureller Aneignung sind bislang in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Ultras kaum gewürdigt und aufgearbeitet worden und stehen daher im Fokus dieses Sammelbandes, um dieses Forschungsdefizit zu verringern. Da einzelne Bereiche des Szene-Crossings von Ultras innerhalb der Beiträge des Sammelbands fokussiert werden, soll sich die Einleitung insbesondere auf das Phänomen Subkultur und seine Passung hinsichtlich der Kultur der Ultras beziehen. Subkultur, Neotribe oder doch Szene? – eine Begriffsdiskussion „Der Ausdruck ‚Kultur‘ bezieht sich auf die Lebensform der Mitglieder einer Gesellschaft beziehungsweise gesellschaftlicher Gruppierungen. […] Kultur ist ein wesentlicher Teil dessen, was uns zum Menschen macht“ (Giddens, 1999, S. 45).
Die Erforschung von Subkulturen ist seit Beginn des 20sten Jahrhunderts fest innerhalb der Geisteswissenschaften verankert.3 Begrifflich besteht ganz augenscheinlich ein enger Zusammenhang mit Kultur (lat. cultura = Bearbeitung, Pflege), jedoch scheinen Subkulturen in irgendeiner Art und Weise anderen menschlichen Lebensweisen untergeordnet (lat. sub = unter) zu sein bzw. sich deutlich vom Mainstream der vorherrschenden Kulturen zu unterscheiden (Gelder, 2005a).4 Subkulturen sind aber nicht isoliert zu betrachten. Denn neben Unterschieden liegen auch vielfältige Verbindungen und Schnittmengen mit sowohl
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So tauchen Subkulturen begrifflich bereits 1928 bei Palmer auf. Oft wird auch auf die
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„Subkulturen beinhalten Elemente der umfassenderen Klassenkultur (auch Stammkul-
Umschreibung von Gordon (1947) verwiesen. tur, parent culture, genannt), heben sich jedoch gleichzeitig von ihr ab“ (Brake, 1981, S. 16 f.)
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den Lebensweisen der Elterngenerationen als auch den gegenwärtig dominanten Kulturformen vor (Clarke, Hall, Jefferson & Roberts, 1975).5/6 „Der Begriff bzw. das theoretische Konstrukt ‚Subkultur‘ [...] findet Verwendung zur Beschreibung und Analyse von Handlungssystemen mit Werten, Normen, Verhaltensmuster [sic!], Einstellungen, Ritualen, Ausdrucksformen und Symbolen (Sprache), die von einer Menschengruppe mit bestimmten Eigenschaften (z. B. Alter, Geschlecht, Ethnie, Religion, Status usw.) praktiziert und anerkannt werden und die gegenüber der herrschenden Kultur mehr oder weniger abweichen bzw. ein Eigenleben führen“ (Griese, 2000, S. 18).
Oftmals werden Subkulturen in eine Beziehung zu Prozessen gesellschaftlicher Ausgrenzung (Marginalisierung) gestellt (Williams, 2011). Offen bleibt dabei, ob die Subkultur eine Reaktion auf Marginalisierungsprozesse darstellt oder ob die gesellschaftliche Abgrenzung als Mittel bspw. von Protest oder Widerstand innerhalb der Subkultur verankert ist (z. B. bei Punks). Trotz dieses skizzierten Zusammenhangs wird Subkulturen in jüngeren Untersuchungen ein besonderer Eigenwert zugestanden; so spricht Thornton (1995) von subkulturellem Kapital und erweitert so Bourdieus kulturelles Kapital auf den Bereich der Subkulturen. Andere Autoren weisen auf die Sozialisationsfunktion von Sub- und Jugendkulturen hin (Schröder & Leonhardt, 1998). Subkulturen scheinen vor allem dann zu entstehen, wenn Menschen auf Widersprüche in den bestehenden Kulturen stoßen oder mit einer immer komplexeren Realität konfrontiert werden – in diesem Zusammenhang sei auf den großen Einfluss der Massenmedien verwiesen – und diese Verunsicherung über intensive Gemeinschaftserlebnisse sowie gelebte Solidarität untereinander zu lösen suchen (Hitzler & Niederbacher, 2010). Schwendter unterscheidet freiwillige und unfreiwillige (z. B. Ghettos) Subkulturen sowie progressive und regressive Ausprägungsformen. Ultras scheinen zwischen diesen beiden letztgenannten Aus-
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„Members of a subculture may walk, talk, act, look ‚different‘ from their parents and from some of their peers: but they belong to the same families, go to the same schools, work at much the same jobs, live down the same ‚mean streets‘ as their peers and parents“ (Clarke, Hall, Jefferson & Roberts, 2005, S. 95).
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Es sei bereits jetzt darauf verwiesen, dass die Grenzen zwischen Mainstream und Substream/Underground nur der ersten theoretischen Begriffseinordnung halber als deutlich sichtbar dargestellt werden. Eine große Schwierigkeit im Kontext der Subkulturforschung ist dabei, dass nicht allgemein anerkannt feststeht, was Mainstream überhaupt ist und wo Subkulturen beginnen und enden (Young & Atkinson, 2008).
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prägungsformen zu stehen, da sie sowohl modernen Gesellschaftsentwicklungen wie der Globalisierung, Kommerzialisierung oder Eventisierung kritisch gegenüberstehen und die Beachtung von Tradition und Geschichte hervorheben als auch, z. B. über ihr Engagement gegen Diskriminierung, Rassismus oder Sexismus, versuchen, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. „Wir unterscheiden [...] progressive und repressive Subkulturen. Die Normen, Institutionen etc. der progressiven Subkulturen dienen diesen dazu, den gegenwärtigen Stand der Gesellschaft aufzuheben, weiterzutreiben, einen grundsätzlich neuen Zustand zu erarbeiten. Die Normen, Institutionen etc. der regressiven Subkulturen dienen diesen dazu, einen vergangenen Stand der Gesellschaft, Normen, die nicht mehr, oder nicht in dieser Weise, in der gegenwärtigen Gesellschaft wirksam sind, wiederherzustellen“ (Schwendter, 1971, S. 37).
Interessant ist der Umgang mit Subkulturen: Downes (1966) unterscheidet diesbezüglich zwischen gesellschaftlich anerkannten und nicht anerkannten Subkulturen. Besonders bei Jugendkulturen spielt hinsichtlich der gesellschaftlichen Reaktionen der Generationenkonflikt eine wichtige Rolle.7 Oftmals werden dabei die wichtige demokratische und gesellschafts-reflexive Funktion von Protest und Widerstand sowie ihr Anteil an Reifeprozessen8 Jugendlicher vernachlässigt. Der Begriff Subkultur kann weder klar definiert werden noch ist er unumstritten und verbleibt somit vage. Zudem werden von unterschiedlichen Wissenschaftlern immer wieder neue Bezeichnungen wie Substream (Weinzierl, 2000),9 Scene (Irwin, 1977),10 tribe/neo-tribe (Maffesoli, 1996),11 Jugendkultur, Lifestyle
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Vgl. dazu auch Stigmatisierungsprozesse (oft auch transportiert durch die Massenmedien), wie sie in Beckers Social Reaction Theory (1973), Cohens Moral Panic Theory (2002) oder der Labeling Theory beschrieben werden (u. a. Goffman, 1963).
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Reifeprozesse gelingen nicht isoliert, sondern in der Auseinandersetzung mit den Be-
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Bzw. „temporary substream networks“ (Weinzierl & Muggleton, 2003, S. 4).
dingungen der Welt (Eisenstadt, 1966). 10 Hitzler und Niederbacher (2010, S. 15 f.) definieren Szene folgendermaßen: „Eine Form von lockerem Netzwerk; einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften. In eine Szene wird man nicht hineingeboren oder hineinsozialisiert, sondern man sucht sie sich aufgrund irgendwelcher Interessen selber aus und fühlt sich in ihr eine Zeit lang mehr oder weniger ‚zu Hause‘.“ 11 Im Gegensatz zu Subkulturen, die als fest und beständig beschrieben werden, werden tribes als durchlässiger und flexibler dargestellt (Blackman, 2005).
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(Miles, 2000), social movement (Melucci, 1989) oder Gegenkultur (contraculture, counterculture; Roberts, 1978; Yinger, 1982) als Alternativen eingebracht. „Alle Begriffe bezeichnen in der Regel soziale adoleszente Gruppierungen, die sich auf Grund vor allem freizeitorientierter Präferenzen und dem damit verbundenen Stil, der verwendeten Sprache und der ähnlichen inneren Haltung von der Mainstreamkultur unterscheiden“ (Reinecke, 2007, S. 99).
Die einzelnen Konzepte sind nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden, überlappen sich und sind in jeweils verschiedenen Theorien verortet. Um trotz dieser Begriffsvielfalt eine Annäherung zu wagen, sollen in den weiteren Kapiteln auf der einen Seite die Protagonisten selbst zu Wort kommen, auf der anderen Seite Kernelemente der Ultra-Kultur (aus Sicht der Autoren) die Diskussion anregen. Dabei stehen jeweils die Perspektive des Individuums, sein Aufgehen in einer Subkultur und die ihm wichtig erscheinenden Aspekte im Vordergrund. Wie Subkulturen erforscht werden – wissenschaftliche Aufarbeitung im Zeitraffer Historisch betrachtet werden Subkulturen Anfang bis Mitte des 20sten Jahrhunderts vor allem von Vertretern der Chicago School wissenschaftlich untersucht. Der damaligen gesellschaftlichen Situation in den USA geschuldet (Modell des städtischen Organismus), werden dabei sogenannte ethnographic maps (Blackman, 2005) angelegt, in denen soziale Merkmale wie Geschlecht, gesellschaftliche Klasse oder ethnischer Background verschiedenen Subkulturen zugeordnet werden.12 Dabei soll die Untersuchung mittels Beobachtung oder Interview möglichst direkt und detailreich durchgeführt werden. In einem weiteren amerikanischen Forschungsstrang wird vor allem der Delinquenz und Kriminalität von unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen13 innerhalb qualitativer und quantitativer Untersuchungen nachgegangen (vgl. Cohen: Delinquent Boys: The Culture of the Gang, 1955). Subkulturen werden dabei als Möglichkeiten und Lösungsversuche betrachtet, mit den Schwierigkeiten der jeweiligen sozialen Lage umzuge-
12 „[..] a combination of factorable social situations such as class status, ethnic background, regional and rural or urban residence, and religious affiliation“ (Gordon, 1947, S. 40). 13 Vgl. dazu die Anomietheorien von Durkheim (1897) und Merton (1961): In diesen wird Delinquenz und Normlosigkeit als Folge gesellschaftlicher Desintegration und fehlenden Zugangs zu legitimen Möglichkeiten sozialen Aufstiegs erklärt.
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hen (z. B. Stigmatisierungsprozesse) bzw. die daraus resultierenden Probleme zu lösen (s. dazu Social Theory of Deviance, Merton, 1961). „The crucial condition for the emergence of new cultural forms is the existence, in effective interaction with one another, of a number of actors with similar problems of adjustment“ (Cohen, 1955, S. 59).
Es existieren jedoch auch in dieser Zeit bereits weniger stigmatisierende Stimmen, die von „subcultural pluralism and relativism“ in den USA sprechen (Irwin, 1970, S. 167). Themen, die in Zeiten des Multikulturalismus die Frage aufwerfen, ob der Begriff Subkultur angesichts fließender Übergänge zwischen Szenen und digitaler, teilweise unpersönlicher Beziehungen zwischen Mitgliedern heute nicht veraltet sei und zugunsten eines modernen Ausdrucks wie tribe oder substream ersetzt werden sollte. Die Betrachtungsweise von Subkulturen ändert sich in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem durch die sog. cultural studies des Centre’s for Contemporary Cultural Studies (CCCS) aus Birmingham.14 Insbesondere der vorab unterstellte starke Bezug zwischen Subkulturen und delinquentem Verhalten wird aufgebrochen. „I think it’s important to make a distinction here between sub-cultures and delinquency, for many criminologists talk of delinquent sub-cultures. In fact they talk about anything that is not middle class culture as subculture. From my point of view, I do not think the middle class produces sub-cultures for sub-cultures are produced by a dominated culture not by a dominant culture“ (Cohen, 1972, S. 30).
Zudem geraten über marxistische und strukturalistische Ansätze – bspw. unter Bezug auf das Hegemoniekonzept Gramscis – gesellschaftskritische Überlegungen in den Fokus der Untersuchungen (Blackman, 2005). Zentrale Ansatzpunkte sind dabei der soziale Widerstand der Arbeiterklassen gegen die Bourgeoisie und die identitäts-stiftende Bedeutung des subkulturellen Stils (engl. Style, Hebdige, 1979). So wird insbesondere die Bedeutung von Ritualen, Kleidung, Sprache oder anderen modischen Erscheinungsformen bis hin zu deren Einsatz als Mittel der Bricolage15 untersucht (Huq, 2006).
14 „The cultural studies approach to subculture saw it as a means to critique society and address issues of conflict and social change“ (Blackman, 2005, S. 16). 15 Als Bricolage wird die Nutzung von bekannten Gegenständen oder Zeichen in einem neuen, nicht den gängigen Normen entsprechenden, Kontext bezeichnet. Beispiele
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Die Studien der jüngeren Vergangenheit beziehen sich wiederum aus kritischer Perspektive auf die Untersuchungen des CCCS. Postmoderne Theorien der Subkultur fokussieren ein sehr individuelles Verständnis von Gesellschaft und prägen die bereits angesprochenen Begriffe wie neo-tribe/tribe (Maffesoli, 1996) oder lifestyle.16 „For postmodernists, subcultures react imaginatively through consumption and identity to construct creative meanings that can be liberating from subordination“ (Blackman, 2005, S. 8).
Redhead (1997, S. X) spricht sogar von einer notwendigen Erweiterung des Subkulturkonzepts: „‚Clubcultures‘ is the concept, and global youth forming, which supplements ‚subculture‘ as the key to the analysis of the histories and futures of youth culture“. Auch Weinzierl und Muggleton (2003, S. 6) wenden sich vom Begriff Subkultur ab, denn „the complexity and shifting nature of current youth cultural practices can no longer be explained with a framework that imputes to these forms a linear temporal logic“.17 In ihrer Auseinandersetzung mit jugendbetonten kulturellen Praxen sprechen sie von post-subcultural Studies, die Phase in der Auseinandersetzung mit Jugendkulturen wird auch „the post-subcultural turn“ (Bennett, 2011, S. 493) genannt und durchaus ebenfalls kritisch begleitet: „We regard an analysis of young people’s cultural identities, practices and affiliations as a crucial part of any attempt to provide a more holistic, explanatory study of youth. We argue that the current ascendancy of post-subcultural studies limits the relevance of such research to broader youth questions and does little to advance the case that youth studies could be – should be – more sociologically important. […] Whilst in need of theoretical refinement and empirical renewal, we think some of the broader goals of the CCCS subcultural approach remain valid ones. Their emphasis upon the relationship between social structure and culture in youth cultural formation and, particularly, the
sind die zu Beginn der Punk-Bewegung als Symbol der Provokation und des Protests ohne nationalsozialistischen Hintergrund verwendeten Hakenkreuze oder „der schicke Anzug mit Kordellschlips bei den Mods“ (Krüger, 2010, S. 14). 16 „For postmodernists, subcultures react imaginatively through consumption and identity to construct creative moments that can be liberating from subordination“ (Blackman, 2005, S. 8). 17 Weitere bekannte Publikationen mit ähnlicher Stoßrichtung sind u. a. „After Subculture“ (Bennett & Kahn-Harris, 2004) und „Beyond Subculture“ (Huq, 2006).
18 | G ABRIEL D UTTLER & B ORIS H AIGIS ways in which individual biographies intertwine with, and between, the two seems curiously timely. This perspective allows in more general, recent social theoretical interest in, for example, the individualisation thesis, risk society, biography, the unequal distribution of forms of capital, and so on“ (Shildrick & MacDonald, 2006, S. 135 ff.).
Der Hintergrund der Argumentationslinie von Weinzierl und Muggleton (2003) ist darin zu finden, dass es, angesichts der enormen Heterogenität der heutigen Gesellschaft, weder eine bestimmende Hegemonialkultur noch sich davon abgrenzende, eindeutig identifizierbare, Subkulturen gebe (Jonas, 2015). Insbesondere scheinen – und das ist auch im Kontext der Ultras zu beobachten – Subkulturen in der heutigen Zeit weniger schichtenspezifisch im Sinne eines Klassenkampfes gedacht werden zu können, wie es noch die Vertreter des CCCS um Hebdige taten. Kulturelle Ausprägungsformen scheinen zudem weitaus differenzierter, so dass „an analytic model more flexible than that offered by subcultural theory must be found to describe the elasticity and fluidity that confounds any notion of self-contained cultural practices“ (Stahl, 2003, S. 39). „Der Begriff Jugendsubkulturen betont den Unterschied zwischen der herrschenden Kultur und jenen jugendkulturellen Strömungen, die sich explizit von der Normalität absetzen, abweichendes Verhalten praktizieren und von ‚unten‘ her Widerstand und Veränderungen in Gang setzen. Da sich widerständige Elemente in den heutigen Jugendkulturen nur noch in Teilen finden lassen [...], verwenden die meisten AutorInnen das ‚sub‘ nicht mehr“ (Schröder & Leonhardt, 1998, S. 17).
Den Ausführungen von Schröder und Leonhardt folgend können Ultras zumindest angesichts ihres Protestpotentials und Strebens nach Mitbestimmung als Subkultur angesehen werden. Wie schon angesprochen fällt das schichtenspezifische Streben nach „oben“ bzw. der klassische Konflikt Proletariat gegen Bourgeoisie in ihrem Falle weg, wird aber durch andere Sinngehalte wie bspw. Traditionsbewusstsein und Kommerzialisierungskritik ersetzt. Zudem sind unterschiedliche kulturelle Lebensstile – so auch im Falle der Ultras – durch bestimmte Verhaltensweisen, Symboliken oder ein charakteristisches Äußeres verbunden, so dass wir zwar durchaus die Logik eines überlebten Begriffs Subkultur nachvollziehen können, aber ihn nicht gänzlich verwerfen möchten.
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Der Journalist und Ultra-Kenner Christoph Ruf (2012, o. S.) resümiert diesbezüglich: „Ich spreche bewusst von einer Subkultur, obwohl ich das Argument kenne, es gäbe heutzutage keine Subkulturen mehr, da sich die postmoderne Welt so ausdifferenziert habe, dass es keine Haupt-Kultur mehr gebe – sondern stattdessen so viele Subkulturen, wie die Erde an Einwohnern zähle. Blödsinn. Oder um im Register dieses mutmaßlich recht elaborierten Bandes zu bleiben: ein faszinierender Gedanke. Als 40-jähriger, früher einmal mannigfaltig Subkultureller kann ich ihn dennoch nicht denken, weil ich um mich herum nur noch 20-Jährige wahrnehme, die die gleiche Frisur haben, die gleichen Klamotten tragen, die gleiche Übelmucke hören und die gleichen Plattitüden als eigene Meinung (‚Also, ganz ehrlich …‘) ausgeben wie die anderen Abermillionen von Ganz-ehrlich-Klone mit gleich schlechtem Musikgeschmack und dem gleichen vermaledeiten Geburtsdatum. Allein schon deshalb werden mir Ultras immer erst einmal sehr sympathisch sein: Sie unterscheiden sich schließlich wohltuend von ihren Altersgenossen“.
Neben den bereits beschriebenen existiert eine weitere Forschungstradition, die sich dem Forschungsgegenstand aus Sicht des Symbolischen Interaktionismus nähert und vor allem die Interaktion zwischen Subkultur und den umgebenden Kulturen fokussiert (Williams, 2011). Wie bereits ausgeführt, prägt auch Thornton (1995) mit ihrem subkulturellen Kapital, „by which young people negotiate and accumulate status within their own social worlds“ (Thornton, 1995, S. 163) und der Orientierung an Weber und Bourdieu eine neue Begrifflichkeit. Die Frage nach einer allgemein anerkannten Definition von Subkultur verbleibt also mit Blick auf die Anzahl der Begriffe und deren unterschiedliche Operationalisierungen im Laufe der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Formen jugendkultureller Vergemeinschaftung unbeantwortet. Jedoch attestieren Young und Atkinson (2008, S. 38), dass das Konzept „has always borne fruit, and indeed continues to do so“ und führen auch eine eigene Interpretation des Begriffs Subkultur aus: „Any adequate definition of subculture should [...] emphasise that the concept is an identifiable small social structure within the larger dominant culture, composed of individuals sharing similar values, behaviours, attitudes, symbols and rituals, which set them apart from the larger culture, dominating their style of life and stabilising over time“ (ebd., S. 9).
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Das Zitat von Young und Atkinson liefert einige Zugänge für die Interpretation von Ultras als Subkultur. Möglicherweise sind aber auch andere Begriffe wie Szene oder Gegenkultur im Kontext der Ultra-Kultur passend. Wichtig erscheint es den Autoren in jedem Fall, im Kontext der Ultras auf deren Kulturbezogenheit hinzuweisen, die bei anderen Begriffen möglicherweise unterrepräsentiert ist. Im Folgenden soll die szeneninterne Auseinandersetzung mit diesem Begriff die Diskussion weiter anregen.
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Ultras als Subkultur – szeneninterne Diskussionen „Eine Subkultur bedeutet für uns in erster Linie ein Netzwerk aus ‚andersdenkenden‘ Menschen, die zwar in dieser unserer Gesellschaft ‚integriert‘ sind, jedoch im Rahmen ihrer Gegen- bzw. Subkultur versuchen, aus den allgemeingültigen Normen auszubrechen. [...] Der Sinn einer Subkultur für uns ist somit, pathetisch gesagt, das Verlassen der Matrix in eine Parallelwelt, die man nach seinen eigenen Vorstellungen aktiv gestaltet und am Leben hält. [...] Mitglied einer bestimmten Gegenkultur zu sein, kann auch heißen, seinen Horizont zu erweitern, bzw. erst einmal einen zu entwickeln, seine Denkweisen und seinen Lebensentwurf langsam aber sicher zu entwickeln und zu festigen“ (Reith & Renker, 2007, S. 58).
Nicht nur Wissenschaftler18 haben sich mit Ultras im Kontext des SubkulturThemas beschäftigt, auch einzelne Ultra-Gruppen selbst veröffentlichen diesbezüglich Einordnungen. Aus unserer Sicht sind diese besonders wertvoll, weil es sich um authentische Stimmen aus den Szenen selbst handelt, mit weit tieferen Kenntnissen über die Ultra-Kultur als Wissenschaftler sie erarbeiten können. Daher soll diesen Stimmen hier der nötige Raum verschafft werden. „Wir verstehen uns als Subkultur“ (Mitglieder der Mönchengladbacher Ultra-Gruppe Sottocultura, Rheinische Post, 2012, o. S.).
Der Begriff Gegenkultur scheint aus Sicht vieler Ultras jedoch passender als Subkultur. Dies spiegelt durchaus das Selbstverständnis von fast allen Ultras wi-
18 So zum Beispiel Langer (2010), der zu dem Schluss gelangt, dass Ultra eine eigenständige Subkultur sei.
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der, die sich nicht anderen Kulturen unterordnen möchten, sondern über Elemente wie offenem Protest, Boykott oder Provokation klarmachen, wogegen sie sich positionieren. „Darum werden wir ab jetzt mal diesen Begriff, im Sinne von Ultrá, in Gegenkultur ändern, da dies für uns treffender erscheint“ (Reith & Renker, 2007, S. 59 für Ultras Frankfurt 1997).
In der 3. Ausgabe des bundesweiten Magazins Blickfang Ultra vom Juli 2007 wird der Begriff der Subkultur von Szenekennern wissenschaftlich hinterfragt (Pelzer & Langner, 2007, S. 38 f.) und ob seiner Tauglichkeit für die Ultrabewegung geprüft. Als maßgeblich wird dabei zunächst der Begriff der Mentalität bezeichnet, der gerne von Ultragruppen verwendet wird. Kennzeichnend ist demnach, dass das Lebensgefühl Ultra über den Spieltag und die 90 Minuten hinausgeht. Gleichzeitig verneinen die Autoren allerdings eine Eignung der Begrifflichkeit Subkultur dahingehend, als dass die Bewegung zwar durchaus subkulturelle Züge aufweise, diese jedoch aufgrund der aktiven Teilhabe an anderen gesellschaftlichen Bereichen (Familie, Schule, Beruf) keine eigenständige, neben der Mehrheitsgesellschaft stehende Subkultur sei. Aus Sicht der Verfasser ist der Lebensentwurf, dass ein Ultra immer für seine Gruppe da sein solle, eher ein überwiegend mentales Lebensgefühl. Davon ausgehend wird auf die Frage Bezug genommen, ob es in der heutigen Gesellschaft überhaupt noch Subkulturen gebe, also solche Szenen, die tatsächlich und mit allen Konsequenzen in einer Parallelgesellschaft leben. Nach Meinung der Autoren sind sowohl der Begriff Subkultur wie auch der Begriff Leitkultur (als Gegenpart zur Subkultur) bis auf wenige Bereiche (Punk, Junkie-Szene, Hausbesetzer) überholt. Es sei vielmehr nicht mehr nötig, ein komplettes Leben in einer Subkultur zu verbringen; ein Nebeneinander von Subkultur und der Mehrheitsgesellschaft sei üblich. Eine weitere oftmals im Zusammenhang mit der Diskussion um den Subkultur-Begriff genutzte Umschreibung lautet Lebenskultur19. Damit soll auf der einen Seite die ebenfalls im Kontext der Ultras verwendete Bezeichnung als Jugendkultur überwunden werden, da sie suggeriert, Ultra sei auf einen bestimmten Lebensabschnitt begrenzt.20 Auf der anderen Seite soll sie verdeutlichen, dass das Ultrasein kein Hobby, sondern „eine Lebensauffassung, ein Lebensrhyth-
19 So z. B. Mitglieder der Gruppe Ultras Nürnberg 1994 in diversen Jahresfilmen. 20 Oftmals wird dabei des Konzept Jugend am Alter festgemacht, wobei es in der aktuellen Diskussion überwiegend nicht zeitlich determiniert, sondern als Kulturphänomen gedeutet wird (Hitzler & Niederbacher, 2010).
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mus“ (so ein Ultra im Interview mit Faszination Fankurve, 2009, S. 7) ist, der in erster Linie einen gänzlichen Lebensentwurf darstellt bzw. darstellen soll. Als Beispiel werden immer wieder v. a. südeuropäische Länder herangezogen, bei denen das Durchschnittsalter der Gruppen häufig deutlich höher ist als in Deutschland. Auch wird betont, dass vermeintlich „erwachsene“ Lebensentwürfe wie die Gründung einer Familie in keinem Widerspruch zum Dasein als Ultra stehen würden, sondern vielmehr auch die Familie als Teil der Gruppe begriffen werde (Ya Basta, 2012). Nachdem die deutsche Ultra-Kultur im Wesentlichen erst seit Ende der 90er Jahre besteht21 und damit relativ jung ist, gilt es abzuwarten, inwieweit sich das Durchschnittsalter in den Gruppen tatsächlich steigern wird. Griese (2000, S. 21) nutzt die starke Identifikation zur Unterscheidung zwischen Subkultur und Subsystem: „Entscheidend dabei ist, ob der Jugendliche der ‚Szene‘ oder Gruppe als ‚ganze Person‘, als Identitit [sic!], angehört, oder ob ihn die Subkultur nur in Ausschnitten, als Rollenträger erfaßt“. Dabei scheinen einzelne Gruppen sehr genau zu reflektieren, was ihre eigene Kultur ausmacht und wo – im Hinblick auf die teilweise idealisierten Ansprüche, ehrenvolle Verhaltensweisen und edlen Werte – Grenzen liegen können. „‚Ultras ist Freiheit, kritisches Denken gegen Kapital, überhäufter Geld-Anspruch, Staat, nationale willkürlich gesetzte Gebilde und hemmungslosen, abgestumpften Konsum bis zum Erbrechen.‘ Nüchtern betrachtet ist jedoch das politische Denken nicht bei allen Ultras vorhanden, wenn man überhaupt definieren will, was ein Ultra ist. Ultra ist dabei letztlich eine Utopie, eine Idealvorstellung, die in seiner [sic!] Konsequenz schwer definierbar und manchmal auch einfach zu überhöht ist. Ultrá ist in der Realität eben auch: ‚Eine Beschäftigungstherapie für Mittelstands-Kids, die Erlaubnis sich zu benehmen wie die Axt im Walde, ultras.ws, die mangelnde Bereitschaft zu gemeinsamen wirklich etwas bewirkenden Projekten. Eine Bewegung, die kaum wie eine zweite versucht junge Menschen in einen irrsinnigen, hintergrundlosen
21 Ab Anfang der 90er Jahre reisten deutsche Groundhopper vermehrt nach Italien und adaptierten den Support und die Mentalität, vornehmlich deswegen, weil die Stimmung in den deutschen Stadien auf einem Tiefpunkt angekommen war. Mitte/Ende der 90er Jahre gründeten sich die ersten Ultragruppen in Deutschland. Noch 2001/02 war die Ultra-Szene in Deutschland sehr überschaubar, vgl. u. a. Gruppenvorstellungen in kULTRAusch Nr. 1, Saison 2001/02.
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Pathos zu verleiten, der Märtyrertum verherrlicht und aufgesetztes Mentalitätsgefasel steigert. Und das wohl selbstzerstörerischste: ‚Ultrá ist eben auch für die meisten nur ein begrenzter Zeitabschnitt ihres Lebens, solange bis die neue Freundin, ein guter Job oder ein anderes Hobby kommt [sic!]‘. Wer sich einmal die Fluktuation anschaut, der weiss, dass diese Worte nicht allzu falsch sein können [...]“ (Banda di Amici, 5 Jahre BDA, 2015, o. S.).
Subkulturelle Potentiale der Ultra-Kultur im Hinblick auf die wissenschaftliche Begriffsdiskussion Nunmehr soll das Phänomen Ultra im Lichte der Begriffe Subkultur und Fankultur diskutiert und entsprechend verortet werden. Das Zitat Schwendters offenbart eine wichtige Rolle von Sub- und Gegenkulturen hinsichtlich der Entwicklung der Gesellschaft, die möglicherweise auch zu Teilen von der Ultra-Kultur ausgeübt wird. „1. Es gibt Teile der Gesellschaft, die von der Kultur, d. h. vom gesamten System der herrschenden Werte und Institutionen abweichen: die Subkulturen. 2. [...] Dabei ist von den Widersprüchen der Subkulturen zur Gesamtgesellschaft sowie von den Widersprüchen [...] zwischen und innerhalb der einzelnen Subkulturen auszugehen. 3. Die Herrschenden [...] versuchen durch verinnerlichte oder offene Repression die Subkulturen an die gesamtgesellschaftliche Kultur anzupassen. [...] 4. Progressive Subkulturen sind als Gegenmilieu, Gegenöffentlichkeit, [...] erforderlich, um das nichtangepaßte Überleben der Maßnahmen der Gesamtgesellschaft zu gewährleisten, neue Formen sozialer Beziehungen zu praktizieren, die Abhängigkeit von herrschenden Institutionen zu verringern [...]. 5. Subkulturen stehen in dialektischer Abhängigkeit vom gesamt-gesellschaftlichen Wertsystem; sie schützen vor der vollständigen Anpassung an dieses“ (Schwendter, 1971, S. 27 f.).
Im Folgenden sollen zentrale Aspekte der Kultur der Ultras hinsichtlich ihrer Passung zu klassischen Eigenschaften von Subkulturen hinterfragt werden. Dabei sollen insbesondere zentrale subkulturelle Themen wie Protest, das Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und Zusammenhalt sowie Stil und Symbolik fokussiert werden.
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Ultras als Protestkultur „Tradition statt Kommerz für den Gegentrend“ (Alu Cash, Max-Morlock-Stadion, 2011).
Gerade in den Studien des CCCS (Titel eines Hauptwerks: „Resistance through rituals“ von Hall & Jefferson, 1976) ist der Protest gegen die Unterdrückung der eigenen Kultur von einer sogenannten Hegemonialkultur das entscheidende Thema (Williams, 2011). Dabei interessieren sich die entsprechenden Wissenschaftler vor allem für das Verhältnis zwischen sozialen Schichten bzw. Möglichkeiten der Arbeiterklasse, sich selbst zu verwirklichen, Selbstbestimmung und Einfluss zu entwickeln sowie sich gegen Unterdrückung zu wehren. „The basic assumption is that youth subcultures belong to the working class, deriving from the experience of subordination. Subcultural activity is interpreted as a form of symbolic politics to particular class and cultural experiences“ (Blackman, 2005, S. 6).
Dieses konkrete Phänomen der Schicht- oder Klassen-abhängigen erlebten Unterdrückung als Ausgangspunkt subkulturellen Widerstands spielt bei den Protestformen der Ultra-Kultur im deutschsprachigen Raum kaum eine Rolle, bezieht diese doch Fans unterschiedlicher sozialer Herkunft ein und besteht im Gros eher aus Menschen der Mittel- und Oberschicht (Schwier, 2005). Dennoch weist das Protestpotential der Ultras sowohl hinsichtlich der Intensität als auch der Gesellschaftskritik in eine ähnliche Richtung. Während es bei den Studien des CCCS insbesondere um eine ungerechte Verteilung von Geld, Bildung oder Gesundheitsmaßnahmen ging (Clarke et al., 1975), steht bei Ultras der aus ihrer Sicht zu starke Einfluss kommerzieller Interessen von Vereinen, Spielern, dem Verband oder Sponsoren auf „ihren“ Fußball im Fokus, der wiederum die gesamtgesellschaftlichen Themen Globalisierung, Kommerzialisierung und Eventisierung beinhaltet (Czoch, 2012). Obwohl Ultras sich selbst überwiegend als unpolitisch bezeichnen – gemeint ist hier vor allem die Nähe zu einer bestimmten Partei –, scheint diese Fankultur im Sinne eines deutlichen Anspruchs auf gesellschaftliche Mitsprache und Teilhabe ausgesprochen politisiert und möchte „unbequem“ (Ruf, 2013, S. 18) als Korrektiv auf sie betreffende Missstände hinweisen (Lederer, 2010). Denn Ultras leben ihre Fankultur sehr intensiv aus und sehen diese, angesichts der Einflussnahme durch Sponsoren und der Kommerzialisierung des Fußballs, in Gefahr. Dies kann soweit führen, dass sie gewalttätig agieren, wenn sie ihre Werte und Traditionen als bedroht wahrnehmen (Duttler, 2015).
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„Die Jugendkulturforschung wäre gut beraten, wenn sie sich von der pauschalen These von der Entpolitisierung von Jugendkulturen verabschieden würde“ (Krüger, 2010, S. 38 f.).22
Dies erklärt sich unter anderem bereits aus ihrer historischen Entwicklung heraus, da sich die Ultra-Kultur im Italien der 1960er Jahre inmitten der Studentendemonstrationen entwickelte und entsprechende Symboliken (z. B. Che Guevara) und Protestformen (Spruchbänder, Doppelhalter etc.) bis heute fest verankert sind.23 Dabei richten sich Ultras vor allem gegen Formen des modernen Fußballs (s. dazu auch Beitrag von Steven Adam), in dessen Zuge zum einen die Vermarktung des Produkts Fußball von Verbands- und Vereinsseite deutlich intensiviert wurde (Stichworte bspw.: Ticketpreise, horrende Ablösesummen), auf der anderen Seite und damit einhergehend eine im Kontext der HooliganProblematik initiierte Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen rund um Spiele stattfand und -findet (Feltes, 2013a). Diese wird von Ultras oftmals als repressiv und über die Maßen einschränkend erlebt und hat die Verschlechterung des Verhältnisses zu Sicherheitsakteuren und Verbänden zumindest mitverursacht (Brenner, 2009). Diese Prozesse der Kommerzialisierung und Versicherheitlichung des Fußballs interpretieren Ultras insoweit, dass die Publikumszusammensetzung nachhaltig in Richtung gut zahlender Zuschauer ohne Anspruch auf Mitsprache verändert werden soll. Beide Aspekte sehen Ultras als Bedrohung und Einschränkung ihrer Fankultur (Gabler, 2010). „Fans sind keine Zuschauer! [...] Zuschauer kommen ins Stadion, um sich unterhalten zu lassen. Fans hingegen gehen nicht ins Stadion, um unterhalten zu werden. Sondern, weil sie singen und brüllen, weil sie Akteure sind, im besten Fall sogar der 12. Mann, der mithilft, das Spiel umzubiegen. Sie haben etwas zu geben, nämlich ihre Leidenschaft und ihre Begeisterung für den Verein“ (Coddou & Köster, 2005, S. 36).
Dabei initiieren Ultras auf der einen Seite Protestaktionen mit regionalem Bezug (bspw. gegen einen Verkauf des Stadionnamens, Werbepartner oder Werbemaß-
22 Hierbei kann der Argumentationslinie Becks (1993) gefolgt werden, der den Begriff der Subpolitik als Umschreibung der individuellen Politisierung von Menschen außerhalb des eigentlichen politischen Systems verwendet. 23 Weitere Einflüsse auf die Entwicklung der Ultra-Kultur in Italien stammen aus der südamerikanischen Fankultur (z. B. der Einsatz von Trommel aus Brasilien) sowie aus parallelen subkulturellen Erscheinungen der 1960er und 1970er Jahre wie der Modsoder die Skinheadszene (Verma, 2006).
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nahmen des Vereins), auf der anderen Seite aber auch bundesweite Bündnisse und Initiativen – teilweise sogar unter Beteiligung „verfeindeter“ Gruppen –, die sich bspw. gegen eine weitere Spieltagszerstückelung, gegen Ticketpreiserhöhung oder gegen einen weiteren Ausbau von Sicherheitsmaßnahmen wenden (z. B. Pro 15:30, 12:12 „Ohne Stimme keine Stimmung“; Duttler, 2014). „Ein ehemaliger Eintracht-Schatzmeister hat uns mal gesagt, wir seien das einzige kritische Gegengewicht, das Kontrollorgan im Verein. Das ist auch wichtig, denn es stört uns natürlich vieles. Etwa, dass der Fan im Profifußball nur noch als Konsument vorkommt, als einer, der unterhalten werden will wie im Musical oder Kino. Eigentlich eine Beleidigung für jeden wahren Fan“ (Daniel Reith, Ultras Frankfurt im 11-Freunde Interview; Köster, 2003, S. 26).
Beim Blick über deutsche Grenzen hinweg sind Ultras durchaus auch in schichtspezifische politische Aktionen involviert, wie u. a. die Beteiligung von Ultras an den Aufständen in Ägypten, Istanbul und Kiew zeigt (s. dazu das Interview mit James M. Dorsey in diesem Sammelband).24 Des Weiteren positionieren sich viele Ultra-Gruppen gegen die Einflussnahme von politischen Parteien – insbesondere von rechten Parteien – sowie gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus (Bündnis antirassistischer [heute aktiver] Fußballfans BAFF; Dembowski, 2008).25 Innerhalb der unterschiedlichen Protestformen spielt die Provokation eine große Rolle (Gruppennamen, Symbole, Ausdrücke, satirische Überzeichnung; Sommerey, 2010). Dabei verlassen die Ultras in manchen Fällen den Bereich der gesellschaftlich anerkannten political correctness und erfahren dafür deutliche Kritik.26 Fraglich bleibt indes, wie sich diese Kritik und die damit verbundenen Vorwürfe auf die Ultras auswirken. Denn auf der einen Seite löst eine „Zeigefingerpädagogik“ oftmals eine psychologische Reaktanz und damit Verhaltensverstärkung aus (u. a. Brehm, 1966), auf der anderen Seite scheint es zumindest diskutabel, ob Subkulturen oder Gegenbewegungen sich zwangsläufig dem allge-
24 Vgl. hierzu z. B. Blickfang Ultra: Interviews mit Çarşi (Heck, 2013), Ultras von Dynamo Kiew (Cerniauskaite, 2014), Ultras in Ägypten (Herten, 2015) und Transparent Magazin: Ultras in der Türkei (Aumeier & Claus, 2015). 25 Das Fanbündnis BAFF entstand Mitte der 1990er Jahre und besteht weniger aus Ultras als aus sogenannten (fanpolitisch) aktiven Fans. Trotzdem soll es wegen der wichtigen antirassistischen Impulse in diesem Beitrag Erwähnung finden. 26 Die Moderatorin Sandra Maischberger bezeichnete Ultras im Mai 2012 in ihrer Sendung als „Taliban der Fußballfans“.
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meinen Verständnis von politisch korrektem Protest unterordnen oder nicht gerade dagegen verstoßen müssen. Diese Grenzüberschreitung, der Thrill des Augenblicks und die Suche nach besonderen Momenten scheinen generell wiederkehrende Elemente und Motive von Subkulturen zugehörigen Menschen zu sein (Warwitz, 2001). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass es mittlerweile mit der Seite http://ultrapeinlich.tumblr.com sogar eine Plattform gibt, die vermeintlich rassistische, homophobe oder sexistische Spruchbänder, Graffitis und Aufkleber einzelner Gruppen veröffentlicht und die Urheber somit praktisch öffentlich an den Pranger stellt. Die damit verbundene Forderung nach political correctness wird durchaus kritisch angesehen27 und teilweise als anmaßend wahrgenommen. Bewusstes Überschreiten der political correctness scheint möglicherweise insofern ein Element der Ultrakultur zu sein, dass sowohl eine entsprechend starke Aufnahme und Aufmerksamkeit zu erwarten sind als auch der provokative Akt an sich deutlich intensiver ausfällt, wenn gesellschaftliche anerkannte Werte überschritten werden. Während das konkrete Protestthema von Ultras fast immer kognitiv aufgearbeitet und entsprechend kommuniziert wird, führen die starke emotionale Verbindung, die subjektive Wertigkeit der entsprechenden Themen sowie die, natürlich auch bei einigen Gruppen bestehende, Suche nach Krawallen und Auseinandersetzungen dazu, dass sich körperliche Konflikte mit Sicherheitsakteuren entwickeln können (Feltes, 2013b). Es hat sich – nicht zuletzt wegen der Proteste der Ultras und der Reaktion der angesprochenen Akteure – ein ausgesprochen schlechtes Verhältnis zu Sicherheitskräften entwickelt, die bei Auseinandersetzungen die konkrete Konfliktlinie zu den Ultras besetzen (müssen). „Schon 2001 formulierte die KOS in einem Hintergrundpapier zu ihrer Ultrakonferenz, die vor zehn Jahren im Februar 2002 mit 44 teilnehmenden Ultragruppen in Frankfurt stattfand: ‚Allen Ultragruppen ist darüber hinaus eine deutlich und offensiv geäußerte Abgrenzung zu den Instanzen der Erwachsenengesellschaft zu eigen.‘ Dieser schon damals alarmierende Befund kann aus heutiger Sicht nur unterstrichen werden“ (Gabriel & Goll, 2012, S. 259).
27 So z. B. der Kaiserslauterer Rapper Juses, im Album „Kinder der Stadt“, Song „Komm ran“, 2015 mit folgender Textzeile: „…und ich schieße auf die ultrapeinlichGang, ihr seid die einzigen, die hier ultrapeinlich sind…“.
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Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil gerade 2001/02 von den meisten Gruppen das Verhältnis zu Polizei und Sicherheitsakteuren zumindest nach außen noch als neutral bezeichnet wurde bzw. noch ein regelmäßiger Austausch stattfand (kULTRAusch, 2002).28 Das Verhältnis zur Polizei hat sich dementsprechend offenbar erst im Zuge der WM 2006 und dem damit einhergehenden Ausbau der Sicherheitsmaßnahmen massiv verschlechtert, so dass eine Kommunikation mit der Polizei heute für die allermeisten Ultra-Gruppen undenkbar ist.29 In dieser konfliktreichen Beziehung zu Sicherheitsakteuren kann eine weitere Gemeinsamkeit mit klassischen Subkulturen wie Punks, Rockern oder Teds ausgemacht werden. Dabei scheint auf der einen Seite auf gewisse Weise der Generationenkonflikt – Erwachsenen- gegen Jugend- und Subkultur – eine Rolle zu spielen, auf der anderen Seite fungieren die Sicherheitsakteure als Stellvertreter von Staat und Verbänden, also denjenigen Akteuren, durch die Ultras „ihren“ Fußball in Gefahr oder ihre Fankultur eingeschränkt sehen (Langer, 2012). Theoretisch erklärbar werden die Formen des Protests von Ultras unter anderem durch den Anspruch, als Gruppe mit verinnerlichten Idealen, Werten und Bedürfnissen ernst genommen zu werden (Elias, 1983) oder Anerkennung zu erhalten (Honneth, 2007). Der Protest von Ultras richtet sich gegen unterschiedliche – teilweise scheinbar gegenläufige – Entwicklungen der Gesellschaft. So auch gegen zwei Entwicklungslinien, die Gelder (2005a, S. 6) als typische Ausgangpunkte subkultureller Prozesse identifiziert, wenn er schreibt, dass Subkulturen „react in some
way against both massification and [Herv. d. Orig.] atomization“. Beide Aspekte sollen im folgenden Kapitel ausgeführt und zueinander in Bezug gesetzt werden.
28 In dem Magazin „kULTRAusch“, Ausgabe Nr. 1, Saison 2001/02, in dem sich 23 deutschsprachige Ultragruppen vorstellen, wird die Frage nach dem Verhältnis zu Verein und Polizei in weit mehr als der Hälfte der Beiträge als „normal“ bzw. „neutral“ bezeichnet. 29 So z. B. ein Spruchband der Nürnberger Fanszene im Derby gegen Fürth am 21.04.2013 in Richtung der Gästeanhänger: „Wer mit den Bullen labert, hat keine Regeln verdient“.
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Zwischen Selbstverwirklichung und unbedingter Solidarität „…nur mein Verein, den ich lieb – hab für ihn die halbe Welt durchquert…“ (Vega, Ich will raus mit dir, 2014)
Wie alle Prozesse der Identitätsbildung entwickeln sich auch subkulturelle Phänomene im Wechselspiel zwischen Individualisierung und Sozialisationsbestreben (Hitzler & Niederbacher, 2010). Bei Ultras besteht hierbei ein besonders enger Zusammenhang, da sich ihre eigene Identität sehr eng an diejenige der Gruppe anlehnt, in beidseitiger Beziehung zu verschmelzen scheint (Schlicht & Strauss, 2003) und so die „Identitätsfindung von Fans [...] vorwiegend als kollektiver Prozeß“ (Simon, 1996, S. 120) geschieht. Daher sollen in diesem Kapitel die Aspekte der Identitätsbildung und der Gruppensolidarität als herausragende Eigenschaften der Ultra-Kultur charakterisiert und übergreifenden Theorien angeschlossen werden. Im Zusammenhang mit Subkulturen fallen immer wieder – gerade auch im Kontext der Ultra-Kultur – die Begriffe Authentizität, Identifikation und Identitätsbildung (Williams, 2011). So scheinen Menschen in der heutigen Zeit ob der fortschreitenden Virtualisierung und Kommerzialisierung des alltäglichen und kulturellen Lebens authentische, „echte“ Lebenswelten als besonders attraktiv zu erleben und sich mit eben jenen gut identifizieren zu können (Gabriel & Goll, 2012). Ultras finden diese Erfahrungen weniger im Kontext des Spiels auf dem Rasen als eher in tradierten fankulturellen Inhalten (z. B. Trikotfarbe, Stadionname, Vereinswappen) und insbesondere innerhalb ihrer Gruppen wieder, die ausgesprochen solidarisch agieren und über einen großen Zusammenhalt verfügen. Insoweit steht klassischerweise die Identifikation mit dem Verein zu Beginn einer Fankarriere im Vordergrund. Im Lauf der Zeit wird neben dem Verein auch die eigene Gruppe mit ihren Zielen und spezifischen Besonderheiten zum Kern der Identifikation. Neben dem Verein und der Gruppe stellt häufig auch die eigene Stadt einen identitätsbildender Faktor dar. Um diese Identifikation dauerhaft aufrecht zu erhalten, bedarf es fester Rituale und spezifischer, verbindender Symboliken (Bielefeld, 2008). Das Aufrechterhalten authentischer Erlebnisse bzw. der eigenen Werte und Normen ist für Mitglieder von Subkulturen oftmals ein Grenzgang. Denn es stellen sich Fragen nach der Grenze zum Mainstream, wenn eine Kultur größer und öffentlicher wird, oder danach, ob mit explizit subkulturellen Erzeugnissen wie Szene-Musik Geld verdient werden darf oder dies gewissermaßen einem Verkaufen der eigenen Werte gleich kommt (Williams, 2011).
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Die nachhaltige Form der Bindung an die angesprochenen Lebenswelten vollzieht sich dann in Form der Identitätsbildung und der Selbsterkenntnis, Teil einer bestimmten Subkultur zu sein. Bei Ultras ist ein besonders großer Einfluss ihrer Kultur auf die einzelnen Mitglieder zu beobachten, gehen sie doch völlig in ihrer Gruppe auf und postulieren das Credo 24/730 als Teil ihrer Fanidentität. Tajfel (1978) unterscheidet in seiner Theorie der sozialen Identität die personale Identität, die alle individuellen Meinungen, Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Menschen beinhaltet, von der sozialen Identität, bei der das Selbstbild von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und deren gesellschaftlicher Stellung abgeleitet wird. Bei Ultras kann es wegen der enormen Wichtigkeit der Gruppenzugehörigkeit sogar nahezu zu einer Gleichsetzung zwischen personaler und sozialer Identität kommen (Schlicht & Strauß, 2003). Da Menschen generell nach positiver Selbstbewertung streben, versuchen sie ihre soziale Identität über Vergleiche der eigenen mit fremden Gruppen zu stärken (Tajfel & Turner, 1986). Um eine positive Distinktheit (Streben nach positivem Selbstwert) zu gewährleisten, kommt es dabei häufig zu einer Überakzentuierung von Unterschieden zu anderen Gruppen (Tendenz der Gruppendifferenzierung; Tajfel, 1978). Zudem kann die soziale Identität einerseits über eine Aufwertung und subjektiv wahrgenommene hohe Attraktivität der eigenen Gruppe, andererseits über ein sogenanntes Intergruppenverhalten (Mummendey & Otten, 2002), das die generelle, bewusste und unbewusste Abwertung vergleichbarer Gruppen beinhaltet, gestärkt werden. Im Zuge dessen können sowohl Prozesse der Homogenisierung als auch Tendenzen der Diskriminierung von anderen Gruppen zur Aufwertung der eigenen ausgemacht werden. So sind spezifische Verhaltensformen von Ultras gegenüber den Fans anderer Mannschaften („Wir sind besser, lauter, stärker, kreativer, etc.“) zu erklären, aber auch generell Handlungsweisen subkultureller Gruppen untereinander bzw. gegenüber dem „verachteten“ Mainstream. Folgt man Dal Lagos (2001) Beschreibung des Support-Wettstreits unter Ultras als „Schlacht“ (descrizione di una battaglia), lassen sich dieser Wettstreit sowie ein Riot- oder Aggroverhalten – bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen – durchaus in einen engen Kontext zur Steigerung der eigenen sozialen Identität stellen (Leistner, 2008). Besonders intensiv wird die Überlegenheit über eine andere Gruppe erlebt, wenn es gelingt, deren zentrales Identifikationssymbol, die
30 Ultra-Sein an 24 Stunden täglich und sieben Tagen in der Woche.
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Zaunfahne, zu entwenden und so unter Umständen sogar deren Gruppenauflösung zu verursachen.31 Für Außenstehende ist der starke Einfluss einer Subkultur auf den jeweiligen Menschen auf der einen Seite schwer nachzuvollziehen, auf der anderen Seite aber, ob der Vehemenz des kulturellen Engagements und des völligen Aufgehens in den entsprechenden Verhaltensweisen, Werten und Symboliken, sehr anziehend und beachtenswert. Die herausragende Rolle spielt bei der Ultra-Kultur die Gruppe, die oftmals einen so großen Zusammenhalt aufweist, dass sie als Familie(nersatz) fungieren kann (Gabler, 2010). „Wenn du auch die Auswärtsfahrten mitmachst, bleibst du verschluckt. Du verlierst jeden Sinn für Proportionen. Es erfüllt dein Leben. Es ist zu stark“ (Parks, 2003, S. 202).
Bielefeld (2008, S. 23) spricht von Fußballvereinen als „so etwas wie Zugehörigkeitsgeneratoren“. Diese Zugehörigkeit zu einem Verbund Gleichgesinnter ist ein zentrales Element aktiver Fangruppen und eng an die gemeinsam geteilte Identifikation mit Verein und Gruppe gekoppelt (Linkelmann & Thein, 2011). Der Gruppenzusammenhalt erscheint umso wichtiger, je größer die Entfernung von lokalen Identifikationsräumen wird. So ist beispielsweise der Zusammenhalt einer auswärts reisenden Fanszene, bestehend aus unterschiedlichen Gruppen, deutlich höher als bei einem Heimspiel, bei dem es teilweise sogar zu szeneinternen Konflikten kommen kann (Ruf, 2013). Vor Jahren sorgte im deutschsprachigen Raum die Parole „Ultras – no Fans“32 für kontroverse Diskussionen, die verdeutlichen sollte, dass Ultras eben nicht mit den „einfachen“ Fans gleichzusetzen sind, sondern vielmehr eine eigene von den übrigen Fans abzugrenzende Gruppe darstellen. Die Kohäsion und „Gefühle von Zusammenhalt, Solidarität und kollektiver Identität“ (Jessel, 2010, S. 227) spielen bei Ultras eine außerordentlich wichtige Rolle und sind auch bei anderen Subkulturen ein prägendes Merkmal und ein Erklärungsansatz für deren Attraktivität, gerade wenn sie in anderen Bereichen verwehrt bleiben. Prozesse des Zusammenschließens und der Zusammengehörigkeit sind von großen Soziologen wie Tönnies (1963), Weber (1972) oder Durkheim (1988) un-
31 Die Auflösung der Gruppe nach dem Verlust der eigenen Zaunfahne findet nicht zwangsläufig statt, sondern ist u. a. davon abhängig, ob die Entwendung „fair“ am Spieltag gelang oder in einer Nacht-und-Nebelaktion. 32 U. a. zierte diese Parole die Ausgaben Nr. 1-18 des Fanzines Blickfang Ultra, in Ausgabe Nr. 4 (September 2007) findet eine Diskussion über den Slogan statt, dem gleichzeitig „Ultras – just fans“ gegenübergestellt wird.
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ter Begriffen wie Vergemeinschaftung oder Solidarität konzeptualisiert worden. Im Kern steht dabei der Unterschied zwischen der Gemeinschaft und der Gesellschaft, der sich in erster Linie durch die persönliche Beziehung und Bindung der Mitglieder und deren Zusammengehörigkeitsgefühl expliziert. In dem vorliegenden Beitrag soll der sozialpsychologische Begriff Kohäsion aufgegriffen werden. Etymologisch stammt Kohäsion von lateinischen Verb cohaerere, das mit zusammenhalten, festhalten übersetzt werden kann. Dieser Zusammenhalt hat dann einen großen Einfluss auf die Zufriedenheit, Partizipation und Arbeitsleistung von Gruppen (Cartwright, 1968). Carron, Brawley und Widmeyer (1998, S. 213) beschreiben Kohäsion als „a dynamic process that is reflected in the tendency for a group to stick together and remain united in the pursuit of its instrumental objectives and/or for the satisfaction of member affective needs“. „Kohäsion beschreibt den Zusammenhalt, die Widerstandsfähigkeit der Gruppe gegenüber gruppenauflösenden Tendenzen. Sie wird historisch als die wichtigste Gruppenvariable angesehen“ (Schlicht & Strauß, 2003, S. 76).
Die Kohäsion stellt einen elementaren Bestandteil einer erfolgreichen Gruppe dar und wurde in der Sportwissenschaft bisher überwiegend im Kontext der Mannschaftssportarten hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Leistungsfähigkeit betrachtet (Weiß, 2008). Dies lässt sich in gewisser Weise auf Ultras transferieren, da sie durch ihr Engagement und ihren Einsatz ebenfalls große Leistungen vollbringen. Dabei spielen zum einen die Attraktivität der Gruppe für den Einzelnen, zum anderen die Geschlossenheit der Gruppe eine wichtige Rolle (Carron & Hausenblas, 1998). Beide Aspekte haben je eine soziale und eine aufgabenbezogene Komponente. Einer Studie von Wilhelm (2001) folgend scheint insbesondere die aufgabenbezogene Attraktivität, also die subjektive Wichtigkeit der Gruppenziele, von entscheidender Bedeutung für die Gruppenleistung zu sein.33 Die Sozialkohäsion scheint hingegen weniger positiv auf die Leistung als auf das Wohlbefinden und die Zufriedenheit in der Gruppe zu wirken.34 In eben jenen Zusammenhängen lassen sich Ursachen für die enorme Attraktivität von
33 Diese Erkenntnis mag auch die Beobachtung Lenks (1966) erklären, der 1960 im Achter eine Goldmedaille gewann, aber von enormen persönlichen Spannungen unter den Ruderern berichtete und daher die Wichtigkeit der Gruppenkohäsion anzweifelte. 34 Die alte Herberger Weisheit „Elf Freunde müsst ihr sein“ scheint daher hinsichtlich der Gruppenleistung durch „‚Aus erfolgreichen Sportlern werden 11 Freude!‘“ (Schlicht & Strauß, 2003, S. 79) ersetzt werden zu müssen.
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Ultra-Gruppen und deren Zusammenhalt finden: Denn in diesen Gruppen können sowohl attraktive Ziele und Aufgaben gemeinsam in einem interessanten Setting realisiert als auch große soziale Unterstützung und intensive Freundschaft erlebt werden. Ebenso erklären sich so szeneübergreifende Bündnisse und Initiativen, die sich an der gemeinsamen Sache orientieren und bestehende emotionale Konflikte zwischen Gruppen in ihrer Wertigkeit übersteigen (Motto „Getrennt bei den Farben – Vereint bei der Sache“). Trotz der offensichtlich positiven Wirkungen eines großen Gruppenzusammenhalts sollen negative Aspekte nicht verborgen bleiben. So ist eine Gefahr sicher darin zu finden, dass die Mitglieder die Kritikfähigkeit gegenüber der Gruppe und darüber hinaus einen Teil ihrer Individualität im Sinne einer Uniformität einbüßen. So können sich sehr rigide Normen entwickeln, die in Intoleranz gegenüber Abweichlern münden. Oftmals werden die bestehenden Werte nicht mehr reflektiert oder in Diskussionen Innovationen geöffnet. So kann z. B. eine in der Gruppe als legitimes Mittel der Konfliktbewältigung anerkannte körperliche Gewalt sogar „identitätsstabilisierend oder -stärkend wirken, selbst wenn es aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive [...] als abweichendes Verhalten betrachtet wird“ (Jessel, 2010, S. 227). Zudem sind Abschottungstendenzen und die Entwicklung eines Feindbilds für (ähnliche) Fremdgruppen zu beobachten (Fischer & Wiswede, 2009). Diese Abschottung nach außen zeigt sich im Ultra-Kontext vor allem in dem Verzicht auf eine Kommunikation mit Außenstehenden, insbesondere den Medien und der Polizei (Gebhardt, 2010; Ruf, 2013). Viele Gruppen haben ihre offiziellen Homepages vom Server genommen, zahlreiche Fanzines sind nur im Stadion erhältlich und nicht im Postversand.35 Die Gruppe Ultras Nürnberg setzte sich beispielsweise im Rahmen einer Choreographie gegen Fortuna Düsseldorf im August 2015 ironisch mit diesem Verschwörungscharakter auseinander.36 Es muss allerdings auch konstatiert werden, dass im Zuge der 12:12-Debatte eine Öffnung der Szenen nach außen stattfand (siehe Interview mit Jan-Henrik Gruszecki), die allerdings durch die Veröffentlichungen über die mutmaßlichen VMann-Tätigkeiten des Fanforschers Martin Thein (Buschmann, Eggers & Glindmeier, 2014) an den meisten Standorten wieder reduziert wurde.
35 Z. B. das „Stöffsche“ der Ultras Frankfurt. 36 Ultras Nürnberg bediente sich im Rahmen der Choreographie mehrerer Symbole der Freimaurer. Hinter dem Spruchband „Deine Augen sehen es, doch dein Verstand kann es nicht fassen“ und unter dem symbolischen Auge der Minerva stieg bunter Rauch auf (Bertram, 2015ab).
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Es finden sich also in dem engen Zusammenhalt der Ultras und der Sicherheitskräfte, Erklärungspotentiale für die Attraktivität der Gruppen, aber auch für Konflikte oder Probleme. Subkultureller Stil im Kontext Ultra „Subcultures develop a particular ‚look‘, and they express themselves in particular ways: linguistically, musically, and so on“ (Gelder, 2005b, S. 271).
Subkulturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen spezifischen Stil pflegen, der sie auch äußerlich von anderen Menschen unterscheidet und als Style „as intentional communication“ (Hebdige, 1979, S. 100) gedeutet werden kann; so vollziehen Punks ihre Protest- und No-Future-Einstellung auch hinsichtlich ihres provokanten Erscheinungsbildes, Grufties oder Emos zeigen ihre Melancholie durch schwarze Outfits. Auch Ultras verfügen zumindest in Grundzügen über einen gemeinsamen Kleidungsstil, der jedoch zu den eben genannten wie ein Gegenentwurf wirkt: Schlichtheit, Unauffälligkeit und Funktionalität scheinen im Vordergrund zu stehen. Kapuzenpullover, Bauchtasche und Sneaker, gerne auch Sonnenbrille, sind Usus, oftmals gibt nur der Schal Aufschluss über den unterstützten Verein.37 Interessant ist jedoch, dass sich die Kommerzialisierungskritik der Ultras auch im Kontext ihrer Kleidung wiederfinden lässt. Denn Ultras lehnen im Gros das Vereins-Marketing ab und erstellen ein eigenes Merchandise und in diesem Zuge eigene Kleidung, versehen mit den Symbolen der jeweiligen Gruppe (Gebhardt, 2010). Sie bringen dadurch zum Ausdruck, dass sie die kommerzielle Ausrichtung vieler Vereine (immer neues Merchandising, neue Trikots für jede Saison, abweichende Heim- und Auswärtstrikots etc.) nicht unterstützen möchten und machen sich so selbst zum Objekt ihrer Fankultur. Dabei ermöglichen sie es lediglich ihrem Umfeld, über T-Shirts, Pullover oder Aufnäher an der Gruppe teilzuhaben und die entsprechenden Symbole zu verbreiten (Thein & Linkelmann, 2011). Diese Zusammenhänge erklären, warum es unter Ultras Brauch ist, anderen, gegnerischen Ultras die sogenannten Szeneklamotten oder die Zaunfahnen, oftmals unter Anwendung von Gewalt, zu entwenden und so symbolisch über die andere Gruppe zu triumphieren. Besonders beliebt ist die öffentliche Demütigung einer gegnerischen Gruppe durch die Präsentation der entwendeten Devoti-
37 Es lassen sich hierbei Bezüge zur englischen Casuals-Subkultur ausmachen, welche den beschriebenen Kleidungsstil bereits in den 1970er Jahren kultivierte (Hofmann, 2015, o. S.).
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onalien oder der verkehrt herum aufgehängten Zaunfahnen im Stadion. Ein weiteres Zeichen ihres Stils ist in den Gruppenlogos zu finden, die als Kennzeichen oder Art Unterschrift auf Fahnen oder Spruchbändern fungieren. Zum Stil der Ultras gehört es zudem, sich öffentlich auszudrücken, sei es durch Gesänge, Choreographien und Spruchbänder oder mittels Stellungsnahmen im Internet. Gerade im Stadion steht dabei nicht nur ein spezifischer performativer Akt im Fokus, sondern auch der Einbezug einer möglichst großen Anzahl an Menschen, im besten Fall des ganzen Heimpublikums (Schwier, 2012). Diese Öffentlichkeitsorientierung lässt sich einerseits aus dem politischen Agieren der Ultras und ihrem kultivierten Wettstreit um den besseren Support erklären, mutet angesichts ihrer Verschlossenheit gegenüber Medien und Wissenschaft aber auch als widersprüchlich an. Ambivalenzen und Widersprüche zum Begriff Subkultur Neben den ausgeführten Elementen der Ultra-Kultur, die eine Interpretation als Subkultur zulassen, existieren diesbezüglich aber auch Widersprüche. So sind Ultra-Gruppen nicht statisch und unterliegen einer großen personalen Fluktuation, vor allem von Mitgliedern, die nicht im Zentrum der Gruppe stehen. Beständig rücken zudem junge Mitglieder nach und sorgen innerhalb der Gruppen für andere Schwerpunkte und Inhalte, wenn Ältere aus familiären oder beruflichen Gründen nicht mehr mit dem notwendigen Aufwand partizipieren können. Daher scheint dieses, Subkulturen oftmals unterstellte, Kriterium der festen Gruppenstruktur nicht erfüllt: „Bennett (2000), Muggleton (1997, 2000) and Malbon (1998, 1999) seek to argue that subcultures are ‚fixed‘, in contrast to ‚neo-tribes‘ that are ‚fluid‘. They put priority on local variation and the micro focus of ‚everyday‘ contexts that shape subcultural affiliation“ (Blackman, 2005, S. 12).
Ultras gehen – zumindest hierzulande – als Protestkultur weniger in Opposition zu einer (möglicherweise in dieser Ausgeprägtheit gar nicht mehr vorhandenen) Hegemonialkultur, sondern vielmehr zu gesellschaftlichen und ökonomischen Einflüssen auf den Fußball und ihre Fankultur. Darin unterscheiden sie sich von den vor allem im Rahmen der Studien des CCCS erforschten Subkulturen. Innerhalb der Fußballfanszene sind sie darüber hinaus nicht marginalisiert, sondern vielmehr dominant und in der Führungsposition. In diesem Kontext ist vielleicht der Begriff Leit-Fankultur treffender. Sie sind in sich teilweise widersprüchlich bzw. bringen oftmals eine Widersprüchlichkeit mit sich, deren Handhabung für
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die Mitglieder eine stetige Herausforderung darstellt und als übergreifende Entwicklungsaufgabe verstanden werden kann (Williams, 2011). „Subkulturelle Programmanwender – ob nun jugendlich oder nicht – leben eine mal spielerisch-simulierende, mal ernsthaft-verwirklichende ‚Schizophrenie‘ zwischen Unsichtbarkeit und Vermarktung. Einerseits verweigern sie sich der Beobachtung, andererseits kämpfen sie um Aufmerksamkeit [...]“ (Jacke, 2010, S. 47).
Wie bereits angeklungen, ist es beispielsweise für Kunstschaffende ein schmaler Grat zwischen subkultureller Teilhabe und kommerziellem Verkauf der eigenen Werte sowie eigenem Mainstream-Werden, wenn bspw. Musik-CDs verkauft werden oder einzelne Stücke hohe Charts-Platzierungen erreichen. In diesem Kontext stellen sich auch Ultras die Frage danach, wie sich ihr Protest gegen die Kommerzialisierung des Fußballs damit verbinden lässt, dass ihre Choreographien und leidenschaftlichen Anfeuerungen der eigenen Mannschaft als Teil des „Gesamt-Events“ Bundesliga-Fußball interpretiert werden können (Wark, 2012). Einige Gruppen haben in diesem Zusammenhang schon den Rückzug aus dem Profi-Fußball vollzogen.38 In diesem Kontext ist auch der Aspekt des Strebens nach Anerkennung, Mitsprache und Gehör verbunden mit einer Verschlossenheit und dem Abbrechen der Kommunikation mit Sicherheitsakteuren und Verbänden als in Teilen widersprüchlich auszumachen. Ultra als Fankultur „Es ist der Alltag, der uns krank macht – die ganze Woche warten wir auf Samstag“ (Sergeant Scotch, Samstag, 2008).
Williams (2011, S. 180) beschreibt den Unterschied zwischen Fantum und Subkultur folgendermaßen, wobei Ultras nach dieser Denke möglicherweise zwischen beiden Konzepten auszumachen sind, da sie innerhalb ihres Fanseins eine Konsumkritik kultivieren und deutlich formulieren: „[...] whereas subcultures often oppose the mainstream on ideological grounds, fans oftentimes engage in clear mimicry of dominant cultural standards of taste and status. This distinction about how fans handle identity and status brings us back to a point I made earlier about their role in consumer culture. Fan culture’s position vis-à-vis cul-
38 Vgl. diverse Neugründungen, z. B. Austria Salzburg, Manchester of United, HFC Falke.
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ture industries is different from subculture’s position and represents a tension between the two fields of study“.
Etymologische Ableitungen Etymologisch stammt der Begriff Fan vom lateinischen Wort fanaticus ab, das mit in Raserei versetzt, rasend, begeistert, aber auch von einer Gottheit in Entzückung geraten übersetzt werden kann (Sitter, 2013). Fans scheinen der begrifflichen Ableitung folgend ganzheitlich emotional von einem bestimmten Fanobjekt ergriffen zu sein, das aus ihrer Perspektive anziehend und von besonderem Wert ist. Um das Fansein ausleben zu können, bedarf es eines großen Maßes an Engagement, jedoch nicht in dem Sinne, dass der betriebene Aufwand als Belastung oder „Arbeit“ wahrgenommen würde. Gerade das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Je größer der Aufwand, desto größer die Freude über, Identifikation mit und Faszination an der eigenen Fankultur. Nach Roose, Schäfer und Schmidt-Lux (2010, S. 12) kann der Fan wie im Folgenden umschrieben werden. „Menschen, die längerfristig eine leidenschaftliche Beziehung zu einem für sie externen, öffentlichen, entweder personalen, kollektiven, gegenständlichen oder abstrakten Fanobjekt haben und in die emotionale Beziehung zu diesem Objekt Zeit und/oder Geld investieren“.
Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Fankultur von Ultras hinsichtlich ihres Engagements weit über Aspekte wie Zeit oder Geld hinausgeht und vor allem qualitative Eigenschaften des Fantums wie Kreativität, Kraft oder Hingabe beinhaltet. Zudem erscheint angesichts der Konsum- und Kommerzialisierungskritik vieler Ultras der Begriff investieren unpassend. Dennoch können im Kontext dieser Fankultur aus der Definition von Roose und Kollegen die Elemente Leidenschaft, Identifikation und Anstrengung/Hingabe herauslöst werden. Die Begriffe stehen miteinander in Beziehung und bedingen sich gegenseitig: „So erhöht sich mit größerer Identifikation die Leidenschaft für das Fanobjekt und dadurch auch das Engagement, welches wiederum die Grundlage für vermehrte Identifikationsprozesse darstellt“ (Duttler, 2015, S. 39).
Leidenschaft versinnbildlicht die Intensität der Beziehung von Fan zu Fanobjekt. Diese scheint in ihrer Wortherkunft auf den engen Zusammenhang und schmalen Grat zwischen Lieben und Leid zu verweisen, die uns auf der einen Seite zeigen, dass beide Gefühle nur allzu schnell ineinander übergehen können, auf der ande-
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ren Seite verdeutlichen, dass beide ohne einander nicht existent sind (Greshake, 1978).39 Auch die Übersetzung von Leidenschaft als Passion (zurückgehend auf passiv) erbringt fruchtbare Erkenntnisse. Denn hinsichtlich dieses Zusammenhangs kann Leidenschaft interpretiert werden als ein Zustand der passiven – nicht kontrollier- und steuerbaren – Ergriffenheit, welcher sich ein Fan nicht entziehen kann, die er nur mit großer Aktivität beantworten kann und die ihn so zu einem engagierten Verhalten anregt (Kluge & Seebold, 2002). Bei Fußballfans und Ultras steht die Leidenschaft in enger Beziehung zur Identifikation mit ihrem Fanobjekt (Gabriel & Goll, 2012). Bei Ultras sind dabei in erster Linie der Verein und die Stadt, aber vor allem die eigene Fangruppe hervorzuheben. Interessant dabei ist, dass sie dem Verein und den Spielern – im Sinne einer kritischen Besorgtheit – durchaus auch opponierend gegenüberstehen. Ultras leben daher in erster Linie einen Kult um ihr eigenes Fansein aus, sind sozusagen Fan der eigenen Fankultur. Dabei weist Bielefeld (2008) auf die Fragilität der Identifikation hin, die immer wieder durch Rituale oder wiederkehrende Symboliken bestätigt werden müsse. Leidenschaft und Identifikation stellen die Hintergründe des enormen Aufwands dar, mit dem Ultras ihr Fansein kultivieren. Fußball als Ersatzreligion „FCN – Liebe, Glaube, Leidenschaft“ (Fangesang in Nürnberg)
Fußballfans bringen ihr Fan-Sein zudem oftmals in einen engen Zusammenhang mit Glaube und Religiosität. So gibt es den anzubetenden Fußballgott, den Verein als Religion und sogar Adaptionen von Gebeten wie das Schalke Unser (Klein & Meuser, 2008). Wie bereits ausgeführt kann als Ursprung des Begriffs Fan das lateinische Wort fanaticus auch mit von einer Gottheit in Entzückung geraten übersetzt werden (Sitter, 2013). Das Fan-Sein scheint uns demnach einerseits emotional und ganzheitlich zu erfassen, andererseits an die Hinwendung an etwas Verehrenswertes, Höheres gebunden zu sein. Diese Nähe zwischen Fantum und Religiosität verdeutlicht auch das lateinische Wort fanum, das mit Tempel, Heiligtum übersetzt wird. Im Gegensatz zu oftmals beschriebenen Prozessen der Säkularisierung westlicher Gesellschaften könnte das Nachlassen des kirchlichen Einflusses auf viele Menschen einem Überfluss an Alternativen geschuldet sein – Schmidt-Lux
39 „Würde Gott dieses Leid verhindern, hieße dies, daß Gott dem Menschen die Freiheit und damit die Möglichkeit wirklicher Liebe nimmt“ (Greshake, 1978, S. 37).
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(2010, S. 285) verweist hierbei auf die These der „De-Secularization“, die von verschiedenen Autoren Unterstützung erhalte (u. a. Berger, 1999). Die Plausibilität, hochgradig ritualisierten Fanaktivitäten, wie sie gerade bei den besonders leidenschaftlichen Fans vorkommen, einen religiösen Charakter zu unterlegen, leitet Schmidt-Lux (2010, S. 286) mit Bezug auf Durkheim darüber ab, dass „geteilte Vorstellungen, Werte und Ideen für die dauerhafte Existenz sozialer Gruppen“ unumgänglich seien. Das Fantum als Ersatzreligion liefere hierfür das entsprechende Symbolsystem. Die Wichtigkeit von Ritualen und Symbolen zeigt sich bei Ultras beispielsweise in der großen Wertigkeit der gruppeneigenen Zaunfahne, die in keinem Fall in die Hände gegnerischer Ultras fallen darf und bei Verlust die Auflösung der Gruppe nach sich ziehen kann (Langer, 2012). Auch mit Bezug auf Luckmann (1991) kann das Fan-Sein in einen Kontext mit Religion gestellt werden, die er als über die Sozialisation unmittelbar zum Menschen gehörige Instanz denkt. Und tatsächlich erfüllen Fangruppen eine wichtige Funktion von Religion: die Stabilität eines gemeinschaftlichen Wertesystems verbunden mit einem verbindlichen Verhaltenskodex, in dem sich die zugrundeliegenden ethischen Grundsätze widerspiegeln (Schmidt-Lux, 2010). Fraglich bleibt indes die mythisch-religiöse Reichweite von Fußballfantum. Hütig (2008, S. 258) weist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Religion und Ausleben des Fan-Seins hin, den er vor allem in der Reichweite von Religion und Mystik über das Diesseits hinaus in das Jenseits findet und resümiert, dass bei Fußballfans „allenfalls Annäherungen, wenn nicht sogar Simulationen mythischen Verhaltens oder religiöser Erfahrung“ zu beobachten seien. Die dargestellte Verbindung zwischen Fantum und Religiosität machen die Reaktionen von Ultras hinsichtlich der als Bedrohung ihrer Kultur wahrgenommenen Prozesse im Zuge der fortschreitenden Kommerzialisierung des Fußballs nachvollziehbar (Duttler, 2014). Traditionelle Rituale und Symbole wie zum Beispiel die Farben des Vereins oder Vereinswappen sind für sie von besonderer Wertigkeit und nicht beliebig austausch- oder modernisierbar. Im Umgang mit Ultras ist es, beispielsweise für Sicherheitsakteure, gerade das Gespür für den persönlichen Stellenwert ihrer Fankultur und die Wichtigkeit von Symbolen, das eine Basis für ein konstruktives und respektvolles Verhältnis zueinander bilden kann.
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WEITERER ( IM B UCH NICHT EXPLIZIT ABGEHANDELTER ) S UBKULTUREN Neben den im Sammelband ausführlich thematisierten Subkulturen existieren auch Bezüge von Ultras zu weiteren Szenen oder Bewegungen. In diesem Kapitel sollen einzelne Beziehungen (s. auch die ausführlichen Beiträge von Krol, Grün und Hüttinger) kurz dargestellt werden, bevor mittels einer Übersicht über sub- und jugendkulturelle Bewegungen im Zeitverlauf das Kapitel abgerundet wird. Ultras und andere Subkulturen – ein erster Einblick auf Basis von Fan-Literatur Das Phänomen des Szene-Crossings im Kontext der Ultra-Kultur ist wissenschaftlich bislang kaum aufgearbeitet worden. In Fan- und Ultrakreisen spielen andere Szenen jedoch schon seit einigen Jahren eine wichtige Rolle. So beleuchtete das Magazin Blickfang Ultra (Burkhardt & Partner Verlag, Freital) schon in den Jahren 2007 und 2008 in einer sich über mehrere Ausgaben erstreckende Serie Zusammenhänge der Ultrakultur mit anderen Subkulturen. Konkret fungieren in Ausgabe Nr. 6 die Mods, in Nr. 7 die Skinheads und in Nr. 8 die GraffitiBewegung als Gegenstände der Beobachtungen. In Ausgabe Nr. 8 (August 2008) heißt es beispielsweise: „Inzwischen haben auch die Ultras Graffiti entdeckt. Sie markieren ihre Stadt oder brechen ein in die der Anderen. Ihnen geht es ausschließlich darum, bekannt zu werden. Sie wollen überall ihre Gruppennamen hinterlassen und die besuchten Städte und Stadien markieren. Dabei sind die Motive bei fast allen Ultras gleich: es geht besonders oft gegen die Kommerzialisierung im Fußball, wie den Verkauf von Stadionnamen, gegen den Erzfeind in der Region und wie in jeder Bewegung vor allem unter Jugendlichen: die konservative Haltung, die von einem besseren Gestern erzählt und natürlich ewige Treue. We will be here forever!“ (Redaktion Blickfang Ultra, 2008a, S. 47).
Im gleichen Artikel wird auch auf die zu dieser Zeit erstmals auftretenden Zaunfahnen im Graffiti-Stil berichtet. Vorreiter soll die Zaunfahne der mittlerweile aufgelösten Ultra-Gruppe Chosen Few Hamburg sein, die am 30.09.2000 eingeweiht wurde und als erste Zaunfahne gilt, die den Gruppennamen mit gesprühten Buchstaben abbildet – also die Verbindung der Ultra-Szene mit dem Sprühen erstmals auch im Stadion nach außen präsentiert.
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In der Ausgabe vom März 2008 werden die Verbindungen mit den Mods beschrieben bzw. untersucht. Über die Mods heißt es (Redaktion Blickfang Ultra & Sir Paulchen, 2008, S. 6): „Gegen Ende der fünfziger Jahre trafen sich avantgardistisch inspirierte Jugendliche aus zumeist wohlhabenden jüdischen Elternhäusern in ausgefallenen Londoner Clubs und Cafés, deren musikalische Vorliebe dem ‚Modern Jazz‘ galt – hiervon leitet sich ihre Selbstbezeichnung ‚Modernists‘ ab. Ihr auffallendstes Kennzeichen war die Eleganz im Outfit, sie knüpften am späten italienischen Stil der Teds an und entwickelten ihn weiter, die gebügelten Hemden, schmale Krawatten und knapp sitzende Anzüge vermittelten ein Image von Nonchalance und Sauberkeit“.
Auch hier findet sich eine interessante Parallele u. a. zum Kleidungsstil der heutigen Ultra-Bewegung: Weiße Sneaker, Bauchtasche, schwarze Kapuzenshirts. Zusammenfassend kommt der Autor jedoch zum Ergebnis, dass Überschneidungen eher zu verneinen seien (Redaktion Blickfang Ultra & Sir Paulchen, 2008). Nichtsdestotrotz haben einige Ultra-Gruppen in Doppelhaltern und Zaunfahnen klassische Motive (z. B. den sog. Mod-Target) der Mod-Bewegung adaptiert. In Ausgabe 7 (April 2008) wird die Frage nach Verbindungen zwischen der Ultra- und der Skinhead-Bewegung von mehreren Autoren umfangreich diskutiert (Redaktion Blickfang Ultra, 2008). Die klassischen Kennzeichen der Skinhead-Bewegung sind vor allem in der Musik (Ska, Reggae, Oi) und im Kleidungsstil zu finden. Gemeinsame Elemente mit der Ultra-Bewegung sind in gesellschaftlicher Ablehnung und Marginalisierung auszumachen. Weiter wird der große subkulturelle Einfluss auf die Identität des einzelnen Mitglieds als gemeinsames Merkmal angesehen (vgl. ebd.). Der ballesterer befasst sich in der Ausgabe Nr. 96 (Ballesterer Nr. 96 / November 2014) ausführlich mit der Verbindung von Fußball und Hip-Hop und resümiert, dass es früher wenige Schnittmengen zwischen Fußball und Hip-Hop gegeben habe, dies sich aber innerhalb der letzten 30 Jahre durch die Etablierung des Deutsch-Raps Anfang der 90er Jahre grundlegend geändert habe (Anwander & Kraft, 2014). Seit dieser Zeit seien sowohl Fußball als auch Hip-Hop starken Kommerzialisierungsprozessen unterworfen. Neben der Auflehnung der FußballFans gegen diese Prozesse habe sich auch die Hip-Hop-Szene in Mainstream und Underground gespaltet. Zusammenfassend seien Hip-Hop und Fußball die letzten jugendlichen Kollektive unserer Zeit (ebd., S. 25). Beschrieben wird auch die enge Verbundenheit der Rap- mit der Fußballszene in Polen. Als gemeinsamen Nenner bezeichnet der Verfasser hierbei die Abneigung gegen die Polizei (Braula, 2014).
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Ultras als Anti-Hipster? Bei der Betrachtung von Subkulturen im deutschsprachigen Raum stößt man aktuell fast zwangsläufig auf den Begriff Hipster. Gerade die Ultra-Bewegung sieht sich zunehmend auch als Gegenentwurf40 zu der Hipster-Bewegung, die sich durch einen hohen Individualisierungsgrad und Distinktionswillen auszeichnet (Simsek, 2014). „Der Hipster hat zu viel Abstand zur Welt, um sich die Frage nach ihrem Wesen zu stellen, geschweige denn, an ihr zu leiden. Er ahnt, dass er nichts weiß, aber das verstört ihn nicht, im Gegenteil. Er feiert die Kapitulation vor der Komplexität der Welt als Befreiung. Seine Lebensweise ist ein absurder Superlativ von Monteignes ‚Ich enthalte mich‘“ (Sauerbrey, 2013, o. S.).
Der Hipster bejaht die Flexibilität, vertritt eine Geisteshaltung, die nichts als bestehend und fest anerkennt, sondern alles im Fluss sieht (Philipp Ikrath im Gespräch mit der SZ; Schlüter, 2015).Während Ultras, was ihren Wertekanon anbetrifft, sehr greifbar sind und über diesen ihre Identifikation herleiten, verändert sich der Hipster ständig, „ist in diversen Subkulturen zu verorten“ (Greif, 2012, S. 23) und findet daher niemals eine stabile Identität. Auch wenn eine trennscharfe Definition des Hipsters schwerfällt, ist ihm immanent, dass er „oberflächlich von Objekt zu Objekt hetzt, bevor es die Massenkultur vereinnahmt“ (Schmidt, 2012, o. S.). Die genannten Eigenschaften scheinen somit in einem krassen Gegensatz zur Ultra-Bewegung zu stehen, die sich eben gerade über stabile Werte definiert und insoweit ihr Weltbild nicht permanent neu erfindet. Andererseits ist auch zu beobachten, dass die Ultra-Kultur als hip aufgenommen und rezipiert wird bzw. sogenannte Mode-Ultras ohne eigentlichen Bezug zu Fußball oder Fantum direkt versuchen, in bestehenden Gruppen Anschluss zu finden (Verma, 2006).
40 So z. B. Juses, Album „Kinder der Stadt“ im Titel „Komm ran“ mit der Textzeile: „…schon früh auf dem Zaun gehockt und provoziert, mit diesem Album werden Hipster-Werte abrasiert…“
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Abbildung 1: Deutliche Abgrenzung der Ultra-Kultur zu Hipstern auf einem themenspezifischen Aufkleber (Quelle: Gabriel Duttler)
Jugend- und Subkulturen in Deutschland im Überblick Bezüge zu weiteren Szenen, Subkulturen oder jugendkulturellen Bewegungen können im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht gänzlich aufgearbeitet werden. Abbildung 2 soll jedoch – ohne Anspruch auf umfassende Vollständigkeit – einen Überblick über diesbezügliche Entwicklungen des letzten Jahrhunderts bis heute liefern. Dabei ist auffällig, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige wenige Subkulturen oder Szenen dominanten Charakter aufwiesen, während seit den 1980er Jahren eine enorme Ausdifferenzierung, Verzweigung und Individualisierung der einzelnen Bewegungen zu beobachten sind, die wohl vor allem auf Aspekte der Globalisierung und Auswirkungen der Omnipräsenz des Internets zurückgeführt werden können. Auch der große Einfluss der Punk-Kultur seit den 1970er Jahren wird deutlich.
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Abbildung 2: Überblick über sub- und jugendkulturelle Bewegungen in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts (u. a. Eckert, Reis & Wetzstein, 2000; Ferchhoff, 2011; Krüger, 2010)
F AZIT Angesichts der dargestellten Zusammenhänge, der diskutierten Begriffe und identifizierten Kernthemen der Ultras erscheint fraglich, sie als Subkultur klassischer Prägung zu deuten. Sie vereinen zwar auf der einen Seite Kennzeichen früherer Subkulturen wie Identitätsbildung, Erhöhung der eigenen Gruppe durch Intergruppenverhalten, Formen des Protests und der Gesellschaftskritik oder Konflikte mit anderen Akteuren des Feldes, zeigen sich auf der anderen Seite aber auch in steter Entwicklung und mit Überschneidungsbereichen zu anderen Subkulturen oder Szenen sowie als in sich nicht abgeschlossen zum Mainstream. Diese gegenseitigen Einflüsse und Interdependenzen zu anderen Subkulturen stehen im Zentrum der einzelnen Beiträge dieses Sammelbands. Die sogenannten Szene-Crossing (Verbinden der Elemente einzelner Szenen) und Szene-Hopping (Wechsel zwischen Szenen) können im Kontext der sich aktuell schnell verändernden Jugend- und Subkulturen als generelles Verhalten von jungen Menschen ausgemacht werden (Hitzler, 2008). Hinsichtlich der
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Ultra-Kultur sind sie aber nicht ausreichend untersucht und wegen der Attraktivität der Gruppen häufig und gesellschaftlich relevant. „A reader interested in sport-related subcultures might initially question the relevance of empirical work focussed on youth subcultures based in music“ (Hughson, 2008, S. 55).
Insbesondere soll der Kritik Krügers (2010, S. 24) gefolgt werden, dass Subkulturen, Szenen oder spezifische Lebensentwürfe in mancher Übersichtsarbeit recht additiv beschrieben „und keine thematischen und historischen Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Gruppierungen auf[ge]zeigt“ werden. In dem vorliegenden Sammelband möchten wir genau jene Verbindungen zwischen Ultras und anderen Subkulturen oder Szenen zum Thema machen. Dabei befinden wir uns im Spannungsfeld zwischen theoretisch-wissenschaftlicher Beschäftigung mit Subkultur und Praxiswissen von Experten aus dem Forschungsfeld. Beide Pole werden in Einzelbeiträgen von den Autorinnen und Autoren unterschiedlich gewichtet und einbezogen, so dass ein Sammelband entstanden ist, der sowohl wissenschaftliche Fragestellungen als auch spezifisch-feldnahe Interessen von Akteuren einzelner Subkulturen zu befriedigen vermag und daher (hoffentlich) eine Vielzahl verschiedener individueller Zugänge liefert.
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Die Lebenskultur der Ultras
Ultras und Werte – ein Interview mit Jan-Henrik Gruszecki G ESPRÄCH GEFÜHRT VON G ABRIEL D UTTLER
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GD/BH: Hallo Janni. Aktuell betreust du für den deutschsprachigen Raum ein Crowdfounding-Projekt, das dem Sheffield FC dazu verhelfen soll, an seine ursprüngliche Heimstätte Oliver Grove in der Stadtmitte zurückzukehren. Das Projekt soll Gelder sammeln, die dann für den Bau eines kleinen Stadions genutzt werden sollen. Wie kam es dazu? JHG: Ich habe 2012 für das ZDF eine Doku über den englischen Fußball gedreht. Seitdem besteht ein Kontakt zu den Verantwortlichen vor Ort, mit denen ich mich von Anfang an gut verstanden habe. Ich habe damals nicht verstanden, warum die Stadt Sheffield als „Brutstätte des Fußballs“ so wenig für den Verein macht. In Sheffield befindet sich die Wiese, auf der das erste Fußballspiel nach heutigen Regeln stattfand. GD/BH: Ging das Projekt von Dir oder von den dortigen Verantwortlichen aus? JHG: Die Verantwortlichen dort haben unsere Bemühungen und unsere Crowdfundig-Aktion im Rahmen der Verfilmung der Geschichte Franz Jacobis (Anm.: Gründer des BVB) mitbekommen. Dann haben wir gemeinsam die Idee entwickelt, hier ebenfalls ein ähnliches Projekt zu starten. Das Projektteam besteht aus drei Personen, Chairman Richard Trims, Robert Zitzmann aus Hamburg und eben mir. GD/BH: Wie ist der aktuelle Stand? JHG: Man muss sagen, dass es in England sehr enttäuschend ist. Da kommt recht wenig. In Deutschland sind wir zufrieden. Wir haben auch Zusagen von vielen Vereinen, insgesamt derzeit um die 30.000 €. Es ist ein internationales Projekt, eine weltweite Kampagne, wobei wir unseren Fokus natürlich v. a. auf die Län-
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der gelegt haben, die traditionell über eine gewisse Fankultur verfügen, also England, Deutschland, Spanien und Italien. Aus Italien und Spanien kommt im Wesentlichen nichts. Ich denke, es ist einfach eine Form von Ignoranz, vielleicht kommen wir auch mit dem Thema nicht durch. Aus Südamerika, wohin ebenfalls gute Beziehungen bestehen, ist einfach aufgrund der finanziell problematischen Situation nicht viel zu erwarten. GD/BH: Warum kannst du dich mit einem solchen Projekt identifizieren? JHG: Es gibt ein Sprichwort, wonach nichts so alt ist, wie die Zeitung von gestern. Heute muss man eher sagen: „Nichts ist älter als der Tweet von vor 10 Minuten“. Aber die Anfänge, die bleiben aus meiner Sicht für immer, an die erinnert man sich. Mein Ziel ist es, dass es einen würdigen Platz für Sheffield gibt, sozusagen einen „heiligen Ort“ für Fußballfans. Einen Ort, den man „once in a lifetime“ besucht haben sollte. Ich finde das enorm wichtig. Es wird alles immer schneller. Wir bewegen uns zwischen Ursprung und der Gegenwart, alles was dazwischen liegt, alle Kleinigkeiten verschwinden. Ich war auch an einem 25.12 in Bethlehem. Ich denke angesichts der Schnelllebigkeit der Gesellschaft wird das allgemein immer wichtiger: Orte des Ursprungs, Gründungsgeschichte, wie wir sie auch beim BVB betrieben haben, all so etwas. GD/BH: Du bist Mitbegründer einer Dortmunder Ultragruppe. Stichwort Werte: Welche Werte würdest Du für Ultra-Gruppen als maßgeblich erachten? JHG: Grundsätzliches Ziel – ich behaupte aller Ultra-Gruppen Mitte, Ende der 90er Jahre – war es, die Stimmung, die in den Stadien immer schlechter wurde, zu verbessern. Für mich ist das bis heute eigentlich das Grundziel. Was die Werte anbetrifft, so waren Ultra-Gruppen – so auch wir – früher in erster Linie tolerant. Es gab damals das Motto „football without politics“. In den Gruppen waren extrem Rechte und extrem Linke vereint. Heute sind die Gruppen viel intoleranter geworden; und das meine ich positiv. Früher war die Duldung rechter Grundeinstellung völlig normal, Gesänge wie „Blut und Ehre für die Amateure“ wurden gedankenlos hingenommen. Heute sind mit Sicherheit antirassistische Werte sehr wichtig geworden. Grundsätzlich stehen Werte wie Treue und Loyalität zum Verein im Vordergrund. Ich beobachte allerdings eine Entwicklung bzw. einen Trend in Deutschland, dass sich die Leute eher den Gruppennamen als den Vereinsnamen eintätowieren lassen. Das halte ich dann doch für bedenklich, wenn die Gruppenliebe über der Vereinsliebe steht. GD/BH: Ausgehend von den Protesten 12:12 haben wir den Eindruck, dass die Ultra-Szenen vermehrt nach außen kommunizieren. Im Umkehrschluss führt das
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aber auch zu Abspaltungen und Neugründungen, evtl. weil Hard-Liner nicht bereit sind, diesen Weg mitzugehen. Wie nimmst du diese Entwicklung wahr und wo siehst du Chancen und Risiken für die Ultrabewegung? JHG: Die Beobachtung teile ich grundsätzlich, allerdings glaube ich nicht, dass sie direkt aus 12:12 resultiert. Bei 12:12 musste der Weg in die Öffentlichkeit beschritten werden. Das war zwingend notwendig, ganz massiv zu trommeln. Da musste man eben zwangsläufig auch mit der Tagesschau reden. Es ging nicht darum, dass eine kleine Gruppe schweigt, sondern komplette Stadien, in Dortmund 80.000 Menschen. Das musste nach außen kommuniziert werden, einfach, weil es sonst keinen Sinn gemacht hätte. 12:12 war in diesem Sinne definitiv ein Meilenstein für die deutsche Ultrabewegung, aber natürlich was die Öffentlichkeitsarbeit anbetrifft nur für einen gewissen Zeitpunkt. Ab dem 13.12 war in der Öffentlichkeit nichts mehr zu hören. Ich glaube, dass der Erfolg der Aktion dafür gesorgt hat, dass die gesamte Ultra-Bewegung selbstbewusster geworden ist. Auf einmal mochte die ganze Fußballwelt die Ultras. Das sorgt für Selbstbewusstsein und vielleicht auch dafür, dass die Bewegung radikaler wird. Das ist passiert. Abspaltungen gab es sicher. Ich weiß aber nicht, ob diese etwas mit 12:12 zu tun haben. GD/BH: Du bezeichnest 12:12 als Erfolg, obwohl das Konzeptpapier des DFB letztlich trotzdem von den Vereinen verabschiedet wurde. Inwieweit war 12:12 also ein Erfolg? JHG: Das ist richtig. Dennoch gab es natürlich Änderungen im Vergleich vom ersten zum zweiten Entwurf. „kann“-Vorschläge wurden eben nicht zu „muss“Vorschlägen. Die Ultras haben Muskeln gezeigt. Die Herren in Frankfurt haben schon gemerkt, dass es nicht so einfach ist, sich mit den Fans anzulegen. Der nachhaltige Erfolg liegt darin, dass den Vertretern bewusst wurde, dass sie die Ultras brauchen. Das Perverse ist, dass die großen Vermarkter und Sponsoren gesagt haben, dass sie die Geschäftskunden deswegen beim Fußball treffen, weil da eine solche Stimmung ist. Sie haben da Druck erzeugt aus einer Ecke, aus der man es nicht vermutet hätte.
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GD/BH: Zurück zu 12:12 und der Kommunikation: Würdest Du generell Gruppen empfehlen mehr an die Öffentlichkeit zu gehen und welche Auswirkungen könnte dies haben? JHG: Schwer zu sagen. Grundsätzlich ein klares „Jein“. Es geht immer um die Grundsatzfrage, wer erreicht werden soll. Bei 12:12 ging es eben nicht nur um den harten Kern, sondern um das gesamte Stadion. Das ist immer ein Konflikt und eine Frage, die sich große Ultra-Gruppen stellen müssen. Ultras sind nach wie vor gegen gesellschaftliche Normen. Sie verhalten sich anders als es „Normalbürger“ akzeptieren können. Selbst andere Kurvengänger fragen sich bei manchen Aktionen zum Teil, ob die Ultras „sie noch alle haben“, gerade bei kriminellen Sachen. Das ist auch das Interessante in der Öffentlichkeit: Da liegt der Fokus klar auf Pyrotechnik. Wenn ich mir anschaue, dass bei Derbys 200 Schals präsentiert werden – meine Güte, 200 Einzelschicksale, zum Teil mit einhergehenden gebrochenen Nasen, Diebstahl, Raub, Körperverletzung. Das sind doch für die Gesellschaft viel schlimmere Sachen als Ordnungswidrigkeiten wegen Pyro. Aber eine Öffentlichkeit gibt es dafür keine. Bei Pyro dagegen kriegen die Ultras am nächsten Tag einen Anruf von der Geschäftsleitung und die Presse springt auf. Insoweit glaube ich, dass eine weitere Öffentlichkeit den Ultras keinen Erfolg bringt. Die wirkliche Mentalität sollte nicht in den öffentlichen Fokus gestellt werden. „Outlaw“ zu sein, ist auch sehr attraktiv für die Leute. Wenn man das aufweichen würde, würde diese Attraktivität zurückgehen. Dagegen gibt es natürlich Situationen, wo man die Öffentlichkeit einbeziehen muss. Keine Fanbewegung funktioniert heute ohne die Ultras. Beispiel ist die aktuelle Ticketpreisproblematik beim BVB (Anm.: die Tickets des BVB in der Europa-League waren zunächst für Dauerkarten-Inhaber deutlich teurer als die Tickets im Vorjahr in der Champions League. Nach massiven Protesten der Dortmunder Szene hat der Verein dann eine Anpassung der Preise vorgenommen). Es kommt also immer auf den Gegenstand der Kampagne an. Nur in Auszügen würde ich eine vermehrte Öffentlichkeitarbeit befürworten. GD/BH: Die Fans sind grundsätzlich immer mehr politisch involviert, wie der Einfluss auf den arabischen Frühling in Ägypten, die Auseinandersetzungen in Istanbul, aber auch die sog. „Hogesa-Demos“ in Deutschland gezeigt haben. Wie bewertest Du diese Entwicklung? Stimmst Du überein, dass auch in Deutschland politische Umwälzungen nur über die Ultra-Bewegung laufen würden und sie damit die Studenten abgelöst haben? JHG: Definitiv. Hätten wir heute eine politische Auseinandersetzung bzw. eine vergleichbare Situation wie in den genannten Ländern, dann stünden die Ultras
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in erster Reihe. Das ist ganz einfach, sie wissen, wie „Revolte“ funktioniert. Andere gesellschaftliche Gruppen haben diesen Organisationsgrad nicht. Keine anderen Gruppen arbeiten mit fixen Zeitpunkten. Zug, Bus, Anreise, 15:30 Uhr Anpfiff – die Gruppen müssen sich jede Woche organisieren. Der Grad an Organisation ist wahnsinnig hoch. Das ist eine Disziplin, die keine andere vergleichbare Szene hat. Das ist bei Ultras komplett automatisiert. Ich gebe dir ein Beispiel: Bei der Nazi-Demo in Dortmund am Wochenende, da waren die Linken einfach schlecht organisiert. 30 Ultras hätten den Laden auf links gedreht. Die Organisation, das ist eine absolute Kernkompetenz der Ultras. Inhaltlich auch – klar, das setze ich voraus. Ultra-Gruppen identifizieren sich mit rebellischen Werten. Es kann auch Ideologie sein, aber definitiv nicht zwingend. Ultras hinterfragen kritisch, haben diverse politische Werte, aber eben auch Bock auf Rebellion. Das ist auch wichtig und gut, gerade in der Jugend. GD/BH: Welche Entwicklungen diesbzgl. erwartest du in den kommenden Jahren? Ist vielleicht sogar eine Ultra-Partei denkbar? JHG: Das halte ich für völlig absurd. Die Bewegung ist dafür nicht geschaffen, sondern zu radikal. Es gibt natürlich immer wieder Fanbeauftragte, die früher Mitglieder der Szene waren und dann in einem anderen System funktionieren, aber ein grundsätzlicher, großer politischer Weg ist für mich nicht denkbar. GD/BH: Die Ultra-Bewegung gilt als Gegenbewegung zu kommerziellen Auswüchsen. In wieweit spielen andere Subkulturen hier eine Rolle? JHG: Ich sehe das als eine Entwicklung, die ihren Beginn vor etwa 10 Jahren genommen hat. Aus meiner Sicht spielen im Fußball hauptsächlich die Subkulturen Graffiti und Musik eine Rolle. Das sind die hauptsächlichen Überschneidungen. Das ist ein wechselseitiger Einfluss. Viele Künstler sind auch BVB-Fans und so kommt eines zum anderen. Die Szenen befruchten sich gegenseitig und übernehmen Elemente voneinander. Ich sehe das aber nach wie vor als Beschnuppern, also erst am Anfang, man lernt sich gerade kennen. GD/BH: Wie nimmst Du andere Elemente (Graffiti, Kleber, Hip-Hop usw.) konkret wahr? Wie genau geschehen die oben angesprochenen Überschneidungen? JHG: Ich denke, bei der Graffiti-Szene gibt es gemeinsame Ziele, an denen sich die Protagonisten orientieren. Eine Darstellung des Vereins, des Reviers. Das ist ein gemeinsamer Weg. Beim Hip-Hop sehe ich die Gemeinsamkeit in der Art, sich selbst zu artikulieren, also die Ziele nach außen zu tragen, wofür man steht. Die Kleber-Szene ist eigentlich fast von Ultras erfunden worden. Natürlich gab
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es das früher auch schon, aber es ist schon massiv von den Ultras gekommen. Das hat fast etwas von „Guerilla-Marketing“, wie es manche Gruppen betrieben. Bei den Tätowierungen hatte ich vorhin schon die Leute mit dem Gruppennamenerwähnt: Das wird immer mehr und es geht halt nicht mehr weg. Ich denke, das ist dann für viele nur die Erinnerung an eine intensive Zeit, wenn irgendwann das Gruppendasein beendet ist. Generell gibt es aber für mich keine „Tätowier-Szene“. Wenn es diese gab, dann ist sie völlig überholt. Das ist in der Tat fast schon „Mainstream“. Ein gegenseitiges Befruchten sehe ich da nicht. GD/BH: Du bist Spezialist für die Fankultur Südamerikas. Die Fans dort gelten als enthusiastisch und der Fußball nimmt häufig eine noch wichtigere Rolle ein als hierzulande. Wie sieht es dort mit den Einflüssen anderer Subkulturen aus? Vergleichbar mit Deutschland oder gibt es andere/gar keine Einflüsse? JHG: Generell ist es eine komplett andere Mentalität. Der Fußball ist eigentlich viel zu stark, um sich mit anderen Kulturen auszutauschen. Es gibt nur Fußball. Die Fußball-Graffiti-Szene ist größer als die normale Graffiti-Szene. Generell muss man sagen, dass das Sprühen in Argentinien zum Beispiel zwar verboten, aber nicht strafbar ist. Sogar Privathäuser dürfen besprüht werden. Das war früher oft die einzige Artikulationsmöglichkeit für den Widerstand. Bis heute ist Graffiti üblich. Es handelt sich meist um keine hochklassigen Sprühereien, wie es sie hier zulande häufig gibt. Dafür sind es unfassbar kreative Wortspiele. Dafür findet sich oft gar keine angemessene Übersetzung. Durch diese Legalität gibt es natürlich viel mehr Freiräume. Man muss noch hinzufügen, dass auch politische Parteien ganz gezielt dieses Mittel nutzen. Da werden Leute aus der Fußball-Szene ganz gezielt beauftragt, dass dieser und jener Schriftzug innerhalb einer gewissen Zeit an so und so vielen Häusern stehen muss. Einen gewissen Einfluss der Musik gibt es auch, Hip-Hop allerdings nur ganz vereinzelt, ansonsten ganz klar Rock. Da wird einiges an Liedern adaptiert. Grundsätzlich ist in Südamerika die Präsenz des Fußballs unfassbar riesig, das lässt sich nicht vergleichen mit dem, was wir hier vorfinden. GD/BH: Vielen Dank!
Die Ultra-Fußballfankultur Eine Jugendkultur im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft S TEVEN A DAM
Dieser Beitrag dient zunächst der Darstellung der deutschen Ultra-Fußballszene als jugendliche Subkultur. Als Subkultur wird gemeinhin die Kultur einer Teilgruppe einer Gesellschaft verstanden, die von einer dominanten MainstreamKultur abweicht. Diese Devianz kann jedoch sehr stark variieren. So reicht das Spektrum von rein optischen, modischen Abweichungen von der dominanten Mainstream-Kultur bis hin zur kompletten Ablehnung einer politischen Ordnung oder eines Wirtschaftssystems. Es muss jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass diese zunächst abweichenden Subkulturen oder Teile von ihnen von dem Mainstream auch vereinnahmt und so Facette der dominanten Kultur werden können. Ein prägnantes Beispiel ist die Punk-Subkultur der 1970er Jahre. Diese zunächst stark anti-kommerzielle, anti-bürgerliche DIY-Bewegung1 wurde spätestens Ende der 1980er immer stärker gerade in der Welt der Mode zitiert und im Verlauf der 1990er Jahre absorbiert. Eine bedeutende Akteurin hierbei war die britische Modedesignerin Vivienne Westwood, die ursprünglich selbst der Londoner Punk-Subkultur der 1970er Jahre entstammte. Einen gegenwärtigen Höhepunkt fand diese Transformation der Punk-Kultur in der Ankündigung des britischen Unternehmens MasterCard Incorporated, seine neueste Kollektion an Kreditkarten mit Motiven der Punk-Band Sex Pistols zu verzieren (Jones, 2015). Weitere Beispiele für eine solche Transformation sind die der Hip-Hop- und
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Der Begriff „DIY“ („Do it yourself“; engl. „Mach es selbst!“) beschreibt das Reparieren, Wiederverwenden oder Erschaffen von Gebrauchsgegenständen durch Amateure ohne die Hilfe von professionellen Herstellern.
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Grunge-Subkulturen der 1980er beziehungsweise 1990er Jahre, die heute an einem ähnlichen Punkt angelangt sind. Solche Transformationen bedeuten selbstverständlich nicht, dass die Subkulturen dadurch verschwinden, jedoch verschwimmen durch jene Aneignungsprozesse der Destinktionsmerkmale die Grenzen zwischen Subkulturen und der Mainstreamkultur. Andererseits muss auch darauf hingewiesen werden, dass solche Aneignungsprozesse auch zwischen Subkulturen verlaufen. Dies lässt sich anschaulich an dem Gegenstand dieses Beitrags verdeutlichen – der Ultra-Fußballfankultur. Daher fungiert die Darstellung dieser Aneignungsprozesse am Beispiel der Ultra-Fußballfankultur als der analytische Teil dieses Beitrags. Bevor dies jedoch im Abschnitt zu verwendeten Symbolen und Materialien behandelt wird, ist dieser Beitrag nach folgendem Aufbau gegliedert: Zunächst wird im ersten Abschnitt die Ultra-Fußballfankultur in Deutschland vorgestellt. Vorangestellt ist diesem Abschnitt eine Einleitung zu den Ursprüngen der UltraKultur zur historischen Einordnung. Sodann folgt eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation in Deutschland, abgeschlossen wird der erste Abschnitt mit einer Darstellung und Erläuterung der prägenden Werte und Normen dieser Subkultur. Der zweite Abschnitt ist dann dem charakteristischen Punkt gewidmet, der jeder jugendlichen Subkultur zu eigen ist – einem Feindbild. Im Fall der UltraFußballfankultur wird dieses Feindbild zusammengefasst unter dem Sammelbegriff „Moderner Fußball“. So wird im ersten Teil dieses Abschnitts auf den „Modernen Fußball“ genauer eingegangen, um dann im zweiten Teil dieses Abschnitts das dem Feindbild gegenübergestellte Konzept der „Traditionellen Fankultur“ zu betrachten. Hier wird deutlich, dass sich diese Subkultur in einem Spannungsfeld zwischen einer Anti-Modernität und einer Vergangenheitsbezogenheit befindet, welches starke Widersprüche und Brüche erkennen lässt. Im dritten und letzten Abschnitt werden dann die von der Ultra-Subkultur verwendeten Symbole und Materialien näher erläutert. Dabei werden neben den zahlreichen Ähnlichkeiten zu anderen Subkulturen, die bereits im Abschnitt zu den vorherrschenden Werten und Normen deutlich werden, auch die Aneignungsprozesse dieser Subkultur deutlich und einordenbar. Abgeschlossen wird dieser Beitrag mit einem Fazit samt einem Ausblick auf die Subkultur der UltraFußballfans in Deutschland.
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Ursprung der Ultra-Fußballfankultur Die Ultra-Fußballfankultur hielt Mitte der 1990er Jahre Einzug in die deutschen Fußballstadien. Als Ultras bezeichnen sich die Fußballfans, welche heutzutage die Stehplatzbereiche sowohl akustisch als auch optisch dominieren. Somit beeinflussen sie die Atmosphäre in den Stadien maßgeblich. Neben dem Support ihrer Mannschaft ist ihre inhaltliche Kritik am sogenannten „Modernen Fußball“ ein prägendes Charakteristikum dieser Fußballfankultur und unterscheidet sie so von den Fußballfankulturen der Hooligans und der in Fanclubs organisierten sogenannten „Kutten“, die zuvor die deutsche Fußballfankultur prägten. Ihren Ursprung hat diese relativ neue Fankultur in Deutschland im Italien der 1960er Jahre (Scheidle, 2002, S. 92 ff.). War zuvor die englische Fußballfankultur das Vorbild für die deutsche, änderte sich dies zum Ende der 1980er Jahre durch die Stadionkatastrophen von Hillsborough und Heysel, als deren Ursache in der Öffentlichkeit „Hooliganismus“ genannt wurde (Gabriel, 2004, S. 182). Durch diese Unglücke sowie durch die Ausschreitungen deutscher Hooligans während der Fußball-Weltmeisterschaft 1998, bei denen der französische Gendarm Daniel Nivel lebensgefährlich verletzt wurde, änderte sich die deutsche Fankultur grundlegend. Mithilfe von verschärften Sicherheits- und Sanktionsmaßnahmen der deutschen Fußballverbände wurden diese offen gewalttätigen Fangruppen nach und nach aus den deutschen Stadien verdrängt. In dieses Vakuum auf den Rängen der deutschen Stadien stieß die Ultra-Fankultur, die durch Berichte von „Groundhoppern“ sowie durch die vermehrte Berichterstattung des deutschen Privatfernsehens über die italienische Serie A und andere südeuropäische Fußballligen schnell Verbreitung in Deutschland fand. Die gegenwärtige Situation in Deutschland Vorweg muss festgehalten werden, dass es die deutsche Ultra-Bewegung nicht gibt. In vielerlei Hinsicht ist sie durch eine hohe Heterogenität geprägt, welche sich in verschiedenen Punkten darstellt. Dies zeigt sich schon in den jeweiligen Gruppengrößen. Obwohl fast ausnahmslos in jeder Fanszene deutscher Profifußballvereine, dies umfasst die 54 Mannschaften der 1. bis 3. Bundesliga, gegenwärtig Ultra-Fangruppen zu finden sind, gibt es in Bezug auf die einzelnen Gruppen große Unterschiede. So zählen einige Ultra-Szenen mancher Traditionsvereine mehrere Hundert Mitglieder, beispielsweise die Gruppierungen „Schickeria“ (Anhänger des Vereins Bayern München), „Ultras Gelsenkirchen“
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(FC Schalke 04), „Ultras Nürnberg 1994“ (1. FC Nürnberg) oder „The Unity 2001“ (Borussia Dortmund). Andere Ultra-Fanszenen jedoch, meist solche jüngeren Ursprungs oder von kleineren Vereinen, umfassen teilweise nur ein Dutzend Mitglieder oder weniger. Bei diesem Punkt muss auch darauf hingewiesen werden, dass diese Gruppen, obwohl sie die Stadionatmosphäre sowohl akustisch als auch optisch dominieren, in den jeweiligen Stadien nur einen kleinen Teil des Gesamtpublikums ausmachen. Ein weiterer Beleg für die Heterogenität ist, dass in den Fanszenen mancher Vereine nur eine einzelne Ultra-Gruppierung zu finden ist, während in den Stadien anderer Vereine zwei oder gar mehrere Ultra-Gruppen ihre Mannschaft unterstützen und teilweise sogar miteinander konkurrieren. Natürlich stellt sich die Frage, ob hier eine Korrelation zwischen gesamter Fanszenengröße, also die Zahl der gesamten Anhängerschaft eines Vereins, und der Anzahl von UltraGruppen vorliegt. Dies mag zunächst zutreffend erscheinen, wenn man das Beispiel der Fanszene Borussia Dortmunds betrachtet. In diesem Fall kann von einer sehr großen Fanszene gesprochen werden, da der Zuschauerschnitt während der Heimspiele in der abgelaufenen Bundesligasaison 2014/2015 mit 80.463 Zuschauern pro Spiel deutschland- und sogar europaweit der höchste war (O. V., 2015: Bundesliga 2014/2015 – Zuschauer – Heimspiele). Neben der bereits angesprochenen Ultra-Gruppe „The Unity 2001“ findet sich z. B. auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions auch die Ultra-Gruppe „Desperados 1999“. Aber auch in den relativ kleinen Fanszenen der Vereine Alemannia Aachen und SC Freiburg befanden sich mit den Ultra-Gruppen „Karlsbande“ und „Aachen Ultras 1999“ sowie „Wilde Jungs“ und „Natural Born Ultras“ bis vor kurzem noch jeweils zwei Ultra-Gruppen. Das Beispiel der Aachener Fanszene ist auch ein Beleg für ein weiteres Merkmal der Heterogenität der deutschen Ultra-Bewegung, welches wiederum ein Grund für die Aufspaltung in verschiedene Ultra-Gruppen innerhalb einer Fanszene sein könnte. Wie bereits Gunther A. Pilz feststellte, bezeichnet sich die Mehrheit der deutschen Ultra-Gruppen als unpolitisch. Zudem gaben 41,8 % der Befragten an, dass es in ihrer Gruppe politisch links-orientierte Mitglieder gäbe und 47,3 % der Befragten gaben an, dass es politisch rechts-orientierte Mitglieder gäbe. Außerdem gaben 70,8 % an, dass für sie Politik nichts im Stadion zu suchen habe (Pilz, Behn, Klose, Schwenzer, Steffan & Wölki, 2006, 114 ff.). Neben dieser weit verbreiteten „politischen Neutralität“ gibt es jedoch auch Ultra-Gruppen, die sich offen gegen Rassismus, Homophobie und anderen Formen von Diskriminierung einsetzen. Beispiele hierfür sind die bereits genannte UltraGruppe „Schickeria“ in München (O. V., o. J.: Gegen Rassismus), die UltraGruppe „Ultrà Sankt Pauli“ (O. V., o. J.: Antirazzista) oder die bereits oben an-
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gesprochene Gruppe der „Aachen Ultras 1999“. Diese zog sich jedoch Anfang 2013 aus der aktiven Fanszene ihres Vereins zurück, da sie zuvor monatelang aufgrund ihres antirassistischen Engagements von – wohl – Mitgliedern der Gruppe „Karlsbande“ attackiert wurden (Blaschke, 2012). Somit ist zu vermuten, dass politische Ansichten und/oder politisches Engagement einen Beitrag zur Aufspaltung einzelner Ultra-Fanszenen leisten können. Werte und Normen Abseits dieser aufgezeigten äußeren Heterogenität der deutschen UltraFußballfankultur gibt es jedoch auch viele Gemeinsamkeiten, die sich exemplarisch an den Werten und Normen der einzelnen Gruppen zeigen lassen. Prägende Werte und Normen innerhalb der Gruppe sind unter anderem Engagement, Partizipation und Disziplin, wie bereits Jonas Gabler (2010, S. 70 f.) feststellte. Engagement bezeichnet hierbei, dass die Mitglieder der jeweiligen Gruppe ihre Mannschaft innerhalb der Stadien nach vollen Kräften unterstützen. Dies zeigt sich in Form von teilweise 90 Minuten anhaltenden Gesängen, dem Schwenken von Fahnen und dem Halten von Doppelhaltern – kurz dem sogenannten Support der eigenen Mannschaft. Aber auch das Verteilen von Flugblättern (Flyern) vor und in den Stadien sowie das Besetzen eines Informationsstandes, meist in der Nähe der Stehplatzblöcke, zeigt das eingebrachte Engagement einzelner Mitglieder. Neben diesem Engagement in den Stadien zeigt sich das Engagement auch in den gruppeninternen Treffen. So wird hier die regelmäßige Anwesenheit erwartet, um unter der Woche die Aktivitäten der Gruppen an den Spieltagen zu planen und vorzubereiten. Beispielsweise werden bei diesen Treffen neue Choreografien erdacht, Banner gemalt und Texte möglicher neuer Gesänge geschrieben. Das Engagement dient außerdem dazu, gerade Neumitglieder auf ihre Eignung zu testen, da diese sich besonders durch die Übernahme von kleineren Aufgaben, zum Beispiel dem Kopieren von Flyern, beweisen müssen. Partizipation wiederum zeigt sich darin, dass viele der Ultra-Mitglieder auch Mitglieder der jeweiligen Bundesligavereine sind. Dies nutzen sie, um auf den meist jährlich stattfindenden Mitgliederversammlungen Einfluss auf die Vereinspolitik zu nehmen. Beispielhaft hierfür ist der Aufruf der Stuttgarter UltraGruppe „Commando Cannstatt“ an alle Mitglieder des Vereins, auf der Mitgliederversammlung „die Zukunft unseres VfB aktiv mitzugestalten!“(O.V., 2011: VfB-Mitgliederversammlung). Aber auch außerhalb von offiziellen Gremien versuchen Ultra-Gruppen Einfluss auf die Vereins- sowie Verbandspolitik zu nehmen. Hierauf wird jedoch im Abschnitt zum „Modernen Fußball“ noch näher eingegangen werden.
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Viele Ultra-Gruppen treten ausgesprochen diszipliniert auf und legen dabei Wert auf einen geschlossenen Auftritt: So treffen sich die Gruppen zu Heimspielen meist schon frühzeitig an den Spieltagen und fahren gemeinsam als Gruppe zum Stadion. Das geschlossene Auftreten äußert sich zudem in einem KleidungsCodex, der zwar nicht explizit festgehalten, so jedoch beobachtbar ist. Dazu gehören gerade sportliche Freizeitkleidung in dunklen Farben, Sneaker, Umhängetaschen sowie die jeweiligen eigenen Fanartikel der Gruppe – herausgestellt seien hier die Seidenschals der Gruppen, die als Kleidungs-Codex verstanden werden können. Auch wird z. T. darauf geachtet, dass die einzelnen Mitglieder vor den Spielen nicht allzu viel Alkohol konsumieren, um während des Spiels ihre Mannschaft durch Gesänge und rhythmisches Klatschen unterstützen zu können. Zum anderen zeigt sich die besagte Disziplin auch in der Durchführung aufwendiger Choreografien in den Stadien. Ohne eine disziplinierte Planung, Vorbereitung und Durchführung wären diese so nicht umsetzbar.2 Als weitere zentrale Werte und Normen seien hier auch noch Solidarität, Loyalität und Autonomie genannt. Diese Werte zeigen sich auf verschiedenen Ebenen. Die Solidarität zeigt sich zunächst als gruppeninterne. Fehlt einem der meist jugendlichen Mitglieder das nötige Geld für eine Eintrittskarte oder für eine Auswärtsfahrt, ist es nicht unüblich, dass innerhalb der Gruppe für ihn oder sie gesammelt wird. Ein weiteres Beispiel für die gruppeninterne Solidarität ist die gegenüber den Mitgliedern der sogenannten „Sektion Stadionverbot (SEK SV)“. Hierbei handelt es sich um die Mitglieder der Gruppe, die mit einem (örtlichen oder bundesweiten) Stadionverbot belegt sind. Diesen Mitgliedern ist es untersagt die Heimspielstätte (örtliches Stadionverbot) oder gar alle Fußballspielstätten (bundesweites Stadionverbot) an Spieltagen zu betreten. Dadurch ist es ihnen nicht möglich ihre Mannschaft so zu unterstützen, wie es sonst das Selbstverständnis der Ultra-Fans verlangt. Dennoch begleiten sie ihre Gruppe weiterhin bis vor die Stadien, teilweise selbst bei Auswärtsfahrten, und sind stark in das Gruppenleben einbezogen. Von Seiten der restlichen Gruppen wird ihnen zum einen im Stadion durch Transparente („Ausgesperrte mit uns!“) oder Gesänge („Fußballfans sind keine Verbrecher!“) und zum anderen außerhalb der Stadien, beispielsweise durch Graffiti, Anerkennung gezollt.
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Eine eindrucksvolle Choreografie der Ultra-Szene von Union Berlin zur Einweihung einer neuen Tribüne findet sich im Internet unter: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=Et6gbwctTzA#!.
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Abbildung 1: Graffito in der Nähe des Stadions „An der Alten Försterei“ in Berlin-Köpenick (FOTO: Steven Adam)
Neben dieser gruppeninternen Solidarität gibt es auch eine Solidarität zwischen Ultra-Gruppen verschiedener Vereine. Diese kann auf Fanfreundschaften zwischen verschiedenen Ultra-Szenen basieren, aber auch zwischen Ultra-Szenen stark konkurrierender Vereine, wie es in Derbys immer wieder zu Tage tritt. Dort kann es zu Solidarisierungseffekten kommen. Beispielhaft ist folgende Begebenheit zwischen den Ultra-Szenen von Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04. Vor dem Derby zwischen den beiden Vereinen im September 2010 regte sich Unmut in der Dortmunder Fanszene, da sie als Gästefans durch einen sogenannten Topspiel-Zuschlag für eine reguläre Stehplatzkarte knapp 25 Euro bezahlen sollten (Ein üblicher Preis für eine Stehplatzkarte in der Bundesliga für sogenannte Vollzahler liegt zwischen 10 und 15 Euro). Darauf drohte die Dortmunder Ultra-Szene mit einem Boykott des Spiels. In einer Erklärung sicherte die Gelsenkirchener Ultra-Szene ihren Dortmunder Konkurrenten ihre Unterstützung zu (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 2010). Ein weiteres Beispiel für diese Solidarität zwischen Ultra-Gruppen verschiedener Vereine waren die bundesweiten 12:12-Proteste im Dezember 2012, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird. Aber nicht nur bundesweit kann diese Solidarität gehen, auch über die Landesgrenzen hinweg werden solche Solidarisierungen beobachtet. Ein Beispiel ist der Fall des italienischen Ultras Antonio Speziale, welcher für den Mord an einem Polizisten verurteilt wurde, obwohl an dem Tathergang große
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Zweifel bestehen (Lopez, 2013). Neben erwartbaren Solidarisierungen innerhalb der italienischen Ultra-Szene gab es auch Solidaritätsbekundungen in und außerhalb deutscher Stadien zu sehen. Abbildung 2: Plakat während der Fandemonstration in Dortmund am 08.12.2012 (FOTO: Steven Adam)
Als Nächstes sei die Loyalität genannt. Diese kennzeichnet ganz grundlegend die Beziehung zwischen einem Ultra und seinem Fanobjekt und unterscheidet ihn zudem dadurch elementar vom ökonomischen Wesen des Kunden als homo oeconomicus, als welcher er teilweise von seinem Fanobjekt wahrgenommen wird. Zunächst zeigt sich die Loyalität der Ultras zu ihrem Verein darin, dass es zum Selbstverständnis eines Ultras gehört, seinen Verein bei jedem Pflichtspiel durch aktive Anwesenheit, egal unter welchen Bedingungen, im jeweiligen Stadion zu unterstützen. Neben den Kosten für die Eintrittskarten und die oft weite Anreise zu Auswärtsspielen bedeutet dies auch einen großen zeitlichen Aufwand, da die Fans für Auswärtsspiele an Freitag- oder gar Montagabenden, wie sie in der 2. Bundesliga momentan üblich sind, teilweise Urlaub nehmen müssen. Diese starke Loyalität sollte auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass sie es für einen Ultra, aber auch für viele andere Fans, tabuisiert, das Fanobjekt Verein, ökonomisch als Produkt betrachtet, zu wechseln. Dies unterscheidet den Fan vom Konsumenten eines reinen Gutes, da dieser bei Nichtgefallen die Dienstleistung oder die Ware wechseln kann. Diese Option besteht für
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viele Fußballfans durch ihr Selbstverständnis als Fans nicht.3 Eine andere Seite der Loyalität ist die gruppeninterne. Diese führt dazu, dass die meisten UltraSzenen in Deutschland es ablehnen in jeglicher Art mit der Polizei zu kooperieren. So werden sogar Körperverletzungen und Raub-Delikte, die im Zusammenhang mit dem Fußball stehen, nicht zur Anzeige gebracht. Als letzter Wert soll nun noch auf die Autonomie eingegangen werden. Diese zeigt sich vor allem in der Beziehung der Ultras zu der offiziellen Führung ihres Vereins. So entspricht es ihrem Selbstverständnis keine finanzielle Unterstützung vom Verein oder Sponsoren anzunehmen, auch wenn die Kosten für manche aufwendige Choreografien mehrere tausend Euro betragen können (Schabelon, 2011). Auch lehnen sie die offiziellen Merchandising-Artikel der Vereine ab. Stattdessen gestalten und vertreiben eigene Fanartikel wie T-Shirts, (Seiden-)Schals und Aufkleber. Dies stellt, neben Spenden von Fans, die finanzielle Grundlage für Choreografien dar. Insgesamt dienen die genannten Werte und Normen der Kohäsion der Gruppe auf der einen Seite sowie der Distinktion zu anderen Fangruppierungen und dem Verein auf der anderen Seite. Aber auch die Hierarchisierung innerhalb der Gruppe ordnet sich oftmals durch das an den Tag gelegte Engagement des einzelnen Mitglieds. Anfangs zur festen Aufnahme in die Gruppe, kann ein überdurchschnittliches Engagement später auch zum Aufstieg in den Führungszirkel der Gruppe führen.
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Der „Moderne Fußball“ In diesem Abschnitt wird das Phänomen des „Modernen Fußballs“ einer näheren Betrachtung unterzogen, um dieses Feindbild, welches eigentlich einen Sammelbegriff für verschiedene Entwicklungen darstellt, differenziert zu untersuchen. Diese Entwicklung, die spätestens mit der Einführung der Bundesliga im Jahr 1963 begann, lässt sich in drei in starker Dependenz zueinander stehende Aspekte unterscheiden – Kommerzialisierung, Eventisierung sowie Entrechtung. Diese drei Bereiche kennzeichnen eine Entwicklung, die sehr kritisch von vielen Fußballfans, unter ihnen die Ultras, beobachtet wird und als dessen Dystopie die englische Premier League gilt. Für die Kommerzialisierung des Profifußballs in
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Eine ausführliche Betrachtung dieses Phänomens findet sich in Albert Hirschman „Exit, Voice, and Loyalty“ (1970).
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Deutschland, welche von den Ultra-Gruppen in Deutschland kritisiert wird, werden hier folgende Aspekte in gebotener Kürze angesprochen: Sponsoring, PayTV, private Investoren, Eintrittspreise sowie Merchandising. So kritisieren viele Fans das sich immer weiter ausbreitende Sponsoring im Profifußball, welches so weit geht, dass während der Bundesligasaison 2014/2015 bis auf wenige Ausnahmen alle Bundesligastadien ihre traditionellen Namen gegen den eines Sponsoren eingetauscht haben, sofern Stadionneubauten nicht bereits zur Eröffnung Sponsorennamen trugen. Neben Bandenwerbungen am Rande des Spielfelds begannen die Bundesligavereine 1973 damit, ihre Spieler durch Werbung auf der Brust ihrer Trikots zu „lebenden Litfaßsäulen“ zu machen. Mit dem Beginn der Bundesligarückrunde 2012/2013 ist auf den Ärmeln der Trikots noch ein weiterer Sponsor hinzugekommen (Deutsche FußballLiga, 2012a). Aber auch die Bandenwerbung in den Stadien wird von vielen Ultra-Gruppen kritisiert, da teilweise doppelte Bandenreihen die Sicht auf das Spielfeld einschränken oder durch die nötige Sichtbarkeit der Banden das Aufhängen von Bannern und Fahnen eingeschränkt oder gar komplett untersagt ist. Eine weitere Neuerung sind LED-Banden, welche es den Sponsoren ermöglichen bewegte Bilder (teilweise mit akustischer Unterstützung durch die Lautsprecheranlage des Stadions) für ihre Werbebotschaften zu benutzen. Dies wird von vielen Fans beklagt, da diese neue Art der Werbung von dem Spielgeschehen ablenke. Des Weiteren kritisieren deutsche Ultra-Gruppen den steigenden Einfluss des Pay-TV. Dies wird deutlich an der Zerstückelung des Spieltages. War mit Beginn der Bundesliga 1963 der Samstagnachmittag mit der Anstoßzeit 15:30 Uhr der traditionelle Spieltag aller Begegnungen, werden in der laufenden Bundesligasaison Spiele der 1. und 2. Bundesliga freitags um 18:00 Uhr und um 20:30 Uhr, samstags um 13:00 Uhr, 15:30 Uhr und um 18:30 Uhr, sonntags um 13:30 Uhr, um 15:30 Uhr und um 17:30 Uhr sowie montags um 20:15 Uhr angepfiffen. Während sogenannter Englischer Wochen4 können auch noch weitere Spiele abends unter der Woche hinzukommen. Dies führt besonders für Berufstätige und Auswärtsfans an den entsprechenden Spieltagen zu Problemen, Spiele ihres Vereins zu besuchen. Diese Zerstückelung wurde auf Drängen des Pay-TVs eingeführt, um mehrere Spiele sowohl täglich als auch wöchentlich exklusiv zeigen zu können. Zudem wurden im Februar 2015 Pläne öffentlich, die Bundesligaspieltage weiter aufzugliedern, um mehr TV-Gelder generieren zu können. (Kicker online, 2015).
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Benannt nach den Spieltagsansetzungen in der englischen Fußballliga, wo Spiele unter der Woche lange vor der Bundesliga Gang und Gäbe waren.
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Der nächste Kritikpunkt vieler Fans besteht gegenüber den privaten Investoren, welche sich finanziell in Vereinen engagieren. So stoßen bei den Fans vor allem die Geschäftsmodelle der Vereine VfL Wolfsburg und Bayer 04 Leverkusen auf Kritik, die finanzielle Zuwendungen durch die hinter den Vereinen stehenden Unternehmen bekommen (Bayer AG in Leverkusen; Volkswagen AG in Wolfsburg) und denen die Vereinstradition fehle. Offiziell entsprechen diese Vereine jedoch den Regularien der Bundesliga, welche durch die sogenannte 50+1-Regel festlegen, dass Investoren maximal 49% Stimmanteil in den Vereinen innehaben dürfen (Deutscher Fußball-Bund, 2010, S. 15). Noch kritischer wird dies bei den Vereinen TSG 1899 Hoffenheim und RB Leipzig gesehen. Erstere spielte in der Saison 1989/1990 noch in der untersten deutschen Liga, der Kreisklasse A. In der gleichen Zeit begann der süddeutsche Milliardär Dietmar Hopp seinen ehemaligen Jugendverein finanziell zu unterstützen, was sich zunächst in Investitionen in die Jugendarbeit und die Infrastruktur zeigte, später jedoch auch in dem Bau eines zweiten, bundesligatauglichen Stadions und den Käufen von begabten, aber sehr teuren Spielern gipfelte. Zweifel an der Einhaltung der 50+1-Regel kamen in der Winterpause der Saison 2010/2011 auf, als der Transfer des Hoffenheimer Spielers Luiz Gustavo zum FC Bayern München gegen den Willen des Trainers Rangnick und des Sportmanagers Tanner von Dietmar Hopp als Verhandlungsführer, obwohl dieser keine offizielle Position im Verein vertritt, durchgeführt wurde. Daraufhin gab der Trainer Ralf Rangnick sein Amt bei der TSG Hoffenheim auf. Fragwürdig ist auch der Einfluss des Spielerberatungsunternehmens Rogon auf den Verein (Fritsch, 2013). Ein besonderer Fall ist der des momentanen Zweitligisten RB Leipzig. Dieser Verein entstand aus der Fußballabteilung des Vereins SSV Markranstädt und wurde 2009 neu gegründet. Hinter dem Verein steckt das österreichische Unternehmen Red Bull. Wie zuvor schon in der US-amerikanischen (New York Red Bulls), österreichischen (FC Red Bull Salzburg) und der brasilianischen (Red Bull Brasil) Fußballliga, versucht das Unternehmen Vereine in Werbevehikel umzuwandeln, indem es unter anderem den Namen und die Farben des Vereins in die des Unternehmens ändert. Daran wird auch deutlich, wie die 50+1-Regel durch eine finanzielle Abhängigkeit umgangen werden kann. Neben diesen Beispielen für den Einfluss von privaten Investoren kritisieren viele Fans aber auch die steigenden Eintrittspreise in den deutschen Stadien. Dies ist in den Augen vieler Fans besonders verwunderlich, da der prozentuale Anteil der Spieltagserlöse an den Gesamteinnahmen eines Vereins in den letzten Jahren stark gesunken ist. Als Beispiel seien hier wiederum die Daten des Bundesligisten Borussia Dortmund genommen, welcher im Jahr 2012 einen Rekordumsatz von 189 Millionen Euro erreichte. Von diesen Gesamteinnahmen
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machten die Spieltagserlöse mit 31,4 Millionen Euro jedoch nur 17 % aus, während die Fernsehrechteeinnahmen mit 60,4 Millionen Euro 32 % der Einnahmen ausmachten (Deloite, 2013, S. 26 f.). Ein letzter Kritikpunkt und Beleg für die Kommerzialisierung des Fußballsports ist das Merchandising-Angebot der Bundesligavereine, welches heutzutage von Trikots über Zahnbürsten bis hin zu Schmuck reicht, in den Augen vieler Fans aber keinerlei Relevanz für sie habe. Die Merchandising-Einnahmen lagen bei dem oben genannten Beispiel von Borussia Dortmund für das Jahr 2012 bei 23,4 Millionen Euro (s. ebd.), während der FC Bayern München sogar 57,4 Millionen Euro durch Merchandising einnahm (ebd., S. 16). Neben diesen Formen der Kommerzialisierung wenden sich viele Fans, unter ihnen die Ultra-Gruppen, auch gegen die Eventisierung des Sports, welche mit der Kommerzialisierung eng verbunden ist. Hauptkritikpunkt stellt hier das langsame Verschwinden der Stehplatzbereiche in den deutschen Stadien dar. Bot das damalige Westfalenstadion in Dortmund zur Eröffnung im Jahr 1974 noch 37000 Stehplätze (von damals insgesamt 54000 Plätzen), sind es zur aktuellen Saison nur noch 24454 Plätze, obwohl die Kapazität des Stadions in der Zwischenzeit stark ausgeweitet wurde. Ein solches Bild zeigt sich in vielen deutschen Stadien, wenn diese nicht schon direkt in reine Sitzplatzstadien umgewandelt wurden. Durch Renovierungen und Modernisierungen, welche zuletzt die Austragungsstätten der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland betrafen, wurden die Stehplatzbereiche immer kleiner, während VIP- und Pressebereiche sowie Logen weiter ausgebaut wurden. So machen zwar die exklusiven Bereiche der Allianz-Arena in München nur 5 % der gesamten Stadionkapazität aus, generieren aber 50 % der Spieltagseinnahmen für den Verein (Merx, 2012). Wie schon bei den zuvor genannten Umsätzen einzelner Bundesligavereine gesehen, werden die Einnahmen durch die Stehplatzbereiche für die Vereine immer unbedeutender. Als neue Zielgruppe des Stadionpublikums scheinen die erfolgreichen Vereine kaufkraftstärkere Schichten ins Auge gefasst zu haben. Folglich mausert sich der ehemalige Proletensport durch familienfreundliche Angebote, Gewinnspiele, Dauerbeschallung im Stadion und andere Angebote zu einem massentauglichen Event, welches möglichst ohne Störungen konsumierbar sein soll. Viele Stehplatzfans erfahren dies als eine Gentrifizierung des Stadions, da die relativ kostengünstigen Stehplatzbereiche immer weniger und gleichzeitig teurer werden und somit für viele Jugendliche, Arbeitssuchende oder Einkommensschwache nicht mehr finanzierbar sind. Diese durch die Eventisierung verursachte Gentrifizierung ist zudem eng verbunden mit einer weiteren Entwicklung, welche die rechtlichen Sicherheitsaspekte des Stadionfußballs betrifft und von vielen Fans als Entrechtung wahr-
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genommen wird. Angesichts dieser Entwicklung wird insbesondere die Vergabe von Stadionverboten, die sogenannte Gewalttäter Sport-Datei sowie andere Sicherheitsmaßnahmen in den Stadien hinterfragt. Ein Stadionverbot ist laut der Darstellung des Verbandes DFB „keine staatliche Sanktion auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern eine Präventivmaßnahme auf zivilrechtlicher Grundlage“ und basiert auf dem Hausrecht der jeweiligen Vereine (Deutscher Fußball-Bund, 2008, S. 3). Ein solches Verbot kann, je nach Schwere des Vergehens, örtlich oder bundesweit ausgesprochen werden, mit einer Maximaldauer von 5 Jahren. Neben zahlreichen Beschwerden über willkürliche Vergaben von Stadionverboten gibt es auch die formaljuristische Kritik, dass es sich bei dem bundesweiten Stadionverbot nicht um eine Präventivmaßnahme handelt, sondern um eine Privatstrafe, die das Verbandsrecht überschreitet und somit verfassungsrechtlich nicht zulässig sei. Zusammenfassend hierzu Diethelm Klesczewski (2010, S. 83): „Da das Stadionverbot nicht nur [...] in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG eingreift, sondern zudem noch vor allem wegen seiner bundesweiten Wirkung [...] es dem Betroffenen schlechthin unmöglich macht, Profifußball im Stadion zu verfolgen, spricht es ihm wegen (des Verdachts von) Straftaten partiell die Rechtsfähigkeit ab, enthält einen Tadel und stellt folglich eine Sanktion mit materiellem Kriminalstrafencharakter dar. Deren Verhängung ist durch Art. 92 GG staatlichen Gerichten vorbehalten. Folglich stellt der Ausspruch eines bundesweiten Stadionverbotes eine verfassungsrechtlich unzulässige Privatstrafe dar.“
Eng verbunden mit diesem zweifelhaften Sanktionsmittel ist die „Gewalttäter Sport“-Datei. Diese polizeiliche Verbunddatei wird von der Zentralen Informationsstelle Sport (ZIS) mit Sitz in Duisburg geführt. Funktion dieser Datei sei: „Zunächst werden die Daten solcher Personen gespeichert, gegen die im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen wegen der folgenden Straftaten ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde oder die deswegen rechtskräftig verurteilt worden sind [...]. Darüber hinaus werden aber auch die Daten von Personen gespeichert, gegen die von der Polizei Personalienfeststellungen, Platzverweise und Ingewahrsamnahmen angeordnet wurden, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass sich diese Personen zukünftig im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen an Straftaten von erheblicher Bedeutung beteiligen werden (Hervorhebung durch den Verfasser)“ (Landeszentrale für Polizeiliche Dienste NRW, 2008).
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Auswirkungen eines solchen Eintrags in diese Verbunddatei können darin bestehen, dass Betroffenen während sportlicher Großereignisse wie Fußballwelt- oder Europameisterschaften die Ausreise aus Deutschland untersagt werden kann. Aufgrund einer Personalienfeststellung oder eines Platzverweises, verbunden mit einer (subjektiven) Annahme eines einzelnen Polizeibeamten, dass sich jene Betroffenen zukünftig an Straftaten beteiligten könnten, verstoßen solche Konsequenzen gegen die Verhältnismäßigkeit. Oftmals ist es aber so, dass die Betroffenen über eine Erfassung in dieser Datei gar nicht informiert werden, was die datenschutzrechtlichen Bedenken der Fans weiter bestärkt. Im Januar 2013 bestätigte der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger (SPD), in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage des Landtagsabgeordneten Frank Herrmann (PIRATEN) den Einsatz von „weniger als zehn“ VPersonen in Fußballfanszenen Nordrhein-Westfalens (Landtag NordrheinWestfalen, 2012). Einige Monate zuvor war bereits in Nürnberg der Anwerbungsversuch eines Fußballfans durch bayerische Sicherheitsbehörden publik geworden (Rot-Schwarze Hilfe, 2012). Durch diese Maßnahmen fühlen sich viele Fußballfans pauschal verfolgt und kriminalisiert. Dies führt zum einen zu Solidarisierungen zwischen betroffenen und unbetroffenen Fans und zum anderen zu verfestigten Feindbildern (z. B. die Polizei) sowie der Befürchtung, dass sich diese stigmatisierten Fans isolieren und radikalisieren (Herold, 2012, S. 153 ff.). Neben den beiden Sanktionsmitteln der Stadionverbote sowie der „Gewalttäter Sport“-Datei und der Unterwanderung von Fußballfanszenen durch VMänner sind es aber auch viele Sicherheitsmaßnahmen in den Stadien, welche auf Kritik von Seiten der aktiven Fans stoßen. So wird zwar die flächendeckende Videoüberwachung in den meisten Stadien kritiklos hingenommen, aber zahlreiche andere Maßnahmen werden als überzogen oder gar als Eingriffe in die freie Meinungsäußerung oder Verstoß gegen die Menschenwürde empfunden. Beispielsweise werden durch den Ordnungsdienst Kleidungsstücke, Fahnen und Banner auf ihre Inhalte geprüft oder gar kurzfristig vor den Spielen das Mitbringen von Fahnen und ähnlichen Fanutensilien untersagt. Zudem wurden vereinzelt während der Bundesligasaison 2012/2013 Körperkontrollen bei Fans durchgeführt, welche die Befugnisse der Ordnungsdienstmitarbeiter überschritten haben sollen. So veröffentlichte die Arbeitsgemeinschaft Fananwälte in Bezug zu den Körperkontrollen vor dem Bundesligaspiel FC Bayern München gegen Eintracht Frankfurt am 10. November 2012 eine Pressemitteilung, welche zu folgendem Schluss kam: „[...] dass es sich bei Ganzkörperkontrollen [...] um intensive Eingriffe in Grundrechte handelt, die unter anderem in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Recht auf infor-
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mationelle Selbstbestimmung und in das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit eingreifen; Ganzkörperkontrollen sind deshalb unverhältnismäßig und damit rechtswidrig“ (Arbeitsgemeinschaft Fananwälte, 2012).
Durch diese hier aufgezeigten Entwicklungen und viele weitere Aspekte, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden konnte, fühlen viele Fußballfans sich und ihre Fußballfankultur existenziell bedroht und sich als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt. Gegen diese Formen der Kommerzialisierung, Eventisierung und Entrechtung protestieren sie mit Fahnen, Bannern und Gesängen in den Stadien, um so auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Der Konflikt zwischen den Verbänden DFB und DFL auf der einen Seite und den aktiven Fans, unter ihnen zahlreiche Ultra-Gruppen Deutschlands, erreichte im Winter 2012 eine neue Stufe, als zuvor ein von der DFL ausgearbeitetes Diskussionspapier mit dem Titel „Sicheres Stadionerlebnis“ an die Öffentlichkeit gelangte (Deutsche FußballLiga, 2012b). In der ursprünglichen Fassung dieses Sicherheitspapiers5 wurden von Seiten der DFL Maßnahmen unter anderem wie die Reduzierung des gesamten Gästekartenkontingents, verstärkte Körperkontrollen und als Forderung an „Polizei & Justiz: mehr Transparenz: Auskünfte über Stand von polizeilichen Ermittlungen gegen Tatverdächtige“(ebd., S. 32) zur Diskussion gestellt. In der Folge trafen sich am 01. November 2012 56 Ultra-Gruppen aus ganz Deutschland am Rande eines Fangipfels in Berlin. Dort verständigten sich die Gruppen auf gemeinsame Proteste in Form von bundesweiten Stimmungsboykotten während der letzten 3 Bundesligaspieltage vor dem 12. Dezember 2012, dem Tag, an dem besagtes Sicherheitspapier beschlossen werden sollte. Zusätzlich veranstalteten verschiedene Fanszenen Fandemonstrationen am Wochenende des 8. und 9. Dezembers 2012 in zahlreichen deutschen Innenstädten. Abbildung 3: Plakat während der Fandemonstration am 08.12.2012 in Dortmund (FOTO: Steven Adam)
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Bemerkenswert hierbei ist, dass für die Sicherheit bei Bundesligaspielen der Verband DFB zuständig ist, ein Umstand, der sich später darin äußerte, dass die überarbeiteten Versionen jenes Sicherheitspapiers fortan den Titel „Stadionerlebnis“ trugen.
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Erhalt der „Traditionellen Fankultur“ Als Gegenkonzept zu dieser Bedrohung durch den „Modernen Fußball“ setzen die aktiven Fans ihre Vorstellung einer „Traditionellen Fankultur“. So verstehen sich gerade viele Ultra-Gruppen als die wahren Fans und als Bewahrer dieser Form der Fankultur sowie als Bestandteil ihres Vereins, der noch nicht den kommerziellen Zwängen ausgesetzt ist, was sich bereits in ihrem Autonomiebewusstsein zeigte. Hierbei fällt jedoch auf, dass viele dieser engagierten Fans, deren Großteil zwischen 15 und 30 Jahre alt sein müsste (Pilz et al., 2006, S. 77; Schwier, 2005, S. 26), jene „Traditionelle Fankultur“ nicht aus eigener Erfahrung kennen kann, da die deutsche Fußballfankultur bereits durch das Aufkommen des Ultra-Phänomens Mitte der 1990er Jahre maßgeblich transformiert wurde. Das Konzept der „Traditionellen Fankultur“ kann vielmehr als eine Idealisierung und Romantisierung der Vergangenheit verstanden werden. Kenntnisse zu vergangenen Formen der Fankultur entstammen zumeist der „oral history“ älterer Fans, zum Beispiel Freunde und Verwandte, sowie aus Statistiken, alten Spielberichten und anderen Quellen wie KICKER-Sonderheften, Spielwiederholungen oder Saisonzusammenfassungen auf Sport-Fernsehsendern. Aus solchen Quellen sowie aus der Abneigung gegen den „Modernen Fußball“ speist sich dann ein Konzept der „Traditionellen Fankultur“, die nach Benedict Andersons Konzept zu Nationalstaaten als „imagined community“ verstanden werden kann (Anderson, 1998, S. 15 f.). Die Vereine als Fanobjekte können so als soziale Konstrukte angesehen werden, als Teil dessen sich die Fans samt ihrer Fankultur verstehen. Die Vereine stellen dabei zudem Repräsentanten der Region dar und werden somit idealisierte Abbilder des Lokalen. Diese „Traditionelle Fankultur“ als Gegenentwurf gegenüber dem „Modernen Fußball“ ist bei näherer Betrachtung jedoch stark nostalgisch geprägt. So finden sich weder in der einschlägigen Literatur noch in Primärquellen genauere Darstellungen oder auch Erläuterungen, was genau eine „Traditionelle Fankultur“ ausgemacht hat. Die Annehmlichkeiten moderner Fußballstadien (vor Zugluft und Regen geschützte Publikumsbereiche), der modernen Gastronomie (eine breite Auswahl an Getränken in und außerhalb der Stadien sowie das dortige Angebot an vegetarischen und veganen Speisen) wie auch die stark verbesserte Betreuung der Fans durch Fanprojekte und Fanbeauftragte werden auf der anderen Seite auch von Mitgliedern der Ultra-Fanclubs nicht abgelehnt. Eine solche Vergangenheitsbezogenheit ist jedoch bemerkenswert, da dies nicht typisch für Subkulturen ist, gerade nicht für solche, die wie die UltraSubkultur stark jugendlich geprägt sind. Zwar versuchen Subkulturen sich von der jeweiligen dominanten Mainstreamkultur abzugrenzen, oftmals dadurch,
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dass Merkmale jener Mainstreamkultur abgelehnt werden. Dass eine solche Abgrenzung zu einer dominanten Mainstreamkultur hingegen mit starken Bezügen zu einer vergangenen Epoche (wie realistisch dieses Bild auch sein mag) kombiniert wird, ist ein Punkt, der sie sowohl von anderen historischen Fußballfankulturen als auch von vielen anderen (jugendlichen) Subkulturen abgrenzt. Symbole und Materialien Historische und lokal-patriotische Bezüge finden sich auch in den verwendeten Symbolen der Ultras und lassen sich auf den sogenannten Tifo-Materialien6 wie Fahnen, Bannern und in Choreografien, aber auch auf den selbstgestalteten Fanartikeln feststellen. Noch nicht explizit angesprochen wurde der Streetart-Aspekt der Ultra-Fankultur. So verwenden Ultra-Gruppen nicht selten Graffiti, Aufkleber und Streetart-Plastiken im öffentlichen Raum, um auf sich und ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Diese Streetart-Facette der Ultra-Fußballfankultur ist entlehnt aus der Graffiti-Subkultur, die eng verbunden ist mit der Hip-HopSubkultur der 1980er Jahre. Das folgende Bild zeigt eine Streetart-Plastik der Dortmunder Ultra-Gruppe „The Unity“. Abbildung 4: Streetart-Plastik in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs (FOTO: Steven Adam)
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Der Begriff „Tifo“ stammt aus dem Italienischen und leitet sich von dem Wort „Tifoso“ (ital. „Fan“) ab und bezeichnet Materialien, die von Ultra-Fans bei der Umsetzung von Choreografien verwendet werden.
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Die Plastik zeigt den stilisierten Kopf des ehemaligen Dortmunder Fußballspielers August Lenz. Er wird von den Fans des Vereins Borussia Dortmund auch heute noch dafür verehrt, dass er der erste Spieler des Vereins war, der in die deutsche Nationalmannschaft berufen wurde. Sein Abbild findet sich auch noch auf vielen weiteren angesprochenen Fanmaterialien in der Dortmunder UltraSzene. Weitere verwendete Symbole vieler deutscher Ultra-Gruppen entstammen der Politik oder der Pop-Kultur. Beispielhaft seien hier das ikonische Bild Ernesto „Che“ Guevaras genannt, das auch manche Fahnen nach außen unpolitischer Ultra-Gruppen ziert, oder Elemente aus dem Film „A Clockwork Orange“, wie sie auf verschiedenen Materialien der Nürnberger Ultra-Szene zu finden sind. Abbildung 5: Aufkleber in der Nähe des Wagnerplatzes in Würzburg (FOTO: Steven Adam)
Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass diese entliehenen Elemente nicht in ihrer ursprünglichen Bedeutung übernommen werden, sondern dass vielmehr diese Symbole in der Form des Bricolage-Verfahrens aus dem primären Kontext herausgelöst und in neue Sinnzusammenhänge eingeordnet werden. Neben diesen Streetart-Materialien und Symbolen, die sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich, außerhalb der Stadien wiederfinden, müssen aber auch die Symbole, Materialien und Aktionsformen innerhalb der Stadien näher betrachtet werden, da diese immanent für das Selbstverständnis der Ultra-Fankultur
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sind. Bei einem Besuch eines deutschen Fußballstadions während eines Spiels fällt einem zunächst die optische Abhebung der Stehplatzbereiche, dem Ort in einem deutschen Stadion, wo sich die Ultra-Fans verorten lassen, ins Auge. Diese optische Abhebung beruht nicht alleine darauf, dass die Fans dort im Gegensatz zum Rest des Stadions stehen, sondern sind es erst die Hilfsmittel, die eingangs erwähnten sogenannten Tifo-Materialien, die diese Bereiche vom Rest abheben. Hier sind es Fahnen in verschiedensten Ausführungen und Größen, Doppelhalter und riesige Spruchbänder (diese teilweise mit vereins- oder sportpolitischen Forderungen), die in dieser Form wenn überhaupt nur teilweise bis gar nicht in anderen Bereichen vorkommen. Diese Elemente werden zudem sehr gezielt eingesetzt. So werden Spruchbänder meist vor den Spielen beziehungsweise am Anfang oder kurz vor Ende einer Halbzeit gezeigt. Auch Fahnen und Doppelhalter werden nicht durchgängig während des Spiels präsentiert, sondern meist korrespondierend zum Geschehen auf dem Spielfeld. Neben diesen farbenfrohen optischen Hilfsmitteln, die von den meisten anderen Zuschauern und von Vereins- und Verbandsverantwortlichen positiv aufgenommen werden, gibt es jedoch auch ein Element der Ultra-Fankultur, das nicht auf ungeteilte Gegenliebe stößt – der Einsatz von Pyrotechnik. So werden Rauchbomben, Knallkörper, Signalfackeln und andere pyrotechnische Materialien verwendet, um die jeweilige Stimmung zu unterstreichen. Dass die Verwendung dieser Materialien in dieser Form in Deutschland nicht erlaubt ist, und welche gesundheitlichen Risiken damit verbunden sind, muss in diesem Beitrag nicht ausführlich behandelt werden. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass dieses Element für viele Ultra-Mitglieder ein elementarer Bestandteil ihrer Fankultur darstellt. Zusätzlich soll aber auch herausgestellt werden, dass die Verwendung von Pyrotechnik nicht erst durch die Ultra-Fankultur in die deutschen Fußballstadien gelangte (dieses Element vielmehr von älteren Fankulturen übernommen wurde) und zudem einige europäische Beispiele (u. a. Norwegen und Österreich [Stadionwelt Inside, 2014]) zeigen, dass die Verwendung von Pyrotechnik in Fußballstadien unter Auflagen sicher umgesetzt werden kann. Aber nicht nur optisch, sondern auch akustisch dominiert diese Subkultur trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit das Geschehen abseits des Spielfeldes. So sind es gerade die oft fast 90-minütig durchgängigen, aber dennoch abwechslungsreichen Gesänge, die die Stadionatmosphäre prägen. Diese gehen häufig, jedoch nicht ausschließlich, von einem Vorsänger aus und werden zumeist auch vom restlichen Stadionpublikum mitgetragen. Kombiniert werden diese Gesänge mit Klatsch-Einsätzen und Trommeln als rhythmischen Hilfsmitteln. Zuletzt soll hier noch ein besonderes Symbol angesprochen werden, welches sich in jeder Ultra-Gruppe mit der gleichen Bedeutung wiederfinden lässt. Es ist
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die Blockfahne, die als Herzstück einer jeden Ultra-Gruppe verstanden werden kann. Diese Fahne wird bei jedem Spiel, ob Heim- oder Auswärtsspiel, vor dem Block der Ultras aufgehängt. Diese Tradition ist von solcher Bedeutung für die jeweilige Gruppe, dass ein Verlust der Fahne, ob durch Raub durch eine andere Gruppe oder Nachlässigkeit, nach dem Selbstverständnis der Ultras der Gruppe die Daseinsberechtigung entzieht und die sofortige Auflösung der Gruppe verlangt. Dies kann möglicherweise als Analogie auf den bereits angesprochenen Traditionsverlust im Milliardengeschäft Profifußball verstanden werden.
F AZIT
UND
A USBLICK
Wie sich hat zeigen lassen, ist die Ultra-Fußballfankultur in Deutschland eine noch recht junge Subkultur, die von Seiten ihrer Mitglieder sehr jugendlich geprägt ist. Trotz ihrer akustischen sowie optischen Dominanz in den deutschen Fußballstadien, ist die Ultra-Fanszene deutschlandweit zahlenmäßig eher gering. Neben der Unterstützung ihres Vereins inner- und außerhalb der Stadien liegt der Fokus der Gruppen auch auf vereins- und verbandspolitischen Themen. Diese Themen, die außerhalb des eigentlichen Spielgeschehens stattfinden, werden durch die Gruppen jedoch zurück in die Stadien transportiert und so sichtbar gemacht. Außerdem versuchte dieser Beitrag die verschiedenen verwendeten Symbole und Materialien darzustellen und einzuordnen. Hierbei wurde festgestellt, dass sich die Ultra-Fankultur auch an Elementen bedient, die von älteren FußballfanSubkulturen in die Fußballfankultur eingebracht wurden. Aber auch Elemente aus fußballfernen Subkulturen fanden durch die Ultra-Bewegung Einzug in die Fußballfankultur, beispielsweise die Verwendung von Megafonen, Streetart und Bannern. Zudem wurden der Fußballfankultur genuin neue Elemente von Seiten der Ultras hinzugefügt. Als deutlichstes Beispiel dienen hier die aufwendigen Choreografien, die in diesem Beitrag nur unzureichend dargestellt werden konnten. Wie eingangs angesprochen, ist es oft das Schicksal von Subkulturen, dass diese oder Teile dieser von einer dominanten Mainstream-Kultur aufgegriffen und absorbiert werden. In dem Fall der Ultra-Fußballfans droht die Aneignung der eigenen Subkultur durch den gefürchteten „Modernen Fußball“. Erste Anzeichen hierfür sind bereits erkennbar. So werden Elemente der Ultra-Fankultur von Verbänden und anderen Unternehmen aufgegriffen.
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Ein Beispiel ist der „Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca-Cola“. Gegen eine Jahresmitgliedschaft von 30,00 Euro bietet der Fanclub dem geneigten Kunden folgende Vorteile: „Der DFB-Auswahl sichert Ihr auf diesem Weg größtmöglichen Support und Euch selbst einige Vorteile: Zum Beispiel das Vorkaufsrecht für Tickets zu den HeimLänderspielen, Rabatte im DFB-Fanshop und viele exklusive Reiseangebote und Erlebnisse rund um die Nationalmannschaften“ (Deutscher Fußball-Bund, o.J.: Leidenschaft, Gemeinschaft, Emotionen, Weltmeister).
Zu Beginn der Spiele der deutschen Nationalmannschaft führen diese FanclubMitglieder vorgefertigte Choreografien durch. Während des Testspiels „Der Mannschaft“ gegen die Auswahl der Vereinigten Staaten am 10. Juni 2015 in Köln konnte zudem beobachtet werden, dass sogar einzelne Choreografien für jeden deutschen Torerfolg (leider war den Fans nur eine einmalige Durchführung vergönnt) vorbereitet waren. Ein Beispiel für die Verwendung von Fankulturelementen durch Unternehmen ist eine regelmäßige Werbeaktion des Telekommunikationsunternehmens „Telekom“. Seit mehreren Jahren sind bei Heimspielen des FC Bayern München mehrere dutzend Zuschauer im Sitzplatzbereich zu sehen, die zusammen durch ihre uniformierte Kleidung das Markenzeichen eines der Hauptsponsoren des Vereins bilden (Linder, 2013). Eine Werbeaktion, die ihre Inspiration in der Ultra-Fankultur nicht verleugnen kann. Für die Zukunft ist davon auszugehen, dass diese Aneignungen voranschreiten werden, während die Ultra-Fußballfans im Zuge eines „sicheren Stadionerlebnisses“ mehr und mehr aus den Stadien verdrängt werden, um Platz für kaufkräftigere Zuschauer zu machen.
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Entwicklung einer Fanszene am Beispiel der Würzburger Kickers – ein Interview mit Marco Bartsch G ESPRÄCH GEFÜHRT VON G ABRIEL D UTTLER
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B ORIS H AIGIS
M ITARBEIT A NNETTE G ÖHLER
Marco Bartsch ist Fanbeauftragter und einer der Vorsitzenden des Dallenberg Supporters Club der Würzburger Kickers. Den Weg des Vereins verfolgt er bereits seit Jahren als Teil der aktiven Fanszene. In unserem Gespräch am Würzburger Dallenberg Ende Oktober berichtet er von den Veränderungen im Umfeld eines Vereins, der in wenigen Jahren einen beinahe schon märchenhaften Aufstieg in die 3. Liga hingelegt hat. Zum Zeitpunkt unseres Gespräches liegen die Würzburger Kickers nach einem 2:1 bei den Stuttgarter Kickers auf einem Mittelfeldplatz in der 3. Liga. Der sportliche Start ist also durchaus gelungen. Wie aber hat sich das Umfeld entwickelt? Im Interview gibt Marco Bartsch einen interessanten Einblick in eine junge, wachsende Fanszene, die mit Problemen konfrontiert ist, die sich wohl an den meisten Profistandorten, so oder so ähnlich zugetragen haben dürften. GD/BH: Wie fällt Dein erstes Zwischenfazit zu den ersten Spieltagen im Profifußball aus? Sportlich wie auch fankulturell? Was hat sich getan in Würzburg? MB: Es ist auf jeden Fall jetzt mal Profifußball angesagt. Schon vor der Saison habe ich gesagt, dass es meines Erachtens im deutschen Fußball von der Regionalliga in die 3. Liga der größte Schritt ist, den man machen kann. Das drückt sich in allem aus, z. B. was der DFB reguliert an den Spieltagen. Es ist quasi nichts nicht reguliert. Es ist gibt für alles Vorgaben und Richtlinien, an die sich gehalten werden muss.
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Sportlich wirst du knüppelhart bestraft, wenn du mal nicht aufmerksam bist und fantechnisch ist es so, dass die Szene natürlich mit dem Erfolg wächst. Es kommen viel mehr Leute zu den Kickers-Spielen, die sich beteiligten und sich beteiligen wollen. Sehr viele junge und sehr viele fremde Menschen. Die Ultras sind sehr dominant im Block, was anfänglich zu Problemen mit anderen Fans im Block geführt hat. Sie haben ein hohes Maß an Selbstverständnis, das ist schon bemerkenswert. Sie leben halt dieses Ultra-Ding wahnsinnig aus. Prinzipiell bin ich aber nicht dagegen, sondern denke, solche Probleme gibt es nicht nur bei den Fußballfans, sondern das liegt vermutlich einfach an dem Generationenkonflikt an sich. GD/BH: Wie drücken sich denn diese Veränderungen zahlenmäßig aus? Wie groß ist die Szene mittlerweile? MB: Das kann man an den Zahlen bei den Auswärtsspielen ablesen. Bei den relativ nahen Auswärtsspielen wie in Wiesbaden, beim VfB Stuttgart II oder jetzt auch in Mainz, da waren es in Wiesbaden 400, in Stuttgart sogar über 400 und in Mainz waren es gut 250 Kickers-Fans. In Münster waren es ein voller Bus und ein paar Autos. Da waren es dann etwa 100 Fans. Wenn man mal den Mittelwert nimmt, dann ist Kickers-Unterstützer-Szene im Augenblick auf 250 Leute angewachsen. Also die 250 Fans sind auf jeden Fall dabei. Jetzt 250, letztes Jahr 150 Fans, würde ich sagen. Wir haben den Dallenberg Supporters Club Anfang des Jahres gegründet, der als Dachverband der Fans mittlerweile 250 Mitglieder hat. GD/BH: Die Jüngeren, die dazu kommen, die gehen dann wahrscheinlich überwiegend in die Ultra-Richtung. Kommen denn auch viele Ältere mit, die mit der Ultra-Kultur weniger anfangen können? MB: Es ist mittlerweile so, dass viele Väter ihre Kinder mitbringen. Die Kinder finden natürlich alles toll, was Spaß macht und sind dann beim Stimmungskern dabei. Und dann sind eben auch viele Väter da, die sich nicht beteiligen. Aber gibt auf jeden Fall auch dahingehend eine große Resonanz. Ich kann auch von einem Arbeitskollegen von mir erzählen, der sein Leben lang nichts von den Kickers wissen wollte und jetzt eine Dauerkarte hat und bei jedem Spiel dabei ist, auch auswärts. Wenn man mal unser letztes Auswärtsspiel in Bremen sieht – ich meine unter der Woche, Dienstagabend, 19:00 Uhr, 520 km einfach – 50 Kickers-Fans vor Ort. Das ist mal nicht so verkehrt. 50 war die unterste Grenze. Das sind die, die dann wirklich überall mitfahren.
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GD/BH: Die Szene ist aufgrund der notwendigen Umbauten im Stadion vom BBlock auf der Haupttribüne in den neuen Block 1 hinter dem Tor umgezogen. Wie wirkt sich das aus? Der neue Block ist zum Beispiel deutlich größer als der alte. MB: Ich glaube, das ist so wie am Gästeblock auch. Da passen 1.800 Personen rein und in den Block 1 passen auch etwa 1.800 knapp 2.000 Leute rein, wenn er dann wirklich voll ist. Aber da sind wir schon bei der ersten Problematik des Ganzen: Die Größe des Blockes sorgt auch dafür, dass man sich den Platz aussuchen kann. Die angesprochene Diskrepanz innerhalb der Kickers-Szene hat sich anfänglich dadurch ausgedrückt, dass sich die einen von den anderen soweit wegstellten wie es ging, um bloß nichts mit denen zu tun zu haben. Das war nicht gut. Das habe ich schon seit der Eröffnung des Blocks 1 – das war gegen Großaspach – gesagt. Bis dahin war die Stimmung gut. Ab diesem Heimspiel ist die Stimmung sukzessiv schlechter geworden. Unsere Vereinsführung hat mich schon darauf angesprochen, was da los sei und warum da nichts raus komme und ob es irgendwelche Proteste oder Boykotte gebe. Unmittelbar vor dem Chemnitz-Heimspiel Ende September hatten wir dann ein Treffen mit ausgewählten Personen und haben die Problematik angesprochen. Seitdem haben wir wieder eine Stimmung wie zu Saisonbeginn. Alle haben einmal den Sinn und Zweck ihres Daseins hier hinterfragt. Alle sind Kickers-Fans und dann ist es einfach die verdammte Pflicht, den Verein zu unterstützen und nicht irgendwelche Egos rauszukehren. Jetzt läuft es, weil alle gemeinsam an einem Strang ziehen. GD/BH: Was waren das denn konkret für Probleme? MB: Das ist schon zum Teil ein Generationenkonflikt. Wir wären damals einfach mit mehr Demut an sowas rangegangen. Aber wie die jungen Ultras da rein gegangen sind, mit einem Selbstvertrauen und Selbstverständnis, das ist schon bemerkenswert. Ich denke, sie sind sich dessen nicht immer ganz bewusst. Wir haben bisher noch bei keiner Ost-Mannschaft spielen dürfen oder müssen. Ich habe es auch schon so mit den Älteren durchgesprochen, aber wenn du mal um dein Leben gerannt bist beim Fußball, dann überlegst du dir genau, wen du beschimpfst oder wen nicht. Das ist mal das eine. Rivalität und auch Provokationen gehören zum Fußball dazu, aber es gibt halt Grenzen. Ich habe auch gesagt, „die Saat die ihr jetzt säht bei den Heimspielen, die erntet ihr bei den Auswärtsspielen“. Da musst du schon deine Schiene durchziehen. Und wenn du dich aus dem Fenster lehnst, dann musst du auch dazu stehen. Das wird sich alles regulieren. Das ist natürlich diese Saison schon was anderes in der 3. Liga mit den OstMannschaften, Preußen Münster oder Osnabrück.
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Wie wir wahrgenommen werden, ist natürlich nach meinem Empfinden so, dass wir mal grundsätzlich von den gestandenen Ost-Vereinen überhaupt nicht ernst genommen werden. Wie auch? Durch was auch? Die haben von uns bestimmt noch nichts gehört. Aber jetzt sind wir gerade dabei, unser Außenbild zu schärfen, und das, was wir jetzt z. B. an Rückmeldungen von Fanbeauftragten und Fanprojekten bekommen haben, war gut. Das war für unsere Verhältnisse top. In Wiesbaden war die Stimmung auch super. Unser Trainer Bernd Hollerbach sagte auf die Frage, wie er die Stimmung fand, bis vor kurzem immer: „Ihr seid schon erste Liga“. Aber es ist dann teilweise gekippt und zwar in die falsche Richtung bis zu dem Dialog vor dem Chemnitz-Spiel. Seitdem klappt es wieder. GD/BH: Du sprichst jetzt einige Kritikpunkte an Ultras an – was sind aus deiner Sicht die positiven Seiten? MB: Natürlich gibt es die. Probleme sahen eher alteingesessene Fans, weil es eine andere Art ist, ihren Verein zu unterstützen usw. Ich sag auch immer, es gibt zwei Möglichkeiten irgendwas zu bewerten: Entweder „die Fresse halten“ oder „es besser machen“. Und es wurde hier keinem verboten, ein Lied anzustimmen und die Mannschaft zu unterstützen oder eine Choreografie zu entwickeln oder sonst irgendwas. Es ist natürlich leicht, sich hinzustellen und zu sagen, „Euer ‚lalala‘ ist für’n Arsch!“ – macht es halt mal besser. Das macht natürlich auch keiner und die andere Seite der Medaille ist die, die ich auch immer bei unseren Damen und Herren von der Geschäftsstelle vertreten muss, wenn sie dann wieder schimpfen. Ultras, das sind die Leute, die in der Freizeit vor dem Relegationsspiel gegen Saarbrücken vier Wochen lang in Zweierschichten auf Knien in der Halle rumgekrochen sind, ihre Freizeit, ihr Geld, ihre ganze Motivation und alles, was sie haben, rein gesteckt haben, um die Choreografie so aussehen zu lassen, wie sie aussah und das vergisst man leicht. Man sieht immer nur, wenn jemand irgendwas Negatives macht, aber die positiven Dinge, dass die für ihren Verein alles geben, dass sie immer da sind, dass sie Aktionen planen, dass sie sich strukturieren, dass sie für die Stimmung zuständig sind, dass sie Fahnen schwenken, Fahnen malen usw., und dass sie halt einfach eine geschlossene Gruppe sind, die auch Interesse daran hat zu wachsen, werden oft übersehen. Ich sehe Ultras absolut nicht negativ. Ich sehe sie absolut positiv. Ob das jetzt Ultras sind oder zu unseren Zeiten eher die englischen Einflüsse im Vordergrund standen, ist egal. Letztendlich zählt das, was hinten raus kommt und das ist die Unterstützung der Mannschaft. Und da kann man das nicht einfach schlecht heißen, nur weil es jetzt eine andere Art und Weise ist, seinen Verein zu unterstützen. Das ist die Problematik, weil viele von uns Alten nicht damit klar
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kommen, dass es auch eine andere Art und Weise der Unterstützung gibt. Da sage ich immer: „Bei euch gibt es zwei Meinungen, eure und die falsche“. Die Jungen gingen aber auch nicht genug auf die Alten zu und die Alten wollen nicht dieses Ultra-Leben führen. Doch diese Problematik ist nun bei uns im Stadion aus der Welt geschafft. Ihr wisst auch, dass die Ultras in Deutschland sich dann schon einmal gerne separat darstellen und rausnehmen und ihrer Ultra-Gruppe Ausdruck verleihen. GD/BH: Hat sich dadurch jetzt vielleicht auch die Außendarstellung verändert? Du sagst gerade, die Ultras wollen sich so ein bisschen nach Außen präsentieren. Kann man das am Stadtbild ablesen? MB: Ja, natürlich. Die Stilmittel der Fankultur sind natürlich nicht nur Zaunfahnen. Wir haben – auch dem neuen Block geschuldet – neue gemalt und die alten zu den Akten gelegt. Bei den Fahnen ist der oberste Grundsatz, dass nur selbstgemalte Fahnen geschwenkt werden dürfen. Dann Aufkleber natürlich: Der Aufklebeterror ist auch schon bis an unsere Geschäftsstelle durchgedrungen. Da gab es dann auch schon den ein oder anderen Zeigefinger von unserer Geschäftsstelle, dass es nicht sein kann, dass in Würzburg alles mit Kickers-Aufklebern vollgeklebt ist. Street-Art. Graffiti ist auch etwas, das an mir vorübergegangen ist. Das hat mich nie interessiert, aber es ist schön anzusehen. Man kann es aber auch übertreiben, so wie in Münster z. B., wo es keinen Meter gibt, auf dem nicht irgendwas mit dem SCP steht. Wahnsinn. Würzburg hat dann noch die Nähe zu gestandenen Traditionsvereinen; hier ist es der Glubb, die Bayern sind doch zu weit weg, die Fürther haben keine Berührungspunkte mit Würzburg. Man weiß, dass Franken Nürnberg-Land ist und in Würzburg gab es auch bisher ein Gentleman-Agreement und wir haben neben Nürnberg in einer soliden Co-Existenz hergelebt. Aber das ist jetzt auch vorbei und plötzlich wird ein Machtanspruch rausgeholt, dass hier alles Kickers sein muss. Der positive Effekt ist, dass natürlich so unser Erzfeind, der FC Schweinfurt 05, irgendwie hinten runter fällt. Der ist halt gar nicht mehr auf der Platte. GD/BH: Also es gibt mittlerweile eine gewisse Präsenz der Kickers im Stadtbild? MB: Absolut. Und dann gibt es bei uns natürlich auch entsprechende Leute, die das auch gestalterisch wirklich drauf haben – Respekt. GD/BH: Die Leute, die du gerade ansprichst, kommen die aus dem Fußball oder aus dem Graffiti? Kann man das irgendwie bestimmen? Also sind das ursprüng-
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lich Graffiti-Künstler oder sind es Ultras, die sagen, wir müssen da mal sprühen? MB: Nein, ich denke, sie haben schon gesprüht als sie noch keine Fußballfans waren und sie haben schon eine Gabe mitbekommen, die sonst keiner hat. Die, die es wirklich gut machen, die kommen ursprünglich nicht vom Fußball, glaube ich. Das sind halt auch Männer und alle Männer sind Fußballfans. Für die Gruppe gibt es natürlich kaum eine bessere Plattform als über Fußball, den Verein oder die Gruppe zu sprühen und dieser Ausdruck zu verleihen. GD/BH: Ich wüsste jetzt auch gar nicht, dass man in Würzburg sonst irgendwelche Graffiti-Sprüher hat, fernab vom Fußball, die immer irgendwo ihr Kürzel hinterlassen. MB: In der Unterführung, in der „hall of fame“ (Anm.: Unterführung in Würzburg am Mittleren Ring, Zeppelinstraße), da sind ein paar. Es gibt wohl einen, der ist wirklich ein Sprayer-Gott. Da kniest du nieder. aber der sprüht halt keine Fußballsachen. Das ist völlig außen vor. GD/BH: Bei einem der letzten Heimspiele hattet ihr eine Aktion für Flüchtlinge, organisiert von „Kickers hilft“. Ist die Ultra-Szene an diesem sozialen Engagement beteiligt? MB: Ja, total. Das ist auch ein positiver Effekt. Vor 20 Jahren ist das Fußballding mal leicht in die rechte Ecke abgedriftet. Die Ultraszene im Allgemeinen ist dagegen eher Mitte links oder ganz links, Extrembeispiel wäre z. B. auch wieder Münster. In der Heimkurve in Münster steht die eine Gruppe links, in der Mitte ist ein Puffer und auf der anderen Seite stehen die anderen. Sie sind „verfeindet“ und singen gegeneinander, aber „refugees welcome“ wird von allen getragen. Der Staat ist der Feind, die Polizei ist der Feind, die Gesellschaft ist der Feind. Das sind zum Teil linke, autonome Szenen. Zurück zur Frage: Unsere Fans sind sozial sehr engagiert, nehmen grundsätzlich jeden auf und unterstützen finanziell Schwächere. Auch bei Auswärtsfahrten gibt es besondere Tarife für weniger gut Betuchte. Auch die Aktionen für Flüchtlinge wurden sehr gut angenommen, da war in keiner Weise irgendwie jemand dagegen. Im Gegenteil. Das war eine schöne Geste vom Verein. Die „Alten“ haben Würzburg finest, also eine Klamottenlinie auf den Weg gebracht. Vor einigen Jahren hat man dieses Würzburg finest auf T-Shirts und auf Zipper gedruckt. Das hat der Verein mitbekommen und jetzt gefragt, ob sie das nicht mit in das Merchandising aufnehmen können, weil es halt einfach geil ist und etwas ausdrückt. Die beiden, die das ins Leben gerufen haben, haben dann zwei Bedingungen gestellt: Die eine Bedingung ist, dass die Qualität
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gleichbleibend gut ist und die zweite Bedingung ist, dass von jedem verkauften Shirt oder für jeden verkauften Pulli oder für jede verkaufte Jacke ein Euro an „Kickers hilft“ geht. Also die Hilfsbereitschaft allgemein in der Szene ist sehr hoch. GD/BH: Du hast gerade unter anderem das Liedgut angesprochen. Ist im Endeffekt auch normal, dass „junge“ Fanszenen andere Lieder erstmal kopieren usw.? Gibt es in diesem Bereich auch eine Entwicklung in die Richtung, dass durch die Ultraszene eigenes Liedgut entwickelt und dieses peu à peu kreativ erweitert wird? MB: Auf jeden Fall. Das ist auch ein positiver Aspekt der Ultrakultur, dass sie in diesem Bereich dynamisch sind, viele Einfälle haben und auch eigene Elemente entwickelt werden. Die Kickers haben natürlich Vieles von Bayern übernommen oder auch von Nürnberg. Aber genau das Liedgut ist es, das für die Fraktion der Älteren noch nicht den gewünschten Effekt erzielt und sie als dauerndes „lalala“ bezeichnen. Wenn die Mannschaft zurückliegt, sollten die Gesänge einfach mal brachial und laut sein. Dynamo Dresden hat es hier vorgemacht. Dieses „lalala“, also diese melodischen Gesänge sind sowieso in Deutschland allgemein schwierig. Das können alle anderen Länder besser als wir. Je mehr Oktaven, desto schwieriger wird es halt. Und bei diesen „lalala“-Liedern singen dann auch nicht alle mit und dementsprechend geht dann auch der eigentlich gewünschte Effekt komplett flöten. Klatscheinlagen sind natürlich sehr ultrabehaftet. Als wir noch im alten BBlock waren, war auch das Thema Megaphon sehr verpönt, weil du halt da oben so komprimiert gestanden warst, dass du kein Megaphon brauchtest. Aber es ist auch ein Stilmittel. Ich bin jetzt der Meinung, dass du hier in dem neuen Block ohne Dach zwingend ein Megaphon brauchst. Ohne geht es nicht mehr. Aber wenn man sich bei den Heimspielen mal umschaut, macht nur der Mittelblock richtig mit. Das sind bei guten Spielen 100 und bei schlechten Spielen 80 Leute und darum herum wird es im besten Fall dann laut, wenn ein Tor fällt. Aber dieser neu eingeführte Wechselgesang mit den anderen Tribünen gefällt mir sehr gut. Das ist schon Wahnsinn. Wenn dann die Haupttribüne aufsteht und bei „Kickers Würzburg“ am lautesten mitmacht. Dann der Block 2 und Block 3, die auch einzeln angesungen werden und zum Schluss dann das ganze Stadion. Das ist schon stark. Also da geht mir schon immer mal eine Gänsehaut runter, wenn ich im Innenraum steh. Das ist schon gut.
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GD/BH: Was würdest du dir denn jetzt noch wünschen für die restliche Saison? MB: Es ist natürlich auch so wie in vielen Sportstädten – läuft es gut, kommen die Leute, läuft es schlecht, bleiben die Leute weg. Das ganze Ding steht und fällt mit dem Erfolg oder Nichterfolg der Mannschaft. Das ist klar. Für die Dynamik der Gruppe und für das Wachsen der Gruppe ist natürlich auch zwingend der sportliche Erfolg von Nöten. Auf der anderen Seite kann man auch am 1. FC Nürnberg sehen, was Leid und Not aus einer Fanszene machen können, dass man da auch zusammenrückt. Ich würde mir wünschen, dass sich sowohl mein Verein Kickers Würzburg als auch die Fanszene der Kickers Würzburg etabliert, ein fester Bestandteil im deutschen Profifußball wird und als solcher auch wahrgenommen wird. Nicht als Exot, der jetzt mal hoch kommt und dann wieder von der Bildfläche verschwindet, sondern, dass das ein bleibender Eindruck ist. GD/BH: Vielen Dank!
Doing Gender und Ultra Frauen und männliche Dominanz J UDITH VON
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1. E INFÜHRUNG Ultras und die Ultrakultur prägen seit den 1990er Jahren in Deutschland das Bild in den Stadien und rücken mithilfe der Medienpräsenz von Fußball zunehmend in den Blick der breiten Öffentlichkeit. Darüber hinaus nehmen die Social Media- und Videoplattformen im Internet einen immer größeren Stellenwert im Leben dieser Jugendkultur ein. Diese geben den Gruppen die Möglichkeit auch über die Stadiongrenzen hinaus sichtbar zu werden, indem sie selber Fotos oder Ton- und Videodateien ihres Supports einstellen oder Zuschauer_innen im Stadion oder Passant_innen auf der Straße die Aktionen der Gruppen filmen. Ultras erlangen vielfältig Sichtbarkeit. Sichtbarkeit gilt als einer der zentralen Aspekte von Ultrakultur: „Wenn du nicht als Ultragruppe sichtbar bist, bist du keine“ (Alice).1 Hierfür lassen sich zweierlei Gründe als Erklärung anführen: Einerseits braucht jede Ultragruppe Anerkennung von anderen Ultragruppen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Das Image und der Ruf geben der Gruppe Profil. Andererseits müssen Identitäten (oder gesellschaftliche Rollen) auch vom Umfeld als solche anerkannt und bestätigt werden, dafür müssen diese (kontrollierbar durch die Individuen) angemessen präsentiert werden. Die Identität eines Individuums oder einer Gruppe ist abhängig von einer angemessenen Präsentation bzw. Darstellung. Darstellung beschreibt dabei das Gesamtverhalten vor anderen. Jedes Individu-
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Alice ist eine von zwei weiblichen Ultras, die ich im Rahmen meines Promotionsprojekts begleitet habe.
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um hat je nach Rolle, je nach Darstellungskontext ein gewisses „standardisiertes Ausdrucksrepertoire“ (Goffman, 1959 zit. n. Abels, 2006). Zu dieser Fassade gehören erstens das Bühnenbild und der gestaltete Raum, in dem die Ultragruppe oder auch der einzelne Ultra auftritt. Das könnte in diesem Zusammenhang das Stadion, der Zug bzw. Bus auf dem Anreiseweg zu einem Spiel oder der Fanmarsch sein. Zweitens gehört die persönliche Fassade, wie Statussymbole, Kleidung und Geschlecht, dazu. Und schließlich drittens die soziale Fassade, die sich mit sozialen Erwartungsmustern, die an eine bestimmte Rolle gekoppelt sind, beschreiben lässt. Als Ultra sichtbar werden und wahrgenommen zu werden, macht demnach die Ultraidentität erst aus. In diesem Beitrag steht bei der Betrachtung der Darstellungsweise von Ultraidentität die Dimension Geschlecht im Mittelpunkt. Diese Darstellung von Ultrakultur und somit auch von Ultraidentität passiert im Umfeld von Fußball und ist daher genauso geprägt von einem Bündel aus männlichen Zuschreibungen und Stereotypen wie der Fußball selber. Gender als Teil einer Identität muss auch angemessen dargestellt werden, um gesellschaftlich zu bestehen. Daraus resultiert die Annahme, dass sich als männlich zu inszenieren bzw. zu präsentieren im Rahmen von Ultrakultur nicht nur möglich, sondern, um Ultrakultur angemessen zu präsentieren und sichtbar zu machen, auch geboten erscheint. Doch welcher Herausforderung sehen sich dann weibliche Ultras in der Darstellung der Ultraidentität gegenüber? Dieser Beitrag versucht die Verbindungen von Geschlechterdarstellung und Ultradarstellung herauszuarbeiten und stellt in diesem Zusammenhang weibliche Ultras in den Mittelpunkt.
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Gender als ein Konglomerat aus Geschlechtsidentität, geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und alltäglich dargestellter Praxis betrifft jeden Menschen. Gender ist eine der bedeutendsten gesellschaftlichen Einordnungskategorien, denen Personen unterliegen. Dabei gibt es aufgrund seiner Relationalität nur zwei Möglichkeiten der Passung: männlich, also Mann sein oder weiblich, also Frau sein. Beide Seiten beinhalten zwar viele, aber dennoch sehr spezifische Stereotype, denen sich Personen ausgesetzt sehen. Geschlechterstereotype sind ein sozial geteilter Wissensbesitz, der sowohl auf der individuellen Ebene als auch auf der konsensuellen existiert (vgl. Eckes, 2010). Stereotype sind demnach gesellschaftlich relevant. Gender als ein binäres System dient der Darstellung und dem Herausarbeiten von Geschlechtszugehörigkeiten und aufgrund der Relationalität somit auch zur
D OING G ENDER
UND
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Inszenierung von Differenzen. Dieses Doing Gender (West & Zimmerman, 1987) meint die interaktive Praxis der Herstellung der Geschlechter inklusive der Differenzen und die stetige interaktive Bestätigung dieser, also mehr noch als die bloße Goffman’sche Präsentation einer Geschlechtszugehörigkeit vor einem Publikum. Als Erweiterung des Doing Gender-Konzepts geht das Undoing Gender davon aus, dass es Momente in sozialen Praxen gibt, in denen diese Gender Performanz nicht im Zentrum der Darstellung steht, sondern dass Gender je nach Kontext auch mal in den Hintergrund treten kann. Hirschauer (1994; 2002) interpretiert den Prozess der Geschlechtskonstruktion als eine Serie von Momenten, in denen Gender auf- und wieder abtaucht. Der Gedanke dahinter ist, dass es in der gesellschaftlichen Praxis Momente gibt, in denen andere Kategorien und/oder Darstellungsweisen wichtiger sind.2 Für den analytischen Blick auf solche Geschlechtermomente bieten sich laut Suthues (2012, S. 105) zwei Begriffe an: Dramatisierung und Entdramatisierung. „Geschlecht wird dramatisiert, wenn die Geschlechterdifferenz und/oder -hierarchie in der Praxis relevant gemacht wird. Dies ist dann der Fall, wenn Geschlecht zur zentralen Kategorie der Wahrnehmung wird“ (ebd.). Entdramatisierung bedeutet, so Suthues, dass „Geschlecht weder vordergründig noch ‚heimlich‘ seine Wirkung entfaltet, sondern dass es vielmehr situativ keine Rolle spielt. Die Omnirelevanz des Systems der Zweigeschlechtlichkeit ist damit – zumindest auf der Ebene der theoretischen Begriffe – gebrochen“ (ebd.). Das Konzept des Doing bzw. Undoing Gender beschreibt also, dass Geschlecht eine Kategorie ist, der Menschen immer angehören und an die sie ihre Identitätsdarstellung anpassen müssen. Das bedeutet für diese, dass sie durch ihr alltägliches Handeln beweisen, einem der beiden Bereiche der Kategorie Gender anzugehören. (Un)Doing Gender setzt voraus, dass es ein angemessenes Verhalten für das jeweilige Geschlecht gibt. Mithilfe von Stereotypen und einer Auswahl an entsprechenden Verhaltensweisen haben die Menschen auf diese Weise die Möglichkeit, sich als Mann oder Frau zu inszenieren. Sie unterliegen dabei grundsätzlich einer geschlechtlichen Ausweispflicht. Diese ist auch unabhängig davon, ob Gender in der jeweiligen Situation gerade relevant ist. Undoing Gender oder eine Entdramatisierung von Gender ist erst möglich, nachdem die Zugehörigkeiten geklärt sind. „Die Geschlechtszugehörigkeit ist aufgrund ihrer ha-
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Ein Beispiel dafür ist das „Doing Student“, das Faulstich-Wieland (2004) in ihrer Arbeit benennt. Demnach gibt es Momente bei Schüler_innen, in denen ihr „Schülerjob“ (vgl. Breidenstein, 2006) wichtiger ist, als ihre Geschlechterinszenierung, bspw. wenn sie sich gegen die Lehrkraft verbünden, in solchen Situationen ist dann nur ihre Rolle als Schüler_in gefragt.
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bituellen Darstellung durch eine kulturell garantierte Sichtbarkeit bestimmt. Sie ist visuell omnipräsent. Daher sind wir auch nicht zeit- und ortsspezifisch ein Geschlecht, sondern konstant und ubiquitär“ (Hirschauer, 2004, S. 23). Personen haben das Wissen um Geschlechtszugehörigkeitsmarker, wie stereotypes Verhalten, Kleidung, Sprache etc. so internalisiert, dass es ihnen die Sicherheit gibt, dass auch wenn sie die Einordnung nach Gender kurzzeitig ruhen lassen, diese dennoch immer weiter abrufbar bleibt. Das festigt die Zuordnungsmechanismen und gibt in Interaktionen die Sicherheit, sich auch mal auf andere Zugehörigkeiten konzentrieren zu können. Bei Gender handelt es sich demzufolge um eine kulturelle Praxis der Zweigeschlechtlichkeit. Diese ist aber nicht nur durch eine Dichotomie geprägt, sondern es handelt sich dabei auch um ein hierarchisches Ordnungsprinzip. Gender als relevante Differenzkategorie ist wie andere derartige Kategorien (z. B. Ethnizität, Klasse, sexuelle Identität) auch als hierarchischer Dualismus aufgebaut (vgl. Leiprecht & Lutz, 2009, S. 188). Dabei ist diese Kategorie eine zweiseitige, aber ungleichwertige Medaille: Mann/Männlichkeit auf der dominanten Seite und Frau/Weiblichkeit auf der dominierten. Sie ist derart gesellschaftlich relevant, dass sie mit einem Konglomerat aus heteronormativen Erwartungen an eine „angemessene“ Weiblichkeit und Männlichkeit verbunden ist. Die Relationalität beinhaltet eine heteronormative Grundannahme. Alle Abweichungen davon gelten als nicht mehr typisch bzw. „richtig“ männlich oder weiblich. Homosexualität funktioniert dabei als „Verstärker“ einer falschen Weiblichkeit/Männlichkeit. Diese Heteronormativität lässt sich besonders gut im gesellschaftlichen Raum Fußball ausmachen. Dabei genügt es zumeist, diesen als männlich zu deklarieren, um ihn für andere angemessen zu beschreiben. Klischees und Stereotype, die dafür genutzt werden, wie tough, hart, der Stärkere setzt sich durch, dominant, rau, körper- und kampfbetont sind ebenso Stereotype, die dazu dienen können, heterosexuelle Männlichkeit zu beschreiben. Sie sind aber genauso nutzbar, um Ultrakultur zu beschreiben. Stereotype, die angemessene Weiblichkeit beschreiben, passen auf den ersten Blick nicht optimal dazu. So wird das männliche zum richtigen Prinzip im Kontext Fußball. Es wird zum Zentrum der Fußballbedeutung gemacht, sodass alles außerhalb dieses Bereichs zum „Anderen“ konstruiert wird. Darüber hinaus lässt sich auch innerhalb der Männlichkeit selber ein hierarchisches Gerüst finden. Homosexuelle Männlichkeit gilt hier als untergeordnete Männlichkeit, sie ist laut der stereotypen Ordnung der Weiblichkeit zu nah. Dieses Konzept einer „Hegemonialen Männlichkeit“, wie Connell (u.a. 2005) es beschreibt, differenziert Männlichkeiten aus. Im Zentrum steht eine hegemoniale Männlichkeit, die eine derzeitige gesellschaftliche Norm widerspiegelt. Diese hat in einem patriarchalen System den besten Zugang zu (öko-
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nomischer) Macht. Eine komplizenhafte Männlichkeit, der die Mehrzahl aller Männer angehört, steht zwar nicht im Zentrum der Macht, profitiert aber qua Geschlechtszugehörigkeit von der Vormachtstellung und lehnt sich nach ihren Möglichkeiten an die hegemoniale Männlichkeit an. Die marginalisierte Männlichkeit findet sich in gesellschaftlich benachteiligten Gruppen wieder, diese profitiert nur noch randständig von der männlichen Dominanz. Die untergeordnete Männlichkeit betrifft am häufigsten homosexuelle Männer, denen der Vorwurf des Weiblichseins entgegengebracht wird (vgl. Connell, 2005). Das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit ist auf die heteronormative Hierarchie des Geschlechterverhältnisses aufgebaut: Weiblichkeit ist dabei stets das dominierte Konzept, das gilt sowohl für Frauen als auch für untergeordnete Männlichkeiten. In Bezug auf Ultrakultur besteht nun die Frage, welche Rolle Gender hier spielt. In diesem Beitrag interessiert das Verhältnis der Geschlechter in der Ultrakultur und die soziale Positionierung vor allem der Frauen.
3. U LTRAS , F USSBALL UND G ENDER F ORSCHUNGSGEGENSTAND
ALS
Die deutschsprachige Fußballfanforschung, insbesondere die Ultraforschung, hat lange den Geschlechtsaspekt ignoriert. Zu oft wurde (und wird) die Fußballnormalität mit männlich/Mann generiert. Das betrifft sowohl den Sport (Männerfußball) als auch die Fans und Ultras. Weibliche Fans, weibliche Ultras oder der Frauenfußball sind die Abweichungen von der maskulinen Norm. Das spiegelt sich auch in der Fußball(fan)forschung wider, Kreisky (2006) spricht sogar von einem Androzentrismus der Fußballforschung. Dass Fußball und die Lebenswelt von Fans etwas „Männliches“ innehaben, wird zwar in verschiedenen Veröffentlichungen benannt, nicht aber zum eigentlichen wissenschaftlichen Thema gemacht. Erst in den letzten Jahren beschäftigt sich die deutschsprachige Männlichkeitsforschung auch mit Fußball (z. B. Meuser, 2008 oder Böhnisch, 2008)3. Die Konsequenzen für die anwesenden Frauen im Fußball, ob Spielerinnen oder Fans, bilden dennoch nur vereinzelt das zentrale Thema in vorhandenen Studien. Vor allem zu den Themen Gewalt, Hooligans, aber auch zu Ultras werden Frauen meist als expliziert und in Unterkapiteln unter den Punkten „Geschlecht“ oder „Sexismus“ subsummiert und als Abweichung von der Norm markiert oder einfach gänzlich ignoriert (z. B. Gabler, 2011, Kathöfer & Kotthaus, 2014). Zwar wurde die Frage nach weiblichen Mitgliedern bei verschiedenen Fangruppen
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Zum Forschungsstand zu Männlichkeit und Fußball siehe Sülzle, 2011, S. 25 ff.
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beispielsweise in das Untersuchungsdesign der Studie von Pilz et al. (2006) aufgenommen, aber auch da suggeriert der Titel des entsprechenden Kapitels „Ultras und Frauen“ und die Tatsache, dass es eher die Perspektive der männlichen Ultras auf weibliche Ultras behandelt, eine Sichtweise auf Frauen als außenstehend. Über dieses „Andere“ im Fußball hat Nina Degele (2013) mithilfe von Gruppendiskussionen in „Fußball verbindet – durch Ausgrenzung“ Homosexualität und Weiblichkeit als das nicht fußballadäquate „Andere“ herausgearbeitet. Diese beiden Zuschreibungen inklusive ihrer Diskriminierungspraxen Sexismus und Homophobie dienen, so Degele, im Fußball dazu, diesen als „heteronormativ geschlossenes Gehege herzustellen, zu befestigen und nach außen abzusichern“ (Degele, 2013, 184). Ihre Konzepte zum Thema Heteronormativität im Fußball weisen auf, in welchem Verhältnis Weiblichkeit zu der dominanten Männlichkeit steht. Degele stellt Frauenfußball ins Verhältnis zu Männerfußball und setzt dabei nicht nur das Mannsein und das Frausein ins Verhältnis, sondern auch die damit definitorisch verbundene Heterosexualität. Da Fußball sich per se durch Männlichkeit definiert, sind Frauen im Fußball stets das falsche Geschlecht. Fußballspielende Frauen würden, laut der von ihr befragten Fußballfans, nicht wie richtige Frauen aussehen. Gut aussehende Frauen seien dort die Ausnahme, somit seien fußballspielende Frauen ohnehin falsche Frauen. „Männer nähmen bei Männern das Fußballerische, bei Frauen dagegen das Optische wahr“ (ebd., S. 134). Das Gleiche gelte für die Fans im Stadion beim Männerfußball. Frauen würden nur dort sein, um sich die Spieler anzuschauen, Männer seien hingegen auch am Fußball interessiert. Degele setzt Sexualität in Bezug zu Geschlechtszugehörigkeit und sagt weiter, dass es im Fußball „geschlechterdifferente Einstiegstabus“ (ebd.) gebe. So seien Fußballerinnen schon aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit für den Fußball das falsche Geschlecht, sodass ein vermeintliches Lesbischsein bereits erwartbar sei. Diese Frauen passten bereits aufgrund ihrer Fußballtätigkeit nicht ins heteronormative Gefüge, sodass die Homosexualität hier „normal“ erscheine. Männer hingegen seien aufgrund ihres Geschlechts Fußball-konvergent. Schwulen Männern würde dies aufgrund ihrer Sexualität abgesprochen. Die Abgrenzung von beiden dominierten Prinzipien Weiblichkeit und Schwulsein funktioniert hier als Sicherung der Heteronormativität des Fußballs (vgl. ebd., S. 134 f.). Eine weitere Studie, die sich mit Fußball in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse beschäftigt, hat Almut Sülzle 2011 veröffentlicht. Ihre „ethnographische Studie im Fanblock“ legt das Augenmerk auf Weiblichkeit im Rahmen von männlichkeitsgeprägter Fußballkultur. Sie proklamiert Fußballfankultur als eine Präsentationsbühne für Männlichkeit. Deshalb gehören ritterliche, also ernste
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Wettbewerbsspiele, wie Meuser (2006) sie beschreibt, genauso dazu wie Sexismus. Dennoch biete der Raum als Männerdomäne den Anwesenden eine Möglichkeit, sich zwischen den Geschlechtern frei zu bewegen. Das gelte für Männer, denen der Rahmen Fußball viele Möglichkeiten gebe, Männlichkeiten auszuleben, ohne in den Verdacht zu geraten, unmännlich zu sein, genauso wie für Frauen. Diese unterlägen in diesem Raum nicht so stark den geschlechtsstereotypen Erwartungen, denen sie sich außerhalb des Stadions ausgesetzt sähen. Die weiblichen Fußballfans grenzten sich auf diese Weise aktiv gegen Weiblichkeitsstereotype ab (vgl. Sülzle, 2006; 2011). Zwar bleibt sie in ihrer Studie m.E. zu sehr auf den individuellen Ebenen und vernachlässigt dadurch strukturelle Gegebenheiten, Sülzle zeigt aber auf diese Weise, wie stark Gender mit Fußball verknüpft ist. Arbeiten, in denen die Geschlechterverhältnisse, Sexualität oder Weiblichkeit konkret in der Ultrakultur im Zentrum des Interesses stehen, lassen sich im deutschsprachigen Raum bisher nur peripher finden. Lediglich Sophia Gerschel (2009) hat sich in ihrer Diplomarbeit mit weiblichen Ultras auseinandergesetzt. Sie hat Gruppendiskussionen mit einer Ultragruppe geführt, die nur aus Frauen besteht. Sie stellt heraus, dass sich die Mitglieder nicht als Opfer einer sie umgebenden männlichen Ordnung sehen wollen. Sie sehen sich zwar Anforderungen einer männlichen Form ausgesetzt, haben aber einen Weg gefunden, sich ihren Platz im System zu sichern. Dafür „müssen die Frauen versuchen ein Mittelmaß zwischen dem Verhalten der Männer und dem traditionellen Bild der Frau zu finden. Sie sollten sozusagen geschlechtsneutral werden, um als aktiver Fan wahrgenommen zu werden“ (Gerschel, 2009, S. 61). Wie genau diese geschlechtlichen Aushandlungen, also ihr Doing Gender im Ultraalltag aussieht, bleibt auch in dieser Studie noch offen. An dieser Stelle setzt die Fragestellung meines Promotionsprojekts an der Universität Osnabrück „Wie konstruieren weibliche Ultras ihr Geschlecht und welche Rolle kommt dabei der Ultrakultur zu?“ an. Daraus werde ich im Folgenden einige Teilergebnisse vorstellen.
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4. D ARSTELLUNG UND P RAXIS UND M ÄNNLICHKEIT
VON
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Fußball als gesellschaftlicher Ort ist ein Ort des (Un)Doing Gender. Da sich dieser als heteronormatives Gehege zeigt, erfordert er eine ganz spezifische Darstellung von Gender. Schließlich ist eine angemessene Ausführung dafür erforderlich, die Beschreibung als männlichem Ort bzw. heteronormatives Gehege überhaupt aufrechterhalten zu können. Ultras sind zahlenmäßig vorwiegend männlich. Es gibt auch mehr rein männliche Gruppen als rein weibliche. Darüber hinaus lässt sich die Ausgestaltung der Ultrakultur als eine Männlichkeitskultur verstehen. Männlichkeit ist hier die Norm, ergo kann Fußball gleichermaßen auch als Ort für Männlichkeiten gedacht werden (vgl. Sülzle, 2011, S. 85). Die Ausgestaltung von Ultrakultur muss also mit Gender umgehen.4 Stereotyp gedachte männliche Verhaltensweisen und Ausdrucksformen sind im Leben der Ultras zentral. Dazu gehört vor allem, laut und präsent sein. Sichtbarkeit als zentrales Ultramuster geht dabei in erster Linie über körperliche Präsenz.5 Das hat mit den im Fußball typischen Stereotypen von Dominanz, Stärke, Kraft und Durchsetzungsfähigkeit zu tun. Männliche Körperpräsenz steht dabei für ultrakulturell angemessene Funktionalität in Form von Lautstärke, Kraft und eventueller Verteidigung der Gruppe oder der für die Gruppe wichtigen Artefakte. Da im (relationalen) Gegensatz dazu weibliche Körperpräsenz stereotyp für Sexualität, Fürsorge und Schwäche steht, kann es für eine Ultragruppe, die angemessen ihre Sichtbarkeit erfüllen will, herausfordernd sein, weibliche Mitglieder zu akzeptieren. Das männliche Körperhandeln impliziert einen praktischen
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Das tun Ultragruppen sehr unterschiedlich. Während einige Gruppierungen darauf bedacht sind, geschlechtshomogen zu agieren und Frauen und Weiblichkeit komplett auszuschließen, lassen sich auch Gruppierungen finden, die sich gegen eine Vormachtstellung des heterosexuellen Männlichen stellen. Da die Ultrakultur in Deutschland sehr heterogen ist was politische und kulturelle Zielsetzungen angeht, ist sie auch in der Geschlechterfrage indifferent. Die von mir begleitete Ultragruppe beschäftigt sich nicht explizit mit Geschlechterpolitiken. Sie geht mit Geschlecht in ihrer Lebenswelt als Ultra um als einem gesellschaftlichen Teil, dem sie nicht entfliehen kann.
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Auch nicht-körperliche Präsenz ist in der Ultrakultur wichtig: Streetart der jeweiligen Gruppierungen, auch in Städten von Gegnern, Choreographien und Gesänge im Stadion, Internetpräsenz in Form von Videos oder inszenierte veröffentlichte Gruppenfotos im Internet. Obwohl bei letzteren beiden eine körperliche Präsenz durchaus eine hohe Relevanz für die sich als dominant inszenierende Gruppe darstellt.
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Körper, das weibliche Körperhandeln impliziert hingegen einen schönen Körper (vgl. Meuser, 2006). Diese körperlichen Aushandlungen sind für den Alltag als Ultragruppe relevant. Die körperliche männliche Präsenz ist allgegenwärtig. Als ein Beispiel lassen sich Fanmärsche zum Stadion nennen, bei denen die Ultras als geschlossene Einheit vorweg gehen. „Ultras sollen auch mobil sein auf der Straße und das ist der... gut, sehe ich auch so [...] ja klar, die erste Reihe muss aus großen Männern bestehen. Die erste Reihe soll auch bitte [unsere Gruppe] sein. Kann ich irgendwie nachempfinden. So. In meiner Toleranz kann ich das nachempfinden. Und auch wenn ich in [Stadt des Derbygegners] bin. Ist mir das auch persönlich lieber. Weil ich wüsste, ok, ich steh in der zehnten, aber bis die in der zehnten Reihe durch sind, dauert. Und das das find ich auch angenehmes Gefühl. und es ist natürlich auch höchst Gentlemanlike, dass man dann auch in die 15. Reihe geschubst wird“ (Alice Interview).
Alice zeigt hier auf, dass die körperliche Präsenz und die Sichtbarkeit starke männliche Aspekte sind. Die Mobilität lässt sich hier mit einem männlichen Körperhandeln als praktische Körper (vgl. Meuser, 2006) gleichsetzen. Sie zeigen nicht nur die Stärke der Gruppe, sondern auch die Bereitschaft, auf eventuelle Angriffe von außen zu reagieren. Das „mobil sein“ steht hier als Platzhalter für sichtbare kampfbereite Stärke. Frauen sind ganz stereotyp die schützenswerten Objekte. Die Männer werden zu Gentlemen, wenn sie diese schützen wollen und sich vor sie stellen. Der Interviewauszug zeigt, wie ein Doing Gender hier stattfindet. Die Gruppe wird mittels der geballten Männlichkeit in der ersten Reihe als stark und „mobil“ sichtbar (gemacht). Frauen werden aus der Sichtbarkeit herausgeschubst und in die Gruppenmitte genommen. Sie werden folglich ein Teil der Masse. Die Ultras sind so als starke homogene Einheit sichtbar. Diese Sichtbarkeit wird dann nicht mehr durch die Anwesenheit von Frauen verweiblicht, also geschwächt. Ein androzentrisches Geschlechterbild vom Ultra als Mann wird von Alice nicht in Frage gestellt. Das Männliche und das Mobil-Sein werden hier eng miteinander verknüpft. Ultras müssen laut Alice qua Definition mobil sein auf der Straße. Es wird demzufolge als Ultra-typisch deklariert. Für sie als Frau ist das nur erfüllbar, wenn sie sich in die Gruppe zurückschubsen lässt und sich somit einem geschlechtsstereotypen Verhalten im Verhältnis der Geschlechter anpasst. Der Aspekt der Ultramobilität ist mir während meiner Beobachtung des Öfteren begegnet. Dieser ist für verschiedene ultraspezifische Handlungen sehr relevant und tritt vor allem immer dann auf, wenn es um vermeintlich geschlechtstypi-
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sche Handlungen geht. Er dient der Legitimation der Ausgestaltung der Ultrakultur. In diesem Fall dient er Alice dazu, ihr Geschubst-Werden zu legitimieren und nicht dagegen zu protestieren. Die Ausgestaltung ihrer Mitgliedschaft in der Gruppe ist also an ihre Geschlechtszugehörigkeit gebunden.6 Diese geschlechtsspezifischen Aushandlungen sind auch Anpassungen an (sub)kulturell gegebene Regeln. Alice, aber auch die andere Frau Kati akzeptieren den für sie und ihrem für den Fußball und für die Ultrakultur vermeintlich falschen Geschlecht zugeschriebenen Platz. Die von mir begleiteten weiblichen Ultras sind sich sehr über ihre Sonderrolle bewusst. Alice weiß, dass Mobilität zu Ultras gehört, sie weiß aber auch, dass es an männliche Stereotype geknüpft ist. Ihr bleibt nur dabei die Akzeptanz der Geschlechterrollen.
5. W EIBLICHE U LTRAS UND IHR P ART G ESCHLECHTERVERHÄLTNIS
IM
5.1 Geschlechterhomogenität als Antwort auf das ‚heteronormative Gehege‘? In Deutschland gibt es nur wenige reine Frauenultragruppen. Die bekannteste aktuell sind wohl die Societas aus Heidenheim. Ein Mitglied hat sich in einer Zeitschrift bezüglich ihrer geschlechtlichen Sichtbarkeit geäußert: „Ich möchte in erster Linie als Fan, also geschlechtsunspezifisch, wahrgenommen werden“ (Schramm, 2014). Sie spricht dabei wieder den zentralen Aspekt an: Frauen sind aufgrund ihres Geschlechts sichtbar, weil sie als falsch im heteronormativen Gehege des Fußballs wahrgenommen werden. Sie möchten dabei nicht unter die männlichen Mitglieder einer Gruppe subsummiert werden, sondern wollen dazugehören, was zu sagen haben und auch Ultrakultur, hier in Form von Choreographien, mitgestalten (vgl. Schramm, 2014). Sie stellen die Unabhängigkeit, die auch schon Kati und Alice thematisieren, nochmal stärker heraus. Sie umgehen dadurch vielleicht das ständige Bestätigen, es aus eigener Kraft in die Ultrakultur geschafft zu haben. 6
Mobilität ist ein zentrales Ultraphänomen. Es betrifft den gesamten Ablauf der Anund Abreise zu den Spielen. Es bestimmt die Wahl des Verkehrsmittels und die Möglichkeit, ob ein Fanmarsch zum Stadion möglich ist. Es betrifft somit auch das Verhältnis zur Polizei. Darüber hinaus ist es ein zentraler Aspekt, wenn es um die Sicherheit der zu beschützenden Fahnen und des Materials geht. Schlussendlich steht das Phänomen der Mobilität unter dem Kriterium der Sichtbarkeit.
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Kati antwortet auf die Frage, ob eine rein weibliche Gruppe für sie etwas wäre folgendermaßen: „Nein, erstmal könnte ich mir das bei uns gar nicht vorstellen, weil wir glaube ich gar nicht so die Mädels zusammenkriegen, die wirklich sich interessieren – also die sich wirklich für Ultra interessieren und auch sagen würden, boah ja da – geil! Ich glaube nicht, dass wir das hinkriegen würden und zweitens, das muss nicht sein. Du willst ja heutzutage auch keine reine Männergruppe mehr. Und ne reine Frauengruppe, das gabs noch… doch, das gabs schon, aber ich finde das, ich finde das Schwachsinn. Du kannst genauso gut mit männlichen Wesen in einer Gruppe sein, da kannst du viel mehr erreichen. Weil die auch oft ja ganz andere Sichtweisen haben als Mädchen, gerade so in Bezug auf Fußball. Die denken dann halt eher so, ja wir machen das jetzt einfach und gehen da jetzt einfach mal auf Konfrontationskurs und Frauen würden dann vielleicht eher sagen, ohh neee, vielleicht können wir ja doch ein bisschen diskutieren vorher? Und ja das macht dann einfach die Mischung, finde ich persönlich. Also ich könnte mir nicht vorstellen, in ner Frauengruppe zu sein, in ner reinen Frauengruppe“ (Kati Interview).
Für die Entscheidung, sich als Frauen zusammenzutun und von den Männern zu emanzipieren, sieht Kati zum einen das Problem des fehlenden Interesses von Frauen an Ultra. Zum anderen stellt sie ein Nichtwollen von geschlechtshomogenen Gruppen in den Kontext einer allgemeingültigen und modernen7 Regelhaftigkeit. Weibliche Mitglieder in einer Gruppe machen eine Gruppierung zeitgemäß, männliche Mitglieder machen eine Gruppe in den hier geltenden Rahmenbedingungen des Fußballs handlungsfähig. Sie aktiviert hier die fußballtypischen Geschlechterstereotype: Männer sind durchsetzungsfähiger und packen an, Frauen reden nur. Dem Konzept, die Anwesenheit von Frauen als zeitgemäß und
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Die mir als Beobachterin des Öfteren präsentierte Modernität der Gruppe hat Grenzen. Genaugenommen fängt sie bei der Aufnahme weiblicher Mitglieder an und hört exakt an gleicher Stelle wieder auf. Die Aufgabenverteilung ist weiterhin sehr traditionell. Die Ultras und vor allem die weiblichen Ultras lassen sich dabei aber in einem durchaus zeitgemäßen Kontext wiederfinden. Hier möchte ich auf den neoliberalen Geschlechtervertrag von Angela McRobbie (2010) hinweisen. Frauen bekommen im modernen Postfeminismus dann Sichtbarkeit und Anerkennung, wenn sie das heteronormative hierarchische Geschlechtersystem nicht mehr in Frage stellen. Durch eine gewisse Weiblichkeitsdarstellung, mindestens aber durch Zugeständnisse an eine stereotype von Männern gewollte Weiblichkeit stützen sie die männliche Herrschaft und erkennen diese (unbewusst) an.
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modern anzusehen, bin ich auch während meiner Beobachtung des Öfteren begegnet. Alice sagt unabhängig davon etwas Ähnliches in ihrem Interview. Zusammengefasst sind beide Frauen der feldtypischen Meinung, eine zu hohe Anzahl Frauen würde die Aktivitäten der Gruppe bremsen. Zur Ultrakultur gehört der „Konfrontationskurs“, durch den die Gruppe mehr erreichen könne. Hier kommt wieder der Aspekt der Mobilität ins Spiel. Dieser impliziert Handlungsschnelligkeit und Entscheidungsfreudigkeit. Diese wird vermeintlich typischer Weiblichkeit abgesprochen. Dadurch stützen sie die Vorherrschaft der Männlichkeit. Mobilität und modernes Ultrasein legitimieren alle Handlungen im gruppenspezifischen Kontext. 5.2 Weiblichkeit und die männliche Dominanz in der Ultrakultur Wenn Ultra nun ein Bündel aus männlichen Praxen ist und Alice sogar ihre Rolle als falsches Geschlecht für die ultrakulturrelevanten Momente akzeptiert,8 bleibt die Frage, wie die Frauen diese zugeschriebene Rolle sehen und wie ein weibliches Doing Gender dazu passt. Laut Degele (2013) haben Weiblichkeit und die Abgrenzung davon die Aufgabe, den Fußball als heteronormatives Gehege und somit die heterosexuelle männliche Herrschaft (Bourdieu, 2005) darüber zu festigen. Wie sehen die Frauen ihre Rolle und ihren Zugang zu dieser Kultur selber? Im Interviewausschnitt von Kati wird deutlich, wie stark ihr Eintreten und ihr Verbleib in der Gruppe mit geschlechtlichen Stereotypen, die Frauen als qua Geschlecht unpassend zu Fußball herausstellen, zu tun hat. „Ja, du hast es als Frau halt einfach viel schwerer, irgendwie dich ähm, dir Respekt zu verschaffen in der Szene und zu sagen, hier bin ich, ich bin nicht nur da, weil ich gerade einen Freund habe, der da mitfährt und weil ich das gerade cool finde, sondern einfach weil dich das Fußball-Ding interessiert, ne? Und da habens Mädchen natürlich auf ner gewissen Art und Weise schon ein bisschen schwieriger.[...] du musst auch irgendwie so ein bisschen dich halt klar für den Fußball interessieren und dann kann das von alleine kommen, aber ich glaube einfach, dass es bei ganz vielen, gerade männlichen Wesen
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Da es sich bei diesem Artikel um einen stark gekürzten Einblick in mein Dissertationsprojekt handelt, ist der Blick auf die hier besprochenen Phänomene nicht so stark diskutiert, wie er sein könnte. Mir ist durchaus bewusst, dass es andere Lesarten des vorgestellten Materials gibt, und dass es durchaus auch weitere relevante Aspekte über das Verhältnis der Gruppenmitglieder auch jenseits des Genders gibt. Diese können hier aus Platzgründen aber leider keine Erwähnung finden, werden selbstverständlich in meiner Dissertation aber ausführlicher besprochen.
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einfach noch so drin steckt, so von wegen, ja Fußball? Ist nen Männerding. Geh ich mit meinen Männern hin. Und ich glaube, dass es dann einfach, weil halt auch die Vorurteile einfach da sind, dass die Frauen nur da sind, weil sie gerade ihren Freund dabei haben. Und gerade so sagen, ja, ja jetzt finde ich das mal ganz cool und ich äh, gerade im jüngeren Alter und äh seh da halt auch einfach, ja ohh, da sind ja ein paar Kerle, die ganz nett sind. Vielleicht nicht unbedingt mit bösen Absichten, aber die dann halt einfach dahin gehen. Und ich glaube, dass das bei ganz vielen einfach dieses Vorurteil auch da ist, die ist nur wegen ihrem Freund da. Oder die, äh ja, die interessiert sich gar nicht so für Fußball, weil sie einfach viel lieber andere Dinge nebenbei macht, sich für äh die ganze Zeit mit jemandem unterhält anstatt zu singen. Sind glaube ich ganz viele Sachen, die dann da aufeinander treffen. Aber ich weiß nicht, also für mich persönlich ist Fußball kein reiner – oder finde ich, klar habens Frauen schwerer, [...] Man muss sich halt nur auf ner gewissen Art und Weise finde ich beweisen. Musst halt auch sagen, ähh, ja ich bin nicht eine davon, ne?“ (Kati Interview).
Kati stellt eine Unvereinbarkeit von den Begriffen Weiblichsein und Ultrasein dar. Für sie ist das sich Respekt verschaffen zu müssen eine aktive Handlung, in der sie herausstellen muss, dass sie auf sich allein gestellt, also unabhängig und nicht mithilfe eines Partners, der die Rolle eines Gatekeepers übernähme, in die Gruppe kommt. Sie stellt Respekt als eines der zentralen Aspekte des Ultraseins hervor und respektiert zu werden einer für sie typischen, aber für diesen Ort zumindest falschen Weiblichkeit entgegen. Fußballinteresse ist auch für sie eigentlich männlich. Ihr ist klar, dass der Ort Fußball und vor allem Ultra ein männlichkeitsdominierter Räume sind, und sie da das andere Geschlecht ist und eigentlich aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit die Mitgliedschaft untypisch sei. Kati begründet das mit dem herrschenden Vorurteil, dass Frauen den Fußball nur als Treffpunkt für ihre stereotypen Weiblichkeitshandlungen nutzen würden (reden statt singen), das sei störend für ein Ultrasein. Das scheint klar, weil singen zur Kultur gehört, sich unterhalten im Sinne von Weiberklatsch aber nicht. Ein solches Verhalten sei sogar gefährlich für ihre Mitgliedschaft, weil die männlichen Mitglieder diejenigen seien, die diese Vorurteile haben und über ihren Zugang entscheiden. Sie muss diesen beweisen, nicht diesem Vorurteil von Weiblichkeit zu entsprechen. Sie sieht sich also dem gesellschaftlichen Stereotyp, dass Fußball ein von Männern dominierter Ort ist, gegenüber. In einem solchen Geschlechterverhältnis bleibt auf den ersten Blick der Frau nur die Rolle des Anhängsels (Konstantinidis, 2005), das würde eine Degradierung zu einer Begleiterin bedeuten (vgl. Sülzle, 2011, S. 271). Kati drückt dadurch eine doppelte Relationalität der Kategorie Gender aus: Erstens, wenn Männlichkeit das dominante Geschlecht ist,
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muss das dominierte das Weibliche sein. Zweitens stehen die Geschlechter in einem heteronormativen Raum auch immer in sexueller also partnerschaftlicher Gebundenheit zueinander. Beides steht aber der Notwenigkeit des RespektiertWerdens entgegen, also muss sie sich als unabhängig zumindest von einem etwaigen Gatekeeper darstellen. In den Vorgesprächen, aber auch in den Interviews mit beiden Frauen, war es ihnen extrem wichtig herauszustellen, dass sie es unabhängig von ihren Partnern in die Gruppe geschafft hätten. Sie gehen beide davon aus, dass Außenstehende ihnen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit unterstellen würden, es nicht aus eigener Kraft in die Gruppe geschafft zu haben. Kati sagt, man hätte es als Frau „natürlich“ schwerer, aber man müsse sich beweisen und sich Respekt verschaffen, indem man sich auf das Wesentliche konzentriere, nämlich den Fußball. Sie grenzt sich von einer stereotypen Weiblichkeit, die nur an Männern und an Tratschen interessiert sei, ab. Der folgende Protokollausschnitt zeigt, wie stark das Geschlechterverhältnis in einer solchen Gruppe heteronormiert ist. Die Szene spielt in einem Bus nach einem Auswärtsspiel. Die Beobachterin ist, wie auch einige um sie herum, eingenickt. „Ich höre erst mal mit geschlossenen Augen zu, weil ich wissen will, was deren Unterhaltung mit mir zu tun haben könnte. Schnell wird klar, dass es um Frauen als Ultras geht. Die Meinung des männlichen Diskutierenden, es war Till, war eindeutig: Frauen stehen eigentlich im Widerspruch zur Ultrabewegung. Fußball sei die letzte echte Männerdomäne, die sollte von den Frauen nicht aufgeweicht werden. Ein Satz von ihm ist: ‚Es klingt zwar immer blöd, aber ich finde, Frauen sollten zu Hause bleiben und auf den Mann, der zum Fußball geht, warten.‘ Frauen würden alles kaputt machen. Vor allem Männerfreundschaften. An Streitigkeiten innerhalb der Gruppe seien oft Frauen schuld. Richtige weibliche Ultras könne es nicht geben. Meistens sind sie ja nur da, weil sie mit jemandem aus der Gruppe zusammen sind. Und wenn sie es nicht sind, wie derzeit Ellen (Mitglied der Nachwuchsultras), seien alle scharf auf sie. Das störe das eigentliche Ultrasein. Mädchen seien in solchen Männerdomänen nur Sexobjekte, weil Männer ja gar nicht anders können, als Frauen so zu betrachten!“ (Auswärts-Protokoll).
Fußball wird auch hier als Männerdomäne sehr stereotyp beschrieben: Frauen passen als das falsche Geschlecht nicht zum Fußball. Sie werden beschuldigt, als Teil des heteronormativen Systems die Männer in ihrem Ultrasein zu stören, da ihre Anwesenheit eine sexuelle Beziehung des Geschlechterverhältnisses wieder auf den Plan ruft. Stereotyp gesehen sollten Frauen passiv bleiben und auf ihren Mann, der aktiv am Fußball teilnimmt, warten. Frauen werden laut Till aufgrund
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der männlichen Strukturen objektiviert und zu Sexobjekten. Frauen stünden einem Ultrasein aufgrund seiner männlichen Strukturen und der gesellschaftlichen Stereotype entgegen. Ihre Anwesenheit störe die männlichen Mitglieder in ihren Aufgaben als Ultra, somit stünden, so die Gefahr, die Till sieht, die Geschlechtszugehörigkeit und die -differenzen aller Anwesenden im Mittelpunkt und nicht mehr das eigentliche Ultrassein. Für die weiblichen Mitglieder ist es wichtig, eben genau dieser Annahme zu widersprechen. Deswegen muss von ihnen das Interesse am Fußball glaubhaft vermittelt werden. Dazu gehört das Unterstreichen der Unabhängigkeit und vor allem die Abgrenzung von Frauen, die nur da seien, weil ihr Freund mitfahre. Das, was also in diesem Zusammenhang als typisch weiblich gilt, nämlich nur durch männliche Sexualpartner dabei zu sein, muss von den Frauen strikt abgestritten werden. Ein zu typisches Verhalten wäre zumindest beim Fußball eine Gefahr für ihre Mitgliedschaft und ihren Verbleib. Kati macht das besonders deutlich: „Die sich wirklich komplett durch alle Leute vögeln. [...] Da gibts schon einige. Die haben dann aber auch nichts- die sind dann auch wieder weg, irgendwann“ (Kati). Die Gruppe konstruiert dadurch eine falsche Weiblichkeit. Diese dient auf der einen (Geschlechter-)Seite dazu, das heteronormative Gehege zu schützen, hilft auf der anderen Seite den Ultrafrauen dabei, eine eigene respektierte Weiblichkeit zu konstruieren, die sich von den „eigentlichen“ jungen Frauen, die sich in diesem Kontext aufhalten, unterscheidet. Sie bewerten somit eine vermeintlich typische Weiblichkeit als nicht geeignet für dieses Umfeld. Diese erfahre keine Anerkennung und keinen Respekt. Gleichermaßen bewegen die Frauen sich damit im gesellschaftlich gegebenen Rahmen der Heteronormativität, sie brechen nicht mit Rollenerwartungen an Weiblichkeit, sondern projizieren das stereotype Verhalten auf andere Frauen. Ultrakultur als eine Männlichkeitskultur ist für die weiblichen Mitglieder eine besondere Aufgabe. Homogene männliche Gruppen bestätigen sich mittels ernster Spiele (Meuser, 2006) ihre männliche Hegemonie. Die Anwesenheit von Frauen kann für ein solches von Männlichkeiten aufgeladenes System eine Störung darstellen. Die Ultragruppe ist dann gefragt, aktiv mit dieser Störung umzugehen. Dabei haben vor allem die weiblichen Mitglieder die zentrale Aufgabe, das System nicht ernsthaft in Gefahr zu bringen. Wenn nämlich Weiblichkeit eine Abgrenzungsaufgabe für Heteronormativität inne hat, wie Degele (2013) proklamiert, ist die Anwesenheit von Frauen in der Männerdomäne Ultra eine Gefahr für die männliche Ausgestaltung, das Selbstbild der Gruppe und ihre Präsentation nach außen.
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Für die Darstellung und somit die Sichtbarkeit von Ultragruppen muss vor allem das Männliche sichtbar bleiben. Nur so schafft es eine Gruppe, sich Respekt zu verschaffen und als angemessene Ultras im Rahmen der sichtbaren Ultrakultur wahrgenommen zu werden. Das akzeptieren auch die weiblichen Mitglieder einer solchen Gruppe. Sie akzeptieren, dass die eigentliche Geschlechterdarstellung hier männlich ist (vgl. Sülzle, 2011, S. 298 f.). Dem stellen sie sich nicht entgegen, sondern handeln damit im Einverständnis. Umso wichtiger ist es für sie, immer wieder zu betonen, dass sie eigentlich nicht typische Frauen seien. Das Interesse an Fußball und vor allem an Ultrakultur stellen sie dabei als Zutritts- und Verbleibsausweis in den Mittelpunkt. Dieser wird aber nur dann wirksam, wenn sie zugleich darauf hinweisen, dass eigentliche Frauen kein Interesse daran hätten. Eigentlichen Frauen verbliebe ein temporärer Aufenthalt, solange sie in einer sexuellen Beziehung zu einem der männlichen Mitglieder seien. Dadurch wird ein weiteres weibliches Stereotyp aktiviert: Weiblichkeit wird sexualisiert und gleichermaßen wird ihr durch die Objektivierung Kompetenz abgesprochen. Dadurch werden Frauen zwar kurzzeitig für die Männer sichtbar und interessant und stützen dadurch das heteronormative System der männlichen Herrschaft als schmeichelnder Spiegel (Bourdieu, 2005, 63 f.). Sie sind als solcher jedoch von den ernsten Spielen des Wettbewerbs ausgeschlossen und ihnen verbleibt die Rolle einer Trophäe oder einem männlichkeitsbestätigenden Publikum. Dadurch ist ihr Zugang zur Gruppe nur von kurzer Dauer: „Die haben dann aber auch nichts – die sind dann auch wieder weg, irgendwann“ (Kati Interview). Akzeptanz und vor allem Respekt sind nur dann möglich, wenn sich die Frauen auf das für die Gruppe Wesentliche konzentrieren: Interesse und Kenntnis beweisen und den Männern die Führung überlassen. Dann können sie allein durch ihre Anwesenheit für die Gruppe eine Bereicherung sein. Sie sind das Aushängeschild einer offenen modernen Gruppierung, stehen aber der Handlungsfähigkeit der Gruppe nicht im Weg. Sie sind Unterstützerinnen und sogar Befürworterinnen der männlichen Vorherrschaft in der Gruppe, denn sie ist eine grundlegende Eigenschaft der Sichtbarkeitsherstellung von Ultrakultur und deren Präsentation im Goffman’schen Sinne. Darüber hinaus haben die Frauen selber kein positives Bild von stereotyper Weiblichkeit. Sie wissen, dass sie in gewisser Hinsicht dazu gehört, sie ist wichtig, um den Raum als männlichen Raum und als heteronormativ zu bestätigen. Sie ist aber auf der anderen Seite gefährlich, weil sie Einfluss auf den Verbleib hat. Hier muss der Zutritts- und Verbleibsausweis von den weiblichen Ultras sichtbar getragen werden. Vor dem Hintergrund eines Doing Gender bleibt hier die Frage, wie und wann sich die Frauen als weiblich inszenieren und wie genau die geschlechtliche Darstellung in der zweigeschlechtlichen Aushandlung aussieht. Ein ganz zentra-
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ler Aspekt ist und bleibt die aktive Abgrenzung von vermeintlich typischer Weiblichkeit. „Neben uns geht eine Frau vorbei, die, trotz der mittlerweile stark abkühlenden Temperaturen, nur ein sehr kurzes Kleid trägt und ziemlich hohe Schuhe, sie schaut sich die für den Flohmarkt zum Verkauf an einem Kleiderständer hängenden Jacken an und Alice meint, aber ohne, dass diejenige es hören kann: ‚Ja, das braucht sie jetzt, was zum überziehen. Zieh dir was an, Mädchen. Und diese Schuhe. Das muss doch nicht sein. Das braucht doch niemand. Ich meine, ich mag auch ein bisschen Absatz, das macht ein schönes Bein, aber so... nee.‘ Der Mann, der vor ihr steht, meint dazu: ‚Ja, hohe Schuhe gehören doch dazu, machen eine Frau doch sexy.‘ Sie: ‚Ja, ich finde das ja auch okay, aber ich bin schon weit über eins siebzig, wenn ich dann noch hohe Schuhe anziehe, dann bin ich ja größer als die meisten Männer, und dann habt ihr wieder ein Problem damit.‘ Er: ‚Nicht jeder hat ein Problem damit.‘ Sie: ‚Ja, die machen ja auch ein schönes Bein, nicht wie bei flachen Schuhen, wo die Beine einfach so knubbelig aussehen. Fürs Stadion sind die ja aber sowieso nichts.‘ Er: ‚Wieso denn nicht, ich finde das geht auch. Hauptsache, man sieht gut aus und fühlt sich wohl.‘ ‚Ja nee, das käme für mich nicht in Frage, ich will ja auch mobil sein und das kann ich auf solchen Schuhen nicht.‘ Hinter uns aus dem Außenbereich des Restaurants tönt lautes hohes Gelächter. Alice: ‚Noch so ein Ding, warum mir Frauen manchmal peinlich sind. Dieses Gegacker.‘ Er: ‚Aber das gehört doch auch zu Frauen dazu, oder?‘ Sie: ‚Oh nee, das machen Männer doch auch nicht, die gackern nicht so. Das finde ich echt besser‘“ (Heim_Protokoll).
In diesem Ausschnitt steht die aktive Abgrenzung von Alice von der falschen Weiblichkeit im Vordergrund. Besonders bemerkenswert ist aber in der Folge die Aushandlung, in die sie sich mit dem ihr gegenüberstehenden Mann begibt. Hier findet eindeutig eine Dramatisierung von Geschlecht (vgl. Suthues, 2012, S. 105) statt, hier stehen nur die Geschlechtszugehörigkeit, die Geschlechterdifferenz und die Geschlechterdarstellung im Mittelpunkt der Wahrnehmung (vgl. ebd.). Alice setzt die Dramatisierung der Geschlechterdifferenz hier ganz bewusst ein, um ihrem Gegenüber ihre Geschlechtszugehörigkeit trotz Ultraidentität zu verdeutlichen. In ihrer Argumentation schlägt Mobilität, also richtiges Ultrasein, ein richtiges Weiblichsein. Sie gesteht es der Weiblichkeit grundsätzlich zu, in gewisser Weise stereotyp zu sein, nämlich dann, wenn es darum geht, von Männern als sexy, also angemessen weiblich anerkannt zu werden. Sie zeigt hier auf, wie sie ihre Weiblichkeitsidentität und ihre Ultraidentität ausbalanciert. Eine für die weiblichen Ultras wichtige Strategie in der Darstellung der Ultraidentität ist die Aushandlung mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit, denn beides ist wichtig für das heteronormative Gefüge, in dem sie sich bewegen. Diese Art der „Rol-
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lendistanz“, wie Goffman (vgl. Abels, 2006) es nennt, dient dazu, die dargestellte Identität zu festigen bzw. zu behaupten. Das Individuum ist in der Lage, verschiedene Rollen abzurufen und das Wissen um dessen Darstellung im Repertoire dabei zu haben. „Rollendistanz ist die unbewusste [...] symbolische Reaktion auf Erwartungen aus einem andere Relevanzsystem“ (Abels, 2006, S. 329). In manchen Situationen soll der Blick auf andere Facetten der Identität nämlich gar nicht vermieden werden, dadurch kann Alice zeigen, wer oder was sie noch ist, nämlich Frau und Ultra. Im zweiten Teil des Abschnitts geht sie sogar noch einen Schritt weiter und setzt das weibliche stereotype Verhalten des Gackerns ins Verhältnis zum Männlichsein. Dabei ist Männlichsein „echt besser“. Sie bestätigt hier Männlichkeit als das eigentlich Richtige.
6. Z USAMMENFASSUNG : W EIBLICHKEIT U LTRAKONTEXT
IM ( WEIBLICHEN )
Die weiblichen Ultras erkennen Männlichkeit als das richtige Prinzip im Fußball an, dadurch erkennen sie die Ultrakultur als Männerwelt an (vgl. Sülzle, 2011, S. 230 f.). An dieser Stelle geschieht ein spezifisches Heteronormativitätsmoment. Die Frauen können sich nämlich gleichzeitig nicht gänzlich den weiblichen Stereotypen entziehen. Sie sind es, die im relationalen Verhältnis von Gender das heteronormative System als solches überhaupt aufrechterhalten. Die Frauen beweisen in ihrem Ultraalltag, dass sie den Blick von Männern auf Frauen nachvollziehen können. Jedoch gibt es gleichermaßen Momente, in denen ihre eigene Ultraidentität in den Fokus rückt. Dadurch verlieren sie nicht ihre im heteronormativen Gefüge angemessene Weiblichkeit. Solche Momente dienen dazu, Weiblichkeit UND Ultrasein in Beziehung zueinander zu setzen. Ein wichtiger Aspekt für diese Momente ist die Konstruktion von falschen Weiblichkeiten. Die weiblichen Ultras erschaffen auf diese Weise eine hegemoniale Weiblichkeit, an deren Spitze sie stehen und degradieren andere Weiblichkeiten.9 Für Alice und Kati bedeutet dieser Moment, in dem die Ultraidentität in den Fokus rückt, aber nicht, dass die Ultrakultur ihnen einen Raum gibt, in dem sie sich zwischen den Geschlechtern frei bewegen können, wie Sülzle (2011; 2006)
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Hegemoniale Weiblichkeit ist kein System, dass der hegemonialen Männlichkeit entgegentritt. Im Gegenteil, sie existiert im selben System und stützt das heteronormative Gefüge. Solche marginalisierten Weiblichkeiten sind z. B. die „gackernde Tussie“, untergeordnete Weiblichkeiten sind z. B. die „Schlampen“.
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das in ihrer Untersuchung herausgearbeitet hat. Sie müssen vielleicht nicht immer begründen, warum sie gerade keine hohen Absätze tragen, aber beweisen dennoch in vielen Momenten trotz Ultraidentität weiblich zu sein, wenn sie es nämlich in Ordnung finden, von den Männern für die richtige Ausgestaltung der Ultrakultur an ihren Platz verwiesen zu werden. Auf diese Weise schaffen sie sich einen Raum, in dem ihre Ultraidentität, zumindest in manchen Momenten, wichtiger ist als ihre Geschlechtsidentität, also ein Undoing Gender stattfindet. Sie haben schließlich sichergestellt, dass sie nicht geschlechtsneutral (vgl. Gerschel, 2009) sind, sondern ins System gehören. Die Heteronormativität ist für die Ausgestaltungen und Darstellung von Ultrakultur bestimmend. Diesem System passen sich die Frauen an. Ausblickend wird im Weiteren zu fragen sein, wie genau diese Ausgestaltung von ihrem Undoing Gender und/oder ihrer Ultraidentität tatsächlich in der Darstellung und Präsentation aussieht. Lässt sich ein Undoing Gender in der Ultrakultur konkret beobachten, ließe sich dann von einem Doing Ultra sprechen? Und was genau bedeutet das für die Frauen, die eine männliche Hegemonie bestätigen und sich für die angemessene Präsentation der Gruppe zurücknehmen („dass man dann auch in die 15. Reihe geschubst wird“ [Alice Interview]). Gibt es vielleicht sogar ein Doing female Ultra? Es lässt sich also festhalten, dass das Doing Gender ein ganz alltäglicher Aushandlungsprozess für weibliche Ultras darstellt. Ihre Anwesenheit und ihr Doing Gender darf das Heteronormativitätsgefüge nicht stören. Sie tragen ihren Zutritts- und Verbleibsausweis immer bei sich, um im Notfall ihre Darstellung als Ultra beweisen zu können. Gleichermaßen ist es aber bedeutsam für sie, nicht abzustreiten, dass weibliches Körperhandeln sich im eigentlichen Sinne um einen schönen Körper dreht. Ihnen ist klar, dass der männliche Körper als praktischer Körper viel besser für die Ultrakultur funktioniert. Das akzeptieren sie und nehmen es an. Denn der Lohn dafür wartet schon auf sie: Anerkennung! Sie haben es in eine Männerdomäne geschafft. Diese haben per se schon gesellschaftlich gesehen ein hohes Ansehen, weil sie Werte wie Stärke und Durchsetzungsfähigkeit verkörpern. Für sie als Teil dieser Domäne ist die Anerkennung von Männern in doppelter Hinsicht wichtig: Da Männlichkeit erstens als rahmengebend für Fußball- und Ultrakultur gesehen werden kann und sie Männlichkeit als „echt besser“ (Alice) begreifen, bekommen sie die Anerkennung von den entscheidenden Ultras, diese sind nicht nur die Hauptdarsteller, sondern auch die stärksten Rezipienten und das strengste Publikum von Ultrakultur. Zweitens bedeutet die Anerkennung von Männern in einem heteronormativen (und hegemonialen) System, dass sie auch als Frau bzw. als weiblich angemessen wahrge-
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nommen werden. Sie gefährden mit ihrer Darstellung als Ultra nicht den heteronormativen Rahmen und stehen den Männern in ihrer Darstellung nicht im Weg.
L ITERATUR Abels, H. (2006). Identität. Wiesbaden: VS-Verlag. Bourdieu, P. (2005). Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob (Studien zur Schul-und Bildungsforschung, Band 24). Wiesbaden: VS-Verl. Connell, R. W., & Connell, R. (2005). Masculinities. Cambridge: Univ of California Pr. Degele, N. (2013). Fußball verbindet - durch Ausgrenzung. Wiesbaden: Springer VS-Verlag. Eckes, T. (2010). Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen. In R. Becker (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung (S. 165-177). Wiesbaden: VS-Verlag. Faulstich-Wieland, H., Weber, M., & Willems, K. (2004). Doing Gender im heutigen Schulalltag: Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim [u.a.]: Juventa. Gabler, J. (2011). Die Ultras: Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland. Köln: PapyRossa-Verlag. Gerschel, S. (2009). Frauen im Abseits? Eine Untersuchung zu weiblichen Ultras in der Fußballfanszene. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Zugriff am 10.03.2015 unter http://www.kos-fanprojekte.de/fileadmin/user_upload/material/fussball-geschlecht/wissenschaftliche-arbeiten/fanarbeit-sophia-gerschel.pdf. Goffman, E. (1973). Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper. Hirschauer, S. (1994). Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46, 668-692. Hirschauer, S. (2002). Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In B. Heintz (Hrsg.), Geschlechtersoziologie (S. 208-235). Opladen: Westdeutscher Verlag. Hirschauer, S. (2004). Zwischen ungeschlechtlichen Personen und geschlechtlichen Unpersonen. Geschlechterdifferenz als soziale Praxis. In H. RichterAppelt & A. Hill (Hrsg.), Geschlecht zwischen Spiel und Zwang (S. 11-39). Gießen: Psychosozial-Verlag.
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Italien als Wiege der Ultra-Kultur – ein Gespräch mit Kai Tippmann G ESPRÄCH GEFÜHRT VON G ABRIEL D UTTLER
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GD/BH: Was bedeutet für Sie Italien und woher kommt Ihre Affinität zu Italien? KT: Etwa zeitgleich mit dem Konkurs meines eigentlichen Heimatvereins lernte ich über TV-Übertragungen des Pokals der Landesmeister den AC Milan kennen. Arrigos Sacchis Interpretation vom „Voetbal Total“ mit den Interpreten um die Holländer Rijkaard, Gulit und Van Basten bedeutete für mich damals eine Revolution meiner Ansprüche an Fußball. Viele Italienreisen und Stadionbesuche später bin ich dann vor etwa 15 Jahren in die Nähe von Mailand gezogen. GD/BH: Wie hat sich Ultra in Italien historisch entwickelt (Politisierung der italienischen Kurven als historisch gewachsen? Unterschied zu Deutschland?)? Wie steht es aktuell um die Ultra-Kultur in Italien und wie geht es Ihrer Meinung nach weiter? KT: Wenn man die Geburt dessen, was wir heute unter dem Begriff „Ultra“ verstehen, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts verortet, kommt man nicht um die Beobachtung herum, dass diese Zeit auch südlich der Alpen eine hoch politisierte Epoche war, in der Auseinandersetzungen der verschiedenen Lager – oft auch gewalttätig – auf Straßen und Plätzen, in besetzten Häusern und bei politischen Manifestationen ausgetragen wurden. Stadien stellten zudem auch einen der wenigen Freiräume für spontane jugendliche Aggregation in diesem erzkatholischen und durchaus konservativen Land dar. Diese Gemengelage erklärt nicht nur die massenhafte Anziehungskraft dieser neuen „Bewegung“, sondern auch die verwendeten Stilmittel: Transparente, Trommeln, Megafone, Doppelhalter, Fahnen, Pyrotechnik und auch viele der ersten Gesänge und Sprechchöre (umgetextet) waren vorher bei Demonstrationen und Kundgebungen zu hören und zu sehen. Insofern war „Ultra“ in Italien direkt – über die
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Selbstermächtigung und Verteidigung eigener Freiräume – wie indirekt – viele der Ultras der ersten Stunde kannten sich bereits aus politischen Zusammenhängen – von Beginn an eine auch politische Veranstaltung. Wobei hier der Schluss nicht zulässig ist, dass sich junge Leute deshalb im Stadion getroffen haben, um politisch zu agitieren oder den Kampf um die eine oder andere bessere Welt auf die Ränge zu tragen. Damals wie heute war Triebfeder und Anziehungskraft, sich am Wochenende in die Stadien zu begeben, Freundschaft, relative Freiheit, Liebe zum eigenen Verein und zur eigenen Stadt und der Wunsch, den Lieblingssport nicht nur passiv zu konsumieren. Die wechselnden politischen Stimmungslagen im Land haben sich natürlich immer auch in den Kurven abgebildet, aber die Zahl der eindeutig politisch positionierten Kurven, die ihr Credo auch deutlich ausdrückten, war von Anfang an gering. Den Fanlagern von beispielsweise Livorno, Hellas, Lazio oder Ternana stand und steht eine Mehrheit von Kurven gegenüber, die als bewusste Entscheidung den Fußball und den Support des eigenen Teams in den Mittelpunkt stellen und/oder durch eine apolitische Ausrichtung Spannungen innerhalb der eigenen Kurve vermeiden wollen. Verglichen mit den Hochzeiten von Ultra in den 80er und 90er Jahren sehen wir im Moment natürlich viel weniger Menschen in italienischen Stadien, die Kurven machen da keine Ausnahme. Ohne die vielen Beispiele klein zu reden, wo sich äußerst engagierte Einzelpersonen und Gruppen durchaus mit Erfolg bemühen, die Tradition am Leben zu erhalten, bleibt festzuhalten, dass es heute eben nicht mehr so ist, dass man irgendein zufälliges Spiel besuchen kann, um das typische Flair überfüllter Blöcke mit lautstarkem Support, Unmengen an Fahnen und Pyrotechnik zu erleben. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Die Wirtschaftskrise sorgt bei hoher Jugendarbeitslosigkeit und hohen Ticketpreisen neben dem erwartbaren qualitativen Schwund der Liga für niedrigere Zuschauerzahlen in den alten, teils eher baufälligen Stadien. Eine Reihe von Korruptions-, Manipulations-, Wett- und Dopingskandalen hat die sprichwörtliche Leidenschaft der Italiener für ihren Sport durchaus erkalten lassen. Generationswechsel, Bürokratie, Repression und billige Pay-TV-Angebote sorgen dann in der Summe für die aktuellen Zuschauerzahlen. Zur Zukunft von Ultra in Italien mag ich mich im Moment noch gar nicht äußern. Die wird sehr davon abhängen, inwieweit es den Verantwortlichen gelingt, die vielen Baustellen des italienischen Fußballbetriebs abzuarbeiten. Wenn es dann notgedrungen überall neue, vereinseigene Stadien gibt, wird sich zeigen, ob eine bunte und spontane Fankultur noch vorgesehen ist.
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GD/BH: Wie wird in Italien politisch/staatlich auf die Ultras Einfluss genommen (Tessera, etc.)? Wie wirkt sich das auf die Fankultur aus? KT: Man muss da gar nicht viel interpretieren, Innenminister Maroni sagte zur Einführung des Maßnahmenpakets ganz wörtlich, dass es ihm darum ginge, „die Ultra-Logik zu brechen“. Gemeint war, über das Verbot von Megaphonen und Trommeln, einer Anmeldepflicht für Banner und Zaunfahnen, die Verbürokratisierung des Kartenkaufs oder die Schaffung von Datenbanken für alle Stadionbesucher Kurven unattraktiver zu machen und ihnen so den Nachwuchs abzugraben. Und natürlich sind viele italienische Kurven heute für die Generation der 10-15-jährigen beim ersten Stadionbesuch auch nicht mehr so spannend wie sie das einmal waren. Maroni ist mittlerweile Geschichte, aber die Maßnahmen wurden über die Jahre nur weiter verschärft. Erst für die Saison 2015/16 wurde mit einer Ausweitung der Maximaldauer eines Stadionverbots auf 8 Jahre oder GruppenStadionverboten der Spielraum der Behörden weiter erweitert. Kritisch sehe ich dabei den Aspekt, dass ein Großteil der beschlossenen Maßnahmen sich auf diese Form der Fankultur bzw. ganze Stadien bezieht, anstatt konkrete Straftaten nach den bereits vorhandenen Maßgaben des Strafrechts zu verfolgen. Wie in anderen Lebensbereichen auch rücken solcherart kollektiv der Repression unterworfene Menschengruppen enger zusammen und entwickeln Solidarität für Menschen und Handlungen aus ihrem eigenen Lager, mit denen sie normalerweise eigentlich nichts gemein haben. Diese Wagenburgmentalität verhindert also oft die viel beschworenen „Selbstreinigungsprozesse“. Hinzu kommt, dass die gemäßigt orientierten Fans oft genug dem Stadion ganz fernbleiben, weil die den scheinbar zur Gewaltprävention erhobenen Maßnahmen natürlich alle Stadionbesucher betreffen. GD/BH: Welchen Stellenwert hat die Ausübung von Gewalt für die italienische Ultra-Kultur? Welche Entwicklungen diesbezüglich beobachten Sie? KT: Körperliche Auseinandersetzungen waren schon immer ein Bestandteil von Teilen der Fußball-Fankultur und gehörten so von Beginn an auch zu den Grundprinzipien von Ultra. Selbstverständlich waren Fußballkurven im Italien der „bleiernen Jahre“, in denen politische Auseinandersetzungen im Land zu teils dutzenden Toten im Jahr führten, keine pazifistischen Inseln innerhalb einer gewalttätigen Gesellschaft. Waren es in den 80ern noch vom Medienrummel weitgehend unbeachtete Schlägereien unter Fußballfans, sorgte die Militarisierung der Stadien für die Weltmeisterschaft 1990 und besonders das Aufkommen der Bezahlsender 1995 für eine zunehmend zentrale Rolle der Konflikte mit der Staatsmacht. Selbstverständlich wurden Uniformträger in einer Jugendbewe-
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gung, die aus den „68ern“ hervor ging und in den 70ern und 80ern geschmiedet wurde, nie als Freund und Helfer wahrgenommen. Neu war, dass konsequentes Eskortieren von Auswärtsfans nun den direkten Kontakt weitgehend verhinderte, so dass Konflikte mit der Staatsmacht selbst immer mehr in den Vordergrund traten. Abgesprochene Drittortauseinandersetzungen waren in Italien nie mehrheitsfähig, mehr oder weniger zufällige Begegnungen auf Bahnhöfen oder Autobahnraststätten werden von entsprechend orientierten Teilen der Ultràs aber punktuell noch heute zur körperlichen Auseinandersetzung genutzt. Gemeinsam mit Generationswechsel, generellem Zuschauerschwund und Restriktionen beim Auswärtsspielbesuch nahmen gewalttätige Konflikte im Laufe der Jahre immer weiter ab. Was zunahm, war die Zahl der medialen Kommunikationskanäle und deren Buhlen um Aufmerksamkeit. Ähnlich wie im Rest Westeuropas wird die Anzahl von körperlichen Auseinandersetzungen und deren Schwere statistisch zwar geringer, dafür werden diese Episoden viel vehementer in die öffentliche Aufmerksamkeit getragen, qualitativ wie quantitativ. Das führt auch in Italien zur selben Inkongruenz, wie in Deutschland auch: Stadionbesucher fühlen sich sicher, als gefährliche Orte werden diese mehrheitlich von Menschen gesehen, die sich Fußballspiele im TV oder gar nicht ansehen. GD/BH: Wie groß schätzen Sie den Einfluss der italienischen Ultras auf ihre Vereine ein (Freikarten für Ultra-Gruppen, Merchandise-Artikel der Gruppen als Geschäft, Trikot-Rückgabe in Genua, etc.)? KT: Vorangestellt sei, dass es mangels eines Modells von Mitgliederbeteiligung für Fußballfans in der Mehrheit überhaupt keine strukturell-organisatorische Möglichkeit gibt, direkt auf die Geschicke ihres Vereins Einfluss zu nehmen oder sich zumindest Gehör zu verschaffen. Vor diesem Hintergrund verstärkt die typische Eigentümerstruktur eines italienischen Fußballklubs die Tendenz der aktiven Fans, die eigene Meinung auf andere Arten in den Diskurs einzubringen. Gleiches gilt für den Präsidenten eines Fußballclubs, der womöglich mit Freikarten versucht, einen drohenden Protest der Heimkurve zu befrieden. Spätestens mit der Einführung der namensgebundenen „Tessera del Tifoso“ für Dauerkarten ist die Hochzeit dieser Art von Geschäften sicherlich vorbei. Ansonsten muss man differenzieren. Während das Geschäftsmodell der „Irriducibili“ von Lazio, denen in der Vergangenheit zeitweise die Rechte am Logo gehörten, sicherlich äußerst kritisch zu bewerten war (und auch von der UltràWelt als „Irriducibili GmbH“ verspottet wurde), gehört der Verkauf von selbst gefertigten Fanartikeln oder einem Kurvenheftchen seit jeher zum Grundpfeiler der Gruppenkasse, aus der Choreografien, Anwaltskosten oder Auswärtsfahrten finanziert werden. Reich wird mit dieser Art von Merchandising sicherlich nie-
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mand. Dies gilt eher für Menschen, die mit ihren Kontakten und ihrer Stellung beispielsweise in die Türsteherszene oder private Sicherheitsfirmen expandieren, was dann aber auch keinen „Einfluss auf den Verein“ verspricht. Dass Spieler nach einer Serie von schlechten Ergebnissen, sei es bei Genoa, Parma oder Roma, auch mal unter die Kurve gebeten werden, um sich den Frust der weitgereisten Fans anzuhören, ist sicher auch keine italienische Besonderheit. Ich würde bei so etwas auch nicht von „Einfluss“ sprechen: Die aktiven Fans sehen sich auch in Italien als Bewahrer einer Tradition und fordern für ihren 90minütigen Einsatz gern dasselbe auch von ihren Spielern ein. Vereinzelt kommt es dazu, dass denen erklärt wird, sie wären nicht würdig, das Trikot zu tragen. Abgesehen vom symbolischen Gehalt solcher Szenen, sehe ich die praktische Relevanz eher gering. Auch bei Genoa entscheidet der Trainer über die Aufstellung und die Shirts kommen vom Ausrüster. GD/BH: Inwieweit wird das Ultra-Manifest (AS Roma) in den Szene noch als verbindlich betrachtet? Wie ist dieser Kodex genau entstanden? KT: Verbindlich sind solche Kommuniqués oder Manifeste maximal für die Gruppe, die sie herausgibt. Es gab in der Geschichte eine ganze Reihe solcher Versuche, sich landesweit einen Kodex zu geben. Letztlich waren alle diese Versuche sowohl kurzlebig wie auch Minderheitenprogramme, das heißt die Mehrzahl der Gruppen und Fanlager hat sie ignoriert und auch die den Konsens tragenden Fans haben diese Art Übereinkunft nie lange als verbindlich betrachtet. Überhand hatte in Italien immer der wichtigere Grundkonsens der Notwendigkeit der Auseinandersetzung. Während man beispielsweise in Deutschland relativ früh verstanden hat, dass man bei allen Differenzen eben auch eine gemeinsame „Bewegung“ ist und sich dementsprechend vernetzt hat, stand in Italien immer die Logik der Auseinandersetzung im Vordergrund. Wenn beispielsweise Inter im Spiel, das auf den Versuch der Ächtung von Messern ein Spruchband entrollt, auf dem „Wenn ihr einen fairen Kampf wollt, dann geht in die Boxhalle“ steht, wird das gut illustriert. Daraus folgt auch, dass es nie eine strukturelle, gar institutionalisierte, Form des Dialogs oder der Vernetzung wenigstens weiter Teile der Fanszenen gab. Sicherlich gibt es informelle Kontakte der Szenen untereinander, auch gemeinsame Treffen wenigstens einiger Gruppen, die aber nie soweit gediehen waren, dass es überhaupt eine Instanz gab, die eine Art Regelwerk verbindlich herausgeben könnte. Gruppenintern funktioniert diese Art Selbstregulierung deutlich besser. GD/BH: Kommen wir nun zum übergreifenden Thema unseres Sammelbandes, der Beeinflussung der Ultra-Kultur durch andere Subkulturen und Bewegungen:
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Wie rezipieren Ultras in Italien denn beispielsweise Elemente der GraffitiSzene? KT: Auch italienische Ultras erstellen Graffitis und Tags, Treffpunkte, Stadtteile werden so auch gern als Territorium markiert. Ich gehe davon aus, dass es auch personelle Überschneidungen der beiden Szenen gibt, habe allerdings keine Hinweise darauf, dass diese besonders häufig über die Personengleichheit hinausgehen. Am ehesten ist dies zu erwarten in Städten, die eine eher linksgerichtete Fanszene haben, so dass diese verstärkt Ausdrucksmittel- und Inhalte verwendet, die auch in anderen Lebensbereichen junger Menschen eine Rolle spielen. In apolitisch bis rechtsgerichteten Kurven ist dies sicher seltener, weil sich eine rechtsgerichtete Graffiti-Szene - trotz entsprechender Bemühungen z. B. seitens „Casa Pound“ - nie so richtig entwickeln wollte. Kurzum, vielerorts finden sich um den Gruppensitz und das Stadion gruppen-, szene- und vereinsbezogene Graffitis, das Bild wird aber dominiert von Sprüchen und Slogans, bei denen der künstlerische Aspekt in den Hintergrund rückt. GD/BH: Wie ist die Beziehung von Ultras und unterschiedlichen Musik-Szenen (insbesondere Hip Hop)? KT: Es gibt dutzende von Bands unterschiedlicher Stilrichtungen, die aus der Ultraszene entstammen, zu dieser affin sind oder deren Geschmack bedienen. Der Hip Hop mit seiner Darstellung von Uniformträgern oder dem suggerierten Lifestyle oder Rechtsrockbands bieten hier genügend auch inhaltliche Anknüpfungspunkte und werden auch rezipiert. Dies gilt neben dem passiven Konsum solcher Musik insbesondere auch für von Gruppen selbst organisierte Konzerte. Insbesondere in und um Neapel mit seiner lebendigen Hip Hop-Szene und seiner ausgeprägten Stadtteilkultur als verbindendes Element gibt es hier immer wieder wechselseitige Beziehungen und verschiedene Künstler nehmen Aspekte der Ultrakultur in Text, Musik und Video auf, beziehungsweise richten sich direkt an die Ultraszene. Auch hier würde ich aber davon ausgehen, dass Geschmack und Stil aus stadionfernen Lebensbereichen sich beim Fußball gegebenenfalls abbilden bzw. es hier gewisse Schnittmengen gibt. Neben Ska aus der Skinheadszene spielen Rechtsrockbands in mehrheitlich entsprechend orientierten Kurven durchaus eine Rolle. Diese greifen Bezüge zur Ultrakultur und deren Ablehnung der Ordnungskräfte oder Stadionchöre gern auf und werden dann auch positiv rezipiert. Allerdings deutet ein „Kurvenhit“ wie das allfällige „Frana la curva“ der linken Band „Erode“, der praktisch von allen Szenen hochgehalten und auch von rechten Bands gern gecovert wird auch wieder darauf hin, dass eher ultratypische Thematiken im Vordergrund stehen.
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Festzuhalten bleibt, dass es in Italien eine ganze Reihe von Interpreten und Bands gibt, die ganz deutliche Schnittmengen zur Ultrabewegung entwickelt haben. Sei es, weil sie dieser entstammen, sei es, dass sie sich dieser andienen. GD/BH: Welche Einflüsse auf und Bezüge zu andere(n) Jugend- und Subkulturen existieren sonst? KT: Prinzipiell gehe ich davon aus, dass sich in Kurven die Lebenswirklichkeiten von Städten oder Regionen in ihrem historischen Verlauf abbilden. Insofern hatte die außerparlamentarische Opposition ihren Platz in den Ultrakurven der 70er Jahre ebenso wie Jugendkulturen, die in einer Stadt eine Bedeutung haben oder hatten. Das gilt für die Veroneser Skinheadszene ebenso wie für Turiner Mods oder Mailänder „Paninari“. Wenn eine Stadt eine starke Jugendkultur hat, finden sich deren Insignien auch in einer Kurve oder Gruppe. Vereinzelt kam es dabei zeitweise zu dem Phänomen, dass sich Gruppen auch unter eindeutigem Bezug auf solche Subkulturen bildeten; die Mailänder „Skins“ von Inter seien hier nur als Beispiel genannt. Grundsätzlich kann man aber, glaube ich, festhalten, dass sich in wohl keiner italienischen Kurve eine Uniformität oder Monokultur entwickelt hat. Es gab sicherlich Gruppen, die geschlossen beispielsweise in Bomberjacken oder den so genannten „Eskimos“ auftraten, eine komplett Northface-ausgestattete Kurve wäre mir aber unbekannt. Insofern wüsste ich nicht einmal einen ultratypischen Bekleidungsstil zu umreißen, der nicht kurven- oder gruppenspezifisch wäre. Neben ganz deutlichen Einflüssen aus der britischen Casual-Mode kleiden sich italienische Ultras äußerst verschieden ein, die wenigen Schnittmengen wie Kapuzenpullis, Sportschuhe oder Schals haben sich aus praktischen Erwägungen (Vermummung, Atemschutz) durchgesetzt. Die gruppeneigenen Shirts oder Jacken werden aber gern mit Dolce & Gabbana oder Ray Ban komplettiert. Daneben finden sich szenetypische Modelabels, die der Ultrakultur entstammen aber eben auch nur deren Grundkonsens abbilden: Polos, T-Shirts, Hoodies, Caps und Schals. GD/BH: Wie schätzen Sie die Hintergründe der Einflüsse von Szenen aufeinander ein? Entstehen diese gegenseitigen Beeinflussungen mit anderen Szenen eher zufällig und als Einzelfälle? Ergeben sie sich vielleicht zwangsläufig über geteilte Lebenswelten und gemeinsame gesellschaftliche Räume? Werden sie evtl. sogar gezielt von Ultras angestrebt, um die eigene Kultur zu erweitern und auszugestalten? KT: Einiges lässt sich schon aus den vorherigen Antworten entnehmen. Gezielt angestrebt kann man, denke ich, ausschließen, von solchen Bestrebungen wüsste
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ich nichts. Auch wenn dieser Aspekt im Laufe der Jahre und im Zuge der Entwicklung zu einer eigenständigen Subkultur teilweise verloren ging, darf man den Aspekt der Freundschaft nicht außer Acht lassen: italienische Ultragruppen sind häufig aus jahrelanger Freundschaft entstandene und konsolidierte Realitäten. Selbstverständlich können Exponenten einer vorhandenen Subkultur sich über eine gemeinsame Begeisterung für den Fußball dazu entschließen, auch im Stadion aufzutreten. Dies geschah in der linken metropolitanen Hausbesetzerszene genauso wie bei den „Skins“ von Inter Mailand oder bei „Blood & Honour Varese“. Besonders in vielen kleineren Realitäten ist aber der Aspekt nicht zu vernachlässigen, dass hier oft genug „Ultra“ die einzige zahlenmäßig nennenswerte Subkultur ist und die Stadionkurve der einzige öffentliche Raum für relativ freie jugendliche Aggregation - oft genug wohnt ja die U-30-Generation noch bei ihren Eltern. Insofern neige ich der Theorie der „gemeinsamen Lebensräume“ zu: In einer Stadt vorhandene Jugendkulturen werden in den Kurven abgebildet, führen aber aufgrund der ikonischen Stärke dieser historisch mitgliederstärksten und lang andauerndsten aller Subkulturen aber höchstens zur umgekehrten Befruchtung und Ultraschlachtrufe ertönen bei entsprechenden Konzerten, nicht Liedzeilen in der Kurve. GD/BH: Wie nehmen italienische Ultras die deutschen Szenen wahr? KT: Bis vor wenigen Jahren hätte ich „gar nicht“ geantwortet. Der wachsende Erfolg deutscher Mannschaften in Europacupspielen, der visuelle Eindruck deutscher Kurven aber auch die teils lange bestehenden Fanfreundschaften sorgen hier aber punktuell für verstärkte Neugier. Besonders ältere Ultras, die noch eigene Erfahrungen in den 80er Jahren gemacht haben, fühlen sich in einem deutschen Stadion gern daran erinnert. Auch ist die Dortmunder „Gelbe Wand“ sicher den meisten italienischen Fußballfans ein Begriff. Generell ist es aber so, dass man deutlich weniger auf das Ausland schaut, als beispielsweise deutsche oder österreichische Szenen. Bedeutsam für italienische Gruppen ist der Lokalrivale oder Derbygegner, bis auf wenige Ausnahmen werden inneritalienische Konflikte und Begeisterungen gelebt. Während viele europäische Ultras Italien, dessen Gesänge und Stilmittel ganz genau verfolgen und als Inspiration nutzen, passiert das in umgekehrter Richtung weit seltener. Man versteht „Ultra“ als ureigene Erfindung, als proprietären Lebensstil, nicht als Mode. Insofern entlehnte beispielsweise Hellas Verona Balkenschals oder Gesänge von ihren britischen Freunden der „Chelsea Headhunters“ oder alle italienischen Gruppen die südamerikanischen Bengaloaktionen; sicher wird auch ab und zu einmal ein europä-
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ischer oder südamerikanischer „Hit“ aufgenommen, umgetextet und gesungen. Aber generell schaut man weniger ins Ausland als auf italienische Szenen. GD/BH: Wie nehmen Sie den Einfluss italienischer Ultras heutzutage auf andere Länder wahr? Ist Italien immer noch das gelobte Land? KT: Italien ist weiterhin das „Mutterland der Bewegung“ und steht sicherlich im Fokus des Interesses bei der Mehrzahl derjenigen, die sich mit dieser Subkultur identifizieren. Gruppenfreundschaften- und Auflösungen, Prozesse, Gesetzesänderungen oder andere Details werden von den Opinion Leaders aufmerksam verfolgt und verbreitet. Allein die Tatsache, dass es Ultra in Italien seit fast fünf Jahrzehnten gibt und sich in den Kurven teils auch über 60jährige in verantwortlicher Position finden, sorgt in den deutlich jüngeren deutschsprachigen Gruppen immer für eine ganz eigene Ehrfurcht. Anekdoten, Stilmittel oder spektakuläre Ereignisse werden breit und fundiert diskutiert. Allerdings sorgen überbordende Repression und der auch aus anderen Gründen entstehende numerische Niedergang der Ultrakultur in Italien dafür, dass Italien sicher nicht mehr als das „gelobte Land“ wahrgenommen wird. Viel häufiger gilt es als abschreckendes Beispiel, als praktische Umsetzung der Ideen auch deutscher Innenminister und Polizeigewerkschaftler und mithin als das, was auch in heimischen Stadien ganz konkret drohen könnte bzw. teilweise ja auch schon umgesetzt wird. Umso größer ist natürlich die Verehrung italienischer Gruppen, die gerade trotz der widrigen Umstände ihre Idee von Support weiter auszuleben versuchen. Die historisch gewachsene Strahlkraft der italienischen Ultras lebt jedenfalls weiter. GD/BH: „Quo vadis“ italienische Fankultur? Wird Italien für deutsche Hopper wieder interessanter? KT: Italien ist für deutsche Hopper immer interessant geblieben und nach dem absoluten Totpunkt rund um das Jahr 2010 ist insbesondere im Süden teils wieder mehr Fankultur zu beobachten. Wir sind natürlich weit davon entfernt, die Zehntausende starken Auswärtsfahrten, überfüllte Kurven, spontane Spruchbänder oder gar Pyroaktionen wieder zu sehen, aber es war schon grauer und stiller. Es ist aber in jedem Fall zu früh, die Quo-vadis-Frage zu beantworten, das wird davon abhängen, wohin sich der italienische Fußballbetrieb insgesamt entwickelt. In einem von kompetenten Menschen regierten Fußball mit transparenten Strukturen und Entscheidungswegen, in dem auch die diese Saison zwangsweise Einführung der Figur des Fanbetreuers eine echte Daseinsberechtigung erhält, wird auch Platz sein für eine lebendige und kritische Fankultur. Die weitgehende Dialogunfähigkeit beider Seiten, die Überhöhung des „englischen Modells“ sei-
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tens der Verantwortlichen der Liga und rein repressive Polizeitaktiken geben mir im Moment wenig Anlass, diese Hoffnung mit Fakten zu unterfüttern. GD/BH: Vielen Dank!
Ultras und Hip Hop
„Auswärtsfahrt“ Der rappende Ultra – Fallrekonstruktion einer subkulturellen Ausdrucksgestalt L UDGER K ROL
1. E INLEITUNG : S ZENEHOPPING /S ZENECROSSING Bei dem ‚normalen‘ Subkultur-Aktiven ist Szene-Hopping häufig zu beobachten, schreibt Hitzler (2008) in seinem Beitrag „Brutstätten posttraditionaler Vergemeinschaftung“. Während ihrer Adoleszenz probieren sich viele Jugendliche in den verschiedenen Szenen aus (hopping), bzw. kommt es zu einem individuellen Zusammenbasteln der unterschiedlichen Szene-Angebote. „In eine Szene hinein zu schnuppern und sich dann nach einer Weile in der nächsten umzusehen, oder sich aus verschiedenen Szenen ‚herauszupicken‘, was einem zusagt, ist keineswegs nur im Hinblick auf die verschiedenen Musikszenen durchaus üblich“ (Hitzler, 2008, S. 67). Mit Blick auf die Ultra-Szene verweist auch Dembowski (2012) auf die individuelle Durchmischung unterschiedlicher Jugendkultursegmente und konstatiert dabei eine Art „Crossover“ aus Jugendsubkulturen, welches, bezogen auf die Ultragruppierungen, diese in ihrer Repräsentationsmöglichkeit in Form und Inhalt wandlungsfähiger mache. Zu Jugendszenen bzw. -subkulturen zählen sowohl Dembowski als auch Hitzler neben den extremen Fußballfans, also den Ultras, die HipHop-Kultur. Zwischen diesen beiden Subkulturen hat sich in den vergangenen Jahren mit dem fußballbegeisterten Rapper, bzw. dem rappenden Ultra, eine szeneübergreifende Gestaltungsform entwickelt, die eine neue Facette der Ultra-Subkultur darstellt und in diesem Beitrag aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eingehender betrachtet werden soll.
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Dazu wird im nächsten Abschnitt zunächst auf die Entstehungsgeschichte des HipHop eingegangen, um daran anschließend diese mit der Subkultur der Ultras in Beziehung zu setzen. 1.1 Über die Anfänge der HipHop-Kultur Der Rap ist eine der vier Komponenten, über die sich die HipHop-Kultur definiert. Um also den subkulturellen Ursprung und die Entwicklungsgeschichte der Rapmusik nachzuzeichnen, ist es sinnvoll zunächst auf den Entstehungskontext der HipHop-Kultur selbst einzugehen.1 Dieser lässt sich einbetten in das New York der 1970er Jahre. Eine Zeit, in der HipHop eine Antwort bildet auf die Kumulation von Exklusionsmomenten, mit denen sich die afroamerikanische Bevölkerung täglich konfrontiert sieht. Betrachtet man die historischen und soziostrukturellen Rahmenbedingungen der Afroamerikaner in den vorangehenden 50er und 60er Jahren, ist es kein Zufall, dass die Geburtswiege des HipHop in dem heruntergekommenen Stadtteil SouthBronx liegt. Das Bevölkerungsbild der Bronx befand sich Mitte des 20. Jahrhunderts, geschuldet einer Deindustrialisierung und städtebaulicher Maßnahmen, in einem sozialen wie ökonomischen Wandel. Der Abbau der Industrie und der damit verbundene Rückgang an Arbeitsplätzen in den Fabriken, traf die afro- und lateinamerikanische Bevölkerung besonders schwer. Nur einem geringen Teil der schwarzen Bevölkerung gelang in dieser Zeit der wirtschaftliche Anschluss an die überwiegend weiße Mittelschicht. Neben den finanziellen Einbußen erlebte die Mehrheit der Afroamerikaner, so Scharenberg (2001) auch eine räumliche und gesellschaftliche Ausgrenzung. So wurde die innerstädtische Segregation durch den Wegzug der weißen Mittelschicht und der damit einsetzenden Suburbanisierung und dem Verbleib der überwiegend latein- und afroamerikanischen Bevölkerung in innerstädtischen Vierteln zusätzlich verstärkt. Rose (1994) vermerkt bezüglich der damaligen Entwicklung, dass die Kluft zwischen der armen und reichen Bevölkerungsschicht, die es seit jeher in New York gab, in den 60er und 70er Jahren eine neue Dimension angenommen hat. Bis auf eine verhältnismäßig schwach vertretene afroamerikanische Mittelschicht vollzog sich die sozialökonomische Trennung in den USA hauptsächlich
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Zur Geschichte der HipHop-Kultur: Klein/Friedrich: „Is this real? – Die Kultur des HipHop“, 2003,insbesondere: S. 14-22; Tricia Rose: „Black Noise – Rap Music and Black Culture in Contemporary America“, 1994.
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zwischen „schwarz“ und „weiß“. Die gesellschaftliche Lage spaltete sich demnach zwischen einer weißen Wohlstandsgesellschaft, die die finanziellen und geschäftlichen Geschicke des städtischen Gemeinschaftsleben lenkte – mit ungleich verteilter Konzentration auf das eigene, suburbane Dasein –, „and an unemployed and underemployed service sector which is substantially black and Hispanic“ (Rose, 1994, S. 29). Unter diesen ungleichen Zuständen waren es schließlich die afroamerikanischen Jugendlichen, die sich aus einem Mangel an ökonomischen Ressourcen – mit zu wenig Geld in den Taschen und den „falschen“ Klamotten am Leib gewährte man ihnen keinen Einlass in die angesagten Clubs der Stadt, in denen sich die Discomusik in diesen Jahren auf ihrem Höhepunkt befand – mit Plattenspielern „bewaffneten“ und ihre eigenen Partys in ihren Vierteln auf den Straßen organisierten. Diese, aus einem soziostrukturellen Prozess der Marginalisierung heraus entstandenen Veranstaltungen, etablierten sich als sogenannte Block Partys. Verlan (2003) nennt diese Block Partys, die häufig in Hinterhöfen, verlassenen Fabrikhallen oder im Sommer am liebsten auf der Straße oder im Park zelebriert wurden, aufgrund der Zusammenführung der vier Komponenten, DJ-ing, Rapping, Breakdancing und dem Graffiti, die „Ursprungsstätten“ der HipHop-Kultur. Anfangs kommunizierten die DJs in Form des aus Jamaika stammenden Toastings2 mit der tanzenden Menge. Um sich besser auf ihre Musik konzentrieren zu können, übernahmen diese Aufgabe dann schon bald die ersten MC’s („Master of Ceremony“). Stand also zu Beginn der HipHop-Kultur der Discjockey, der durch das Scratchen und Sampeln selbst zum Musiker wurde, als zentraler Akteur im Mittelpunkt des Interesses, verlagerte sich mit der rasanten Entwicklung des Rap und der MCs, die sich durch besondere Sprachgewandtheit, Schlagfertigkeit und Entertainerqualitäten auszeichnen, die Aufmerksamkeit der Rezipienten immer stärker in Richtung verbaler Unterhaltung. Mit dem ersten international erfolgreichen HipHop-Song, „Rapper’s Delight“ von der Sugarhill Gang aus dem Jahre 1979 hat der Rap schließlich seinen Weg in die Radiostationen und damit in die Ohren vieler (auch weißer) Menschen gefunden, die bis dahin mit dieser neuen Form von Musikkultur keinerlei Berührungspunkte teilten.
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Toasting wird die Kommunikation zwischen dem DJ oder MC und dem Publikum genannt. Der in Jamaika geborene DJ Kool Herc gilt als eine der ersten Ikonen des frühen HipHops. Er nutzte das Toasting im New York der 70er dazu, um das Publikum mit knackigen Ansagen bei Laune und ständig in Bewegung zu halten (vgl. Krims, 2000, S. 55 f.).
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Anfang der 80er Jahre breitete sich die Rapmusik über etliche Hits sowohl national wie international aus. Der tanzbare Disco-flow dominierte die Songs und es folgte Kassenschlager auf Kassenschlager. Der HipHop verlor auch im Laufe der 80er Jahre, in denen sich die Rapmusik sowohl musikalisch als auch inhaltlich entwickelte – die Themen wurden politischer und radikaler – nicht an Interesse. Es entstanden neue Stilrichtungen und die Szene professionalisierte sich weitestgehend. Gegen Ende der 80er Jahre verlor der subkulturell zelebrierende Charakter dieser noch jungen Musikrichtung allerdings immer mehr an Bedeutung und eine neue Generation an Künstlern und Musikern setzte einen Wandel in Gang, der das Genre weg vom seichten Party-Rap der Old School3 und hin zu einer sowohl politisch provokanten, als auch aggressiv fordernden Haltung führte. Prävalierten an der Ostküste, von New York ausgehend, HipHop-Formationen wie Public Enemy, A Tribe Called Quest und Künstler wie KRS-One, die in ihren Texten vor allem scharfzüngig, intellektuell-pointiert und hochpolitisch Sozialkritik an der Situation der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten übten, entwickelte sich in der kulturell einflussreichsten Metropole der Westküste, in Los Angeles, mit dem Gangsta-Rap eine weitaus mehr nihilistische Ausprägung des Rapgenres. Wie bereits in ihren Ursprüngen in New York, entfaltete sich die lokale Rapund HipHop-Szene auch in L.A. in ähnlich sozial strukturierten Verhältnissen. In dem Stadtviertel Watts und in der an Los Angeles angrenzenden Stadt Compton setzte sich das Bevölkerungsbild überwiegend aus latein- und afroamerikanischen Mitbürgern zusammen. Die Bedingungen in diesen von Armut gezeichneten Gebieten waren zwar ähnliche wie in New York, doch die lokalen Traditionen waren andere. Mikos (2000) verweist in diesem Sinne auf die bis in die 1920er Jahre zurückreichende Gang-Kultur, die mit dem Niedergang der Black Panther Bewegungen, Anfang der 70er einen neuen Aufschwung erlebte. Mit der Entstehung einer antagonistischen Gang-Kultur, die sich in Los Angeles bis heute weitestgehend auf die zwei Gruppierungen der Crips und Bloods konzentriert, erfolgte, neben den alltäglicher werdenden Gewaltverbrechen in den Straßen der Armutsviertel, ein rasanter Anstieg der Drogenkriminalität, bei dem die Crips und die Bloods mehr und mehr den Crack-Handel dominierten. Unter diesen Umständen war (und ist) es nicht verwunderlich, dass in den betroffenen Stadtvierteln viele afroamerikanische Jugendliche in der Teilnahme an der Gangkultur den einzigen Ausweg sahen, um dem sich ihnen alltäglich prä-
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Bezeichnung für die Generation der ersten Phase der HipHop-Kultur.
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sentierenden Kreislauf aus Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit und Armut zu entfliehen. Die HipHop-Kultur, die seit jeher in all ihren Ausprägungen vom kompetitiven Charakter geprägt ist,4 eröffnet für die Jugendlichen eine ebenfalls auf Wettkampf basierte, jedoch wesentlich unblutigere Variante der Selbstbehauptung als die verlockende Gang-Karriere. Mit ihrer, Ende der 80er Jahre, mittlerweile kommerziell erfolgreichen Etablierung als Produkt der Unterhaltungsindustrie, gab die HipHop-Kultur zumindest einigen Jugendlichen die Möglichkeit, abseits eines Lebens als Krimineller nicht nur reich, sondern auch berühmt zu werden. Wobei genau dieser spezifische Hintergrund der Künstler – die eigene Herkunft und die damit zusammenhängenden sozialen Bedingungen in Los Angeles – als thematischer Ausgangspunkt für die Texte des neu entwickelten Rapgenres diente. Als eine der ersten und erfolgreichsten HipHop-Crews der Westküste machte die Formation N.W.A. („Niggaz with Attitudes“), zu deren Gründungsmitgliedern die später ebenfalls als Solokünstler erfolgreichen Rapper Ice Cube, Dr.Dre und Eazy-E gehörten, von sich reden. Ihrer Selbstdefinition nach, betrachteten sich die Rapper als „Reporter“, die in ihren Liedern über Alltagserfahrungen und Erlebnissen aus den, als „Ghettos“ bezeichneten, benachteiligten Vierteln der Stadt berichteten. Sie präsentierten in ihren Songs einen gesellschaftlichen Bereich, der von Gewaltverbrechen, Drogengeschäften, Prostitution und Vergewaltigung geprägt ist. Doch anstatt mit den problematischen Bedingungen der afroamerikanischen Bevölkerung in einen sozialkritischen Dialog zu treten, wie es bei den Rappern der Ostküste üblich war, kreierten sie einen selbstbewussten und aggressiven Stil, der sich den kulturellen Werten der Dominanzgesellschaft entgegenstellte und ihr Dasein als Minderheit auf eine neue, nihilistische, geradezu hedonistische Art und Weise zelebrierte. Das von rivalisierenden Banden geprägte Leben auf den Straßen wurde im Gangsta-Rap mit neuen Semantiken versehen. Körperliche Stärke, Verherrlichung von Gewalt und Schusswaffengebrauch, sowie die Wirkung und der Han-
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So treten im Battle-Rap zwei Rapper als Kontrahenten gegeneinander auf, die in improvisierten Sprachduellen den jeweils anderen mit einfallsreichen und schlagfertigen Reimen lächerlich oder auf kluge Weise beleidigen müssen, um somit die Gunst des Publikums für sich zu gewinnen. Den Breakdance-Wettbewerb entscheidet ebenfalls der Akteur mit den anspruchsvollsten, innovativsten und häufig auch gewagtesten akrobatisch-tänzerischen Fähigkeiten für sich. Die Kompetitivität bei den GraffitiKünstler zeichnet sich letztendlich durch die Anbringung ihrer Kunstwerke an besonders schwer zu erreichende und/oder bewachte Stellen aus. (vgl. Sokol, 2004).
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del mit Drogen und ein unverblümter Sexismus und Rassismus dominieren, häufig ausgedrückt in obszöner, harscher Sprache, die Themen der Lieder. Mit ihrem Debütalbum „Straight Outta Compton“ kam der Formation N.W.A. eine landesweite mediale Aufmerksamkeit zuteil. Allen voran rief der Song „Fuck tha Police“ Politiker, besorgte Eltern, die Medien und letztendlich auch die Adressaten selbst auf den Plan. Selbst das FBI forderte in einem Brief N.W.A. und die damals zuständige Plattenfirma dazu auf, den Song nicht mehr aufzuführen. Dieser in der Bevölkerung und den Institutionen evozierte Protest und das damit verbundene Medienecho ließen den Gangsta-Rap, im Grunde genommen bis heute, zum kommerziell erfolgreichsten Produkt der HipHop-Kultur werden. 1.2 Songtext als Datentypus Betrachtet man die edierte Textform hinsichtlich ihrer Relevanz als Datenmaterial für den empirischen Forschungsprozess, stellt der Songtext eine Ausdrucksgestalt dar, die sich in ihrem Entstehungsprozess jeglicher Beeinflussung oder Kontrolle durch den Sozialforscher entzieht. Hagedorn (2008, S. 76) spricht diesbezüglich von „ästhetischen Textproduktionen, die ohne ein Forschungsinteresse und ohne sonstiges Zutun eines Anderen sowieso entstanden wären und als ‚reine‘ Ausdrucksgestalten mit höchstmöglichem Verdichtungsgrad vorliegen.“ Ausdrucksgestalten, in denen, wie im Rap-Text, eine Selbstinszenierung im subkulturellen Kontext stattfindet, verfügen erkenntnistheoretisch und methodisch über den enormen Reiz, nicht in beeinflussten Handlungspraxen, wie sie bspw. die Interviewsituation darstellen würde, sondern in einem jeweils der konkreten Lebenspraxis entsprechendem Relevanzsystem entstanden zu sein. Von dieser Charakteristik des Datentypus ausgehend, soll nun im Folgenden Wert auf eine textimmanente Analyse gelegt werden, in der das Material „selbst zum Sprechen“ gebracht wird. Um also zu verhindern, dass von außen bereits vorhandene Theorien an das Material herangetragen wird, wird die Analyse mit der rekonstruktionslogisch verfahrenden Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik durchgeführt. Für ein besseres Verständnis eben dieser, wird die Methode im folgenden Abschnitt in ihren Grundzügen kurz erläutert.
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1.3 Über die Methode Eine umfassende Darstellung der Untersuchungsmethodik, sowie ihrer Methodologie, soll und kann in Anbetracht des Umfanges dieses Beitrags an dieser Stelle nicht erfolgen. Um die durchgeführte Analyse methodisch nachvollziehen zu können, wird die Sequenzanalyse der Objektive Hermeneutik im Folgenden bezüglich ihrer praxisorientierten Anwendung in ihren Grundzügen erläutert, zur detaillierteren Darstellung und zur Vertiefung empfiehlt sich entsprechende Primärliteratur.5 Die Objektive, oder auch strukturale, Hermeneutik bezeichnet eine rekonstruktionslogisch verfahrende Methode, die sich in der Sozialforschung insbesondere für textbasierte Ausdrucksgestalten bewährt hat. Der zentrale forschungspraktische Ansatz findet sich bei der Objektiven Hermeneutik in der Sequenzanalyse. Die Sequenzanalyse basiert auf einer rekonstruktiven Vorgehensweise und arbeitet so einem subsumtionslogischen Verfahren entgegen. Der Begriff der Rekonstruktion verweist bereits auf die elementare Vorgehensweise bei der Textinterpretation. Es gilt durch sequentielles Voranschreiten und der Bildung von Lesarten die (latenten) Sinnstrukturen der handelnden Lebenspraxen logisch nachzuzeichnen, sie also zu re-konstruieren. Konstitutiv dafür ist die Annahme, dass die Handlungsoptionen einer je konkreten Lebenspraxis durch Regeln eröffnet werden und sich die konkrete Wirklichkeit dieser Lebenspraxis über die Wahl ihrer Möglichkeiten bezüglich der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen äußert. Dabei zeigt sich die Besonderheit der konkreten Wirklichkeit in ihrer Selektivität. Dazu Wernet (2006, S. 15): „Die Möglichkeiten, die diese Wirklichkeit besitzt, sind durch die geltenden Regeln formuliert. [...] Die je konkrete Handlungsinstanz wählt bestimmte Optionen und in dem Maße, in dem die Wahl einer spezifischen Systematik folgt, in dem Maße also, in dem wir einen Fall an der Charakteristik seiner Optionenrealisierung wiedererkennen, sprechen wir von dem Vorliegen einer Fallstruktur.“
Die während dieses Vorgangs herausgearbeiteten latenten Sinnstrukturen sind es nun, welche die Methode der Objektiven Hermeneutik für die Analyse des in diesem Beitrag untersuchten Datenmaterials so interessant macht, denn, so Wernet (2006, S. 18):
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Siehe ausführlich Oevermann, Allert, Gripp, Kronau und Krambeck (1979) sowie: Oevermann (2002).
136 | L UDGER K ROL „Eine zentrale forschungslogische Ausrichtung der Objektiven Hermeneutik ist durch den Umstand gegeben, dass ein Text Bedeutungsstrukturen generiert, die jenseits des Selbstverständnisses und Selbstbildes einer sozialen Praxis liegen und die sich nicht in den Meinungen, Intentionen und Wertorientierungen dieser Praxis erschöpfen.“
Bezogen auf die Ultra-Szene und der hier vorliegenden Ausdrucksgestalt verspricht dies eine methodisch kontrollierte Interpretation und eine differenzierte Betrachtung ‚typischer‘ Verhaltensmuster dieser Subkultur.
2. A NALYSE „A USWÄRTSFAHRT “
VON
U LTRA K AOS
Vorbemerkungen Bei dem Künstlerkollektiv UltraKaos handelt es sich um einen losen Verbund von Rappern, die entweder direkt der Frankfurter Ultragruppierung Ultras Frankfurt 1997 (UF97) angehören oder dieser Szene zumindest sehr nahe stehen (hervorzuheben sind aufgrund ihres überregionalen Bekanntheitsgrades – nimmt man die Verkaufszahlen und die Aufrufe ihrer youtube-Videos als Referenz – die beiden Rapper Vega und Bosca). Anders als bei den Soloprojekten der jeweiligen Rapper – in denen sie sich vermehrt thematisch am Genre des Straßenrap orientieren – kreisen die Themen bei UltraKaos ausschließlich um das FanDasein und die gemachten Erfahrungen und Erlebnisse in der Ultra-Szene. Das in diesem Beitrag untersuchte Lied „Auswärtsfahrt“ stammt von den Rappern Bosca und Krykz, und ist 2008 auf der ersten UltraKaos EP erschienen. Bevor wir uns nun allerdings der Analyse des Liedtitels, als erste Sequenz des Materials, widmen, soll zunächst der Gruppenname als solcher kurz betrachtet werden. UltraKaos Es fällt direkt eine Besonderheit dieses, den Verbund aus Rappern kennzeichnenden Eigennamens ins Auge. Das aus den Begriffen Ultra und Kaos zusammengesetzte Kompositum beinhaltet eine – geht man davon aus, dass der oder die Kreatoren dieser Wortschöpfung die deutsche Rechtschreibung kennen (was anzunehmen ist, da ja die Sprache als solche das „Handwerkszeug“ des Rappers bildet) – bewusst gewählte abweichende Schreibweise des Wortes „Chaos“. Man bricht also absichtlich mit der Rechtschreibenorm bei gleichzeitig beibehaltener Lesbarkeit und damit auch semantischer Ausrichtung. Typisch sind solche Ver-
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einfachungen bzw. Abkürzungen von Wörtern für die ungezwungene Kommunikation in Chaträumen, E-mails oder Instant-Messenger. Auch wenn dieser Sprachgebrauch und die Form der Kommunikation mittlerweile nahezu milieuwie altersunspezifisch ist, lässt sich der kreative Umgang mit und speziell die Neuschöpfung von Wörtern jedoch noch immer als ein wesentliches Charakteristikum der Jugendsprache deuten. Daran anschließend lässt sich auch ein erster Bezug zur Rap-Szene herstellen, für die eben dieser spielerische Gebrauch der Sprache kennzeichnend ist. Gerade das momentan sehr erfolgreiche Genre des Straßenrap, in dem Rapper wie Haftbefehl oder Celo & Abdi mit ihren Alben deutschlandweit hohe Verkaufszahlen erzielen, zeichnet sich über den von den Künstlern transportierten und von den jeweiligen Herkunftsländern beeinflussten Sprachstil („Kanakish“) aus. Dabei geht das Spiel mit der Sprache in diesem Zusammenhang weit über den rein stilistischen Identifikationscharakter mit der weltweiten HipHop-Kultur hinaus. Vielmehr bietet die Subkultur der Rapmusik den meist aus Migrationsfamilien stammenden Künstlern die Möglichkeit, den krisenbehafteten Exklusionserfahrungen entgegen, sich als Minderheitengruppe ihrerseits von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen und damit eine Umkehrung der von außen getätigten Zuschreibungen zu vollziehen. So bietet sich den Akteuren auf sprachlicher Ebene, neben der Aushandlung und Selbstdarstellung der eigenen mehrfachverbundenen Identitätsstrukturen, die Möglichkeit mit einer selbst gestalteten Sprachvarietät im Rahmen der subkulturellen Zugehörigkeit in die Position des Wirkmächtigen zu treten.6 Ohne der folgenden Sequenanalyse auf inhaltlicher Ebene etwas vorweg zu nehmen, kann an dieser Stelle bereits gesagt werden, dass in der untersuchten Ausdrucksgestalt sowohl auf rhetorischer wie auch auf sprachlich-stilistischer Ebene ein im Verhältnis zur aktuellen Rap-Szene recht unkreativer und durchweg auf die Standardsprache beschränkter Sprachgebrauch verwendet wird. Davon abweichend, entspricht der hier betrachtete Gruppenname UltraKaos noch am ehesten dem szenetypischen Sprachspiel des Rap. Die Semantik betreffend, spielt die Wortschöpfung UltraKaos mit der Doppeldeutigkeit ihres ersten Parts („Ultra“). So kann Ultra einerseits als Präfix von Kaos adverbial gelesen werden, also extremes Chaos ausdrücken, andererseits liegt in dem hier behandelten subkulturellen Kontext die Bedeutung von „Ultra“ als Kennung für die Gruppierung der „wahren“ Fußballfans auf der Hand. Zieht
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Vgl. dazu ausführlich: Krol (2013), Kap. 6.1 ff. in „Konstruktion von Identität im subkulturellen Kontext – eine objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion eines RapTextes“.
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man letztere Deutung in Betracht, eröffnen sich zwei weitere Lesarten, nach denen einmal Ultra und Kaos als sich ergänzendes Paar gemeint ist, im Sinne von „die Ultra-Szene ist gleichzusetzen mit Chaos verbreiten“, andererseits aber auch als Gegensatzpaar. Diese zweite Möglichkeit ist unter der Zunahme, dass das Kompositum häufig getrennt, bzw. diese Trennung zumindest durch ein großes „K“ angedeutet wird, nachvollziehbar („UltraKaos“). Bei dieser Lesart steht auf der einen Seite der hohe Grad an Organisiertheit einer Ultragruppe, wie er bspw. für die aufwendigen Choreografien in den Fankurven konstitutiv ist. Auf der anderen Seite das (erlaubte) Chaos, welches gerade für Jugendliche und junge Erwachsene sowohl anziehend wirkt, als auch als generelles Merkmal die Lebensphase der Adoleszenz kennzeichnet. Man sieht, dass bereits die extensive Deutung des Gruppennamens einen ersten Eindruck – und nichts weiter sollte an dieser Stelle gewonnen werden – von dem spezifischen Charakter der Subkultur der Ultras entstehen lässt. Der Einstieg in die Sequenzanalyse erfolgt nun mit dem Liedtitel, der, als übergeordnete und erste – und damit eröffnende – Sequenz, eine besondere Stellung im Datenmaterial einnimmt.7 Im Folgenden werden nun die ersten 17 Zeilen des Titels „Auswärtsfahrt“ näher betrachtet. Eine Analyse des gesamten Titels ist in diesem Beitrag nicht möglich. Der Titel: „Auswärtsfahrt“8 Der für die thematische Rahmung des Inhalts von den Autoren gewählte Titel Auswärtsfahrt verweist gleich zu Beginn auf einen komplexeren Bezugsrahmen, als etwa dazu kontrastiv der Begriff „Auswärtsspiel“ – welcher im Kontext Fußball gebräuchlicher scheint – darstellen würde. Mit der Verwendung von Auswärtsfahrt nimmt das Spiel als solches – gehen wir davon aus, dass mit Fahrt nicht nur die reine Bewältigung der Wegstrecke von A nach B gemeint ist, sondern die komplette Zeitspanne zwischen Abfahrt und Wiederankunft – zwar immer noch einen zentralen Punkt auf der Tagesagenda ein, ohne jedoch deren expliziten Höhepunkt zu markieren. Diese Lesart verweist auf den eingangs ange-
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Von dem Künstler gewählt, bildet der Titel einerseits einen integralen Bestandteil des kompletten Kunstwerks, erfährt aber innerhalb diesem durch seine übergeordnete, zentrale Position besondere Beachtung. Nach Oevermann (1997, S. 1) „konstituiert er eine eigene hierarchische Textebene, insofern er den gesamten Werktext, auf den er sich summarisch bezieht, kenntlich macht, etikettiert, zusammenfasst und auf ein wesentliches oder prägnantes Merkmal hin abstrahiert.“
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Die komplette interpretierte Textpassage findet sich zum Nachschlagen im Anhang.
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sprochenen besonderen Stellenwert, den die Auswärtsfahrt innerhalb der UltraSzene einnimmt und legt die Betonung auf das gemeinschaftliche Miteinander (während der Fahrt). Über welche Merkmale und Charakteristika sich dieses Miteinander nun auszeichnet, wird das Erkenntnisinteresse bei der Interpretation der folgenden Sequenzen sein. Dazu wird zunächst der Titel seiner Semantik betreffend eingehender betrachtet. Mit dem Auswärts liegt zwingend auch ein „inwärts“ vor. Es wird also mit der Konstruktion eines „Außen“ unwillkürlich ein sich dazu abgrenzendes „Innen“ erzeugt. Dieses „Innen“ – ein vertrauter Ort, die Heimat – wird mit der Auswärtsfahrt hinter sich gelassen. Damit bekommt das, was auswärts, also nicht heimisch-vertraut ist, den Charakter des „fremden“ und „unbekannten“ verliehen. Ausgehend von dem Fußballkontext, dem diese Ausdrucksgestalt zuzuordnen ist, ist bekannt, dass Heim- und Auswärtsspiele in der Regel abwechselnd stattfinden, womit eine Auswärtsfahrt, ohne Berücksichtigung von „englischen Wochen“ oder internationalen Spielen, im 14-Tage Rhythmus erfolgt. Beachtet man diese Regelmäßigkeit und nimmt man die vom Titel Auswärtsfahrt ausgehende Unbestimmtheit bezüglich des „Außen“ hinzu, kann als inhaltliche Ausrichtung des folgenden Textes eine exemplarische Beschreibung einer Auswärtsfahrt erwartet werden. Also Erlebnisse und Ereignisse, die als in der Gemeinschaft gemachte Erfahrungen typisch für die Unternehmung Auswärtsfahrt sind. Mit dieser Annahme lässt sich nun folgende Lesart formulieren. Ausgehend von dem Wissen über die Regelmäßigkeit der Auswärtsspiele und der sich damit immer aufs neue ergebende Kontakt mit dem Unbekannten/Fremden (in Form von Bahnhöfen/Städten/Stadien/Fangruppen) und unter Hinzunahme der im Titel ausgedrückten Unbestimmtheit gegenüber dem Außen, kann eine von der UltraGruppe ausgehende Indifferenz gegenüber dem je spezifischen Fremden angenommen werden. Das unbekannte Außen wird in dem Maße negiert, als dass es als immer Gleiches, im Sinne von „nicht-heimisch“ wahrgenommen bzw. dargestellt wird. Damit lässt sich das Erkenntnisinteresse dahingehend erweitern, als dass die spezifischen Merkmale bezüglich der sozialen Interaktionsstrukturen der Ultra-Subkultur unter dem Eindruck des „Unbekannten/Fremden“ zu betrachten sind.
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Zeile 1: „Okay“ Ein für Rap-Lieder typischer Beginn eines Textes. Eine dem eigentlichen Beginn vorgestellte Interjektion wie „Hey“, „Yo Yo“, oder eben Okay besitzt in diesem Sinne eine appellative Funktion, die dem Zuhörer gegenüber Aufmerksamkeit stiftend wirkt und in Langschrift etwa dem Motto: „Hier bin ich, jetzt leg ich los, hör dir an, was ich zu sagen habe!“, entspricht. Zeile 2: „6 Uhr aufstehen, es war keine lange Nacht“ Es wird ausgedrückt, dass man9 trotz wenig Schlafs zu einer frühen Stunde das Bett verlässt. Die angegebene Uhrzeit wäre vereinbar mit einem Wochentag, an dem man zu einem vereinbarten Zeitpunkt am Arbeitsplatz bzw. einem Ausbildungsort erscheinen muss. Für einen Samstag- oder Sonntagmorgen allerdings wäre diese Uhrzeit – die Erwähnung, dass man am Abend vorher spät schlafen gegangen ist, verstärkt diesen Eindruck noch – jedoch ungewöhnlich. Dass allerdings dies genau der Fall ist, lässt sich aufgrund des Titels vermuten – so finden Auswärtsspiele in der Regel am Wochenende statt – und wird zudem in der folgenden Sequenz als Handlungsmotivation explizit genannt. Zeile 3: „doch es ist scheißegal, heute ist Frankfurt-Auswärtsfahrt“ Der Anlass, die Auswärtsfahrt, und die damit verstandene Unterstützung des Vereins in der Ferne wird höher gewichtet, als das persönliche Bedürfnis nach genügend Schlaf. Der damit entstandene körperliche Verzicht wird also einer ideellen Verbundenheit gegenüber dem Verein in Kauf genommen, womit sich das Gemeinschaftsinteresse – früh aufzubrechen, um rechtzeitig am Spielort zu sein – über private Belange stellt („scheißegal“).
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Die ersten 12 Zeilen der Analyse bleiben ohne Subjekt. Die handelnde(n) Person(en) werden gar nicht bzw. nur andeutend erwähnt. Dieses Stilmittel erzeugt eine Art Sogwirkung, so dass ein sich Hineinversetzen in die beschriebenen Vorgänge dem Zuhörer leicht und zugänglich gemacht wird.
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Die oben aufgestellte Hypothese bezüglich der gruppendynamischen Verhaltensmuster unter Einfluss des Fremden lässt sich an dieser Stelle präzisieren. Die im ersten Moment sprachlich unglücklich erscheinende Formulierung „Frankfurt-Auswärtsfahrt“ fügt sich bei näherer Betrachtung gut in die bereits aufgestellte Lesart ein. Zunächst einmal findet mit der Nennung der Stadt eine lokale Verortung statt. Für einen komplett unkundigen Leser, dem jedes Kontextwissen bezüglich der Autoren fehlt, könnte sich nun die Frage stellen, ob die Fahrt in Frankfurt beginnt, oder ob Frankfurt das Ziel der Fahrt darstellt. So verweisen kontrastiv dazu gängige Formulierungen wie „Berlin-Reise“, „Rom-Trip“ oder „Barcelona-Studienfahrt“ jeweils auf das Ziel einer Fahrt und nicht auf den Ausgangspunkt. Unser Kontextwissen eingeschlossen, wissen wir, dass in diesem Fall die Auswärtsfahrt in Frankfurt beginnt. Das Besondere dieser Formulierung liegt nun darin, dass, ihrer semantischen Auslegung nach, Frankfurt nicht nur den Startpunkt der Fahrt bilden muss, sondern man diese Formulierung auch dahingehend verstehen kann, als dass – die Unmöglichkeit der praktischen Umsetzung dieser Deutung missachtend – die komplette Stadt Frankfurt als solche auf Fahrt geht. Auch wenn dies praktisch nicht realisierbar ist und in letzter Instanz Frankfurt synonym für einen in der Stadt lokalisierten und die Stadt repräsentierenden Verein gelesen werden muss, unterstreicht die latente Bedeutungsstruktur dieser Formulierung die oben aufgestellte Lesart bei extensiver Auslegung vollkommen. So wird mit der städtischen Verortung das Innen als spezifisch und der Fahrt immer zugehörig beschrieben, bei gleichbleibender Unbestimmtheit des Außen. Das Außen, also das bereiste Fremde, bleibt in der subjektiven Empfindung stetig, im wahrsten Sinne des Wortes, „außen“ vor. Die Erweiterung der Lesart lässt sich dann so formulieren, dass das heimisch-Vertraute, das Gefühl des Bekannten und positiv Bestimmten – also Frankfurt als Lebensmittelpunkt – durch die gemeinschaftliche Verbundenheit der Ultragruppierung mit auf Reise geht. In diesem Fall wird der Krisenerfahrung, also die Begegnung mit dem Fremden, die der Begrifflichkeit der Auswärtsfahrt konstitutiv zur Grunde liegt, mit einer nach innen – also auf das durch die Gemeinschaft transportierte Vertraute – gerichteten Perspektive entgegen gewirkt.In den nächsten Zeilen werden nun die eine Auswärtsfahrt einleitenden (typischen) Ereignisse und Empfindungen genannt.
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Zeilen 4-7: „S-Bahn zum Hauptbahnhof, Kaffee macht noch Augen groß. Der Kopf ist platt, die letzte Nacht zeigt ihre Auswirkung. Fastfood ersetzt Frühstück, damit man was im Magen hat, und der Beutel Gras ersetzt die Sorgen für den langen Tag.“ Mit dem fehlenden Verweis auf eine für sich stehende und handelnde Person, werden in diesem Abschnitt Begebenheiten geschildert, denen aufgrund der Subjektlosigkeit ein die Gemeinschaft betreffender Verallgemeinerungscharakter anhaftet. Im angesprochenen Kaffeekonsum reproduziert sich die in Zeile 2 bereits aufgestellte Lesart, wonach dem gemeinschaftlichen Miteinander stärkere Beachtung geschenkt wird, als dem persönlichen Bedürfnis. So wäre als kontrastive Handlungsoption der Verzicht auf Koffein und stattdessen ein Nachholen von Schlaf während der bevorstehenden Fahrt denkbar. Dies würde allerdings einen Rückzug in sich selbst und damit eine Abkehr von der aktiven Partizipation am Gruppengeschehen bedeuten. Es stellt sich in diesem Zusammenhang noch die Frage, weshalb man nicht früher schlafen geht, wenn man weiß, dass man am nächsten Tag zeitig aufstehen muss/will. Unter Berücksichtigung der semantischen Auslegung von UltraKaos, bietet sich eine Lesart an, nach der die hier beschriebenen (chaotischen) Verhaltensstrukturen typisch für die Lebensphase der Adoleszenz und der damit verbundenen Identitätsfindung sind. In dieses Chaos hinein wirkt nun die selbst auferlegte Verpflichtung zur Teilhabe an den Aktivitäten der Ultragemeinschaft, die einerseits strukturierende Wirkung besitzt, andererseits aber auch jugendspezifische Verhaltensstrukturen toleriert. Der anschließend zweifache Gebrauch von ersetzen verweist auf das außeralltägliche Moment, welches die Unternehmung Auswärtsfahrt für die beteiligten Personen darstellt. So deutet sich das Alltägliche einerseits ganz subtil über das in der Regel morgens eingenommene (häusliche) Frühstück an und andererseits über die alltäglichen Sorgen. Über die alltäglichen Sorgen bestätigt sich demgemäß auch die Lesart einer für die Adoleszenzphase typischen Identitätskrise. So sind Sorgen meist ein Symptom lang anhaltender Krisenempfindung einer unsicheren Zukunft betreffend. Die in diesen Zeilen gewonnenen Erkenntnisse decken sich mit quantitativen Erhebungen (Pilz et al., 2006, S. 77) bezüglich der Altersstruktur von Ultramitgliedern und untermauern den Status der Ultra- Subkultur als Betätigungsfeld vornehmlich Jugendlicher und junger Erwachsener.
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Zeilen 8-9: „Erstmal ein paar Stunden Fahrt, es kommt dir vor wie drei Minuten. Alkohol, Mary Jane10, Verrückte fallen durch den Zug.“ Wenn eine objektive Zeitspanne subjektiv verkürzt empfunden wird, dann entweder aufgrund von Schlaf – auf diese Möglichkeit wurde bereits oben eingegangen und für unwahrscheinlich erklärt, zudem verweist das Verb „vorkommen“ auf eine bewusst erlebte Zeitspanne – oder, und das scheint hier gemeint zu sein, aufgrund einer freudigen, kurzweiligen Stimmung, die durch unterhaltende Ablenkung die Zeit „wie im Flug“ vergehen lässt. Die hier beschriebene Stimmung ist zudem eine von der Einnahme von Drogen beeinflusste, in und durch die Gemeinschaft erzeugte Stimmung, die bei einigen Mitgliedern in ihrem Extrem zu grenzüberschreitendem und deviantem Verhalten führen kann („Verrrückte fallen durch den Zug“). Ist in den vorangegangenen Zeilen noch der Eindruck einer „verschlafenen“, physisch und psychisch beeinträchtigten und von Krisen („Sorgen“) begleiteten Lebenspraxis entstanden, deutet sich nun mit Beginn der Fahrt eine sorgenfreie und gelöste Zeit an. Dieser Stimmungswechsel geschieht synchron mit dem sich hier ablesenden Prozess der Gemeinschaftsbildung. Zu Beginn steht das Aufwachen und die je individuelle Anreise zum Bahnhof, dann das Zusammenkommen der einzelnen Mitglieder, aus denen sich spätestens mit der Abfahrt des Zuges eine real empfundene Gemeinschaft formiert. Dieser Vergemeinschaftungsprozess, als zentrales Moment der Auswärtsfahrt, tritt in den restlichen Zeilen der ersten Strophe, welche aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Beitrags im Folgenden zusammengefasst betrachtet werden, deutlich hervor. Zeilen 10-17: „Umsteigen in der fremden Stadt, Gästefans hauen ab. Im örtlichen Supermarkt checkt man, was man klauen kann, Weiterfahrt mit Proviant, jetzt lassen wir uns richtig gehen [...] Fenster werden verriegelt, wenn sie die Fahnen der Eintracht sehen, FFM, SGE, keiner weiß was nun passiert. Wo sind eure Leute, denn wir sind druff und motiviert!“
10 Umgangssprachlich für Marihuana.
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Die Verwendung eines Personalpronomens in Zeile 12 („wir“) verweist erstmals in der hier untersuchten Textgestalt explizit auf ein Kollektivbewusstsein. Dass dieses erst an einer recht fortgeschrittenen Stelle innerhalb des diegetischen Prozesses benannt wird, verwundert unter Rücksicht der bis hier erfolgten Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen nicht. Wirken die Beschreibungen zu Beginn, in dem sich die Geschehnisse noch im vertrauten Umfeld abspielen, recht subjektlos und verallgemeinernd, formt sich und gewinnt das Kollektiv in dem Grad an Wichtigkeit, in dem es sich von lokalen Identifikationsräumen entfernt. Im Text drückt sich dies mit dem Umsteigen in der „fremden Stadt“, der Begegnung mit, aus sportlicher Sicht, anders gesinnten Personengruppen („Gästefans“) und dem bewusst strafbaren Verhalten („checkt man, was man klauen kann“) in einem explizit dem Außen zugeschriebenen Supermarkt („örtlichen“) aus. Es festigt sich also die Lesart, nach der das Wir-Gefühl erst in der Fremde über Differenz- und Abgrenzungsmöglichkeiten wirklich erfahrbar wird. Kontrastiv zur Auswärtsfahrt findet beim Besuch im heimatlichen Stadion diese Form der Abgrenzung in viel abgeschwächterer Weise und einer nur auf die Fans im Gästeblock konzentrierten Konstellation statt. In diesem Sinne ist die regelmäßig und in der Gruppe unternommene Auswärtsfahrt eines der zentralen Vergemeinschaftungserlebnisse in der Ultra-Szene. Denn erst in und durch das unbekannte Außen entstehen während dieser Unternehmung die, die kollektive Identität formierenden und die Kohäsion stabilisierenden, spezifischen Verhaltensstrukturen der Ultras. Schreiten wir im Text voran, folgt diesem artikulierten Wir-Gefühl sinnlogisch – geht man von einem für die Fanszene exklusiven Zugehörigkeitsverständnis aus, wonach der Fan sich in der Regel mit genau einem Verein identifiziert – die binäre „Wir – Nicht-Wir" Aufteilung (erkennbar an dem „sie“ und „eure“). Spezifisch ist nun allerdings, dass die kompetitive Haltung, die dem Fußballsport konstitutiv scheint, nicht nur auf das Sportliche, sondern auf die komplette Stadt übertragen wird. Das ausgeprägte Solidargefühl innerhalb der Gemeinschaft, als Ausdruck latenter Bedrohungsempfindungen, geht einher mit offensiven, im geschlossenen Verbund ausgeführten Machtdemonstrationen (Schwenken der Fahnen), die als solche der Krisenhaftigkeit der ungewissen Situation („keiner weiß, was nun passiert“) ein Gefühl von Kontrolle entgegenstellen. In dieser Deutung spiegelt sich auch die über die Vereinszugehörigkeit hinausreichende Identifikation mit der ganzen Stadt wieder. So wird im untersuchten Text überwiegend nicht von der „Eintracht“ sondern von „Frankfurt“ gesprochen (dementsprechend auch die Reihenfolge in Zeile 16: „FFM, SGE“). Diese innerhalb der Ultra-Szene eingenommene kompetitive Grundhaltung zwi-
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schen verschiedenen Ultragruppierungen kann, im Extremfall, über die Vereinsidentifikation hinaus auch auf andere Gruppen bzw. die ganze Stadt ausgerichtet werden. Eine daraus entstehende generelle Konfliktdynamik findet dann allwöchentlich in den Städten, Stadien und Bahnhöfen über Abgrenzungs- und Dominanzverhalten ihren Ausdruck (in negativer – durch Ausschreitungen und Gewalt – wie in positiver – über aufwendige Choreografien und lautstarke Fangesänge – Art und Weise).
3. S CHLUSSBETRACHTUNG UND V ERSUCH E INORDNUNG DER E RGEBNISSE IN DAS G ATTUNGSPROFIL DER R APMUSIK
EINER
Mit der durchgeführten Sequenzanalyse einer Ausdrucksgestalt, die als Produkt einer subkulturellen Überschneidung gelten kann, vermittelt dieser Beitrag einen Eindruck davon, wie der forschungspraktische Zugang zu einem (noch neuen) subkulturellen Phänomen aussehen kann. Die untersuchte Ausdrucksgestalt konstituiert sich dabei auf der einen Seite über den Performanz- und Gestaltungsrahmen der Rapmusik, auf der anderen Seite durch die inhaltliche Ausrichtung auf spezifisch Fan-kulturelle Themen der Ultra-Szene. Eines davon ist die regelmäßig unternommene Fahrt der Ultras zu den Auswärtsspielen ihres Vereins. Mit der Rekonstruktion eines Rap-Textes, der diese Fan-typische Unternehmung thematisiert, sind spezifische, die Subkultur der Ultras betreffende Merkmale herausgearbeitet worden. Insbesondere zur latenten Sinnstruktur gruppendynamischer Verhaltensmuster, die speziell in Bezug zur Auswärtsfahrt als charakteristisch für Ultragruppierungen gelten, ist ein differenzierter Zugang entstanden. Die Fahrten zu den Auswärtsspielen ihrer Mannschaft besitzen innerhalb der Ultra-Szene einen hohen Stellenwert. Durch die zahlenmäßig meist unterlegene Situation im Stadion und der fremden Stadt erreicht die Gemeinschaft während dieser Unternehmung einen hohen Grad an Kohäsion, der das Kollektivbewusstsein für jedes Mitglied in besonderem Maße erfahrbar macht. Dass diese Prozesse auch immer in engem Zusammenhang mit jugendspezifischen Verhaltensstrukturen stehen, hat sich an den interpretierten Stellen angedeutet. Verma (2012) verweist diesbezüglich auf die identitätsstiftende Funktion, die die Strukturen der Ultra-Szene aufweist. Der Beitritt in eine Ultragruppierung eröffnet dem Heranwachsenden Freiräume, die sich einerseits über bestimmte, die Gemeinschaft stabilisierende Regeln auszeichnen, andererseits aber
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auch frei von Vorgaben der zentralen, den Alltag Heranwachsender strukturierenden Institutionen wie Schule, Familie oder Berufsausbildungen sind. Diese Art von Freiraum, in dem sich Heranwachsende im gemeinschaftlichen Miteinander in vielerlei Hinsicht ausprobieren, erproben, beweisen und austoben können, ist in der untersuchten subkulturellen Ausdrucksgestalt an vielen Stellen ersichtlich geworden. Die Textgestalt vermittelt dabei sehr deutlich in welchem Maße sich dieses gemeinschaftliche Miteinander über den, wie Bohnsack et al.(1995, S. 17 ff.) es nennen, „kollektiven Aktionismus“ konstituiert. So bietet die Jugend-Subkultur der Ultra-Szene gerade in der Phase der adoleszenten Krisenbewältigung einen Zufluchtsraum, in dem „aufgrund gemeinsamer Erfahrungen des Aufeinander-Angewiesen-Seins, der Euphorie, der Bewältigung von Gefahren auf dem Wege kollektiver Aktionismen“ (S. 17) ein Ort der Vergemeinschaftung entsteht. 3.1 Ultra-Rap: Gemeinsamkeiten zwischen HipHopund Ultra-Kultur Abgesehen von seiner Kommerzialisierung war und ist Rap, insbesondere in seinen Aneignungsprozessen außerhalb der USA, in erster Linie schon immer ein Sprachrohr für marginalisierte Bevölkerungsgruppen gewesen. In zentral europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien sind es dabei oft Jugendliche und junge Erwachsene aus Migrationsfamilien, die sich mit der Rapmusik und dem ihr prägenden Entstehungskontext identifizieren können. In diesem Sinne geben Rap-Texte seit jeher in ihrer Funktion als jugendkulturelle Ausdrucksgestalten Einblicke in die Lebenswelten der Protagonisten. Lebensbiographische Krisenmomente, alltägliche Erfahrungen und Sorgen, aber auch fiktional-phantastische Geschichten bilden dabei die thematischen Schwerpunkte in der Rapmusik. Dass diese seit Ende der 90er Jahre auch eine wachsende Beachtung und Adaption innerhalb der Ultra-Szene erfährt, ist nicht überraschend, betrachtet man die wesentlichen strukturellen Merkmale der beiden Jugendkulturen. So lassen sich Parallelen ziehen zwischen dem in allen HipHop-Komponenten enthaltenen (gewaltfreien) Wettkampfgedanken und der kompetitiven Grundhaltung innerhalb der Ultra-Szene, welche von dem sportlichen Wettkampf auf dem Rasen inspiriert und von Beginn an konstitutiv für das Selbstverständnis der Ultragruppen ist.
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Bei Pilz et al. (2006, S. 13) heißt es dazu: „So originell, witzig, kreativ und engagiert, wie sie die eigene Mannschaft unterstützen und Probleme im Verein kritisch hinterfragen, versuchen sie auch die entsprechenden Funktionsträger im Verein, Sponsoren oder die gegnerischen Fans zu provozieren.“
Als Wettkampfmittel fungieren dabei die teilweise martialischen Schlachtrufe, der lautstarke Fangesang und die oft komplexen Choreografien, die, neben ihrem Ausdruck der Verbundenheit zum Verein, auch immer die gegnerische Mannschaft samt Fanschar einschüchtern, übertönen und beeindrucken sollen. In diesem Sinne lassen sich hämische und beleidigende Sprechchöre Richtung Spieler, Schiedsrichter und vor allem gegnerischen Ultra-Gruppen durchaus mit der kompetitiven Situation im Battle-Rap vergleichen (s. Fußnote 4). In Analogie zur Haltung der Gangsta-Rapper soll in diesem Zusammenhang auch die Geringschätzung der Polizei, als gemeinsames Feindbild dieser Jugendkulturen, erwähnt werden. Sehen sich die unterschiedlichen Ultra-Gruppen untereinander zwar stets im Wettkampf, solidarisieren sie sich in der Regel dann, wenn es zur Konfrontation mit der staatlichen Exekutive kommt. Als weiteres Subkultur-übergreifendes Merkmal lässt sich, ausgehend von dem Ursprungscharakter der HipHop-Kultur, die Protest- und Demonstrationshaltung nennen, die im Wertekanon jeder Ultra-Gruppe einen wichtigen Punkt einnimmt. Dabei geht es dem Ultra-Mitglied in erster Linie um einen Erhalt der traditionellen Fankultur, die er durch Kommerzialisierung und zunehmender „Eventisierung“ des Sports bedroht sieht. Gabriele Klein, Autorin der wissenschaftlichen HipHop-Fibel „Is this real?“, verweist diesbezüglich jedoch kritisch auf die Unzulänglichkeit der Widerständigkeit innerhalb der Ultra-Szene, die über eigene Belange nicht hinausreiche. „Es gibt zwar Fanproteste, aber diese konzentrieren sich auf die Lebenswelt des Fußballs, zum Beispiel auf die Erhöhung von Eintrittskartenpreisen, die Kritik an VIP-Logen oder Sponsoren wie Gazprom. Dahinter steckt zwar eine Kritik an Fußball als reiner Kommerzkultur, aber der Protest geht nicht weiter. Er erkennt den Fußball nicht als ein Oberflächenphänomen, das Hinweise auf weitreichende gesellschaftliche Transformationen gibt“ (Gabriele Klein im Interview mit der Zeitschrift Ballesterer; Kronenbitter & Spitaler, 2014, S. 30-31).
Gerade der Blick auf den internationalen Raum (z. B. Istanbul United), oder auch ihre Verflechtungen mit der Antifa-Szene in Deutschland, und auch auf karitative Aktionen der Ultras, lassen diese Aussage zumindest fraglich erscheinen.
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Für ihr Hauptanliegen, den Fußball, aber haben zumindest Teile der Ultraszene spätestens mit den Zusammenschlüssen der B.A.F.F. oder auch ProFans eine Stimme erhalten, die „wie eine Art Seismograf auf vereins- und liga-politische Probleme und Missstimmungen aufmerksam macht. Verband und Vereine, Medien und Polizei sind deshalb auch gut beraten, diese Stimmen ernst und zum Anlass zu nehmen auf Ultras zuzugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen“, so Pilz et al. (2006, S. 106) in ihren Untersuchungen zur Fankultur in Deutschland. Andere Gruppen wiederum sehen ihre Interessen durch die angeführten Fan-Initiativen nicht legitim vertreten. Von diesen Gemeinsamkeiten zwischen HipHop-Kultur und Ultra-Bewegung ausgehend, schafft sich die Ultra-Szene mit dem Einzug der Rapmusik eine neue Kommunikations- und Repräsentationsplattform, auf der sich über das kreative Sprachspiel sowohl in kompetitiver, wie politisch-kritischer Perspektive Meinungen, Eindrücke und Botschaften der Ultra-Gruppen transportieren lassen. 3.2 Versuch einer Einordnung der Ergebnisse in das Gattungsprofil der Rapmusik Aufgabe einer weiteren Analyse wäre es eingehender zu untersuchen, inwieweit sich die Ausprägung des noch jungen fankulturellen Rapgenres in ein Gattungsprofil der Rapmusik, wie es Scholz und Androutsopoulos (2003) aufgestellt haben, einordnen ließe. Scholz und Androutsopoulos haben in ihren empirischen Arbeiten übereinzelkulturelle Merkmale und gattungsspezifische Charakteristika für die Rapmusik herausgearbeitet, die sich sowohl in den verschiedenen Rapgenres, als auch in der globalen Adaption und Aneignung dieser Subkultur wiederfinden lassen. So tauchen beispielsweise auf inhaltlicher Ebene die beiden für den Rap typischen Merkmale der Selbstdarstellung des Rappers und der Szenediskurs in der durchgeführten Sequenzanalyse nicht in dem für die HipHopKultur typischen Maße auf. In der untersuchten Ausdrucksgestalt werden die im Rap häufig verwendeten Stilmittel der Überhöhung und Lobpreisung seiner Selbst (des Rappers) dahingehend verschoben, als dass nicht die Stärke des Einzelnen, sondern die des Kollektivs betont wird. Die Gruppierung selbst wird überhöht und als mächtig und gefährlich dargestellt („Fenster werden verriegelt“). Wie aufgezeigt, vollzieht sich dementsprechend innerhalb der ersten Strophe eine Wendung vom Subjekt weg, hin zur letztendlich real empfundenen Gemeinschaft, wobei die das Kollektiv betreffenden Verpflichtungen höher gestellt werden als persönliche Bedürfnisse. Somit findet die Selbstdarstellung und der Szenediskurs nicht innerhalb des subkulturellen Referenzrahmens der HipHop-Szene, sondern in dem der Ultra-Szene statt.
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Gemeinsamkeiten der beiden Subkulturen finden sich u.a. in der lokalen Zugehörigkeit. So drückt sich in der Selbststilisierung zum Repräsentanten seiner Stadt die starke Identifikation mit der meist urbanen Lebenswelt des Rappers aus. Über das subkulturelle Betätigungsfeld markieren Rapper wie Ultra, in ihrer nach außen hin empfundenen Rolle als Vertreter ihrer Heimatstadt oder ihres Stadtviertels, ihr Territorium. Ein weiteres vergleichbares Merkmal findet sich in der sozialkritischen Protesthaltung, die in beiden Subkulturen eine übergeordnete Rolle spielt. Ist diese im Entstehungsprozess der HipHop-Kultur fest verankert, zeichnet sich die Ultra-Szene ebenfalls über die kritische Haltung gegenüber einem allzu großen, die „wahren Werte“ eines Vereins gefährdenden Einfluss kommerzieller Art aus. So wendet sich der aus Dortmund stammende Rapper M.I.K.I, als überzeugter Fußballfan „seiner“ Borussia, mit Songs wie „Ihr macht unseren Sport kaputt“ oder „Anti Red Bull“ demonstrativ gegen den finanziellen Eingriff großer Unternehmen und der damit eng zusammenhängenden, von ökonomischen Interessen vorangetriebenen Eventisierung des Fußballsports. Zum Abschluss dieses Beitrags soll aber mit Dembowski (2012) in Bezug auf die gemeinsame kritische Grundhaltung auch auf den strukturellen Unterschied der je spezifischen Entstehungskontexte und Hintergründe der beiden Subkulturen hingewiesen werden. Anknüpfend an die oben genannte thematische Abweichung der Ultra-spezifischen Rap-Texte gegenüber der genretypischen Themengewichtung, die häufig unter dem Einfluss alltäglicher sozialer Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen steht, verweist Dembowski (2012, S. 59) auf die meist grundlegenden biographischen Unterschiede der Protagonisten dieser Subkulturen, wenn er schreibt: „Der Protest von Ultras folgt nicht einer radikalen Bedrohung ihrer sozialen Existenz oder gar ihres Lebens als Menschen. Außerhalb des Fußballs können sie als vorwiegend weiße, autochthone Männer trotz allgemein möglichen gesellschaftlichen Krisenanfälligkeiten eher weniger benachteiligt als manch andere marginalisierte Gruppe in ihrem Alltag in Deutschland relativ unbedroht leben“.
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SONGTEXT „AUSWÄRTSFAHRT“ 6 Uhr aufstehen, es war keine lange Nacht Doch es ist scheißegal, heute ist Frankfurt-Auswärtsfahrt S-Bahn zum Hauptbahnhof, Kaffee macht noch Augen groß Der Kopf ist platt, die letzte Nacht zeigt ihre Auswirkung Fastfood ersetzt Frühstück, damit man was im Magen hat Und der Beutel Gras ersetzt die Sorgen für den langen Tag Erstmal ein paar Stunden Fahrt, es kommt dir vor wie 3 Minuten Alkohol, Mary Jane, Verrückte fallen durch den Zug Umsteigen in der fremden Stadt, Gästefans hauen ab Im örtlichen Supermarkt checkt man, was man klauen kann Weiterfahrt mit Proviant, jetzt lassen wir uns richtig gehen Kein Problem, denn wir haben ja schon morgens früh um 10 Oh Shit, doch es muss jetzt weiter gehen Fenster werden verriegelt, wenn sie die Fahnen der Eintracht sehen FFM, SGE, keiner weiß was nun passiert Wo sind eure Leute, denn wir sind druff und motiviert! Ultra Francoforte – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Durchdrehen, Ultrakaos – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Bengalen brennen im fremden Block – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Wir fallen ein mit dem Gästemob – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Ultra Francoforte – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Durchdrehen, Ultrakaos – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Gegner rennen, wenn sie uns sehen – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Bullen kriegen Hass auf Szene – Junge, das ist Auswärtsfahrt! Mal gucken, was ihr Nutten macht, wenn wir durch eure City ziehen Zerlegen heute euer Team, kommt mit auf unser Auswärtsspiel Treffen früh um 5, 6, 7 oder 8 Scheißegal, denn die meisten haben die Nacht durchgemacht Schnell eins, zwei Sixxer eingepackt und eins, zwei Kilo Gras für den Tag Alle sind am Start Und weil Fenster keiner mag gehen diese halt kaputt Vorher vollgetaggt, jetzt frische Luft und uns’re Zivis schieben Riesenfrust Kurz nach 8, wir fahren endlich los Kiff und Suff, schon verpufft, alle druff Checkt ma’ euren Hauptbahnhof, denn da ist ’ne Menge los
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Bengalen fliegen, Rauch geht hoch, du kannst hör’n hundertpro: FFM ist da, jagen euch durch eure Gassen Ihr kleinen Spastiker bis zum Stadion Doch das ist jetzt ne Business-Arena Besser bewacht als Alcatraz, ich wett ’nen Zehner, später Egal bei welchem Gegner, hat der Mob so richtig Bock Rockt der Block und alle sind geschockt! Wir kommen an und rennen rum, Bullenschweine gucken dumm Trikots hauen ab, hinterm Zaun mucken sie rum Wieder Cops mit Knüppeln, ein paar Flaschen und wir drehen uns zurück Im Block: Rauch steigt auf und der Heimmob ist stumm Wenn wir in eurer Kurve stehen und dann uns’re Lieder singen Vergisst du alles um dich, der Adler ist tief in dir drin Stimmgewalt als eins geballt, euer Block muss untergehen Niederlage scheißegal, weil es uns nicht um Punkte geht Frankfurt wieder angekommen, noch ein Bier im Bahnhofsviertel Dann gehts heim, denn die Sonne steht schon am Himmel Ein paar Stunden Schlaf, bis der Wecker wieder klingelt Das ist unser Leben, Ultrakaos, scheißegal, wie ihr es findet Rückfahrt dann total am Arsch, wieder mal ein geiler Tag Wieder mal so viel passiert, dass ich mal wieder schreiben kann München, Berlin, Hamburg-Reeperbahn bis 3 Uhr Nachts Mit dem Adler auf der Brust und was hast du heute gemacht?
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Ultras und Streetart
Ultras und Graffiti – Ein Aufeinandertreffen zweier Subkulturen A NDREAS G RÜN
1. E INLEITUNG Eine Auseinandersetzung mit Ultras als Subkultur beinhaltet auch eine Analyse der Ausdrucksformen, die Ultras für ihre Zwecke nutzen. Hierzu zählen die Lieder, die über 90 Minuten in den Fußballstadien und darüber hinaus auf An- und Abreisewegen gesungen werden. Hinzu kommen Schwenk- und Zaunfahnen, die das Bild der aktiven Kurve prägen. Bei besonderen Spielen oder Anlässen führen die Ultras Choreographien durch und malen Spruchbänder (vgl. Gabler, 2011, S. 62 f.). Bereits an dieser Stelle tritt eine weitere Jugend- beziehungsweise Subkultur in den Fokus. Viele Choreographien und Spruchbänder sind nicht einfach nur gemalt, sondern werden gesprayt und im Graffiti-Style gehalten. Folglich ist bereits bei der äußeren Betrachtung der Ultras in den Stadionkurven eine Verbindung zwischen Ultras und Graffiti zu erkennen. Doch nicht nur dort. Seit vielen Jahren prägen Graffitis, Malereien und Aufkleber die Optik, nicht nur amerikanischer, sondern auch vieler europäischer Städte. Ein Bezug zwischen der Ultra-Szene und der Hip-Hop-Szene existiert bereits seit längerem. Da diese Verbindung jedoch in einem anderen Kapitel dieses Buches behandelt wird, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden (s. Beitrag von Ludger Krol in diesem Band zum Thema Ultras und Hip Hop). Erst in den letzten Jahren ist zu beobachten, dass auch immer mehr Ultras Graffiti für sich entdecken (Blickfang Ultra, 2008, S. 46 ff.). Dies führt dazu, dass nicht mehr nur Namen oder Gemälde von klassischen Graffiti-Künstlern zu sehen sind, sondern des Öfteren die Namen oder Kürzel von Fußballvereinen oder Fangruppen an Wänden oder Zügen sichtbar werden.
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Damit Zusammenhänge zwischen beiden Bewegungen, der Ultra-Bewegung auf der einen Seite und der Graffiti-Bewegung auf der anderen Seite, besser verstanden werden können, liefert dieser Beitrag zunächst einen Einblick in die GraffitiKultur: So wird zu Beginn auf die Geschichte der Graffiti-Szene eingegangen, bevor eine Beschreibung der wichtigsten Begriffe erfolgt. Danach werden die Szene und ihre Motivation näher erörtert und im Anschluss ein Blick auf die Regeln der Graffiti-Kultur geworfen. Im darauffolgenden Kapitel sind die Ultras und deren Verbindung zu Graffiti Gegenstand der Betrachtung. Dabei liegt der Schwerpunkt auf aktuellen Trends und Entwicklungen sowie auf Hintergründen der Rezeption von Graffiti im Kontext der Ultra-Kultur. Zum Abschluss des Beitrags werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Kulturen dargestellt und in ein abschließendes Fazit überführt.
2. G RAFFITI Als Graffiti kann man das „Zerlegen von Kunst und Design in ihre Grundbausteine und deren Neuformierung durch die individuelle Signatur [der GraffitiKünstler]“ (Waclawek, 2012, S. 12) verstehen. Dabei kommunizieren die Sprayer mithilfe ihrer Graffitis mit der Umwelt und insbesondere innerhalb der Szene. Graffiti kann in verschiedenen Kontexten verstanden werden. Zum einen als Aspekt einer Jugendkultur: In diesem Fall hilft Graffiti den Jugendlichen ihre eigene Identität zu finden. Durch die Verlängerung der Adoleszenz und dem Druck, seine Biographie selbst gestalten zu müssen, kann die Graffiti-Szene einen Platz bieten, in dem sich die Jugendlichen selbst finden und Halt gewinnen (vgl. Keim & Christl, 2000, S. 54). Eine wichtige Rolle wird in diesem Prozess der Verbundenheit zu anderen Graffiti-Künstlern und der Abgrenzung zur Außenwelt zugeschrieben. Neben dieser Verbundenheit spielt jedoch auch das Erlernen von Regeln eine große Rolle in der Szene (vgl. Keim & Christl, 2000, S. 8). So müssen gewisse Hierarchien anerkannt werden, in denen man selbst durch Ruhm und Achtung aufsteigen kann. Carolin Steinat beschreibt diesen Vorgang unter Bezug auf Bourdieu als Gewinnung von sozialem Kapital durch Mut und Geschicklichkeit beim Sprayen (vgl. Steinat, 2004, S. 65). Zum anderen als Aspekt einer Protestkultur: Dabei steht vor allem der Protest gegen Besitzverhältnisse und gegen standardisierte Kommunikationsformen im Vordergrund. Insbesondere von der gesellschaftlichen Kommunikation und der mit dieser verbundenen Teilhabe fühlen sich gerade Jugendliche ausgeschlossen (vgl. Steinat, 2004, S. 65). Der dritte Kontext ist im Bereich der Kunst
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zu finden: Dabei ist Graffiti als Kunst anzusehen, die auf der Straße und damit aus der Bevölkerung heraus entstanden ist. Deswegen wird sie von einigen Autoren zur Volkskunst zugeordnet (vgl. ebd.). 2.1 Der historische Kontext und die Entwicklung Die Geschichte von Graffiti beginnt in Philadelphia. Dort wurden in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erste Schriftzüge an Häuser gesprayt (vgl. Waclawek, 2012, S. 12). Diese bestanden hauptsächlich aus Buchstaben und stellten den Namen des Writers, also des Künstlers, dar. Richtig bekannt wurde Graffiti jedoch erst im Laufe der 1970er Jahre in New York (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 71). Dort hinterließ ein Botenjunge seinen Schriftzug (TAKI183) auf seinem Weg durch die Stadt. Diesem Beispiel folgten im Laufe der Zeit weitere Jugendliche. Für viele von ihnen waren es ein Weg und eine Möglichkeit, mit den beschäftigungslosen Zeiten umzugehen. Mit der Zeit schlossen sich verschiedene Writer zu Gruppen, den sogenannten Crews, zusammen (vgl. ebd.). Die damaligen Graffitis bestanden aus den Namen der Writer und der Straßennummer, aus der diese stammten. Ab Mitte der 1970er Jahre wurden die Styles erweitert, Schriftzüge wurden eindrucksvoller und neue Verzierungen kamen hinzu. Der kommerzielle Durchbruch gelang der Szene in den 1980er Jahren, als erste Graffiti-Künstler auch in Galerien auftauchten und Bildbände sowie Filme das Geschehen in der Szene näher beleuchteten (vgl. Blickfang Ultra, 2008, S. 46). Zu dieser Zeit wurde auch die Jugend in Europa auf Graffiti aufmerksam (vgl. Blickfang Ultra, 2008, S. 46; Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 71; Typeholics, 2003, S. 36; Waclawek, 2012, S. 12). In Deutschland verhalfen insbesondere bemalte Züge und Straßen- bzw. UBahnen zu Ruhm innerhalb der Szene und zu einem Bekanntheitsgrad von Graffiti außerhalb der Szene. Auf diese Weise fand eine weitere Kommerzialisierung von Graffiti statt, die sich in neuen Magazinen, sogenannten Graffiti-Shops und Filmen verdeutlichte und darüber hinaus ein großes Ansehen der Writer unter Gleichaltrigen auslöste (vgl. Blickfang Ultra, 2008, S. 47). Die gesamte Szene öffnete sich in diesem Zusammenhang der Gesellschaft und vergrößerte so ihr Handlungsspektrum. Denn zum einen wuchs die Szene hinsichtlich der Anzahl an Writern, zum anderen entstanden neue Styles, die zum Beispiel in der Street Art ihre Fortsetzung fanden (vgl. ebd.). Grundsätzlich weißt die Graffiti-Szene eine enge Verbindung zur Hip-HopSzene auf. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Hip-Hop-Events gerade Ende der 80er Jahre und in den 1990er Jahren als Treffpunkte fungierten oder Graffiti-Künstler im Rahmen von sogenannten Jams, also Veranstaltungen, auf
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denen die Elemente der Hip-Hop-Kultur, Rap, Breakdance und Graffiti vorgeführt werden, ihr Können beweisen und sich mit anderen Künstlern messen konnten (vgl. Keim & Christl, 2000, S. 8). Allerdings sind Graffiti und Hip Hop heute nicht mehr so stark miteinander verbunden wie noch zu Beginn der Graffiti-Bewegung. Insbesondere ältere Sprayer legen noch Wert auf die Verbindung zum Hip Hop, während viele jüngere Writer nicht nur aus der Hip-Hop-Szene beeinflusst wurden, sondern auch anderen Musikrichtungen zuzuordnen sind (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 249). 2.2 Begriffe An dieser Stelle soll zunächst der Begriff Graffiti selbst untersucht werden. Betrachtet man die Etymologie des Wortes Graffiti, so fällt auf, dass die Wurzeln des Begriffs im griechischen graphein und dem italienischen graffiare liegen, die so viel bedeuten, wie einritzen, malen, schreiben. Ursprünglich wurden unter diesem Begriff Techniken aus der Antike betrachtet, bei denen geritzte Botschaften eine Rolle spielten. Im 20. Jahrhundert fand eine Ausdehnung des Begriffs auf Straßenmalereien und die heutigen Graffitis statt (vgl. Hinz, 2011, S. 9 ff.; Steinat, 2004, S. 64). Die drei elementaren Grundbausteine von Graffiti sind Tags, Throw-Ups und Pieces. Ein Tag präsentiert eine der Grundformen des Graffitis. Dabei handelt es sich um den Namen oder um ein individuelles Logo des Writers, das relativ schnell an den entsprechenden Flächen angebracht wird (vgl. Waclawek, 2012, S. 14 f.). Verziert wird der Name oft noch mit gemalten Farbtropfen, Wolken oder Bubbles, damit mehr Dynamik in das Graffiti kommt. Beim Verbreiten von Tags geht es den Writern in erster Linie um das Zeigen von Präsenz, wodurch wiederum das Ansehen in der Szene steigen soll (vgl. ebd.). Allerdings werden Tags nicht als besondere Qualität oder Herausforderung angesehen (vgl. ebd.). Oftmals werden Tags dazu genutzt, die Qualität der Buchstaben zu verbessern und neue Bewegungen und Fingerfertigkeiten einzuüben. Die Auswahl von Tags beziehungsweise der Name des Sprayers erfolgt in der Regel nach der Ästhetik der aneinandergereihten Buchstaben und dem Klang des Wortes (vgl. ebd.). Dabei muss es sich nicht um ein real existierendes Wort handeln, sondern oft sind es frei erfundene Wörter, bei denen die Buchstaben passend aneinander gereiht werden. Darüber hinaus können die Namen auch Einstellungen verkörpern und verdeutlichen, wie man von außen wahrgenommen werden möchte (vgl. ebd.). Der individuelle Tag ist somit das bedeutendste Symbol, was den Künstler selbst repräsentiert (vgl. Waclawek, 2012, S. 14 f.).
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Unter Throw-Ups werden größere und umfangreiche Tags verstanden, die Mitte der 1970er Jahre aus verzierten Tags entstanden. Throw-Ups sind im Vergleich zu Tags deutlich größer und farbenfroher (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 72 f.). Hinzu kommen zusätzliche Umrisse und Schatten der Buchstaben, die oft im Bubble-Style, Wild-Style oder 3D-Style angebracht werden. Auch bei Throw-Ups spielt, ähnlich wie bei den Tags, das Üben des eigenen Styles eine Rolle. Bei diesen Formen des Graffitis können die Writer sich weiter ausprobieren und neue Techniken erlernen (vgl.; Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 72 f.; Waclawek, 2012, S. 16). Die Steigerung der Throw-Ups sind die Pieces. Diese überragen die ThrowUps in ihrer stilistischen und farbenfrohen Gestaltung. Das Wort Pieces leitet sich vom Wort Masterpieces ab und kann somit als Meisterwerke der Sprayer verstanden werden (vgl. Waclawek, 2012, S. 18 f.). Bei Pieces steht, im Gegensatz zum Tag und Throw-Up, die Qualität und künstlerische Gestaltung im Vordergrund. Sprayer können mit Hilfe von Pieces ihre technischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Neben Namen oder Buchstaben enthalten Pieces oft auch Figuren oder figurative Darstellungen (vgl. ebd.). Neben den gerade dargelegten Formen von Graffiti können Passanten auf den Straßen auch andere Formen von Kunst begutachten. Als Sammelbegriff hierfür dienen die Ausdrücke urbane Kunst oder Street-Art. Graffiti lässt sich als Teil dieser Kunstform verstehen, ging ihr aber voraus. Daher wird die urbane Kunst oft auch als Post-Graffiti-Kunst verstanden (vgl. Waclawek, 2012, S. 28 ff.). Diese wird als vielseitiger angesehen als die eigentliche GraffitiKunst. So wird weniger auf Buchstaben als vielmehr auf Figuren oder Symbole gesetzt. Auf diese Weise können mehr Personen angesprochen und die Botschaften der Künstler besser verbreitet werden. Dies ist ein großes Anliegen der Street-Art und übersteigt das vor allem durch Tags gezeigte Territorialverhalten vieler Graffiti-Künstler (vgl. ebd.). Die teilweise verschworenen Strukturen der Graffiti-Szene werden dabei aufgebrochen, da sich die Street-Art-Szene als weniger exklusiv ansieht und sich vermehrt nach außen öffnet. Einige Künstler der Street-Art-Szene gehörten zuvor der Graffiti-Szene an, haben sich aber mit der Zeit von dieser abgewandt. Dies hat zur Folge, dass die Street-Art-Szene eher aus „älteren“ Männern besteht und deutlich mehr Frauen aktiv sind als in der Graffiti-Szene (vgl. ebd.). Auch die Spraydose ist nicht mehr alleiniges Handwerkzeug, da auch Schablonen, Aufkleber, Plakate oder Kreide genutzt werden. Gerade in den letzten Jahren erreichten Stencils und Logos als bestimmte Formen der Street-Art größere Bekanntheit (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 76; Typeholics, 2003, S. 86; Waclawek, 2012, S. 28 ff.).
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Unter Stencils versteht man Bilder, die mit Schablonen gezeichnet oder gesprayt wurden. Jeder Künstler hat dabei seinen eigenen Style und oft auch eine bestimmte Richtung beziehungsweise Art von Botschaften, die er mit seinen Stencils verbreiten möchte. Da es den Street-Artisten darum geht, möglichst viele Menschen anzusprechen, versuchen sie durch ihre Stencils eine Beziehung zu den Betrachtern herzustellen oder dem Ort eine neue Form des WahrgenommenWerdens zu verleihen (vgl. Waclawek, 2012, S. 32 ff.). Oft werden dafür die Stencils in ironischer Art und Weise in den Ort integriert. Logos versinnbildlichen dem gegenüber eher den Künstler selbst und sollen diesen als Signatur repräsentieren (vgl. ebd.). 2.3 Die Szene und ihre Beweggründe Grundsätzlich ist es schwierig, genaue Angaben über die Zusammensetzung der Graffiti-Szenen zu tätigen. Insbesondere das Agieren der Writer im illegalen Bereich macht ein Erforschen und Sammeln von szenetypischen Eigenschaften schwierig. Es ist jedoch zu vermuten, dass der größte Teil der Writer männlich ist und überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht stammt. Das Durchschnittsalter liegt in der Regel zwischen 14 und 25 Jahren (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 71). Diese Altersangaben treffen in erster Linie auf den illegalen Bereich zu, denn auch ältere Writer sind oftmals noch aktiv, halten sich jedoch im Gros im legalen Bereich auf (vgl. ebd.). Die zuvor erwähnte Crew stellt einen Zusammenschluss von Künstlern dar, dem oft fünf bis zwanzig Writer angehören. Allerdings können einzelne Writer auch Mitglied in mehreren Crews sein. So zum Beispiel in ihrer Heimatstadt und in einer fremden Stadt, in der sie persönliche Kontakte pflegen. Das Alter der Crews reicht von über 30 Jahren bis hin zu Crews, die nur kurz existierten (vgl. Blickfang Ultra, 2008, S. 46; Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 75; Keim & Christl, 2000, S. 54). Der Bedeutungsgehalt der eigenen Szene, der bestehenden Freundschaften und damit verbundenen Aktivitäten ist für Graffiti-Sprayer sehr groß. Dies hat zur Folge, dass die eigenen Aktivitäten oftmals zeitaufwendig sind und so im Mittelpunkt des Alltags oder zumindest der Freizeit stehen. Dazu zählen zum Beispiel das Entwerfen neuer Tags oder Pieces in sogenannten Skizzenbüchern, aber auch das Sammeln von Informationen über mögliche Orte, an denen gesprüht werden kann (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 73). Dass sich der Lebensmittelpunkt der Sprayer um Graffiti dreht, sieht man nicht zuletzt daran, dass der Freundeskreis in der Regel aus der Szene entspringt und viele Sprayer
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auch einen Beruf im grafischen oder gestalterischen Bereich finden (vgl. ebd.; Walde, 2011, S. 34). Die Strukturen der Szene werden in erster Linie durch das Können der Writer bestimmt. Dabei gebühren dem besten Sprayer das größte Ansehen und die höchste Position innerhalb der Szene. Besonders gute Writer oder Sprayer mit einem herausragenden Style werden als Kings oder Queens bezeichnet. Demgegenüber stehen die Toys, bei denen es sich um Writer handelt, die sich noch keinen großen Namen innerhalb der Szene gemacht haben (vgl. Waclawek, 2012, S. 25 f.). Sie sind öfters mit Kings oder Queens unterwegs und versuchen, bei diesen neue Techniken abzuschauen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es in den meisten Fällen nicht um einen Wettkampf geht, sondern darum, den eigenen Style und das eigene Können für sich und die eigene Gruppe zu präsentieren. Das Malen an sich steht im Vordergrund und weniger der kompetitive Vergleich mit anderen Künstlern (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 253; Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 75; Waclawek, 2012, S. 25 f.). Die szeneinterne Anerkennung und der Ruhm, der sogenannte fame, sind darüber hinaus die größten Antriebe für viele Sprayer. Diese Anerkennung erfolgt jedoch nicht über die Medien, sondern durch den Respekt anderer Künstler. Entscheidend für diesen ist allerdings nicht nur durch Qualität des Graffitis, sondern auch der Schwierigkeitsgrad und die Gefährlichkeit bei der Anbringung (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 73). Des Weiteren sind die Verbesserung des eigenen Styles und der eigenen künstlerischen Gestaltungsfähigkeit zusätzliche Motive, die Writer zu neuen Graffitis veranlassen. Die Writer selbst sehen ihre Graffitis als individuelles Lebenszeichen und Behauptung ihrer Existenz. Sie wollen mit ihren Graffitis die Stadt mitgestalten, Präsenz zeigen und Lebensraum prägen. Dazu zählt auch, zu verdeutlichen, wem die Stadt gehört. In diesem Zusammenhang hat der Slogan „Reclaim the streets“ seinen Ursprung, der, ähnlich wie der in der Ultra-Szene bekannte Spruch „Reclaim the game“, einen Anspruch auf Mitgestaltung erhebt (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 73; Keim & Christl, 2000, S. 37; Steinat, 2004, S. 65). Neben der Rückeroberung der Stadt und dem Ruhm innerhalb der Szene sind als weitere Motive von Graffiti-Sprayern das Ausleben von Kreativität oder schlichtweg der Spaß an der Sache auszumachen. Es wird als Stressabbau angesehen und dient somit als Ausgleich zum Alltag (vgl. Typeholics, 2003, S. 60; Walde, 2011, S. 12 und S. 28 f.). Kommuniziert wird innerhalb der Graffiti-Szene in erster Linie über die Wände und Züge in der Stadt, auf denen entsprechende Botschaften hinterlassen werden, die von Szene-Mitgliedern sofort erkannt werden. Darüber hinaus dient das Internet als Kommunikationsplattform und verschiedene Magazine, wie „On
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the run“, „Bad Taste Magazin“ oder „Chemistry Magazine“, lieferten oder liefern ebenfalls immer wieder Einblicke in die Szene (vgl. Keim & Christl, 2000, S. 37). Hinzu kommen verschiedene Filme die zum Teil von den entsprechenden Crews selbst aufgenommen werden und in denen sie ihre Aktivitäten festhalten und der Öffentlichkeit den Entstehungsprozess sichtbar machen. Als Beispiele hierfür können der Film „One United Power“ der Berliner Graffiti-Szene 1UP oder auch der im November 2015 erschienene Film „Blau Weiß Rot“ der Graffiti-Szene von Hansa Rostock aufgezählt werden. Aufgrund der mittlerweile guten Vernetzung zwischen den Writern sind gezielte Treffpunkte, früher beispielsweise oftmals U-Bahnstationen, heute nicht mehr notwendig (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 75). 2.4 Regeln Grundsätzlich existieren nicht viele Regeln innerhalb der Graffiti-Szene. Trotz alledem gibt es ein paar ungeschriebene Gesetze, die insbesondere für neu hinzugekommene Sprayer zu beachten sind. Dabei geht es zum einen um die Hierarchie innerhalb der Szene. Diese ist zu beachten und sollte auch beim Crossen, also dem Übersprühen oder Übermalen von fremden Graffitis, eingehalten werden. So werden Graffitis von Kings oder Queens nur selten übermalt, während die Werke von Toys häufiger neuen Graffitis zum Opfer fallen, besonders, wenn sie an einem „lukrativen“ Ort angebracht sind. Grundsätzlich ist aber das Crossen in der Szene nicht beliebt und wird als respektlos und aggressiv angesehen. Sollte es dennoch dazu kommen, kann dies oft den Beginn eines Battles, also eines Wettstreits zwischen den Sprayern darstellen (vgl. Waclawek, 2012, S. 27). Mit dem Übermalen von Graffitis kann nicht nur die Hierarchie von Sprayern verdeutlicht werden, sondern auch ein Gefühl der Überlegenheit zum Ausdruck gebracht werden. Dem gegenüber kann eine Anerkennung erfolgen, wenn ein Writer seinen Tag neben Tags oder Pieces eines anderen Künstlers setzt (vgl. Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 74; Waclawek, 2012, S. 27). Neben dem Übermalen oder Übersprühen von fremden Graffitis gilt auch die Übernahme eines anderen Styles als verpönt. Die Writer sind in der Regel bestrebt, ihren eigenen Style zu entwickeln und nicht den Style eines anderen zu kopieren (vgl. Keim & Christl, 2000, S. 8 und 37). Spricht man im Zusammenhang mit Graffiti von Regeln, so kann auch die Tatsache, dass Graffitis im Grunde gesetzlich verboten sind, nicht außer Acht gelassen werden. Wie bereits erwähnt, stellt gerade dies einen Ansporn für viele Writer dar: Je gefährlicher der Ort für ein Graffiti ist, desto größer das Ansehen in der Szene. Und zum Gefährlichkeitsgrad gehört auch das Risiko, erwischt zu
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werden. Somit macht auch das „Katz-und-Maus-Spiel“ zwischen den Writern und der Polizei einen wichtigen Bestandteil der Szene aus (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 251 f.; Keim & Christl, 2000, S. 94; Typeholics, 2003, S. 36 ff.).
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Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Graffiti-Szene näher beleuchtet wurde, wird im Folgenden die Verbindung zwischen Ultras und Graffiti herausgestellt. In diesem Zuge fällt der Blick zum einen auf aktuelle Entwicklungen und dem direkten Kontakt zwischen Ultras und Graffiti und zum anderen auf die Motivation der Ultras, Graffitis als Ausdrucksformen ihrer Kultur zu nutzen. 3.1 Entwicklung und aktuelle Beobachtungen Wie bereits zu Beginn des Beitrags ausgeführt, stellen visuelle Darstellungen wichtige Elemente der Ultra-Kultur dar. Über diesen Weg fand auch Graffiti Einzug in die Ultra-Szene. Beziehungen zwischen Graffiti-Szene und Fußballfans bestehen aber schon länger: Bereits in den 1990er Jahren gab es verschiedene Hooligan-Gruppen, wie die F-Side Hooligans aus Amsterdam, die mit den Writern der Graffiti-Szene Kontakt hatten oder selbst darin aktiv waren (Blickfang Ultra, 2008, S. 48). Die Visualisierung von Fangruppen im öffentlichen Raum – und damit einhergehend dessen territoriale Aneignung – geht jedoch noch weiter zurück, im Grunde sogar bis vor die Anfänge von Graffiti. Denn noch bevor Graffiti nach Europa kam, gab es fußballbezogene Slogans oder Vereinsnamen auf den Wänden der Städte zu lesen (vgl. ebd.). Aktuell ist vielerorts zu beobachten, dass die Graffiti-Szene der Stadt mit der Ultra-Szene in Kontakt steht, die Gruppen sich respektieren oder sogar Freundschaften entstehen. Dabei ist es jedoch den Ultras wichtig, dass nur Sprayer aus ihren Reihen die Kürzel der Ultra-Gruppe verwenden (vgl. ebd.). Trotzdem wird es gerne gesehen, wenn die anderen Sprayer der Stadt auch das Vereinskürzel in ihre Graffitis einbauen. Die klassischen Graffiti-Writer standen den neuen Einflüssen durch die Ultras allerdings zunächst eher kritisch gegenüber. Grund hierfür war in erster Linie die fehlende künstlerische Qualität der sprayenden Ultras. Dies hatte zur Folge, dass zu Beginn einige Graffitis der Ultras von klassischen Writern auf Grund fehlender Qualität übermalt wurden (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 254 f.). Mittlerweile hat sich die Einstellung innerhalb der Graffiti-Szene gegenüber den
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Ultras verbessert, da erkannt wurde, dass es den Ultras hauptsächlich um die Verbreitung ihres Namens geht. Solange klassische Graffitis nicht übersprüht werden, ist das aus Sicht der Writer akzeptabel (vgl. ebd.). Ungeachtet dessen ist vielen Ultras nicht bewusst, dass in den meisten Fällen die Graffiti-Szene zuerst vor Ort war. Aus diesem Grund vertreten die Writer die Ansicht, dass die Fußballfans die Graffiti-Szene samt ihren Regeln akzeptieren und respektieren sollten. Da mittlerweile jedoch, wie bereits erwähnt, viele Ultras mit der ortsansässigen Graffiti-Crew befreundet sind oder zumindest Kontakte zu dieser pflegen, halten sich auch viele Ultras an die Regeln. Außerdem sehen die klassischen Graffiti-Writer einen Nutzen in dieser Entwicklung, da neue Personen die Leidenschaft am Graffiti erkennen und schätzen lernen (vgl. ebd.). 3.2 Motivation Anders als in der Graffiti-Szene geht es den Ultras vorrangig nicht um Styles oder Ruhm innerhalb der Szene, sondern um Bekanntheit und Markierung ihres Territoriums (vgl. Sommerey, 2010, S. 94). Bei Ultras scheint es daher weniger auf die Qualität, sondern mehr auf Quantität ihrer Präsenz im Stadtbild anzukommen. Dies bezieht sich zum einen auf ihre eigene Stadt oder ihr eigenes Viertel, zum anderen aber auch auf fremde Städte, in denen der eigene Gruppenname hinterlassen wird. Dadurch soll besonders den nicht so gerne gesehenen Nachbarvereinen aus der Region gezeigt werden, wer in der Gegend die mächtigere oder bedeutendere Gruppe ist (Blickfang Ultra, 2008, S. 47). Des Weiteren soll mit Hilfe der Graffitis auch die Kritik am kommerzialisierten Fußball verdeutlicht werden. Insbesondere der alte Name des Stadions, der noch keinen Sponsor in sich trägt, wird dafür gerne an den Wänden in Stadionnähe angebracht (vgl. ebd.). Obwohl es zwar, wie eben beschrieben, den Ultras in erster Linie um Quantität der Präsenz geht, verbinden trotzdem einige Gruppen den Verschönerungsgedanken mit Graffitis. Gleichwohl dieser nicht so eine große Rolle spielt wie bei den klassischen Sprayern, so wollen auch Ultras mit ihren Graffitis die Stadt in ihrem Sinne verschönern und die Liebe zur Stadt und zum Verein nach außen präsentieren (Blickfang Ultra, 2008, S. 50). 3.3 Elemente Unter Ultras gehören die Tags zu den beliebtesten Arten von Graffiti, da sie sich besonders gut eignen, den öffentlichen Raum zu markieren. Sie können relativ schnell und einfach gesprayt werden und dienen somit der schnellen Anbringung
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des eigenen Gruppennamens oder des Vereins- bzw. Stadtnamens. Somit kann gegnerischen Gruppen mit wenig Aufwand gezeigt werden, wer vor Ort war. Als Anbringungsort dienen dafür nicht nur Wände, sondern auch sehr gerne Züge, die von der eigenen Stadt in die benachbarte Stadt fahren (Blickfang Ultra, 2008, S. 47 ff.; Blickfang Ultra, 2015, S. 16). Die Ultras sprühen ihre Graffitis jedoch nicht nur auf Züge oder Wände, sondern auch auf Zaunfahnen oder Transparente, die während der Spiele dem Publikum präsentiert werden. Neben Graffitis sind bei Ultras vor allem Aufkleber sehr beliebt, die überall in der Stadt und an öffentlichen Verkehrsmitteln angebracht werden. Diese enthalten oftmals das Wappen des Vereins, das Logo der Gruppe oder auch Slogans und Statements, die eine Haltung oder Ansicht der Ultras nach außen präsentieren. Hier zeigt sich, dass sich Ultras nicht nur Elemente der Graffiti-Kultur, sondern auch Bestandteile der Street-Art angeeignet und hinsichtlich ihrer kulturellen Ansprüche angepasst haben (vgl. ebd.).
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Nachdem auf die Beziehung zwischen Ultra und Graffiti eingegangen wurde, erfolgt nun ein direkter Vergleich, bei dem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Subkulturen ausgeführt werden. 4.1 Gemeinsamkeiten Bei einem Vergleich der Graffiti- und der Ultra-Kultur fällt auf, dass zwischen beiden einige verbindende Elemente existieren. Zum einen ist die Leidenschaft anzuführen, mit der Mitglieder beider Kulturen in den jeweiligen Handlungsfeldern agieren. Denn Szene-Aktivitäten stellen für Graffiti-Künstler wie Ultras einen wesentlichen Bestandteil ihres Lebens dar, dem viele andere Aspekte des Alltags untergeordnet werden; zum Beispiel besteht oftmals der Freundeskreis zu großen Teilen aus anderen Szene- oder Crewmitgliedern (vgl. Gabler, 2011, S. 70 f.). Dies weist den Weg zu einer weiteren Gemeinsamkeit, nämlich dem starken Zusammenhalt innerhalb der Gruppe und einer großen Loyalität zwischen den Mitgliedern. Sowohl Ultras als auch Writer führen viele Aktionen im Kreise ihrer Gruppe oder Crew durch und verbringen somit viel Zeit mit den anderen Gruppen- oder Crewmitgliedern (vgl. ebd). Beide Szenen eint zudem, dass ein gewisser Grad an Organisation nötig ist, damit geplante Aktionen erfolgreich als Gruppe durchgeführt werden können. Die in diesem Zuge entstehenden Gruppenstrukturen sind dabei häufig recht ähnlich. Innerhalb dieser ist es den
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Mitgliedern möglich, durch großes Engagement sowie durch Kompetenzen und spezielle Fähigkeiten im Rang aufzusteigen beziehungsweise Ansehen innerhalb der Szene zu erlangen (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 256). Beide Szenen sind eher männlich geprägt und der erste Zugang zur entsprechenden Subkultur erfolgt in der Regel im jugendlichen Alter (vgl. Sommerey, 2010, S. 79). Beide Kulturen verbinden zudem eine grundlegende kommerzkritische Haltung sowie ein Streben nach gesellschaftlicher Mitsprache, die nach außen kommuniziert werden. Dabei steht häufig die Eroberung und Gestaltung eines öffentlichen Raums im Fokus, den beide Kulturen für sich beanspruchen. Während für die Graffiti-Szene der Slogan „Reclaim the streets“ gilt, kann den Ultras das Statement „Reclaim the game“ zugeordnet werden. Die Kritik geht dabei soweit, dass sich Ultras oder Writer als Gegenpol zur Konsumgesellschaft oder anderen Jugendbewegungen sehen und bevorzugt eigene Regeln und Normen aufstellen (Gabler, 2011, S. 92 ff.; Sommerey, 2010, S. 96 ff.). Dies führt häufig zu Konflikten mit der Polizei, die sowohl aus Sicht der Ultras als auch der Writer teilweise sinnlose Verbote aufstellen und durchsetzen. Dieser Punkt verdeutlicht, dass sich beide Kulturen oft am Rande der Legalität aufhalten oder sogar gesetzlich illegale Aktionen durchführen, wie beispielsweise das Besprühen von Wänden und Zügen bei der Graffiti-Szene oder das Zünden von Pyrotechnik bei den Ultras. In dem Umgehen dieser Verbote und dem Reiz, Regeln zu brechen, lässt sich somit ein weiteres gemeinsames Merkmal erkennen (vgl. Blickfang Ultra, 2015, S. 18 ff.; Commando Cannstatt, 2013, S. 256; Gabler, 2011, S. 156 f.). Ein zusätzlicher verbindender Aspekt ist in der eigenen Weiterentwicklung und Verfeinerung der Skills zu finden: Während Writer stets bemüht sind, ihren Style und damit einhergehend ihre Tags oder Pieces zu verbessern, versuchen Ultras bei jedem Spiel, sich selbst zu überbieten; neue Lieder werden gesungen, alte Lieder sollen noch lauter gesungen werden oder Choreographien sollen verbessert werden (vgl. Gabler, 2011, S. 70 ff.). Hieraus wird ersichtlich, dass die Aktionen beider Szenen in erster Linie für sich selbst durchgeführt werden. Sowohl Ultras als auch Writer investieren viel Zeit und Geld, ohne von außen eine Gegenleistung zu erhalten. Mit dem Aspekt, das eigene Wirken stets zu verbessern, geht auch das Streben nach Anerkennung innerhalb der Subkultur einher (vgl. ebd.; Commando Cannstatt, 2013, S. 252 ff.). 4.2 Unterschiede Ein großer Unterschied zwischen der Ultra- und Graffiti-Szene besteht bereits in der Zusammensetzung der Gruppen. Ultragruppen sind in der Regel deutlich größer als Graffiti-Crews. Dies führt dazu, dass die Vertrautheit und gegenseiti-
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ge Kenntnis innerhalb der Graffiti-Crew unter allen Mitgliedern größer ist als zwischen den Mitgliedern einer Ultragruppe (vgl. Gabler, 2011, S. 55 f.; Sommerey, 2010, S. 79 ff.). Aufgrund ihrer Größe sind Crews weniger straff organisiert als Ultragruppen. Bei den Ultras gibt es Personen, die bestimmte Positionen und Aufgaben wie Finanzen und ähnliches innerhalb der Gruppe wahrnehmen. Die Crews sind dagegen freier und autonomer organisiert, da sich die Künstler selbst um ihre Materialien und ähnliches kümmern (vgl. Gabler, 2011, S. 59). Wie bereits erwähnt ist die Leidenschaft für die eigene Sache ein verbindendes Element. Allerdings gibt es dabei auch kleinere Unterschiede. Während es vielen Writern um den Spaß geht, besteht bei den Ultras mehr Ernsthaftigkeit, da es ihr Ziel ist, die eigene Mannschaft zum Sieg anzufeuern und darüber hinaus den ritualisierten Wettstreit um den besseren Support im Stadion zu ihren Gunsten zu entscheiden (vgl. Gabler, 2011, S. 60 f.; Sommerey, 2010, S. 88 und 95). Hieraus wird auch ein Unterschied bezüglich der Organisation ersichtlich. Writer sind relativ frei und können ihre Treffen und Aktionen durchführen, wann sie wollen, während Ultras sehr oft an Termine gebunden sind, die sich in erster Linie an den Terminierungen und Spielplänen der entsprechenden Vereine orientieren (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 256). Ein weiterer Unterschied ist in der Tatsache auszumachen, dass Ultragruppen Ultras anderer Städte oder Länder oftmals als Rivalen und Gegner ansehen und entsprechend feindselig behandeln. Dem gegenüber steht die Graffiti-Szene, in der ein Austausch zwischen Crews aus verschiedenen Städten oder Ländern existiert, der in den meisten Fällen auf freundschaftlicher Basis vonstattengeht (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 252). Daraus resultiert auch, dass es, anders als in der Graffiti- und Street-Art-Szene, bei den Ultras dazu gehört, Graffitis oder Aufkleber anderer Gruppen zu entfernen oder zu übermalen. Es besteht zwar durchaus Respekt vor der Arbeit einer anderen Gruppe, das Verdeutlichen der eigenen Vormachtstellung durch Crossen eines Graffitis stellt aber das deutlich stärkere Handlungsmotiv dar. Dies kann zur Folge haben, dass auch Pieces von Writern aus der Graffiti-Szene, die mit den Ultras nichts zu tun haben, übermalt werden (vgl. ebd.; Blickfang Ultra, 2008, S. 48). Beide Kulturen stehen der Polizei tendenziell negativ gegenüber. Trotzdem gibt es aus Sicht der Polizei den Unterschied, dass Ultras – zumindest an den Spieltagen – leichter zu lokalisieren und ihre Aktivitäten Polizei leichter zu überwachen sind. Somit kann die Polizei im Rahmen der Spiele einfacher gegen Ultras vorgehen, was bei gut organisierten Writern nur schwer möglich ist (vgl. Commando Cannstatt, 2013, S. 251 f.).
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5. F AZIT Als Fazit dieses Beitrags lässt sich zunächst festhalten, dass Ultras und Graffiti heutzutage untrennbar miteinander verbunden sind. Beide Subkulturen verschwimmen ineinander. Dies geschieht nicht nur, weil Ultras auf Elemente der Graffiti-Kultur zurückgreifen, sondern auch, weil sich die Personenkreise vermischen. So sind Ultras mit Graffiti-Crews unterwegs und Graffiti-Writer sind immer wieder in Stadien anzutreffen (vgl. Commando Cannstatt, S. 248 ff.). Darüber hinaus zeigt der Vergleich beider Szenen, dass sie mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Insbesondere Aspekte wie die Leidenschaft und der große Einsatz für die eigene Sache sind hervorzuheben. Aber auch die kritische Haltung gegenüber den bestehenden Strukturen und das Brechen mit existierenden Regeln oder Gesetzen sowie der daraus resultierende Konflikt mit der Polizei sind wesentliche Bestandteile beider Szenen. Als markantester Unterschied kann der Umgang mit anderen Gruppen der eigenen Szene identifiziert werden: Während bei den Ultras der sportliche Wettkampf zwischen den Vereinen im Sinne einer Rivalität zwischen den UltraGruppen weitergeführt wird und in diesem Zuge Graffitis und Aufkleber anderer Ultragruppen übermalt oder überklebt werden, stehen Graffiti-Crews einander eher respektvoll und weniger konfliktträchtig gegenüber. Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, besteht hierin, neben der oftmals fehlenden Qualität der Pieces, der größte Kritikpunkt an der Ultra-Szene von Seiten der Graffiti-Szene. Es zeigt sich, dass der Einfluss der Graffiti-Kultur bei den Ultras vorhanden ist, aber trotzdem noch Kritikpunkte bestehen. Da allerdings beide Szenen immer mehr miteinander verschmelzen, ist davon auszugehen, dass das gegenseitige Verständnis in der Zukunft größer wird und sich somit die Kritik verringert. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie die genaue Entwicklung insbesondere auf Seiten der Ultras weitergeht, da die Geschichte der Ultra-Graffiti-Bewegung noch nicht sehr alt ist. Aus diesem Grund existieren auch noch nicht viele wissenschaftliche Arbeiten, die den Zusammenhang und die Zusammenkunft zwischen beiden Szenen näher beleuchten. Darin ist eine Aufgabe für die zukünftige Forschung zu finden, da aller Voraussicht nach beide Subkulturen noch näher zusammenrücken werden.
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Ultraaufkleber – Botschaft und Kunst im urbanen Raum? P ATRICK B RESEMANN
E INLEITUNG Aus dem heutigen Stadtbild sind Graffiti, Sticker und andere Ausdrucksformen von Street-Art nicht mehr wegzudenken. Sie finden sich als große Bilder auf Häuserwänden, als Wholetrain1 oder nur als Unterschrift des Sprayers oder der Gruppe, den sogenannten „Tags“ wieder. Sowohl den Anwohnern als auch den Behörden oftmals ein Dorn im Auge, gehören insbesondere Graffiti in verschiedenen Jugendkulturen zu den grundlegenden Praktiken. Seit der Jahrtausendwende bildet sich eine immer größer werdende Gemeinschaft von Künstlern im Kontext Street-Art, die eine sehr große Bandbreite besitzt. Neben einer Vielzahl von Aufklebern zählt man auch die aufwendigen Cut-Outs2 dazu, die in Städten und Gemeinden angebracht werden. Dadurch entstehen den Städten und Kommunen oftmals hohe Reinigungskosten, da die Bilder und Tags in den Augen vieler Bewohner und Behörden keine Kunst, sondern bloße Schmierereien oder Beschädigungen sind und auf den Wänden oder Straßenschildern der Stadt nichts zu suchen haben. Um die Szene dennoch zu fördern und eventuellen illegalen Aktionen vorzubeugen, gibt es in vielen Städten Deutschlands mittlerweile Flächen, auf denen legal gesprüht werden darf, um das künstlerische Stadtbild zu bereichern. Diese werden im Regelfall auch gut angenommen, illegale Aktionen
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Ein Zugwaggon, welcher in Gänze mit Graffiti bemalt worden ist.
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Aus Papier geschnittene Motive, welche mit einem starken Kleister auf Wänden oder anderen Untergründen angebracht werden. Oftmals sind diese Motive in schwarzweiß gehalten oder haben nur wenige farbige Akzente.
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gibt es aber nach wie vor und sie überwiegen die legalen. Die Bandbreite an Gründen zu sprayen ist groß. Ob künstlerischer Anspruch, Sozialkritik oder einfach die Markierung von Territorien, all dies und mehr soll über die Spraydose, den Lackstift oder die Aufkleber zum Betrachter transportiert werden. Insbesondere die Sticker werden auch in der aktiven Fanszene im Fußball adaptiert. Über Tags, Graffiti und auch Aufkleber werden Gebiete in und um die Stadt abgesteckt, in der die Szene aktiv ist und sie wird dadurch zudem für Außenstehende sichtbar gemacht. Auch in gegnerischen Stadien und Städten wird geklebt und getaggt. Die Sticker auf der Straße werden oft mit Zuschreibungen wie „rebellisch“, „widerständisch“ und „subversiv“ beschrieben und von außen so etikettiert (Klitzke & Schmidt, 2009). Begriffe, die so auch für die Ultraszene in Deutschland benutzt werden, obgleich bedeutend mehr hinter den Impulsen der Bewegung steht. Insbesondere die Ultrasticker transportieren eine Botschaft, sind oftmals kreativ gestaltet und erfreuen sich großer Beliebtheit in und außerhalb der einzelnen Gruppen. Im Internet gibt es Tauschbörsen, in denen nicht nur die Mitglieder der jeweiligen Ultragruppierungen ihre Sticker für die eigene Szene beziehen, sondern auch Sammler außerhalb des Ultramilieus Sticker suchen, anbieten und tauschen. Auch im Stadion können sie von den jeweiligen Ultragruppen direkt bezogen werden. Die Käuferschaft besteht nicht nur aus den eigenen Anhängern, sondern auch aus Mitgliedern anderen Fangruppen oder sammelfreudigen Einzelpersonen. Durch die hohe Vielfalt findet ein regelrechter Kauf- und Sammlerkult statt, in der Hoffnung stets neue Motive zu bekommen. Die entsprechenden Gruppen kündigen neue Aufkleber oft auf ihren Medienkanälen an und versuchen so schon im Vorfeld Werbung zu machen. Mit PaniniSammelbildchen und dem Kult darum hat diese Art der Aufkleber-Sammelei aber wenig gemeinsam, betrachtet man sowohl die Art als auch die Aussagen der Sticker von Gruppen aktiver Fans, die sich stark von den Stickerbögen aus den Kiosken oder dem Vereins-Merchandising unterscheiden.
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Die Sticker und Tags erfüllen für die Gruppierung nicht vordergründig eine künstlerische Aufgabe, auch wenn sie ein Ausdruck und Beweis der hohen Kreativität innerhalb der Szene sind, welche sich zudem durch Choreographien oder andere Aktionen in und um das Stadion kanalisiert und ein Kernelement dieser Kultur darstellt. So zeichnet Gabler (2010) nach, wie die Szenen durch die Einführung kreativer Elemente wie Banner, Fahnen oder Gesänge weitere Formen der Anfeuerung für ihr Team etablierten, um den Gegner und dessen Fans zu
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demotivieren. Für die Ultras gehören so auch Tags und Aufkleber ihrer Gruppierung dazu, um sich von anderen Gruppen und der Gesellschaft allgemein abzugrenzen, zu provozieren und Rivalitäten, aber auch Freundschaften zu anderen Ultraszenen auszudrücken (Pilz & Wölki-Schumacher, 2010). Oftmals werden dazu auch gewaltverherrlichende, provozierende und militaristische Texte verwendet.3 Ein weiterer Aspekt ist der starke Bezug zur Stadt, den man bei einer Vielzahl der einzelnen Gruppen und deren künstlerischen Aktivitäten, die der Street-Art zugeschrieben werden, erkennen kann. Zudem befindet sich die Ultraszene in einem ähnlichen Konflikt in der öffentlichen Wahrnehmung, wie die Szene der Street-Art, die in der öffentlichen Diskussion zwischen Vandalismus und Kunst wandelt. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die mit Gewalt spielenden Motive und Symboliken der Ultras Kunst oder Provokation oder in manchen Fällen nicht sogar beides sind oder wie die Symbole, die durch die verschiedenen Street-Art Richtungen verbreitet werden, die Identifikation der Ultras mit der Stadt und ihren Normen und Werten unterstützen. Im Folgenden soll das Augenmerk vor allem auf den Stickern und dem Aufkleben eben jener liegen, da diese sehr vielfältig genutzt werden und gegenüber dem klassischen Graffiti einige Vorteile für die Ultraszenen besitzen: Zum einen sind sie relativ günstig in hoher Stückzahl zu produzieren und vielfältig über verschiedene Betriebswege zu verbreiten. So sind die Sticker oft auch eine alternative Finanzierungsquelle für die Gruppen, da diese am Stadion oder über das Internet von ihnen vertrieben werden. Des Weiteren sind sie um einiges mobiler einsetzbar, die Gruppen können sie in größerer Stückzahl mit sich führen und verteilen beziehungsweise verkleben. Im Gegensatz zu den Graffiti oder Tags muss der Ausführende beim Stickern selten über längere Zeit verweilen, sondern es ist möglich, quasi im Vorbeigehen sein Statement setzen und schnell für Außenstehende sichtbar zu machen. Zudem können sie leichter entfernt werden und es lassen sich andere Aufkleber leichter mit oftmals speziell für diesen Fall angefertigten Stickern überkleben, wodurch eine nach außen sichtbare Dynamik entsteht. Das Kleben von Stickern im Street-Art Kontext ist ein noch relativ neues Phänomen: Als Alternative zu Graffiti konnte man die Aufkleber in Europa erstmals seit dem Ende der 1990er Jahre im größeren Stil in den Städten entdecken, verschiedene Street-Art Künstler wie „Solo One“ oder „Grim“ konnten sich
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Einen Einblick in Aufkleber mit gewaltverherrlichenden oder verunglimpfenden Texten und Bildern kann man bei Schrage und Siegl (2008) erhalten, die sich im Unterkapitel „Fußball“ insbesondere mit den Stickern der österreichischen Hauptstadt Wien auseinandersetzen.
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etablieren und teilweise ihre Werke auch kommerziell verwerten.4 Bekannt geworden sind die Sticker als beständige Begleiter im urbanen Umfeld insbesondere im Kontext der BMX- und Skateboardszene, in denen die Aufkleber eine sehr hohe Popularität besitzen und nicht nur die Skateparks und Bushaltestellen schmücken, sondern auch das eigene Sportgerät. Die Sticker verschiedener Subkulturen werden vielfältig benutzt; die Spannweite reicht von antikapitalistischen Aussagen bis zu kommerziellen Stickern, beispielweise Aufklebern von Modemarken oder Läden, die damit Werbung machen möchten. Auf Konzerten können Sticker von Bands mitgenommen oder erworben werden, die dann werberelevant verklebt werden sollen. Im Fußballkontext ist einer der ersten und bis heute in ganz Deutschland genutzten Sticker aus der Szene vom FC St. Pauli wie Hasenbein (2010) betont. Bei diesem Hamburger Stadtteilverein entwickelte sich Anfang der 1990er Jahre insbesondere ein starkes Statement gegen Rechtsextremismus: „St. Pauli Fans gegen Rechts“ ein Aufkleber, der das Logo des Vereins neben einem kaputtgeschlagenem Hakenkreuz und dem genannten Motto zeigt. Davon ausgehend entwickelte sich eine rege Stickerkultur, die das heutige Stadtbild mitgestaltet.
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Ob im Stadion oder im alltäglichen Stadtbild, an Laternenpfeilern oder Straßenschildern, es gibt kaum einen Ort, wo keine Aufkleber von Ultragruppen oder zumindest mit Ultra-spezifischen Themen zu finden sind. Insbesondere in und um Städte mit einer starken aktiven Fanszene wie Nürnberg oder Frankfurt am Main lassen sich fast jeden Tag neue beklebte Orte entdecken. Nicht zwingend fungieren die Sticker dabei als Repräsentanten für die jeweiligen Ultragruppierungen, sondern sie können auch einen allgemeinen, für die gesamte Szene relevanten Inhalt besitzen, zum Beispiel gegen Polizeiwillkür, Stadionverbote oder die ständig steigende Kommerzialisierung des Fußballs. Die Qualität der Sticker ist dabei über die letzten Jahre angestiegen, sowohl was Gestaltung, als auch die Produktion selbst betrifft. Gab es anfangs vor allem eher schlichte Sticker mit dem Namen der Gruppe, oft auch auf den kostenfrei verfügbaren und sich durch gute Klebkraft auszeichnenden Adressaufklebern von Versandanbietern gekritzelt (Reinecke 2012), werden gegenwärtig auch aufwändig designte Sticker ver-
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Reinecke (2012) beschreibt den künstlerischen Werdegang der genannten Künstler, die Aufkleber als Form von Street-Art nach Europa brachten und sich in diesem Metier einen Namen machen konnten.
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wendet. Logos der Vereine und der Ultragruppen, Symbole oder auch etwas abgeänderte Figuren, die popkulturell bekannt sind, werden auf die Aufkleber gedruckt, zusammen mit der Botschaft, die von der Gruppe transportiert werden soll. Es gibt Sticker ohne oder mit UV-Schutz, um das schnelle Ausbleichen der Aufkleber zu verhindern und damit die potentielle Lebensdauer zu verlängern. Für die Gestaltungsmöglichkeiten der Motive gibt es kaum Grenzen. Es werden aber nicht nur neutrale Sticker, die rein die Gruppe repräsentieren sollen, angefertigt und vertrieben, sondern insbesondere auch provokante Motive gegenüber anderen Szenen, die teilweise homophobe oder sexistische Aussagen beinhalten. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Sticker, die versuchen Fanfreundschaften verfeindeter Vereine mit dem Spruch „Schwulenliebe ist okay“ und einer zugehörigen Zeichnung zwei sich küssender Männerfiguren zu verunglimpfen.5 Weit verbreitet sind auch kreative Aufkleber mit historischen, fanpolitischen oder auch fangruppeninternen Aufarbeitungen, die zum Beispiel Fanfreundschaften oder die Solidarität zu verschiedenen anderen Gruppen6 betonen. Oftmals steckt viel Arbeit in dem Design der einzelnen Sticker, manche Aufkleber werden bis heute per Hand gemacht und zusätzlich gibt es noch den Aspekt des Aufklebens an sich. Nicht jede Stelle erweist sich als beklebbar. Glatte Flächen werden von der Beschaffenheit her bevorzugt. Zudem sollen sie auch gut sichtbar sein, damit auch Außenstehende die Botschaft sehen können und diese somit einen Empfänger findet. Um zu wirken, muss der Sticker entdeckt werden. Deshalb werden Aufkleber besonders oft an Laternenpfosten, Straßenschildern, Bus- und Bahnhaltestationen, Hydranten oder auch Elektrokästen geklebt, da diese gut einsehbar sind und tagtäglich von vielen Menschen in der Stadt wahrgenommen werden. So findet der Sticker zumindest potentiell seine Bühne. Diese benötigt er auch, um zu wirken und damit seine Aufgabe als Kunstobjekt zu erfüllen: dem Passanten etwas für das Auge zu bieten und gleichzeitig auch die Botschaft des Stickers in den Köpfen der Betrachter zu verankern, beziehungsweise ein Bewusstsein für die Inhalte der Aufkleber zu schaffen. Wie Baudrillard (1978) treffend beschreibt ist dies die Grundvoraussetzung für die moderne Stadt als Ort für die Exekution der Zeichen. Die Zeichen, in unserem Fall die Sticker, werden in den Grenzen des urbanen Raumes angebracht, die zugehörigen Codes werden wahrnehmbar für andere Akteure und damit erfahrbar gemacht.
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Zum Beispiel Mainz und Bremen, Ultrà Sankt Pauli und Schickeria München oder die sich nahestehenden Szenen in Köln und Dortmund sind häufig aufzufinden.
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Bestes Beispiel dafür ist die Gruppe der Stadionverbotler, mit denen sich Ultras solidarisieren und so gegen die Praxis der Vergabe von Stadionverboten demonstrieren.
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Auf außenstehende Betrachter mögen die Motive ab und an befremdlich wirken, insbesondere da sich die Aufkleber der Ultras von den politisch aufgeladeneren Stickern anderer Gruppierungen wie zum Beispiel links und rechtsgerichteten Gruppen mit deren klaren Aussagen abgrenzen. Oftmals werden Abkürzungen benutzt, die nur im Ultrakontext bekannt sind und größtenteils in der Szene verwendet werden, so dass den nichteingeweihten Personen die Botschaft verwehrt bleibt. So wird der Ultraaufkleber zu einem Symbol für Eingeweihte, das Außenstehende zwar wahrnehmen, aber nur selten interpretieren können. Baudrillard (1978) spricht in diesem Fall von „symbolischen Matrikeln“, welche Nullbotschaften für den Betrachter darstellen und nur durch Eingeweihte, in diesem Fall Szeneanhänger oder zumindest szenekundige Personen, entziffert werden können. So kann es auch zu Missverständnissen kommen, beispielsweise kam es zu Problemen für die, mittlerweile aufgelöste, Hamburger Ultragruppe „Chosen Few“ im April 2015, als Bewohner den abgebildeten Gruppennamen „Chosen Few“ (Wenige Ausgewählte) irrtümlich als ein Zeichen dafür hielten, dass ihr Haus für einen potentiellen Einbruch ausgewählt wurde (fanzeit.de, 2015). Die Botschaften und die Funktionen der Sticker sind vielfältig; es werden Territorien markiert,7 Feind- und Freundschaften erklärt8 und fanpolitische Forderungen gestellt. In den Ortschaften, in denen die Gruppen aktiv sind, wird durch das Stickern ein Eintritt für neue Mitglieder geschaffen. Aus diesem Grund werden oftmals die jüngeren Mitglieder der Ultra-Gruppe oder auch angebundene Nachwuchsgruppen damit beauftragt, das Kleben zu übernehmen, ob im Stadion oder in der jeweils betreffenden Stadt. So kommt es vor, dass in einem wöchentlichen Rhythmus die Stadtteile von den „Klebern“ beklebt und kontrolliert werden. Dies wird zu einem Initiationsritus als Beweis, dass jedes Mitglied zu der Gruppe gehört und sich mit den Werten identifiziert. Da Verschworenheit und Solidarität zwei Grundpfeiler der Ultrabewegung sind, besitzt das gemeinsame Stickern einen hohen Stellenwert in dieser Jugendkultur, eben weil diese
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Nach Kappes (2014) wird durch Graffiti der urbane Raum über Markierung und Absteckung erobert. Dabei steht weniger der Inhalt, sondern mehr die Funktion der formalen Kennzeichnung der betreffenden Flächen und damit die Festlegung eines Territoriums im Vordergrund (S. 455). Dieses Konzept lässt sich ebenso auf die Aufkleber übertragen, insbesondere, wenn man an das Kleben im Gästeblock des Stadions oder allgemein in der Stadt des Gegners denkt.
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Entweder auf einem gemeinsamen Sticker oder indem die jeweiligen Gruppen je einen Sticker nebeneinander kleben, ohne, dass sich diese überschneiden beziehungsweise überkleben. Äquivalent dazu kann man im Stadion beobachten, wie befreundete Szenen gemeinsam ihre Blockfahnen nebeneinander aufhängen.
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Tätigkeit unter Umständen für die Ausführenden zu Strafen führen kann. Allerdings ist ein Vorteil des Stickers gegenüber den klassischen Tags, dass auf den Aufklebern oftmals kein Urheber steht oder keine Hinweise auf den „Stickerer“ zurückgelassen werden, die man direkt zurückverfolgen kann, so dass die Behörden dementsprechend nur selten Schadensersatzansprüche anmelden. Diese entstehen insbesondere dann, wenn beim Aufkleben ganze Straßenschilder zugeklebt werden. Oftmals kann bei diesen der Kleber nicht ganz rückstandslos entfernt werden, so dass das Licht nur noch unzureichend reflektiert wird und somit eine Gefährdung des Verkehrs und der Verkehrsteilnehmer entstehen kann. Daher wird die Stickerei von Ultras in Städten und Gemeinden nicht unbedingt gerne gesehen.
D ER S TICKER ALS R EVIERMARKIERUNG Das Markieren von Territorien ist insbesondere in den Städten von Belang, in denen mindestens zwei rivalisierende Vereine beheimatet oder regionale Konkurrenten räumlich sehr nah beieinander situiert sind. Beispiele dafür sind München, wo es eine ausgeprägte Rivalität zwischen dem FC Bayern München und den Anhängern von 1860 München gibt, oder im westdeutschen Raum die Ruhrpottrivalen Borussia Dortmund und der FC Schalke 04. Diese haben zwar ihre Fangemeinschaft in verschiedenen Städten oder Ortsteilen in der Region, dennoch können sich auch Sticker eines Vereins in dem jeweiligen Stadtteil des Gegners finden, zum Beispiel zur Provokation oder um freie Flächen zu nutzen und für die Gruppe zu markieren. In diesem Zuge spielen die schon erwähnten „Überklebt“-Sticker eine große Rolle. Diese Art von Stickern besitzt ein Großteil der Ultragruppen, um Sticker von feindlichen Gruppen mit dem Schriftaufzug „Überklebt“ zu überstickern und damit unbrauchbar zu machen. Dies ist zwar nicht nur in stadtinternen Szenen zu beobachten, besitzt dort aber aufgrund der relativen Nähe der Vereine und Gruppierungen eine besondere Brisanz. So entsteht ein regelrechter Wettstreit darum, die Sticker in den einzelnen Bezirken unterzubringen, zu entfernen oder im besten Fall zu überkleben, um das „Territorium“ der Gruppe zu markieren. Ein ähnliches Verhalten zeigen auch politische Organisationen, die links- oder rechtsgerichtetes Material mit ihren Stickern überkleben. Diese Prozedere können so lange andauern, bis die Aufkleber dann endgültig entfernt und entsorgt werden. Auch auf Raststätten oder anderen öffentlichen Plätzen oder für die Öffentlichkeit zugänglichen Toiletten wird eine rege Überklebungskultur von Ultras gepflegt um zu repräsentieren oder Animositäten gegenüber anderen Gruppierungen auszudrücken.
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Hinsichtlich der beschriebenen Überklebe-Praxen unterscheidet sich die Stickerkultur von Ultragruppen vehement von der der Street-Art Künstler, da sich diese aus Respekt gegenüber der Kunst der anderen Kunstschaffenden nicht gegenseitig überkleben. Die Ultras dagegen suchen gezielt Plätze, die mit Aufklebern anderer Gruppierungen beklebt sind, um diese selbst zu überstickern, was zweifelsfrei den Raumanspruch der einzelnen Gruppen unterstreicht. Der Fußball im Allgemeinen und der Verein im Speziellen haben in diesem Fall einen größeren Stellenwert als das künstlerische Schaffen anderer Personen oder Gruppen. Die aktiven Fanclubs und Ultras wollen zeigen, wer sie sind oder wo sie überall waren, auch um sich populärer zu machen und ihren Ruf in der Szene zu verbessern. Das heißt vor allem, präsent in den Köpfen anderer Gruppen zu sein und somit ein höheres Standing zu erreichen. Streng genommen könnte man sagen, dass die Gruppen sich durch die Sticker selbst bewerben möchten; bestenfalls geschieht dies auch im Gebiet des Gegners. Dieser Aspekt ist gegenüber der permanenten „Reviermarkierung“ deutlich wichtiger, da der Aufkleber, durch die recht einfachen Möglichkeiten, ihm durch Entfernen oder Überkleben die Symbolkraft zu nehmen, keine Garantie auf Beständigkeit liefert. Abbildung 1: Überklebter Sticker auf einem Verkehrsschild (Quelle Bresemann)
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„R ECHT AUF S TADT “
Um näher auf den Aspekt der Ultrasticker als Ausdrucksmöglichkeit von Botschaften und Forderungen im städtischen Umfeld einzugehen, muss man sich mit dem Spannungsfeld zwischen Stadt und Kunst beschäftigen. Denn Aufkleber dienen unter anderem als Instrumente, sich die Stadt zurück zu erobern und Plätze für Kunst oder Kreativität zu besetzen. Der Sticker fungiert dabei als ein Element der insbesondere von Henri Lefebrve (2014) angestoßenen Theorie des Rechts auf die Stadt, deren Ziel es ist, einen kollektiv genutzten, von wirtschaftlichen Belangen weitestgehend befreiten städtischen Raum zu kreieren. In „Die Revolution der Städte“ kritisiert er die zunehmenden Qualitätseinbußen im Leben in der Stadt durch die Unterwerfung kommerzieller Gegebenheiten und die Vereinheitlichung von Städten – ein Merkmal, welchem sich auch Fußballfans im Fußballstadion zunehmend ausgesetzt sehen – oder auch die schwierige Wohnungssituation, die sich in der Stadt an der steigenden Anzahl von Massenquartieren zeigt und die den Stadtbewohnern aufgezwungen wird. Auch dazu kann eine Parallele zur aktiven Fanszene gezogen werden, die sich beständig gegen die Reduzierung von Stehplätzen und damit im Vergleich zu anderen Bereichen im Stadion „günstigen Raum“ wehren. Gleichzeitig findet sich jedoch ein großes kreatives Potential in urbanen Gegenden wieder, das sich unter anderem auch durch Street Art ausdrückt und sich im Protest gegen bestehende Gegebenheiten auch im Ultrakontext wiederfindet. Städte gelten als die Horte für Künstler, wie David Harvey (2012) beschreibt. Diese künstlerischen Horte formen einen „kreativen Kern“, sie verbreiten und prägen die Kunst im Stadtbild und stoßen dort auf ihre Anhänger, in der Gegenwart insbesondere durch die neuen Formen der Street-Art und des künstlerischen Protests, die eine Vielzahl von Bürgern erreichen und Aufsehen erregen. Als aktuelles Beispiel ist der britischen Künstler Banksy zu nennen, der bis heute unerkannt eine Vielzahl kritischer Werke in verschiedenen Städten platzieren konnte und der wohl bekannteste Street-Art Künstler der Gegenwart ist. Problematisch für die vielen Strömungen der Street-Art ist der Mangel an geeignetem urbanem Raum. Gerade was den künstlerischen Ausdruck betrifft, findet sich immer weniger Fläche für eine mittlerweile große Anzahl an Gruppen. Kreative Lösungen, die Botschaften möglichst platzsparend, aber dennoch effektiv zu verbreiten, sind aus diesem Grund absolut nötig. Die Ultra-Gruppen haben in diesem Fall mit ihren Stickern aufgrund der schieren Masse sowohl an Material als auch an Personen einen Vorteil, um ihre Botschaften zu verteilen und regelmäßig zu erneuern.
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Betrachtet man die Ultras als Jugend- und Subkultur liegt es nahe, dass sie sich gegen bestehende Zustände und Institutionen wehren und versuchen, in Nischen ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Zusätzlich bildet sich als ein zentrales Thema der Protest gegen die steigende Kommerzialisierung des Fußballs heraus, aber es lässt sich auch eine starke Identifikation mit eben diesem erkennen, die zu einem Mitspracheanspruch führt. Dies ist ein Merkmal, welches sich auch im Recht auf Stadt wiederfindet und in der zugehörigen „Reclaim your City“ Bewegung eine große Rolle spielt, die ebenso mit Street-Art versucht, öffentlichen Raum zurückzuerobern (Morawski, 2014). Für die künstlerische Richtung ist ein zentrales Thema die zunehmende Vereinheitlichung der Innenstädte durch die stetig steigende Zunahme an Geschäften aus Franchise-Unternehmen, so dass sich eine Innenstadt kaum mehr von einer anderen unterscheiden lässt. Für die aktive Fanszene lässt sich dies bezüglich der Stadionneubauten beobachten. Zudem spricht sie sich gegen die Zunahme an Investorenvereinen wie RasenBallsport Leipzig oder steigende Eintrittspreise als zentrale antikapitalistische Punkte aus und prangert diese auf ihren Aufklebern an. Das Motto lautet „Reclaim the game“9 und richtet sich vor allem gegen die fortschreitende Kommerzialisierung im Fußball, die das Leben und Hobby von Millionen Menschen beeinflusst. Doch auch andere Aspekte fanpolitischer Art werden auf den Aufklebern in der Stadt thematisiert, oftmals ohne konkreten Urheber (siehe Bild 2). Neben den teilweise provokanten Aussagen gegen verschiedene Gruppen und den fanpolitischen Forderungen haben die Aufkleber auch prägende Wirkung für das Stadtbild. Sie nehmen den Charakter der jeweiligen Stadt auf und versuchen sie zu repräsentieren, indem Wahrzeichen abgebildet oder Botschaften in Mundart verwendet werden, um die Verbundenheit zur Region und dem Verein in den Vordergrund zu stellen und die starke Identifizierung der Szene mit der Stadt auszudrücken.
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Eine Bewegung, die insbesondere in England ihre Anhänger findet und durch FanInitiativen gegründet wurde, um sich Anteile des jeweiligen Clubs zu kaufen und so ein Mitbestimmungsrecht zu erhalten. Ziel ist es, den Volkssport Fußball nicht noch mehr zum für den Normalverbraucher kaum noch bezahlbaren Luxusgut werden zu lassen. Insbesondere John Reid konnte erstmals 1992 mit seiner Publikation „The Death Of The Peoples Game“ ein Bewusstsein für den großen Einfluss fremder Eigentümer auf die Premiere League Clubs schaffen. In Deutschland findet sich diese Art von Protest noch nicht, der anti-kommerzielle Anspruch an den Fußball wird hier jedoch durch Demonstrationen oder die hier vorgestellten Aufklebern ausgedrückt.
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Abbildung 2: Proteststicker gegen das Investment von Red Bull im Fußball (Quelle: Bresemann)
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FÜR DIE
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Doch nicht alle Gruppen stehen den Stickern im öffentlichen Raum ausschließlich positiv gegenüber. So grenzen sich die Ultras Leverkusen in ihrem Infoblatt „Nordkurve AktUL“ vom November 2008 von den wilden Stickereien in der Stadt Leverkusen ab und fordern dazu auf, das Aufkleben der Sticker in der Stadt zu unterlassen. Unter dem Motto „Halte deine Stadt sauber“ heißt es wortwörtlich: „Die Vielfalt und Schönheit der Aufkleber ist aber leider nicht für die Ewigkeit, so dass diese durch das Sonnenlicht in nur wenigen Monaten ausbleichen und nur ein weißes Stück Papier kleben bleibt. Schön anzuschauen sind diese dann nicht mehr, sondern verschmutzen eher das Stadtbild einer jeden Stadt. Dies muss nicht sein, zumindest nicht in unserer eigenen Stadt! Zudem sind Ladenbesitzer in unserer Stadt bestimmt nicht erfreut darüber, dass Aufkleber, besonders wenn diese aus unseren eigenen Reihen kommen, an ihren Geschäften kleben. [...] Jedes Mitglied der Ultras Leverkusen liebt diese Stadt genau so wie unseren Verein, also lasst bitte das Kleben an öffentlichen Gebäuden und Geschäften in unserer schönen Stadt!“
Daran sieht man, dass sich einige Ultragruppen die negativen Aspekte des Stickergebrauchs bewusst vor Augen führen, auch wenn sie weiterhin in fremden Städten ihre Sticker anbringen und die Ablehnung des Aufklebens sich lediglich auf die eigene Stadt konzentriert. Der Respekt für die Stadt, den ansässigen beziehungsweise unterstützten Verein und damit auch an die Einwohner hat dabei Priorität. Auffällig ist auch, dass oftmals historische Gebäude oder andere Wahr-
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zeichen der Stadt nicht mit Stickern oder Tags verziert werden. Natürlich haben auch die Ultras Leverkusen Aufkleber, die sie verkaufen oder selbst an auswärtigen Orten stickern. Dies zeigen sie offen auf der eigenen Homepage, die eine eigene Galerie für Straßenkunst besitzt und dabei auch Sticker aufweist, die an verschiedenen Orten im In- und Ausland angebracht worden sind. Andere Ultragruppen dagegen positionieren sich allgemein gegen das Aufkleben von ihren Aufklebern im öffentlichen Raum. So findet sich auf der Shop-Sektion der Homepage von „La Familia“, einer aktiven Fangruppierung des VFL Wolfsburg, ein Haftungsausschluss, um sich vor eventuellen rechtlichen Problemen zu schützen: „Wir die La Familia Wolfsburg weisen darauf hin, dass das ‚Kleben‘ von unseren – hier angebotenen – Aufklebern nur auf ausgewiesenen Flächen gestattet ist (im eigenen Zimmer, auf eurem Grundstück u.Ä.).Da wir das kleben nicht kontrollieren können und ebenso die Weitergabe an Fremde, distanzieren wir uns hiermit von illegalen Verwendungen von den von uns angebotenen Aufklebern. Das ‚Kleben‘ kann zu einer Anzeige führen, da es den Straftatbestand eines oder mehrerer §§ gem. StGB und / oder StVO erfüllt oder erfüllen kann, für den lediglich der Verwender, nicht jedoch die La Familia Wolfsburg haftbar zu machen ist. Wir weisen euch auch bei dem Verkauf stets auf die rechtlichen Folgen hin! Was mit diesem Text hier geschehen ist!“
Die Sticker haben für die Gruppen nicht nur einen künstlerischen oder territorialen, sondern auch einen finanziellen Aspekt, da sie auch an Außenstehende verkauft werden. Damit werden die Aufkleber aus dem Machtbereich der jeweiligen Gruppe abgegeben, so dass eventuelle Konsequenzen beim Stickern durch NichtGruppenmitglieder entstehen können. Durch die Statements wie von La Familia wollen sich die Ultragruppen dahingehend absichern. Diese Haftungsausschlüsse gibt es auch bei anderen Gruppen wie der „Blue Crew“ oder dem offiziellen Hamburger SV Fanclub „Ewig Blau“, um sich vor eventuellen Schadensersatzansprüchen gegenüber Dritten zu schützen und sich vom „illegalen“ Gebrauch zu distanzieren.
FAZIT Zusammenfassend bieten die Sticker für die Ultras in Deutschland ein breites Medium für die Verbreitung verschiedener Botschaften insbesondere im urbanen Raum. Ob Fanpolitik, Werbung für die eigene Gruppe oder pure Provokation gegenüber anderen Gruppen oder Institutionen, der Aufkleber bietet
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Möglichkeiten des Ausdrucks und dies in hoher Stückzahl und mit sehr mobiler Verbreitung. Diese Ausdrucksform lassen sich teilweise auch in anderen Ländern wie Frankreich oder auch der Ukraine beobachten, wenngleich die Motive der dort agierenden Szenen oftmals allgemeinpolitischer geprägt sind und sich somit auch mit Problemen außerhalb des Fußballkontexts befassen. Dies ist in Deutschland bisher so gut wie kein Thema. Kleinere Ausnahmen sind Sticker von politisch links eingestellten Gruppen, die sich zum Beispiel mit Asylbewerbern solidarisieren oder sich klar gegen rechtes Gedankengut in Stadien positionieren und engagieren. Dies geschieht vor allem in Städten, in denen die Ultragruppen einen Bezug zur Antifa-Szene besitzen, zum Beispiel Ultras des SV Werder Bremen, Roter Stern Leipzig oder St. Pauli. Insgesamt ist die Hauptaufgabe der Sticker derzeit eher, die jeweilige Gruppe bekannt zu machen und das eigene Territorium zu markieren. Das Verkleben der Sticker wird zunehmend nicht nur in den großen Städten durchgeführt, sondern findet sich in steigendem Maße auch in umliegenden Ortschaften wieder. Dort wird von Anhängern einzelner Ultra-Gruppen geklebt und getaggt, die so ihr Einzugsgebiet erweitern und sich präsentieren können. Im Stadtbild selbst haben die Sticker seit längerer Zeit ihren Platz und sie werden zukünftig mit der steigenden Anzahl an Fußballgruppen weiterhin einen festen Bestandteil der Ultrakultur und der Street-Art ausmachen und sich weiter ausdifferenzieren. So könnten neben den Aufklebern und den Stickern demnächst auch Knittings10 in den Vereinsfarben oder andere Elemente der Street-Art genutzt werden. Möglich ist auch, dass sich auf den Aufklebern verschiedene Themen vermischen und sich auch der Stadtbezug auf den Ultrastickern selbst erhöht wird. Die Kreativität und Einsatzmöglichkeiten der Aufkleber der aktiven Fanszene sind derzeit noch keinesfalls ausgeschöpft und werden auch weiterhin ein beliebtes Mittel sein, um sich Räume zu schaffen und die Gruppierungen bekannter zu machen.
10 Gestrickte beziehungsweise geknüpfte viereckige Wollembleme in verschiedenen Farben, die um diverse Arten von Pfosten und Masten gespannt werden.
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U LTRAAUFKLEBER – B OTSCHAFT
UND
K UNST
IM URBANEN
R AUM ?
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Schrage, D. & Siegl, N. (2008). Rechtsextreme Symbole und Parolen. Graffiti und Sticker als Medium interkultureller Kommunikation. Wien: Graffiti-Ed. Ultras Leverkusen. (2008). Halte deine Stadt sauber! Zugriff am 17. August 2015 unter http://ultras-leverkusen.de/nakt/nakt-s04_08.pdf.
Sticker-Kleben und Graffiti – ein Interview mit dem Pressesprecher der Stadt Neuburg an der Donau Bernhard Mahler G ESPRÄCH GEFÜHRT VON G ABRIEL D UTTLER
UND
B ORIS H AIGIS
Unter der Überschrift „Verflixt und zugeklebt! ‚SM‘ - Aufkleber und Schmierereien im gesamten Stadtgebiet“ erschien am 8. April 2015 eine Pressemitteilung der Stadt Neuburg an der Donau, in der die Stadt „Schmierereien“ und Aufkleber an Parkscheinautomaten, Laternenmasten, Abfalleimern oder Stromkästen beklagte. Die Stadt Neuburg stellte klar, dass es sich hierbei um Sachbeschädigungen handeln würde und setzte für sachdienliche Hinweise zur Ergreifung der Täter eine Belohnung von 300 € aus. Daraufhin baten wir den Pressesprecher der Stadt, Herrn Bernhard Mahler, um ein Gespräch. GD/BH: Wie lange spielt das Kleben von Stickern in Neuburg schon eine Rolle und welche Entwicklung diesbzgl. beobachten Sie? BM: Grundsätzlich ist das Kleben von Stickern sicherlich nichts Neues. Wie in vielen anderen Städten klebt immer mal wieder ein Aufkleber mit den unterschiedlichsten Botschaften an Laternen, Geländern oder Automaten. Neu ist seit einigen Jahren das Bekleben von Verkehrsschildern, die dadurch in vielen Fällen unbrauchbar werden und kostenintensiv ersetzt werden müssen. Mit dem Entfernen des Aufklebers verschwindet nämlich in aller Regel auch die erforderliche Reflektionsschicht. Neueste Entwicklung ist seit 2013 das gezielte und massive Kleben von Aufklebern „FC Bayern München“, „Schickeria München“, „SM“ und „Südkurve 72“. Die Buchstaben-Kombination „SM“ wird darüber hinaus auch sehr oft gesprayt und geschrieben.
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GD/BH: Welche Schäden und Kosten entstehen der Stadt Neuburg durch das Aufkleben von Stickern und Taggen mit Edding-Stiften? BM: Es entstehen pro Jahr Kosten in einer Größenordnung von etwa 20.000 bis 30.000 Euro, bestehend aus Personal- und Sachkosten. GD/BH: Wie wichtig ist dieses Thema in Nachbarstädten und wie reagieren diese? BM: Informationen aus Nachbarstädten liegen mir zu dieser Thematik nicht vor. GD/BH: Nehmen diejenigen Personen, die Kleber verteilen, in der Regel Rücksicht dahingehend, dass keine historischen oder besonders teuren Bauwerke beklebt werden? Welche Bauwerke/Stellen sind besonders beliebt bzw. besonders oft betroffen? BM: Die Frage ist besonders in Neuburg an der Donau sehr interessant. Tatsächlich ist festzustellen, dass die Neuburger Altstadt mit ihren historischen Bauwerken auf dem Stadtberg gelegen von der Problematik komplett ausgenommen sind. Hier war und ist diesbezüglich nichts festzustellen. In der sog. Unteren Stadt mit ihren Einkaufsstraßen, Plätzen und Gassen hingegen wird ohne Rücksicht auf Eigentumsverhältnisse geklebt und geschmiert. Ob Schilder, Automaten, Stromkästen, Wartehäuschen, Pflanztröge, Mülleimer, Bänke oder Abläufe von Dach- und Regenrinnen. GD/BH: Welche Bauwerke/Schilder reinigt die Stadt grundsätzlich? Welche Pflichten diesbezüglich liegen vor? BM: Eine Verpflichtung besteht in erster Linie bei Verkehrsschildern. Sind diese nur noch eingeschränkt erkennbar, besteht sofort Handlungsbedarf. Darüber hinaus wird zwei oder dreimal im Jahr ein Bauhof-Trupp losgeschickt, um in einer gezielten Aktion Sticker und Schmierereien zu entfernen. Kommt es wie vor zwei Jahren zu einer größeren Verunstaltung in einem Parkdeck, wird eine umgehend eine Reinigung veranlasst. Die Erfahrung zeigt, dass bereits angebrachte Sticker oder Beschriftungen zu weiteren Verunstaltungen motivieren. GD/BH: Wie gehen die Einwohner der Stadt mit den Kleber um? Welche Meinungen diesbezüglich werden diskutiert? BM: Ich kann natürlich nicht für alle 30.000 Einwohner unserer Stadt sprechen, möchte aber schon behaupten, dass die Mehrheit der Bürger diese Art von Vandalismus ablehnt. Zumindest habe ich noch nie etwas Gegenteiliges gehört.
S TICKER -K LEBEN UND G RAFFITI
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GD/BH: Was entgegnen Sie Leuten, die dem Kleben etwas Positives abgewinnen? BM: Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich für das Bekleben oder Beschmieren ausspricht. Für mich ist der öffentliche Raum im Besitz aller Bürgerinnen und Bürger. Somit haben Einzelne nicht das Recht, Verunstaltungen vorzunehmen und der Allgemeinheit Kosten aufzubürden. Ich würde jedem Kleber oder Schmierer empfehlen, in den eigenen vier Wänden oder z. B. das eigene Auto für die individuellen Botschaften zu nutzen. GD/BH: Welche weitergehenden Schritte (z. B. Strafantrag, zivilrechtliche Geltendmachung der Reinigungskosten) sind bei Auffinden von Tätern angedacht? BM: In Neuburg kommt grundsätzlich jede Art von Vandalismus zur Anzeige. Darüber hinaus setzen wir je nach Sachlage sogar eine Belohnung für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Verursachers führen. Tatsächlich ist es uns auf diese Weise schon mehrfach gelungen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem geht von der rigorosen Verfolgung aller Taten dieser Art auch eine gewisse abschreckende Wirkung aus. GD/BH: Sind neben Ultra-Gruppen auch andere „Subkulturen“ mit Klebern im Stadtbild vertreten? Wenn ja, welche sind das? BM: In der Intensität der Ultra-Gruppe „SM“ des FC Bayern ist bisher noch keine andere Gruppe in Erscheinung getreten. Dies ist umso erstaunlicher, als es in Neuburg ohnehin keine „gegnerische“ Gruppierung gibt. GD/BH: Wie geht die Stadt mit anderen subkulturellen Zeichen wie Graffitis um? BM: Graffitis, die ja in ihrer Ausprägung durchaus künstlerischen Anspruch haben können, sind in Neuburg an der Donau außer den beschriebenen Fällen kaum vorzufinden. GD/BH: Vielen Dank!
Ultras und ihre Symbolik
„Wenn Du es nicht fühlst, kannst Du es nicht verstehen“ Fußballfans, Ultras und Tätowierungen D IRK H OFMEISTER
Fußball und Tätowierungen, das passt zusammen – irgendwie. Selbst wer sich nicht fußballinteressiert durchs Internet bewegt, in Zeitungen oder Zeitschriften blättert, wird an dieser Erkenntnis nicht vorbei kommen. Beispiele gefällig? – „Traum unter der Haut“ (promiflash/Carolin, 2015) bei Brasiliens Angreifer Neymar, das „süße Kritzel-Tattoo“ von Ex-Fußball-Star David Beckham (gala.de/o.V., 2015), Lionel Messis „neues Tor-Tattoo“ (bild.de/o.V., 2014), u.v.m. Und wer das neu gewonnene Gossip-Wissen gleich ausprobieren möchte, kann sich ganz praktisch im Jugendmagazin „Bravo“ die Zeit mit einem Tattoo-Test vertreiben(bravo.de/o.V., 2014). Dabei waren die Fußballer recht spät dran mit der entdeckten Leidenschaft für Bilder oder Schriftzüge auf der Haut. Statt als Vorbilder ihrer Fans zeigen sie sich hier eher Mitläufer eines Trends. In Deutschland waren 2004 bereits 22 % der jungen Männer (25 bis 34 Jahre) tätowiert (Stirn et al., 2006), in den USA im selben Jahr geschlechterübergreifend 24 % der 18 bis 50-Jährigen (Laumann & Derick, 2006). Bis 2009 wuchs die Zahl in Deutschland auf mehr als 25 % bei jungen Männern und Frauen an (Hofmeister et al., 2012). Seither bleiben die Zahlen etwa konstant (Institut für Demoskopie Allensbach, 2014). Mit dem Boom der Tätowierungen wuchs das wissenschaftliche Interesse am Thema. Hinter den meisten Arbeiten stand die Frage: Warum machen junge Leute das? Ausgehend von der Beobachtung, dass Tätowierungen von Rock’n’Rollern in den 1950ern über Hippies in den 1960er Jahre, Bikern und Punks in den 1970er und -80er Jahren, nicht zu vergessen Gefängnisinsassen, bis in die 1990er Jahre vor allem von gesellschaftlichen Randgruppen getragen wurden (Kasten,
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2006), begann hier die Forschungsarbeit. Tätowierungen dienten bis dato einer Art „Selbststigmatisierung“ von stigmatisierten Subkulturen und über die selbstbestimmt vorgenommene Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft zur Stärkung des Ich’s und der Gruppe (Lobstädt, 2011). Dies wandelte sich in den 1990er Jahren. Bereits 1995 konstatierte die USamerikanische Wissenschaftlerin Margo DeMello, „Tätowierungen haben sich vom Symbol des Außenseiters zum Symbol von Rockstars und postmodernen Jugendlichen gewandelt“ (DeMello, 1995). Damit änderte sich auch die Motivation, ein Tattoo zu tragen. In einer deutschen Studie gab die Mehrheit der Befragten keinen speziellen Grund für eine Tätowierung an (52 %), während 42 % ein bestimmtes Lebensereignis und 8 % die Auseinandersetzung bzw. den Umgang mit einer Krankheit oder einem Unfall als Beweggrund für eine Tätowierung nannten (Stirn & Hinz, 2008). In einer polnischen Studie konstatieren die Befragten am häufigsten die Unterstreichung der eigenen Individualität und Steigerung der sexuellen Attraktivität. Zudem spielten weniger klar umrissene Gründe wie „Ich mag es einfach“ (22 %) oder „Launenhaftigkeit“ (17,5 %) eine Rolle (Antoszewski et al., 2010). In anderen Studien werden besonders der Modeaspekt, Verschönerung des eigenen Körpers sowie Individualität in der Motivfindung für eine Körpermodifikation herausgearbeitet (Forbes, 2001; Selekman, 2003; Appel et al., 2015). Den jüngsten Forschungen zufolge geht es also nicht mehr um Abgrenzung von der gesellschaftlichen Mitte, sondern u. a. um die Betonung der Individualität in der gesellschaftlichen Mitte. Trifft dies auch auf Fußballfans zu? Dass Tätowierungen von Fußballanhängern getragen werden, liegt anhand der hohen gesellschaftlichen Durchdringung von Tattoos auf der Hand. Unterstrichen wird die Beliebtheit von Tattoos unter Fußballfans durch eine Vielzahl von Publikationen allein aus den bundesdeutschen Fanszenen (Schmied & Lange, 2014; Markhardt & Meyer, 2009; Meyer, 2004; Burkhardt et al., 2015). Diese Veröffentlichungen dienen vorrangig der fotografischen Dokumentation der Vielfalt sowie einiger Einzelfallgeschichten. Im Tattoo-Buch zum Zweitligisten 1860 München sind mehr als 600 Tätowierungen abgebildet (Schmied & Lange, 2014). Im Buch zur Fanszene des Fußball-Erstligisten Hamburger SV sind rund 400 Tätowierungen zu sehen (Markhardt & Meyer, 2009). Zudem sind im Internet eine Vielzahl von Tätowierungen zu finden, allein auf der deutschsprachigen Website fussball-tattoo.de 1660 Tätowierungen von 163 Vereinen aus 23 Ländern (Kellermann, 2015; Stand 29.11.2015). Der Band, der von der Redaktion des Ultra-Fanzines Blickfang Ultra herausgegeben wurde, kann mit mehr als 1.000 dokumentierten Tätowierungen aus Deutschland und Europa aufwarten (Burkhardt et al., 2015). Abgesehen von Einzelfallbeschreibungen (Coombs & Osborne, 2012; Poulton &
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Durell, 2014) liegen aber bisher kaum wissenschaftliche Annäherungen an das Thema Fußballfankultur und Tätowierung vor. Dass es sich bei der beschriebenen Fußballfankultur nicht um eine homogene Gruppe sondern um ein heterogenes Gebilde mit verschiedenen Interessen, Bedürfnissen und Ausdrucksformen handelt, ist bereits 1988 durch Heitmeyer und Peter beschrieben worden. Demnach sind Fußballfangruppen nicht mit anderen Fans, z. B. von Musikbands zu vergleichen. Die beiden Fanforscher sprechen hinsichtlich Fußballfans von einer „Subkultur von unten“, was mit ökonomischer Benachteiligung und einer sozialen Verwurzelung in einer Arbeiterkultur begründet wird (Heitmeyer & Peter, 1992). Unterschieden werden die Fans in drei Gruppen: Der fußballzentrierte Fan zeichnet sich durch eine starke emotionale Bindung zu einem Fußballverein aus, Treue zum Verein ist dabei wichtiger als eine pure Leistungsfixierung; den konsumorientierten Fan zeichnet dagegen eine schwache bis keine emotionale Bindung an einen bestimmten Fußballverein aus, für ihn steht Unterhaltung im Vordergrund; der erlebnisorientierte Fan ist auf der Suche nach einem Spektakel, das Fußballspiel dient der Herbeiführung von Spannungssituationen, die Aufmerksamkeit kann sich aber bei entsprechenden Angeboten auch schnell vom Spielfeld abwenden. Mittlerweile muss diese Kategorisierung erweitert werden. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich unter Einfluss von entsprechenden Entwicklungen in der italienischen und englischen Fußballkultur sowie der fortscheitenden Kommerzialisierung eine neue Fan- und Jugendkultur gebildet: Die Ultras (Gabler, 2013). Von Fanforscher Pilz werden Ultras als „besonders leidenschaftliche, emotionale und engagierte Fans bezeichnet, die von der südländischen Kultur des Anfeuerns fasziniert sind, und es sich zur Aufgabe gemacht haben, in deutschen Stadien organisiert wieder für bessere Stimmung zu sorgen. Sie besitzen nur eine Identität – ihre Ultra-Identität [...]. Selbstdarstellung ist ein Bestandteil der Ultrakultur. Ultras lieben zwar ihren Verein, unabhängig von den Personen, die Funktionen darin übernehmen, doch sie brauchen den Verein alleine nicht für ihre Identität. Vielmehr stiften die Ultragruppen selbst die Fan-Identitäten“ (Pilz et al. 2006, S. 12).
Diese neue Bewegung sieht sich als „Bewahrer der Vereinstradition“ und kämpft aktiv und kritisch gegen die Kommerzialisierung im Profifußball (Gabler, 2013). Laut Pilz (2006, S. 13) könne die Ultra-Kultur „als eine Zuneigungs-, Protest-, Demonstrations- und Provokationskultur verstanden werden.“ Wichtig sei zudem die Abgrenzung zu den vorrangig auf gewalttätige Auseinandersetzungen konzentrierten Hooligans (Pilz et al., 2006). Anderen Forschern zufolge zelebrieren die „Ultras“ „mit ihren Choreographien, Spruchbändern und Aktionen [...]
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einen Kult der Sichtbarkeit“ (Schwier & Schauerte, 2009). Hitzler und Niederbacher konstatieren: „Die Bezeichnung ‚Ultras‘ lässt sich am besten mit dem Begriff Extremfans übersetzen“ (Hitzler & Niederbacher 2010). Vor dem Hintergrund dieser fankulturellen Besonderheiten und mit Blick auf die bereits beschriebene offensichtlich starke Beliebtheit von Tätowierungen innerhalb der Fanszene stellt sich die Frage nach dem Bedeutungsgehalt: Welche Motivation steckt hinter den Tätowierungen? Die zitierten Publikationen zu Tattoos bei Fußballfans zeigen ausschließlich fußballbezogene Tätowierungen. Doch ist zu erwarten, dass Fußballfans auch andere Tätowierungen tragen. Gibt es zwischen den Trägern von Fußballtätowierungen und solchen mit anderen Tätowierungen Unterschiede und wenn ja, worin liegen sie? Die vorliegende Arbeit will sich zudem der Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Fußballfans und Ultras in Bezug auf Tätowierungen annähern. Aus bisherigen Forschungsarbeiten ist zudem bekannt, dass Tätowierte trotz aller gesellschaftlicher Akzeptanz weiterhin bestimmten Stigmatisierungen ausgesetzt sind: Benachteiligungen im Arbeitsleben, negativere Bewertungen hinsichtlich Leistung und Charaktereigenschaften sind die Folge (Larsen et al., 2014; Dickson et al., 2014; Swami et al., 2015). Was erleben Fußballfans/Ultras, deren Identität als Supporter dem aktuellen Forschungsstand (Gabler, 2013; Dembowski, 2013) entsprechend auch von Abgrenzung lebt, und lassen sich Besonderheiten beobachten?
M ETHODEN Die vorliegenden Daten wurden mit einer Online-Umfrage gewonnen. Zwischen Juli und Dezember 2015 wurden Fußballfans mit oder ohne Tätowierungen in Internetforen um eine Beteiligung gebeten. Ursprüngliches Ziel war es – Vorhandensein eines entsprechenden Internet-Fanportals vorausgesetzt –, in jedem Forum der 56 Fußball-Erst-, Zweit- und Drittligisten sowie allgemeinen Bundesliga-/Sportforen und in Tattooforen für die Teilnahme zu werben. In 64 Foren wurde eine entsprechende Anfrage formuliert, 44 waren erfolgreich. Nach Ende der Datensammlung fanden telefonische Interviews statt. In der Befragung konnten Teilnehmer freiwillig ihre Bereitschaft für ein solches Interview erklären. 57 Studienteilnehmer machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Nach einem strukturierenden Vorinterview mit einem Ultra wurden andere Teilnehmer der Studie angefragt. Dies geschah nach einem Alters-, Geschlechts-, Tattoo-, Fußball-Tattoo- und Gruppenzugehörigkeits-Matching. 17 potenzielle
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Interviewpartner wurden angeschrieben. Mit sechs Teilnehmern kam schließlich ein Gespräch zustande. Fragebogen Neben soziodemografischen Fragen zu Alter, Geschlecht, Bildungs- oder Familienstand wurden spezifische Fragen zu Tätowierungen gestellt. Erhoben wurde die Selbsteinschätzung hinsichtlich des Fußballkonsums/Fanverhaltens. Bezüglich der Tätowierungen wurde nach Vorhandensein von fußballspezifischen und nicht-fußballspezifischen Motiven, nach der Anzahl der Tattoos, den Gründen und nach der Körperregion gefragt. Zudem wurden erlebte Stigmatisierungen aufgrund der fußballspezifischen und nicht-fußball-spezifischen Tätowierungen erhoben. Mit Fragen zu assoziierten Persönlichkeitseigenschaften, Sympathie und Attraktivität von Tätowierten endete die Umfrage. Ausdrücklich eingeladen waren auch nicht-tätowierte Teilnehmer. Diesen wurden nur soziodemografische Fragen sowie zur Gruppenzugehörigkeit und den Assoziationen bezüglich der Eigenschaften von Tätowierten gestellt. Der gesamte Fragebogen umfasste 45 Fragen. Die Interviews wurden anhand eines Interviewleitfadens geführt. Dieser Leitfaden sprach folgende Themen an:
Tattoo/Fußball-Tattoo (was und warum); Interpretation der Ergebnisunterschiede Tattoo-Motiv und Fan vs. Ultra; eigene Beziehung zur Ultra-Szene; selbst erlebte Stigmatisierung; Interpretation Unterschiede Fan vs. Ultra
Statistische Auswertung Die statistische Auswertung erfolgte mittels SPSS, Programmversion 20.0. Durch Einschränkung des Altersbereiches auf 14 bis 35 sollten Alterseffekte ausgeschlossen werden – bisherige Studien haben gezeigt, dass Körpermodifikationen vor allem bei Jüngeren beliebt sind. Mittelwertvergleiche wurden mittels T-Test, eine Interpretation der Effektstärke mittels Hedges’ g vorgenommen (Borenstein et al. 2009; Cohen 1988). Bei Gruppenvergleichen wurde der ChiQuadrat-Test (χ²) durchgeführt, zur Interpretation des Zusammenhangs zweier dichotomer Variablen der phi-Koeffizient (φ) herangezogen.
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Stichprobenbeschreibung Insgesamt nahmen zwischen 21. Juli und 8. Dezember 2015 1204 Personen teil. Aufgrund von Abbrüchen oder relevanten Missings wurde der Datensatz bereinigt– letztlich konnten insgesamt 867 Personen eingeschlossen werden. Mit 86,5 % männlichen und 13,5 % weiblichen Teilnehmern lag eine deutliche Ungleichverteilung vor. Die Stichprobe musste wegen einiger unrealistischer Altersangaben zusätzlich altersbereinigt werden. Die altersbereinigte Stichprobe umfasste 747 Teilnehmer von 15 bis 82 Jahren. Diese Stichprobe kam bei altersrelevanten Fragestellungen zum Einsatz. Der Altersdurchschnitt lag bei 37,24 Jahren (SD=10,9). Mit 86,5 % haben deutlich mehr Männer als Frauen teilgenommen. Eine genaue Beschreibung der Stichprobe siehe Tabelle 1. Am stärksten vertreten in der Untersuchung waren Anhänger folgender acht Vereine: FC St. Pauli (N=70), 1. FC Kaiserslautern (N=62), Eintracht Frankfurt (N=61), 1860 München/Hansa Rostock (je N=59), Preußen Münster (N=57), BVB Dortmund/Schalke 04 (je 47). Tabelle 1a: Übersicht über die Stichprobe der Untersuchung (Fortsetzung auf der folgenden Seite)1
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Bereinigtes Gesamt-N (fehlerhafte oder unvollständige Fragebögen).
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Tabelle 1b: Fortsetzung der Übersicht über die Stichprobe
* bereinigtes Gesamt-N (fehlerhafte oder unvollständige Fragebögen).
E RGEBNISSE Alter der Stichprobe Tätowierte (altersbereinigt N=443) und Nicht-Tätowierte (altersbereinigt N=304) unterscheiden sich hinsichtlich ihres Alters statistisch nicht bedeutsam. Aufgrund von beobachteten Alterseffekten in anderen Studien (jüngere Teilnehmer sind stärker tätowiert) wurden Altersgruppen bis 25 Jahre und bis 35 Jahre gebildet. 9 % der Tätowierten sind jünger als 25 Jahre, im Vergleich zu 13,5 % der Nicht-Tätowierten. In der Gruppe bis 35 Jahre fällt der Vergleich 50,1 % (Tätowierte) zu 47,5 % (Nicht-Tätowierte) aus. Die Unterschiede sind jeweils nicht signifikant. Zum Vergleich der verschiedenen Fußball-Gruppen wurde wegen geringer Teilnahme von Hooligans, Gelegenheitszuschauern u.a. nur ein Vergleich zwischen Fans und Ultras vorgenommen. In diesem Vergleich zeigten sich allerdings Alterseffekte. Die an der Umfrage beteiligten Ultras (N=98) sind altersbereinigt deutlich jünger als die Fußballfans (N=676). Dieser Effekt ist in beide Al-
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tersgruppen (Fan N=586; Ultra N=86) hochsignifikant (p