Shanghai XXL: Alltag und Identitätsfindung im Spannungsfeld extremer Urbanisierung [1. Aufl.] 9783839406458

Reform, Öffnung und rasante Globalisierung sorgen für eine extreme Entwicklungsdynamik in chinesischen Metropolen. Allen

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German Pages 344 Year 2015

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Inhalt
Einleitung
I Geschichte und Entwicklung Shanghais
1. Historischer Abriss
1.1 1842/43 bis zur Revolution 1911
1.2 „Goldenes Zeitalter“ in den 1920er und 1930er Jahren
1.3 Shanghai in der Ära Mao Zedong
1.4 1970er/1980er Öffnung gaige kaifang
2. Entwicklung Shanghais seit 1992
2.1 Wirtschaftlicher Wandel
2.2 Städtebaulicher Wandel
2.3 Soziale Implikationen des Wandels
2.3.a Exkurs: Das hukou-System
2.3.b Zusammensetzung der Shanghaier Bevölkerung
2.4 Weitere soziale Implikationen des Wandels
II Ecdynamik
1. Der ecdynamische Raum
2. Die Erfassung des ecdynamischen Raumes
2.1 Die soziale Dimension
2.2 Die räumliche Dimension
2.3 Die zeitliche Dimension
2.4 Räumliche Spezifika der Shanghaier Pendragonisierung
2.4.a Räumliche Grobsegmentierung
2.4.b Fließräume
2.4.c Räumliche Feinstrukturierung
2.5 Soziale und kulturelle Spezifika der Shanghaier Pendragonisierung
3. Erfassung der Individuen innerhalb des ecdynamischen Raumes
III Hypothesen
Einleitung
1. Hypothese 1
2. Hypothese 2
IV Der empirische Zugang
1. Annäherung ans Feld
2. Rekrutierung
3. Interviewpartner
4. Interviewsituation
5. Situation des Forschers im Interview
6. Kameraaufnahmen
7. Orte der Interviews
8. Fragebogen
9. Transkription
10. Übersetzung und chinesische Quellen
11. Rollendefinition
12. Dilemma von (An-)Teilnahme und Distanz
13. Die Forschung und ihre Konsequenzen und Feldrückzug
V Polyphonie der Stimmen
Einleitung
1. Vorstellung der Interviewpartner
2. Der ecdynamische Raum und seine Bewohner
2.1 Interviews zu Shanghai
Shanghairen über Shanghai
Waidiren über Shanghai
2.2 Shanghairen
Shanghairen über Shanghairen
Waidiren über Shanghairen
Shanghairen über Shanghaier Frauen
Waidiren über Shanghaier Frauen
Shanghairen über Shanghaier Männer
Waidiren über Shanghaier Männer
2.3 Shanghairen gegenüber Waidiren
Die Perspektive der Shanghairen
Die Perspektive der Waidiren
2.3.a Exkurs: Xiuxius Suche nach ihrem Platz in Shanghai
2.3.b Exkurs: Amway
3. Sicht auf individuelle Kontexte
3.1 Familiensituation
Familiensituation Shanghairen
Familiensituation Waidiren
3.2 Einstellungen der Eltern
Einstellungen der Eltern der Shanghairen
Einstellungen der Eltern der Waidiren
3.3 Liebe und Heirat
Liebe und Heirat Shanghairen
Liebe und Heirat Waidiren
3.3.a Exkurs: Beispiel Daisy Ding
3.3.b Exkurs: Wohnungskauf
Wohnungskauf Shanghairen
Wohnungskauf Waidiren
3.4 Sexualität
Sexualität Shanghairen
Sexualität Waidiren
3.4.a Exkurs: Homosexualität am Beispiel Sam Zhangs
3.4.b Umgang mit Homosexualität
Umgang mit Homosexualität Shanghairen
Umgang mit Homosexualität Waidiren
3.5 Arbeit
Arbeit Shanghairen
Arbeit Waidiren
3.6 Freizeit
Freizeit Shanghairen
Freizeit Waidiren
3.7 Freundschaft
Freundschaft Shanghairen
Freundschaft Waidiren
4. Sicht auf kollektiv objektivierte Kontexte
4.1 Gesellschaft
Perspektive der Shanghairen auf die Gesellschaft
Perspektive der Waidiren auf die Gesellschaft
4.2 Status
Shanghairen und Status
Waidiren und Status
4.3 Werte und Normen
Shanghairen: Werte und Normen
Waidiren: Werte und Normen
4.4 Ein-Kind-Politik
Ein-Kind-Politik Shanghairen
Ein-Kind-Politik Waidiren
VI Schlussbetrachtung
Anhang
Übersicht über das chinesische Schulsystem
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Chinesische Literatur
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Shanghai XXL: Alltag und Identitätsfindung im Spannungsfeld extremer Urbanisierung [1. Aufl.]
 9783839406458

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Sonia Schoon Shanghai XXL

Sonia Schoon (Dr. phil., M.A.), Sinologin, forscht an der Universität Kassel zu China. Wissenschaftlicher Schwerpunkt sind Auswirkungen der Globalisierung auf chinesische Metropolen, Gesellschaft und Individuen.

Sonia Schoon

Shanghai XXL Alltag und Identitätsfindung im Spannungsfeld extremer Urbanisierung

Dieses Forschungsprojekt wurde durch die großzügige Finanzierung der Siemens AG ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sonia Schoon Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-645-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

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I Geschichte und Entwicklung Shanghais 1. Historischer Abriss 1.1 1842/43 bis zur Revolution 1911 1.2 „Goldenes Zeitalter“ in den 1920er und 1930er Jahren 1.3 Shanghai in der Ära Mao Zedong 1.4 1970er/1980er Öffnung gaige kaifang 2. Entwicklung Shanghais seit 1992 2.1 Wirtschaftlicher Wandel 2.2 Städtebaulicher Wandel 2.3 Soziale Implikationen des Wandels 2.3.a Exkurs: Das hukou-System 2.3.b Zusammensetzung der Shanghaier Bevölkerung 2.4 Weitere soziale Implikationen des Wandels

15 15 16 20 22 24 25 25 29 36 37 40 41

II Ecdynamik 1. Der ecdynamische Raum 2. Die Erfassung des ecdynamischen Raumes 2.1 Die soziale Dimension 2.2 Die räumliche Dimension 2.3 Die zeitliche Dimension 2.4 Räumliche Spezifika der Shanghaier Pendragonisierung 2.4.a Räumliche Grobsegmentierung 2.4.b Fließräume 2.4.c Räumliche Feinstrukturierung 2.5 Soziale und kulturelle Spezifika der Shanghaier Pendragonisierung 3. Erfassung der Individuen innerhalb des ecdynamischen Raumes

47 47 53 54 54 54 55 55 58 59 62 67

III Hypothesen Einleitung 1. Hypothese 1 2. Hypothese 2

71 71 77 79

IV Der empirische Zugang 1. Annäherung ans Feld 2. Rekrutierung 3. Interviewpartner 4. Interviewsituation 5. Situation des Forschers im Interview 6. Kameraaufnahmen 7. Orte der Interviews 8. Fragebogen 9. Transkription 10. Übersetzung und chinesische Quellen 11. Rollendefinition 12. Dilemma von (An-)Teilnahme und Distanz 13. Die Forschung und ihre Konsequenzen und Feldrückzug

81 81 83 88 94 95 98 100 102 103 103 105 106 108

V Polyphonie der Stimmen Einleitung 1. Vorstellung der Interviewpartner 2. Der ecdynamische Raum und seine Bewohner 2.1 Interviews zu Shanghai Shanghairen über Shanghai Waidiren über Shanghai 2.2 Shanghairen Shanghairen über Shanghairen Waidiren über Shanghairen Shanghairen über Shanghaier Frauen Waidiren über Shanghaier Frauen Shanghairen über Shanghaier Männer Waidiren über Shanghaier Männer 2.3 Shanghairen gegenüber Waidiren Die Perspektive der Shanghairen Die Perspektive der Waidiren 2.3.a Exkurs: Xiuxius Suche nach ihrem Platz in Shanghai 2.3.b Exkurs: Amway 3. Sicht auf individuelle Kontexte 3.1 Familiensituation Familiensituation Shanghairen Familiensituation Waidiren

111 111 113 122 123 123 127 130 130 132 136 140 142 143 144 144 151 155 158 166 167 167 180

3.2 Einstellungen der Eltern Einstellungen der Eltern der Shanghairen Einstellungen der Eltern der Waidiren 3.3 Liebe und Heirat Liebe und Heirat Shanghairen Liebe und Heirat Waidiren 3.3.a Exkurs: Beispiel Daisy Ding 3.3.b Exkurs: Wohnungskauf Wohnungskauf Shanghairen Wohnungskauf Waidiren 3.4 Sexualität Sexualität Shanghairen Sexualität Waidiren 3.4.a Exkurs: Homosexualität am Beispiel Sam Zhangs 3.4.b Umgang mit Homosexualität Umgang mit Homosexualität Shanghairen Umgang mit Homosexualität Waidiren 3.5 Arbeit Arbeit Shanghairen Arbeit Waidiren 3.6 Freizeit Freizeit Shanghairen Freizeit Waidiren 3.7 Freundschaft Freundschaft Shanghairen Freundschaft Waidiren 4. Sicht auf kollektiv objektivierte Kontexte 4.1 Gesellschaft Perspektive der Shanghairen auf die Gesellschaft Perspektive der Waidiren auf die Gesellschaft 4.2 Status Shanghairen und Status Waidiren und Status 4.3 Werte und Normen Shanghairen: Werte und Normen Waidiren: Werte und Normen 4.4 Ein-Kind-Politik Ein-Kind-Politik Shanghairen Ein-Kind-Politik Waidiren

185 185 188 190 190 208 222 228 228 231 233 233 236 240 244 244 247 250 252 260 265 265 267 271 271 276 278 278 278 281 282 282 285 286 286 289 291 292 294

VI Schlussbetrachtung

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Anhang Übersicht über das chinesische Schulsystem Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis

323 323 324 324

Literaturverzeichnis Chinesische Literatur

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Einleitung

Derzeit hat China in der deutschen Medienlandschaft Hochkonjunktur. Nicht zuletzt der wirtschaftliche Erfolg des Landes übt eine enorme Anziehungskraft aus. Allen Städten voran zieht die Yangzi-Delta Metropole Shanghai Aufmerksamkeit auf sich. Vielen als „Paris des Ostens“, als internationaler „Moloch“, als „Sündenbabel“ der 1920er/30er ein Begriff, vernachlässigt unter der Ära Mao Zedong, kann seit der Zeit der Reform und Öffnung, besonders aber seit Anfang der 90er Jahre, mitverfolgt werden, wie sich Shanghai wieder dem einstigen Ruhm nähert. Bezeichnungen wie „Welthauptstadt der Superlative“ und „Megacity“ in einem Atemzug mit anderen Metropolen wie Tokio, New York und Hong Kong sind mittlerweile gängige Stilisierungen in der westlichen Shanghai-Perzeption. Doch das medial vermittelte Image ist überaus einseitig. All das, was erklärtermaßen im Gegensatz zur Ära Mao steht, wird überproportional betont. Entsprechend sind dies die Lebensstile der neuen Superreichen und die so genannten linglei1-Lebensstile der neuen Avantgarde. Über Shanghais bekannteste Vertreterinnen der 70er-JahreAutorinnen Mian Mian und Wei Hui ist auch mit den Übersetzungen ihrer Romane „La La La“ und „Shanghai Baby“ unter anderem ins Englische und Deutsche etwas von dem neuen linglei-Lebensstil in den Westen gedrungen. Von Sex, Drogen und exzessiven Ausschweifungen wird erzählt. All das, was als kulturelle Revolution interpretiert wird, findet entsprechend interessierte Aufnahme. So kommen in Zeitschriften, Fernsehdo1

Linglei (‫׼‬㮕) heißt wörtlich übersetzt „andere Art“, gemeint sind damit allgemein Phänomene, die außerhalb des gesellschaftlich Gewohnten liegen, in der chinesischen Gesellschaft früher meist missbilligende Konnotationen erfuhren, heute jedoch eher als Ausdruck eines alternativen, individualistischen Lebensstils gedeutet werden. Zum Beispiel werden zu linglei Punker, avantgardistische Künstler, Homosexuelle, extreme Individualisten u.v.a. gezählt.

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SHANGHAI XXL

kumentationen und Zeitungsartikeln immer wieder die Ikonen des modernen Shanghai zu Wort: Wei Hui und Mian Mian, der homosexuelle Jazzsänger Coco, die Tänzerin Jin Xing, die bis zu ihrem 28sten Lebensjahr ein Mann war und in der chinesischen Volksbefreiungsarmee als hochrangiger Oberst diente, sind nur einige Repräsentanten dieser neuen Jeunesse Shanghais. Alle an der Konstruktion von „Shanghaier Lebenswirklichkeit“ Beteiligten befassen sich mehr mit der Bestätigung existenter Images als mit alltagsanalytischen Studien, und Mottos wie „Sex“ und „Außergewöhnlichkeit“ wird deutlich mehr Relevanz beigemessen als alltäglichen Erscheinungen. So lässt sich denn auch eine weitere für die Medien interessante Gruppe nennen, die der baofahu2, die plötzlich schwerreich gewordenen Personen, die den „Tellerwäschertraum“ verwirklichen konnten. Nur etwa zwei Drittel der chinesischen Multimillionäre sollen den Grundschulabschluss gemacht haben, Shanghais reichster Mann noch nicht einmal den.3 Sie werden zur besten Sendezeit in öffentlichrechtlichen Dokumentationen beim Einkaufsbummel in den neuen Shanghaier Haute Couture Boutiquen am Bund gezeigt. Wenn es nicht um wirtschaftliche oder architektonische Sensationsmeldungen geht, dann um die Glamour-Zone Shanghai. Vergessen wird ebenso wenig die Schattenwelt der Verlierer in der Wirtschaftsmetropole. Die Schicksale vereinzelter Wanderarbeiter können am Bildschirm verfolgt werden und sind auch immer wieder in direkten Kontrast zu den Reichen und Schönen gesetzt. Alte und sozial Schwache, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden, damit Platz für neue Wolkenkratzer geschaffen werden kann, sind ein genauso prominentes Beispiel für die in Shanghai auffällig existierende Schere zwischen Gewinnern und Verlierern des wirtschaftlichen Aufschwungs. Da sich China in einem extremen Wandlungsprozess befindet, erfährt es auch aus wissenschaftlicher Perspektive große Aufmerksamkeit. Sie setzt sich mit den Implikationen des Wandels auseinander, der sowohl politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich analysiert wird. Sozial- und kulturwissenschaftlich interessant sind unter anderem Untersuchungen neuerer Erscheinungen wie Ein-Kind-Problematik, Migration, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Chinesische soziologische Forschung hat einen Schwerpunkt auf die neue Einzelkind-Generation Shanghais gelegt. Darunter fallen Fragen nach einer Ausbildung besonderer Charaktereigenschaften, nach Werte2 3

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Baofahu (ᑊ䦡㡬) bedeutet Neureicher, Emporkömmling, Parvenu. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.2003, Nr. 209, S. 45.

EINLEITUNG

haltungen, nach typischen Verhaltensmustern, nach Eltern-Kind-Beziehungen, nach eigenen Vorstellungen von Familienplanung etc. Viele Soziologen gehen davon aus, dass die jungen Einzelkinder Unterschiede zu Gleichaltrigen mit Geschwistern entwickelt haben und dass diese Annahme in Zukunft zu völlig neuen gesellschaftlichen Ausprägungen führen wird. Seit der Einführung der Ein-Kind-Politik in Shanghai 1976 werden Einzelkinder wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe Shanghais beobachtet, sowohl national als auch international. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand sind die hinterfragten Auswirkungen auf die junge Generation in Shanghai zumeist entkoppelt von den Einflüssen, die der Wandel Shanghais seit der Reform und Öffnung selbst auf diese ausübt. Des Weiteren gibt es zahlreiche Studien zur innerchinesischen Migrationsproblematik, die sich vorwiegend mit den Situationen, Chancen, Genderfragen, etc. von Wanderarbeitern auseinander setzen. Shanghai als traditionelle Einwandererstadt und Magnet für viele Arbeitsuchende ist ein Feld, das in dieser Hinsicht große Beachtung findet. Auf eine Publikation des Shanghaier Soziologen Chen Yingfang vom Soziologischen Institut der Huadong Pädagogischen Hochschule 4 soll hier verwiesen werden, der gemeinsam mit seinen Studenten ein empirisches Projekt ins Leben gerufen hat, in dem 52 Migranten, die in Shanghai wohnen und arbeiten, über ihr Leben, ihre Situation und Träume berichten.5 Ihre Aussagen werden in Interviewform wiedergegeben und dienten diesem Forschungsprojekt als Anregung. Was nach bisherigen Erkenntnissen in der den Wandel Shanghais betreffenden Forschung fehlt, sind mikroperspektivische ethnologische Studien, die Shanghai als dynamischen Ort erfassen und dessen Auswirkungen auf bestimmte Gruppen von Menschen untersuchen. Zwar hat der amerikanische Soziologe James Farrer in den 1990ern eine breit angelegte Feldforschung über die sexuelle Öffnung der Shanghaier Jugend durchgeführt 6 , aber leider verbleibt die Arbeit aufgrund dessen, dass der „sexual discourse“ nicht adäquat analysiert und zusammengefasst wird, großteils auf dem Niveau von Bargesprächen und „sextalk“ und zeigt nicht auf, ob und inwiefern es in Shanghai durch allgemeine Enttraditionalisierungsprozesse tatsächlich zu grundlegenden 4 5

6

䦀䢕㣣ૃՕ䝤ष㢸䝤ߓ, huadong shifa daxue shehuixue xi. Chen Yingfang (呇ਠ॑) (2003),ฝ‫ا‬Ղ௧. 52 ԳऱՑ૪㨕㨯. (yimin shanghai. 52 ren de koushu shilu. Einwanderer-Shanghai. Mündliche Erfahrungsberichte von 52 Personen.) Shanghai. Farrer (2002): Opening Up. Youth Sex Culture and Market Reform in Shanghai. Chicago.

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SHANGHAI XXL

sexuellen Einstellungsänderungen gekommen ist. Positiv ist an der Studie zu bewerten, dass sie die Fokussierung auf einen Themenkomplex, der in China selbst größtenteils auch heute noch tabuisiert wird, vornimmt und in diesem die „Akteure“ selbst zu Wort kommen lässt. Da Farrer seine vorwiegend in Bars und Discotheken erlangten Informationen auf ganz Shanghai projiziert, konstruiert er damit jedoch Stereotype, die in der Realität wohl hauptsächlich in den Shanghaier Amüsiermeilen anzutreffen sind und mindert damit den Wert seiner Studie. Die vorliegende Arbeit beschreibt Shanghai und deren Einflüsse auf die junge, in ihr lebende Generation, die in der Zeit der Reform und Öffnung aufgewachsen und heute zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt ist. Es finden sowohl ursprünglich aus Shanghai stammende wie von Außen nach Shanghai immigrierte Personen Beachtung. Das für diese Studie ausgewertete empirische Material wurde in einem knapp einjährigen Feldforschungsaufenthalt in Shanghai durch Interviews, Beobachtung und Interaktion mit der ausgewählten Gruppe generiert. Ausgangspunkt war die Frage, inwieweit der enorme Wandlungsprozess, dem Shanghai vor allem seit 1992 ausgesetzt ist, sich auf Leben und Identität der ersten Generation, die vollkommen innerhalb dieser Phase des andauernden starken Wirtschaftsaufschwungs sozialisiert wurde, auswirkt. Da alle Teilnehmer den Schritt ins Berufsleben vollzogen haben oder von Zuhause ausgezogen sind, kann vermutet werden, dass sie sich in einer direkt vom Raum Shanghai beeinflussten Sphäre bewegen, die besondere Ansprüche an sie stellt und auf die sie gezwungen sind, einzugehen. Was für Implikationen sich daraus für die jungen Menschen ergeben und was für Handlungsstrategien sie entwerfen, um sich in diesem Raum zu bewähren, soll im Zuge dieser Studie erarbeitet und vorgestellt werden. Das erste Kapitel befasst sich zunächst mit einem kurzen historischen Abriss der Geschichte Shanghais, um die Entwicklungen bis zu der Ausgangssituation 1992 darzulegen und um Erklärungen für manche heute anzutreffenden Phänomene und in den Interviews geäußerte Argumentationsmuster zu liefern. Mit dem Jahr 1992 beginnt der eigentliche Aufschwung Shanghais, und ab diesem Zeitpunkt kann von bewusster Wahrnehmung der Entwicklungen seitens der jungen Generation ausgegangen werden. Aufgrund dessen wird hier besonders auf wirtschaftliche, städtebauliche und soziale Wandlungserscheinungen eingegangen, damit der Leser in der Lage ist, sich ein Bild des heutigen Shanghais zu machen.

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EINLEITUNG

Durch die Beschreibungen wird deutlich, dass der Urbanisierungsprozess, in dem sich Shanghai befindet, einzigartig ist und dass herkömmliche Begriffe wie „Stadt“, „Metropole“ oder „Megacity“ Shanghai nicht ausreichend erfassen und den Spezifika der Entwicklungen nicht gerecht werden können. Deshalb wird im zweiten Kapitel die Definition der Ecdynamik entwickelt, um den beschriebenen allgemeinen neuen Erscheinungen Rechnung tragen zu können. Speziell im Hinblick auf Shanghai wird dieser ecdynamische Prozess Pendragonisierung genannt und folgend die räumlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der Shanghaier Pendragonisierung dargestellt. Im dritten Kapitel werden zwei Hypothesen vorgestellt, die den Verlauf der Forschung maßgeblich bestimmt haben, da sich während der Interviews recht schnell herauskristallisierte, wo Schwerpunkte gesetzt und welche Fragestellungen näher verfolgt werden konnten. Der ecdynamische Raum als allumfassende und alle Lebensbereiche beeinflussende Einheit unter besonderer Berücksichtigung des Generationenkonflikts und der unterschiedlichen Wahrnehmung, Lebenseinstellungen und Lebenshandlungen von Shanghairen und Waidiren 7 sind hier die Hauptthemen. Mit den beiden Hypothesen soll der Fokus des Lesers im fünften Kapitel auf eben jene Themen gerichtet werden, damit eine Art roter Faden durch die Komplexität des Wiedergegebenen führt. In Kapitel vier wird der empirische Zugang des Forschers zum Feld und zu Interviewpartnern, werden methodische Herangehensweisen, Situationen und Rahmenbedingungen im Feld beschrieben und offen gelegt, um zusammen mit dem erhobenen Material Forschungstransparenz zu gewährleisten. Den größten Textkorpus umfasst das fünfte Kapitel, in dem die Interviews themenspezifisch orchestriert werden. Das heißt, es wird eine Gemeinschaft konstruiert, deren Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen auf polyphone Weise diskursiv arrangiert werden, um so möglichst dichte und schlüssige Analyseeinheiten zu generieren, die es er7

Shanghairen (Ղ௧Գ) ist die chinesische Bezeichnung für Shanghaier und wird in dieser Arbeit durchgängig verwandt, da das Wort Waidiren (؆‫چ‬ Գ), übersetzt Person von Außerhalb, wertfrei alle Personen umfasst, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Shanghai kommen und die unter-schiedlichen Status haben können. Der Einheitlichkeit halber werden beide Gruppen auf gleiche Weise bezeichnet.

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SHANGHAI XXL

lauben, aus den Stellungnahmen ein Diskursmosaik zu entwerfen. Um gegebenenfalls existierende Unterschiede zwischen den Aussagen der Shanghairen und Waidiren übersichtlich darstellen zu können, werden die Gruppen innerhalb der einzelnen Themenbereiche jeweils getrennt voneinander zu Wort kommen: zuerst die Shanghairen, anschließend die Waidiren. Aus dem deskriptiven Teil dieser Arbeit hält sich der Autor weitestgehend zurück. Nur dort, wo Erklärungsbedarf besteht, werden einleitende Worte an die entsprechenden Abschnitte gesetzt, ansonsten bleibt Kapitel fünf vollständig das Feld der Interviewten. Die Schlussbetrachtung schließlich setzt sich, immer den ecdynamischen Raum als omnipräsente Instanz berücksichtigend, in Anlehnung an die in Kapitel drei formulierten Hypothesen, mit der Frage auseinander, ob sich bei der neuen Generation eine spezifische, den Umständen angepasste Identitätskonstruktion abzeichnet.

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I Geschichte und Entw icklung Shanghais

1 . H i s t o r i s c h e r Ab r i s s Hudu ist die Bezeichnung für eine schon in vorchristlicher Zeit Erwähnung findende Fischersiedlung im Yangzi-Delta, strategisch gut gelegen am Huangpu und dessen Zufluss Suzhou He (ehemals Wusong He), die eine Verbindung zum offenen Meer und ins chinesische Binnenland ermöglichen. Aufgrund dieser optimalen natürlichen Infrastruktur, der geschützten Lage und der Fruchtbarkeit des Deltagebietes, entwickelte sich Hudu im Laufe der Jahrhunderte zu einem wichtigen Knotenpunkt, der die damals wesentlich größeren und bekannteren Orte Suzhou und ab dem sechsten Jahrhundert, mit dem Bau des Kaiserkanals unter der SuiDynastie, auch Hangzhou mit dem Meer verband. Als noch bedeutender galt allerdings die Verbindung Nordchinas mit dem kaiserlichen Hauptsitz des Reiches, erst Luoyang und später Beijing, mit dem YangziDelta. Im 13. Jahrhundert wurde Hudu in Shanghai umbenannt − wörtlich „auf das Meer hinaus“ (Ղ௧) − und zur Kreishauptstadt erhoben. Heute noch zeugt die Abkürzung hu (㡬) für Shanghai von den Anfängen dieser Stadt. 1555 wurde rund um die Stadt eine Mauer errichtet, um den Angriffen japanischer Piraten Widerstand entgegen zu setzen. Dargelegte Faktoren waren für die weitere Entwicklung Shanghais zum größten chinesischen Umschlagplatz für den Warenverkehr von der Küste ins Binnenland ausschlaggebend. Im 17. Jahrhundert kam es durch die mittlerweile blühende Textilindustrie, besonders was die Herstellung von Seidenstoffen anbelangte, zu ersten Handelskontakten mit dem Ausland.

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SHANGHAI XXL

Dem Handel mit Seide, Tee, Baumwolle und Reis schloss sich auch der Handel mit Opium an. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der Opiumimport, der von den Portugiesen erstmals in Fujian eingeführt wurde, offiziell verboten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg der Opiumschmuggel nach China, zum größten Teil von den englischen Besitzungen in Indien ausgehend, drastisch an. Dies führte neben schwerwiegenden Folgen für die chinesische Bevölkerung auch zu einem Defizit der chinesischen Außenhandelsbilanz, die erstmals nicht mehr durch den Warenexport ausgeglichen werden konnte. Die insgesamt geschwächte chinesische Regierung betrieb keine konsequente Opium-Verbotspolitik, trotzdem gelang es den Verfechtern eines totalen Verbotes unter Lin Zexu 1839, zigtausend Kisten Opium zu beschlagnahmen und zu vernichten. England nahm dies zum Anlass, einige wichtige Hafenstädte zu besetzten, was die chinesische Regierung zu Verhandlungen und dem Abschluss des Vertrages von Nanjing zwang.1 Für Shanghai sind die Folgen, die aus der Unterzeichnung des Vertrages von Nanjing 1842 entstanden, von entscheidender Bedeutung.

1.1 1842/43 bis zur Revolution 1911 Mit dem Vertrag von Nanjing wurde die Öffnung der Häfen Shanghai, Ningbo, Fuzhou, Xiamen und Guangzhou für den Handel mit dem Ausland erzwungen. Ausländer durften sich nun in diesen Hafenstädten ansiedeln und Handel treiben. Zudem ging die Felseninsel Hongkong an England über. Von enormem Einfluss für die weitere Entwicklung war der so genannte exterritoriale Status der Ausländer in besagten Sonderhandelszonen, womit sie nicht dem geltenden chinesischen Recht unterstanden. Die von den Engländern erstrittenen Rechte wurden durch eine Meistbegünstigungsklausel auch auf alle anderen Vertreter der Imperialmächte übertragen, und so kam es, dass sich unter anderen auch Amerikaner, Franzosen und Japaner in den chinesischen Besatzungen niederließen. Shanghai wurde offiziell am 14.11.1843 für den Außenhandel geöffnet. Die Ausländer bekamen Zonen zugestanden, in denen sie sich Häuser errichten konnten. Diese Zonen vergrößerten sich im Laufe der Zeit, was mit der Zusage weiterer Zugeständnisse von Seiten der chinesischen Regierung einherging. Die Englische Konzession erstreckte sich anfangs südlich des Suzhou He bis zum Yangjingbang-Kanal (heute die Yan’an Straße), im Osten begrenzt durch den Huangpu und im Westen bis zum 1

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Zu den komplexen Umständen, die zum ersten Opiumkrieg führten, vgl. u. a. Gernet 1979.

GESCHICHTE UND ENTWICKLUNG SHANGHAIS

Defence Creek (heute Xizang Straße). Später kam nördlich des Suzhou He die Amerikanische Niederlassung hinzu, und in gemeinsamer Verwaltung wurde so die Internationale Niederlassung gegründet. Bis 1899 bekamen Engländer und Amerikaner noch den ganzen Bereich westlich des Defence Creek entlang des Suzhou He zugesprochen (der heutige Bezirk Jing’an). Franzosen besetzten Anfangs nur ein kleines Areal, ebenso begrenzt durch Huangpu und Defence Creek, im Norden an die Englische bzw. später Internationale Niederlassung und im Süden an die ummauerte so genannte „Chinesenstadt“ grenzend, doch auch sie konnten ihre Konzession mit der Zeit enorm ausweiten, die sich ab 1914 schließlich bis nach Xujiahui erstreckte. Abbildung 1: Die ausländischen Konzessionen 19202

Folge der territorialen Abtretungen an die Ausländer und deren eigener Gerichtsbarkeit war ein dreigeteiltes Shanghai. Diese Dreiteilung machte sich nicht nur in unterschiedlichen nationalen und politischen Segmenten bemerkbar, sondern vor allem auch im äußerlichen Stadtbild: Besonderes Merkmal der Französischen Konzession waren (und sind) platanenumstandene Alleen und prächtige Villen, wohingegen sich die Internationale Niederlassung vor allem durch Banken, Handels- und andere Geschäftshäuser auszeichnete. Daneben bestand weiterhin die „Chinesenstadt“ mit deren typischen lebendigen engen Gassen und kleinen Verkaufsständen und -läden. Auch physisch waren die drei Gebiete voneinander getrennt, durch Mauern, Flüsse und Kanäle. „In the international settlement, the roads reach everywhere. In the [Chinese] city, the roads are narrow. The international settlement is exceptionally clean. 2

Quelle: http://www.geocities.com/Vienna/5047/SHANG1.JPG

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SHANGHAI XXL

Its cars do not leave a cloud of dust. People who live there think of it as paradise. In the city, although there is a street-cleaning bureau, the stench from the river attacks the nose,and latrines lie adjacent to one another in quiet districts. The difference between [the city] and the international settlement is that between heaven and earth.“3

Im Fall Shanghais kann man von einem dualen Kolonialismus sprechen, der Koexistenz und Einflussnahme zweier fremder Nationen bzw. Niederlassungen in einer chinesischen Stadt, einem weltweit einzigartigen imperium in imperio. Der Sonderstatus der Exterritorialität umfasste auch den Außenhandel und konnte so ohne Einflussnahme der chinesischen Seite von den Ausländern nach europäischem Modell betrieben werden. Beispielsweise wurden die Zolltarife vereinheitlicht, was zahlreiche Investoren und Unternehmer anlockte. Zudem gingen 1857 auch die Schifffahrtsrechte auf dem Yangzi an die Briten über, und schon 1860 hatte der Shanghaier Hafen das größte Handelsaufkommen ganz Chinas. 1861 gingen 50 % des chinesischen Außenhandels über Shanghai, bis 1870 vergrößerte sich der Anteil auf 63 %, während der frühere Konkurrent Guangzhou (Kanton) ein drastisches Absinken der Außenhandelsbilanz auf 13 % verbuchen musste. Ein zusätzlicher Faktor, der den Aufschwung begünstigte, war die Öffnung Japans für den Außenhandel. Shanghai profitierte hier von seiner strategisch guten Lage. Die Stadt blieb über die folgenden Dekaden ausschließlich ein Umschlagplatz für den Außenhandel. Erst nach dem Sieg Japans über China im chinesisch-japanischen Krieg von 1894 kam es durch den Vertrag von Shimonoseki 1895 zu einem Umbruch. Die japanischen Sieger erzwangen sich das Recht, Produktionsstätten in Shanghai zu errichten. Aufgrund der Meistbegünstigungsklausel ging dieses Recht auch wieder an alle anderen vor Ort präsenten ausländischen Mächte über, und so kam es zu einem grundlegenden Strukturwandel von einer reinen Handelsstadt zu einem Industriestandort. „Ausländische Industrien setzten sich auf chinesischem Territorium fest, in den Freihäfen und neuen ‚Pachtgebieten‘. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Chinas vom Ausland verstärkte sich plötzlich durch die Invasion des fremden Kapitals, durch den Aufschwung der Banken, Fabriken, Manufakturen und Bergwerke, die von westlichen und japanischen Gesellschaften geleitet wur-

3

18

Li 1907, S. 4.

GESCHICHTE UND ENTWICKLUNG SHANGHAIS

den und in den Städten und besetzten Regionen von den sehr billigen und verelendeten Arbeitskräften profitierten.“4

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt zum größten Industriestandort Chinas. Trotz massiver ausländischer Investitionen und etlicher Handelshäuser, Banken und Betriebe behielten chinesische Unternehmen dennoch zu jeder Zeit die Mehrheit. Nachdem die drei Areale, die so genannte „Chinesenstadt“, Internationale Niederlassung und Französische Konzession anfangs noch klar voneinander abgegrenzt waren, so durchdrangen sie sich mit der Zeit wechselseitig. Chinesen siedelten sich in den ausländischen Niederlassungen an, der Yangjingbang Kanal wurde zugeschüttet und durch eine Straße ersetzt, die die Französische und Internationale Niederlassung miteinander verband. Schließlich wurde auch die Mauer rund um die Chinesenstadt nach dem Sturz der Qing-Dynastie, einer mehr als zweitausend Jahre bestehenden Monarchie, 1912 eingerissen, um ein Symbol für die neue Zeit zu setzen. An ihrer Stelle wurde eine Ringstraße erbaut. In dieser Zeit fand der Wandel Shanghais von einer dreigeteilten segmentierten Stadt, hin zu einer polyzentrischen Stadt mit unterschiedlichen politischen und administrativen Einheiten, großen strukturräumlichen Kontrasten und vor allem auch kultureller Diversität statt, die sich mehr und mehr öffnete. Der mit der Gründung der Republik China erwachte chinesische Nationalismus, dessen Vertreter eine neue intellektuelle Bourgeoisie bildeten, fand seine Geburtsstätte vor allem in Shanghai, wo der westliche Einfluss auf alle Lebensbereiche deutlicher hervortrat als anderswo in China. Diese neue Bourgeoisie forderte unter anderem mehr Autonomie für die chinesische Seite und wandte sich gegen die Dominanz der Ausländer. Im Grunde bildete sich erst durch die rasante Industrialisierung eine gravierende gesellschaftliche Schere: Auf der einen Seite die wirtschaftlich und in den westlichen Lebensstil integrierten Bourgeois und am anderen Extrem aus den armen Regionen Chinas stammende Wanderarbeiter, die unter schlechtesten Bedingungen arbeiteten. Die Zahl der in Hoffnung auf Arbeit zugewanderten Landbevölkerung stieg bis 1921 auf rund 400.000 Personen an.

4

Gernet 1979, S. 504.

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1.2 „Goldenes Zeitalter“ in den 1920er und 1930er Jahren Aus einem Großteil dieser Wanderarbeiter bildete sich eine dritte Gruppe: die so genannten „Industrie-Proletarier“. Einerseits waren sie es, die neben den Investitionen überhaupt erst den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichten, auf der anderen Seite stellten sie aber auch eine potentiell starke politische Macht dar. Es verwundert also nicht, dass Shanghai auch die Geburtsstätte der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist, die 1921 in einer kleinen Seitengasse (Xingye Lu) der Französischen Konzession gegründet wurde. Darauf folgend gründete die KPCh den Allgemeinen Chinesischen Gewerkschaftsbund. Shanghai wurde „zum Zentrum des nationalen, antiimperialistischen Protests gegen die ‚ungleichen Verträge‘“5, nicht nur von Seiten der Arbeiterschaft, sondern auch die Shanghaier Intelligenz wollte sich nicht dem starken ausländischen Einfluss in allen Lebensbereichen ausgeliefert wissen. Zwei Umstände waren den Shanghairen ein besonderer Dorn im Auge: Der Shanghaier Stadtrat (Shanghai Municipal Council, SMC) bestand ausschließlich aus britischen Ratsmitgliedern und war niemandem rechenschaftspflichtig und konnte so die Politik Shanghais maßgeblich bestimmen, eigene Gesetze erlassen und auch nach Belieben Steuern erheben. Zudem hatte die Internationale Niederlassung ein eigenes Gericht, den Mixed Court, dem ebenfalls ausländische Richter und Anwälte beisaßen, die über Chinesen richteten. Dabei war die Zahl der in Shanghai lebenden Ausländer zu jeder Zeit sehr gering. In der Internationalen Niederlassung kamen laut eines offiziellen Zensus’ 1925 auf 810.000 Chinesen nur 30.000 Ausländer, in der Französischen Konzession gar nur 8.000 Ausländer auf knapp 300.000 Chinesen6. Jedoch lebten 40 % der Shanghaier Bevölkerung unter ausländischer Ägide, deren Vertreter nur 3,5 % der Gesamtbevölkerung darstellten. Neben genannten als ungerechtfertigt empfundenen Einflussnahmen seitens der „Eindringlinge“ ( ॿ Ե ृ , qinruzhe) kam noch deren als selbstverständlich gelebter Rassismus gegenüber der chinesischen Bevölkerung hinzu. Der berühmte Tropfen, der in dieser gespannten Situation das Fass zum Überlaufen brachte, waren Gewalttätigkeiten japanischer Baumwollfabrikanten gegenüber ihrer Arbeiterschaft, darauf folgende Proteste und der Schießbefehl eines überforderten britischen Polizeiinspektors 5

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20

Staiger 2002, S.31. Die komplizierten politischen Konstellationen der Warlord-Periode 1911-1928 werden hier nicht weiter erläutert, siehe dazu u.a.: Gernet 1979, Staiger 2002, Bergère 2002 et al. Zou 1983, S.90.

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auf chinesische Demonstranten. In die Geschichte gingen diese Ereignisse und seine Folgen als Chinesische Revolution vom 30. Mai 1925 ein.7 Studenten, Arbeiter und auch Shanghaier Geschäftsleute wandten sich gegen die Ausländer. Streiks auf allen Ebenen legten die Wirtschaft Shanghais lahm. Es begann ein Wirtschaftskrieg zwischen Ausländern und chinesischer Großbourgeoisie, die eine gleichberechtigte Stellung neben den Ausländern beanspruchte. Ihre Kernforderungen waren deshalb chinesische Kontrolle über den Mixed Court, chinesische Vertretung im Shanghai Municipal Council und Verzicht auf weitere Ausdehnungen der ausländischen Konzessionen. Der Druck auf die Ausländer wurde so groß, dass diese sich zu Kompromissen bereit erklären und den Forderungen entsprechen mussten: der Mixed Court wurde aufgehoben, chinesische Repräsentanten in das SMC aufgenommen und weitere Landaneignungen wurden vermieden. Trotz permanenter politischer Spannungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts erblühte Shanghai zur Wirtschafts- und Kulturmetropole. Zahlreiche wohlhabende Chinesen, Freidenker und Regimekritiker fanden hier Zuflucht vor den Verfolgungen der chinesischen Regierung. Dennoch werden die 20er und 30er Jahre als skandalöses Zeitalter geschildert, in dem Opiumhöhlen, Prostitution, ein ausschweifendes Nachtleben, Gangsterbanden und etliche andere − nach chinesischer Ansicht − durch westlichen Einfluss entstandene Laster in Shanghai zu finden waren. Ein Nebeneinander von West und Ost, Kultiviertheit und Dekadenz, extremem Reichtum und extremer Armut bilden seitdem die Fixpunkte in der Perzeption Shanghais. Hatten die Kommunisten in der Zeit nach der Gründung der KPCh nur einige hundert Mitglieder, so konnten sie den nationalistischen Schub, zu dem es 1925 mit der Revolution kam, für sich nutzen und binnen eines Jahres ihre Mitglieder auf 10.000 verzehnfachen. Der Imperialismus wurde zum Feindbild erklärt. Nachdem 1927 die Guomindang unter Jiang Jieshi (Chiang Kaishek) die Herrschaft übernahm, wurden 22 von 33 ausländischen Konzessionen an China zurückgegeben, und der revolutionäre Druck schwächte ab. Die Shanghaier Niederlassungen blieben zwar bestehen, kamen aber de jure und de facto unter chinesische Kontrolle. Eine neue Institution wurde gegründet: das Municipal Government of Greater

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Vgl. ausführlich hierzu Osterhammel 1997.

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Shanghai, welches direkt der chinesischen Zentralregierung unterstand. Die Emanzipation von der fremden Dominanz schritt fort. Diese Entwicklung erlahmte 1937, als der Chinesisch-Japanische Krieg ausbrach und Shanghai von japanischem Militär besetzt wurde. Shanghai verfiel in „Finsternis“ (႕ᄆ‫੺׈‬, heian shijie)8, der Handel kam nahezu zum Erliegen, und die Ausländer verließen Shanghai, nachdem die Konzessionen an die chinesische Marionettenregierung Wang Jingweis unter japanischer Schirmherrschaft zurückgegeben wurden. Erst 1945, nach der Niederlage Japans, erblühten Shanghais Industrie und Handel wieder, erstmals unter rein chinesischer Verwaltung.

1.3 Shanghai in der Ära Mao Zedong Nach der „Befreiung“ Chinas und der Gründung der Volksrepublik am 1.10.1949 verfolgte die KPCh eine gezielte Dekolonialisierungspolitik. Fast alle Ausländer wurden binnen weniger Jahre aus der Volksrepublik ausgewiesen, in Shanghai wurden die englischen und französischen Straßennamen in chinesische umbenannt, das kommunistische Parteikomitee und die neue Stadtverwaltung zogen in die verlassenen Prachtbauten am Bund. Die ehemalige Pferderennbahn auf dem Gebiet des heutigen Volksplatzes wurde in einen öffentlichen Park verwandelt. Die Stadt, die als großbourgeoises Sündenbabel und westlich dominierte Verkörperung des Imperialismus und Kapitalismus eine Büßerrolle zugewiesen bekam, sollte innerhalb kürzester Zeit in eine kommunistische Hochburg umgeformt werden. Trotz der Negierung all dessen, was Shanghai aus Sicht der Kommunisten verkörperte, wurde das kolonial geprägte Stadtbild nicht zerstört. Jedoch wurde die Stadt als Symbol kolonialer Demütigung gebrandmarkt und herabgesetzt. Alles wirtschaftliche Leben unterstand der Zentralregierung der KPCh, geleitet von marxistisch-leninistischem Gedankengut und dem Sowjetmodell folgend. Auch wurde die Geschichte der Stadt als Magnet für jegliche Art von Immigranten gebrochen. Ein so genanntes hukou-System9 wurde eingeführt, das den ländlichen Immigranten eine Einwanderung nach Shanghai unmöglich machte. So sollte die Abwanderungswelle vom Land nach Shanghai und weitere Urbanisierung verhindert werden. Eine gravierende wirtschaftliche, politische und soziale Metamorphose Shanghais hin zu einer in vielerlei Hinsicht stagnierenden kommunistischen 8 9

22

Wörtlich: dunkle Welt; finstere Welt. System zur Registrierung und Limitierung städtischer Einwohnerzahlen in ganz China. Dieses System besteht auch heute noch und reguliert die Zuwanderung nach Shanghai. (Vgl. ausführlich Abschnitt I.2.3.a)

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Kommune in westlich geprägter Hülle war die Folge. Ein Grund hierfür lag auch in den finanziellen Repressalien, denen die Stadt ausgesetzt war. „Nach verschiedenen Berechnungen chinesischer Ökonomen kam Shanghai zwischen 1949 und 1979 für rund ein Achtel des landesweiten industriellen Produktionswerts und für ein Sechstel bis ein Viertel der Einnahmen des staatlichen Fiskus auf – und dies mit rund 1 % der Fläche und weniger als 1 % der Bevölkerung des Landes. Die an Beijing zu leistenden Zahlungen entsprachen in diesem Zeitraum im Schnitt 86 % der lokalen Einnahmen Shanghais.“10

Aber nicht nur finanziell musste Shanghai seit den Fünfzigern die kommunistische Regierung unterstützen, sondern auch mittels „Humankapitals“: Unter der Führung Mao Zedongs wanderten insgesamt knapp 3,5 Millionen Shanghaier Kader und Gebildete von Shanghai in die ländlichen Regionen aus, um dort einen Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten. Viele von ihnen kamen nie nach Shanghai zurück. „Im radikalen Gegensatz zu den überkommenen Vorstellungen von Stadt und Urbanität verfolgten die Maoisten ein Konzept, das sich auf die Formel ‚Rurbanisierung‘ bringen läßt. Dorf und Stadt sollten möglichst gleichgehobelt und der Unterschied zwischen ihnen aufgehoben werden. Nicht mehr Dorf oder Stadt also, sondern wechselseitiger Ausgleich, nicht Arbeiter oder Intellektueller, sondern ‚gebildeter Werktätiger mit sozialistischem Bewusstsein‘, nicht bäuerliche oder industrielle Tätigkeit, sondern Vermischung beider Bereiche, die dadurch zu verwirklichen war, daß die Arbeiter ‚hinunter auf die Dörfer‘ gingen und daß umgekehrt die Bauern industrielle Fähigkeiten erwarben. […] Die Stadt der Zukunft sollte also weder ein ‚mauerumschlossenes‘ Eigengebilde sein […], noch ein westlich orientiertes Ballungszentrum mit stadttypischem Profil, sondern ein dorfverbundenes Kontinuum, das zwar quantitativ dichtere Dimensionen auswies als ein Dorf, das sich deshalb aber qualitativ noch lange kein Eigenprofil leisten durfte.“11

Allerdings war die Beijinger Regierung immer an der wirtschaftlichen Produktivität Shanghais interessiert, besonders während der Kulturrevolution 1966-1976 unterstützte die Regierung die Shanghaier Wirtschaft mit Nachdruck, während andernorts die Ökonomie teilweise komplett zusammenbrach.

10 Holbig 2001, in: CHINA aktuell, November 2001, S. 1220. 11 Weggel 1997, S. 37/38.

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1.4 1970er/1980er Öffnung gaige kaifang Für diese bevorzugte Behandlung und die Tatsache, dass die verhasste Viererbande und die kulturrevolutionäre Linke mit Shanghai verbunden wurde, wurde nach Maos Tod Shanghai politisch, wirtschaftlich und sozial schwer zurückgeworfen, denn die Regierung verweigerte ihr die wirtschaftliche Dezentralisierung und Liberalisierung, die anderen Regionen unter Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik sehr zugute kamen. Hatte Shanghai bis dato immer wirtschaftlich die Führungsposition inne, so rutschte sie12 durch die Ignoranz aus Beijing auf der Rangliste des erwirtschafteten Sozialproduktes bis 1990 auf den zehnten Platz ab. „Die Folgen der finanziellen Ausblutung und des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt waren überall im Stadtbild sichtbar. Aufgrund seiner fiskalischen Pflichten gegenüber der Zentralregierung hatte Shanghai bereits seit Beginn der Volksrepublik an einem chronischen Mangel an Investitionen in die städtische Infrastruktur gelitten. Nun aber, da sich in anderen Städten die Situation im Zuge der Wirtschaftsreformen merklich besserte, wurde die Armut als Last und Vorwurf empfunden. […] Vor dem Hintergrund der ausweglosen Lage setzte unter der Shanghaier Bevölkerung eine wachsende Demoralisierung ein. […] Ein offizieller Vertreter fasste die Stimmung der Bevölkerung im Jahr 1985 folgendermaßen zusammen: ‚Der durchschnittliche Shanghaier ist nicht glücklich. Er arbeitet hart, um einen von sechs Yuan zu verdienen, die die Nation ausgibt, aber er hat nicht einmal ein anständiges Dach über dem Kopf.‘“13

Erst Mitte bis Ende der Achtziger Jahre bekam Shanghai mit ihrem Bürgermeister Jiang Zemin und seinem Nachfolger Zhu Rongji, nachdem Jiang ins Politbüro aufstieg, wieder Befürworter, die in Schlüsselpositionen saßen und dem Wohl der Stadt zuträglich waren. Im April 1990 verkündete Ministerpräsident Li Peng den Beschluss zur Erschließung Pudongs, des gesamten Gebiets östlich des Huangpu, als neuer Wirtschaftssonderzone.

12 Shanghai ist aus chinesischer Sicht eine weibliche Stadt. Dies äußert sich durch das weibliche Radikal ᅚ/nü in der dritten Person singular, und deshalb wird hier auch die entsprechende Form beibehalten. 13 Holbig 2001, in: CHINA aktuell, November 2001, S. 1224. Zitat übersetzt aus einem Artikel der Far Eastern Economic Review, 12.12. 1985, S. 28.

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2. Entwicklung Shanghais seit 1992 Erst 1992 kam der wirtschaftliche Aufschwung tatsächlich und wieder gewaltig ins Rollen, nachdem Deng Xiaoping mit seiner Wahl Shanghais zur „ideologischen und geographischen Basis für seine ,Reise durch den Süden‘“ die Stadt offiziell rehabilitierte und mit seiner Aufforderung, zum „Kopf des Drachen“ (囅㢎, longtou) unter sozialistischer Marktwirtschaft zu werden, zu großen Leistungen aufrief, die auch politisch gestützt und gefördert wurden. „In many ways these new developments appeared as a resurgence of the commercial tradition and the cosmopolitan culture that flourished in the Republican Era. They entailed a rehabilitation of Shanghai past, henceforth referred to as an exceptional experience to be proud of and to be seen as a model. Any hint at colonialism and Guomindang rule was suppressed and the neutral expression ,the thirties‘ (sanshi niandai) came to stand for Republican Shanghai.“14

2.1 Wirtschaftlicher Wandel Dengs Rehabilitierung war der Startschuss zu einem Wirtschaftswachstum, das weltweit mit Staunen und Skepsis betrachtet wird, da es sich in Dimensionen vollzieht, die es bis dato in dem Ausmaß noch nicht gegeben hat. Dengs Bedauern über das ungerechtfertigte Vernachlässigen Shanghais 15 führte daraufhin zu einer weiten Autonomisierung der Shanghaier Lokalregierung, zu „fiskalische[n] Arrangements mit der Zentralregierung und [dem] Ausbau Shanghais als regionalem Finanzzentrum mit einem nationalen Wertpapiermarkt“ 16 sowie der enormen Forcierung des Aufbaus der Neuen Wirtschaftszone Pudong. Weitere Liberalisierungsmaßnahmen und hohe – vor allem ausländische – Kapitalzuflüsse führten ab den Neunzigern bis heute zu einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts von 12 %.

14 Bergère 2002, S. 46. 15 „Rückblickend war es ein Fehler von mir, Shanghai nicht bei der Gründung der vier Sonderwirtschaftszonen zu berücksichtigen. Die Wirtschaftsreform und Öffnung im Yangzi-Delta sowie im gesamten YangziEinzugsgebiet und selbst für ganz China wäre sonst anders verlaufen.“ (Zitat nach: Jacobs 1997, S.170.) 16 Schüller 2001, S.1104.

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Tabelle 1: Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten Shanghais zwischen 1990 und 2005 (in Prozent).17 Bruttoinlandsprodukt Sekundärsektor Tertiärsektor Gesamtinvestitionen in Anlagevermögen Finanzeinnahmen − lokale Finanzeinnahmen Lokale Finanzausgaben Industrieller Bruttoproduktionswert Einzelhandelsumsatz Konsumgüter Außenhandelsvolumen Importe Exporte Pro-Kopf-Jahreseinkommen Städter Jährliche Pro-Kopf-Konsumausgaben Investitionen in städtische Infrastruktur

1990 – 2005 12,2 12,3 13,1 23,4 19,5 15,3 22,9 16,4 15,7 24,0 28,9 20,8 15,4 14,0 24,7

Die hauptsächlichen „Wachstumsmotoren waren Investitionen, privater und staatlicher Konsum und Außenwirtschaft“18. Mit dem rasanten Wirtschaftswachstum einher ging eine strukturelle Veränderung der Shanghaier Wirtschaft. Die zwei Sektoren Landwirtschaft und Dienstleistung zeigen eine völlige Umstrukturierung: Der primäre Sektor verlor massenhaft Beschäftigte, von 34,4 % 1978 auf 7,1 % 2005, wobei sich der Ertragsanteil am BIP nicht so drastisch gesenkt hat, er aber mit nur noch 1,3 % keine Rolle mehr spielt. Dahingegen gewann der tertiäre Sektor ungemein an Bedeutung, sowohl bei Beschäftigung als auch beim BIP: Er stieg von 21,6 % 1978 auf 55,6 % Beschäftigtenanteil 2005 und von 18,6 % BIP 1978 auf 50,5 % 2005. Mit einem BIP von 91,5 Milliarden Euro im Jahr 2005 und einem durchschnittlichen jährlichen städtischen Pro-Kopf-Einkommen von 18.645 Yuan RMB (1.862 €) liegt Shanghai hinter Hongkong und Macao landesweit an dritter Stelle. Im Vergleich zum Vorjahr konnte Shanghai 2004 mit 13,6 % die höchste Wachstumsrate jeher verzeichnen, was im Vergleich mit 1990 einer 3,9-fachen Steigerung entspricht.

17 Shanghai Statistical Yearbook 2006 (Ղ௧伸儳‫ڣ‬募 2006, shanghai tongji nianjian 2006). 18 Schüller 2001, S. 1105.

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Der Wandel der Eigentumsverhältnisse spielt für diese Strukturveränderungen eine gewichtige Rolle, denn mit der Privatisierung vieler Staatsbetriebe und der Zulassung von Unternehmensformen mit ausländischer Beteiligung kam es überhaupt erst zur Herausbildung nichtöffentlichen Eigentums (1978: 1,0%, 2004: 38,9%). Beispielsweise konnte Shanghai im Jahr 2002 eine tägliche Vermehrung von durchschnittlich 3,5 neuen privaten Firmen verbuchen.19 Tabelle 2: Strukturwandel der Shanghaier Wirtschaft (Anteile in Prozent)20

Beschäftigung Primärsektor Sekundärsektor Tertiärsektor Bruttoinlandsprodukt (BIP) Primärsektor Sekundärsektor Tertiärsektor Eigentumsstruktur des BIP Öffentliches Eigentum – staatliches Eigentum – kollektives Eigentum Nichtöffentliches Eigentum

1978

1990

1999

2005

34,4 44,0 21,6

11,1 59,3 29,6

11,4 46,5 42,1

7,1 37,2 55,6

4,0 77,4 18,6

4,3 68,0 31,9

2,0 48,4 49,6

0,9 48,6 50,5

99,0 86,2 12,8 1,0

96,1 71,9 24,2 3,9

75,2 55,1 20,1 24,8

57,6 49,1 8,5 42,4

Eine entscheidende Folge des Aufbrechens der Staatsbetriebe war die damit ebenfalls einhergehende Auflösung vieler danwei (㧧‫)ۯ‬21, denn 19 Luo 2005, S.492. 20 Werte aus Schüller 2001, S. 1105 und Shanghai Statistical Yearbook 2006 (Ղ௧伸儳‫ڣ‬募 2006, shanghai tongji nianjian 2006). 21 „Danwei heißt übersetzt Einheit – im Sinne von Maßeinheit oder Organisationseinheit. […] Die ökonomische Funktion ist vom Typ der Danwei abhängig. Staatsbetriebe bildeten das Fundament der Planwirtschaft und die unterste Ebene der Planbürokratie. Sie wurden mit staatlichen Mitteln alimentiert und waren bis zum Reformbeginn in jeder Hinsicht von den Behörden abhängig. Die politische Funktion der Danwei besteht nach wie vor in der Sicherung der Parteiherrschaft durch Kontrolle und Steuerung der Mitglieder. Die Danwei definiert und kontrolliert umfassend den Handlungsspielraum der Menschen: Auf der Ebene der Einheiten werden einerseits Kampagnen und die Politik der Partei (z.B. Familienplanung) durchgesetzt, andererseits Partizipation zugelassen. Die Danwei begrenzen die Bewegungsfreiheit der Menschen über administrative und politische

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private Unternehmen sind nicht dazu verpflichtet, den Mitarbeitern Wohnraum und eine Rundumversorgung zukommen zu lassen. Diese Privatisierung ist von entscheidender Bedeutung für die neue innerstädtische Mobilität der Bürger, da sich nun nicht mehr Wohn- und Arbeitsstätte in einer danwei befinden, sondern teilweise weite Strecken zwischen Heim und Arbeitsplatz zurückgelegt werden müssen. Zudem ist es nun erstmals möglich, privates Wohneigentum zu erwerben, was zu einem anhaltenden Boom im Immobiliensektor führt. 22 Allein im Jahr 2005 hat Shanghai einen nationalen Anteil von 7,9 % bei Investitionen in Immobilien, und das bei einer anteiligen Bevölkerung von nur 1,0%. Des Weiteren verlangen Privatisierung und der große Anstieg des Dienstleistungssektors von den Angestellten ein neues Denken: Konkurrenz statt lebenslanger gesicherter Arbeitsplatz fordern effektives, leistungsbezogenes Arbeiten und Kundenorientierung. Eine neue „hire-andfire“-Praxis tritt an Stelle der staatlichen Absicherung. Diese genannten Faktoren, Privatisierung, die Möglichkeit des Erwerbs von Wohnungseigentum, Konkurrenz im Arbeitsalltag und Anstieg des Dienstleistungssektors zusammen mit allgemein stark ansteigendem Wohlstand innerhalb der letzten Dekade sind in wirtschaftlicher Hinsicht diejenigen Einflüsse, die die Bewohner am meisten beeinflussen.

Maßnahmen (Arbeitsakte, Erziehung, Kritik). Sie stellen zellular abgegrenzte Handlungsräume dar und verteilen Lebenschancen: Sie grenzen sich gegenüber der ‚weiteren Gesellschaft’ als ‚kleine Gesellschaft’ ab, innerhalb deren die materiellen Ressourcen der Lebensführung bereitgestellt werden (Arbeitsplatz, Wohnung, soziale Sicherung und Grundversorgung). Danwei sind Bezugspunkt der persönlichen Identifikation der Menschen jenseits der Familie. Gegenwärtig geraten die Danwei durch die Unternehmens- und Arbeitsreformen unter erheblichen Veränderungsdruck. […] Die lebenslange Zugehörigkeit zur umfassend versorgenden Danwei schwindet angesichts des Abbaus von Beschäftigung und Wohlfahrtsleistungen sowie des Aufkommens neuer Beschäftigungs- und Lebensoptionen. Die Danwei wandeln sich jedoch nur allmählich, weil ihre zentrale Rolle für die Stabilisierung der städtischen Gesellschaft und des politischen Systems noch unverzichtbar ist.“ (Hebel 2003, S. 145f.) 22 Vgl. weiterführende Literatur zur Privatisierung des chinesischen Wohnungsmarktes: Zhang 1998; Ness 1998, S. 1-10; Ness 1999, S. 44-49; Read 2003, S. 31-59.

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GESCHICHTE UND ENTWICKLUNG SHANGHAIS

2.2 Städtebaulicher Wandel Waren Anfang der Neunziger im Immobiliensektor noch Investitionssummen von 120 Millionen Dollar pro Jahr zu verzeichnen, so beliefen sie sich im Jahr 2001 auf 7,6 Milliarden Dollar. Dieser Investitionsanstieg bedeutet für die letzte Dekade eine jährliche Wachstumsrate von über 50 %. Zumeist fließen die Gelder in den Immobilien-Sektor. Pudong (௥䢕)23 ist das Gebiet in Shanghai, welches am augenfälligsten verändert wurde. Aus 522 km² nahezu ausschließlichem Ackerland wurde binnen zweier Dekaden ein Wirtschaftszentrum sondergleichen aus dem Boden gestampft.24 Abbildung 2: Manifestationen des Wandels. Aufnahmen verschiedener Orte in Pudong früher und heute im Vergleich.25

Lujiazui, Pudong 1987

Lujiazui, Pudong 2004

Dongchang Straße, Pudong 1990

Dongchang Straße, Pudong 2004

23 Pudong bedeutet „östlich des Huangpu“ und beschreibt das gesamte Erschließungsgebiet bis zur Yangzi-Mündung bzw. bis zum Gelben Meer. 24 1990 wurde Pudong zu einer Sonderwirtschaftszone erklärt, 1985 allerdings entwarf der damalige Bürgermeister Shanghais Zhu Rongji schon einen wirtschaftlichen Erschließungsplan für Lujiazui, das heutige Finanzzentrum. 25 Quelle: Xu/Xu (2004) A Changing Shanghai.

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Jianping Straße, Pudong 1989

Gushan Straße, Pudong 2004

Fährstation Xiepu Straße, Pudong 1988

Fährstation Xiepu Straße, Pudong 2004

Gegenüber dem Bund (؆䀯, waitan), auf der Westseite an den Huangpu grenzend, entstand Shanghais neues Finanzzentrum mit einer Agglomeration internationaler Unternehmen und Banken. Abbildung 3: Stadtteile Shanghais26

26 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Shanghai_administrative.png.

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GESCHICHTE UND ENTWICKLUNG SHANGHAIS

1990 gab es in ganz Shanghai 748 Hochhäuser mit mehr als acht Stockwerken. 2004 stehen allein in Pudong 1.812 entsprechende Bauten, davon über 650 mit mehr als 30 Etagen und in ganz Shanghai mehr als 10.000 Hochhäuser. Zum Vergleich: Die neun Innenstadtbezirke und Pudong verfügen zusammen über 82 % der gesamten Shanghaier Hochhäuser auf einem Flächenanteil von nur 15 %. Die nordwestlichen Bezirke Jiading, Qingpu und Songjiang hatten im Jahr 2003 zusammen nur 103 Hochhäuser. Mitte 2003 legten diese Bezirke fest, dass sie binnen drei Jahren zu „neuen Pudongs“ entwickelt werden sollen (Կ‫ڣ‬٦ທԿ 㠺௥䢕, san nian zaizao san ge Pudong).27 Ende 2004 erhöhte sich die Zahl der dort erbauten Hochhäuser schon auf 273. In welchem Ausmaß die Entwicklung dort vorangetrieben wird, kann man sich anhand des Beispiels des Hochhaussektors vorstellen. Von der Stadtregierung wird bei all diesen Vorhaben kaum berücksichtigt, dass schon jetzt die Ressourcen knapp sind und in den heißen Sommermonaten teilweise das Stromnetz wegen Überlastung zusammenbricht. Der wirtschaftliche Aufschwung wird an anderen Kriterien gemessen, und deshalb werden Prioritäten verlagert und Probleme erst bei akutem Handlungsbedarf angegangen. Der enorme Bauboom führt, wie das Beispiel Jiadings, Qingpus und Songjiangs zeigt, gleichzeitig zu einem sich kontinuierlich in die Breite ausdehnenden urbanen Gebiet sowie zu einer extremen vertikalen Expansion. Abbildung 4: Satellitenaufnahmen Shanghais. Links: Die dunkle Fläche zeigt die Ausdehnung Shanghais 1986, die hellere Fläche die horizontale Erweiterung 1998. Rechts: Shanghai 2005.

27 Li 2004, S.4.

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Seit 1990 hat sich die Zahl der höher als acht Stockwerke hohen Hochhäuser verzehnfacht.28 Mittlerweile gibt es 2.750 über zwanzigstöckige Großbauten. Das derzeit höchste Gebäude Shanghais mit 420,5 m, der Jinmao Tower, gleichzeitig das dritthöchste Gebäude der Welt, wird demnächst vom World Financial Tower überragt werden, der sich mit einer Höhe von 494 Metern auf den zweiten Platz der weltweit höchsten Gebäude setzen wird. Abbildung 5: Ausgewählte Beispiele von extremer Vertikalität.

Von links nach rechts: Jinmao Tower, Oriental Pearl Tower, Modell des World Financial Tower, Aurora Plaza, Marriott Hotel. Innerhalb der letzten zehn Jahre wurden in ganz Shanghai mehr als 600 Millionen Quadratmeter Wohnfläche geschaffen.29 Hinzu kommen allein im Jahr 2005 noch im Bau befindliche Immobilien mit 28 Millionen Quadratmetern Gesamtfläche. Anhand dieser Zahlen lässt sich die Dimension erfassen, in der der Shanghaier Städtebau vor sich geht: In extremer Vertikalität.

28 Shanghai Statistical Yearbook 2006. 29 Laut Peter Knutson 2004, S. 56 waren in Shanghai zeitweilig „ein Viertel sämtlicher Baukräne der Welt im Einsatz.“

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Architekten und Designer aus der ganzen Welt haben in Shanghai ihr Mekka gefunden. Keine bürokratischen Hürden erschweren und verzögern Bauvorhaben. Wenn ein Projekt genehmigt wurde, wird alles Notwendige zu seiner Durchsetzung veranlasst. Störende Bauten werden abgerissen, Bewohner umgesiedelt, Naturschutz spielt keine Rolle, Prestige ist der Innovationsmotor, der alle Bedenken überrollt. So kommt es, dass Shanghai ein Potpourri verschiedenster architektonischer Stile aufzuweisen hat. Tatsächlich ist Shanghai eine städtebauliche Hybridlandschaft: Die frühere Dreiteilung in „Chinesenstadt“, „Internationale-“ und „Französische Niederlassung“ hat schon in der Anfangswachstumsphase, die für damalige Zeiten ähnlich dramatisch voran ging wie heute, für unterschiedlichste Baustile gesorgt. In der „Chinesenstadt“ dominierten enge Gassen mit lilong (ߺ‫)ݫ‬, traditionellen Bauten alten Stils und typisch chinesischem Charakter. Während die Gegend am Bund von pompösen britischen Kolonialbauten und die Internationale Niederlassung durch Geschäftsgebäude und Banken geprägt wurden, sind Villen und platanengesäumte Straßen ein Markenzeichen der Französischen Konzession. Neu hinzugekommen sind seit den 90ern futuristische Mammutprojekte aus Stahl und Glas, die sich mitten zwischen alle anderen Bauten gesetzt haben und die in ihrer mutmaßlichen Unstrukturiertheit für einen ganz eigenen Charme, wie die chinesische Regierung es gerne ausdrückt, „chinesischer Prägung“ 30 sorgt. Das, was „chinesische Prägung“ ausmacht, wird nicht kommentiert. Abbildung 6: Beispiele für das Nebeneinander von Alt und Neu.

Von links nach rechts: Lujiazui Development Museum im Pudong Finanzzentrum, Blick von der „Chinesenstadt“ zum Jinmao Tower. 30 Außenminister Tang Jiaxuan sprach auf dem 16. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas am 8.11.2002 erstmals von einem „Sozialismus chinesischer Prägung“ (խ㧺௽‫ۥ‬ष㢸‫׌‬㠼, zhongguo tese shehuizhuyi).

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Nicht nur der Immobiliensektor weist höchste Wachstumsraten auf, sondern auch die Zahlen für Straßen- und Gartenbau sind seit der Öffnung und besonderen Förderung Shanghais enorm gestiegen. Dadurch, dass in der danwei Arbeitsplatz und Wohnbereich miteinander kombiniert waren, bestand keine Notwendigkeit, eine Infrastruktur herzustellen, die ein Pendlertum erfordert. Dies musste, wie w.o. beschrieben, nach der Öffnung Chinas, der Auflösung der Planwirtschaft und der schnell voranschreitenden Privatisierung von Unternehmen und dem damit verbundenen Aufbrechen des danwei-Systems und der Entbindung des Staates von der Verpflichtung für Wohnraum seiner „Angestellten“ zu sorgen, nicht nur in Shanghai dringend und vor allem schnell nachgeholt werden. Seit 1990 entstanden über 11.500 km Straßen in ganz Shanghai. Das entspricht einer Verachtfachung binnen 15 Jahren. Das erhöhte Verkehrsaufkommen mit drastisch ansteigender Zahl öffentlicher und privater Verkehrsmittel, mit einer mehr als Verdreifachung der Busse, einer mehr als Vervierfachung des Taxiaufkommens und einer Versechsfachung der zugelassenen Privatautos 31 bis 2005 erzwang den infrastrukturellen Ausbau. Pudongs Straßennetz wurde größtenteils neu gelegt, ebenso die Außenbezirke Shanghais bekamen eine neue Struktur. In der Innenstadt konnte der Verkehrsfluss nur durch Ausweitung in die Höhe vor dem vollkommenen Kollaps bewahrt werden. Folge war seit 1994 das konsequente Ziehen von Straßenschneisen mitten zwischen Hochhäusern hindurch, sich teilweise auf bis zu vier Ebenen schneidend. Die Anwohner im Weg stehender Häuser wurden umgesiedelt, andere müssen in Kauf nehmen, aus dem Wohnzimmerfenster im sechsten Stock Staus auf der gleich hohen Stadtautobahn zu beobachten. Abbildung 7: Hochkreuzung Yan’an dong lu (࢏‫ڜ‬䢕ሁ‫ٌم‬䱂)

Die Länge der städtischen Hochstraßen beläuft sich mittlerweile auf 77 Kilometer, die sich kreisförmig um das Zentrum schlängeln. 31 Anstieg der Busanzahl von 1990 5.341 auf 2005 17.509 und der Taxen von 1990 11.298 auf 2005 47.794. Die Zahl der Privatautos wird in Shanghai durch strenge Kontrollen unter 1,4 Millionen gehalten. (Shanghai Statistical Yearbook 2006, China Daily, 14. August 2003)

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Auch das die Fließräume betreffende Stadtbild ist sehr unterschiedlich. Von zwölfspurigen Ausfallstraßen, über Hochstraßen, Stadtautobahnen, baumgesäumte Alleen bis hin zu engsten Gassen, die ein Kleinwagen nur mit Problemen durchfahren kann, reinen Fahrradstraßen und kleinen Wegen, ist dort alles, teilweise direkt ineinander übergehend, zu finden. Mit zunehmender Industrialisierung stieg auch der CO²-Ausstoß dramatisch an. Über Shanghai hängt fast immer eine riesige Dunstglocke: Smog. Die Regierung erkannte die Gefahr für die Umwelt und Lebensqualität des Wirtschaftsstandortes und sorgte neben groß angelegten Investitionen in Umweltmanagement, Kläranlagen, Recyclingwerke etc. auch für eine konsequente und schnelle Grünflächengenerierung, um die CO²-Werte zu senken und der Überhitzung der Stadt durch Hochhäuser und Klimaanlagennutzung entgegen zu wirken. Deshalb werden im gesamten Stadtgebiet öffentliche Parks, Seen, Springbrunnen, Blumenbeete und andere Grünflächen zwischen Straßenzüge und Wolkenkratzer gesetzt. Seit 1990 gibt es auch in dieser Hinsicht eine Vervielfachung der Grünflächen: Auf jeden Einwohner kommen durchschnittlich elf Quadratmeter Grünfläche, 1990 war es nur ein Quadratmeter. Die Hektargröße der öffentlichen Grünflächen hat sich ebenfalls verzehnfacht, darunter eine Verdoppelung der Parkanlagenfläche. Am augenfälligsten sind die stadtweiten Bepflanzungen an den Straßen. Sogar die Hochautobahnen verfügen über die gesamte Länge über Blumenkästen, die an den Seiten hängen und für CO²-Absorbtion sorgen. Abbildung 8: Beispiele für Begrünung im Innenstadtbereich

Das Ziel der Stadtregierung war es, bis 2006 30 % der Stadt mit Grün zu bepflanzen. Ende 2005 wurde ein Anteil von 37 % erreicht. Berücksichtigt werden muss allerdings, dass der Innenstadtbereich nur über durchschnittlich 18,5 % verfügt, die Außenbezirke wiederum teilweise über die Hälfte des Gebietes Grün aufweist, wovon etliche Hektar auch landwirtschaftlich genutzt werden.

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2.3 Soziale Implikationen des Wandels Shanghai verfügt über 6.340,5 Quadratkilometer Fläche, davon sind 3.924,2 km² urbaner und 2.416,3 km² ländlicher Raum. In der Stadtprovinz leben etwa dreizehneinhalb Millionen, davon allein im Stadtgebiet (Innenstadt plus Pudong) ca. acht Millionen Menschen mit gemeldetem Hauptwohnsitz. Hinzu kommen 4,4 Millionen Menschen, die sich dort mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung über 6 Monate aufhalten, was einem Anteil von mehr als einem Viertel der Gesamteinwohnerzahl entspricht.32 Wanderarbeiter sind in dieser Aufzählung nicht inbegriffen. Die Schätzungen über ihre Anzahl variieren teilweise erheblich. Von drei Millionen ist die Rede33, die Dunkelziffer kann aber wesentlich höher liegen. Inoffiziellen Behauptungen der Shanghairen selbst zufolge, halten sich in ganz Shanghai schon mehr als zwanzig Millionen Menschen auf.34 Die gegenwärtig 6,5 Millionen Bewohner mit dauerhaftem Wohnsitz im Innenstadtgebiet (neun Innenstadtbezirke) leben auf einer Fläche von 290 Quadratkilometern. Die Bevölkerungsdichte beträgt dort durchschnittlich 28.294 Einwohner pro Quadratkilometer. In den am meisten besiedelten Gegenden kommt man auf eine Dichte von 49.251 Einwohnern/km². Wohlgemerkt handelt es sich bei ihnen um tatsächlich registrierte Personen, also muss auch hier von einer Verschärfung der dargestellten Verdichtungen ausgegangen werden. Die mit Hauptwohnsitz in Shanghai gemeldeten Einwohner weisen seit zehn Jahren ein defizitäres Bevölkerungswachstum von durchschnittlich -2,3 ‰ auf. Das tatsächlich aber ansteigende Bevölkerungswachstum entsteht somit durch Zuwanderung. Shanghai mit seiner rasanten wirtschaftlichen Entwicklung wirkt als Magnet für viele Ausländer 35 und Chinesen. Bei den meisten Chinesen handelt es sich um Personen, die vom Land kommen und sich bessere Chancen auf Arbeit und persönliche Entwicklung in dieser östlichen Riesenmetropole erhoffen. Der immense Zustrom führt zu einem enormen Zuwanderungsdruck, den die 32 Shanghai Statistical Yearbook 2006. 33. Deutsche Außenhandelskammer AHK, Internet: http://www.shanghai-guide. cn/blick.htm. 34 In zahlreichen Gesprächen mit Shanghairen wurde diese Zahl immer wieder genannt. 35 2005 befanden sich über 100.000 Ausländer in Shanghai, die dort ein Arbeitsverhältnis eingegangen sind, als ausländische Studenten gemeldet waren, selbständig oder anderweitig beschäftigt waren. Dazu zählen auch Chinesen aus Hongkong und Macao und Taiwaner.

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Zentralregierung durch Erteilung so genannter temporärer Aufenthaltsgenehmigungen abzufangen versucht. Diese sind im Gegensatz zu dauerhaften Aufenthaltsgenehmigungen leicht zu erhalten. Die Dunkelziffer illegal Zugewanderter wird als erheblich höher als der offizielle 26-%ige Anteil an der Gesamtbevölkerung eingestuft.

2.3.a Exkurs: Das hukou-System Der hukou ist in China schon in der Zeit der streitenden Reiche um 500 v.u.Z. ein effizientes institutionalisiertes Mittel gewesen, um Migration zu kontrollieren bzw. zu verhindern. Das hukou-System, wie es heute praktiziert wird, ist ein 1958 landesweit von der KPCh in China eingeführtes soziopolitisches Instrument zur Ermittlung und Regulierung der Einwohnerzahlen. Danach werden alle Chinesen von Geburt an registriert und in zwei Kategorien unterteilt: „ländlich“ und „städtisch“. Die Kategorisierung und der Standort einer Person werden im hukou weniger nach dem Geburtsort des Inhabers bestimmt, sondern bis 1998 nach dem Geburtsort der Mutter, seitdem entweder nach dem der Mutter oder des Vaters. Es ist nicht möglich, den hukou einfach ändern zu lassen und an einem anderen Ort als dem, der im hukou eingetragen ist, in den Genuss damit verbundener Privilegien zu gelangen, wie zum Beispiel Rentenversorgung, Krankenversicherung, Gewerkschaftsschutz und andere. Nur durch offizielle Genehmigung der Regierung kann ein hukou geändert werden. Einige Beispiele hierfür sind bestandene Hochschulaufnahmeprüfungen, eine qualifizierende militärische Laufbahn oder spezielle Heiratsverbindungen. Besonders kompliziert ist die Migration vom Land in die Stadt, da der begehrte Zugang zu dieser streng limitiert wird, während der umgekehrte Weg befürwortet wird. Die positiven Auswirkungen des hukou-Systems sind die Erhaltung der sozialen Struktur, soziopolitischer Stabilität und die Verhinderung extensiver städtischer Armut, durch Hemmung von Migrantenströmen vom Land in attraktivere Regionen. Mit der Öffnung und der Einführung der Marktwirtschaft Ende der Siebziger musste das hukou-System der neuen wirtschaftlichen und soziokulturellen Lage angepasst werden. Die neuen hukou-Regelungen beschreibt Wang Feiling wie folgt: „The most relevant changes in the hukou system have been the adoption of two special types of residential registration to allow increased yet controlled labor mobility. The first is the so-called [zanzhuzheng] (temporary residential permit). The other is the so-called ,blue-stamp hukou or blue card‘. Other re-

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form ideas have been debated but have yet to be tried on a large scale. These two special types of legal residence require the holder to pay a one-time and then an annual registration fee, have a valid local job, and be reviewed annually. The difference is that the blue card (or stamp) hukou requires the sponsoring employer to be a major enterprise (in Shenzhen, the government set one blue hukou sponsorship per RMB 1 million investment or RMB 100,000 annual tax payment). If not a cadre or without a college or higher degree, one must first be employed with a [zanzhuzheng] for three years before becoming eligible to apply for a blue hukou. The blue hukou functions more like the regular hukou, and its holders are allowed to enjoy basically all the community-based benefits and rights. They can have the same local wages, resident tuition for elementary and middle schools, and political rights, and most importantly, the chance to get a regular hukou in 2-5 years. But they must pay a high annual fee, which was set at RMB 2,000 in Shenzhen in 19951996. Once they are ready to apply for a regular local hukou, they have to pay a substantial ,urban enlargement fee‘ or ,urban construction fee‘, which was set in Shanghai in 1996-1997 at RMB 20,000-100,000, roughly 1-6 years’ average local wages. In the summer of 1995, to cope with the estimated 80 million floating peasants who were causing tremendous social and political problems, the PRC Public Security Ministry expanded the [zanzhuzheng] system to cover all migrating nonurban hukou holders. Since then, anyone who works outside his home town for longer than one month must register for a [zanzhuzheng]. Any job applicant must have his personal identification card and his local hukou card or blue hukou card or [zanzhuzheng]. Employers and employees would be punished if nonlocal residents were found working without a [zanzhuzheng].“36

Ein einfacher, aber kostspieliger und für die meisten ein unerreichbarer Umweg, um einen Shanghaier hukou zu bekommen, ist der Erwerb einer eigenen Wohnung, denn dann wird der hukou auf die Wohnadresse umgeschrieben. Im Jahr 2005 erhielten insgesamt nur 129.598 Personen von außerhalb einen Shanghaier hukou. Sie fallen innerhalb aller chinesischen Migranten in die Kategorie der so genannten Migrantenbevölkerung (ԳՑ 㧅ฝ, renkou qianyi). Das heißt, sie durchgehen alle amtlichen Procedere, um sich offiziell registrieren zu lassen. Bei ihnen kann davon ausgegangen werden, dass es sich vorwiegend um hoch qualifizierte Chinesen (᪎ߐऱԳ, youxiu de ren37) handelt, die in Shanghai einen offiziellen Arbeitsplatz gefunden haben und früher oder später in der Lage waren,

36 Wang 1998, S. 466-67. 37 Wörtlich: „ausgezeichnete Leute“, „hervorragende Leute“.

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sich eine eigene Wohnung zu kaufen, oder durch Hochzeit „eingemeindet“ wurden. Diejenigen, die vom Land nach Shanghai kommen, in der Hoffnung, einen Job zu finden, damit sie ihre Familien in der Heimat finanziell unterstützen können, oder weil sie sonst keinerlei andere Perspektive bei sich zu Hause sehen, fallen in die Kategorie der Wanderarbeiter (ԳՑੌ 㣅, renkou liudong). Sie bekommen höchstens einen temporären hukou, bleiben aber grundsätzlich in ihrer Heimat verankert. Sie stehen im Grunde vor einer unüberwindlichen imaginären urbanen Mauer. Von diesen so genannten Wanderarbeitern soll es derzeit in Shanghai etwa drei Millionen geben.38 Hier beginnt das Dilemma. Shanghai kann und will sie nicht integrieren, aber Shanghai kann auch nicht ohne sie den wirtschaftlichen Aufschwung gewährleisten, denn die Arbeitskraft wird definitiv benötigt. Sie übernehmen Arbeiten, die die Shanghairen nicht bereit sind zu machen: Arbeit auf dem Bau, Müllentsorgung, Putzarbeiten, Massagejobs, als Bedienung in Restaurants, etc. So bleibt den Arbeitern nur der Weg in die Illegalität während die Regierung diese Problematik bewusst ignoriert. Prekär wird die Situation für diese Menschen, da sie durch sämtliche sozialen Netze fallen.39 Zu Hause in ihrer Heimat, dort wo sie laut ihres hukous ansässig sind, haben sie Recht auf staatliche Hilfen und Unterstützung. In Shanghai entbehren sie einen offiziell anerkannten Status und können daher keinerlei Ansprüche geltend machen. So passiert es häufig, dass Arbeiter um ihren Lohn betrogen werden, dass tödliche Arbeitsunfälle vertuscht und Angehörige betreffender Personen nicht informiert werden und vieles mehr. 40 Ihre Kinder, da auch offiziell nicht in Shanghai beheimatet, haben keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen, bei Krankheit gibt es keine Hilfen. Viele Kinder und Kranke sind mittlerweile Teil des Shanghaier Stadtbildes: als Bettler. Die unhaltbare Situation der Wanderarbeiter als vollkommen entrechtete Personen soll durch die Aufgabe des hukou-Systems verbessert werden. Ihnen soll künftig auch in den Städten „Zugang zu sozialen Leistungen wie Wohnung und Bildung ermöglicht“ werden. 41 Zudem 38 Deutsche Außenhandelskammer AHK, Internet: http://www.shanghaiguide.cn/blick.htm. 39 Mittlerweile sind sie zwar in den „Allchinesischen Gewerkschaftsbund“ aufgenommen, jedoch kommt es immer noch häufig zu alarmierenden Nachrichten über Verletzung von Rechten der Wanderarbeiter. 40 Weiterführende Literatur zum Thema Migration in China u.a.: Li, 2001; Gaetano/Jacka, 2004; Reeve/Xi, 2001; Wang, 2004a; Wang, 2004b; Fan/ Wang 2002; Solinger, 1999. 41 CHINA aktuell 6/2005, S. 64.

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werben Gewerkschaften vermehrt um die Mitgliedschaft von Wanderarbeitern. Wie letztendlich die Auflösung des hukou-Haushaltsregistrierungs-Systems in der Praxis durchgeführt wird, muss nach den ersten Probeversuchen in elf Provinzen entschieden werden, denn da die großen Städte heute schon infrastrukturell und versorgungstechnisch überlastet sind, muss gesichert werden, wie die etwa 10 % der Gesamtbevölkerung, die auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte wandern, dort aufgenommen werden können.42

2.3.b Zusammensetzung der Shanghaier Bevölkerung Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den die Shanghaier Bevölkerung gebracht werden kann, ist der hukou. Demnach kann die Bevölkerung aufgeteilt werden in • Personen mit hukou (permanent oder temporär) • Personen ohne hukou • Personen mit einem Aufenthaltsvisum. Personen mit einem permanenten hukou sind Shanghairen, die selbstverständlich dort registriert werden. Um einen temporären hukou zu erlangen, muss ein Arbeitsplatz vorgewiesen werden. Ohne Arbeitsplatz kann ein hukou nur schwerlich verlängert werden. Wie weiter oben beschrieben, kann nach fünf Jahren Aufenthalt und Zahlung einer Gebühr ein permanenter hukou erkauft werden. Diese Personen fallen in die Kategorie der „Neuen Shanghairen“ (ᄅՂ௧Գ, xinshanghairen). Migranten, die noch einen temporären hukou haben, können nur durch einen Arbeitsplatz zu „Neuen Shanghairen“ werden und nur mit einem Arbeitsplatz den temporären hukou behalten, der jährlich erneuert werden muss. Sie erhalten also nur als arbeitende Bevölkerung eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung. In die Kategorie derer, die keinen hukou besitzen, gehören die Wanderarbeiter aus ganz China, die in Shanghai auf der Suche nach Arbeit zumeist schlecht bezahlte, gefährliche und illegale Arbeiten erledigen, aber auch als Bettler, Behinderte und bzw. oder Straßenmusikanten u.a. im Straßenbild auftauchen. Visumsinhaber werden ebenso zur Shanghaier Bevölkerung gerechnet. Das können vor Ort arbeitende Ausländer und deren mitgereiste Familien sein, Auslandsstudenten, aber auch so genannte ÜberseeChinesen ( 䦀 䣲 , huaqiao), die nicht mehr offiziell Staatsbürger der Volksrepublik China sind, ihre Wurzeln aber immer noch in diesem 42 CHINA aktuell 6/2005, S. 64.

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Land verorten und die in Shanghai Geschäfte tätigen oder ebenso Familienangehörige dort haben können.

2.4 Weitere soziale Implikationen des Wandels Mit der flächendeckenden horizontalen Ausweitung vor allem der Wohnbauten geht unausweichlich ein Preisanstieg für Immobilien im Stadtzentrum einher. Infolge dessen muss die normale Arbeiterklasse, die sich die exorbitant hohen Mieten und Kaufpreise für Innenstadtwohnungen nicht leisten kann, an den Stadtrand ausweichen, wo die Immobilienpreise für sie noch erschwinglich sind. Eine weitere Praxis, die in Shanghai mittlerweile zur Normalität geworden ist, ist die Umsiedelung von Bewohnern, da alte und bzw. oder nicht mehr für den Innenstadtbereich repräsentative oder ausreichend große Wohnungen abgerissen werden sollen. Zwar gibt es Entschädigungszahlungen, allerdings stehen diese in keinem Verhältnis zu den realen Quadratmeterpreisen von neuen Stadtwohnungen. Auch hier bleibt den Bewohnern nur die Umsiedelung an die Peripherie. Insgesamt waren innerhalb der letzten zehn Jahre mehr als zwei Millionen Shanghairen gezwungen, aufgrund der genannten Faktoren aus dem Zentrum wegzuziehen. Zusammen wurde eine Wohnfläche von über 40 Millionen Quadratmetern Wohnfläche im Stadtgebiet abgerissen (neun Innenstadtbezirke plus Pudong). Am drastischsten fällt flächenmäßig der Abriss der in Shanghai typischen lilong alten, aber auch einige neuen Stils ins Gewicht, da es sich bei diesen Bauten um niedrige, zwei- bis dreistöckige Häuser handelt und deshalb der Wohnraum nicht in die Höhe addiert werden kann. Seit 1990 hat sich im Zentrum die Quadratmeterfläche, auf denen lilong vorzufinden sind, deutlich verringert: um mehr als zehn Millionen Quadratmeter. Für das Stadtbild heißt das, dass mitten im Zentrum ganze Wohnviertel dem Erdboden gleich gemacht wurden, dort riesige Lücken entstanden und Nachbarschafts-Enklaven auseinander gerissen wurden, deren Mitglieder, je nach Vermögenslage mehr oder minder weit vom Zentrum entfernt, über gesamt Shanghai verstreut wurden. Für die Zukunft heißt das, dass der Weg für neue moderne Bauten geebnet wurde und dass zusätzlich durch die nachfolgende architektonische Vertikalität ein fünffacher Raumgewinn auf gleicher Grundfläche maximalen Gewinn bedeutet. Allein im Jahr 2005 wurden 74.483 Haushalte, das entspricht personell in der heutigen Zeit einer Multiplikation mit drei, also mehr als 220.000 Menschen aus ihren Wohnungen im Zentrum umgesiedelt.

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Abbildung 9: Lilong alten Stils in Shanghai.

Abbildung 10: Abrissflächen in der Südstadt (তؑ, nanshi).

Die mit diesen regelrechten Evakuierungsmaßnahmen verbundenen sozioökonomischen Auswirkungen sind gravierend. Menschen werden aus ihren gewachsenen nachbarschaftlichen und beruflichen Strukturen ge-

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rissen und finden völlig neue lebensweltliche Bedingungen vor, mit denen sie sich abfinden müssen. Bevorstehende Umsiedelungen können innerhalb kürzester Fristen angekündigt werden, was angesichts der städtebaulichen Hochgeschwindigkeit nicht selten vorkommt. Die Anwohner betroffener Erschließungsgebiete sind nicht imstande, sich dagegen zu wehren, denn der Grund und Boden, auf dem ihre Wohnungen stehen, gehört dem Staat. Gewerbe, die nicht am neuen Standort fortgeführt werden können, werden nicht berücksichtigt und die Betroffenen teilweise vor dramatische existenzielle Probleme gestellt. Andere müssen Anfahrtswege zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen, die jeden Tag mehrere Stunden Zeitverlust bedeuten und das Pendleraufkommen drastisch erhöhen. Es ist wahrscheinlich, dass das neue Lebensumfeld, das eine neue Wohnung, auch wenn sie sich außerhalb des Zentrums befindet, bietet, ein materiell gesehen qualitativ weitaus hochwertigeres darstellt als das bisherige. Denn bei den Abrissobjekten handelt es sich häufig um Wohnungen, die oftmals nicht an ein Wasserversorgungsnetz angeschlossen sind, die somit auch keine sanitären Anlagen aufweisen und wo die Fäkalieneimer nicht selten noch an der nächstgelegenen öffentlichen Toilette entleert werden müssen. Viele der Wohnungen in den alten lilong sind düster, nicht verputzt, und oft auch nur mit Kohle beheizbar. Die Bedingungen sind nicht zeitgemäß, und eine Metropole mit Entwicklungsambitionen wie Shanghai duldet keine „Zustände wie aus dem vorigen Jahrhundert“, wie oft von Shanghairen zu hören ist. Nichts desto trotz sind die Anwohner ihre Lebensumstände in den lilong gewohnt. Für sie ist die Umsiedelung von Orten, an denen sie Jahrzehnte gewohnt haben, gleichzusetzen mit Entwurzelung. Häufig handelt es sich bei ihnen um alte und sozial schwache Menschen. Die alten Gassen sind eigene Sphären, in denen jeder jeden kennt und das Leben auf der Straße stattfindet. Einkäufe können in der Nachbarschaft auf kleinen Märkten oder an der Straße bei Wanderhändlern getätigt werden. Auch kleine produzierende Gewerbe bearbeiten ihre Waren direkt am Gehweg. Das Leben der Menschen hat trotz ihrer Lokalisierung mitten im Herzen Shanghais weitgehend dörflichen Charakter, und angesichts der Wolkenkratzer, die nur einige Blocks weiter stehen, vermittelt sich dem Passanten das Gefühl einer Zeitreise: Binnen drei Minuten vom vorindustriellen Dorf in eine futuristische Megatropolis. In Anbetracht dieser Verhältnisse wird die Situation der Betroffenen deutlich, die oft in hohem Alter gezwungen werden, eine von ihnen als Quantensprung empfundene Umsiedlung anzutreten, deren nicht nur psychologische, sondern auch wirtschaftliche Auswirkungen enorm sind.

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Die einzige Möglichkeit der Stadtregierung, den benötigten Wohnraum zu gewährleisten, besteht, wie schon beschrieben, im Bau von riesigen Wohnkomplexen, in denen möglichst viele Personen Unterkunft finden. Hierbei geht der Trend eindeutig in Richtung Bereitstellung von so genannten (Industrie-)Arbeiterwohnungen (侴ՠ۰‫ڛ‬, zhigong zhuzhai), deren hervorstechendes Merkmal die Möglichkeit der Unterbringung einer großen Masse ist. Seit 1990 hat sich die Wohnfläche solcher Komplexe mehr als versechsfacht. Ende 2005 existieren 33.609 Arbeiterwohnungen. Ein weiterer Trend im Immobiliensektor geht hin zu luxuriöseren Parkwohnungen (क़㥀۰‫ڛ‬, huayuan zhuzhai), die neben dem reinen Wohnraum auch noch angelegte Gärten, manchmal auch einen See, als zusätzlichen Komfort für die wohl situierten Besitzer oder Mieter bieten, die nicht öffentlich zugängig sind. Die Zahl solcher Anlagen hat sich seit 1990 ebenfalls versechsfacht, jedoch in weitaus geringerem Ausmaß als die Arbeiterwohnungen, auf 1.380. Häufig werben Immobilienfirmen mit einem wirksamen Namen, zumeist westlichen, denn die so genannten xiaoqu ( ՛ 㡢 , micro residential districts, MRD), wie diese Wohneinheiten bezeichnet werden, sollen so einen Hauch von Luxus vermitteln und eine bestimmte Käuferschaft ansprechen. Obwohl seit den 1990ern ein deutlicher Rückgang der shanghaitypischen lilong zu verzeichnen ist, scheint die Baubranche sich seit 2003 wieder vermehrt diesem Stil zuzuwenden: Sei es, dass lilong neuen Stils saniert oder auch neu gebaut werden. Ebenso scheint sich eine Tendenz abzuzeichnen, den lilong alten Stils eine Renaissance zu ermöglichen. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass diese Bauten, sollten sie sich im Stadtzentrum befinden, rein touristischen Wert haben, wie das Beispiel des Xin Tiandi (ᄅ֚‫)چ‬, einer nachgebauten lilong-Einheit mit ausschließlicher Nutzung durch Cafés, Bars, Restaurants etc., zeigt. Derzeit finden sich in Shanghai 541 lilong neuen und 1.835 lilong alten Stils in Shanghai. Die weiteren Entwicklungen bleiben abzuwarten. Weiterhin sind zahlreiche Wohnungen und Häuser vorhanden, deren Blütezeit schon lange vorüber ist, wo die Grundsubstanz aber noch keinen Abriss erzwingt oder Fassaden noch „geduldet“ werden. Sowohl lilong, als auch Park- und Arbeiterwohnungen haben eine gemeinsame Eigenschaft: Sie bilden in sich geschlossene Einheiten. Das heißt, sie stellen immer, entweder mit mehreren Wohnkomplexen oder auch allein für sich stehend, einen Komplex dar, der nach Außen hin ab-

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gegrenzt und klar als nicht-öffentlicher Raum gekennzeichnet ist. Dies manifestiert sich meistens durch eine Mauer oder einen Zaun rund um die jeweilige Wohnanlage und einen Eingang oder eine Zufahrt, die häufig personell gesichert werden. Teilweise sind die xiaoqu so streng bewacht, dass Unbekannte und Besucher sich am Eingang ausweisen, in einem Empfangsbuch eintragen und bei Verlassen austragen müssen. Diese Art der Wohneinheiten ist in China altbekannt. Da es erst seit der Öffnung staatlich eingeführte Mechanismen zur Absicherung der Einwohner gibt, die allerdings noch in den Kinderschuhen stecken, ist die Gesellschaft daran gewöhnt, sich um sich selbst zu kümmern. Was früher durch den konfuzianischen Moralkodex in den (Familien-)Klankulturen gewährleistet wurde43, übernahmen die Kommunisten ab 1949 in abgewandelter Form und führten das danwei-System44 ein. Dort griffen „altbewährte Kontrollmechanismen, die gegenseitige Hilfs- und Sozialfunktionen einer engverflochtenen Gemeinschaft mit repräsentativideologischen Funktionen kombinierten [...], [und] in der sog. Arbeitseinheit (danwei) reproduziert wurden. Diese fungierte als Ersatzgemeinschaft in städtischen Gebieten“45.

Das System, dass sich einzelne Parzellen, wie es in den danwei üblich war, selbst verwalten, ist in einem zentralistischen Riesenstaat wie China eine Möglichkeit, die Bevölkerung unter administrativer Kontrolle zu behalten. Deshalb versucht der Staat, eine Selbstverwaltungsebene, ähnlich der der danwei zu etablieren, die sich in direkter Auseinandersetzung auf der „Grundebene“ mit den Problemen der jeweiligen Wohnviertel befasst. Diese Einheiten heißen shequ (ष㡢) und die verantwortlichen ausführenden Organe innerhalb dieser sind die Straßen- oder Einwohnerkomitees.46 Aus den vorangegangenen Beschreibungen sind einige Tendenzen abzulesen: erstens eine starke räumliche Verinselung der Bewohner durch die Unterbringung in xiaoqu durch die enormen Größendimensionen dieser abgeschlossenen „Kommunen“, zweitens eine auffällige soziale Polarisierung, da sich die Preise für Wohnungen innerhalb einzelner xiaoqu nicht wesentlich unterscheiden und so in etwa ähnlich einkommensstarke soziale Schichten in die Nachbarschaft ziehen, drittens daraus folgend eine sowohl räumliche als auch soziale Segmentierung der 43 44 45 46

Ausführlich: Li 1991. Siehe Fußnote 21, S. 27 . Lau 2001, S. 606. Vgl. hierzu ausführlich Heberer 2003; auch Münch 2004.

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Stadt in bessere und schlechtere Viertel. Die besseren sind im Stadtzentrum zu finden, auch wenn sie optisch nicht immer unbedingt so wirken. Allein das Preisniveau in der Innenstadt sorgt für eine soziale Segregation und eine rasante Gentrifizierung47. Zudem treten offen Spannungen zwischen Arm und Reich zutage. Die neuen Bewohner der Innenstädte sind zum Teil sehr Reiche (Օཱི, dakuan) und Neureiche (ᑊ䦡㡬, baofahu), viele davon Hongkonger, Taiwaner, Singapurer und zurückgekehrte Übersee-Chinesen. Eine weitere Konsequenz der chinesischen Politik, die seit der Öffnung praktiziert wird und deren Folgen sich jetzt bemerkbar machen, ist die Vergreisung der Shanghaier Bevölkerung. Durch die Ein-Kind-Politik, die seit 1978 in den Städten rigoros durchgesetzt wird, sind schon heute in Shanghai knapp 20 % der Einwohner über 60 und 45 % über 35 Jahre alt. Demographen gehen davon aus, „dass schon 2030 50 % der Stadtbevölkerung 65 Jahre und älter sein werden.“ 48 Diese Zahlen lassen die Dringlichkeit eines Rentenversorgungsnetzes und Schaffung eines adäquaten Lebensumfeldes für alte Menschen vor Augen treten. Schon jetzt sind die öffentlichen Parks von ihnen hoch frequentiert, treten sie im Stadtbild deutlich hervor. Die meisten von ihnen leben in Abhängigkeit von ihren Familien, denn wer keine Rücklagen aufweisen kann, ist auf sie angewiesen oder muss noch im hohen Alter lebensunterhaltende Arbeiten verrichten.

47 Gentrifizierung ist ein Begriff aus der Stadtgeographie und steht in keinem Zusammenhang zur chinesischen Gentry. 48 Bericht zur Bevölkerungsentwicklung, in: CHINA aktuell September 2004, S. 975.

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II Ecdynamik

1. Der ecdynamische Raum In China ist seit der Ära Deng Xiaoping und seiner Politik der wirtschaftlichen Öffnung des Landes ein rapides Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, das sich unmittelbar auch auf die städtischen Entwicklungen auswirkt. Die Synthese von Parteidiktatur, erwachtem Kapitalismus und Globalisierung haben Prozesse in Gang gesetzt, die es in dieser Form weltweit noch nicht gegeben hat und Megastädte enormen Ausmaßes in ungeahnter Rasanz entstehen lassen. Das Stadtsystem in China ist ungemein komplex. Es ist nach administrativem Status und nach jeweiliger Größe kategorisiert. Kreisverwaltung, Amtsverwaltung und zentrale Stadtverwaltung sind die drei administrativen Ebenen, wobei jeder Status ein anderes Autoritätsniveau beinhaltet. Je höher der Status, desto größer die Entscheidungsbefugnisse und desto größer Autorität und Einfluss. Die Größenkategorien sind nach Einwohnerzahlen unterteilt: XXL (> 2 Mio. Einwohner, 13 Städte), XL (1-2 Mio., 27 Städte), L (0,51 Mio., 53 Städte), M (0,2-0,5 Mio., 218 Städte), S (< 0,2 Mio., 352 Städte).1 Unter den XXL-Metropolen geht der Trend in den zweistelligen Millionenbereich. Chongqing in der Provinz Sichuan ist mit 31,7 Millionen Einwohnern mittlerweile die größte Metropole der Welt. 2 Shenzhen (11 Mio.), Shanghai (20 Mio.), Beijing (15 Mio.) liegen im Vergleich dazu weit dahinter.

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Song 2005, S.75-76. Chongqing erlangte 1997 den Status einer regierungsunmittelbaren Stadt. Aufgrund dessen gehört das Umland mit zum Einzugsbereich der statistischen Einwohnererfassung.

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In den letzten Jahren ist eine Megalopolisierung3 in drei Ballungsgebieten Chinas zu verzeichnen: • im Norden um die Bohai-Bucht mit Beijing, Tianjin, Tangshan, Baoding, Langfang und fünf weiteren Städten der Kreisebene mit einer Gesamteinwohnerzahl von 45 Millionen Menschen, • im mittleren Osten Chinas im Yangzi-Delta mit Shanghai, Nanjing, Hangzhou, weiteren 4 L-, 14 M- und 33 S-Städten • und im Süden am Perlfluss-Delta mit Guangzhou, Shenzhen, Zhuhai, Dongguan und 24 weiteren Städten mit einer Bevölkerung von insgesamt 23 Millionen. Diese drei Megalopolen erwirtschaften zusammen etwa 80 % des chinesischen Bruttoinlandsprodukts, 90 % der landesweiten industriellen Produktion und 95 % des gesamten Exports.4 Dadurch, dass sich fast 50 % aller chinesischen Städte in den östlichen Küstenregionen befinden, entstehen hier zwangsläufig Ballungsgebiete mit einer voranschreitenden Vernetzung bzw. Verzahnung eng beieinander liegender Städte durch Erweiterungen der Wirtschaftsräume und auch durch die physische Ausweitung der Städte. Mit einem weiteren Voranschreiten dieser Trends ist zu rechnen, da die Regierung eine Lockerung des hukou-Systems (Vgl. I.2.3.a) ins Auge fasst, womit eine Vereinfachung der Migrationsmechanismen und damit ein Zulauf in die Küstenmetropolen einhergehen werden. Anhand der beschriebenen Tendenzen wird deutlich, dass die Konzepte Stadt 5 und Urbanität 6 keine adäquaten Bezeichnungen mehr für diese Art der Metropolen und die Entwicklung hin zur Megalopolisierung darstellen können.

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Megalopolis bedeutet Städtezusammenballung, Riesenstadt aus zwei bis mehreren nah beieinander liegenden Städten. Song 2005, S. 76. Gemeint sind hier der geographische Stadtbegriff, demographische Verstädterung, Städteverdichtung und physiognomische, soziale und funktionale Verstädterung, wie sie im herkömmlichen Sinne verstanden werden. Auch der Begriff Megastadt oder Megacity reicht m. E. nicht aus, um das komplexe Phänomen Shanghai zu begreifen. Urbanität gilt als Phänomen der europäischen Industrialisierung ab 1850. Größtenteils wird Urbanität als Synonym für städtische Lebensweise und städtische Kultur begriffen (vgl. Wirth 1983), ohne allerdings genau die Bedeutung von Urbanität zu definieren. Da „Urbanität“ sich in Bezug auf Shanghai und andere chinesische Städte erst in den letzten Jahren zu entwickeln begonnen hat, stellt dieser Begriff in diesem Kontext kein geeignetes Beschreibungs-instrumentarium dar.

ECDYNAMIK

Sich der Erfordernis bewusst, dass für die Metropolisierungs- und Megalopolisierungsentwicklungen neuen Typus in China auch neue Beschreibungsmethoden benötigt werden, formte der niederländische Architekt Rem Koolhaas in Bezug auf sein „Project on the City“ im Perlfluss-Delta den Begriff der „Stadt der verschärften Differenz“7, der der Komplexität und Verschiedenheit der dort zusammenwachsenden und sich entwickelnden Stadtkonglomerate neuen Stils gerecht werden soll: „The traditional city strives for a condition of balance, harmony, and a degree of homogeneity. The CITY OF EXACERBATED DIFFERENCE©, on the contrary, is based on the greatest possible difference between its parts – complementary or competitive. In a climate of permanent strategic panic, what counts in the CITY OF EXACERBATED DIFFERENCE© is not the methodical creation of the ideal, but the opportunistic exploitation of flukes, accidents, and imperfections. Although the model of the CITY OF EXACERBATED DIFFERENCE© appears brutal – to depend on the robustness and primitiveness of its parts − the paradox is that it is, in fact, delicate and sensitive. The slightest modification of any detail requires the readjustment of the whole to reassert the equilibrium of complementary extremes“.8

Obwohl Koolhaas sich einer neuen Beschreibung zuwendet, der der „contemporary urban condition“, einer „neuen conditio urbana“, bleibt er dem Konzept der Stadt verpflichtet. Ecdynamik ist ein im Rahmen des vorliegenden Forschungskontextes entwickelter Begriff, der als notwendiges Instrumentarium die chinaspezifischen, extrem beschleunigten Wachstums- und Wandlungsprozesse mitsamt ihren Auswirkungen auf alle relevanten Bereiche des Städtebaus, der Wirtschaft, der Politik und vor allem des Lebens in ihrem Gesamtausmaß zusammenführen kann. Die spezielle Metamorphose Shanghais seit ihrer Öffnung 1992 wird hier exemplarisch vorgestellt. Abgeleitet wird Ecdynamik aus dem Griechischen ékdysis, was übersetzt „hinauskriechen“ bedeutet und in der Biologie zur Bezeichnung für periodische Häutungsvorgänge (Ecdysis) z.B. bei Schlangen, Kröten und Molchen herangezogen wird. Diese Häutungsprozesse finden regelmäßig statt, während sich die Tiere noch im Wachstum befinden. Die alte Haut wird abgestreift und darunter kommt eine neue, dehnungsfähigere zum Vorschein, sie passt sich der wachsenden, veränderten Form des Tieres an. 7 8

„City of Exacerbated Difference (COED)“. Chung/Inaba/Koolhaas/Leong 2001, S. 704.

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Derartige Häutungs- bzw. Neuerungsprozesse können auf die Entwicklungen in Shanghai übertragen werden. Die gewachsenen Strukturen sind zu eng, bieten nicht ausreichend Raum für die gewandelten Verhältnisse. Shanghai, im Wachstum begriffen, vergrößert sich und weitet sich unweigerlich aus. Dazu muss das Überkommene verdrängt und Neuem Platz gemacht werden, damit eine entsprechende Entfaltung stattfinden kann. Der hier eingeführte Begriff der Ecdynamik, in dem sich auch das Wort Dynamik9 wieder findet, trägt Prozessen der Neuerung und Veränderung, verbunden mit permanentem Wachstum und beispielloser Dynamik Rechnung, wie sie im Zuge rasanter Globalisierung, dank enormen ökonomischen Potenzials und zudem durch − diese Formen des Wandels begünstigende − politische Strukturen gefördert werden. Ecdynamische Räume haben den Status des Urbanen überwunden und befinden sich in einer Dimension, der der Begriff „Urbanität“ nicht mehr gerecht wird. In ihnen finden die andernorts und typischerweise chronologisch ablaufenden städtekonstituierenden Prozesse und Phänomene synchronisiert statt. Vor allem aufgrund der enormen Geschwindigkeit und der Permanenz des städtebaulichen Wandels kann hier von einer „stabilen dreidimensionalen Metamorphose“ gesprochen werden. Dreidimensional, da der Wandel sich in seiner Rasanz zeitlich, in seiner äußerlichen Form räumlich und bildlich und in seinen Implikationen direkt sozial auswirkt. Der vorgeschlagene Ansatz des ecdynamischen Raumes sucht nicht nach einer allumfassenden und allgemeingültigen Erklärungsformel für alle in ihm auftretenden Abläufe und Phänomene. Der Raum lebt von der Hybridität seiner Gesamtheit, von den Widersprüchen und Ungereimtheiten, wird geradezu dynamisiert durch die extreme „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und seine nicht greifbare Komplexität. Er wird als Einheit immanenter Unterschiede gesehen. Der ecdynamische Raum grunderneuert sich aus sich selbst heraus. Altes, als schützenswert empfundenes Kulturgut wird nicht restauriert oder saniert, wie es für beispielsweise „Europäisches Kulturerbe“ charakteristisch ist, sondern abgerissen und im gleichen Stil neu errichtet. Pragmatischer Umgang mit Tradition und Adaptationsfähigkeit des Ursprünglichen an die sich wandelnden Umstände sind ebenso Wesensmerkmale des ecdynamischen Raumes wie das chinesische dynamische Weltbild, 9

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Dynamik steht für „Schwung, Triebkraft und Bewegtheit“, normalerweise „in positiv empfundener Weise“ (Duden, Das Große Fremdwörterbuch 1994), wobei der Begriff hier wertfrei gemeint ist.

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das von jeher Vergänglichkeit als unausweichliche Bedingung in allen weltlichen Dimensionen berücksichtigt. Der ecdynamische Raum hält somit kaum an gewachsenen Strukturen fest. Flexibel werden Entwicklungen entschieden und durchgesetzt, die für momentane Interessen viel versprechend erscheinen. Prioritäten werden situativ ge- und versetzt. Man kann auch von einem Raum sprechen, der sich nicht durch langfristige stringente Planung, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher und städtebaulicher Hinsicht, auszeichnet, sondern wo zum Teil ad-hoc-Entscheidungen und ökonomische sowie Prestigeinteressen ausschlaggebend sind für weitreichende Maßnahmen, die in Folge konsequent durchgesetzt werden. Peter Knutson bemerkte zu diesem Trend treffend: „Man baut mit der Ökonomie der Geschwindigkeit, mit den Zyklen der Politik, mit dem Instrumentarium des Augenblicklichen und der Perspektive einer extremen Kurzfristigkeit.“10

Dies ist ein Grund, warum im ecdynamischen Raum aus der Aneignung verschiedenster Komponenten etwas Neues geschaffen werden kann, das von Außen betrachtet zusammenhanglos erscheinen mag, in seiner Gesamtheit aber als Synthese von zu bestimmten Zeitpunkten notwendigen und plausiblen Strategien angesehen werden muss. Hier dient wieder der Begriff des „Sozialismus chinesischer Prägung“ (խ㧺௽‫ۥ‬ष㢸‫׌‬㠼, zhongguo tese shehuizhuyi) als Beispiel, wobei bewusst offen gelassen wird, worum es sich bei der „chinesischen Prägung“ handelt. Am ehesten trifft es die Beschreibung eines Hybridmodells: als Synergie aus „Konfuzianismus, Kommunismus und Kapitalismus“11, mit dem Ziel, das Bild eines starken und aufstrebenden Chinas in alle Welt zu transportieren. Shanghai als Herz der Yangzi-Delta Megalopolis ist aufgrund seiner Geschichte und städtebaulichen Substanz, aufgrund seiner infrastrukturell günstigen Lage und seiner Rolle als politisches Prestigeobjekt prädesti10 Knutson 2004, S. 56. 11 Ngo 2004, S. 22. Das Zitat erscheint aufgrund seines plakativen Formelcharakters geeignet, um auf die Vielgestaltigkeit des Sozialismus chinesischer Prägung hinzuweisen und wird deshalb so übernommen, obwohl alle drei Begriffe einzeln für sich kritisch betrachtet durchaus nicht vollkommen auf chinesische Wirklichkeit übertragbar sind. Konfuzianismus steht hier synonym für alle traditionellen chinesischen Werte, Anschauungen, Denk- und Argumentationsmuster, etc.

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niert, die Funktion des Innovationsmotors innerhalb Chinas im Besonderen, aber auch innerhalb weltweiter Entwicklungstrends im Zuge der Globalisierung zu übernehmen. Der Aufruf Deng Xiaopings, Shanghai zum „Kopf des Drachen“ (囅㢎, longtou) werden zu lassen, bedeutete schon 1992 eine Richtungsweisung für die angestrebten Urbanisierungsprozesse in ganz China. Shanghai hat damit eindeutigen Modellcharakter erhalten, nach dessen Beispiel sich andere Städte richten sollen. Der Prozess, in dem sich der ecdynamische Raum Shanghai entwickelt, soll hier in Anlehnung an Dengs Aufforderung als Pendragonisierung12 definiert werden, um dessen Einzigartigkeit hervorzuheben.

12 Pendragon bedeutet „Kopf des Drachen“. Um den Prozesscharakter „zum Kopf des Drachen zu werden“ zu verdeutlichen, wurde hier der Begriff der Pendragonisierung entwickelt.

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2. Die Erfassung des ecdynamischen Raumes Mit Hilfe eines Dichotomie-Konstrukts13, das sich an gängigen chinesischen Gegensätzlichkeiten orientiert, soll versucht werden, den dreidimensionalen Raum Shanghai zu erfassen. Die angewandten Dichotomien sollen nicht als jeweilige Extreme verstanden werden, sondern es kann, je nach Ausprägung mehr oder weniger zu den Polen neigend, zwischen ihnen skaliert werden. Abbildung 11: Dichotomie-Modell zur Erfassung des ecdynamischen Raumes und seiner Bewohner. ‫۔‬

Ղ

alt

oben

Der ecdynamische Raum

ᄅ neu

Հ unten

؆



außen

innen

Die Dichotomien können in ihrer Grundstruktur unverändert auf die physischen sowie auch auf die sozialen Gegebenheiten im Raum angewandt werden. Um die Dreidimensionalität des Raumes darstellen zu können, muss eine Kategorisierung angewandt werden, die räumliche, soziale und zeitliche Aspekte berücksichtigt und die Vielfalt der raumimmanenten Phä13 In Dichotomien umfassen zwei komplementäre Begriffe die Bedeutung eines ursprünglichen Begriffes, der durch die Zusammenführung der dichotomen Begriffe Gestalt erlangt.

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nomene zu fassen imstande ist. In ihren Ausprägungen muss sie dabei gleichzeitig variabel bleiben. In Anlehnung an typisch chinesische Polarisierungen werden im Folgenden die Begriffe shang/oben gegenüber xia/unten, nei/innen gegenüber wai/außen und xin/neu gegenüber lao/alt herangezogen und auf die drei Dimensionen Raum, Gesellschaft und Zeit verteilt.

2.1 Die soziale Dimension • Oben/shang (Ղ Ղ): oben, über, im Sinne von höher, höher gestellt, hier auch: reich, privilegiert, besser Verdienende, gute Wohnviertel, gute Wohnungen, teure Geschäfte, Luxusartikel, Orte, die nur mit Geld zugänglich sind, ein großes Beziehungsnetz, etc. • Unten/xia (Հ Հ): unten, unter, im Sinne von tiefer, tiefer gestellt, geringer, hier auch: arm, unterprivilegiert, schlechte und schlecht bezahlte Arbeit, schlechte Wohnverhältnisse, kein Beziehungsnetz, etc.

2.2 Die räumliche Dimension • Innen/nei (㡕 㡕): in, innen, innerhalb, hier auch: eigenes Heim, Familie, Freunde, Shanghairen, privat, nicht-öffentlich, aber auch Inklusionsfaktoren jeglicher Art, etc. • Außen/wai (؆ ؆): außen, äußerlich, außerhalb, Andere, fremd, ausländisch, hier auch: Arbeitsumfeld, Gebiete außerhalb Shanghais, Nicht-Shanghairen, Ausland, Ausländer, öffentlich, aber auch alle möglichen Exklusionsfaktoren, etc.

2.3 Die zeitliche Dimension • Neu/xin (ᄅ ᄅ): neu, frisch, seit kurzem, modern, westlich. • Alt/lao (‫۔‬ ‫)۔‬: alt, traditionell, seit langem bestehend, veraltet, überholt, altmodisch, tradiert, auch heruntergekommen, chinesisch. Grundsätzlich sind alle Komponenten über den dreidimensionalen Raum miteinander kombinierbar, allerdings kann von vornherein abgesehen werden, dass es wahrscheinlicher ist, oben/shang mit neu/xin und innen/nei in Verbindung zu bringen, als niedrige soziale Komponenten mit z.B. Modernität und komfortabler Privatheit. Zwischen den Gegensätzen kommt es häufig zu Spannungen, also speziell Spannungen zwischen Arm und Reich, neu und alt, Familie und Arbeit etc.

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Im Anschluss soll die Erfassung der synchronisierten räumlichen respektive städtebaulichen und der sozialen Entwicklungen im ecdynamischen Raum Shanghai über das hier angeführte Dichotomie-Modell erfolgen.

2.4 Räumliche Spezifika der Shanghaier Pendragonisierung 2.4.a Räumliche Grobsegmentierung Grob unterteilt kann ganz Shanghai in ein Innen und ein Außen unterteilt werden. Innen ist das Zentrum mit den Bezirken Huangpu, Luwan, Xuhui, Changning, Jing’an, Putuo, Zhabei, Hongkou und Yangpu und, obwohl offiziell Pudong mit zum Zentrum hinzu gerechnet wird, soll hier nur der westliche Teil Pudongs mit einbezogen werden, das Finanzzentrum Lujiazui. Außen befinden sich die Bezirke Baoshan, Jiading, Qingpu, Songjiang, Minhang, Jinshan, Fengxian, Nanhui und das östlich Pudong. Die Insel Chongming wird in diese Betrachtung nicht mit einbezogen.14 Abbildung 12: Zentrum-Peripherie-Grobsegmentierung Shanghais

Zentrum Innen/nei Peripherie Außen/wai

14 Die Insel gehört nicht zum Festland und die Nutzung ist vorwiegend landschaftlich. Sie soll bis 2020 zu einer touristischen Oase werden, die mit 55 % Waldbestand und ihrer Umweltfreundlichkeit wirbt. Sie stellt somit eine Art Gegenpol zum Festland Shanghai dar und fällt deshalb aus dieser Betrachtung heraus.

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In einer weiteren Grobeinteilung kann Shanghai auch in alt und neu und in oben und unten getrennt werden. Das Zentrum ist vorwiegend alt, da die städtische Grundsubstanz nur dort existiert, obwohl die meisten Neubauten quantitativ gemessen auch auf dem zentralen Territorium stehen. Die Peripherie ist erst im Entwicklungsprozess. Vom vormals und teilweise heute noch vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Gebiet wird es im Eiltempo bebaut und erschlossen. Konsequenz ist eine stetige Vergrößerung des Innenkerns, da immer mehr Raum dem Zentrum einverleibt wird.15 Das Zentrum ist oben/shang, hier ballen sich die Geschäftszentren, hier sind die touristischen Attraktionen, hier ziehen sich die teuren Einkaufsmeilen durch die Hochhausschluchten, hier finden sich exquisite Restaurants jeglicher Nationalität und eine wachsende Anzahl von Luxushotels und Bars. Die äußeren Stadtbezirke beherbergen vorwiegend Wohnkomplexe und Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser, Supermärkte etc. All das ist zwar auch im Zentrum anzutreffen, was jedoch das Oben/shang ausmacht, sind die Dinge und Orte, die mehr als die alltäglichen Bedürfnisse betreffen. Da im Mittelpunkt dieser Forschung das Zentrum Shanghais (oben/ shang) steht, wird im Folgenden nicht mehr auf die Peripherie (unten/ xia) eingegangen.16 Die einzelnen Viertel, Huangpu, Luwan, Xuhui, Jing’an, Changning, Putuo, Zhabei, Hongkou und Yangpu sind die unsichtbaren räumlichen Segmentierungen im Herzen Shanghais westlich des Huangpu. Das „alte Shanghai“, die ursprüngliche Kernstadt, wie sie noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts anzutreffen war, die drei Gebiete „Chinesenstadt“, Französische Konzession und Internationale Niederlassung umfassend, sind die heutigen Bezirke Huangpu, Luwan, Jing’an, der Nordteil Xuhuis und die Südteile Zhabeis und Hongkous nördlich des Suzhou Flusses. Dieser Bereich gehört zum dichtest besiedelten, teuersten und weitest entwickelten Gebiet ganz Shanghais und damit eindeutig in die obere/ shang Kategorie. Mieten und Quadratmeterpreise für käufliche Immobilien sind hier extrem hoch.17 In diesem Kerngebiet gibt es kaum noch Raum für neue Bauprojekte, weshalb zu entbehrende, alte, nicht mehr ausreichend repräsentative Objekte nach und nach abgerissen werden,

15 Zum Vergleich: 1949 betrug das Stadtgebiet 82 km², 2003 schon 667 km². 16 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass es im Gebiet des Zentrums feinsegmentiert auch wieder Unterscheidungen in oben/shang und unten/xia gibt, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird. 17 Vgl. hierzu Exkurs Wohnungskauf S. 228.

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um neuen Raum zu schaffen. Aus diesem Grund werden auch die Wohngebiete weiter nach außen verlagert, hin zur äußeren/wai und niedrigeren/xia Dimension. Der Volksplatz (Գ‫ا‬㡌䨩, renmin guangchang) (1) könnte als zentraler Punkt Shanghais angesehen werden. So liegt er nahezu im Schnittkreuz der drei Innenbezirke Huangpu, Luwan und Jing’an, ist optisch aus der Vogelperspektive als große grüne Fläche erkennbar und bildet mit den repräsentativen Bauten des Shanghai Museums, der Staatsoper, des Stadtplanungsmuseums und der Shanghaier Stadtregierung einen kulturellen und administrativen Knotenpunkt. Dennoch muss Shanghais Struktur eher als polyzentrisch eingeordnet werden, da sich mehrere Orte finden, die als touristische und konsumistische Magnete wirken. Dazu gehören die Altstadt mit dem YuGarten (2), der Bund (؆䀯, wai tan) (3), Lujiazui (呅୮Ꮿ) (4), der Jing’an Tempel (䈌‫( )ڝڜ‬5) und Xujiahui (ஊ୮䲷) (6). Verbunden sind diese Orte durch „Konsumachsen“, die Huaihai Straße (෢௧ሁ) (B) zwischen Altstadt und Xujiahui, die Nanjing Straße (তࠇሁ) (A) zwischen Bund und dem Jing’an Tempel. Der Volksplatz liegt genau zwischen diesen Parallelen. Von der Altstadt führt die Sichuan Straße (؄՟ ሁ) (C) am Bund vorbei Richtung Norden bis zum Lu Xun Park (喴߰ֆ 㥀). Abbildung 13: Multizentralismus, Konsumachsen und Fließräume

7 C 3

5

A

4

1 2

B 6

A: Nanjing Straße, B : Huaihai Straße, C : Sichuan Straße. 1: Volksplatz, 2: Altstadt, 3: Bund, 4: Lujiazui, 5: Jing’an Tempel, 6: Xujiahui, 7: Hauptbahnhof

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2.4.b Fließräume Eine weitere Achse stellt die Stadtautobahn dar, die in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung durch und in einem äußeren Ring um das Zentrum führt (Abb. 13, S. 57). Zudem gibt es noch zwei Ringstraßen, die sich konzentrisch um Shanghai schließen (Abb. 13, S. 57). Das U-Bahn- und Hochbahnsystem verläuft ähnlich. Alle drei Bahnlinien schließen einen Kreis um das Zentrum, eine Linie führt weiter nach Norden, eine gen Osten nach Pudong und eine Richtung Südwesten. Weitere Strecken sind in Planung, die mit vier Linien den Norden und Süden und mit jeweils einer Linie Ost und West mit der Innenstadt verbinden. Allein diese Maßnahmen sind ein deutlicher Indikator für die Verdrängung der Bewohner nach außen, denn das vermehrte Pendleraufkommen macht ein enges, zügiges und verzweigtes Infrastrukturnetz unabdingbar. Im Grunde manifestiert sich in den Ausfallstraßen und dem U-Bahn-Netz wieder die innen/nei-außen/wai und damit auch oben/shang-unten/xia Dichotomie, mit den Straßen und Schienen als Verbindungen zwischen den Polaritäten. Abbildung 14: Karte der Shanghaier Metrolinien.

3

2

1

1: Linie 1; 2: Linie 2; 3: Linie 3 (überirdisch); alle anderen: im Bau befindliche Linien.

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2.4.c Räumliche Feinstrukturierung Ein Phänomen Shanghais und vieler anderer chinesischer Städte ist das der extremen Insularisierung. Die verschärften Differenzen sind deutlich: Geographische Abgeschlossenheiten finden sich im Großen, beispielsweise in der Altstadt, nach Außen abgeschlossen durch die Ringstraße, als in Teppichstruktur angelegten lilong-Vierteln und durch reine Geschäftsviertel wie Lujiazui, um nur einige Exempel zu nennen. Es gibt auch ganze Straßenzüge, in denen nur Eisenwaren oder nur Textilien oder Sanitärzubehör verkauft werden. Einher geht mit dieser Art der Inselbildung auch wieder eine graduelle Zuordnung in oben/shang oder unten/xia, also deutlich ausdifferenzierte bessere und schlechtere, teurere und günstigere Viertel. Im Kleinen äußert sich die Verinselung in der Wohnstruktur, die vorwiegend aus so genannten gated communities, gated commodity housing enclaves oder micro residential districts (MRD, chin.: ՛㡢, xiaoqu) und lilong (ߺ‫() ݫ‬oder ‫ف‬ᆌ吋, shikumen) besteht. „Räumlich sind die MRDs genau definierte Gebiete, die nicht nur durch Mauern, Zäune oder Gebäude begrenzt werden, sondern auch durch Straßen und Grünflächen bewußt einen insulären Charakter bekommen. Wie schon die Hofhäuser und die alten danweis, zeichnen auch die modernen Wohngebiete nicht nur genaue Grenzen, sondern auch die klare Trennung von Innen und Außen aus. Folglich ist ihr inneres Erschließungssystem nicht Teil des städtischen Verkehrssystems. Außerdem gibt es immer einen Kern, sei es eine Schule oder ein Kulturzentrum oder nur eine Rasenfläche, welcher symbolisch Innen von Außen unterscheidet. Auch ein moderner MRD versteht sich im doppelten Sinn nicht als Stadtraum: Zum einen versucht er nicht selbst Teil des öffentlichen Raums zu sein, zum anderen intendiert er auch nicht dessen Nutzung. […] Wie in den traditionellen Hofanlagen betritt man sein Haus nie direkt von der Straße aus, sondern geht immer erst durch ein Tor in den Hof und von dort aus in die Einzelgebäude. Zwar hat sich deren typologische Form vom eingeschossigen Hofhaus zum Hochhaus radikal verändert, doch besteht eine gewisse Kontinuität in der architektonischen Bedeutung des Einzelbaus: Heute wie zu kaiserlichen und maoistischen Zeiten sind sie keine architektonischen Einzelentwürfe, sondern Baukörper, die innerhalb eines MRD häufig als exakte Kopien vielfach nebeneinander gestellt werden.“18

18 Münch 2004, S.45.

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Gated communities19 beschränken sich im Gegensatz zu den MRDs auf ihre Wohnfunktion. So fehlen Einrichtungen, die alltägliche Bedarfsgüter anbieten wie z.B. Supermärkte. Stattdessen bieten sie Vorzüge wie Schwimmbad, Fitness-Center, einen Spielplatz oder einen Clubraum und ähnliches. Sie verfügen auch über ein so genanntes Zentrum, das meist eine Grünfläche ist, und einen obligatorischen Zaun mit bewachtem Eingang. Der Trend geht immer weiter in Richtung gated communities, denn in MRDs angebotene Serviceleistungen können vielfach auch außerhalb erkauft werden. Gerade in einer Stadt wie Shanghai, in der in vieler Hinsicht ein Überangebot an Dienstleistungen besteht, die Konkurrenz somit groß ist und die Bewohner häufig nicht nach praktischen Gesichtspunkten wählen, sondern nach qualitativen, besonders in Hinblick auf die Ausbildung von Kindern, medizinische Versorgung u.a ist dies logische Konsequenz des steigenden Wohlstands. Meines Erachtens sollten gated communities nach ihren Größen und Eigenschaften unterschieden werden. Einige nehmen beinahe Stadtmaße an und können bis zu 100.000 Menschen fassen. Andere umschließen nur einige hundert Haushalte und verfügen über kein eigenes Straßennetz. Weiterhin muss nach Baustil bzw. Alter unterschieden werden. Denn die alten lilong, die typischen Wohneinheiten Shanghais, sind meist in Reihen mit der traditionellen Südausrichtung angelegt. An den Enden jeder Reihe befindet sich ein Tor, früher vorwiegend aus Stein, weshalb diese Form der Wohneinheiten auch shikumen (‫ف‬ᆌ吋, Grotten-/Felshöhlentor) heißt. 20 Diese Tore führen häufig direkt auf eine Straße und es ist kein parkähnliches Zentrum vorhanden. Allen Arten abgeschlossener Wohnkomplexe ist gemein, dass sie nicht als öffentlicher Raum definiert werden können. Es kann festgestellt werden, dass Shanghai aus einer Unmenge an nicht-öffentlichen Inseln zusammengesetzt ist, aus nach außen hin abgeschlossenen Einheiten, die als Rückzugsräume dienen. Häufig ist die Rede von „zwei Punkten und einer Linie“ (㤋㭠ԫ优, liang dian yi xian). Gemeint sind mit den zwei 19 „In its modern form, a gated community is a form of residential community characterized by a closed perimeter of walls and fences, and controlled entrances for pedestrians, bicycles, and automobiles. Gated communities usually consist of small residential streets and include various amenities. For smaller communities this may be only a park or other common area. For larger communities, it may be possible for residents to stay within the community for most day-to-day activities.“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Gated_community). 20 Vgl. hierzu eine Übersicht zu Entwicklung und verschiedenen Baustilen: http://www.lilong.de/index.htm.

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Punkten Wohnraum und Arbeitsplatz, mit der sie verbindenden Linie der Weg, der täglich zwischen beiden Orten zurückgelegt werden muss. Ein Berufstätiger bewegt sich zwischen diesen beiden Polen, zwischen Öffentlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit, zwischen seiner Wohnung (innen/nei) und seinem Arbeitsplatz (außen/wai), hin und her. In einem Raum, in dem der Lebensrhythmus sich an die wirtschaftliche Dynamik anpassen muss, kommt der Privatsphäre, kommt Ruhezonen ein ungemein größerer Stellenwert zu, als dies in kleineren Städten oder in dörflichen Gemeinschaften der Fall ist. Das Phänomen, dass sich in einer Riesenmetropole wie Shanghai Wohnrauminseln befinden, ist auf die geschichtliche Entwicklung Chinas zurückzuführen. In einer Gesellschaft, die sich auf lineage Systemen bzw. Verwandtschaftseinheiten begründet, in der Familie und Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sei es innerhalb eines Klans, sei es innerhalb eines sozialistischen Kollektivs, einer danwei oder innerhalb einer gated community, durchweg eine gewichtige Rolle spielten, ist eine neu implementierte Marktwirtschaft offenbar nicht in der Lage, diese Formen von Solidargemeinschaften zu zerstören, obwohl zumindest in den meisten Fällen Arbeits- und Wohnplatz nicht mehr zusammenfallen und obgleich alte Wohngemeinschaften auseinander gerissen werden. Zudem ist die schon angesprochene politisch-administrative Verwaltungsstruktur eines solch extrem komplexen Systems nur funktionsfähig, wenn sie sich auf unterster Ebene über Straßenkomitees organisiert und wenn jeweils nur einzelne Zellen erfasst werden. Wie beschrieben, herrschen in den alten, noch existierenden lilongVierteln fast dörfliche Atmosphären vor, wo die Menschen sich untereinander kennen und helfen. Trotz des Auseinanderreißens dieser Enklaven wird durch Umsiedelung in neue abgeschlossene Wohngemeinden versucht, drohender gesellschaftlicher Anonymisierung entgegen zu wirken. Dafür werden Gemeinschaft stiftende Elemente, wie Clubräume, Parkanlagen usw. als wichtige Impulsgeber angesehen. Verinselungstendenzen können nicht nur im Wohnsektor ausgemacht werden. Auch bei Einkaufsvierteln kann klar getrennt werden zwischen oben/shang und unten/xia. Dies soll am Beispiel der Bekleidungsindustrie veranschaulicht werden. In Shanghai sind die Nanjing xi Straße und seit kurzem auch der Bund, Zhongshan dong yi Straße, die Adressen für Haute Couture à la Cartier, Prada, Louis Vuitton, etc. Die Huaihai Straße bietet Markenmoden des mittleren Segments, die für chinesische Verhältnisse immer noch sehr teuer sind, ebenso wie die Nanjing dong Straße, obwohl sich hier teilweise typisch staatseigene Geschäfte finden, die zum Teil noch einheitlichen sozialistischen Charme ausstrahlen.

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Die Sichuan Straße ist mit ihren vielen kleineren Geschäften trotz einiger großer Kaufhäuser schon deutlich eine Kategorie unter den vorher genannten Straßen anzusiedeln. Unterste Stufe stellt in Hinblick auf die Kleidungsbranche die Qipu Straße dar, wo teilweise unter freiem Himmel billigste Kleidungsstücke feilgeboten werden. Je nach Größe des Geldbeutels bewegen sich die Konsumenten auf der Einkaufsachse zwischen oben/shang und unten/xia (vgl. Abbildung 13, S. 58).

2.5 Soziale und kulturelle Spezifika der Shanghaier Pendragonisierung In Hinsicht auf eine oben/shang-unten/xia Differenzierung kann auch im Wohnsektor festgestellt werden, dass es hier zu deutlichen Auseinanderdividierungen kommt. Diese werden schlicht durch finanzielle Faktoren bestimmt. So können sich nur Reiche eine Wohnung in bestimmten luxuriösen gated communities leisten. Es entstehen mit den Wohngebieten gleichzeitig „Einkommensinseln“. Entsprechend verhält es sich auch mit anderen Eigentums- und Mietwohnungen: In den einzelnen Wohnvierteln kommt es zu einer Vereinheitlichung der Kauf- und Mietpreise. Demzufolge wohnen ähnlich einkommensstarke Personen zusammen. Auch die Wohnlage im Zentrum muss entsprechend finanziert werden. Wer sie sich nicht leisten kann, muss in eine den eigenen Finanzen angemessene Gegend ziehen. Daraus ergibt sich eine einfache Tatsache: Die Dominanz des finanziellen Potentials. Wer Geld hat, ist gesellschaftlich oben/shang und räumlich innen/nei im Zentrum, je weniger Geld jemand hat, desto weiter wird er an die Peripherie gedrängt. Diese Segregationserscheinungen verschärfen sich weitgehend. In Anbetracht des Fakts, dass unter maoistischer Führung zumindest nominell alle Menschen als gleich angesehen wurden und es keine unterschiedlichen sozialen Klassen gab, kam es mit Deng Xiaopings Losung 1992 „Reich werden ist ruhmvoll“ erstmals seit über vierzig Jahren wieder zu einer Legitimierung wirtschaftlichen Erfolgs. Binnen kürzester Zeit erlangten in Shanghai einige Menschen großen Reichtum, erreichten viele andere Wohlstand und es kam nach langer Zeit erneut zu einer offiziellen Herausbildung unterschiedlicher Schichten und zu einer Ausdifferenzierung von Lebensstilen. Es finden sich Gewinner und Verlierer in diesem Klima scharfer Konkurrenz. Grundsätzlich aber sehen fast alle eine permanente Verbesserung der Lebensbedingungen und Möglichkeiten, die eigene Situation und die der eigenen Familie zu verbessern. Dies mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass es trotz immenser sozialer

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Unterschiede und Spannungen bisher nicht zu gravierenden Eskalationen kommt. Die vermehrte Segregation wird in Shanghai nicht als negativ empfunden. Im Gegenteil wird es als praktisch angesehen, dass ähnliche soziale Schichten zusammen wohnen, da davon ausgegangen wird, dass es so zumindest innerhalb der gated communities nicht zu Problemen aufgrund sozialer Differenzen kommt.21 Zudem können soziale Brandherde so leichter ausgemacht und schneller darauf reagiert werden. Ein weiterer Aspekt, der sich aus der Folge des Auseinanderreißens alter Wohn- und Gemeinschaftsformen und der Umsiedlung in neue gated communities ergibt, ist das gleichzeitige Aufbrechen bestehender Milieustrukturen. Denn die Abgeschlossenheit innerhalb der lilong bedeutet nicht nur eine Abgrenzung der Bewohner nach Außen, sondern auch einen weitestgehenden Ausschluss derer Außerhalb. Nach einer Unterbringung in einer anonymisierten Umgebung, in „‚hygienischen und gesunden‘ Hochhäusern“, werden diese Formen plötzlich „gläserner und kontrollierbarer“.22 Segregation macht sich nicht nur im Wohnsektor deutlich bemerkbar, sondern grundsätzlich in ganz Shanghai: Je schillernder und exklusiver die Metropole wird, desto weniger können diejenigen daran partizipieren, die für den Luxus und die Pracht nicht aufzukommen in der Lage sind. Häufig sind es nicht nur die enormen Eintrittspreise, die für viele zur Barriere werden, sondern schon eine gewisse „Etikette“, die vorgeschrieben wird, damit dem Gesamteindruck nicht geschadet wird. So ist es vielerorts inzwischen undenkbar, dass der ältere Herr, der in seinem Unterhemd flanieren geht, in einem großen Einkaufszentrum Einlass findet. Um solchen Umständen vorzubeugen, finden sich an einigen Eingängen riesiger Shoppingmalls auch entsprechende Aufkleber, wobei es jedoch zusätzlich noch Personal an den meisten Toren solcher Einrichtungen gibt, die diesen Anforderungen Nachdruck verleihen. Für konsumstarke Personen ist der Zugang selbstverständlich nicht verschlossen. Im Gegenteil sollen sie durch Exklusivität angesprochen werden und erhalten Einlass in das Innere/nei dieser, im wahrsten Sinne des Wortes, Konsumpaläste. Mittels extravaganter Baustile repräsentieren derartige Gebäude den neuen Reichtum, während ihr monumentaler Prunk gleichzeitig die Armen exkludiert, die häufig bettelnd vor der Tür/wai bleiben.

21 Vgl. Münch 2004, S. 47. 22 Weggel 1997, S. 77.

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Auch Cafés und Restaurants sind oftmals sofort zu kategorisieren. Es existieren dort Restaurants jeglichen Preissegments, von der kleinen Garküche bis hin zu luxuriösen Feinschmeckerlokalen in- und ausländischer Provenienz. Dabei sind selbst die einschlägigen Fastfood-Ketten im Verhältnis zu Europa auf gehobenerem Preisniveau. Für eine Pizza bei „Pizza-Hut“ könnten zum Vergleich 25 Portionen einer einfachen, aber sättigenden Shanghaier Spezialität, huntun (哼哠)23, erworben werden. Dies sind nur wenige Beispiele einer Entwicklung, die immer klarer zwischen den Gewinnern und den Verlierern polarisiert und als Phänomen der sozialen Umstrukturierung der Stadtgeographie Gentrifizierung genannt wird. Das Besondere an der Shanghaier Gentrifizierung liegt darin, dass sie ecdynamisch verläuft, das heißt in diesem Fall, dass sie bewusst herbeigeführt wird, um den Wert des Raumes zu steigern und kein langsamer, sich über einen längeren Zeitraum hinziehender Prozess ist. Im ecdynamischen Raum kann binnen kürzester Zeit geplant, vertrieben, neu gebaut und sowohl städtebaulich als auch sozial aufgewertet bzw. degradiert werden. Hengartner drückt dies folgendermaßen aus: „Umgestaltung öffentlicher Plätze in konsumintensive Verweilorte wird zwar für die einen, die Gentrifier, zur Identitätsressource, für die Verlierer des Prozesses bedeutet dies aber ein weiteres Stück Exklusion und Verdrängung.“24

Gefördert wird die Gentrifizierung nicht nur durch die Bestrebungen der Stadtregierung, möglichst bis zur Weltausstellung 2010 aus Shanghai eine internationale Prestigeeinheit zu kreieren, sondern auch durch den tatsächlichen Bedarf an Luxus und Chic durch neu entstehende, gut verdienende gesellschaftliche Schichten. Die herkömmliche chinesische Ständeordnung unterteilte sich in vier hierarchische Schichten: Beamten-/Gelehrtentum, Bauernschaft, Handwerkerschaft und Kaufmannschaft. Im Laufe des letzten Jahrhunderts verschoben sich diese Ordnungen drastisch. Unter Mao Zedong wurde die traditionell hoch angesehene chinesische Intelligenzija unterdrückt und die Bauernschaft als kommunistisches Ideal propagiert. Die Kaufmannschaft war von jeher letztes Glied in der Hierarchie. Erst mit der 23 Gefüllte Teigtaschen, vegetarisch oder mit Fleisch, in einer Schale Suppe schwimmend oder frittiert. 24 Hengartner 2005, S.77.

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Reform und Öffnung und der allgemeinen Privatisierung wurde es möglich, dass das Unternehmertum zu einem angesehenen und mittlerweile machtvollen Teil des gesellschaftlichen Systems wurde. Auch die Intellektuellen Chinas erfuhren mit der Öffnung eine grundlegende Rehabilitierung, denn gerade sie sind es, die dem Land nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht zum Aufstieg verhelfen sollen. Im Großen und Ganzen kann die chinesische Gesellschaft nach wie vor als geschlossene Gesellschaft bezeichnet werden, auch wenn sich in den großen Metropolen allmählich eine neue Öffentlichkeit herausbildet. In der heutigen Shanghaier Gesellschaft findet sich genau so eine verschärfte Differenz, wie sie städtebaulich und sozial-hierarchisch anzutreffen ist. Noch heute leben Menschen in China, die zur Zeit der letzten Dynastie geboren wurden, die ein republikanisches China, eine Kriegsherren-Periode, japanische Besatzung, Bürgerkriege, die Gründung der Volksrepublik China unter den Kommunisten, landesübergreifende politische Kampagnen, Hungersnöte, die Kulturrevolution und schließlich die Zeit der Reform und Öffnung und den dramatischen Wandel ihrer Heimat und politischer Strukturen miterlebt haben. Der maoistische Kommunismus war für alle über Fünfzigjährigen mit den Ereignissen der proletarischen Kulturrevolution als grausamer „Abschluss“ der Ära Mao die dominante Prägung ihres Lebens. Für sie galten Zustände rigidester persönlicher Gängelung und das Postulat des Kollektivs, bei etlichen begleitet von familiären Dramen. Seitdem ist für diese Personen eine freie Meinung etwas, was, wenn überhaupt, nur im engsten Kreis der Familie geäußert wird. Alle Formen des Intellektualismus, der Individualität und des Wohlstands, alles, was nicht der „Massenlinie“ entsprach, wurde als „stinkende Nummer neun“ (౬‫۔‬԰, choulaojiu) verdammt, verfolgt, öffentlich gedemütigt und teilweise sogar zu Tode gequält. Es erscheint nur natürlich, dass Teile dieser heute älteren Generation äußerst vorsichtig sind und den Entwicklungen der Reform und Öffnung oftmals skeptisch gegenüber stehen. „Jahrzehntelang hatten sich die meisten Stadtbewohner manipulieren, klassifizieren und auch sonst in Beschlag nehmen lassen müssen, sei es, daß sie immer neuen Freund-Feind-Kategorien zugeordnet wurden, sei es, daß sie sich nicht enden wollenden Kontrollen der Partei, des Staates, der Berufsorganisationen, Genossenschaften, Wohnblocks, Nachbarschaften und anderer danweiMilieus zu unterziehen hatten, oder sei es, daß sie sich in einem Labyrinth von Lebensmittelmarken, Bezugsscheinen, Schulungskursen und parteikontrollier-

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ten Massenmedien zurechtfinden mussten. Die Überwachungs- und Kontrollzumutungen waren am Ende in den Städten noch penetranter als auf den Dörfern. ‚Stadtluft‘ hatte hier die ganze Zeit hindurch keineswegs frei, sondern eher gläsern-durchsichtig gemacht.“25

Diese Generation wiederum ist heute die Elternschaft einer ganz neuen Gesellschaft. Die heute bis 30 Jahre alten jungen Chinesen sind in der wirtschaftlichen Boomzeit aufgewachsen, in einer Zeit des permanenten Wandels, in einer Zeit des grundsätzlichen sich verbreitenden Wohlstands und ohne weitgehende politische Manipulationen. Eltern, die in einem vollkommen vom Ausland abgeschotteten China groß geworden sind, stehen nun einem Zeitalter der Globalisierung und des forcierten Wandels gegenüber: Eine Generation also, die von einem vollkommen nach innen/nei gekehrten Leben nun den Wandel ihrer Kindergeneration zu einer sich öffnenden, nach außen/wai orientierten Gesellschaft miterlebt und ebenfalls von diesem Wandel beeinflusst wird, bzw. die sich in manchen Bereichen in einer Kontraposition zu ihren Kindern sieht. In Anbetracht dessen erscheint es sinnvoll, auch die Gesellschaft in traditionell und modern (alt/lao-neu/xin) zu unterteilen. In ihr macht sich Traditionalität und Moderne sowohl geistig als auch materiell bemerkbar. So findet sich in älteren Haushalten typisch pragmatisches, auf lange Haltbarkeit und Nützlichkeit angelegtes Meublement, aber auch klassische Einrichtungen aus Mahagoni oder Kirsche, z.T. aus der Qing-Zeit oder dieser und früheren Epochen nachempfunden. In den neu eingerichteten Wohnungen junger Ehepaare in Shanghai stehen mittlerweile zahlreiche Möbel, die dem Warenkatalog großer europäischer Firmen entstammen. Alte Werte stehen gegenüber neuen, Tradiertes wird überholt, moderne Ansichten stoßen auf alte, neuer Konsumismus steht gegenüber striktem Haushalten, Markenmode gegenüber sozialistischer Einheitskleidung. Derartige Beispiele lassen sich in fast allen Bereichen des täglichen Lebens finden, da sich die Neuerungen überall bemerkbar machen. Differenzen in Grundeinstellungen und Konsumhaltungen sind die maßgeblichen Faktoren für latent vorhandenes Konfliktpotential zwischen Jung/xin und Alt/lao. Durch vermehrte und beschleunigte Segregation erfolgte Polarisierungen zwischen Reich/shang und Arm/xia sorgen auch in dieser Hinsicht für sich verschärfende Spannungen. Und schließlich sind die limitierten Zugänge zu bestimmten Räumen und 25 Weggel 1997, S. 52.

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damit eine bewusste Exklusion bzw. Inklusion unerwünschter bzw. bevorzugter sozialer Klientel, Determinanten eines Innen/nei-Außen/waiGefüges, das in Shanghai bewusst ausgebaut wird. Im Shanghaier ecdynamischen Raum spielen Machtdenken, Machtkonstrukte, Machtdiskurse und Machthandeln eine außergewöhnlich starke Rolle. Durch den beschriebenen beschleunigten Wandel und damit auch Lebensrhythmus entsteht eine Kultur der Konkurrenz, die geprägt ist von Rücksichtslosigkeit gegenüber den „Schwächeren“ innerhalb des Systems und des Prozesses. Nichtsdestotrotz bleibt ein gesellschaftliches Spezifikum des ecdynamischen Raumes, dass es entwicklungs- und gestaltungstechnische Fortschritte großen Ausmaßes gibt und diese bei der Bevölkerung eine allgemeine Hoffnung verbreiten, die eigene Position zum Positiven zu verändern. Zurückkommend auf das Dichotomie-Konstrukt, bedeutet dies das Streben auf den Skalen Richtung oben/shang, neu/xin und innen/nei und die tatsächliche Möglichkeit des Erreichens einer eigenen sozialen Aufwertung innerhalb des Raumes. Diese soziale Komponente ist eine weitere entscheidende Konstituente des ecdynamischen Raumes.

3. Erfassung der Individuen innerhalb des ecdynamischen Raumes Ein Zugang zu den vielfältigen Alltagsdimensionen der im ecdynamischen Raum lebenden Individuen setzt adäquate Ermittlungsinstrumente voraus. Ethnographische Repräsentation ist ein komplexer Vorgang, der der Vielfalt der im Feld angetroffenen Subjekte gerecht werden muss und folglich vor der Aufgabe steht, dieser Herausforderung so gewissenhaft wie möglich nachzukommen. Gleichzeitig steht der Forscher mit den Subjekten in Interaktion. Beide Seiten beeinflussen sich gegenseitig und konstituieren eine Situation, die wiederum Sinn produziert. Der Forscher ist von dem Motiv geleitet, alle seine Aktionen und Fragen in Richtung seines Forschungsinteresses zu leiten. Die Teilnehmer wiederum sind selbst von unterschiedlichsten Motivationen getrieben, sich mit dem Ethnologen auseinander zu setzen. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Interaktionspartner aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen, was für eine weitere Verzerrung der Situation sorgt, denn

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„Forschungsfragen, Begriffsdefinitionen, Theorieelemente, methodisches Vorgehen sind durch die eigene (Wissenschafts-)Kultur und Gesellschaft [des Forschers] bestimmt und prägen das Beurteilen, Filtern, Auswerten und Gewichten von Informationen“26.

Ein mögliches Aufoktroyieren vermeintlicher Selbstverständlichkeiten auf fremde Personen 27 und Kontexte und die Inkongruenz mit diesen können auf Unverständnis oder in forscherische Sackgassen führen und müssen mit in den Prozess einkalkuliert werden. Auch kommunikativ ist das Miteinander alles andere als natürlich, denn nicht für beide Interagierenden verläuft die Auseinandersetzung in der Muttersprache, noch verläuft sie auf gleicher kultureller Ebene. Diese hinlänglich bekannte und unvermeidliche Problematik der ethnographischen Verzerrung berücksichtigend, soll in dem deskriptiven Teil dieser Arbeit auf ein rein interpretierendes, monophones Postulat des Forschers verzichtet werden, um der Vielfalt, Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der Beteiligten der Untersuchung so viel Raum und Freiheit wie möglich zu lassen, um auf diese Weise dem Leser eine weitgehend unabhängige und möglicherweise auch abweichende Interpretation des erhobenen Materials zu gestatten. In Anlehnung an den russischen Literatur- und Kulturtheoretiker Michail M. Bachtin28 sollen die Forschungsteilnehmer als „sprechende Subjekte in einem Feld mannigfaltiger Diskurse“29 gesehen werden. Gemeint sind hier sowohl die Erforschten als auch der Forscher. Zurückgegriffen wird deshalb auf das von James Clifford für die Ethnologie fruchtbar gemachte Konzept der „Polyphonie der Stimmen“, um den Personen im Feld adäquate Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen.30 Zwangsläufig muss der Autor seine autoritäre Stellung zugunsten mannigfaltiger Meinungen, Kommentare und sogar zugunsten von vermeintlichen Unverein26 Scheunpflug/Treml 1993, S.104. 27 „Othering bezeichnet die Einsicht, daß die Anderen nicht einfach gegeben sind, auch niemals einfach gefunden oder angetroffen werden – sie werden gemacht“ (Berg/Fuchs 1999, S. 337). 28 „Jedes konkrete Wort (jede Äußerung) findet ja den Gegenstand, auf den es gerichtet ist, immer gleichsam schon mit einem Vorbehalt versehen, umstritten und bewertet vor, umgeben von einem ihn verdunkelnden Dunstschleier oder aber vom Licht der schon über ihn geäußerten fremden Wörter. Er ist umhüllt und durchzogen von allgemeinen Gedanken und Gesichtspunkten, von fremden Bewertungen und Akzenten.“ (Bachtin 1986, S. 96). 29 Clifford 1999, S.142. 30 Vgl. Clifford 1999, S. 109-157.

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barkeiten aufgeben. Hierbei wird kein um Richtigkeit konkurrierendes Modell der Sichtweisen, sondern im Gegenteil eine multiperspektivische Einheit von tatsächlich im Raum existierenden Diskursen, die unentwegt diskutiert, hinterfragt und neu ausgehandelt werden können, angestrebt. Liu Dahong und Huang Qihou, zwei Professoren am Art Institute of the Shanghai Normal University haben über mehrere Jahre das Motiv „A Mosaic of Mores in New Shanghai“ als Thema der Abschlussarbeiten ihrer Studenten gewählt. Herausgekommen ist dabei ein Buch mit gleichnamigem Titel31, das eine Fülle von Bildern enthält und ein hervorragendes Beispiel für multiperspektivische und multisubjektive Darstellungen des ecdynamischen Raumes Shanghai darstellt, in dem kontinuierlich „something laughable, detestable, gratifying, pitiable, likable and lamentable“32 zu entdecken ist. Abbildung 15: A Mosaic of Mores in New Shanghai.

V.l.n.r.: More modern high rises at Pudong, More model husbands, More white-collars rich and single, More smoking girls to pose as cool. Angeleitet von der „Polyphonie der Stimmen“ und dem „Mosaic of Mores“ folgt im fünften Kapitel ein deskriptiver Abschnitt, der die Beschreibung von Sachverhalten, Gefühlen, Vorurteilen und Stereotypen, Vermutungen, Meinungen etc. vorwiegend den im Mittelpunkt dieser ethnographischen Feldstudie stehenden fünfzig jungen in Shanghai ansässigen Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren überlässt. Der Autor kommt in diesem Teil kaum zu Wort. Moderierende Funktion wird in der Einleitung und bei Exkursen übernommen. Erst die abschließende Zusammenfassung (Kapitel VI) wird in monophoner, erfahrender und interpretierender Manier verfasst.

31 Liu/Huang 2001, A Mosaic of Mores in New Shanghai (ᄅՂ௧‫ڍۍ‬䨞, xin shanghai bai duo tu). 32 Chen in Liu/Huang 2001, Vorwort.

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Um eine Kohärenz der Präsentation zu gewährleisten, werden die einzelnen Aussagen in für diese Arbeit sinnvoller Reihenfolge „orchestriert“, ganz im Sinne Roland Barthes, der davon ausgeht, dass dann „die Einheitlichkeit eines Textes nicht in seinem Ursprung, sondern in seiner Bestimmung“33 liegt.

33 Barthes 1977, S. 148.

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III Hypothesen

Einleitung Das Aufwachsen im ecdynamischen Raum hat massiven Einfluss auf die Identität der jungen Generationen. Die Anforderungen des ecdynamischen Raumes verlangen ein spezifisch angepasstes Verhalten seiner Bewohner. Wie schon beschrieben herrscht in Shanghai ein Klima des Extremen: Extrem sind die sich im ecdynamischen Raum bewegenden Menschenmassen, extrem ist das Verkehrsaufkommen und dementsprechend ebenso der Lärm. Aber auch klimatisch liegt Shanghai in einer subtropisch maritimen Monsunregion mit ausgeprägten Jahreszeiten: Die Sommer sind schwül und heiß, die Winter feucht und kalt. In einer Atmosphäre des kontinuierlichen Wandels, wo der Alltag durch stetige Veränderungen instabil wird, wo sich der Mensch ständig auf Neues und Anderes einstellen muss, kommt äußeren Faktoren wie Gedränge, Lärm, Hitze eine potenzierte Bedeutung zu. Shanghai stellt durch sein Meer an Leuchtreklamen, seine Hupkonzerte, seine Menschenströme und sein überbordendes Konsumangebot eine permanente Attacke auf alle Sinne dar. Der Mensch findet sich inmitten und als Teil eines höchst energetischen Komplexes wieder, der alle Aufmerksamkeit fordert und der niemanden zur Ruhe kommen lässt. Der Lebensrhythmus ist dominant, in zweierlei Hinsicht: Äußerlich kann man sich nur dem Puls der Straßen anpassen, man muss sich in und mit den Massen bewegen, innerlich muss man sich dem Druck der Konkurrenz anpassen, um im Strom vorn dabei zu sein.

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All diese genannten Faktoren fördern eine „Kultur der Nervosität“1, eine Rastlosigkeit, die den Menschen im ecdynamischen Raum anzumerken ist und die den neu Dazukommenden vor teilweise große Probleme stellt. Bisherige Erfahrungen werden obsolet, da der Umgang in diesem neuen Raum in vielerlei Hinsicht ein Neuerlernen von Umgangsformen und Verhaltensmustern erfordert. Hinzu kommt, dass Shanghais Größendimension alles bisher Erlebte übertrifft und eine ständige Verschiebung der Blickachsen verursacht, sowohl in horizontaler als auch besonders in vertikaler Perspektive. Leicht kann im ecdynamischen Raum die Übersicht verloren gehen. Orientierungslosigkeit, nicht nur in rein geographischer Ausrichtung, sondern auch wegen der generellen Vielfalt und Differenz des Vorgefundenen und der Möglichkeiten, ist die Folge. Aufgrund der verschärften Differenzen alltäglicher Lebenswelten, sozialer Ausformungen, städtebaulicher Strukturen etc. fordert der ecdynamische Raum kontinuierliche Koordinations- und Integrationsleistungen, ein hohes Maß an Individualität, Flexibilität und Mobilität von den in ihm lebenden Menschen. Im Folgenden werden Hypothesen entwickelt, anhand derer der ecdynamische Raum Shanghai und seine jungen Einwohner in Korrelation zueinander gesetzt werden. In dem mannigfaltigen Komplex seiner Lebenswelten verzahnen sich unterschiedlichste Faktoren und ergeben ein Mosaik der Vielfalt. Ein mikroskopischer Ansatz muss sich damit zufrieden geben, nur Fragmente des gesamten Mosaiks aufnehmen und wiedergeben zu können. Da sich diese Arbeit auf wiedergegebene Wahrnehmungen der teilnehmenden Interviewpartner bezieht, wird das Mosaikteilchen „Wahrnehmung“ (siehe Abb.21) als Ausgangspunkt gewählt, aus dem alle Darstellungen hervorgehen. Daran werden so viele weitere Teilchen wie möglich, die alle an Wahrnehmung gekoppelt sind, angelegt und derart die Struktur eines sich daraus entwickelnden Bildes vorgelegt, das schließlich mit polyphonen Aussagen aus Kapitel V gefüllt wird. Die „Strukturen“ sind die in diesem Kapitel vorgestellten theoretischen Herangehensweisen an „Wahrnehmung Anderer“, „Wahrnehmung des Raumes“, „unterschiedliche Wahrnehmungen“ des Raumes und Anderer und an „Selbstwahrnehmung“.

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Radkau 2001, S.63.

HYPOTHESEN

Abbildung 16: Wahrnehmungs-Modell.

* Wahrnehmung bedeutet immer auch Handeln Das Konzept der „Wahrnehmung“, wie Gudrun Schwibbe es in Bezug auf historische Rekonstruktionen anwendet, besagt: „Wahrnehmung wird gedacht als ein komplexer Prozeß der aktiven Orientierung und Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit. Als Ergebnis dieses in kommunikative und handlungsbezogene Lebenspraxis eingebetteten Prozesses wird soziale Wirklichkeit konstituiert […] So verstanden bedeutet Wahrnehmen also nicht einen Rückzug in ein individuelles Erleben, sondern sinnliche Anwesenheit und Mitteilsamkeit in sozialen Handlungszusammenhängen.“2

Schwibbe arbeitet mit einem Modell, das kognitive Strukturen mittels „kognitiver Schemata“ zu erfassen sucht, die „als Netzwerke von miteinander verknüpften Bedeutungen aufgefasst [werden], als Modelle prototypisch vereinfachter Welten, die im Wahrnehmungs-, Denk- und 2

Schwibbe 2002, S. 7-8.

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Handlungsprozeß selektiv aktiviert werden.“ 3 Hiermit nähert sie sich dem bourdieu’schen Habitus-Begriff als Konstruktionsmittel benannter kognitiver Schemata.4 Die physische Umwelt spielt eine entscheidende Rolle für die in einer Stadt Lebenden, meist noch weit mehr als die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, es sei denn, sie wirken sich in ihren Folgen unmittelbar auf die Einwohner aus. Deshalb liegt ein Schwerpunkt der Analyse in der permanenten Kontextualisierung des Lebens der interviewten Personen mit eben dieser physischen Umwelt und ihrem Einfluss. Anhand einer Synthese aus Städtebau, Räumlichkeit, gelebten Stadttums und deren Wahrnehmung innerhalb des ecdynamischen Raumes unter Berücksichtigung weitreichender gesellschaftlicher Faktoren, wird auf die Herausbildung einer speziell an die Erfordernisse des ecdynamischen Raumes angepassten Identität der in Shanghai ansässigen jungen Leute geschlossen und deren Alltagswirklichkeit konstruiert. Sieht man Wahrnehmung als Prozess, der wirklichkeitskonstituierend auf die Gegenwart einwirkt, dann muss man ihn als reversibel betrachten, da er immer auch eine Reaktion auslöst: „Neben den sozialen und ökonomischen Bedingungen wirkt die sinnlich wahrnehmbare materielle Realität von Städten, wirkt ihre gebaute Struktur, wirken Gerüche und Geräusche auf die Erfahrungen und Handlungen ihrer Bewohner. Wahrnehmung, Bewegung, Kommunikation, Arbeiten und Wohnen in der Stadt stehen in unmittelbarer Beziehung zu dieser physischen Umwelt. […] In diesem Sinne stellt Urbanität also eine Kategorie dar, die von Wahrnehmungen und Erfahrungen in städtischen Räumen grundiert wird. Sie ist aber weit mehr als nur eine landkartenartige Abbildung des städtischen Raums, da sie sich andererseits wiederum auf Wahrnehmungen, Bewertungen, Handlungen und soziale Organisation auswirkt. Urbanität steht damit in enger Beziehung zu Städten als physischen Gebilden, ist aber keinesfalls darauf beschränkt.“5 3 4

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Schwibbe 2002, S.9. Sie bezieht sich dabei auf d’Andrade (1992) und d’Andrade und Strauss (1992). Bourdieus Habitus-Begriff und ebenso seine Lebensstiltheorie finden keinen Eingang in diese Arbeit, da die Anwendung eines westeuropäischen Konzeptes auf chinesische Kontexte nicht ohne weiteres möglich ist und die Gefahr falscher oder irreführender Konnotationen vermieden werden soll. Einen umfassenden Überblick über chinesische Lebensstilforschung liefert Dominique Schirmer (2004): Soziologie und Lebensstilforschung in der Volksrepublik China. Perspektiven einer Mikrotheorie gesellschaftlichen Wandels. Hengartner 2005, S. 71-72.

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Um auf Wahrnehmungsprozesse schließen zu können, müssen somit die räumlichen Gegebenheiten ob ihres möglichen sinnlichen Einflusses untersucht werden, und andersherum kann aus der Analyse der gegebenen Alltags- und Lebenswirklichkeiten auf Reize, die von der Umwelt ausgelöst werden und die diese maßgeblich mitbestimmen, geschlossen werden. Neben der Wahrnehmung des Raumes gehört auch die Wahrnehmung des bzw. der Anderen in diesen Forschungskontext, da sich im ecdynamischen Raum verschiedenste Gruppen von Menschen aufhalten. Hier finden vier Gruppen Beachtung, die sich selbst gegeneinander abgrenzen: Shanghairen und Waidiren sowie Eltern und Kinder. In Anknüpfung an Maurice Halbwachs’ Theorie werden Gruppen vorwiegend über ein − von ihm so benanntes − „kollektives Gedächtnis“ definiert. Es ist identitätsstiftend, bestätigend und festigt die Gruppe und deren Selbstbild über gemeinsames Erinnern.6 „Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung. Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung. […] Gruppe und Raum gehen eine symbolische Wesensgemeinschaft ein, an der die Gruppe auch festhält, wenn sie von ihrem Raum getrennt ist.“7

Da das Gedächtnis auf den „Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe“ bezogen ist und immer wieder als Validierung des Bestehenden herangezogen wird sowie durch Antizipationen von in der Vergangenheit Erlebtem mittels Annahmen und Idealisierungen auf die Gegenwart und auf zukünftige Ereignisse immer wieder darauf zurückgegriffen wird8, ist es als Konstituente von Wirklichkeit entscheidend. Die Gruppen der Shanghairen und Waidiren grenzen sich vorwiegend auf der Basis von Stereotypen9 und Vorurteilen10 gegeneinander ab. Ste6 7 8 9

Vgl. Erll 2003, S.158 ff. J. Assmann 2000, S.39. Vgl. Schütz/Luckmann 2003, S. 69-97. „Stereotyp“, so Hermann Bausinger (1988) „ist der wissenschaftliche Begriff für eine unwissenschaftliche Einstellung“ (S.13). 10 Vorurteil stellt laut Hermann Bausinger (2000) „gewissermaßen eine Steigerung von Stereotyp dar. Während mit dem Begriff von Stereotyp auch schrullige Harmlosigkeiten ins Auge gefasst werden, sind Vorurteile oft Elemente von Feindbildern.“ (S.17).

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reotype werden im kollektiven Gedächtnis gespeichert und sind als überindividuell geltende Vorstellungen Objektivationen „mentaler Strukturen“11, die über Generationen hinweg fortleben können. Für die einzelnen Gruppen sind Stereotype Teil gesellschaftlicher Realität und dienen der Vereinfachung komplexer Sachverhalte, um eine leichtere Orientierung innerhalb der Lebenswelt zu ermöglichen. Zudem erlauben Stereotypisierungen Rückschlüsse auf eigene Identitätszuschreibungen der Diskursteilnehmer und dienen hier somit als wesentliches Instrument der Herangehensweise an die polyphonen Aussagen. Zwischen Eltern und Kindern findet eine generationenspezifisch bzw. auch eine sozialisationsspezifisch bedingte Abgrenzung statt. Trotz Zusammenlebens und großer Intimität von Eltern und Kindern kommt es allein durch den Altersunterschied zu einer ersten Barriere. Der Sozialisationsprozess12, der vorwiegend von den Einflüssen der Eltern auf ihre Kinder ausgeht, sei es nun bewusstes „Erziehen“ 13 oder unbewusstes Weitergeben von Werten und Verhaltensmustern, bedingt, dass Kinder stark von ihren Eltern geprägt werden. In dieser Hinsicht kann noch von einem Weitergeben identischer gruppenaffirmativer Verhaltenskodices gesprochen werden. Sobald die Kinder jedoch dem primären Einfluss der Eltern entwachsen, kommt ein so genannter „tertiärer Sozialisationsfaktor“ 14 hinzu, der die Anpassung des Individuums an seine soziale Umwelt, sei es beruflich oder im Freundeskreis, fordert. Genau hier kann es zu Reibungs- und Konfrontationsmomenten gegenüber Eltern und Kindern kommen, wenn die Kinder eine Abwandlung oder Aufgabe anerzogener Verhaltensschemata oder Einstellungen für ein eigenständiges Leben in der Gesellschaft als angebracht ersehen und eben diese Aufgabe oder Abwandlung von den Eltern als inakzeptabel aufgefasst oder schlicht nicht verstanden wird.15 An diesem Punkt kann weiter in Anlehnung an das WahrnehmungsModell (Abb.16) zu dem Mosaiksteinchen der „unterschiedlichen Wahrnehmung“ übergeleitet werden. Wie schon dargelegt, fällt dem Gedächtnis eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung von „Wirklichkeit“ zu. Unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliches gespeichertes

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Vgl. Roth 1998, S.23-36. Vgl. Berger/Luckmann 2003 [1969], S.139-195. „Socialisation méthodique“ nach Emile Durkheim. Vgl. Durkheim 1992. Vgl. Tillmann 1989; Hurrelmann 1980 et.al. Zu dieser Thematik vgl. u.a. Gronemeyer 2004, Hruschka 2004, Hinske 1987.

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Wissen führen zwangsläufig zu differierenden Auslegungen von Wirklichkeit und entsprechend auch zu voneinander abweichenden Wahrnehmungen der jeweils „erlebten“ Wirklichkeit.16 Schließlich soll in dieser Arbeit über „Selbst-Wahrnehmung“, hier verstanden als Selbstverortung des Individuums und Bewusstmachung der eigenen Person und ihrer Rolle im gesamten System des ecdynamischen Raumes und unter Bezug auf implizite eigene Identitätszuschreibungen, eine Annäherung an individuelle Lebensentwürfe, Lebenseinstellungen und Lebensstile erfolgen und von einem mikro- und multiperspektivischen Ansatz auf die lebensweltliche Alltagswirklichkeit junger, in Shanghai lebender Persönlichkeiten verwiesen werden.

1 . H yp o t h e s e 1 Zwischen der Eltern- und Kindergeneration 17 , die hier mit den 2030jährigen Forschungsteilnehmern gleichzusetzen ist, existiert ein gewaltiges Konfliktpotential, da beide in verschiedenen Lebenswelten aufgewachsen sind: die Eltern im totalitären Maoismus, während der Kulturrevolution, die Kinder zur Zeit der Reform und Öffnung. Generationen werden zu einem einheitlichen sozialen Gebilde, da sie durch gemeinsame historische Lebenssituationen und Erlebnisse „ähnliche Leitbilder und Werthaltungen, Einstellungen und Orientierungen“18 entwickeln. Da bei speziell diesen beiden Generationen, den 50- bis 65jährigen Eltern und deren Kindern, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fast nicht unterschiedlicher sein können, kommt es unweigerlich zu Spannungsverhältnissen, besonders bei jenen Generationen, die auf engem Raum zusammen leben. Daraus folgend

16 Vgl. Berger/Luckmann 2003 [1969]. 17 Wenn hier von Generation gesprochen wird, ist die biologisch-genealogische Sicht nach Weber (1987), S.3, gemeint: „[…] eine genealogische Position in der biologischen Abstammungsfolge bzw. im familialen Verwandtschaftssystem einer Sippe (‚Parental-‘ und ‚Filial-Generationen‘). Man meint damit z.B. die Generationen der Großeltern, der Eltern, der Kinder, der Enkel; also jene Familienmitglieder, die sich in der Abstammungsfolge auf der gleichen Ebene befinden.“ Ferner handelt es sich hier um einen mikrosoziologischen intrafamiliären Generationenkonflikt, der an konkreten Bezugspersonen- und Gruppen festgemacht und als Generationenbeziehung bezeichnet wird. (Büchner 1998, S. 238.) 18 Hruschka 2004, S. 15.

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wird hier vorwiegend die unverheiratete Shanghaier Jugend in den Fokus gerückt, da diese größtenteils bei den Eltern wohnt. Zwischen den Anforderungen des ecdynamischen Raumes und der Erwartungshaltung der Eltern besteht teilweise ein unüberwindlicher Graben, da einerseits ein Leben im ecdynamischen Raum ein Großmaß an Mündigkeit und Entschlossenheit fordert, andererseits bei einer Haltung kindlicher Pietät gegenüber den Eltern ein Berücksichtigen tradierter Werte und Einstellungen vonnöten ist. Eine konfuzianische Grundhaltung, das Streben nach „Harmonie“19 (ࡉ, he; ࡉ冢, hexie) und der „goldenen Mitte“ bzw. dem „goldenen Mittelweg“ (խ൉, zhongyong 20 bzw. խ൉հሐ, zhongyong zhi dao), spiegelt sich heute nach wie vor in den Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern wider: Die Kinder wollen ihrer konfuzianischen Rollenpflicht gerecht werden und in kindlicher Pietät (‫ݕ‬, xiao) ihren Eltern helfen und gehorchen und sind bereit, sich um der familiären Harmonie willen anzupassen und sich den Wünschen der Eltern unterzuordnen. Allerdings treffen hier ecdynamischer Raum und Elternhaus als zwei Kontrapunkte aufeinander, zwischen denen die Jugend eine Art Balanceakt ausführen muss, um einerseits die Harmonie zu Hause zu erhalten und andererseits den Anforderungen des ecdynamischen Raumes gerecht werden zu können. Es muss festgestellt werden, dass den externen Determinanten eine wachsende Bedeutung zukommt, denn um in dem Shanghaier Klima der Konkurrenz mithalten zu können, müssen die jungen Leute sich mehr und mehr den ökonomischen Einflüssen unterordnen, die hier wieder in Anlehnung an das Dichotomie-Konstrukt als neue Einflüsse (xin) kategorisiert werden. Die traditionellen Werte (lao) des Elternhauses (nei/innen) sind zwar präsent, aber Vorrang haben zwangsläufig die Erfordernisse, die Erfolg in der sozialistischen Marktwirtschaft (wai/außen) versprechen. 19 Vgl. Lin 1957; Grimm 1976; Wilhelm 1987; Krieger/Trauzettel 1990; Huang/Zürcher 1993; Roetz 1995; Bauer 2000. 20 Das Zhongyong, dessen ungesicherte Urheberschaft dem Enkel Konfuzius’, Zisi, zugeschrieben wird, ist ein als Kapitel im Liji (壋兂, Buch der Riten) überlieferter Kurztext. In ihm findet sich: „Eine Grundidee des frühen Konfuzianismus ist die Einhaltung der Mitte (zhǀng), womit allerdings nicht ein angepaßtes soziales Mittelmaß gemeint ist. Es gilt vielmehr als äußerst schwer, die Mitte zu erreichen: […] Die Schwierigkeit der Einhaltung der Mitte besteht m. E. genau darin, in jeder Situation den Ausgleich zwischen den verschiedenen Forderungen der Ethik zu finden. Der […] Lehre […] geht es darum, alle ihre Werte an ihren jeweiligen Platz zu rücken und die Befolgung einer jeden sittlichen Verpflichtung, wie z.B. den Eltern und dem Fürsten zu dienen, in moralischer Integrität möglich zu machen.“ (Zitiert nach Roetz 1997, S.58).

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Für die junge Generation wird der Versuch, im ecdynamischen Raum den goldenen Mittelweg einzuhalten zur Zerreißprobe, denn ein wesentlicher Motor des Erfolgs ist hier zweifellos Egoismus. So gibt es denn auch in dieser Studie Beispiele für so genannte „erfolgreiche Sozialisation“21, wo das intergenerative Beieinander harmonisch verläuft, Beispiele für ein deutliches Spannungsverhältnis im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang und Beispiele für Eskalationen innerhalb der Familie. Nichtsdestotrotz gibt die Elterngeneration traditionelle Werte an ihre Kinder weiter, die dazu führen, dass es ungeachtet starker Globalisierung und anscheinendem totalen Lebenswandel zu einer spezifischen Shanghaier Jugendkultur kommt, die sowohl Altes/lao als auch Neues/xin in sich vereint. Hier kann ebenfalls von einer Synthese aus „Konfuzianismus, Kommunismus und Kapitalismus“22 gesprochen werden.

2 . H yp o t h e s e 2 Shanghairen und Waidiren nehmen den ecdynamischen Raum unterschiedlich wahr, und er erschließt sich ihnen als Handlungs- und Möglichkeitsraum in ungleicher Weise. Es gibt besondere identitätsstiftende und exkludierende Merkmale für beide Seiten. „Städte [stellen] umfassende sinnliche Erfahrungshorizonte (vgl. Hannerz 1995: 78) dar, die sowohl auf Erfahrungen und Handlungen von Stadtbewohnern wie Nicht-Stadt-Bewohnern einwirken und sich in individuellen wie überindividuellen Stadtbildern, vor allem aber auch in der mentalen Disposition von Urbanität […] niederschlagen.“23

Für die jungen Shanghairen, die in einer Sphäre der sich entwickelnden Superlative und des stetigen Wandels aufgewachsen sind, stellt Shanghai einen Ort dar, auf den sie stolz sind. Entsprechend selbstbewusst konstruieren sie eigene Zugehörigkeit und Aneignung. Shanghairen haben deutliche Abgrenzungsmechanismen gegenüber Waidiren entwickelt. Die ersichtlichsten Beispiele sind Sprache (Shanghai-Dialekt) und Kleidung. Aber auch in den Köpfen zeigen sich durch Betonung des Shanghaitums und explizite Zuordnungen in Waidiren, Migranten (ฝ‫ا‬, yimin), Wanderarbeiter ( ੌ 㣅 Գ , liudongren), Ausländer ( ؆ 㧺 Գ , waiguoren), Leute aus Hunan (ྋতԳ, hunanren), etc. tief sitzende Dis21 Berger/Luckmann 2003 [1969], S.175. 22 Siehe Fußnote 11, S.52. 23 Hengartner 2005, S. 72.

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tinktionen, die im Gegenzug durch die Selbstbezeichnung als Shanghairen oder Leute dieses Ortes (‫چء‬Գ, bendiren) auf eine starke Shanghaier Identität schließen lassen. „,Shanghai ist ein Meer‘. Wenn du in dieses Meer springst, wie willst du darin schwimmen? Wirst du ertrinken oder erfolgreich ans Ufer schwimmen? In Shanghai gibt es zwei Worte: ‚existieren‘ [‫ژس‬, shengcun] und ‚leben‘ [‫س‬ ੒, shenghuo]. Beide haben eine vollkommen unterschiedliche Bedeutung. Oder anders gesagt, zwischen den beiden Begriffen ‚existieren‘ und ‚leben‘ besteht gewissermaßen eine schwer definierbare [Bedeutungs-]Verschiebung. ‚Existieren‘ ist eine lauernde Haltung, es ist eine Art Verhalten, das gegen etwas anstürmt. Dagegen ist ‚Leben‘ eine Art, die Straße entlang zu gehen, mehr noch, es ist eine Art zu sitzen, zu gehen, auszuruhen und zu flanieren. In Shanghai ist dieses ‚Leben‘ nicht allen Menschen eigen. In solch einer Metropole, die voller Chancen ist, aber auch voll brutaler Konkurrenz, muss man die Existenz an erste Stelle setzen.“24

Dieses Zitat Zhang Luyas beschreibt, wie das Verhältnis zwischen Shanghairen und Waidiren, aber auch zwischen allen Menschen in den Dimensionen oben/shang und unten/xia gesehen werden könnte: Die Shanghairen haben ein Zuhause und ihren familiären sowie sozialen Rückhalt, während die von Außerhalb Kommenden, die Waidiren, sich erst einen Platz im ecdynamischen Raum suchen müssen, ebenso wie ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, einen hukou zu bekommen und den Lebensunterhalt zu sichern. Waidiren kommen häufig aus völlig anderen Lebenskontexten, womit beispielsweise eine Dorfgemeinschaft ohne Strom und fließend Wasser gemeint sein kann. Ohne Zweifel stellt eine Ankunft in Shanghai für diese Menschen einen räumlichen und gesellschaftlichen Quantensprung dar. Der ecdynamische Raum Shanghai nimmt alle auf und gibt jedem potentiell die Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen. Bedenkt man, dass Shanghai von jeher eine Einwandererstadt ist und nur etwa 20 % ihrer Einwohner ursprüngliche Shanghairen sind und sieht man gesellschaftliche Vielfalt als Motor für ein Herausbilden von Mannigfaltigkeit an, so gewinnen gruppenspezifische Distinktionen auf der Suche nach Konstanten in einer Gesellschaft und einem Umfeld des Wandels eine besondere Bedeutung, sowohl auf Seiten der Shanghairen wie auch der Waidiren.

24 Übersetzt aus: Zhang 2003, S.17.

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IV Der empirische Zugang

1 . An n ä h e r u n g a n s F e l d In der vorliegenden Forschung geht es um in Shanghai lebende junge Personen, die in den Jahren nach der Kulturrevolution 1 aufgewachsen sind. Junge Chinesen also, die den gesamten Prozess der gaige kaifang (‫଀ޏ‬䬞࣋), der Reform und Öffnung, bewusst miterlebt haben und deren Leben vom rapiden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel geprägt wurde. Die im Rahmen dieser Feldforschung befragten jungen Leute sind also nicht älter als dreißig Jahre. Bei der Zielgruppensetzung wurde die untere Grenze bei zwanzig Jahren festgelegt, da Personen in den Fokus gerückt werden sollen, die das Erwachsenenalter erreicht haben und in deren Leben sich allein dadurch momentan viele Änderungen ergeben und schon ergeben haben: Auszug von Zuhause, Beginn eines Studiums, Wegzug aus der Heimat in eine fremde Stadt, Heirat, Beginn des Berufslebens etc. Bei der Rekrutierung der Interviewpartner spielten die Faktoren Geschlecht und Bildung sowie die Trennung in Shanghairen und Waidiren eine Rolle. Ziel war es, fünfzig Prozent weibliche und fünfzig Prozent männliche Teilnehmer zu finden, von denen die eine Hälfte gebürtig aus Shanghai stammt, die andere hinzugezogen ist und die auf alle chinesischen Bildungsschichten verteilt werden können, also sowohl Personen ohne jeglichen Schulabschluss über Unterstufe der Mittelschule, Oberstufe der Mittelschule bis hin zu Personen mit einem universitären Abschluss, wie Bachelor, Magister oder Promotion.2

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1966-1976. Vgl. eine Übersicht zum chinesischen Schulsystem, Abbildung 20, S. 323.

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Insgesamt wurden fünfzig Personen der beschriebenen Zielgruppe interviewt. In dem sehr konzentrierten Prozess konnten nach über dreißig geführten Interviews schon deutliche Tendenzen herauskristallisiert und immer wiederkehrende Elemente ausgemacht werden, die sich in den noch folgenden Interviews weiter verfestigten. Recht schnell stellte sich die Erkenntnis ein, dass mehr als vierzig interviewte Personen in ein- bis zweistündigen Unterhaltungen eine enorme Masse an Information und vor allem auch Text produzieren, der transkribiert und übersetzt werden muss, bevor eine erste Analyse folgen konnte. Im Rahmen dieser Untersuchung erklärten sich 43 Interviewpartner damit einverstanden, sich filmen zu lassen, die restlichen waren dazu aus unterschiedlichen Gründen3 nicht bereit oder aber es wurde auf eine „gestellte“ Interviewsituation vor der Kamera verzichtet, weil sich im Lauf der Zeit schon ein freundschaftliches Verhältnis zu den Beteiligten ergeben hatte, in dem viele Informationen in „inoffizieller“ Weise vermittelt wurden. Eine erneute Befragung wäre der eigentlichen Beziehung zwischen mir als Forscherin und dem Erforschtem nicht gerecht geworden und bzw. oder auch der Zeitpunkt war einfach überschritten, um in einem Gespräch vor der Kamera alles bereits vorhandene Wissen erneut abzufragen. Bei einigen der gefilmten Interviewpartner beschränken sich die Kontakte nicht nur auf die gefilmten Sequenzen und das Beisammensitzen vor dem offiziellen Teil und im Anschluss daran, sondern auch hier entstanden post hoc Freundschaften, in denen ich nicht mehr als Forscherin wahrgenommen wurde, sondern als Freundin. Für mich persönlich gab es keine „forschungsfreien“ Beziehungen, da ich mich in jeder Situation als Forscher gesehen habe, beim Einkaufen, beim Friseur. Überall und immer, wenn ich mit Leuten zu tun hatte, die für meine Forschung interessant waren, habe ich mir Notizen gemacht. Je mehr Interviews schon durchgeführt waren, desto deutlicher wurde es, in welche Richtung meine letztendliche Forschungsfrage gehen und worauf der Schwerpunkt gelegt werden sollte. Jegliche Interaktion diente dem Zweck, Antworten auf Fragen zu suchen und Gespräche in Richtungen zu lenken, die von forscherischem Interesse waren.

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Liu Jian als angehender Buchautor stand bei einem Verlag unter Vertrag und wusste nicht, ob er an Interviews, die nicht von diesem Verlag initiiert wurden, teilnehmen durfte. DVD zeigte sich nur für Fotoaufnahmen bereit, da sie sich selbst als zu ungebildet bezeichnete. Ma Ye als Journalistin wollte selbst nicht offizieller Teil der Untersuchung werden.

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2. Rekrutierung Als Fremde in einer fremden Stadt, die zunächst über keine Beziehungen verfügte, stellte sich die Frage, wie der Kontakt zu potentiellen Befragten hergestellt werden könnte. Im Folgenden wird der schwierige Prozess der Annäherung an mir fremde Personen beschrieben und die Problematik, freiwillige Interviewpartner zu finden. Die Herangehensweisen sind völlig unterschiedlich und wurden im Verlauf des Projektes stetig modifiziert. Einige mussten verworfen werden, neue Wege und Methoden wurden ausgetestet. Einer der schwierigsten Momente bestand für mich darin, das erste Mal aktiv auf fremde Personen zuzugehen und für mein Forschungsvorhaben zu werben. Häufig kam es zu Situationen, in denen sich mir die Möglichkeit bot, junge Leute anzusprechen, ich mich aber zunächst schlichtweg nicht traute, die Initiative zu ergreifen. Die Gründe hierfür liegen in sprachlichen Barrieren, die in der unmittelbaren Anfangsphase meines Aufenthaltes in Shanghai noch vorhanden waren, und in der Unsicherheit in Bezug auf die von mir ausgelösten Reaktionen. Die Kontakte, die sich leicht schließen lassen, sind solche, die in Situationen zustande kommen, in denen zwei Personen durch gegenseitiges Interesse, wie Käufer-Verkäufer- oder Dienstleister-Kunde-Beziehungen, miteinander in Interaktion treten. Deshalb beschloss ich, mich zuerst auf Personen zu konzentrieren, auf die ich in meinem Alltag stieß: In einem winzigen, heruntergekommenen Kopierladen, dessen technische Ausstattung trickreiche, manchmal gewaltsame Handhabung von den drei weiblichen Mitarbeiterinnen erforderte, wurde mein Auftrag, Fragebögen in großer Menge zu kopieren, mit Freude angenommen. Während eines langwierigen Prozesses unter Aufbringung aller möglichen technischen Finessen kam man nebenbei ins Gespräch. Der Mittzwanzigerin, die sich meiner chinesischen Fragebogenwünsche annahm, wollte nicht einleuchten, warum ausgerechnet eine Ausländerin chinesische Fragebögen erstellen und Personen wie sie zu ihrem Leben interviewen wollte. Nachdem sie mich auf einige orthographische Fehler in meinem Fragebogen hingewiesen und ich bei meinen Überredungsversuchen nicht nachgelassen hatte, erklärte sie sich schließlich bereit, als Erste an meinem Projekt teilzunehmen und füllte sogar schon den ersten Fragebogen aus. Ein Termin für ihren nächsten freien Tag wurde vereinbart. Ich sollte zu ihr nach Hause kommen. Ein erster Erfolg. Leider bauten sich anscheinend nach längerer Überlegung doch einige Zweifel bei ihr auf und sie erklärte mir telefonisch, dass sie „eine so einfache Person wäre, ein so einfaches Leben führt“ und dass es

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sich deshalb nicht lohne, ausgerechnet sie zu interviewen. Eine Begründung, die ich nicht zum letzten Mal hören sollte. Ich zähle sie zu einer gesellschaftlich üblichen Floskel, die auch häufig in Bezug auf unterschiedliche Fähigkeiten, Leistungen oder Besitz Anwendung findet. Einige Beispiele hierfür wären die Negierung, ein hübsches oder intelligentes Kind zu haben, über gute Englischkenntnisse zu verfügen oder einen überdurchschnittlichen Schul- oder Universitätsabschluss ge-schafft zu haben. Ich nahm die Absage enttäuscht hin und unternahm keine weiteren Überredungsversuche. Später, nachdem ich mich im Umgang mit meiner Zielgruppe schon etwas sicherer fühlte, ließ ich bei derartigen Absagen nicht so leicht nach, erklärte immer wieder, dass es nicht um Expertentum oder herausragende Persönlichkeiten ginge, die ich für meine Interviews suchte, sondern um einen möglichst breiten Querschnitt durch die Gesellschaft, dass niemand „zu einfach“ sei, ich keinerlei Voraussetzungen an den Bildungsgrad stellte, und dass es einfach um eine Unterhaltung ginge. Vorerst blieb ich jedoch weiter bei meinem Vorhaben, mich den Leuten in meinem alltäglichen Umfeld zu nähern. Beim Friseur, so meine Erfahrung, kommt man immer ins Gespräch. Bei zahlreichen Friseuren in Shanghai schneiden einem junge Leute, meistens Männer, die Haare. Somit entschied ich mich, der Forschung ein paar Zentimeter Haar zu opfern, was mit Erfolg belohnt wurde. Gleich zwei Friseure erklärten sich bereit, an meinem Forschungsprojekt teilzunehmen. Da die beiden Friseure tägliche Arbeitszeiten von zwölf Stunden hatten und sie den Laden nicht verlassen sollten, wurde man sich einig, das Interview vor Ort im ersten Obergeschoss zu machen. Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse kaufte ich zwei Halogenstrahler, die ich dort aufbauen konnte. Jimmy Yang 4 , ein Vierundzwanzigjähriger aus der Provinz Jiangsu, und sein Kollege Peng Yongyang, der aus Anhui stammt, wurden meine ersten Interviewpartner. Diese beiden Interviews waren sehr motivierend, erstens, weil es sich bei beiden Friseuren um mir äußerst sympathische junge Männer handelte, mit denen ich offene Gespräche führen konnte, zweitens, weil sich mein Chinesisch als ausreichend herausstellte und drittens, weil 4

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Namensgebung ist in China eine unkomplizierte Praxis. Chinesische Namen können während unterschiedlicher Lebenszyklen wechseln und englische Namen können, häufig der einfacheren Aussprache für Ausländer wegen, beliebig ausgewählt werden. „Jimmy“ ist ein selbst gewählter Name. Begründet wurde die Wahl damit, dass ein berühmter chinesischer Haardesigner ebenso hieße und der Interviewte, den Namen als Glückssymbol tragend, auf ebenso großen Erfolg hofft.

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beide Interviewpartner im Anschluss erklärten, sie hätten das Gespräch genossen. Es wäre, als hätten sie sich mit einem guten Freund unterhalten und dass es gut getan hätte, sich mal „alles von der Seele zu reden“. Als nächstes versuchte ich über einen Kollegen bei Siemens5 Shanghai, weitere Freiwillige zu finden. Dieser lud mich spontan wenige Stunden nach meiner Anfrage, wahrscheinlich aus Gefälligkeit unter Arbeitskollegen, zu sich nach Hause zum Essen ein. Dort angekommen, mit einem Obstkorb als Geschenk für die Gastgeber, erfuhr ich, dass noch ein weiteres Pärchen zum Abendessen kommen würde, das bestimmt, so mein Kollege, an meinem Interview teilnehmen würde. Ein sehr interessantes Abendessen folgte, das mir einen erstaunlichen Einblick in das Leben junger bailing (‫ػ‬咗)6 vermittelte. Mein Kollege und seine Frau hatten ein halbes Jahr zuvor geheiratet, nachdem sie sich eine Drei-Zimmer-Wohnung leisten konnten. Ihr gesamtes Mobiliar war noch mit Geschenkschleifen versehen. In jedem Zimmer der 80 m² großen Wohnung stand ein Fernseher. Je nachdem, in welchem Raum wir uns an dem Abend aufhielten, lief der Fernseher mit einer nicht zu ignorierenden Lautstärke und war trotz laufender Unterhaltung immer im Mittelpunkt, da Gespräche mitunter abrupt unterbrochen wurden, wenn die gesendeten Beiträge gerade interessant erschienen. Nach dem Essen sollten die Interviews stattfinden. Ich hatte noch keine Lösung, wie ich mit dem Problem, dass vier Personen teilnehmen wollten, noch dazu zwei Pärchen, umgehen sollte. Pärchen zu befragen, könnte sich, so meine Überlegung, möglicherweise als unfruchtbar erweisen: Sollte ein Partner dominanter sein als der andere, so wäre die Gesprächsführung unausgeglichen und eventuell auch nicht so offen, als wenn Partner getrennt voneinander befragt würden. Zunächst die zwei Frauen und im Anschluss die beiden Männer zu befragen, erschien mir sinnvoll, nur musste ich dafür sorgen, dass die Interviews einzeln geführt wurden und die zweite „Gruppe“ nicht schon im Vorhinein die Fragen hörte. Ich erlaubte mir, die beiden Männer vor den Fernseher im Schlafzimmer zu verbannen, während ich das Interview mit den beiden Frauen, Li Yuwen und Zhao Jing, beide 27 Jahre alt, führte. Es blieb bei diesem einen Interview, da ich meinen Kollegen nicht über sein Privatleben befragen 5 6

Die Siemens AG hat mir diese Forschung ermöglicht. Im Gegenzug arbeitete ich auf einer Drittel-Stelle in diesem Unternehmen. Wörtlich übersetzt bedeutet bailing „weißer Kragen“. Das englische Pendant „white collar“ hat auch Eingang ins Deutsche gefunden. Bezeichnet werden damit Personen, die Bürotätigkeiten ausüben, also saubere Arbeiten, die den Kragen nicht beschmutzen. Zudem sind bailing Arbeiten auch an eine entsprechende Vergütung gebunden, in China ab 3.500 Yuan RMB aufwärts, und damit ebenso an einen bestimmten Lebensstil.

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wollte. Dies hätte zu beruflichen Spannungen führen können und wäre ihm möglicherweise unangenehm gewesen. Die nächsten Kontakte stellte ich über Beziehungen her, so genannte guanxi (䤤ߓ): Zwei junge Chinesen, die ich auf der Straße kennen lernte und die später zu Freunden wurden, die ich nicht direkt vor der Kamera interviewte, vermittelten Interviews mit ihren Freunden und Verwandten. Darauf folgte eine Phase, in der ich erfolglos versuchte, junge Leute für mein Forschungsprojekt zu gewinnen, da sich ziemlich schnell herausstellte, dass der unmittelbare Kontakt und die zielgerichtete Teilnehmersuche meinerseits auf Ablehnung oder sogar Verängstigung auf Seiten der Angesprochenen stießen. Eine Ausländerin, die in chinesischer Sprache Leute auf der Straße anspricht, schien diese äußerst zu verunsichern. Es kam zu merkwürdigen Situationen, in denen ich den Angesprochenen Schreckensschreie entrang und einige sogar vor mir wegliefen. Bei direkter Ansprache stieß ich in den meisten Fällen auf Ablehnung, was mir Gong Weiying wie folgt zu erklären versuchte: Viele hätten es erstens eilig und zweitens würden sie aufgrund der Erfahrung, permanent auf der Straße angebettelt zu werden, auf Anrede von unerwarteter Seite generell ablehnend reagieren. Drittens würden sie sich ob ihrer unzureichenden Englischkenntnisse schämen, die im Gespräch mit einem Ausländer offenbart werden könnten. Als Konsequenz aus dieser langen Reihe von Misserfolgen und der Erfahrung der immensen Berührungsängste der Angesprochenen, suchte ich nach einem „Headhunter“7, der mir zu Kontakten verhelfen sollte. Da meine Forschungsaufenthalte in Shanghai immer wieder von Arbeitsphasen in Deutschland unterbrochen wurden, kam ich unter Zeitdruck, denn die Kontaktaufnahme erwies sich als unberechenbar. Manchmal kamen Leute von selbst auf mich zu, dann konnte wieder ein bis zwei Wochen keine einzige Person gefunden werden. Entsprechend musste ich zu effektiveren Methoden der Kontaktaufnahme greifen. Über das Internet, verfasst in englischer Sprache, bot ich 50 Yuan RMB pro erfolgreicher Rekrutierung innerhalb der ausgewählten Zielgruppe. 8 Auf die Annonce meldete sich eine achtundzwanzigjährige 7

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Headhunting wird auch „Direktansprache“ genannt. Es handelt sich hier um ein Instrument, dessen sich Personalberater bedienen um im Gegensatz zur anzeigengestützten Suche gezielt für eine bestimmte Tätigkeit kompetente Personen zu „jagen“, also zu rekrutieren. Dies entspricht umgerechnet fünf Euro und ist ein sehr guter Verdienst für chinesische Verhältnisse. Shanghaier Agenturen bezahlen beispielsweise zwei Yuan RMB, also zwanzig Cent, pro Kandidat.

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Shanghaier Frau, Mutter einer fünfjährigen Tochter, die gerade arbeitslos geworden war und neben ihren häuslichen Tätigkeiten noch einen Job suchte. Da sie Französisch gelernt hatte und in einem französischsprachigen Chatforum aktiv war, vermittelte sie mir drei frankophile junge Shanghairen und Freunde. Außerdem schaltete sie zudem meinen chinesischen Rekrutierungsaufruf auf gängigen chinesischen Chatseiten, worauf weitere Interessierte bei mir anriefen. Ma Ye, freie Journalistin, meldete sich auf eine dieser Anzeigen im Internet und fragte, ob ich meinerseits zu einem Interview über mein Forschungsprojekt mit ihr bereit wäre. Sie bot mir an, in ihrer Zeitschrift einen Aufruf mit meinen Kontaktdaten zu veröffentlichen. Aus dieser Begegnung erwuchs ein weiterer reger Kontakt, denn, wie sich herausstellte, war Ma Ye ständig auf der Suche nach jungen Menschen, über die es sich zu berichten lohnte und sie erzählte mir viel von ihrer Arbeit wobei sie immer wieder auf Problematiken junger Shanghairen zu sprechen kam, die sie kennen gelernt hatte. Ich vermittelte ihr wiederum ein Interview mit Liu Jian, dem musikalischen Literaten, der jede Gelegenheit, sein gerade erscheinendes Buch vorzustellen, gerne wahrnahm und der aufgrund seiner Lebensgeschichte auch für Ma Ye einen viel versprechenden Interviewpartner darstellte. So wurde mein Forschungsprojekt am 11.5.2004 ganzseitig in der Wochenzeitung Skyweekly 9 vorgestellt, woraufhin sich allerdings niemand bei mir meldete. Ich selbst unternahm weitere direkte Kontaktversuche, unter anderem bei einem Livekonzert einer jungen Shanghaier Rockband, die sich sofort bereit erklärte, an einem Interview teilzunehmen. Außerdem bei einem Maler, dessen Ausstellung ich besuchte und bei einem Masseur, der im Erdgeschoss meines Wohnblocks in einem Massagesalon arbeitete. Ferner hängte ich Rekrutierungsaufrufe in Cafés und Bars aus, worauf mich einige Teilnehmer kontaktierten. Später kamen noch zwei weitere „Headhunter“ hinzu, von denen sich einer als Enttäuschung erwies. Zwar vermittelte er im Bewerbungsgespräch noch einen guten Eindruck, versuchte aber später, über den Weg des geringsten Widerstands Personen zu werben: Über Stellenanzeigen für Personen mit VolksschulAbschluss. In dem Irrglauben, sich für eine Stelle zu bewerben, gaben Interessierte ihre Telefonnummern preis, die dieser Headhunter an mich weiterleitete. Als ich mit den Personen Kontakt aufnahm, reagierten diese völlig unerwartet: Sie wussten nicht, wer ich war, wussten nichts über mein Projekt und verstanden auch nicht, wie ich ihre Telefonnummern 9

֚ࡌ‫ע‬. ຟ֮ؑ֏㦅. ᄅ吞 (tian zhoukan, dushi wenhua bao, xinwen) 2004.5.11, B6.

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bekommen hatte. Dieses Szenario wiederholte sich sechs Mal. Nachdem ich daraufhin „Mr. Everest“, so sein Pseudonym, kontaktierte und ihn um Aufklärung bat, leugnete er, den potentiellen Interviewpartnern nichts von meinem Projekt erzählt zu haben. Die Tatsache, dass ich nie wieder etwas von ihm hörte, spricht für sich. Überaus wichtig und fruchtbringend waren dagegen die Empfehlungen, die ich von ehemaligen Interviewpartnern bekommen habe. Im Laufe der Zeit hatte sich eine Art „Beziehungs-Kette“ entwickelt hat, die mir die Suche in einigen Fällen erheblich erleichterte. Der Rekrutierungsprozess wurde zwar durch den mehrmals unterbrochenen Forschungsaufenthalt erschwert, jedoch konnte ich im Lauf der Zeit auf ein gefestigtes Netzwerk zurückgreifen.

3. Interviewpartner Bei fast allen Interviewpartnern zeichnen sich die Gespräche durch deren Offenheit und Aufgeschlossenheit aus. Viele von ihnen konnten ihre Berührungsangst vor einer Ausländerin abbauen oder sie hatten von vornherein keine, was aufgrund der bei vielen nur rudimentär vorhandenen Englischkenntnisse und der Tatsache, dass es sich auch bei einigen um den ersten Kontakt zu einer ausländischen Person überhaupt handelte, nicht als selbstverständlich betrachtet werden kann. Weiterhin waren alle bereit, sich vor einer laufenden Kamera mit Fragen konfrontieren zu lassen, die nicht vorab abgesprochen wurden und so nicht vorbereitet werden konnten. Auch die Kamera war für alle ein Instrument, dem sie sich zum ersten Mal selbst gegenüber sahen. Ebenso sind Interesse und Neugier Eigenschaften, die ich den Teilnehmern zuschreiben möchte, denn einige haben sich vollkommen aus eigenem Antrieb zu einem Interview mit mir entschlossen und sich bei mir gemeldet. Als Motiv wurde beispielsweise genannt, sich gern mal mit einer Ausländerin unterhalten und bzw. oder eine ausländische Freundin kennen lernen zu wollten (ٌ؆㧺֖ࣛ, jiao waiguo pengyou). Folgend werden die Interviewpartner in einem kurzen Abriss vorgestellt. Sie haben sich dazu bereit erklärt, ihre Namen veröffentlichen zu lassen. Die Verwendung ihrer Namen beruht auf der Basis, wie sie zwischen uns üblich war. Die chinesischen Vornamen stehen in der Lesart von links nach rechts hinter dem Nachnamen. Wenn die Interviewteilnehmer einen englischen oder anderen fremdsprachigen Vornamen gewählt haben, so steht dieser vor dem Nachnamen.

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Die Personen werden in der Reihenfolge der geführten Interviews vorgestellt: Jimmy Yang, ƃ, 24. Er kommt aus einem kleinen Dorf in der Provinz Jiangsu, arbeitet seit vier Jahren als Friseur und lebt mit seiner Freundin in einer Mietwohnung. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er seit zwei Jahren in Shanghai. Peng Yongyang, ƃ, 21, Spitzname Yangyang, kommt aus der Provinz Anhui, ist verheiratet und arbeitet als Friseur in einem Friseursalon, den er zusammen mit seinem Freund eröffnet hat. Er ist seit fast drei Jahren in Shanghai. Li Yuwen, Ƃ, 27, kommt aus Shanghai, arbeitet als Zahntechnikerin in einer japanischen Firma, hat einen Freund und lebt bei ihren Eltern. Zhao Jing, Ƃ, 27, kommt aus Shanghai, verheiratet, lebt mit ihrem Mann in einer 3-Zimmer-Eigentumswohnung und arbeitet als Zahnärztin in einem Krankenhaus. Yan Beibei, Ƃ, 24, kommt aus der Provinz Jiangsu, wohnt mit ihrer Cousine zusammen in einer Mietwohnung, hat gerade ihren Universitätsabschluss gemacht und eine Arbeit als Buchhalterin gefunden. Zhang Jixiao, ƃ, 25, kommt aus der Provinz Sichuan, hat Biomedizin studiert, arbeitet in einer amerikanischen Firma im Vertrieb und ist nebenbei bei Amway tätig. Er wohnt mit seiner Schwester Xie Zhili, Wang Shuhua und Lan Qian in einer Wohngemeinschaft. Wang Xin, Ƃ, 24, kommt aus der Provinz Jiangsu, hat gerade ihr Studium in Biomedizin abgeschlossen und bereitet sich auf das Berufsleben vor. Sie wohnt im Studentenwohnheim der Jiaotong-Universität. Li Nan, Ƃ, 25, kommt aus Dalian in der Provinz Liaoning, hat zusammen mit Wang Xin Biomedizin studiert und vor kurzem ihren Abschluss geschafft. Sie ist auf Stellensuche und wohnt im Studentenwohnheim der Jiaotong-Universität. Zheng Leibin, ƃ, 25, kommt aus der Provinz Zhejiang. Er ist ebenfalls graduierter Biomediziner, der im Studentenwohnheim der JiaotongUniversität wohnt.

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Connie Peng, Ƃ, 29, kommt aus Shanghai, arbeitet als Buchhalterin und studiert abends Buchhaltung, um sich weiterzuqualifizieren. Sie wohnt bei ihren Eltern. Wang Jialing, ƃ, 30, kommt aus Shanghai, arbeitet als Programmgestalter am Shanghaier Staatstheater. Er ist im Besitz einer eigenen Wohnung. Zhu Miaomiao, Ƃ, 26, kommt aus Wuhan in der Provinz Hubei, ist Doktorandin, die in Deutschland promoviert und für Nachforschungen nach Shanghai gekommen ist. Cai Zhihong, Ƃ, 30, kommt aus Nanning in der Provinz Guangxi, ist Ingenieurin, verheiratet und lebt mit ihrem Mann in einer 3-ZimmerEigentumswohnung. Sie lebt, mit zwei Jahren Unterbrechung, seit zehn Jahren in Shanghai. Wendy Ding, Ƃ, 28, kommt aus der Provinz Shandong, arbeitet als Außenhandelskauffrau, ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Vater in einer 1-Zimmer-Eigentumswohnung. Sie bereitet gerade den Umzug in eine 3-Zimmer-Eigentumswohnung vor. Min Hao, ƃ, 31, kommt aus der Provinz Guangxi, ist SoftwareIngenieur und Ehemann von Wendy Ding. Chen Wencong (Marie Chen), Ƃ, 24, nennt sich Marie Chen, kommt aus Shanghai, hat Bankwesen studiert und ist arbeitslos. Sie lernt gerade Französisch und möchte Lehrerin werden. Sie hat einen Freund, mit dem sie seit zwei Jahren zusammen ist und lebt bei den Eltern. Vicky Cao, Ƃ, 22, nennt sich Vicky Cao, kommt aus Shanghai und arbeitet als Sekretärin im Französischen Sprachzentrum. Sie hat einen Freund und lebt bei der Mutter. Daisy Ding, Ƃ, 27, nennt sich Daisy, kommt aus Shanghai und arbeitet als Chefassistenz in einer Arbeitsvermittlungsagentur. Sie lebt bei den Eltern. Sun Ye, ƃ, 24, kommt aus Shanghai, ist Englischlehrer an der und spielt als Bassist in einer Rockband. Er lebt zuhause bei den Eltern.

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Huang Yigu, ƃ, 24, ist Verkäufer in einem Elektronikgeschäft und Studienkamerad von Sun Ye. Er wohnt allein in einer Mietwohnung. Ling Jiaqing, ƃ, 20, kommt aus Shanghai, ist Musiker und mischt elektronische Musik. Er spielt als Schlagzeuger in einer Rockband. Er wohnt bei den Eltern. Zhu Baixi, ƃ, 25, kommt aus Shanghai und arbeitet als Graphikdesigner. Er ist Sänger und Gitarrist in einer Rockband. Er lebt zuhause bei seinem Vater. Pan Jingxian (Coco), Ƃ, 23, nennt sich Coco, kommt aus Shanghai, arbeitet als Rechtsanwaltsgehilfin und hat noch etliche Nebenjobs. Sie hat einen Freund und lebt bei den Eltern. Lu Jingjing, Ƃ, 24, nennt sich Michelle, kommt aus Shanghai, hat Soziologie studiert und arbeitet als „Marketing & PR Executive“ in einem Zeitschriftenverlag. Sie lebt in einer Wohngemeinschaft zusammen mit zwei Ausländern. Qian Mingyu (Qiuqiu), Ƃ, 25, Spitzname Qiuqiu, kommt aus Shanghai, hat Soziologie studiert und arbeitet als Marktforscherin. Sie hat einen Freund und lebt bei den Eltern. Meng Yingying, Ƃ, 26, kommt aus Shanghai, arbeitet als Lektorin und Autorin in einem Hongkonger Lexikonverlag. Sie lebt bei ihrem Vater. Chen Chunzhao, ƃ, 27, kommt aus der Provinz Hubei, studiert Automation, nachdem er schon mehrere Jahre im Berufsleben stand und wohnt in einem Studentenwohnheim. Er hat eine Freundin. Jin Jing, Ƃ, 26, kommt aus der Provinz Shandong, hat gerade ihren Magister in Physik abgeschlossen und ist auf Arbeitsuche. Sie wohnt mit ihrem Ehemann in einer 3-Zimmer-Eigentumswohnung. Ren Dongqing, ƃ, 26, kommt aus Shanghai und arbeitet als Transporterfahrer bei einem Bauunternehmen. Er ist gerade bei den Hochzeitsvorbereitungen, lebt aber noch bei den Eltern. Ma Yan, ƃ, 25, kommt aus Shanghai, arbeitet als AußenhandelsKaufmann und studiert nebenbei an der Abenduniversität Außenhandelswirtschaft. Er wohnt bei den Eltern.

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Sam Zhang, ƃ, 25, kommt aus Shanghai, arbeitet als Versicherungsverkäufer und lebt allein in einer Mietwohnung. Er ist homosexuell und hat keine feste Beziehung. Wang Jun, ƃ, 26, kommt aus Shanghai, arbeitet als Schulpsychologe an einer Unterstufe der Mittelschule und wohnt bei seinen Eltern. Ai Guo, ƃ, 31, arbeitet als Künstler in einer Künstlerkommune und lebt von seinen Bildverkäufen. Er wohnt mit seiner Freundin zusammen. Ye Yiqun, ƃ, 21, kommt aus Jinhua in der Provinz Zhejiang, ist Masseur und gerade nach Shanghai gekommen. Er wohnt in einem Wohnheim für Masseure. Liu Songwei, ƃ, 25, kommt aus Jinhua in der Provinz Zhejiang und ist seit zwei Jahren in Shanghai als Masseur tätig. Er wohnt in einem Wohnheim seines Arbeitgebers. Chen Jia, Ƃ, 23, kommt aus Anyang in der Provinz Henan, ist Studentin der chinesischen Literaturwissenschaft an der Tongji-Universität und wohnt in einem Studentenwohnheim. Xu Hongwei, ƃ, 24, kommt aus Shanghai, Grafiker und wohnt mit seinen Eltern in einer 10 m² Ein-Zimmer-Eigentumswohnung. Wang Shuhua, Ƃ, 29, kommt aus der Provinz Xinjiang, war aber in Suzhou berufstätig, bevor sie nach Shanghai gekommen ist. Sie ist arbeitslos und versucht, bei Amway eine Ausbildung zu machen, um später dort als Produktverkäuferin zu arbeiten. Sie wohnt in einer Wohngemeinschaft. Lan Qian, Ƃ, 27, kommt aus der Provinz Hunan, ist arbeitslos und versucht, bei Amway eine Ausbildung zu machen, um später dort als Produktverkäuferin zu arbeiten. In ihrer Heimat arbeitete sie als Gefängniswärterin. Sie wohnt in einer Wohngemeinschaft. Lin Xiaoke, ƃ, 22, kommt aus Wenzhou in der Provinz Zhejiang und arbeitet als Verkäufer für Amway. Er ist seit ca. 18 Monaten in Shanghai.

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Wang Shuo, ƃ, 27, kommt aus der Provinz Hunan, ist Pianist, studiert am Shanghaier Musikkonservatorium und finanziert sich über Pianistenjobs und Klavierunterricht. Er besitzt eine Eigentumswohnung. Xiuxiu, Ƃ, 29, kommt aus einem kleinen Dorf in der Provinz Guizhou, ist Verkäuferin bei Amway, hat vorher auf einem Markt für gefälschte Markenartikel als Selbständige einen Stand gehabt und zuvor eine Bar betrieben. Andrew Tan, ƃ, 30, kommt aus Shanghai, hat seinen MBA in Großbritannien abgeschlossen und ist gerade nach Shanghai zurückgekehrt. Er ist auf Arbeitsuche und vorübergehend wieder bei seinen Eltern eingezogen. Liu Jian, ƃ, 26, kommt aus der Provinz Guangxi, ist Musiker und Schriftsteller, hat gerade seinen ersten Roman „Soldier“ veröffentlicht und schreibt am zweiten. Er lebt mit seiner Freundin zusammen in einer Mietwohnung. „DVD“, Ƃ, 29, kommt aus der Provinz Anhui, ist verheiratet und hat einen fünfjährigen Sohn. Sie arbeitet nachts als Verkäuferin von gefälschten Markenartikeln und ist Besitzerin von drei Eigentumswohnungen in Shanghai. Melissa Liao, Ƃ, 28, kommt aus Guangzhou in der Provinz Guangdong, ist Sekretärin in einem amerikanischen Bildungsinstitut. Sie wohnt in einer Wohngemeinschaft. Xie Zhili, Ƃ, 23, kommt aus der Provinz Sichuan, ist arbeitslos und wohnt bei ihrem Bruder Zhang Jixiao. Ihre Eltern glauben, sie würde in Shanghai Englisch studieren. Sie ist auf Arbeitsuche. Han Jing, Ƃ, 26, kommt aus Hunan, ist Sekretärin in einem koreanischen Immobilienunternehmen und hat nebenbei mehrere Gelegenheitsjobs. Sie wohnt allein in einer Mietwohnung und hat einen deutschen Freund. Gong Weiying, Ƃ, 28, kommt aus Shanghai, verheiratet und hat eine fünfjährige Tochter. Sie arbeitete in einer französischen Firma als Sekretärin, wurde aber gerade entlassen. Sie ist auf Jobsuche und lebt derzeit vom Ehemann getrennt, der sein Studium in Deutschland beendet.

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Ma Ye, Ƃ, 30, kommt aus Shanghai und arbeitet als freie Journalistin für mehrere Zeitschriften und als selbstständige Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, die im Besitz ihrer Tante ist.

Abbildung 17: Die Herkunftsprovinzen der Interviewteilnehmer

4. Interviewsituation Ein möglichst ungezwungenes Gespräch zu führen und nicht in einen einseitigen Frage-Antwort-Modus zu geraten, gilt als eines der wichtigsten Kriterien für die Interviews. Aus diesem Grund führte ich zu keinem Zeitpunkt Unterlagen mit, die den Eindruck von Aufgezwungenheit hätten erwecken können. Zwar war die Befragung teilstrukturiert, da ich mich an einen Leitfaden hielt, jedoch wurde dies den Beteiligten nicht augenscheinlich, da ich mir meine Vorgehensweise eingeprägt hatte und je nach Gesprächsthema innerhalb dieses Leitfades springen und so auf den Unterhaltungsverlauf, wie er vom Interviewten angestoßen wurde, eingehen konnte, um den Redefluss nicht zu unterbrechen. Es erwies sich als sinnvoll, mich persönlich auch hin und wieder in das Gespräch mit einzubringen, um nicht nur Informationen zu erhalten,

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sondern als Beteiligte, die in persönlicher Interaktion mit dem Interviewten steht und nicht nur die Forscherrolle innehat, wahrgenommen zu werden. Allerdings war ich immer in einer deutlich passiven Rolle und habe nur verhältnismäßig wenig gesprochen. Vor jedem Interview respektive Filmstart gab es eine mehr oder weniger lange Aufwärmphase: Erstes Treffen, Kennenlernen, Vorstellen des Projektes, gemeinsames Fragebogenausfüllen. Zu den meisten Interviewpartnern konnte ich sofort eine gute Beziehung herstellen, sodass die Gespräche in einer positiven Atmosphäre stattfanden. Obwohl ich natürlich schon bestimmte Fragen im Hinterkopf hatte, sah ich mich immer in der Rolle der Lernenden. Jeder Interviewte ist „Experte seines eigenen Lebens“, jeder hat eine andere Geschichte, es gibt kein richtig oder falsch, keine konkreten Anforderungen an die Inhalte. Die Gespräche haben auch keine Bindung an einen bestimmten Bildungsgrad. Die heterogene Zusammensetzung der Zielgruppe reicht von Personen ohne jeglichen Schulabschluss bis hin zu hoch gebildeten Universitätsabsolventen, von Shanghairen bis zu Zugereisten aus ganz China. Durch die vielen verschiedenen Charaktere ergaben sich entsprechend unterschiedliche Gesprächssituationen: Von teilweise monologisierenden, extrovertierten Partnern, bis hin zu verschlossenen Personen, die auf meine Fragen nur sehr kurz antworteten. Grundsätzlich war die Begeisterung der jungen Leute an der Teilnahme enorm, und jeder Interviewte hatte, ob nun besonders kommunikationsfreudig oder eher scheu, doch immer einen bestimmten Gesprächsbereich, in dem er oder sie auftaute und bzw. oder besonderes Interesse zeigte.

5. Situation des Forschers im Interview Zu Beginn meiner Interviewtätigkeit stand die Frage des Vorgehens. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Status des Fremden häufig mit Neutralität gleichgesetzt wird. Davon wollte ich profitieren. Zudem sollte die Interkulturalität der Interviewsituation genutzt werden. Als laowai (‫۔‬؆)10 konnte ich Fragen stellen, die einem chinesischen Interviewer vielleicht nicht möglich gewesen wären. Somit habe ich mich ganz bewusst dafür entschieden, die Interviews allein durchzuführen und keine Gewährsperson mitzunehmen, da ich, hätte ich einen chinesischen Partner gewählt, die begründete Befürchtung hatte, dass dieser den Gesprächsverlauf dominiert bzw. dass die Kommunikation eher zwischen

10 Chinesische Bezeichnung für Ausländer.

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zwei chinesischen Personen geführt werden könnte und ich ins Abseits geriete. Also war ich die einzige Bezugsperson während des Interviews. Möglicherweise belehrende Unterbrechungen von Seiten einer Gewährsperson hätten die Situation gestört. Wahrscheinlich wäre sie so in die Position eines Mittelsmanns geraten, der zu viele der erlangten Informationen selbst filtert oder ungewollt beurteilt und mehr als „Übersetzer“ arbeitet als von mir gewollt. Überdies konnte ich für mein eigenes empathisches Auftreten Gewähr leisten, oder aber bei Unvermögen dafür die Verantwortung tragen. Bei einer dritten Person, gerade wenn sie einen anderen gesellschaftlichen Hintergrund hat als der Interviewte, hätte dies zu Reibungen führen können, die so von vornherein vermieden wurden. Auch konnte ich allein davon profitieren, dass Sachverhalte erläutert wurden, die einem chinesischen Interviewpartner oder auch in Gegenwart einer chinesischen Gewährsperson nicht unbedingt erklärt worden wären. Ich habe feststellen können, dass viele Chinesen oft von einer starken Offenheit der Westler, insbesondere zum Beispiel in Hinblick auf Sexualität, ausgehen. Themen, die Beziehungen, Liebe und Sexualleben etc. anbelangten, konnten von mir als solch „offener Westler“ ohne weiteres gestellt werden. Als Fremde in einem fremden Land, in einer fremden Stadt ist es aus noch anderen Gründen möglich, von dieser Fremdheit zu profitieren. Einmal dadurch, dass man sich in die Waidiren in gewissem Maße hinein versetzen kann, da sie sich ebenfalls als Fremde in einer fremden Stadt befinden. Und dadurch, dass man als zunächst außen Stehender seine Umwelt beobachten kann. Ebenso von Vorteil ist es, sich von beiden Gruppen – Shanghairen und Waidiren – ihre Sicht auf die jeweils anderen erläutern zu lassen, ohne Rücksichtnahmen oder Zurückhaltungen fürchten zu müssen, da ich keiner dieser Gruppen angehöre, wobei auch in dieser Hinsicht wieder das Stichwort „Neutralität“ zu nennen ist. Einem Ausländer die Situation eines Waidiren und Shanghairen in ihrem Lebensumfeld zu beschreiben, hat immer erklärenden Charakter und fällt deshalb ausführlicher aus, da, während gegenüber Mitgliedern der eigenen Gruppe gemeinsames Wissen vorausgesetzt wird, der Ausländer außerhalb dieses gruppenspezifischen gemeinsamen Wissens angesiedelt wird und aus Sicht der Beteiligten entsprechend informiert werden muss. Das persönliche Empfinden, die Gemütslage und der gesundheitliche Zustand des Forschers nehmen unmittelbar Einfluss auf Gesprächsführung und Gesprächssituation. Permanenter Lärm, chaotischer Straßen-

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verkehr, ununterbrochene Reizüberflutung durch Werbungen und Leuchtreklamen und die tagtägliche Einstellung auf das „Fremde“, die Menschen und Orte, denen ich begegnete, auf die ich mich immer wieder einlassen musste und an denen ich mich häufig rieb, forderte ständiges Hinterfragen, Umdenken, Austarieren der eigenen Situation, des eigenen Handelns und gestaltete meinen „Alltag“ manchmal kompliziert und anstrengend. Wenn ich also gerade eine besonders ermüdende Phase hinter mir hatte oder meine Gesundheit angeschlagen war, wirkte sich dies auf die Interviews aus, was folgendes Beispiel verdeutlichen soll: Connie Peng hat mich während unseres Gesprächs „unheimlich genervt“. Ihre Art zu reden, ihr Lachen, einfach alles ging mir zu langsam, ich hätte das Interview am liebsten abgebrochen und wäre nach Hause gegangen. In dem Moment selbst wäre es mir nicht möglich gewesen zu erklären, warum ich die Situation als so anstrengend empfunden habe: Wir saßen allein auf dem sonnigen Balkon eines traditionellen Teehauses in einer verkehrsberuhigten und begrünten Gegend. Eigentlich waren die Rahmenbedingungen für das Interview perfekt, nur ich war einfach unausgeglichen und gestresst. Als ich mir das Gespräch im Nachhinein ansah, fand ich die gesamte Situation entspannt, die Interviewpartnerin sympathisch und was sie sagte, interessant. Ein anderer Teilnehmer, Xu Hongwei, empfing mich bei sich zu Hause im Schlafanzug, was für Shanghaier Verhältnisse nichts Ungewöhnliches ist, denn dort gilt der Schlafanzug bei vielen auch als eine Art Freizeitkleidung oder Hauskleidung. Ich fühlte mich jedoch etwas unwohl, zumal ich mich mit der Person allein in einem Zimmer befand und aus Platzmangel auf dem Ehebett der Eltern sitzen musste. Während des gesamten Interviewverlaufs hatte ich das Gefühl einer angespannten Atmosphäre. Hinzu kam noch die starke Introvertiertheit Xu Hongweis, so dass ich den Eindruck hatte, die Zeit würde nicht verstreichen und die Antworten kämen auch nur äußerst langsam und unwillig. Ein Interview auf Chinesisch zu führen, erfordert außerdem ein extrem hohes Maß an Konzentration, da ich während des Gesprächs simultan jedes gesprochene Wort ins Deutsche übersetzen muss, ich also im Grunde immer etwas zeitverzögert reagiere. Das Hörverständnis ist je nach meiner Verfassung und je nach Gesprächspartner unterschiedlich. Bin ich selbst gut aufgelegt und spricht mein Gegenüber klares Hochchinesisch, dann gibt es überhaupt keine Verständigungsprobleme. Wenn sich jedoch eine Nervüberreizung bemerkbar macht, was in einer lärmenden Großstadt wie Shanghai sehr leicht vorkommt, oder wenn der

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Interviewpartner aufgrund seiner Herkunft oder Bildung11 ein schwerer verständliches Chinesisch spricht, dann sinkt sowohl das Hörverständnis als teilweise auch die Bereitschaft, sich auf das Gesagte einzulassen. Dies wirkt sich unweigerlich auf die eigene Eloquenz aus. Meine Gegenüber konnten selbst nicht einschätzen, wie gut oder schlecht mein Chinesisch zum Zeitpunkt des Interviews war. Diese Einschätzung konnte nur ich treffen. Laut Meinung vieler Chinesen ist jedes von einem Ausländer gesprochene Chinesisch „gutes Chinesisch“. Trotz beschriebener Schwierigkeiten beschränkten sich solche Probleme auf einen sehr geringen Teil der Interviews oder nur auf vereinzelte Sequenzen desselben, denn in den meisten Fällen gelang es mir ohne Probleme, Empathie zu erzeugen und eine positive Atmosphäre herzustellen, was von fast allen Interviewpartnern am Ende bestätigt wurde. Die privaten Rückmeldungen der Gesprächspartner waren, dass es ihnen Spaß gemacht habe. Es sei wie eine nette Unterhaltung unter Freunden gewesen.

6. Kameraaufnahmen Zu Beginn des Forschungsprojektes stand bereits fest, dass die Kamera als ethnographisches Aufzeichnungsmittel zum Einsatz kommen soll, da es leichter ist, sich mit einer fremden Sprache nicht nur akustisch, sondern auch visuell auseinanderzusetzen. Insbesondere das Chinesische mit seinen unterschiedlichen Tonlagen und der teilweise umfangreichen Mehrdeutigkeit einzelner Silben stellt in Hinblick auf reines Hörverstehen große Ansprüche an den Zuhörer und Übersetzer. Wenn bei einer Unterhaltung Gestik und Mimik zusammen mit dem gesprochenen Wort in einen Kontext gesetzt werden können, erleichtert dies das Verständnis für einen Fremdsprachler ungemein. Wichtige Aspekte, die eine Aufzeichnung von Gesprächen mittels Videokamera den Notizen und nur der Tonaufnahme weitaus überlegener machen, sind zum einen die Tatsache, dass sich der Forscher rein auf das Gespräch und den Gesprächspartner konzentrieren kann und sich keine Anmerkungen machen muss, was aufgrund der schon anstrengenden permanenten Übersetzungsarbeit Einbußen gefordert hätte. Zum an11 In manchen Regionen sind die lokalen Dialekte so stark ausgeprägt, dass selbst beim Bemühen, Hochchinesisch zu sprechen, die dialektale Färbung dominant bleibt. An den chinesischen Schulen wird Mandarin (Hochchinesisch) gelehrt. Je geringer der Bildungsstand, desto geringer ist somit das Vermögen, die Hochsprache zu sprechen.

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deren lässt eine Videoaufnahme im Nachhinein die ganze Situation wieder „aufleben“ und es ermöglicht dem Forscher, nicht nur auf das Gesprochene zurückzukommen, sondern auch Körperhaltung, Reaktionen, Mimik und Gestik in Bezug zu einzelnen Thematiken zu untersuchen. Leichter kann so überprüft werden, ob Text und Wort übereinstimmen, oder ob einzelne Behauptungen beispielsweise durch ein Lächeln abgeschwächt oder ins Ironische gezogen werden. Versuche, die Teilnehmer in ihrem Lebensumfeld, ihre Wohnsituation, die Orte, an denen sie häufig verkehren, zu filmen, scheiterte, da einige Interviewpartner ihre Privatsphäre gewahrt wissen und sich lieber in einem Café mit mir treffen wollten. Teilweise stieß ich auf Lebensumstände, die ich nicht filmen wollte, da sie mich einerseits selbst schockierten und ich die Kamera nicht darauf richten mochte, andererseits ich auch die Personen nicht in Verlegenheit bringen wollte. Keiner der Interviewpartner besaß Erfahrungen damit, vor einer Kamera zu stehen. Die ersten Reaktionen darauf waren recht unterschiedlich: Von Sprechen und begrüßendem Winken direkt in die Kamera über eine Vorstellung „an alle“ (Օ୮‫ړ‬, dajia hao) bis hin zu so scheinendem völligen Ausblenden derselben. Im Großen und Ganzen verhielt es sich so, dass die Gesprächspartner oftmals schon kurz nach Gesprächsbeginn die Kamera vergessen zu haben schienen. Ihre Konzentration war ganz bei mir, und die Unterhaltung verlief flüssig. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass ich selbst die Kamera ebenso „vergessen“ hatte. Es spielte keine Rolle, ob die Einstellung den ganzen Filmzeitraum über perfekt oder wann das Band voll war. Wenn das Ende eines Gesprächs nicht mehr aufgezeichnet wurde, dann wurde das hingenommen. Die statische Kamera war auf das so genannte Prinzip der „TalkingHeads“-Szenarien12 eingestellt. Kopf und Oberkörper des Interviewten bilden dabei den Mittelpunkt, allerdings nicht zentral im Bild angeordnet, sondern mit dem Gesicht leicht schräg zur Sprachrichtung und nach dem Goldenen Schnitt positioniert, also so, dass der Kopf am Schnittpunkt der horizontalen und vertikalen Drittelung des Bildes angeordnet ist. Auf diese Weise bleibt Raum für den Forscher, der aus dem „off“13 Fragen stellt, geöffnet und lässt die Gestaltung spannungsreicher erscheinen.

12 slashCAM Redaktion 2003, DVD. 13 Mit dem Begriff wird die Position der sprechenden Person gemeint, die nicht von der Kamera aufgenommen wird, aber dennoch gehört wird, also in diesem Fall die Stimme des Forschers neben der Kamera.

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Diese optimale Kameraeinstellung ließ sich nicht immer finden, da die Orte der Gespräche sehr unterschiedlich waren und häufig die beste Positionierung für das Stativ nicht einfach zu bestimmen war. Einige Ethnologen empfehlen, dass sowohl von einem Interviewenden als auch von einem Kameramann ein Interview durchgeführt werden sollte.14 Hiergegen habe ich mich aus folgenden Gründen entschieden: Einmal aus rein logistischen Erwägungen heraus, da für die Forschung relevante Gesprächssituationen jederzeit zustande kommen konnten. Flexibilität, die hierfür unerlässlich ist, bleibt so erhalten. Da die filmischen Dokumente als Quelle und nicht als Rohmaterial für einen ethnographischen Film dienen, ist eine statische Aufnahme des Interviewten zum Zweck dieser Arbeit ausreichend. Zudem war das „Vergessen“ bzw. „Ausblenden“ der auf den Interviewten gerichteten Kamera eher gegeben, als wenn ein Kameramann, permanent auf der Suche nach möglichst eindrücklichen Aufnahmen, um den Interviewten herumgegangen wäre.

7. Orte der Interviews In dem Rekrutierungsaufruf hieß es, dass der Treffpunkt für das Gespräch möglichst bei der interviewten Person zu Hause sein solle, dass dies aber nicht Bedingung sei. Einunddreißig Interviews fanden an öffentlichen Orten statt, davon die meisten in Teehäusern oder Cafés, einige am Arbeitsplatz und in Universitäten. Die Personen, die die Öffentlichkeit gewählt haben, um sich interviewen zu lassen, haben zum größten Teil keinen eigenen privaten Raum, in dem sie mich hätten empfangen können: die Studenten unter ihnen wohnen zu viert in einem Wohnheimzimmer, fast alle Shanghairen leben mit ihren Eltern zusammen, andere haben von ihrem Arbeitgeber eine Unterkunft gestellt bekommen, in der sie auch mit mehreren Personen in einem Zimmer leben. Oder aber es bot sich bei einigen der Arbeitsplatz an, da es sich hierbei für sie um den Lebensmittelpunkt handelt, wie zum Beispiel das Atelier des Malers Ai Guo oder der Friseursalon von Jimmy Yang und Peng Yongyang, die sich dort zwölf Stunden täglich aufhalten. Die öffentlichen Räume, in denen ich mit jungen Leuten sprach, waren sehr unterschiedlich: Teehäuser waren aufgrund ihrer ruhigen Atmosphäre angenehmer, „Starbucks“ Cafés als so genannte „Hotspots“ (䴴 㭠, redian) unter den Jungen und Chicen lauter und lebhafter. Trotz der „Öffentlichkeit“ blieb die Situation doch immer von äußeren Einflüssen 14 Vgl. Engelbrecht & Krüger 2003.

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ungestört, bis auf eine kurze Unterbrechung des Interviews mit Sam Zhang bei Starbucks, weil ein Angestellter nicht wollte, dass man dort filme. Auch Menschenaufläufe rund um die Kamera gab es nicht, was sonst bei vielen Gelegenheiten in China gang und gäbe ist. Wohl gab es Neugierige, aber anscheinend hatte die Kamera einschüchternde Wirkung nach Außen, sodass alle Gespräche ungestört verliefen. Neunzehn Interviews fanden in privater Atmosphäre statt. Drei davon bei Personen, die noch bei ihren Eltern leben. Auch hier kann man sagen, dass die Privatsphäre der Einzelnen nicht gegeben war. Xu Hongwei lebt mit seinen Eltern in einer 10m² kleinen Ein-ZimmerWohnung zusammen, in deren einem Zimmer ein Doppelbett und eine Pritsche stehen, zwischen denen ein halber Meter Platz ist und an deren Enden nur ein großer Schrank Raum findet. Alle anderen Gebrauchsgegenstände liegen unter den Betten. Die Eltern, die während des Gesprächs abwechselnd kurz nach Hause kamen, mussten wieder gehen, da es keinen Winkel mehr gegeben hätte, wo sie sich aufhalten konnten, ohne uns zu stören. Bei Andrew Tan kam es zu keinem Interview bei ihm zu Hause, da seine Eltern und sein Bruder so fasziniert davon waren, dass eine Ausländerin bei ihnen im Wohnzimmer saß, dass ich diejenige war, die Rede und Antwort stehen musste. Ma Yan hat ein eigenes Zimmer für sich, bei dem die Tür während des Interviews mit ihm und seinem Freund Ren Dongqing offen stand und Mutter Ma beliebig ein- und ausgehen konnte. Die verheirateten Gesprächspartner Cai Zhihong, Jin Jing, Wendy Ding, Min Hao, Zhao Jing und Ma Ye wohnen in Eigentumswohnungen. Sie und ihre Ehepartner können allesamt als bailing bezeichnet werden: junge, erfolgreiche Angestellte, die über ein geregeltes Einkommen verfügen und auf Dauer eine Kreditabzahlung für die Wohnung gewährleisten können. Hier fanden die Interviews in einer entspannten privaten Atmosphäre statt. Sechs Treffen wurden in Mietwohnungen abgehalten. Die erste Mietwohnung, in die ich eingelassen wurde, war in einem extrem heruntergekommenen Zustand, schmutzig und ärmlichst möbliert. Hier konnte und wollte ich nicht filmen, obwohl es dem Interviewpartner anscheinend nichts ausmachte, mich dort zu empfangen. Die anderen Mietwohnungen befanden sich in ähnlichem Zustand. Hinzu kommt, dass es in China üblich ist, Wohnungen als Rohbau zu verkaufen oder auch zu vermieten. Wenn nach dem Kauf noch genügend Geld übrig ist, wird die Wohnung verschalt, verputzt und ein neuer Boden verlegt. Wenn nicht, und wenn die Wohnung nur als Geldanlage gesehen wird, die vermietet werden soll, bleibt sie im Rohzustand. Wenn eine solche Wohnung vermietet wird, dann extrem günstig und es besteht für den Mieter selbst

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kein Anlass, zu investieren. Manche leben dann in einer Betonschale, oft nur mit den blanken Leitungsrohren für Wasser und Gas, die aus den Wänden ragen und im Bad mit einem Loch im Boden als Toilette. Auch in einer solchen Wohnung führte ich Interviews.

8. Fragebogen Die Datenerhebung erfolgt in einem kombinierten Verfahren. Videoaufzeichnung und Fragebogen sind die beiden Instrumente, die mir für eine möglichst umfassende Datensammlung geeignet erscheinen. Der Fragebogen wird als so genannter Vorabfragebogen eingesetzt, der vor Beginn des eigentlichen Interviews während der Aufwärmphase mit mir zusammen ausgefüllt wird. Ein solches Vorgehen hat sich als effizient erwiesen, um erstens Fakten über die Personen zu erhalten, und sich zweitens aus dem gemeinsamen Durcharbeiten wertvolle Informationen für den weiteren Gesprächsverlauf generieren lassen. So können drittens Fragen geklärt werden, die in einem Interview nur mit Ja oder Nein beantwortet hätten werden können, was für einen zwanglosen Gesprächsverlauf und eine Situation, in der der Interviewte möglichst viel zu Wort kommen soll, nicht förderlich sind. Außerdem kann ich mir auf diese Weise viertens schon ein ungefähres Bild meines Gegenüber machen und im Vorhinein erkennen, wo ich während der Unterhaltung Schwerpunkte setzen kann. Auch für den Befragten wird über den Fragebogen die Richtung meines Forschungsinteresses deutlich gemacht und eine mögliche Skepsis gegenüber den später folgenden Fragen ausgeräumt. Der Fragebogen ist standardisiert mit zumeist geschlossenen Fragen und dient dem Erfassen „harter Fakten“, die in eine quantitative Auswertung einbezogen werden können. Die Teilnehmer beantworten soziodemographische Fragen zu ihrer Person und weitere Fragen zu ihren alltäglichen Gewohnheiten, bei denen ihnen schon alle relevanten Antwortmöglichkeiten plus eine weitere freie zur Selektion vorgegeben werden und aus denen sie ihre auf sie zutreffende ankreuzen oder auf die freie Zeile ihre von den Vorgaben abweichende Antwort schreiben. Dank geschlossener Fragestellung wird es möglich, eine leichte Vergleichbarkeit der Daten zu erlangen. Während die gefilmten Interviews eine aufwändige Einzelanalyse erfordern, sind die Fragebogenergebnisse einer relativ einfachen Auswertung zu unterziehen, die mit Hilfe statistischer Computerprogramme in allen möglichen Kombinationen durchlaufen werden können. Zu diesem Zweck nutze ich in dieser Arbeit das

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Programm SPSS, über das ich die übertragenen Fragebogenwerte in Kreuztabellen miteinander kombiniere und auswerte.

9. Transkription Nachdem die Interviews aufgenommen waren, wurden sie in einem Fotolabor umformatiert und auf Video-CD gebrannt. Die Transkription konnte ich nicht selbst durchführen, da diese Aufgabe für einen NichtMuttersprachler zu langwierig ist und der Arbeitsaufwand den Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Zeit deutlich gesprengt hätte. Wieder suchte ich über das Internet Personen, die die Transkriptionen für mich anfertigen konnten. Neben Gong Weiying, die die ersten Abschriften sehr sorgfältig machte, mussten weitere Personen gefunden werden, die transkribieren konnten, denn diese Aufgabe stellte sich als so zeitintensiv heraus, dass eine Person allein die Interviews erstens nicht in gleich bleibend sorgfältiger Weise hätte niederschreiben können und zweitens die Zeit bis zu meinem Forschungsabschluss nicht ausgereicht hätte. Insgesamt wurden die Interviews von fünf Personen abgeschrieben. Die anfangs angesetzten 100 Yuan RMB pro Transkription mussten aufgrund des enormen Zeitaufwandes auf 150 Yuan für ein einstündiges und 200 Yuan RMB für ein anderthalbstündiges Interview erhöht werden. Teilweise ließ ich ein und dasselbe Interview von zwei verschiedenen Personen transkribieren, um die Genauigkeit zu überprüfen. Leider stellte sich auf diese Art heraus, dass nicht auf alle Transkribierer gleich viel Verlass war. Es kam vor, dass bei einem Interview zwei unterschiedliche Transkriptionen vorlagen, mit einer Fehlquote von über dreitausend chinesischen Zeichen. Eine zeitraubende Überprüfung aller geleisteten und bezahlten Arbeiten blieb deshalb unerlässlich.

10. Übersetzung und chinesische Quellen Die Frage, wie an die Übersetzung der chinesischen Transkriptionen, ca. 300.000 Zeichen, herangegangen werden sollte, beantwortete sich während der Sichtung des Filmmaterials. Atmosphärische Stimmungen, sich in Mimik und Gestik äußernde nonverbale Kommunikation und eine für Herkunft und Bildungsstand spezifische Aussprache und Betonung wurden bei der Übersetzung ins Deutsche, ungefähr vierhundert Seiten, mitberücksichtigt.

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Um die Lebendigkeit der Gerspräche, aber auch die Reaktionen der Beteiligten in der Dichtigkeit der Gesprächssituation zumindest anklingen zu lassen, sind entsprechende Einfügungen auch in die Übersetzung mit aufgenommen worden, wozu z.B. Lachen, Husten oder Gesprächspausen zählen. Eine Schwierigkeit besteht für Fremdsprachler darin, Ausdrucksweisen, Wortwahl, Wortschatz und damit verbundene Implikationen zu beurteilen. Dass sich eine Person ohne Schulabschluss anderen Vokabulars bedient als die Lektorin eines Lexikonverlages, mag auf der Hand liegen und wurde bei den Übersetzungen nach bestem Gewissen berücksichtigt. Eine besondere Herausforderung, die sich insbesondere beim Übersetzungstransfer aus dem Chinesischen ins Deutsche ergibt, stellen Begriffe dar, die eine erhebliche Bedeutungsvarianz aufweisen und somit immer mehrere Interpretationen zulassen. In den vorliegenden Interviewauszügen wurden diese Interpretationsmöglichkeiten dargestellt und stehen damit zur Disposition oder bzw. und vermitteln dem Leser einen Eindruck von der Bedeutungsvielfalt der chinesischen Originale. Interessanterweise sind die Interviews trotz größtenteils gleichlanger Aufnahmezeit als Text unterschiedlich lang. Einige Personen reden viel und schnell, andere langsamer und wenig, was jedoch in keinem Zusammenhang zur Aussagekraft und Dichtigkeit der vermittelten Informationen steht. Die produzierte Masse an Text steht also in keiner zwingenden Relation zur Reichhaltigkeit des Inhalts. Meine sekundären Quellen über Shanghai und seine Bewohner stammen vorwiegend aus chinesischer Literatur, was sowohl Zeitschriften über „Lifestyles“, Mode und Jugend, sowie auch wissenschaftliche und Populärliteratur beinhaltet, die ich entweder käuflich erwarb, in der Shanghaier Bibliothek entlieh und vervielfältigte oder über einen erkauften Mitglieds-Onlinezugang zu Artikeln im chinesischen SSReader (Social Science Reader)15 in digitaler Form erhielt. Eine weitere wesentliche Quelle stellt das Internet dar, in dem ich zwecks Anregung und Informationssuche hauptsächlich auf Shanghaier Chatseiten16 die Beiträge studiere, aber ebenso auf das Shanghai Statistical Yearbook 2005 (Ղ௧伸儳‫ڣ‬募 2005 ‫ڣ‬, shanghai tongji nianjian 2005) u.a. zurückgreife.

15 Internetadresse: http://www.ssreader.com 16 Internetadressen: http://sh.sohu.com, http://www.shanghaining.com, http://www.52sh.net

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11. Rollendefinition Zu jeder Zeit war klar, dass ich in der Rolle der Forscherin auftrete. Wenn ich mit Personen in Kontakt kam, dann über die Erklärung, wer ich bin und womit ich mich beschäftige. Zu diesem Zweck ließ ich neben einem DIN A5-formatigen chinesischen Forschungsvorhaben auch Visitenkarten drucken, wie sie in China üblich sind. Eine Variante nur mit dem Titel des Projektes, so, wie es während der Forschungsphase benannt wurde: Filmprojekt – „Shanghairen des neuen Jahrhunderts“ (䶣ᐙࣁ䯁儳٪ „ᄅ‫׈‬伃ऱՂ௧Գ“, dianying paishe jihua „xin shiji de shanghairen“)17 und meinem Namen sowie Kontaktmöglichkeit per Telefon und Email. Eine zweite, offiziellere Variante war eine SiemensVisitenkarte mit der kompletten Anschrift in Shanghai und dem Firmenkontakt in München, verfasst in Englisch und Chinesisch. Zu Beginn meiner Rekrutierung hatte ich noch keine Visitenkarten, merkte aber im weiteren Verlauf sehr schnell, dass eine solche von außerordentlicher Wichtigkeit ist, erstens, weil in China das Verteilen und Sammeln von Visitenkarten unabdingbar ist für das Knüpfen von Kontakten und es zweitens einfach unprofessionell wirkt, wenn man in einem „Auftrag“ unterwegs ist und sich ohne Visitenkarte praktisch nicht ausweisen kann. Für die zwei unterschiedlichen Varianten habe ich mich entschlossen, um entscheiden zu können, wie viel ich zur jeweiligen Zeit von mir als Person preisgebe. Die Karte, die nur meine Handynummer und Emailadresse enthielt, konnte ich unbedenklich jedem geben, während ich meine private Adresse und Firmenkontakt nur besser bekannten Personen überreichte. Während der Interviews war meine Forscherrolle eindeutig. Bei den Personen, mit denen ich über einen längeren Zeitraum Kontakte und Freundschaften pflegte, geriet meine Beobachterposition hingegen schnell in Vergessenheit. Generell hatte ich das Gefühl, dass die Gespräche zwischen mir und fast allen Beteiligten eindeutig mehr einer freundschaftlichen Unterhaltung ähnelten und auch so gesehen wurden, denn als Interview, das rein aus forscherischem Interesse geführt wird. Ein wesentlicher Grund für diese Auffassung mag sein, dass die Beteiligten in derselben Altersgruppe sind wie ich selbst. Für uns war es beispielsweise selbstverständlich, dass wir uns duzten und recht ungezwungen miteinander umgingen.

17 Der Titel sollte möglichst offen gehalten sein, um Interesse bei potentiellen Interviewpartnern zu wecken.

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Eine weitere Rolle, die mir auferlegt war, ist die der Ausländerin. Man wird verständlicherweise sofort und überall als nicht dazugehörig erkannt. Egal, wo man sich als Fremder in China bewegt, wird man im besten Fall nur registriert, meistens aber wird per Fingerzeig oder mit dem Ausruf „laowai“ (‫۔‬؆)18 auf Ausländer aufmerksam gemacht. Es ist einem somit nicht möglich, unbemerkt an Gruppen heranzutreten und ungezwungene Gespräche und Handlungen zu beobachten. Aus diesem Grund ist die offene Forscherrolle die einzig mögliche, wobei man von dem exotischen Moment, der einem anhaftet, noch zu profitieren vermag, zumal Neugier auf beiden Seiten auch leichter zu einer Annäherung führt. Die Rolle des deutschen Ausländers ist positiv belegt und erleichtert es in vielen Situationen, ins Gespräch zu kommen. Was die Rolle des Ausländers mit sich bringt, ist die Tatsache, dass sich einige Chinesen damit „schmücken“, einen Ausländer zu kennen oder als Freund/in zu haben, da dies ihren Status erhöht, denn die laowai, die in Shanghai sind, gelten in ihren Berufen als „foreign experts“, werden sehr gut bezahlt und leben auch nach Außen ein für die meisten Chinesen äußerst luxuriöses Leben. In Anbetracht aller beschriebenen Faktoren, die an meiner Rolle als Forscherin keine Zweifel ließen, kann in dem gesamten Prozess, in dem ich als Beobachter fungierte, jedoch nicht von teilnehmender Beobachtung gesprochen werden. Ich möchte deshalb den Begriff der teilnehmenden Interaktionserfahrung verwenden, um deutlich zu machen, dass Handlungen, an denen ich zusammen mit Freunden und Bekannten unter den Interviewpartnern teilnahm, nie stattgefunden hätten, wäre ich nicht involviert gewesen.

1 2 . D i l e m m a v o n ( An - ) T e i l n a h m e u n d D i s t a n z Bei dem „Feld“, in dem ich mich befand, handelt es sich nicht um einen Mikrokosmos wie beispielsweise ein kleines Dorf, ein Gefängnis oder einen anderen klar umgrenzten Raum, in dem geforscht wird. Die Metropole Shanghai, der ecdynamische Raum Shanghai, das Forschungsfeld, ist eine geographisch fass- und messbare Größe, die sich dem Einzelnen jedoch niemals als Ganzes erschließen kann. Einen Teil der befragten Bewohner dieser Stadt habe ich zudem meist nur zu den Interviews getroffen. Auch wenn ich zu einigen ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt, gab es für mich jedoch zu jeder Zeit Rückzugsmög18 Wörtlich: Ausländer, Fremder.

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lichkeiten aus der Gesellschaft. Vergleichbar ist die teilnehmende Interaktionserfahrung bei mir mit Terminen und Verabredungen, die man mit Leuten vereinbart, wenn beide Seiten Lust dazu haben. Entsprechend trennt man sich, wenn man die Zeit dafür gekommen sieht. Im Fall von Xie Zhili allerdings war ich nicht in der Lage, ihre persönliche Lebensgeschichte und -lage einfach als Faktum hinzunehmen, aufzuschreiben und ad acta zu legen, da ich über den gesamten Forschungszeitraum unmittelbar miterleben konnte, wie es ihr geht und wie sie lebt und Anteil an ihrem Leben genommen habe. Sie wurde in der Provinz Sichuan in einem kleinen Dorf als Zwillingskind armer Bauern geboren, die bereits einen Sohn hatten. Die EinKind-Politik schreibt vor, dass jedes Paar nur ein Kind haben darf oder Strafe für ein Zweitgeborenes zahlen muss. Da sich ihre Eltern jedoch außerstande sahen, den Strafbetrag zu bezahlen, waren sie gezwungen, die Zwillingsmädchen wegzugeben. Xie Zhili wuchs drei Kilometer vom elterlichen Dorf auf, ohne jemals zu wissen, dass sie noch Geschwister hatte, geschweige denn, dass sie nicht von ihren leiblichen Eltern aufgezogen wurde. Erst im Jahr 2002 fand Zhang Jixiao, ihr älterer Bruder, über das Familienbuch heraus, dass er noch zwei Schwestern habe und machte sich auf die Suche. Er fand nur Xie Zhili und holte sie zu sich nach Shanghai, wo er mittlerweile studierte, „damit sie aus ihrem Leben etwas machen könne“. Die zweite Schwester konnten sie bis jetzt noch nicht finden, da diese nicht in der ersten Pflegefamilie blieb, sondern einige Male weitergegeben wurde. Zhilis Pflegeeltern verdienen 400 Yuan RMB 19 im Monat, wovon man in einem Dorf in Sichuan überleben, die Tochter allerdings in einer Stadt wie Shanghai keineswegs unterstützen kann. Nachdem ich ihre Wohnsituation in Shanghai gesehen hatte und meine im Vergleich luxuriöse Lebensweise daneben betrachtet, war für mich klar, dass ich helfen kann, ohne große finanzielle Einbußen zu erleiden. So fand und erfand ich Arbeiten, mit denen Xie Zhili mir helfen konnte, wie „Headhunting“, Transkriptionen der Interviews, Kommentare, für die ich sie bezahlen konnte. Der Fakt, dass Xie Zhili auf mich als Arbeitgeber setzte, stellte für mich einen erheblichen Druck dar. Glücklicherweise fand sie dann trotz ihrer geringen Schulausbildung doch eine Arbeit als Verkäuferin und entband mich damit von meiner selbst auferlegten Verantwortung. Die Anteilnahme ist Folge des permanent schlechten Gewissens, das mich während der ganzen Forschungszeit in Shanghai begleitete. Zu sehen, wie die Menschen, die um einen herum leben, sich abmühen, ihr 19 400 Yuan RMB entsprechen umgerechnet 40 €.

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tägliches Brot zu verdienen, die sich abends auf der Straße waschen, weil es in ihren Behausungen kein fließendes Wasser gibt, die in ihrem vier Quadratmeter kleinen Laden unter der Decke noch eine einen Meter niedrige Schlafstätte haben oder ihre Matratze unter dem Ladentisch hervorholen und direkt im Laden schlafen, und mein eigenes Appartement demgegenüber zu setzen, bei dem allein eine Monatsmiete für die Personen das Einkommen eines halben Jahres ausmacht, verdeutlicht nur allzu plastisch die Gegensätze, die eine Stadt wie Shanghai birgt.

13. Die Forschung und ihre Konsequenzen und Feldrückzug Je nach Themenspektrum und Situation variierten meine Fragen innerhalb der Interviews teilweise erheblich. Jedoch bin ich in den offiziellen Interviews immer in der Fragerrolle geblieben, niemals habe ich eigene Meinungen kundgetan oder widersprochen. Dies hat sich geändert, wenn sich aus dem Erstkontakt heraus eine Freundschaft entwickelt hat und wenn ich direkt um Rat gebeten wurde. Allerdings kam es meist beim ersten Treffen noch nicht zu solchen Situationen, nur hin und wieder nach dem Interview beim gemeinsamen Essen oder Teetrinken, wenn die Kamera nicht mehr im „on“ war. Ich weiß nicht, ob meine Person in diesen Fällen irgendwelchen Einfluss auf Entscheidungen oder Entwicklungen der entsprechenden Gesprächspartner gehabt hat. Nur in zwei speziellen Fällen war dies so. Einmal, wie oben beschrieben, in der intensiven Beziehung zu Xie Zhili20, im zweiten Fall bei Ding Xiaoping, genannt Daisy. Daisy erfuhr von Andrew Tan, dass ich Interviewpartner suchte. Sie kam daraufhin auf mich zu, mit der Begründung, dass sie sich bei mir gemeldet habe, um von ihrem Leben zu erzählen und wie es in einer Shanghaier Familie zugehe. Zu Beginn des Gesprächs berichtete sie mir recht euphorisch, dass sie im Folgemonat heiraten würde und dass ich herzlich dazu eingeladen wäre. Im Laufe des Interviews stellte sich allerdings heraus, dass ihre Eltern, beide Shanghaier Intellektuelle, dagegen waren, dass sie ihren Freund, den sie schon zu Studienzeiten kennen gelernt hat und der aus der Provinz Jiangsu kommt, heiratet. Stattdessen drängten sie Daisy, den Sohn der besten Freundin ihrer Mutter zu ehelichen. Der Hochzeitstermin stand fest, Gäste waren geladen und die

20 Siehe Dilemma von Anteilnahme und Distanz IV.12, S.106f.

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Hochzeitsbilder21 schon aufgenommen. Vor allem aber hatte ihr Verlobter bereits eine Eigentumswohnung gekauft und eingerichtet, in der sie nach der Hochzeit gemeinsam wohnen würden. Einmal in der Woche oder am Wochenende traf sich Daisy mit ihrem Verlobten, um ihn „mögen zu lernen“. Ich stellte Fragen, wie es um ihre große Liebe stünde und wie sie sich ein Leben mit einer Person, die sie nicht liebte, vorstellen würde. Ob sie sich schon Gedanken über körperlichen Kontakt mit ihrem Ehemann gemacht habe. Wie ihre Rolle als selbstständige Frau von ihrem zukünftigen Ehemann gesehen würde u.a. Wie sich herausstellte befand Daisy sich in einem eindeutigen Konflikt: Die Liebe und Pietät zu ihren Eltern, die einen Bräutigam zum Besten ihrer Tochter ausgewählt hatten, zwangen sie dazu, der Heirat zuzustimmen. Die Liebe zu ihrem Exfreund und die Erzwungenheit der neuen Bindung ließen sie zweifeln und schließlich rebellieren. Das Interview schien Daisy in dieser Zwangslage die Artikulierung ihrer Probleme gegenüber einer nicht involvierten Person zu erleichtern. Die Möglichkeit der Reflexion im Gespräch konnte zu einer endgültigen Entscheidung beitragen. Folge unseres Gespräches war, dass bei Daisy ein Prozess der Emanzipation einsetzte, dass sie ihre Situation analysierte und zu ihrem persönlichen Besten entschied. Drei Tage später bekam ich einen Anruf, in dem sie mir dafür dankte, dass ich ihr geholfen habe, die richtige Entscheidung zu treffen. Sie hatte die anstehende Hochzeit abgesagt, sich von ihrem Bräutigam getrennt und mit ihren Eltern gebrochen. Dies war ein Schock für mich. Zweifel kamen bei mir auf, dass ich zu dieser Entwicklung beigetragen, dass ich mit meinem Interview jemanden zu einem extremen Wandel motiviert habe. Nachdem ich mir daraufhin die Videoaufzeichnung unseres Gespräches nochmals ansah, wurde deutlich, dass Daisy es war, die durch das Gespräch und Aufzeigen der Problematik, in der sie steckt, ihre Entscheidungsfindung initiiert hat. Ich habe meine Meinung zu keinem Zeitpunkt geäußert. Aber hier zeigt sich, dass auch Fragen eine ungeheure Wirkung haben können, Fragen, die einen Reflexionsprozess in Gang setzen, also als Stimulus dienen können, der weitreichend ist. Allerdings wurde auch deutlich, dass Daisy in mir als „offener Westlerin“, als Konstruktion eines Gegenbeispiels zu ihrer eigenen Lage, eine Legitimation für eine emanzipierte Entscheidung suchte. Immer wieder fielen Worte wie: „Ihr ent-

21 In China werden die Hochzeitsbilder vor der eigentlichen Hochzeit aufgenommen, da die Hochzeit in den meisten Fällen nur eine Registrierung ist und nicht an eine Zeremonie oder Feier gebunden sein muss.

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scheidet euch für die Liebe und seid nicht solchen Zwängen unterworfen“. Die Tatsache, dass Daisy mich nach einer Kopie meines Videobandes fragte, weist darauf hin, dass unser Gespräch eine deutliche Rolle innerhalb ihrer Entscheidungsfindung spielte. Da ich nicht in einem festen Lebensumfeld mit Erforschten integriert war, musste ich keine Vorbereitungen für einen „sanften“ Rückzug aus dem Feld treffen. Ich meldete mich entweder telefonisch oder persönlich bei meinen festen Kontakten ab und verließ den ecdynamischen Raum Shanghai.

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V Polyphonie de r Stimmen

Einleitung Der strukturelle Aufbau des deskriptiven Teils „Polyphonie der Stimmen“ richtet sich primär nach Kriterien der einfachen Lesbarkeit. Alle Themen stehen gleichberechtigt nebeneinander und könnten auch getrennt voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Aufgrund der großen Vielfalt der angesprochenen Themenbereiche und hinzukommender Diffusität, Ambivalenz und Inkohärenz der polyphonen Aussagen, wird zunächst in Anlehnung an die in Kapitel I.2 und II erfolgten Darstellungen des ecdynamischen Raumes Shanghai auf die Perspektiven der Shanghairen und Waidiren eingegangen. Sie beschreiben Shanghai und seine Bewohner. Anschließend stellen die Interviewten in Abschnitt V.3 ihre Familiensituationen vor, reden über Einstellungen der Eltern, berichten dann über ihre Vorstellungen und Erfahrungen von bzw. mit Liebe und Heirat, stellen weiterhin ihre Berufe vor und gehen darauf ein. Freizeit und Freundschaft beenden diesen zweiten Teil, der als sehr persönlich bezeichnet werden kann und zumeist die individuell subjektive Sicht der einzelnen Individuen darstellt. Der vierte Abschnitt beinhaltet dem entgegengesetzt hauptsächlich kollektiv objektivierte Ansichten zu allgemeinen Themen wie der chinesischen Gesellschaft, Homosexualität, Status, Moral und der Ein-KindPolitik. Grundsätzlich werden alle Schilderungen in zwei Gruppen unterteilt: die der Shanghairen und die der Waidiren. Dies soll mögliche Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungen beider Gruppen direkt offen legen.

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Es lassen sich einige Schwerpunkte herauskristallisieren, die sich unter anderem durch persönliche Betroffenheit der Interviewten erklären lassen. Persönliche Fragestellungen nehmen entsprechend mehr Raum ein als abstrakte oder allgemeine Fragen. Die Auswahl der Themen und Interviewpassagen erfolgt in Bezug auf die aufgestellten Hypothesen und unter besonderer Berücksichtigung von Aussagekraft den Gesamtkontext der Shanghaier Ecdynamik betreffend. Leseanweisungen Die folgenden Übersetzungen der Interviews sind so verfasst, dass ein flüssiges Lesen ermöglicht wird, ohne dabei jedoch die Aussagen zu entstellen. Zudem wird durchgängig wörtlich übersetzt, auch wenn manche Redewendungen so im Deutschen nicht wieder zu finden sind oder möglicherweise befremdlich erscheinen. Shanghai ist im Chinesischen eine weibliche Stadt. 1 Diese Form wird beibehalten. Folgende Einschübe finden sich in den Interviews: ... A/B [engl.]

### (lacht) [...] [Abcde] (խ֮)

1

Pause Übersetzung nicht eindeutig, deshalb zwei/mehrere Vorschläge englisches Wort, ganzer Satz oder längere Passage, ins Chinesische eingeschoben, wörtlich in die deutsche Übersetzung übernommen akustisch nicht verständlich Lachen Auslassung Kommentar des Autors chinesische Redewendung

Dies wird in der dritten Person singular (‫ڔ‬, ta) kenntlich gemacht durch das Radikal Ֆ/nü.

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POLYPHONIE DER STIMMEN

1. Vorstellung der Interviewpartner Unterschiedlichste Individuen treffen in diesem Forschungskontext zumindest als von mir konstruierte Einheit aufeinander. Im Folgenden sollen diese Individuen in ihrer ganzen Vielfalt und Verschiedenheit zu Wort kommen. Nachdem alle Interviewteilnehmer schon in Abschnitt IV.3 anhand einiger demographischer Daten beschrieben wurden, werden nun alle offiziell Interviewten den Raum bekommen, sich selbst noch einmal vorzustellen. Dieses Vorgehen erscheint überaus sinnvoll, da jeder Einzelne bewusst oder unbewusst eine Konzeption seiner Person darlegt, sich auf eine bestimmte Art und Weise repräsentiert und entsprechend Informationen preisgibt, die er oder sie als für sich selbst relevant erachtet. So ist der Leser in der Lage, sich einen ersten eigenen Eindruck der Teilnehmer des kommenden polyphonen Diskursmosaiks zu machen. Auch wenn es sich nur um teilweise extrem kurze Sequenzen handelt, so wird den Diskursteilnehmern bzw. dem folgenden Diskurs selbst doch durch dieses Verfahren in gewisser Weise „Leben eingehaucht“, die Aussagen bekommen Gesichter und bleiben nicht als bloße Darstellungen und Kommentare für sich stehen. Die Reihenfolge der jeweiligen kurzen Selbstrepräsentationen ergibt sich aus der Chronologie der Interviews. Jimmy Yang „Ich komme aus China, aus der Provinz Jiangsu, aus der Stadt Yan, das liegt am Meer. Das ist ein sehr kleines Dorf, in dem ich geboren bin. Ich bin im August 1983 geboren. Dieses Jahr bin ich schon 22. Mein chinesischer Name lautet Yang Zhao. Mein englischer Name ist Jimmy.“

Peng Yongyang „Ich heiße Peng Yongyang, hier im Laden nennen mich alle Yangyang. Ich komme aus Anhui. In Shanghai bin ich fast 3 Jahre, beginne jetzt gerade Shanghai ein wenig kennen zu lernen. Grundsätzlich hoffe ich, mich in Shanghai allmählich noch besser weiterbilden zu können. Es kann nicht so bleiben wie jetzt. Ich denke, es kann nur besser werden, es kann nicht schlechter werden.“

Li Yuwen „Mein Name ist Li Yuwen, Shanghairen, ich bin in Shanghai geboren und jetzt arbeite ich in einer japanischen Zahnklinik. Ich bin 27 Jahre alt.“

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Zhao Jing „Ich heiße Zhao Jing, bin auch Shanghairen, auch in Shanghai geboren. Ich arbeite in der zahnmedizinischen Abteilung in einem Krankenhaus als Zahnärztin.“

Yan Beibei „Mein Name ist Yan Beibei, ich werde dieses Jahr 24 Jahre alt. Nach meinem Universitätsabschluss bin ich nach Shanghai gekommen, um mir einen Job zu suchen. Jetzt in Shanghai sind mein Studiengebiet und mein Beruf identisch, ich bin Buchhalterin. Obwohl ich meinen Job nicht mag, muss ich ihn wegen des hukous und um mich zu ernähren weiter ausüben.“

Zhang Jixiao „Ich heiße Zhang Jixiao, Bogen und lang Zhang, Fortfahren Ji, kindliche Pietät Xiao. Ich bin 1998 aus Sichuan zum Studium nach Shanghai gekommen. Von 1998 bis 2000 habe ich an der Jiaotong Uni Biomedizin studiert. Jetzt, nach meinem Abschluss, bin ich immer noch in Shanghai und arbeite hier. Meine Arbeitsdanwei ist eine amerikanische Apparatebau-Firma, in der ich als Repräsentant arbeite. Ich arbeite dort seit über einem Jahr. Ich finde, in Shanghai zu leben, zu studieren und zu arbeiten, macht mich glücklich. Heute darf ich ein Interview mit dir, Sonia, machen, dafür danke ich dir.“

Wang Xin „Ich heiße Wang Xin, ich komme aus Jiangsu. Seit der Oberstufe der Mittelschule bin ich in Shanghai. Oberstufe der Mittelschule, Undergraduate, Magistrandin, insgesamt bin ich seit 8 Jahren in Shanghai. Deshalb kenne ich mich hier ganz gut aus.“

Li Nan „Ich heiße Li Nan, ich komme aus Dalian in Liaoning. Ich bin zum Studium nach Shanghai gekommen. Ich bin Magistrand und habe gerade mein Studium abgeschlossen. Ich war 4 Jahre Undergraduate und danach Magistrandin.“

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Zheng Leibin „Ich heiße Zheng Leibin, bin aus Zhejiang hergekommen, jetzt studiere ich schon 5 Jahre an der Jiaoda. Jetzt bin ich Magistrand.“

Connie Peng „Ich bin in Shanghai geboren und aufgewachsen. Ich bin an nicht vielen Orten gewesen. Mein Leben ist einfach, alltäglich, ein einfaches Leben. Manchmal raste ich ein wenig aus, aber alle kennen Selbstkontrolle. Eigentlich bin ich ein einfacher Mensch.“

Wang Jialing „Ich heiße Wang Jialing. Ich bin 30 Jahre alt. Ich arbeite in der Shanghaier Staatsoper. Ich bin dort für das Tanzveranstaltungsprogramm zuständig, dazu gehört Planung, Organisation und Durchführung. Ich habe im November 2002 hier angefangen zu arbeiten. Vorher war ich in Frankreich und habe dort Ingenieurwesen studiert, es ging dort um die Entwicklung von Apparaturen zur Überwachung von Öl-, Gas- und elektrischen Kraftwerken. Nachdem ich hierher zurückgekehrt war, habe ich in der Staatsoper mit der Programmgestaltung angefangen. Gleich zu Beginn habe ich beim Internationalen Shanghai Kunstfestival ein modernes taiwanisches Tanzprogramm organisiert, danach durfte ich gleich ein französisches Musical herbringen. Jetzt bin ich für alle Tanzveranstaltungen verantwortlich.“

Zhu Miaomiao „Ich heiße Zhu Miaomiao, ich bin in der Provinz Hubei, in Wuhan geboren. Meinen BA-Studiengang habe ich in Wuhan absolviert, danach bin ich drei Jahre als Magistrand nach Shanghai gekommen. Nachdem ich fertig war, bin ich als Doktorand nach Darmstadt gegangen. Momentan sammle ich in Shanghai Material für meine Arbeit.“

Cai Zhihong „Ich fange an, ich heiße Cai Zhihong, ich bin in der Provinz Guangxi, in Nanning geboren. 1992 bin ich zum Studium nach Shanghai gekommen. Nach dem Abschluss habe ich einige Jahre in Nanning gearbeitet. Danach bin ich wieder nach Shanghai gekommen um weiter zu studieren. Seit 1999 lebe ich permanent in Shanghai.“

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Wendy Ding „Ich heiße Ding Yun, bin 1976 in Shandong geboren, 1994 bin ich zum Studium nach Shanghai gekommen, Fachgebiet Automation Industrie. Jetzt arbeite ich bei der Firma Kelubo Stainless Steel.“

Min Hao „Ich heiße Min Hao, ich bin 1976 in Guangxi geboren. 1996 bin ich nach Shanghai gekommen. Jetzt arbeite ich in einer Software Firma.“

Marie Chen „Mein Name ist Chen Wencong, ich studiere im Französischen Sprachzentrum, ich habe schon meinen Universitätsabschluss und bin jetzt 24 Jahre alt. Okay.“

Vicky Cao „Ich arbeite hier im Shanghaier französischen Kulturzentrum als Sekretärin. Ich bin in Shanghai geboren. Ich liebe Shanghai. Shanghaier sind außergewöhnlich stolz darauf.“

Daisy Ding „Mein chinesischer Name lautet Ding Xiaoping, ich bin Shanghairen. Ich bin hier geboren, aufgewachsen und arbeite hier. Bis jetzt war ich noch nicht im Ausland, aber ich war schon an einigen kleinen chinesischen Orten. Ich bin noch nie sehr weit weg gewesen. Ich habe den Wunsch wegzugehen. Ich bin schon 27 Jahre alt. Außerdem bereite ich meine Hochzeit im Mai vor, natürlich lade ich dich dazu ein. Bisher gab es in meinem Leben einige glückliche Dinge, aber auch einige traurige Dinge. Im Großen und Ganzen bin ich jemand, der gerne lacht. Für mich ist es sehr wichtig, glücklich zu sein. Ich bin eine junge Shanghairen mit ziemlich vielen Ideen. Ich bin so wie die Vielzahl meiner Freunde. Ich hoffe, nach dem Studienabschluss mich ausreichend selbständig zu machen und ein eigenständiges Leben zu führen. Und dann will ich mich um meine Familie kümmern. Alle um mich herum sollen glücklich sein. Das ist mir wichtig. Ich hoffe, ich kann allen ausreichend Freude bereiten und ihre Leiden ein wenig verringern, obwohl ich finde, dass das etwas schwierig ist.

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Aber ich tue mein Bestes, um das zu erreichen. Und ich möchte sein wie diese Stadt, mich jeden Tag weiter entwickeln, internationaler werden. Ich will mich wie alle jungen Leute in sich entwickelnden Ländern weiterbilden/noch besser vorankommen und Schritt für Schritt zu einem erfolgreichen Menschen werden (lacht). Das sind so meine Vorstellungen.“

Coco Pan „Du kannst mich Coco nennen. Ich bin Shanghairen, ich bin in Shanghai geboren, aufgewachsen, habe hier studiert und arbeite jetzt auch in Shanghai. Ich bin schon 23 Jahre alt. (lacht) Im Moment arbeite ich in einer Rechtsanwaltspraxis. Diesen Job habe ich ungefähr seit einem halben Jahr. Er gefällt mir. Aber ich bin auch sehr damit beschäftigt. Außerdem habe ich ein paar Nebenjobs, z.B. als geheime Informantin von Sonia. (beide lachen) Weil ich Kaffee liebe und mir solche Atmosphäre [in Cafés] gefällt, habe ich diesen Job [bei Starbucks] gefunden. Und ich arbeite auch als Übersetzerin, denn wenn ich jeden Tag nur auf Chinesisch arbeite, habe ich Angst, dass sich meine Englischkenntnisse verschlechtern werden. Mein Studienfach an der Uni war Buchhaltung, deshalb habe ich einen Freund gebeten, mir noch einen Nebenjob als Buchhalterin zu suchen. So, ehrlich gesagt, ich finde, dass mein Leben ziemlich busy ist. Die Arbeit und die Freizeit lassen mir wenig Zeit zum Schlafen. Momentan schlafe ich nur 6 Stunden pro Tag. Aber für mich ist das in Ordnung.“

Lu Jingjing „Ich heiße Jingjing, bin 24 Jahre alt, bin in Zhejiang geboren und mit 4 Jahren nach Shanghai gekommen, habe hier studiert und bin noch immer hier.“

Qiuqiu „Ich heiße Qiuqiu und wohne in Shanghai.“

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Meng Yingying „Mein Name ist Meng Yingying, mein englischer Name lautet Jacky. Sehr viele Leute denken, dass dieser Name männlich ist, aber meiner Meinung nach passt Jacky zu Frauen, die recht offen und clever sind. Mein Hauptfach an der Uni war sehr alte klassische Literatur. Jetzt editiere ich ein Wörterbuch für Hongkonger Grund- und Mittelschulschüler. Das ist eine wirklich mächtige Arbeit (lacht). Ich sollte noch sagen, dass ich gerne Fußball sehe, ins Kino gehe, Fern gucke, Bücher lese. Und was ich besonders mag, ist Artikel zu schreiben. Momentan bin ich noch Single. Ich wohne mit meinem Vater zusammen. Okay, in Ordnung so?“

Chen Chunzhao „Ich bin 1977 in Hubei geboren, in einem Dorf. 1995 habe ich die Aufnahmeprüfung für eine Shanghaier Universität geschafft. Vier Jahre später, nach meinem Abschluss, habe ich einige Jahre gearbeitet. Dann habe ich bemerkt, dass meine Interessen weiterreichen und ich habe mich dazu entschlossen, den Postgraduierten-Studiengang zu machen und erweitere nun mein Wissen in Automation. Ich bin eifrig dabei, meinen Magister zu machen.“

Jin Jing „Ich bin 1978 geboren, im Zeichen des Pferdes, also ich bin in der Provinz Shandong geboren, danach war ich, wie heißt das noch, in Mengyin, dort gab es eine Chemiefabrik. Dort habe ich mit meiner Mutter gelebt, so etwa 4 Jahre, danach ist die gesamte Familie nach Weihai in Shandong gezogen. In Weihai bin ich groß geworden, bis ich 17 Jahre alt war. 95 bin ich dann zum Studium nach Shanghai gekommen, zur Huadong Ligong Universität. Dort habe ich vier Jahre studiert, Fachgebiet Chemie Ingenieur- und Technologiewesen. Nach dem Abschluss habe ich ein Jahr gearbeitet. Danach habe ich die Prüfung fürs Forschungsstudium gemacht, dann habe ich 2001 damit angefangen. Das Fachgebiet meines Forschungsstudiums war Materialkunde. Im März 04, also gerade letzten Monat, habe ich meinen Abschluss gemacht. Jetzt bin ich auf Jobsuche. War das so in Ordnung?“

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Ren Dongqing „Mein Name ist Ren Dongqing, ich bin 1979 in der Provinz Zhejiang geboren, später, weil meine Eltern nach Shanghai gekommen sind, bekam ich einen Shanghai hukou. Also kann ich mich in Shanghai niederlassen, ich kann in meinem hukou auch zum Shanghairen werden. Ich habe durchgehend in Shanghai die Schule besucht, Grundschule, Mittelschule und gearbeitet habe ich auch nur hier.“

Ma Yan „Ich, also ich, ich heiße Ma Yan. Eigentlich müsste ich sagen, dass ich in Shanghai geboren bin, aber ursprünglich stammt meine Familie aus dem Norden, aus Tianjin. Deswegen habe ich gerade auch geschrieben, dass ich schon mal in Tianjin war. Ich bin in Shanghai geboren, in Shanghai arbeite ich. Meine Schullaufbahn war auch in Shanghai. Teils arbeite ich jetzt, teils studiere ich. Das Studium ist eigentlich ein Wirtschaftsstudium, ja, Wirtschaft, aber von Anfang an spezialisiere ich mich auf Außenhandel. Außerdem hat mein Job auch mit Außenhandel zu tun. Jetzt studiere ich als Zweites Wirtschaft, um meine Konkurrenzfähigkeit zu steigern. Ich arbeite momentan in der Warenumlauf-Branche, speziell in der Logistik. Ich helfe anderen dabei, Produkte zu exportieren. Im Grunde kann man sagen, dass die Arbeit okay ist, auch das Studium ist recht angenehm. Noch ein Jahr, dann mache ich meinen Abschluss.“

Sam Zhang „Ich heiße Sam, mein chinesischer Name lautet Zhang Jin, ich bin Shanghairen und arbeite in einer Versicherungsagentur. Ich bin 25 Jahre alt, männlich.“

Wang Jun „Ich heiße Wang Jun, ich bin Schulpsychologe an einer Mittelschule. Ich wohne in Pudong. Ich arbeite jeden Tag von 8:00 bis 16:00 Uhr. Ich bin gern zu Hause, gehe dort ins Internet, sehe fern, lese Bücher. Manchmal gehe ich mit Kommilitonen Essen oder Karaoke singen.“

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Ye Yiqun „Ich bin 1984 in Zhejiang geboren und dieses Jahr gerade nach Shanghai gekommen. Ich habe Glück, mit Dir reden zu können. Mein Leben ist sehr einfach, nichts besonderes, genauso wie bei der Mehrheit der Chinesen. Ich bin glücklich aufgewachsen, danach bin ich zur Schule gegangen, in die Gesellschaft eingetreten, habe mir eine eigene Arbeit gesucht. So war es.“

Liu Songwei „Ich komme aus Zhejiang, ich bin 1979 geboren. Zu Hause bin ich der Älteste. Diese Arbeit mache ich schon 6 Jahre. In Shanghai bin ich schon zweieinhalb Jahre. Anfangs habe ich ganz einfach einen Job gefunden. Ich habe noch eine jüngere Schwester, die ist jetzt 21.“

Chen Jia „Ich bin 1982 in Anyang in der Provinz Hunan geboren. Das ist eine Stadt im Norden Chinas, nicht groß, nicht klein, die Gegend ist nicht besonders gut. Ich bin dort zwanzig Jahre lang aufgewachsen und nun plötzlich von dort weggegangen. Trotzdem vermisse ich es, denn meine Eltern und langjährige Freunde sind noch dort. Und weil ich sie schon lange nicht mehr gesehen habe, vermisse ich sie sehr. Ich bin vor drei Jahren nach Shanghai gekommen, um an der East China Normal University Chinesisch zu studieren. Momentan konzentriere ich mich auf ausländische Literatur. Ich singe und tanze gern, denn ich habe vier Jahre lang Tanzunterricht gehabt. Dann gehe ich noch gern mit Freunden bummeln und treffe mich mit ihnen zum Quatschen. Ich bin also ein durchschnittliches Mädchen. Manchmal geht mein Temperament mit mir durch. Größtenteils bin ich gegenüber meinen Freunden sehr gut und offenherzig.“

Xu Hongwei „Mein Name ist Xu Hongwei, ich bin 24 Jahre alt. Ich arbeite in einer Werbeagentur als Graphiker. Diesen Job habe ich seit knapp vier Jahren.“

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Wang Shuhua „Hallo, ich heiße Wang Shuhua, ich komme aus Xinjiang. Ich bin nach Shanghai gekommen, weil Xiao Ying mich angerufen hat und mir erzählt hat, dass sie Amway macht. Ich bin hergekommen, um das kennen zu lernen. Ich habe früher 9 Jahre in Suzhou gearbeitet. In Suzhou habe ich Xiao Ying kennen gelernt. Nachdem ich nach Xinjiang zurückgekehrt war, hat sie mich angerufen und ich bin also hergekommen.“

Lan Qian „Ich heiße Lan Qian, ich komme aus Wuhan. Letztes Jahr hat ein guter Freund aus Hunan dort ein Jahr gelebt. Dieser Freund liebt es, sich viele Bücher zu kaufen. Ich habe sie mir angesehen und Interesse daran gefunden, ich wollte lernen. Ich habe dann im Internet ein bisschen recherchiert und gesehen, dass man das in Shanghai machen kann. Deshalb bin ich hergekommen.“

Lin Xiaoke „Hallo zusammen, ich heiße Lin Xiaoke, ich bin Wenzhouer. Bevor ich hierher kam, habe ich in Hangzhou mein Studium fortgesetzt. Nachdem ich in Hangzhou meinen Abschluss gemacht habe, arbeitete ich dort. In Hangzhou konnte ich nicht in einer expandierenden Firma arbeiten, mich weiterentwickeln. Deswegen bin ich nach Shanghai gekommen. Gleichzeitig habe ich zufällig das Glück gehabt, die Freunde hier kennen zu lernen. Ich bin vorbeigekommen, um mich zu amüsieren.“

Wang Shuo „Ich heiße Wang Shuo und komme aus Hunan. Jetzt bin ich Magistrand am Shanghaier Musikkonservatorium.“

Xiuxiu „Ich bin in Guizhou geboren, in einem sehr kleinen Dorf. Von kleinauf waren wir in unserer Familie sehr arm. Wir waren 4 Geschwister und unsere Eltern. Es gab in unserer Familie nicht die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Nur meine jüngste Schwester konnte die Unterstufe der Mittelschule beenden. Wir anderen drei haben die Unterstufe der Mittelschule nicht zu Ende besucht, wir mussten raus, arbeiten. Und das, was wir bei der Arbeit verdient haben, ga-

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ben wir unseren Eltern. Manchmal blieb auch ein Teil für uns übrig. Wir haben immer für andere gearbeitet. Und später, als ich selbst ein bisschen angespart hatte, habe ich eigene Geschäfte gemacht. Ich habe ganz klein angefangen, ich hatte einen kleinen Stand mit Waren, dann habe ich ein winziges Restaurant aufgemacht und so habe ich klein weitergemacht bis ich noch etwas mehr Geld beisammen hatte, dann habe ich am Gehweg einen Laden aufgemacht, in dem ich Kleidung verkauft habe. Dann habe ich noch ein etwas besseres Restaurant aufgemacht, solange, bis ich einige zehntausend RMB zusammen gespart hatte. Da habe ich mit meinem Freund eine Kneipe aufgemacht, drei Jahre lang hatten wir die Kneipe.“

2 . D e r e c d yn a m i s c h e R a u m u n d s e i n e B e w o h n e r Nachdem sich die Diskursteilnehmer vorgestellt haben, soll das nun folgende vorwiegend polyphone Kapitel dergestalt aufgebaut werden, dass zunächst die Sicht jedes Einzelnen auf den ecdynamischen Raum Shanghai widergespiegelt wird, jeweils getrennt in die Ausführungen der Gruppe der Shanghairen und der Gruppe der Waidiren, da anzunehmen ist, dass sich hier unterschiedliche Wahrnehmungen und Wirkungen niederschlagen. Anschließend finden Selbst- und Fremdthematisierungen zu den Spezifika der Shanghaier Bevölkerung ihren Ausdruck, also ebenso über das Selbstverständnis der Betreffenden, als auch über die Fremdwahrnehmung derer, die von Außen dazu gekommen sind. Schließlich wird der direkte Vergleich zwischen den beiden Gruppen Shanghairen und Waidiren angestrebt, um auch direkt artikulierte beiderseitige Abgrenzungs-Mechanismen aufzudecken. Als exkursive Einlagen werden zwei Beispiele genannt, die exemplarisch für mögliche Verhältnisse von Waidiren zu Shanghai bzw. für die Problematik, neu in eine fremde Stadt zu kommen, stehen sollen.

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2.1 Interviews zu Shanghai Shanghairen über Shanghai Lu Jingjing & Qiuqiu S: „Was hat Shanghai für besondere Orte, warum heißt es ‚da Shanghai‘ [Großes Shanghai]?“

Qiuqiu „Ich finde, Shanghai ist innerhalb Chinas eine recht offene Stadt, egal, ob es um Kultur oder Wirtschaft geht, in jeder Hinsicht ist sie offen. Das gibt dieser Stadt Energie/Vitalität. Was ich am meisten fürchte, ist eine Stadt, die vollkommen homogen ist, wenn alles, was du siehst, gleich ist. Wenn du keine Vielfalt siehst. Wenn alles einfarbig ist, dann ist diese Stadt kein gutes Umfeld. Wenn sie verschiedene Farben hat, dann hat sie Vitalität. Jeden Tag ist irgendetwas anders. Ich finde, das ist etwas Besonderes an Shanghai.“

Lu Jingjing „Shanghai ist eine sehr effektive Stadt, sie lernt besonders gern. Sie nimmt unterschiedlichste Dinge auf und transformiert sie so, dass sie ihr passen. Dass sie so stark ist, hängt auch mit ihrer Lage in China zusammen. Sie liegt am Meer, das ist in China ein sehr guter Platz. Außerdem sind die echten Shanghairen in den Vororten. Die heutigen Shanghairen sind alle aus Zhejiang, kommen aus Anhui, sind aus tausend Orten hergekommen. Wie viele Völker, die aus verschiedenen Orten herkommen, die unterschiedliche Dinge mitbringen und zusammen gemeinsame Dinge formen. Seit der chinesischen Reform und Öffnung ist Shanghai die Stadt, die Veränderungen am Besten aufnehmen kann. Wie sie [Qiuqiu] schon gesagt hat, die positiven Mechanismen lassen diese Stadt vielfältig/bunt werden. Aber durch die negativen Mechanismen fühlen sich die Menschen verloren. Obwohl jemand alles hat, hat er im Grunde doch nichts. Also, wenn du fragst, was wir Shanghairen haben, können wir nur sagen, wir haben gewürzte Bohnen. Du sagst, der Bund ist schön, aber der wurde während der Kolonialzeit erbaut, der ist nicht ursprünglich von uns. Auch die schönen Dinge aus der Duolun Lu 2 sind uralte Dinge. Echte Shanghaier Kulturgegenstände sind sehr selten.“

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Die Duolun Lu ist eine historische Literaten-Gasse im Hongkou-Distrikt, deren Häuser im alten Stil errichtet sind, in der Teehäuser, Museen, Antiquitätengeschäfte, Kunstateliers und Straßenstände mit Souvenirs zu finden sind. Die Straße ist für Autos gesperrt, lädt durch viele Sitzbänke zum Verweilen ein und wirkt dadurch wie ein Ruhepol im geschäftigen, lauten Shanghai.

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Qiuqiu „In Shanghai siehst du nichts Chinesisches. Ich finde, das ist eine echte Schwäche. Shanghai ist eine so große, entwickelte Stadt, und zudem strömen so viele Dinge in sie hinein, aber ein sehr großes Problem könnte sein, dass du keine eigenen Dinge hast. Ich finde, Shanghai hat keine eigenen Sachen, aber in New York gibt es alles. So ist mein Gefühl. Vielleicht findest du, dass das kein so schlimmer Grund ist. Weil New York und Paris ihre eigene Substanz haben, kann man so viele Menschen und so viel Kultur sehen, die die Städte beeinflussen. Shanghai hat das nicht. Das, was du siehst, ist die Substanz. Hier gibt es viel Kultur, aber sie haben alles zusammen gewürfelt. Shanghai ist eine Stadt ohne Kultur. Shanghai hat keine Wurzeln. Du kannst sie sehr schnell verändern und du kannst sie zum Guten verändern. Du kannst sehen, wie sich unterschiedliche Dinge in Gutes verwandeln. Genauso ist es mit der Stadt. Wenn du keinen Platz findest, der zu dir passt, kannst du dir von hier was holen, von dort was holen, und auch von dort was holen. Ich weiß nicht, ob die gesamte Shanghaier Stadtplanung so ist. Ihr fehlt die Soziologie und andere Studien. Bis auf tolle Bauwerke und wirtschaftliches Wachstum hat die Stadt nichts Gutes für ihre Menschen. Ich finde, das ist auch ein sehr großes Problem.“

Marie Chen „Shanghai ist ziemlich offen, [Shanghairen] sind bereit, viele neue Dinge anzunehmen. Außerdem sind viele ausländische Unternehmen, frühere Unternehmen wie die Huaqi-Bank, die in Shanghai ansässig waren, sehr einflussreich gewesen. Nach der Öffnung hatte Shanghai die Möglichkeit, an die alten Verbindungen anzuknüpfen … Da gab es schon ein Fundament. Sie [die Stadt] konnte relativ einfach mit ausländischen Unternehmen geschäftlich fortschreiten. Deswegen ist Shanghai ein guter Ort.“

Meng Yingying „Shanghai ist eine Stadt, die das Alte und Neue miteinander verbindet. Es gibt hier recht traditionelle Straßenzüge, wo auch das Hochchinesisch nicht sehr deutlich gesprochen wird. (lacht) Und es gibt vielstöckige Hochhäuser. Es gibt eigentlich sehr viel Altes und Neues, alles ist miteinander vermischt. Außerdem finde ich, dass Shanghai eine sehr tolerante Stadt ist. Sehr viele Waidiren hatten früher das Vorurteil, dass Shanghairen sehr fremdenfeindlich seien. Aber meiner Meinung nach sind Shanghairen wirklich sehr tolerant. Shanghai akzeptiert einige schlechte Angewohnheiten der Waidiren. Unser Leben ist der Lebensstil der Ausländer, wie soll ich sagen? Kurz gesagt, ich mag diese Stadt sehr. Außerdem finde ich, dass die öffentliche Ordnung hier die Beste Chinas ist. Und sie gibt mir Sicherheit, das Sicherheitsgefühl ist hier am größten. Ich muss sagen, dass ich dem Ort, an dem ich lebe, vertraue. Und wenn ich mir andere Gegenden ansehe, finde ich dort die öffentliche Ordnung nicht so gut. Ich vertraue der chinesischen, der Shanghaier Polizei.“

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S: „Was magst du nicht an Shanghai?“ M: „Die chaotischen Straßenverhältnisse, das beinhaltet auch die Streitereien in den Bussen usw. Aber ich finde, je mehr sich die Stadt verändert, desto mehr zu ihrem Vorteil. Außerdem…, wenn du mich so reden hörst, scheint es, als würde ich Werbung für die Stadtregierung machen. (lacht) Es ist sicher so, dass sich die Stadtregierung sehr viele Gedanken um die einfachen Leute macht, das beinhaltet den Bau der U-Bahn, der Hochbahn und einige Fragen nach Gebührenzahlung. Ich erinnere mich, dass irgendeine Brücke gebührenfrei befahrbar ist, da sie die Kosten dafür schon wieder reingeholt haben. Jetzt ist sie zum Nutzen des Volkes da. Und dann noch Shanghais Qualitätskontrolle und die Beachtung der öffentlichen Meinung. Qualitätsprobleme in Shanghai: Du kaufst dir beispielsweise irgendetwas, das kaputt geht. Wenn du es bei der Firma nicht reklamieren kannst, dann gibt es beim Radiosender jemanden, der den Verantwortlichen der Fabrik oder der Firma anruft und so auf jeden Fall dein Problem sehr schnell löst.“

Daisy Ding „Shanghai hat tatsächlich ihre Vergangenheit. It’s a charming city [engl.]. Ich bin Ende der Siebziger geboren. Im Prinzip ist diese Geschichte sehr fremd für mich, aber ich habe sehr viele Bücher über die Zeit vor 1949 gelesen….Beispielsweise über ihre Geschichte, die Veränderung der Menschen und Gebäude, der Wirtschaft. Erst jetzt bemerke ich, dass sich heute und gestern gar nichts verändert hat. Nothing changed at all [engl.]. Bis auf die Kleidung und die Gebäude, die sich zum Besseren verändert haben, hat sich gar nichts verändert. Ihre Funktion, ihr Platz in der Geschichte, ihre Wichtigkeit in der Lebenslinie des ganzen Landes. Das echte Shanghai hat sich nicht verändert, ihre Geschichte hat Kontinuität. Menschen können sie nicht verändern und es gab auch keinen Punkt in der Geschichte, der sie verändert hat. Sie ist in alt und neu geteilt, man kann nur sagen, dass sie in Jahresabschnitte geteilt ist, vor 49 und nach 49. Ich mag keine anderen Unterteilungen vor und nach irgendwas. They always say old and new work, I don’t think so. If you just go around the Bund [engl.]… Am Bund ist jetzt immer noch das Finanzzentrum …. Wenn du es im Ganzen betrachtest, Xujiahui, Luwan, Huangpu, Jing’an, wenn du dir die ganzen westlichen Gebäude ansiehst, haben sie sich nicht verändert, es ist nur ein Wandel der Erscheinung, tatsächlich hat sich der spirit [engl.] nicht geändert, es ist nur ein oberflächliches Phänomen. … Eigentlich hat es sich nicht verändert. Das ist meine persönliche Meinung. Ich war am Bund im Historischen Museum. Von ihrem Wesen hat sie sich nicht verändert, nur die Hülle hat sich verändert.“ S:„###“ D: „Ich weiß, meine Meinung ist … oder unterscheidet sich von der anderer Leute, aber sie dringt zum Kern Shanghais vor. The core Shanghai is [engl.] … ihr Rang/ihre Stellung, ihre vielseitigen Qualitäten und ihre Nationalität,

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das umfasst ihr Herz. Shanghai hat eine spezielle Shanghaier (௧੔, haipai) Kultur, sie legt großen Wert auf Internationalität. Ganz viele Freunde im Ausland, in England, Amerika, Deutschland, sie alle verorten sich selbst in Shanghai und haben nur den Blick ins Ausland gerichtet.“

Vicky Cao „Shanghai hat unheimlich viele Farben. Es ist nicht so wie im Shanghai der 30er Jahre, es hat unglaublichen Charme. Wie das Rot von Tee, wenn er lange zieht. In den 60ern gab es nur schwarz-weiß. Aber das heutige Shanghai ist farbenprächtig, sehr poppig, es hat sich in ein Orange gewandelt, sehr leuchtend. Das kann jeder sehen. Ich finde, der Shanghaier Geschmack war früher wie Teegeschmack: bitter. Langsam wird er süß. Das heutige Shanghai ist wie ein Cocktail, denn viele verschiedene Länder sind nach Shanghai gekommen, deshalb gibt es unterschiedliche Geschmäcker, Gefühle. Als ich klein war, hatte ich das Gefühl, dass auf der Straße nur Fahrräder sind. Zur Arbeit sind alle mit dem Fahrrad gefahren, vor der Öffnung. Früher gab es ein einheitliches Gehalt von 36. Das hat sich geändert. Von der Straße, auf der ich nach Hause fahre, habe ich früher nichts gedacht, aber jetzt ist sie zum Schönen verändert worden. Die alten Häuser sind durch neue ersetzt. In einem Jahr ändert sie ihr Aussehen einmal, in drei Jahren ist sie total verändert. Plötzlich siehst du nicht mehr die Dauer eines Jahres, du siehst einfach nur, dass sie sich verändert hat. Die Entwicklung ist zu schnell.“ S: „Magst du dieses Gefühl?“ V: „Ich mag das Gefühl und bin es auch gewohnt. Ich denke, die heutigen Shanghairen nehmen neue Dinge sehr schnell auf/an, vielleicht sogar schneller als Menschen aus entwickelten Ländern. Für mich ist plötzliche Veränderung etwas ganz Natürliches. Für mich ist im Gegenteil eine Verlangsamung des Rhythmus ungewohnt. Junge Leute mögen dieses Gefühl der Schnelligkeit. Sie [Shanghai] verändert sich unaufhörlich.“

Li Yuwen & Zhao Jing Z: „[Ich mag es,] wie Shanghai viele von Außen kommende Dinge akzeptiert, den Western Style, nicht wie Beijing, obwohl das auch eine große Stadt ist, die Hauptstadt. Aber Beijings Straßen sind super schmutzig. Ich finde, man kann Beijing einfach nicht mit Shanghai vergleichen.“ L: „Shanghai ist besonders gut darin, fremde Dinge aufzunehmen.“ […] L: „Veränderungen: wenn du in permanenter Veränderung lebst, dann wird das zum Alltäglichen, denn es war schon immer so…“ Z: „Du gehst abends schlafen und wenn du am nächsten Morgen aufstehst, hat sich etwas verändert, warst du irgendwo 2-3 Wochen nicht mehr, dann hat sich dort schon wieder alles verändert.“

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Waidiren über Shanghai S: „Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr gerade neu nach Shanghai gekommen seid?“

Ye Yiqun „Ich war so aufgeregt, dass ich die Strapazen der Reisen vergessen habe, denn dies ist eine fremde Stadt. Ich fand diesen Ort wunderschön, ich habe geseufzt angesichts der Bauten, die sind wirklich außergewöhnlich. Auf den Straßen so viele Menschen, wenn du zwischendrin rum läufst, ist alles so laut und lebendig, sehr lustig. Und du fragst dich, ob du an diesem Ort Fuß fassen kannst. Wenn du an diesem Ort aussteigst, kann es dir hier später sehr gut gehen. Wir hoffen, dass es uns hier in Shanghai einmal sehr gut gehen wird, wir müssen uns nur noch mehr anstrengen.“

Liu Songwei „An meinem ersten Tag in Shanghai fand ich die Stadt extrem groß, grenzenlos, kein Ende in Sicht. Wenn du den Kopf gehoben hast, sahst du den blauen Himmel und die Wolkenkratzer. Auf jeden Fall waren mir die Himmelsrichtungen völlig unklar, als ich an meinem ersten Tag in Shanghai aus dem Zug stieg. Aber die Gebäude hier sind definitiv schön, besser als in normalen Städten. Schließlich ist es eine internationale Metropole, auch die chinesische Großstadt mit den meisten Einwohnern. Shanghai ist in jeder Hinsicht fortschrittlicher als andere Städte.“

Wang Shuhua & Lan Qian S: „Wie lange seid ihr jetzt in Shanghai?“ L: „Ich bin hier jetzt etwas über zwei Monate.“ W: „Ich bin seit 10 Monaten hier.“ S: „Wie ist Shanghai?“ W: „Shanghai ist sehr schön, es gibt hier viele Möglichkeiten, aber es gibt hier auch viele Fallen.“ L: „Ich finde, Shanghai ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich hatte eine perfekte Vorstellung davon. Ich habe immer gedacht, dass hier alles gut werden würde, aber so gut ist es nicht. Shanghai ist auch nicht so verdorben wie ich dachte, denn von kleinauf habe ich sehr viele Bücher gelesen und Fernsehsendungen gesehen, wo das Leben der Unterschicht dargestellt wurde. Nachdem ich hergekommen bin, war das gar nicht so, ich finde, das geht noch.“

Wendy Ding „Shanghai ist auf jeden Fall ein besonderer Ort in China. Es gibt viele solche Orte: Shanghai, Shenzhen, Guangzhou, dort ist das Wirtschaftswachstum sehr schnell. Deswegen sind das Leben hier und das an anderen Orten nicht gleich.

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Das sind Chinas größte und prosperierendste Städte. Und jede dieser Städte hat ihre Besonderheiten. Weil Shanghai in den 20er und 30er Jahren Asiens sich schnellstentwickelnde Stadt war, hinterlässt sie viele Ideen und Lebensstile.“

Cai Zhihong „Grundsätzlich muss ich sagen, dass ich Shanghai sehr mag. Deshalb bin ich manchmal mit Shanghai nicht zufrieden oder kritisiere es. Der Grund dafür ist aber, dass ich will, dass sie noch besser wird. Grundsätzlich mag ich Shanghai. Zwar war ich in China noch nicht in anderen Städten außer in Nanning und Shanghai, ich habe noch in keinen anderen Städten gelebt. Aber ich war in anderen Städten. Shanghai ist die florierendste und außerdem, mit der gesamtchinesischen Situation verglichen, ist sie der produktivste und ordentlichste Ort.“

Wang Xin „Die Stadt hat sehr viele Kapazitäten, um alle möglichen Dinge in sich aufzunehmen, die Informationsdichte ist super vielfältig. Die Menschen hier sind frei, das Leben, die Rahmenbedingungen sind hier recht ruhig/stabil. Außerdem ist das gesellschaftliche Sicherheitssystem sehr gut. Man fühlt, dass die eigene Sicherheit garantiert ist.“

Chen Chunzhao „Am besten sage ich das so: In jeder Phase [meines Aufenthaltes in Shanghai] hatte ich Freude. Als ich gearbeitet habe, hatte ich Freude an der Arbeit. Damals hatte ich vor allem mein eigenes Gehalt. Ich hatte Kontrolle über die Ernte meiner Arbeit. Das Gefühl ist sehr zufrieden stellend. Und was du eben über den Lebensstil meintest, bei mir ist das so, wenn du an einen neuen Ort kommst und du nicht in der Lage bist, dich an ihn zu gewöhnen, dann wirst du nicht zu ihm passen. Du kannst dich nur anpassen. Wenn du dich nicht innerhalb eines Tages umstellen kannst, wird dir das Essen nicht schmecken, wirst du nicht einschlafen können. Wie sollst du dann an dem Ort arbeiten oder studieren können? Das ist unmöglich. Deinen Lebensstil anzupassen ist etwas, das du Schritt für Schritt leisten musst. Nachdem ich schon länger hier war, bin ich in den großen Ferien heimgefahren. Und als ich dann zu Hause war, haben meine Eltern mich nichts machen lassen, ich hatte zu viel Freizeit. Ich hatte das Gefühl, nichts zu tun zu haben und das Bedürfnis, bald wieder herzukommen [nach Shanghai]. Mittlerweile hat sich bei mir eine positive Einstellung herausgebildet. Dieser Lebensrhythmus, der Grad der Bequemlichkeit und die Verbindungen mit der Außenwelt gefallen mir.“

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Jin Jing S: „Was magst du besonders an Shanghai?“ J: „Was besonders an Shanghai? Eigentlich fällt mir dazu nichts ein, irgendetwas genaues, was ich besonders mag, fällt mir gerade nicht ein. Vielleicht ist es, vielleicht sollte ich sagen: mein Leben, an dieses Leben habe ich mich langsam gewöhnt. Ich kann aber nicht sagen, was daran mir nun besonders gefällt. Vielleicht ist es das Wesentliche oder das Politische oder so. Die Art der Verwaltung gefällt mir ziemlich gut.“ S: „Warum?“ J: „Wie soll ich das sagen, ich finde es vergleichsweise schwierig, detailliert über solche komplexen Sachen zu sprechen. Mein Gefühl scheint, ich finde halt, dass die Regierung immer an die einfachen Leute denkt. Oder warum, warum… Die so genannten Stadtbewohner-Interessen stellen sie an höchste Stelle. Zumindest ist die Propaganda nach Außen hin in diesem Sinne. Das lässt mich gegenüber dieser Stadt Zuversicht empfinden, deshalb bin ich auch bereit, in dieser Stadt zu wohnen. Noch eins, also, ein Weiteres ist, die jetzige Entwicklung und so, ist mehr, mehr, mehr… ist schneller als in Weihai, oder vergleichsweise voranstrebend. Oder andere Dinge, auch die Lebensumstände sind hier etwas besser. Ich glaube, das sind in etwa die Gründe. Das war’s.“ S: „Welche Unterschiede gibt es zu anderen Städten?“ J: „Das kommt darauf an, mit welcher Stadt man das vergleicht. Ich denke, das gesamte, in ganz China haben alle Städte, hat jede Stadt ihre Besonderheiten. Stell dir vor, denk an Shanghai, es kann zum Beispiel das Berufsleben sein oder so. Hier ist der Rhythmus verhältnismäßig schnell, oder so. Denk an eine andere Stadt, Chengdu zum Beispiel. Ich war noch nie in Chengdu. Aber mein Mann fährt häufig nach Chengdu. Er hat mir erzählt, Chengdu sei eine ungemein sorglose Stadt, es scheine, als müssten die Menschen alle nicht zur Arbeit, so in der Art. Völlig anders als in Shanghai, wo alle jeden Tag früh aufstehen und zur Arbeit gehen, mit vollem Einsatz arbeiten. Er sagt, es scheine, als würden in Chengdu alle Majiang spielen. (S, J lachen). Das scheinen so die Unterschiede von Stadt zu Stadt zu sein. Auf jeden Fall war es für mich so, gerade nachdem ich zum Studium nach Shanghai gekommen war, hatte ich eigentlich keine genaue Vorstellung, … hatte ich nicht. Auch habe ich die Jahre hier gut durchlebt, das Arbeitsleben durchgestanden. Langsam habe ich mich an dieses Leben gewöhnt. Gerade als ich dieses Jahr, vorletzten Monat, einmal nach Weihai zurückgefahren bin, hatte ich sogar das Gefühl, das Leben in Weihai nicht mehr gewohnt zu sein. (J, S lachen). Kann sein, dass das die Unterschiede sind. Da gibt es noch etwas, etwas über die Stadt, so eine Art Stadtplanung. Zum Beispiel Shanghai: Meiner Meinung nach ist diese Stadt ständig im Wandel, die Regierung strengt sich immer an, etwas zu machen, lässt die Stadt immer noch besser/schöner werden oder will sich den Stadtbewohnern mehr verbinden, verbessert das Leben der Stadtbewohner. In Weihai hingegen hat die Re-

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gierung meiner Meinung nach keine so guten Absichten. Offen gesagt sind das nun die zwei Dinge, die mir hierzu einfallen, auf noch mehr komme ich im Moment nicht.“

Jimmy Yang „Ich mag Shanghai sehr. Sie ist so eine große Stadt. In meinen Vorstellungen war Shanghai schon immer ein Entwicklungsraum. Ich habe von kleinauf Fern gesehen. Jetzt, wo ich erwachsen bin, habe ich die Möglichkeit herzukommen. Ich werde alles daransetzen, ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Ich will mich für mein Ideal anstrengen.“ […] S: „Hat Shanghai einen Einfluss auf dich?“ J: „Shanghais Einfluss auf mich ist enorm groß.“ S: „Warum?“ J: „Hauptsächlich, weil sie so groß ist. Sie kommt mit modernen Dingen in Kontakt. Wenn du nicht nach Shanghai kommst, dann wirst du es bis an dein Lebensende bedauern. Es gibt so viele Aspekte. Sie verdient es, dass wir jungen Leute, dass die neue Generation kommt und in ihr aufgeht. Egal, ob es um gesellschaftliche Aspekte oder die Arbeit geht. Es gibt so viel, was man aufnehmen kann. Deswegen finde ich Shanghai ziemlich gut.“

Aiguo „Ich finde, Shanghai hat noch keinen wirklichen Einfluss erlangt. Shanghai kann nur ein Sprungbrett, eine Chance sein. Sie gibt mir eine Chance, aber ich bin noch nicht in ihr aufgegangen. Meiner Ansicht nach sind die meisten Menschen nicht mit dieser Stadt verschmolzen, da sie keine Möglichkeit haben, jemals vollkommen in ihr aufzugehen, denn Shanghais Hinterland und die Metropole sind auch noch nicht vollkommen miteinander verschmolzen. Wir sind alle noch sehr oberflächlich. Zu Shanghairen gibt es noch einige Unterschiede. Diese Unterschiede führen zu Shanghais Vielfalt. Deswegen glauben die Leute, es sei praktisch, hier zu bleiben.“

2.2 Shanghairen Shanghairen über Shanghairen Connie C: „Was Shanghai Besonderes hat? Das Ungewöhnlichste sind die Shanghairen!“

Lu Jingjing & Qiuqiu S: „Was für Unterschiede gibt es zwischen euch Shanghairen und Waidiren?“

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L: „Besonders xiaozhi (՛凝). Alle sagen das über die Shanghairen. Hast du schon mal was von xiaozhi gehört?“ S: „Nein, kenn ich nicht.“ Q: „Das ist, wenn du in deinem Leben Musik und Kaffee hast, also sehr exquisit lebst. Sehr viele Shanghairen können das jetzt haben. Ich glaube, wir beide haben auch die Tendenz dazu, wir trinken täglich Kaffee, sehen Filme, lesen Romane. Wenn man das von unserer Perspektive aus betrachtet, dann ähnelt unser Lebensstil dem schon. Aber unser Lebensstil hat nicht das Ziel, irgendetwas zu kopieren. Aber in Shanghai haben viele das Ziel, mit ihrem Verhalten andere zu kopieren, denn dein Leben hat dann Qualität, es ist ziemlich nah am westlichen Leben. Wenn du dir das zum Ziel nimmst, na, das ist nicht spaßig.“ L: „Außerdem denke ich, dass sich die heutige Jugend zum größten Teil so ein Leben ermöglichen will. Deswegen habe ich gesagt, dass Shanghai ruhelos/impulsiv ist.“ Q: „Ich habe einen Freund, der Trompete spielt. Er erzählt mir oft, dass er früher, als er noch Journalist war, häufig Musiker interviewt hat. Zu ihren Aufführungen kamen sehr viele Menschen, definitiv sehr viele Einheimische. Aber den Leuten war es vollkommen egal, welches Instrument da vorne gespielt wurde. Sie gehen in Bars und finden, das sei auch so ein Lebensstil, den sie haben/pflegen sollten. Ob du gut spielst oder nicht, ob ich die Musik verstehe oder nicht ist mir egal. Mein Freund hat mir auch erzählt, dass sie zum Xin Tiandi gehen. Ihm ist das egal, er sieht solche Leute nicht als Publikum an, denn die Leute dort geben Geld aus, um sich ein bestimmtes Gefühl zu kaufen. Sie kümmern sich nicht um die Musik. Eigentlich respektiert er sie nicht.“ L: „Er geht dahin um zu quatschen und ist für alles andere unempfänglich.“ Q: „Ich finde, so ist das nicht spaßig. Du suchst die Bequemlichkeit, bist mit Freunden zusammen, du gibst Geld aus, um deinen Freunden so einen Lebensstil zu zeigen. Ich fange an zu glauben, in der Gesellschaft langsam meinen Platz zu finden, aber so hat das meiner Meinung nach keinen Sinn, macht das überhaupt keinen Spaß. Aber Shanghai hat tatsächlich sehr viele junge Leute, die so sind, sehr sehr xiaozhi.“

Daisy Ding „Aber dazwischen sind viele, die nicht aus Shanghai kommen … Shanghairen mögen noch lieber als Waidiren bailing-Arbeiten3, mögen noch lieber ein ruhiges Leben. Sie mögen keine Risiken, sie mögen ein einfaches sorgloses Leben, aber sie haben viele Ideen/Gedanken, viele internationale Gedanken, aber sie tun sich schwer damit, die Ideen umzusetzen. Sie haben Angst vor Niederlagen. Sie wollen ein friedliches Leben und eine kleine geschlossene Gesell3

White-collar Arbeiten. Gutbezahlte Büroarbeit.

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schaft um sich herum … Deshalb sind unter den 500 reichsten Chinesen nur sehr wenige Shanghairen. Es gibt ein, zwei, deren Vermögen aus dem Immobilienmarkt stammt. Das habe ich mal verglichen, weil ich Shanghairen bin. Aber ich will nicht so ein Shanghairen sein, deshalb gehören zu diesem Kreis nur sehr wenige Shanghairen.“

Waidiren über Shanghairen Peng Yongyang „Shanghairen? Grundsätzlich weiß ich noch so wenig. Vielleicht sind es die Dinge der Großstadt. Wenn ich unsere Heimat mit Shanghai vergleiche, dann haben die Shanghairen keine Menschlichkeit. Zwei Familien wohnen nebeneinander und die Beziehung ist nicht sehr gut. Verglichen mit unserer Heimat, es gibt da ein Sprichwort: ,Nachbarn sind sich näher als entfernte Verwandte‘. In unserer Heimat sind die Beziehungen sehr sehr gut. In Shanghai kannst du in einem Hochhaus Tür an Tür miteinander wohnen, aber keiner kennt sich. Ein Sprichwort sagt. ,Auf zehn Nachbarn acht Heimaten‘ (ԼߺԶ䢭, shi li ba xiang). Im Großen und Ganzen ist es hier so, dass man sich sieht und dann war’s das, also kennen sich sehr viele Leute, Shanghairen kennen wahrscheinlich extrem viele. Ich kann nicht anders, als an solche Sachen zu denken. Es kann sein, dass bei uns zu Hause wenig Menschen sind, die sich nicht kennen, ,auf zehn Nachbarn acht Heimaten‘. Bei uns gibt es ein geläufiges Sprichwort, das sagt, ,auf zehn Nachbarn acht Heimaten‘, da gibt es niemanden, den du nicht kennst. Es scheint, die Shanghairen und die Leute bei uns zu Hause haben in dieser Hinsicht unterschiedliche Gefühle, denn die Leute bei uns sind ziemlich herzlich. Shanghairen können nicht sehr herzlich sein. […] Am meisten hasse ich die alten Shanghaier Weiber.“ S: „Warum?“ P: „Weil sie mit derber Sprache reden, die sind echt zu dumm, völlig übertrieben. Und dann noch, wenn du mit ihnen diskutierst und du Recht hast…, und dann…, weil die Shanghaier Weiber gerne schreien. Zum Beispiel, wenn du mit ihnen deine Meinung diskutierst, dann können sie echt krass schreien. Dann kann ich sie nicht ausstehen. Shanghairen mögen es, dorthin zu gehen, wo die Masse ist/wo eine Ansammlung ist (઎䴴吜ऱ, kan renao de), sogar, wenn nur das Kleinste vorfällt, schreien sie. Plötzlich entsteht eine Menschenmenge um dich. Das lässt mich solche Menschen verabscheuen.“

Wang Shuhua S: „Wie findest du die Shanghairen?“ W: „Ich finde, sie sind nicht so schrecklich, wie das in Romanen immer dargestellt wird. Die Shanghairen, mit denen ich Kontakt hatte, sind alle echt nett. Sie haben mir viele Ansichten mitgeteilt, das schätze ich sehr.“

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Wendy Ding S: „Wie sind Shanghairen denn so?“ W: „Man darf das nicht generalisieren, denn jeder Mensch ist anders, abhängig von Hintergrund, Familie und Lebenserfahrung. Aber grundsätzlich kann ich sagen, dass meine Kollegen, die von Außerhalb kommen, alle herzlicher sind. Shanghairen sind recht kühl und desinteressiert. Zum Beispiel helfen sie anderen nur selten oder sind nur selten herzlich. Das hat mit Sicherheit mit der Stadt und ihren Einwohnern zu tun. Im Chinesischen gibt es einen Satz: Ein Ort prägt den Menschen (ԫֱֽՒԫֱԳ, yi fang shuitu yi fang ren). Die Leute aus dem Norden sind recht warmherzig, die Leute aus dem Süden sind im Geschäft engagiert. Alle kommen aus unterschiedlichen Regionen und haben unterschiedliche Charaktere. Und in der Großstadt ist der Konkurrenzkampf ziemlich heftig, da werden die Menschen leicht kalt und gleichgültig.“

Ye Yiqun & Liu Songwei Y: „Ich bewundere die Schlauheit der Shanghaier Männer. Ich bewundere auch die Schönheit und das Temperament der Shanghaier Frauen. Ihr Leben gefällt mir, und ihre Arbeit ist sehr effizient.“ L: „Ich finde, die Shanghaier Männer sind definitiv gute Männer, das finden alle Waidiren. Denn sie sagen, Shanghaier Männer können alle Hausarbeit machen. Shanghaier Frauen sind darin sehr schlecht.“ S: „Warum ist das so?“ L: „Shanghaier Männer sind ziemlich beständig und gewissenhaft.“ […] Y: „Die Qualität der Shanghaier Männer ist recht gut, denn in der Ausbildung ist Shanghai, diese große Stadt, in jeder Hinsicht besser als andere Städte, denn sie ist international verbunden. Shanghai ist eine ziemlich offene Großstadt.“

Cai Zhihong & Zhu Miaomiao C: „Aber merkwürdigerweise mag ich die Shanghairen nicht besonders, obwohl es doch die Leute sind, die Shanghai zu dem gemacht haben, was es ist. Ich mag das Verhalten vieler Shanghairen nicht besonders. Ich kann nicht sagen, warum. Tatsache ist, dass Shanghairen sehr stark Ordnung halten verglichen mit anderen Orten in China. Ohne Zweifel ist der Wettbewerb hier relativ gerecht, auch Chancen gibt es hier relativ viele. Aber manchmal…, vielleicht liegt es auch daran, dass ich Neuer Shanghairen (ᄅՂ௧Գ, xinshanghairen) bin. Sehr viele Verhaltensweisen der Shanghairen mag ich nicht. Sie übertreiben es zu sehr, das Streiten beispielsweise. Ich kann es nicht sagen, es sind so viele Dinge. Ich habe das Gefühl, dass sie dich in Wirklichkeit nicht verletzen wollen, sie wollen dir nichts Böses oder ihren Vorteil aus dir ziehen. Sie wollen dich nicht belagern und sich in deine Interessen einmischen oder so. Aber sie haben unheimliche Angst, dass sich andere in ihre Interessen einmischen.

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Deshalb umklammern sie alles und gehen mit so einer Einstellung an die Dinge. Das lässt mich und auch andere uns oft unwohl fühlen. Mit einfachen chinesischen Worten: jämmerlich, beschränkt. Aber das ist nicht nur ein Problem der Shanghairen, sondern vielleicht aller Chinesen. Sehr viele zeigen, wie kultiviert und fortgeschritten sie sind, wenn es um kultivierte und fortgeschrittene Phänomene geht. Aber den schlechten Phänomenen folgen sie genauso. Sie haben keine Kontinuität in ihrem Verhalten. Zum Beispiel war ich mit einer Reisegruppe in Japan. Als wir in Tokyo angekommen sind, wussten alle, dass es eine sehr saubere, kultivierte Stadt ist. Alle haben sich entsprechend sehr gut verhalten, alle haben darauf geachtet. Aber gleich nachdem wir wieder in China waren, konnten sie diese Form nicht mehr aufrechterhalten. Beispielsweise, wenn sie in Tokyo keinen Mülleimer gefunden haben, dann haben sie ihren Müll mit ins Hotel genommen und im Zimmer in den Mülleimer geworfen. Aber in Shanghai haben sie das natürlich nicht gemacht. Ich kann nicht sagen, woran das liegt. Größtenteils ist es nicht so, dass sie kein Bewusstsein dafür hätten. Alle wissen, dass sie nicht ausspucken sollen, aber ist es nicht so, dass keiner dafür garantieren kann, nicht in der Öffentlichkeit zu spucken?“ S: „Warum ist das so?“ C: […] „In Sanghai haben sie die Shanghaier „Form“, wenn sie an einen unordentlichen Ort fahren, haben sie diese „Form“ nicht mehr, verhalten sie sich dort genauso unordentlich. Das ist nicht einzig Problem der Shanghairen. Als ich das beobachtet habe, fand ich das äußerst merkwürdig. Einige Normen und Verhaltensweisen wurden nicht beibehalten, wie z.B. die Müllfrage in Tokyo […] Manche zeigen gegenüber sehr höflichen Leuten gute Erziehung, gegenüber Leuten, die anscheinend keine Bildung haben, kann ihr Verhalten sehr grob sein, unhöflich. Ich weiß nicht, welchen Grund das hat. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, aber mir ist aufgefallen, dass es sehr verbreitet ist. Es ist nicht so, dass sie keine Höflichkeit, keine Erziehung haben. Sie haben alle das Bewusstsein, aber sie sind nicht in der Lage, das durchgehend in jeder Situation, gegenüber allen Menschen und Dingen zu realisieren.“ Z: „Im Wesentlichen erklärt das, dass ihr Bewusstsein und ihre Qualität noch kein hohes Niveau erreicht haben.“ C: „Sie wissen das schon. Sie haben das Bewusstsein von gut-schlecht, richtigfalsch, aber sie können es nicht konsequent durchhalten.“ Z: „Ihr Bewusstsein und ihre Qualität haben noch kein hohes Niveau erreicht.“ C: „Richtig, z.B. Höflichkeit. Vielleicht sind sie dir gegenüber sehr höflich, uns gegenüber sehr höflich, aber sie sind bestimmt nicht allen Menschen gegenüber höflich. In unserer Reisegruppe in Tokyo ist keiner aus der Reihe gesprungen, aber in Shanghai gab es niemanden, der sich angestellt hat. (alle lachen) Wirklich, ich weiß nicht, woran das liegt. Kaum waren wir wieder hier am Flughafen, haben alle an ihren Koffern gezerrt und sind gerannt wie be-

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scheuert. Aber in Tokyo waren sie alle total ordentlich, alle standen hintereinander in der Schlange. Ich weiß nicht, warum.“ Z: „Dass sie sich in Tokyo so gezeigt haben, könnte das mit dem Gesichtsproblem zusammen hängen?“ C: „Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wegen des Gesichts, vielleicht aus Eitelkeit. Das Verhalten war jedenfalls hoch interessant. Kaum am Flughafen Pudong angekommen, haben alle an ihren Koffern gezerrt und sind gerannt wie bescheuert. Dabei hat das Geschubse gar keinen Sinn, denn wir waren ja eine Gruppe und sind auch geschlossen raus gegangen, aber sie denken immer, wenn sie sich nach vorne drängen, gibt es dort etwas billiger. Das Resultat daraus ist eine lärmende Gruppe. Die Leute, die nach vorne drängen schubsen die anderen nach hinten.“ S: „Auf dieses Phänomen bin ich auch schon gestoßen. Ich finde das so merkwürdig. Kaum öffnet sich eine Tür, schon stürmen alle darauf zu, obwohl alle innen Platz finden würden und alle langsam hineingehen könnten.“ C: „Die Bevölkerung ist zu groß. Das Konkurrenzdenken um freien Platz ist ziemlich stark.“ Z: „Konkurrenzbewusstsein.“ C: „Konkurrenzdruck, es gibt zu viele Leute. Zumindest was den Bus angeht, denke ich, dass es so ist.“ Z: „Instinkt. Aber man darf Konkurrenz nicht auf den Bus projizieren… wenn ich nicht sitzen kann, dann stehe ich halt. Ich finde es nicht von vornherein erstrebenswert, einen Platz zu finden, deshalb gibt es dort keine Konkurrenz. Ein Sitzplatz ist keine Konkurrenz, es ist ein Ziel. Ich kann das nicht verstehen.“ C: „Wenn man das im weiteren Sinne betrachtet, handelt es sich auch um Konkurrenz. Einen Platz zu haben ist immer noch vorteilhafter als keinen Platz zu haben.“ Z: „…ich finde nicht, dass ich im Konkurrenzkampf gesiegt habe, wenn ich es im Bus schaffe, mir einen Platz zu erkämpfen…“ C: „Das ist auch eine Frage der Erziehung, ein Zeichen von Erziehung. Und für viele gewöhnliche Menschen ist das kein Zeichen von Erziehung, sie sehen darin einen Vorteil. Das ist nichts desto trotz ein Konkurrenzverhalten.“ Z: „Aber…“ C: „Aber in Situationen, wo Eitelkeit oder Gesicht eine Rolle spielt, kennt er seine Erziehung. In bestimmten Situationen kann er sie anwenden, aber seine Kriterien des Verhaltens streben immer noch nach mehr Profit/Nutzen und nicht danach, seine Erziehung zu zeigen. Deswegen ist das in ihren Augen Konkurrenz, deswegen darf man aber Konkurrenz nicht so weit ausdehnen, dass man jedes Verhalten auf Konkurrenz zurückführt.“ S: „Vielleicht lag es daran, dass sie alle in Japan Fremde waren und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollen.“ C: „Ja, sie waren wohl ziemlich vorsichtig.“

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Z: „Und hatten vielleicht noch das Gefühl, ihre Ehre und ihr Gesicht verteidigen zu müssen.

Shanghairen über Shanghaier Frauen Vicky Cao „Andere sagen, Shanghaier Frauen seien sehr kindisch, sie wollen einen Freund, der sie umarmt, und wenn er sie umarmt, fragen sie, was er da macht. Sie reden sehr kindisch. Und Shanghaier Frauen sind verleumderisch, Shanghaier Frauen sind offensichtlich schlecht. Und ich kann sagen, dass es stimmt. Shanghaier Männer finden, dass sie wie kleine Kinder sind. Und die Shanghaier Frauen sind sehr modisch, sie adaptieren japanische, koreanische und ausländische Dinge, sie gehen mit dem Trend. Sie folgen jedem Trend und gewöhnen sich außerordentlich schnell daran.“

Marie Chen „Die Shanghaier Mädchen sind ziemlich modebewusst, sie mögen es, sich zu schminken. In der Uni wollen sie nicht besonders auffallen, aber wenn sie abends ausgehen, in die Disco oder Tanzhalle, oder wenn sie auf die HuaihaiLu gehen, dann tragen sie ziemlich freizügige Kleidung. Außerdem sind die Shanghaier Mädchen ziemlich offen, weshalb man häufig sieht, dass Shanghaier Mädchen mit Ausländern zusammen sind.“ S: „Was glaubst du, woher das kommt?“ M: „Weil sie selbst, also Shanghairen, recht gut Englisch sprechen. Im landesweiten Vergleich sprechen proportional sehr viele Shanghairen sehr gutes Englisch oder andere Sprachen, denn sie haben häufig die Möglichkeit zu sprechen. Zweitens sind ihre Ansichten recht offen. Für sie hat der Umgang nichts Ungutes, deswegen ist es nicht selten, dass Shanghairen mit Ausländern verheiratet sind oder Beziehungen haben.“ […] S: „Du bist auch eine Shanghaier Frau.“ M: „Ja.“ S: „Du sagst, du bist nicht so wie sie. Du bist recht altmodisch.“ M: „Ja.“ S: „Warum bist du so? Warum magst du es nicht, dich herauszuputzen?“ M: „Es ist nicht so, dass ich es nicht mag. Ich mag mich nicht so übertrieben schminken. Ich mag keine freizügige Kleidung tragen. Meiner Meinung nach ist das nicht notwendig.“ (lacht) S: „Wie ist es auf der Universität?“ M: „Auf der Universität gibt es viele solcher Mädchen. In der Universität und außerhalb der Universität sind sie zwei verschiedene Persönlichkeiten. Du weißt, dass es auf der Uni sehr gewöhnlich ist, deswegen schminken sie sich dort nicht und kleiden sich sehr einfach. Aber wenn sie abends zu irgendwel-

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chen Veranstaltungen gehen, oder sich mit ausländischen Freunden treffen oder einen Job finden wollen…, beispielsweise haben wir auf der Uni viele Models, … dann schminken sie sich häufig sehr verführerisch. Vielleicht ist es wegen der Arbeit, vielleicht wegen etwas Anderem. Weil du dich innerhalb und außerhalb der Universität in zwei völlig verschiedenen Umgebungen befindest, musst du unterschiedliche Seiten zur Schau stellen. Ich denke, egal ob es Chinesen sind, Afrikaner oder Japaner, sie alle kleiden sich bei der Arbeit sehr förmlich, genauso die Studenten, und später wenn sie in ihrer eigenen Freizeit sind, dann kehren sie zu ihrem Selbst zurück. Sie halten sich selber in Schranken. Die meisten Leute passen sich beim Schminken der Situation an, beispielsweise nehmen auf der Uni die meisten Leute an, dass du dich so und so zu schminken hast, deswegen schminken sie sich entsprechend. Das ist einfach so. Wenn keiner irgendwelche Ansprüche an dich hat, wenn dich niemand kennt, dann kann die Umgebung dich auch nicht einschränken, dir vorschreiben, wie du dich zu schminken hast, dann kehrt die Person zu sich selbst zurück.“

Connie Peng „Das Besondere an den Shanghaier Frauen ist das Wissen, dass sie mehr gesehen haben als andere Frauen. Und sind sich ihres Status mehr bewusst als andere. Deswegen scheinen sie etwas realistischer zu sein. Manchmal sind sie sogar recht grausam zu sich selbst. Aber tatsächlich ist es genau so, wie sie es machen will, wenn sie darin einen Vorteil für sich sieht. Eigentlich denke ich, dass es nicht nur bei Shanghaier Frauen so ist. Das gibt es überall.“ S: „Ich habe gehört, dass die Shanghaier Frauen ziemlich krass (㢂୭, lihai) sein sollen.“ C: „Vergleichsweise geldgeil, richtig? Aber findest du nicht, dass dies ein Ort ist, wo der Materialismus groß ist? Es kann sein, dass sie geldgeil sind, aber alle Dinge, die sie umgeben, sind so. Wenn du von ihnen verlangst, anders zu denken, dann schaffen sie es nicht, weil ihr Lebensraum so ist. Es stimmt, dass einige Mädchen ziemlich geldgeil sind, ziemlich eitel, sie genießen ein extravagantes materielles Leben. Aber nicht alle Frauen sind so, nicht wahr?! Ich denke, egal ob national oder im Ausland, überall auf der Welt ist es wohl ähnlich.“

Ma Yan „Was haben die Shanghaier Frauen Besonderes? Jetzt strebt China nicht mehr nach Marktwirtschaft. Marktwirtschaft gibt es schon. Ist da der Mensch das Wichtigste oder das Geld? Ich würde sagen, dass die Shanghaier Frauen, die zum wirtschaftlich entwickelten Shanghai gehören, ziemlich pragmatisch sind. […] Ziemlich pragmatisch. Die Faktoren, die eine Partnerwahl bestimmen, sind schon nicht mehr wie früher, wo nach dem Charakter und der Redlichkeit aus-

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gewählt wurde, zu denen man sich ein ganzes Leben lang bekennt. Das hat sich zugunsten der Frage geändert, ob du bestimmte Stärken hast oder nicht, ob du deiner Familie ein ausreichend harmonisches und glückliches Leben bieten kannst. Grundsätzlich muss man sagen, dass sich die Gesellschaft langsam in eine ziemlich pragmatische Gesellschaft verwandelt. Du kannst unmöglich erwarten, dass Liebe auf Armut gründet! Wenn du ehrlich bist und du deine Frau drei Monate lang hungern lässt oder deinen Freund drei Monate lang hungern lässt, dann suchen sie das Weite. (M, S lachen) Ist das nicht so?! Das, was wir sagen, ist ziemlich realistisch. Tatsachen kann man nicht leugnen. Einige Mädchen gucken auch noch auf deinen Charakter, das stimmt. Aber davon gibt es sehr wenige. Oder vielleicht sehen wir es auch nur aus unserer Warte so. Sprich, sie haben ihre persönlichen Faktoren auf die Umstände reduziert [den schlechteren Umständen angepasst], das kann man auch verstehen, nicht wahr? In so einer Situation, klar, dass die Shanghaier Mädchen, weil sie alle Einzelkinder sind, so sind. Es kann sein, dass sich die Überlebensfähigkeit/Lebensfähigkeit ein wenig verringert. Ich meine die Lebensfähigkeit im ursprünglichen Sinne. Das, was Mädchen machen sollten, wie z. B. Essen kochen, putzen, für Hygiene sorgen usw. Kann sein, dass sich diese Fähigkeiten verringern. Nach außen hin sind wir Männer die Starken, aber zu Hause sind wir einander ebenbürtig. Wenn es eine Rangordnung gibt, dann kann eine Familie nicht glücklich und harmonisch sein. Jeder hat seine eigenen Fähigkeiten, Stärken, die er/sie einbringen kann. Wer etwas gut kann, macht es, wer etwas weniger gut kann, lässt es den anderen machen. Natürlich muss sich jeder anstrengen zu lernen. Schließlich muss man nach der Hochzeit 30-40 Jahre miteinander leben. In dieser Zeit vom Anderen zu lernen sollte nicht unmöglich sein. Wer mehr Zeit hat, macht mehr, wer viel zu tun hat, macht etwas weniger. Hauptsache, man hält das Gleichgewicht, dann kann die Familie auch lange glücklich bleiben. Momentan, wo es noch nicht mal die Vorstellung von einer Freundin gibt, mache ich mir auch nicht allzu große Hoffnungen auf etwas Bestimmtes. Ich warte darauf, die Richtige kennen zu lernen und danach gewöhne ich mich an sie. Das ist wie mit Autos, da brauchst du auch erstmal einen Eingewöhnungsprozess, nicht wahr? Erst wenn du dich daran gewöhnt hast, kannst du die Technik ohne Probleme bedienen, richtig?“

Meng Yingying „Die Shanghaier Mädchen? Ich denke, ich vertrete einen Teil. Natürlich gibt es noch einen sehr großen Teil, den ich nicht repräsentieren kann, denn die Leute sagen, die Shanghaier Mädchen seien ziemlich kindisch, vergleichsweise zuo (ֺ剭‫܂‬, bijiao zuo).“ S: „Ziemlich was??“ M: „Dieser Ausdruck ist Shanghai-Dialekt. Das heißt so viel wie affektiert, sie können „Himmel und Erde machen“ (‫چ܂֚܂‬, zuo tian zuo di). Willentlich Ärger zu machen gefällt ihnen. Das Wichtigste ist, dass wenn ein Mann mit

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einer Frau zusammen ist, dass er vor ihr auf den Knien rutscht, aber sie ist mit allem nicht zufrieden. Das ist bijiao zuo.“ S: „Aha, bijiao zuo.“ M: „Ja, zuo zuo zuo zuo zuo. Auf Shanghai-Dialekt heißt das bijiao zuo. (beide lachen) Und dann noch die, die ich repräsentiere, die sind recht lebhaft/offen/optimistisch, relativ brav und einfach. Außerdem sprechen wir gerade heraus. Natürlich spielen die Shanghaier Frauen manchmal die kleine Durchtriebene/Berechnende (՛֨儳, xiao xinji). Es scheint, dass sie schon von kleinauf ihre Hirnwindungen beanspruchen. Sie sind Meister im Reden schwingen, sind in ihrer Argumentation hieb- und stichfest, da kommt niemand gegen an. Von diesen Shanghaier Frauen gibt es sehr viele. Manchmal bin ich in der Firma so. Jeder hat ein wenig von diesen Fähigkeiten.“

Daisy Ding „Wir sind recht hochnäsig, arrogant, leicht aufbrausend, ziemlich verwöhnt, können kein Elend ertragen. Ihr Temperament/Verhalten ist nicht gut, sie selbst sind immer im Mittelpunkt, denn fast alle von ihnen sind Einzelkinder, viele sind wütend auf die Eltern, den Freund oder Ehemann. Aber sie wissen, wie sie sich schön machen können und wie sie ihre Besonderheiten zur Schau stellen können. Sie verstehen sich selbst sehr gut. Je nach ihren Besonderheiten machen sie sich zurecht oder suchen sich ihre Kreise. Recht traditionelle Shanghaier Frauen sind sehr distinguiert, stolz und distanziert, können sich nicht so leicht in eine Gemeinschaft integrieren. Sie haben gewisse Vorstellungen von der eigenen Unabhängigkeit.“ S: „Was ist das Besondere an dir?“ D: „Ich denke, ich bin eine Shanghaier Frau, aber keine typische, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin. Ich habe nirgendwo anders gewohnt. Aber ich bin cleverer als typische Shanghairen, ich bin nicht so beschränkt. Ich kann Situationen im Ganzen einbeziehen. Ich bin recht mutig. Shanghaier Frauen mögen ein unkonventionelles Leben. Sie wollen eine gesicherte Arbeit, ein bequemes und friedliches Heim, einen Mann, der sie liebt, ein Leben ohne zu viel Wellen, ohne viele Risiken und ohne Leid. Aber ich mag das Risiko, ich versuche gerne neue Dinge, ich will raus [aus dieser Stadt] und arbeiten, aber viele Freunde sagen mir, dass Shanghai die beste Stadt des ganzen Landes ist und dass ich enttäuscht würde, wenn ich meinen Job und alles, was ich hier habe, aufgebe und woanders hingehe. Ich glaube auch, dass ihre Ansichten richtig sind, trotzdem habe ich diese Gedanken. Shanghaier Frauen mögen es, in Dreier- oder Fünfergruppen bummeln zu gehen. Meine Lieblingsinteressen sind nicht Schaufensterbummel zu machen und Schminken. Was ich mag, ähnelt eher den Interessen von Jungen, nämlich aktiv zu sein und internationale Dinge zu diskutieren. I am interested in politics [engl.]… Ich finde, das ähnelt eher einem Jungen.“

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Xu Hongwei „Die Shanghaier Frauen sind ein bisschen wie verwöhnte Kinder, sie gehören zu den sehr jungen Mädchen. Ich mag etwas reifere, mit einem selbständigen Charakter.“

Waidiren über Shanghaier Frauen Ye Yiqun & Liu Songwei S: „Habt ihr schon mal daran gedacht, euch eine Shanghaier Freundin zu suchen?“ L: „Ja, daran habe ich schon gedacht. Es ist besser, mit einer Shanghaier Freundin ein eigenes Geschäft aufzumachen.“ S: „Ich habe gehört, dass die Shanghaier Mädchen ziemlich krass sein sollen?“ L: „Ja, ja, das sind sie.“ S: „In welcher Hinsicht?“ Y: „In vielerlei Hinsicht sind sie noch überzeugender, zum Beispiel ihre Einstellung zum Leben. Ihr Verhalten kann nicht als krass bezeichnet werden, sondern sollte respektiert werden. […] Shanghaier Frauen werden immer mehr von den Shanghaier Männern respektiert. Die Shanghaier Frauen emanzipieren sich gerade selbst. Das bewundere ich sehr. Ich finde, den Frauen Kochen beizubringen, macht sie nicht außergewöhnlich. Deshalb finde ich sie sehr fähig.“

Zhu Miaomiao & Cai Zhihong Z: „Oh, Mode. Shanghaier Mädchen stehen von kleinauf unter dem Einfluss der Eltern und lernen sich herauszuputzen. Sie sind immer auf dem neuesten Stand was Mode angeht. Was noch?“ C: „Shanghaier Mädchen sind gut darin zu lernen, sich an die Umgebung anzupassen. Darin liegt ihre besondere Stärke. Was ich damit meine ist, dass sie in eine Umgebung gehören, die ungemein beobachtet wird. Sie haben gelernt, einen Weg zu finden, mit der Umgebung zurechtzukommen.“ Z: „Tatsächlich sind sie scharfsinnig. Leute aus anderen Gegenden sagen, dass Shanghairen scharfsinnig seien. Das zeichnet sie aus.“ C: „Was Umwelt und Menschen angeht, sind Shanghaier Frauen gut im Beobachten.“ Z: „Sie beobachten ganz genau die Worte und Ausdrucksweisen der Leute.“ C: „Das ist Lernen und Anpassen. In dieser Fähigkeit sind sie besonders stark. Ihre Absichten zeigen sie recht, recht…“ Z: „Sehr konkret.“ C: „Sie sind recht gut darin, ihre Umgebung zu nutzen. Die Mehrheit der Frauen aus anderen Gebieten kann sich in dieser Hinsicht nicht mit den Shanghaier Frauen messen.“

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Jin Jing „Was ist das Besondere an den Shanghaier Frauen? Sie takeln sich alle ziemlich auf. Sie scheinen sich ziemlich im Klaren darüber zu sein, was sie wollen, darüber, wo sie selbst…, sie wissen ganz genau, wo sie selbst stehen. ,Es ist ganz klar, was ich machen will, was ich danach machen werde usw.‘ Will damit sagen, sie sind ziemlich clever, ziemlich geschickt.“

Li Nan & Wang Xin S: „Was ist der Unterschied zwischen Shanghaier Mädchen und waidiMädchen?“ W: „Ich finde, wir sind alle fast gleich, es gibt keine allzu großen Unterschiede.“ L: „Wir kommen gut miteinander aus (L, S lachen) Aber ich glaube, sie sind ein wenig höher als wir. Die Bildung, die sie auf der Oberstufe der Mittelschule erhalten haben, ist etwas höher als unsere, ihr Fundament ist etwas höher und ihr Startpunkt ist höher.“ S: „Warum ist das so?“ L: „Die Shanghaier Unter- und Oberstufe der Mittelschule sind sehr gut. Während der Prüfungen spezialisieren sie sich auf bestimmte Prüfungsfragen. Einige experimentelle Programme werden dort realisiert.“

Wendy Ding S: „Ich habe gehört, dass die Shanghaier Mädchen sehr berühmt sein sollen.“ W: „Das stimmt, Shanghaier Mädchen sind sehr berühmt. Das erste was man an anderen Orten sagt, ist, dass sie modisch sind. Sie mögen es, sich aufzustylen. Sie sind vielleicht recht hübsch. In meiner Firma ist eine, die ist ziemlich hohl. Sie ist vielleicht hübsch, aber widmet sich zu sehr sich selbst, den anderen zu wenig. Sie ist so eine, die einen reichen Ehemann finden will. Dieser Wunsch bestimmt sie voll und ganz. Mit anderen diskutiert sie dann darüber, wie reich die Familie ihres jetzigen Freundes ist. Darauf ist sie stolz, bildet sich etwas darauf ein, das ist eine Beförderung/Erhöhung für ihre Stellung. Ich finde, sie selbst ist ziemlich faul. Sie strengt sich nicht an, weiter zu kommen, sie ist nicht sehr selbständig. Sie kann sich nicht darauf verlassen, ein eigenständiges Leben zu führen. Sie verlässt sich auf andere, die ihr ein gutes Leben garantieren. Deshalb ist ihre Basis recht schwach/instabil. Deshalb hofft sie, dass ein Anderer vorbeikommt und sie erhöht. Ich denke, das ist ihre Art zu denken. Ich denke, Shanghaier Mädchen sind gewiss sehr berühmt. Ich erinnere mich, dass ich meiner Freundin geholfen habe, ihr einen Freund vorzustellen. Seine Kondition war, dass er keine Shanghaier Frau wollte, da sie nur Geld im Kopf haben, und natürlich wollen Shanghaier Frauen keinen Freund von Außerhalb (؆‫ߊچ‬৘՗, waidi nanhaizi). Generell ist es so, dass Männer von Außerhalb nicht mit Shanghaier Frauen zusammen kommen können. Das

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gibt es zwar, aber die Männer müssen dann schon außergewöhnlich sein und ein hohes Einkommen haben. Und die, die sie abbekommen, sind dann vielleicht keine Shanghaier Frauen, sondern welche aus den Randgebieten, z.B. aus Jinshan, aus Chuansha, Songjiang oder Jiading, solche Mädchen liegen im Bereich des Möglichen. In den Augen der Shanghaier Männer sind das alles Leute vom Land, recht zurückgebliebene Landeier. Shanghairen nennen alle Waidiren Dorfmenschen, das spiegelt eine Art Respektlosigkeit wider.“

Shanghairen über Shanghaier Männer Vicky Cao „Wenn ich mir einen Ehemann aussuchen sollte, dann wäre in der Rangliste ein Franzose an Nummer eins, denn sie verstehen Romantik. An zweiter Stelle wären Shanghairen, sie sind gentle und soft und geben einem das Gefühl, eine kleine Familie zu sein. Das mögen sehr viele Frauen. Ihre Shanghaier Männer hören alle auf ihre Ehefrauen.“ S: „Warum tun sie das?“ V: „Vielleicht, weil es recht viele Frauen in Shanghai gibt, weil sie recht kindisch sind. Männer denken vielleicht, dass das ein Ausdruck von Liebe ist. Shanghaier Männer sind relativ versöhnlich, akzeptieren diesen Ausdruck von Liebe. Es ist dein Fehler. Er passt sich an diesen Fehler an, denn es ist ein Ausdruck von Liebe, oder dass er auf seine Frau hört, ist Männlichkeit.“

Ren Dongqing S: „Ich habe gehört, dass Shanghaier Männer besonders auf die Frauen hören. Stimmt das?“ R: „Wenn man sich gerade erst kennen gelernt hat, ist das sicher so, denn man will ja was von ihr. Bis man sie rumgekriegt hat, ist man sanft und gehorsam und hört natürlich auf sie. Später, wenn sich die beiden schon sehr gut kennen und über eine Heirat reden, dann ist das egal. Dann muss man nicht mehr komplett auf sie hören, selbst hat man auch seine Vorstellungen. Man überlegt sich selbst auch, was man machen will und muss nicht zu 100% das machen, was sie will. Das ist meine Meinung.“ S: „Kannst du Hausarbeit machen?“ R: „Ja. Aber ich mache das sehr selten. (S, R lachen) Denn ich lebe noch mit meinen Eltern zusammen, das meiste machen meine Eltern. Aber wenn ich später heirate, dann kann ich das, denn die Familie ist ja etwas, was wir gemeinsam aufbauen. Wenn sie Zeit hat und ich nicht, dann kann ich zu ihr sagen, mach du das. Und wenn ich Zeit habe, dann mache ich das auch. Man muss aneinander denken, nicht wahr? Ich kann jetzt noch nicht sagen, das mache ich, das machst du. Das muss entschieden werden, wenn es soweit ist.“

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Xu Hongwei „Da gibt es zwei Punkte: Erstens gibt es den typischen Modell-Ehemann, der z.B. Hausarbeit macht, Essen kocht… in dieser Hinsicht sind die Shanghaier Männer sehr stark. Das andere ist, dass Waidiren die Shanghaier Männer als nicht Manns genug bewerten, weil die Männer anderer Städte finden, dass Shanghaier Männer ein bisschen „kleine Männer“ sind (՛ߊԳ, xiao nanren), weil sie Essen kochen und Hausarbeit machen. Bei ihnen gibt es das nicht. Ich habe viele Shanghaier Frauen gesehen, die nicht kochen und keine Hausarbeit machen können, die sporadisch mal Wäsche waschen. […] Gewöhnliche Gerichte kann ich kochen. Da ich jetzt mit meinen Eltern zusammen wohne, mache ich es meistens nicht. Ich gebe meinen Eltern jeden Monat etwas Geld.“

Waidiren über Shanghaier Männer Wendy Ding „Sie machen Hausarbeit, sie kochen besonders gern. Shanghaier Männer hören auf ihre Frauen. Ich habe von einer Freundin gehört, dass die Shanghaier Frauen nach der Hochzeit die Gehaltschecks ihrer Männer nehmen und bei sich aufbewahren. Das finde ich sehr beängstigend. Die Männer haben das Recht, über ihr eigenes Geld zu bestimmen. Eine chinesische Tradition ist, dass ein Ehepaar gemeinsam über seinen Besitz berät und ihn verwaltet. Meine Eltern haben immer ihr Geld zusammengelegt und gemeinsam ausgegeben. Es wurde nicht gesagt, das ist deins und das ist meins.“

Zhu Miaomiao & Cai Zhihong Z: „Die Männer sind…, und das ist nicht nur unsere Ansicht, das denken sehr viele…, Shanghaier Männer schmeißen den Haushalt.“ C: „Shanghaier Männer kümmern sich sehr um ihre Familie, aber lieben auch das Geschäft.“ Z: „Sie lieben und hüten ihre Frau und ihr Kind. Sie sind bereit, Hausmann zu sein. Das ist ein Charakteristikum, soweit das unsere persönliche Meinung betrifft.“ C: „Egal, was für einen Charakter Shanghaier Männer haben, für die Familie ist das ein ziemlich gutes Phänomen.“ Z: „Besonders für Frauen ist das ein sehr gutes Phänomen.“ S: „Ich habe gehört, dass sie ziemliche Angst vor ihren Frauen haben.“ C: „Stimmt. Sie hören grundsätzlich auf ihre Freundin oder Ehefrau. Sie sind so, ich weiß nicht. Shanghaier Männer, mit egal welchem Temperament, mit welchem Umfeld, sie sind grundsätzlich so, alle können dieses merkwürdige Phänomen bemerken.“ Z: „Das ist auch eine Tradition. Die Söhne sehen, wie der Vater mit der Mutter umgeht. Später ist er dann zu seiner Freundin und Ehefrau auch so, besonders

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aufmerksam. Und das ist nicht nur in der Familie so, das spiegelt sich in allem was er macht.“

2.3 Shanghairen gegenüber Waidiren Die Perspektive der Shanghairen Vicky Cao „Es ist nicht sehr wichtig, aber Shanghairen sind sehr selbstbewusst, denn du bist Shanghairen und kein Waidiren. Wenn es so sein sollte, gibt es immer einige Vorurteile. Wenn einer herausragend ist, wie einer, der rausgeht [aus seinem Heimatort], … Wenn es draußen gut ist, bleibt er. Wenn sein Verhalten und seine Moral nicht gut sind, dann macht das auf Andere keinen guten Eindruck, dann gibt er den Anderen ein schlechtes Gefühl. Darüber hinaus sind die Leute aus dem chinesischen Nordosten ziemlich unzivilisiert/barbarisch. Frauen sprechen extrem langsam und schwerfällig, Männer sind dreist und hemmungslos. Um die Innere Mongolei kümmert sich der Staat nur sehr wenig, weil sie Barbaren/unzivilisiert sind. Und Xinjianger handeln mit Drogen. Ich habe gehört, dass Xinjiang sehr chaotisch/unordentlich/schmutzig sein soll. Aber ich will damit nicht sagen, dass es schlecht ist, es ist nur so, dass einem die Leute dort ein ungutes Gefühl vermitteln.“ […] S: „Hast du schon mal in Betracht gezogen, einen Waidiren als Freund/in zu haben?“ V: „Wenn die Gefühle zusammen passen, wenn er/sie außergewöhnlich ist, dann kann ich es akzeptieren.“

Marie Chen „Shanghai ist in China eine ziemlich wohlhabende Stadt. Deshalb denken sehr viele Waidiren, dass Shanghairen alle sehr arrogant sind. Shanghairen selbst denken, dass sie außergewöhnlich sind. Ich weiß nicht, ob das so ist, aber die meisten Waidiren mögen Shanghairen nicht besonders, sie finden, dass die Shanghairen sich für unfehlbar halten. […] Shanghairen haben ein ziemlich großes Ehrgefühl. In Shanghai gibt es sehr viele Waidiren und es gibt auch sehr viele Ausländer, deswegen kann man sagen, ich weiß nicht, ob es sehr offenkundig ist, … ich würde sagen, dass die Ausländer sehr geschätzt werden und die Waidiren sehr gering geschätzt. Ich weiß nicht, ob es so ist, denn ich bin nicht so. Deswegen weiß ich auch nicht, ob andere Shanghairen auch so sind. Aber es gibt etwas, wenn zum Beispiel im öffentlichen Bus jemand einsteigt mit großen und kleinen schmutzigen Taschen, dann wird das Buspersonal diese Leute unhöflich behandeln, denn im Bus ist es für gewöhnlich schon sehr eng, und wenn dann noch die Waidiren das ganze Abteil okkupieren, dann werden sie recht unhöflich behandelt.

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Was gibt es noch in Shanghai? Eigentlich sind die Shanghairen, von der wirtschaftlichen Seite betrachtet, nicht besonders wohlhabend. Denn Shanghairen sind relativ weit von Zhejiang entfernt. Kennst du Zhejiang?“ S: „Ja.“ M: „Shanghairen gehen nicht besonders gerne Risiken ein, sie mögen es nicht besonders, zum Chef einer Firma ernannt zu werden, sie sind nicht geneigt, sich zu viele Dinge aufzubürden, sie sind mehr dazu geneigt, höhere Angestelltentätigkeiten, bei denen sie 7-8.000 RMB verdienen, auszuüben. Sie geben sich mit einem Kleinbürgerleben zufrieden. Kleinbürgerleben.“ S: „Kleinbürgerleben.“ M: „Kleinbürgertum, das bedeutet, sie können ihre Zeit vertrödeln und abends ihr eigenes Nachtleben genießen. Sie tragen sehr modische Kleidung. Sie leben ein Leben, in dem sie nicht viele Risiken eingehen, sie wollen kein hartes Leben führen, keine Pionierarbeit leisten. Sie machen lieber höhere whitecollar-Arbeiten. Viele Shanghairen sind so. Aber wenn man es mit Zhejiang vergleicht, wo jede Familie ihren eigenen Laden hat… Dort haben, auch wenn ihr Bildungsniveau relativ niedrig ist, sie keine Angst, Niederlagen zu erleiden. Tatsächlich haben sie mehr Geld als die Shanghairen.“

Ren Dongqing & Ma Yan R: „Chancenmäßig hat der Shanghairen die Oberhand, denn Shanghai hat eine relativ stabile Zahl von hukou. Zum Beispiel das Leben. Das ist das Problem, was die Waidiren erstmal lösen müssen. Erst brauchen sie eine Bleibe, dann können sie sich um einen Job kümmern, erst dann kann ein Unternehmen sie anstellen. Aber Shanghairen leben halt hier, darum müssen sie sich keine Sorgen machen. Weil ich eine Wohnung habe, kann ich auch einen Job in meiner Nähe finden.“ […] M: „Wie soll ich sagen? Einige haben möglicherweise nicht sehr gute Verhaltensweisen und so weiter und nicht den gleichen Bildungsgrad.“ R: „Hey, richtig. Wegen des Shanghaier Bildungsniveaus.“ M: „Es gibt einige entwickelte Länder, Europa u.a. z.B. Da ist das durchschnittliche Bildungsniveau etwas höher, nicht wahr? Hier in China gibt es einige provinzielle Besonderheiten, was einen großen Unterschied in der erreichten Bildung ausmacht, was soll man da machen? Das braucht eine Veränderung über einen sehr langen Zeitraum. Vielleicht, in dem man die Menschen dazu bringt, Verhaltensnormen auf ein Blatt Papier zu schreiben, indem man sie dazu bringt, sie auswendig zu lernen und aufzusagen. Dann könnte er sie morgen. Aber das ist sehr schwer und braucht Zeit. […] Man kann sagen, dass in Shanghai Chancengleichheit besteht für Shanghairen und Waidiren, aber die Fähigkeit, diese Chancen auch ergreifen zu können, ist

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entscheidend. Dazu gehören individuelle Fähigkeiten und dann noch einige persönliche Faktoren.“ R: „Ja, das Leben betreffende…“ M: „Es kann sein, dass ein Job für 1.500 Yuan angeboten wird, einem Shanghairen und einem Waidiren. Der Shanghairen hat eine Wohnung, kann bei sich zu Hause essen, er kann mit diesen 1.500 Yuan [ziemlich wenig] Gehalt auskommen. Ein Waidiren muss Miete zahlen, muss jeden Tag essen und andere Lebenshaltungskosten zahlen. Die 1.500 Yuan fließen in die Lebenshaltungskosten. Er hat möglicherweise nichts übrig, oder er hat keine Möglichkeit, die Lebenshaltungskosten aufzubringen. Er kann es sich nicht leisten, dieses Gehalt von 1.500 Yuan anzunehmen. Aber ich habe gesagt, dass die Chancen gleich verteilt sind. Aber er kann aus persönlichen Gründen die Anforderungen nicht erfüllen. Eigentlich ist das der Unterschied. Aber die Angebote/Chancen sind sicher ausgeglichen.“

Meng Yingying S: „Sollte er [dein zukünftiger Ehemann] Shanghairen sein?“ M: „Das ist egal. Früher war es so, dass Shanghaier Frauen unbedingt einen Shanghaier Mann abbekommen wollten, weil die Shanghaier Männer sehr fürsorglich sind oder weil sie ihren Ehefrauen besondere Aufmerksamkeit schenken… Ah (M lacht) Richtig? Früher hat man gesagt, dass in China die „dominantesten Frauen“ in Shanghai wären. Aber mittlerweile glaube ich, dass viele Männer von außerhalb ganz beachtlich sind, im Job oder so. Außerdem hatte ich früher ein Vorurteil gegen waidi Männer, nämlich dass sie gerne die Ehefrau schlagen.“ S: „Echt?“ M: „Ja, dass sie gerne Frauen schlagen. Aber ich glaube, das hat auf der einen Seite mit häuslicher Gewalt zu tun. Gebildete Leute werden weniger solche Tendenzen aufweisen. Auf der anderen Seite glaube ich, dass viele Männer von außerhalb, nachdem sie eine Shanghaier Frau geheiratet haben, dass sie ganz schön unter ihren Ehefrauen leiden. Ich glaube, sie werden von ihnen assimiliert. In meiner Umgebung müssen alle Leute irgendetwas für ihre Frauen erledigen, sie anrufen und machen, was sie sagen. Das ist eine Frage der Assimilation.“ S: „Ich habe gehört, dass Männer aus dem Norden ihre Frauen ziemlich schnell schlagen, aber ich weiß nicht mehr, wer mir das gesagt hat.“ M: „Das ist so. Ich habe letztens eine Fernsehsendung gesehen, die speziell gegen Gewalt in chinesischen Haushalten ist. Mit Sicherheit gibt es das in Hebei, Hubei und Shandong, in den ländlichen Regionen im Norden und anderen zurückgebliebenen Gegenden. Ehefrauen zu schlagen ist dort keine familiäre Gewalt. Sie denken, das wäre eine Sache zwischen Mann und Frau. Ich bin glücklich, so wie es ist, also bleibt es so. Weil China immer noch ein Entwick-

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lungsland ist, ist die Gesetzgebung noch im Aufbau, deswegen sind demokratische Ideen noch nicht so populär. […] Ich zum Beispiel bin in den 70ern geboren, aber das erste Mal von der demokratischen Idee habe ich erst gehört, als ich ‚Unser lautes Heim‘ [‚ 叿ऱ䴮㬚‘, chengchang de fannao, engl. ‚Growing Pains‘] gesehen habe, ich weiß nicht, ob du das gesehen hast. Das ist ein Film, der ziemlich früh aus dem Ausland nach China gekommen ist. Es geht dort um eine amerikanische Familie mit mehreren Kindern, und darum, wie die Kinder und die Eltern miteinander auskommen. Nachdem ich diesen Film gesehen habe, war ich der Meinung, von meinen Eltern demokratische Rechte einfordern zu können.“ (beide lachen) […] S: „Wie ist das Verhältnis zwischen Shanghairen und Waidiren?“ M: „Das Verhältnis zwischen Shanghairen und Waidiren ist eigentlich größtenteils gespannt. Ich denke, so kann man das sagen. Jeder kümmert sich um seine eigenen Sachen. Wir Shanghairen haben unsere eigene Art zu denken und unseren eigenen Lebensstil. Waidiren haben eine fremde Art zu denken und einen fremden Lebensstil. Wenn ich dich nicht akzeptieren kann, dann zwinge ich mich auch nicht dazu. Und wenn du mich nicht akzeptieren kannst, dann kannst du dich auch nicht dazu zwingen. Früher waren auch Waidiren in meiner Firma angestellt, aber irgendwann kamen wir nicht mehr miteinander aus, sie sind alle entlassen worden. Wie soll ich sagen, sie waren alle der Meinung…, ich bin der Ansicht, das lag an den unterschiedlichen Denkweisen. Es kann sein, dass die Shanghairen damit nicht klarkommen, dass sie nicht wirklich damit klarkommen. Ich nenne dir ein Beispiel, (lacht) ein ziemlich gutes: In unserer danwei war mal ein Kollege, der heiraten wollte. Eigentlich wollte er uns Kollegen zu einem Hochzeitsessen einladen. Schließlich waren wir ja alle Kollegen. Wenn man Geld schenkt, dann ist das eine klare Angelegenheit, denn Shanghairen sind gerissen. Wenn du dem Hochzeitspaar soundso viel schenkst, dann bekommst du zu ebensolchem Anlass genauso viel. So ist das. Alle wissen genau, wie viel sie geben müssen. Also haben wir gedacht, weil er ein Kollege ist, geben wir ihm soundso viel. Das hat sich so ein Jahr hingezogen. Erst über ein Jahr später hat der Kollege sich ein Sofa gekauft. Dafür wollten wir Geld sammeln. Wir sind zu zwei waidi Kollegen gegangen, zwei Kollegen einer anderen Firma. Sie haben ganz klar zugestimmt. Aber am nächsten Tag, als wir das Geld einsammeln wollten, haben sie ihr Wort nicht eingehalten, haben einmütig gesagt, sie hätten sich zu nichts verpflichtet. Vielleicht war das, weil sie meinten, das Ereignis würde schon zu weit in der Vergangenheit liegen und außerdem, weil sie den Shanghaier Brauch, wenn du zu einem Hochzeitsessen eingeladen wirst, du später auf jeden Fall irgendetwas in Gegenleistung zurückgibst, als nicht vonnöten erachteten. Sie sind der Meinung, wenn du jemanden zum Essen einlädst, ist das deine Sache, und ob ich dir was schenke oder nicht, ist meine Sache. Wir haben uns jedenfalls lan-

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ge darüber gestritten, es gab sogar großen Streit. Und deswegen haben wir uns schließlich vollkommen von ihnen distanziert. Das ist ein Problem der Denkweise. Aber wie dem auch sei, Shanghairen sind das schon gewohnt. Als ich noch klein war und zu anderen zu Besuch ging, durfte ich das natürlich, aber meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich die Eltern der anderen, Onkel, Tante oder Großeltern auf jeden Fall immer anreden soll. Das ist eine Form der Höflichkeit. Und nachdem ich mein erstes Einkommen hatte, sagte meine Mutter zu mir, dass ich am besten niemals mit leeren Händen irgendwohin zu Besuch gehe. Denn wenn man irgendwohin zu Besuch geht, soll man irgendetwas dabei haben. Obst zu kaufen ist gut. Ich wurde von kleinauf erzogen, so zu sein. Ich weiß nicht, wie sie mir das beigebracht haben, vielleicht ist das eine Art der Distinktion. Natürlich sehe ich die Waidiren aus meiner Perspektive. Wahrscheinlich sehen Waidiren das wieder ganz anders. Außerdem gibt es in Shanghai jetzt sehr viele Waidiren und Ausländer. Meiner Meinung nach können wir alle friedlich nebeneinander existieren. […] Als ich gerade mein Studium abgeschlossen hatte und bei Vorstellungsgesprächen war, haben die Firmen ganz klar gesagt, dass sie keinen Wohnraum zur Verfügung stellen. Viele Waidiren, die nach Shanghai kommen, haben ein hukou Problem, obwohl Shanghai diese Barriere schon verringert hat. Aber jetzt gibt es noch den blauen hukou. Solange du keine Wohnung gekauft hast, hast du einen blauen hukou. Das Problem des hukou existiert also schon nicht mehr, wenn die Waidiren nach Shanghai kommen. Deswegen setzen die Firmen schon keine Grenzen mehr und sagen nicht mehr, dass sie nur Shanghairen wollen. Weil die Firmen keine Wohnungen mehr zur Verfügung stellen, kann man sich draußen [außerhalb der danwei] eine mieten. Außerdem habe ich in einer Zeitschrift gelesen, dass viele Firmen eher Waidiren einstellen würden als Shanghairen, weil Waidiren leidensfähig seien und hart arbeiten würden. Shanghairen wären penibel, sehr penibel, aber ich finde, dass Shanghairen auch leidensfähig sind und hart arbeiten können. (lacht) Man gibt ihnen nur nicht die Chance, richtig? Jedenfalls kann es sein, dass auch andere Firmen chinesische Waidiren bevorzugen, weil sie sich in Shanghai alleine durchkämpfen müssen. Sie müssen hart arbeiten und intensiv lernen, mehr als Shanghairen. Deshalb denke ich, dass das ganze zwischen Shanghairen und Waidiren sehr fair [engl.] abgeht.“ S: „Relativ fair.“ M: „Richtig. Das Hauptproblem ist, dass sie keinen hukou haben, aber das Wichtigste, nach dem die Firmen auswählen, ist immer noch das Können. Klar, Waidiren studieren sehr ernsthaft, wirklich sehr ernsthaft. Die sind echt krass. Das war schon so, als ich noch zur Schule ging. Das beinhaltet die Hochschulaufnahmeprüfung, das weiß ich. Da das Shanghaier Hochschulaufnahmesystem nur ein Prüfungspapier hat, muss jeder Waidiren, der auf eine Shanghaier Universität gehen will, die Prüfungen für ganz China bestehen. Für

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ganz China. Wie groß ist ganz China und wie groß ist Shanghai? Also, deswegen müssen sie, wenn sie auf eine der berühmten Shanghaier Unis, wie die Jiao Da oder die Fudan wollen, müssen sie die Besten der ganzen Provinz oder ihrer Schule sein. Das Studium ist echt eine Plackerei. (lacht) Ich weiß wirklich nicht, wie sie alle Probleme auf ihrem Weg dorthin bewältigen. Das liegt an der Situation Chinas. In den Regionen, in denen das Leben besonders beschwerlich ist, sind die Studenten besonders fleißig. Wer aus den abgelegenen Bergregionen oder aus einem Dorf entkommen und in eine große Stadt will, der kann das nur durch das erfolgreiche Bestehen der Prüfungen erreichen. Wenn er ausziehen muss, um zu arbeiten, dann sieht das Ganze schon wieder anders aus. Da ist ein großer Unterschied in der Entwicklung zwischen den chinesischen Küstenregionen und dem Inland. Die Entwicklung ist nicht ausgeglichen und natürlich will jeder in die guten Regionen.“

Wang Jun S: „Ein Shanghairen und ein Waidiren suchen einen Job, beide haben die gleichen Qualifikationen, für wen ist es deiner Meinung einfacher?“ W: „Für den Shanghairen, denn die Firma erwägt sehr viele Faktoren: die Sprache, die Art wie Waidiren Dinge angehen, könnte nicht passen. Es ist entspannter, einen Shanghairen zu nehmen. Und wenn du selbst hier wohnst, sind die Ausgaben für die Firma geringer, für die Waidiren müssen sie noch einen hukou organisieren und müssen dir noch aus eigener Tasche Wohn- und Fahrgeld zahlen. Das können sie sich bei Shanghairen sparen.“ […] S: „Wie ist deine Ansicht gegenüber Waidiren?“ W: „Ich finde sie sehr gut, denn sie bringen die unterschiedlichsten Dinge mit und ihre Art, Dinge anzugehen und ihre Denkart ist anders als die von uns Shanghairen. Nachdem ich mit einigen in Kontakt gekommen bin, habe ich einige Seiten von ihnen schätzen gelernt, zum Beispiel, dass jemand herkommt, eine Wohnung mietet und hier arbeitet, das ist sehr ermüdend. Sie können ziemlich schwere Zeiten ertragen.“ S: „Was meinst du, wie sich ein Waidiren fühlt, wenn er nach Shanghai kommt?“ W: „Ich denke, es ist ziemlich ungewohnt. Es ist sehr schwierig, sich in dieser Stadt zurechtzufinden. Shanghairen haben über lange Zeit ihre Regeln herausgeformt, wie sie hier mit Dingen umgehen, aber jemand von Außerhalb braucht sehr lange Zeit, bevor er solche Regeln hat. Wenn er sich eingefügt hat, dann wird er bestimmt sehr gut zurechtkommen, dann wird er niemanden beleidigen/verletzen.“

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Sam Zhang S: „Du bist Shanghairen. Hatte das irgendeinen Einfluss auf dein Leben in Nanjing?“ Z: „Nein. Man sagt, dass Shanghairen auf Waidiren herabsehen. Ich denke, das stimmt ein wenig, aber ich mache das sehr selten. Obwohl viele Leute sehr schlicht sind. Aber meiner Meinung nach haben sie in Bezug auf Bildung eine Schwäche, dafür aber in anderer Hinsicht wieder Stärken. Ich vermeide es nicht mit aller Kraft, zu sagen, dass jemand Waidiren ist, vermeide es nicht, mit ihnen zu reden oder zu essen. Ich denke einfach, das ist nicht notwendig. Das ist bis heute so: Du bist Waidiren? Das macht nichts. Waidiren zeigen in Shanghai, dass sie Fähigkeiten haben. Also, ich sehe nicht auf Waidiren herab und ich schaue nicht zu Ausländern auf.“ S: „Wer hat in Shanghai mehr Chancen, der Shanghairen oder der Waidiren?“ Z: „Natürlich der Shanghairen. Wenn du es vom rein technical background [engl.] betrachtest, dann sind Shanghairen und Waidiren gleich. In der IT technology [engl.] hast du nur das, was du gelernt hast. Wenn du in deinem Metier perfekt bist, dann reicht das. Wenn du den Magister hast, dann bist du super. Aber wenn du nur einen Tag in PR, marketing, sales [engl.] zu tun hast, hat der Waidiren noch mehr ###, weil er kein social network [engl.] hat, er kennt niemanden, bei vielen Dingen muss er bei Null anfangen. Verglichen mit mir, wenn ich jetzt meinen Job wechseln will, dann kontaktiere ich einfach die Leute, die ein bestimmtes Gewerbe betreiben. Da mache ich einen Anruf, sage, was ich machen will und frage: ,Was hältst du davon?‘ Das beinhaltet auch einige Freunde, die Waidiren sind. Das spielt keine Rolle. Was einen Waidiren angeht, so hat er in dieser Branche sicherlich einige Probleme.“ S: „Viele Leute haben mir gesagt, dass Shanghairen die Bequemlichkeit mögen und dass die Waidiren keine Schwierigkeiten fürchten und deshalb großen Erfolg haben.“ Z: „Das muss man getrennt betrachten. Warum arbeiten Waidiren fleißiger? Weil sie Angst vor einer drohenden Krise haben. Warum mögen Shanghairen Bequemlichkeit? Weil sie hier ein backup [engl.] haben. Auch wenn sie lose [engl.], haben sie immer noch eine Familie, ein Zuhause. Sogar, wenn sie sich nicht leisten können, eine Wohnung zu kaufen, können sie immer noch bei den Eltern leben. Aber Waidiren in Shanghai, wenn sie in kurzer Zeit scheitern sollten, haben sie zwei Möglichkeiten: eine ist, von neuem zu beginnen, die andere ist, nach Hause zurückzukehren. Dann hast du alles verschwendet, für was du bezahlt hast. Noch dümmere Leute ###. Deshalb sagen die Leute, dass die Überlegenheit der Waidiren keinen Spielraum hat. Um es auf die Spitze zu treiben: Ein Shanghairen, der keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat, ist auch ein Umherziehender. Die beiden [Waidiren und Shanghairen] sind dann absolut gleich.“ S: „Meinst du, dass du einen sehr guten backup [engl.] hast?“

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Z: „Ich glaube nicht, dass ich einen sehr guten backup [engl.] habe.“ S: „Aber du hast einen.“ Z: „Ja. Gesetzt den Fall, dass ich pleite und frustriert bin, weil ich einen Monat lang keinen Job habe, dann gebe ich meine Wohnung auf und sage meinen Eltern, dass ich einen Monat bei ihnen wohnen und essen werde, aber in dem Monat werde ich mich anstrengen, einen neuen Job zu finden. Auch wenn es einer ist, bei dem ich keine 6-7.000 Yuan verdiene, dann würde ich auch einen für 4-5.000 nehmen und erstmal damit anfangen. Das muss ich dann einfach. Aber ich kann zumindest nach Hause zurück und dort wohnen, kann alle Ausgaben auf ein Minimum reduzieren. Ich kann sogar bei vielen Leuten Geld leihen. Aber das ist natürlich nicht das Gleiche. Und wenn du eine Shanghaier ID [engl.] hast, wenn du einen Shanghaier bank account [engl.] hast, dann kannst du immer noch sehr viel machen. Aber viele Waidiren können das nicht, weil sie keine identification [engl.] von hier haben.“

Die Perspektive der Waidiren Zhu Miaomiao & Cai Zhihong C: „Vor zehn Jahren hätte ich noch nicht so kritische Worte benutzt, aber es existieren auf jeden Fall Vorurteile. Sie [Shanghairen] diskriminieren nicht ernsthaft, aber es gibt Vorurteile. Jetzt, weisen viele Shanghairen Waidiren vielleicht immer noch ab, aber ihr Verhalten hat sich geändert. Sie haben schon ein Phänomen erkannt, nämlich, dass die Waidiren, die in Shanghai leben können, relativ hervorragende/exzellente Leute sind. Auf der anderen Seite gibt es in Shanghai auch das allgemeine Phänomen, dass dort sehr viele Wanderarbeiter sind. Aber für die normalen, von außerhalb Gekommenen, haben sie vielleicht im Kopf mehr oder weniger eine Klassifizierung: Du bist kein Shanghairen, ich bin Shanghairen. Ich kann nicht sagen, ob sie Vorurteile haben. Sie sind sich bewusst, dass wir Konkurrenzkraft haben, vielleicht sogar stärker/besser sind [als sie]. Dann haben sie keine Vorurteile mehr, aber es gibt immer noch die Trennung: Du bist kein Shanghairen, ich bin Shanghairen. Sie haben diese Klassifizierung.“ Z: „Das wird es immer geben.“ C: „Ja, ich bin mir dessen nie wirklich bewusst geworden. Vor zehn Jahren, als ich gerade zum Studium hergekommen bin, da habe ich das schon gespürt, aber jetzt, in den gewöhnlichen Situationen, da habe ich mein Berufsumfeld, meinen eigenen Rückhalt. Aber jetzt empfinde ich schon kein unterschiedliches Verhalten mir gegenüber mehr. Aber ich denke, Arbeiter oder die einfachen Leute empfinden das vielleicht. [Wenn beide einen hukou haben,] dann ist es so, wessen Qualifikation besser ist, der bekommt den Job. Wer besser passt, bekommt den Job. Wie wir schon zu Anfang gesagt haben, ist der Wettbewerb hier ziemlich gerecht. Aber das kann man nicht verallgemeinern.“

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S: „Glaubt ihr, dass Shanghairen in anderer Hinsicht mehr Chancen haben als ihr?“ C: „Vielleicht ein wenig mehr. Früher war meine Firma ein Staatsunternehmen. Da haben sie nur Shanghairen eingestellt. Aber mit der Privatisierung wurden die Einstellungskriterien anders, da wurden die Fähigsten und Passendsten genommen. Natürlich habe ich viele Shanghaier Kollegen, aber auch sehr viele Kollegen von außerhalb. Wenn zwei dieselben Qualifikationen haben, und der eine ist Shanghairen, der andere Waidiren, dann kann es sein, dass sie eher den Shanghairen nehmen, weil der schließlich hier wohnt und nicht nach Urlaub fragen muss, um seine Verwandten zu besuchen.“

Wendy Ding & Min Hao W: „Natürlich [bekommt] der Shanghairen [den Job]. Shanghairen haben weitaus mehr Job-Chancen als Waidiren. Als ich einen Job gesucht habe, wollten sie eher einen Shanghairen. Sehr viele Waidiren werden abgelehnt, trotz gleicher Umstände. Manchmal sind die Umstände der Waidiren noch besser als die der Shanghairen. Aber sie wollen trotzdem den Shanghairen, weil sie die gleiche Sprache haben, die gleichen Lebensgewohnheiten und die gleiche Denkweise, denn sie haben die gleichen Verhaltensweisen und sie sprechen Shanghai-Dialekt. Sie lieben es, Shanghai-Dialekt zu sprechen. Wenn du Waidiren bist und Shanghai-Dialekt sprichst, dann sind sie dir ein wenig zugeneigt. Aber es ist offensichtlich, dass Shanghairen leichter Arbeit finden als Waidiren. Aber es gibt auch andere Berufe, die Shanghairen nicht bereit sind zu machen, anstrengende, harte Handwerksberufe. Wenn solche Berufe ausgeschrieben werden, dann nur für Waidiren. Das ist sehr ungerecht.“ M: „Ich finde nicht, dass es ungerecht ist. Zum Beispiel bei Verkaufsjobs musst du Shanghai-Dialekt verstehen, ohne das geht es nicht. Für manche ist der Grund, dass man Shanghai-Dialekt versteht.“ S: „Könnt ihr Shanghai-Dialekt sprechen?“ W: „Nein“ S: „Verstehen?“ W: „Ja.“ S: „Findet ihr es schwer zu erlernen?“ W: „Ich finde es nicht schwer, aber ich bin nicht gerade eifrig dahinterher, es zu lernen, denn ich habe nicht das Umfeld. Alle meine Freunde und Verwandte reden Putonghua. Wenn mich mein Umfeld dazu zwingt, dass ich nicht anders kann als Shanghai-Dialekt zu sprechen, dann könnte ich das sehr schnell erlernen.“

Jin Jing S: „Wo findest du, sind die Unterschiede zwischen Shanghai und, zum Beispiel, Weihai? Wo sind die größten Unterschiede?“

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J: „Meiner Meinung sind sehr viele Seiten unterschiedlich. Denk an Shanghai. Ich kann, ich finde…, alle Menschen…, der Leitgedanke eines jeden Menschen ist es, sich zu fordern und energisch voranzustreben. Ich will noch besser leben. Ich will meinen status quo ändern. Ich will noch besser leben. In Weihai sind viele Leute so, ähm, ich habe jetzt einen Arbeitsplatz und meiner Meinung nach ist er nicht schlecht. Mein Ziel ist es also, diese Arbeit gut zu machen, die Arbeit zu behalten, dann Kinder zu bekommen und danach, dann ist ein ganzes Leben vergangen. Das sind meiner Ansicht nach die Unterschiede, die an beiden Orten in den Köpfen vorherrschen. […] Ich finde, es gibt keine spezielle offensichtliche Fremdenfeindlichkeit oder so. Und offen gesagt, falls es so etwas wie Diskriminierung geben sollte, dann sind es nur ein bestimmter Teil der Leute, die solche Gedanken hegen. Der größte Teil der Leute ist ziemlich freundlich und freundschaftlich.“

Zheng Leibin & Wang Xin W: „Wie ich gesagt habe, ist Shanghai eine sehr aufnahmefähige Stadt, sie kann sehr viele Dinge in sich aufnehmen, alles Wissen, was du mitbringst, die Kultur und solche Sachen, nimmt sie auf. Grundsätzlich verachten sie einen nicht, weil man von woanders herkommt. Das gibt es nicht. Zumindest sind die Shanghairen, auf die ich getroffen bin, alle sehr gut, sie haben alle gegenseitiges Einvernehmen.“ Z: „Ich habe hier auch noch nie das Gefühl gehabt, Waidiren zu sein, denn Shanghai ist von alters her eine Einwanderer-Stadt. In dritter und vierter Generation sind fast alle Waidiren, aber deswegen fühlen sie sich nicht mehr als Waidiren.“

Ye Yiqun & Liu Songwei L: „Natürlich haben sie mehr [Jobchancen]. Shanghairen sind hier groß geworden und haben natürlich mehr Chancen als wir. Wir sind schließlich von Außerhalb nach Shanghai gekommen, um hier ein Geschäft aufzumachen. Natürlich geht das langsam, Schritt für Schritt. Die Leute, mit denen sie in Kontakt kommen, sind andere als die, mit denen wir in Kontakt kommen. In jeder Hinsicht sind ihre Chancen größer als unsere.“ Y: „Was die Frage nach den Chancen angeht, so glaube ich, dass alle die gleichen Chancen haben. Vielleicht bist du Shanghairen, vielleicht verläufst du dich, weil es zu viele Straßen gibt. Wenn wir nach Shanghai kommen um zu arbeiten, haben wir unsere festen Ziele. Gibt es eine große Gelegenheit, dann werden wir sie in kürzester Zeit nach bestem Vermögen ergreifen. In seinem Leben braucht man nicht viele Chancen, man muss nur eine ergreifen, dann hat man schon Erfolg. Deswegen glaube ich nicht, dass Shanghairen so viel mehr Chancen haben als wir Waidiren. Shanghairen haben definitiv mehr Chancen als wir, aber vielleicht sind sie nicht in der Lage, sie zu ergreifen.

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Wenn es sehr viele Straßen gibt, weißt du vielleicht nicht, in welche Richtung du gehen sollst. In jeder Straße scheint die Sonne. Gehst du in die eine Straße, bemerkst du, dass sie gerade umgebaut wird und kehrst um. Du hast Zeit verschwendet und erkennst vielleicht, dass die rückwärtige Straße nicht mehr existiert. Wir Waidiren, die nach Shanghai kommen, müssen nur an einem Glauben festhalten und die eine Chance ergreifen, das reicht schon.“

Chen Chunzhao „In China gibt es eine Redensart, die besagt, dass man anderen helfen soll. Menschen sollen gegenüber anderen eine hilfsbereite Einstellung haben. Du kannst Leute finden, die diese Haltung erwidern. Tatsächlich kannst du auf der ganzen Welt ähnliche Erscheinungen antreffen: Du bist soundso zu ihm, dann ist er auch soundso zu dir. Ein Sprichwort der Chinesen lautet: Das menschliche Herz ändert das menschliche Herz. Obwohl einige Leute eine gewisse Einstellung dir gegenüber haben, einige Vorurteile, die sie seit jeher mit sich herum tragen. Ihrer Meinung nach bist du es nicht wert, dass sie dich beachten. Aber du musst nur nach dem Gleichgewicht deines eigenen Herzens streben. Du darfst nicht mit anderen über ihre Meinung über dich streiten. Du machst das, was du tun musst, das reicht. Letztendlich, was mich angeht, so handhabe ich derlei Dinge auf friedliche Weise.“

Xiuxiu „Was die Menschen und den Bildungsgrad angeht, so gibt es kaum Unterschiede. Aber wenn ein Waidiren nach Shanghai kommt, dann lastet ziemlich viel Druck auf ihm. Er muss alles daran setzen, etwas zu bewegen. Wenn er nicht alles riskiert, hat er keine Chance, in Shanghai Fuß zu fassen. Denn er hat hier keine Familie, keine Freunde. Und hinzukommen noch die Kosten, um in Shanghai zu leben. Und will er in Shanghai bleiben, so liegen seine Lebenshaltungskosten weit über denen eines Shanghairen, zehnmal so viel muss er aufbringen. Nur so hat er eine Chance, in Shanghai eine Existenz aufzubauen.“

Aiguo „Weil du von Außen gekommen bist, wirst du ewig ein Waidiren bleiben. Sogar, wenn du dir eine Wohnung gekauft hast, selbst wenn du dir alles gekauft hast, bleibst du noch ein Waidiren. Weil du nicht von kleinauf dort gewesen bist, du keine gute Basis hast, kennst du es noch nicht gut. Das sind die Wurzeln. Deshalb, egal ob es ein Land ist oder ein Sache, was du letztendlich brauchst, sind Wurzeln.“

Wendy Ding S: „Fühlt ihr euch als Shanghairen oder als von außen Kommende?“ W: „Wailairen. Denn Shanghairen finden nicht, dass wir auch Shanghairen sind, aber auch wir fühlen uns selbst nicht als Shanghairen. Sie haben uns

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noch nicht akzeptiert, aber uns ist es auch egal, denn es gibt sehr viele Waidiren, wir sind nicht arm an Freunden.“

2.3.a Exkurs: Xiuxius Suche nach ihrem Platz in Shanghai Der lebensgeschichtliche Exkurs zu Xiuxius Erfahrungen als neu nach Shanghai gekommener Waidiren, soll stellvertretend als ein Beispiel angeführt werden, das für viele Waidiren, die nicht durch ein Studium oder berufsbedingte Versetzung o.ä. nach Shanghai und direkt in ein festes Umfeld kommen, gilt. In einer Art Glücksrittertum auf der Suche nach einer besseren Zukunft und einem Platz in der Gesellschaft beginnt für viele ein abenteuerlicher, entbehrungsreicher und oftmals auch enttäuschungsreicher Orientierungslauf durch Shanghais Straßen. Zu den Personen, die ebenfalls wie Xiuxiu ohne höheren Schulabschluss bzw. auch ohne Abschluss nach Shanghai gekommen sind, gehören Lan Qian, Wang Shuhua, DVD, Lin Xiaoke, Ye Yiqun, Xie Zhili, Peng Yongyang, Jimmy Yang und Liu Songwei. Xiuxiu: „Ende 2002 bin ich zum Frühlingsfest nach Hause zurückgekehrt. Nachdem ich zu Hause war, wusste ich nicht mehr, wo ich noch hingehen könnte. Ich wollte nicht mehr in Zhejiang arbeiten. Ich fand, Handel zu treiben war zu hart. Ich habe Leute sagen hören, dass Shanghai sehr gut sein soll. Ich hatte damals in Shanghai nicht einen einzigen Freund oder Verwandten. Ich hatte nur eine Tasche. Meine Mutter hatte mir eine große Tasche voll Tee-Eier gekocht, ungefähr dreißig Tee-Eier. So bin ich gegangen. Meine Mutter hat mich [zum Bahnhof] begleitet und den ganzen Weg über geweint. Sie wollte mich nicht gehen lassen. Sie sagte, so jemand wie ich, ohne Bildung und ohne Rückhalt, was soll der schon machen. Sie hatte Angst, dass mich da draußen alles einschüchtert. Aber ich wollte raus und mich herausfordern. Ich habe etwa seit meinem 17. Lebensjahr Handel getrieben. Ich habe mich schon so lange abgerackert und ich hatte es noch zu nichts gebracht. Und ich fand, Shanghai war wunderbar. Im Fernsehen wurde eine Stadt der Ausschweifungen gezeigt und wunderschöne Gebäude. Das wollte ich mir selbst ansehen. Also bin ich mitsamt meinen Idealen und Träumen nach Shanghai gekommen. Als ich ankam, dachte ich, Shanghai sei ein endloses Meer von Menschen. Es waren so viele Menschen, die in die U-Bahn und in die Busse wollten. Und alle sahen schöner aus als ich. Alle haben besser geredet als ich. Ich habe gesagt: „Was mache ich?“ Als ich nach Shanghai gekommen bin, habe ich sehr viele Batik-Stoffe mitgebracht. In Guizhou werden Batik-Stoffe produziert. Nachdem ich angekommen war, habe ich in Jing’an gewohnt. Da war ein Landsmann, der auch sehr hart gearbeitet hat. Er hatte keine Zeit, mich zu begleiten, aber er hat mir einen Stadtplan gegeben, in den ich gucken durfte. Ich

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habe die Batik-Stoffe anderen Leuten gezeigt, damit sie sie sich ansehen konnten, um sie zu verkaufen. Dann bin ich jeden Tag mit dieser Karte durch Shanghai gebummelt, so wurde ich mit dem Jing’an Viertel sehr vertraut. Ich habe mir abgeschaut, was die eleganten Shanghairen besser machen als wir. Ich fand, dass unsere [Stoffe] nicht besonders gut sind, aber billiger. Natürlich gab es Unterschiede. Nachdem ich [die Stoffe] alle verkauft hatte, was sollte ich da tun? Ich war in Shanghai immer noch eine Fremde an einem fremden Ort. Also habe ich mir gedacht, ich suche mir einen Job. Nachdem ich mit der Suche begonnen hatte, überlegte ich mir, doch weiter Handel zu betreiben, denn nachdem ich das schon etliche Jahre gemacht habe, hatte ich doch ein wenig Geld beiseite geschafft. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich nach Investitionsmöglichkeiten umgeschaut. In der Qipulu, beim Chenghuangmiao und in noch vielen anderen Läden habe ich mich umgeschaut. In meiner Heimat bekommt man für 500/600 Yuan sehr schöne Läden an sehr guten Plätzen. Aber in Shanghai, egal wo ich gefragt habe, waren es überall einige tausend Yuan, wenigstens 3-4.000, und dann ist der Laden noch sehr schlecht, gute kosten1020.000 Yuan, noch bessere habe ich gar nicht gewagt anzuschauen. Solch teure Läden konnte ich nicht mieten. Da hat eine Freundin gesagt, du warst schon an so vielen Orten und hast nirgendwo deinen Platz gefunden. Geh morgen mal auf den Xiangyang-Markt und sieh dich um. Bevor sie mich dazu aufgefordert hatte, dachte ich schon daran, wieder zurück nach Hause zu fahren. Ich war sogar schon am Bahnhof, um mich nach Zugtickets zu erkundigen. Dort habe ich mir überlegt, wenn ich schon nach Shanghai gekommen bin, kann ich auch erst etwas mit meinem Geld machen, bevor ich zurückfahre. Und was sollte ich auch Zuhause machen? Ich habe also gesagt, wenn ich schon mal hier bin, dann riskiere ich auch etwas, egal ob das Leben oder Tod bedeutet. Erst einmal etwas riskieren und dann weiter sehen. Am nächsten Morgen bin ich ganz früh zum Xiangyang-Markt gegangen. Dort habe ich unheimlich viele Menschen gesehen, und sehr viele Ausländer. Ich hätte nie gedacht, dass dort so viele Ausländer seien, noch dazu so gut aussehende. Alle Leute auf dem Xiangyang Markt trugen schöne Kleidung und alle Chefs liefen dort mit breitem Grinsen rum, deshalb habe ich mir gedacht, dass sich dort ganz gute Geschäfte machen lassen. Der Markt dort war riesig, und nachdem ich schon so viele Jahre Handel getrieben hatte, dachte ich mir, je größer der Markt, desto besser die Geschäfte. Je weniger Menschen, desto weniger Geschäft. Also habe ich mir überlegt, wie ich dort eine Führungsposition kriegen könnte. Ich hatte noch keine Ahnung, worein ich investieren sollte, also habe ich dort als Angestellte angefangen. Kaum war ich in den einen Laden gekommen, wollte mich die Chefin. Sie hatte auch ein Restaurant, hat jede Menge Geschäfte betrieben. Sehr gut. Sie wollte also, dass ich dort anfange zu arbeiten. Nach ungefähr zwanzig Tagen wusste ich Bescheid, wie das mit der Steuer für Industrie und Kommerz läuft und wie man sich einen Laden mieten kann. Genau etwas später lief der Vertrag des Ladens neben uns aus und ich habe ihn genommen. […] Ich hatte nun den Laden gemietet, aber ich wusste noch nicht, was ich

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dort verkaufen konnte. Ich wusste nur, dass es auf dem ganzen Xiangyang Markt keine Guizhouer Batik-Stoffe gab. Also habe ich in Guizhouer BatikStoffe investiert. Ich habe meine Schwester angerufen und ihr gesagt, sie soll auf meinen Laden aufpassen. Nachdem ich den Laden schon zehn Tage gemietet hatte, stand er immer noch leer. Ich bin dann nach Hause gefahren, um die Ware zu holen. Ich wusste auch nicht, woher ich sie holen soll, nur, dass sie in Guizhou produziert wird. Ich hatte keine genaue Adresse. Ich saß einen Tag und eine Nacht im Zug. Dann habe ich mir sehr viel Kleidung, Tischdecken und Schals angesehen, so ungefähr drei Tage lang. Ich habe zigtausende Waren eingekauft, das hat zehn Tage gedauert, zwei Tage für die Rückfahrt. Bis ich die Ware gesehen habe, hat es sieben Tage gedauert. Nachdem ich zurück war, habe ich mein Geld innerhalb von zwanzig Tagen wieder reingeholt. Ich dachte, die Geschäfte in Shanghai laufen nicht schlecht. Ich hatte damals einen Drei-Monats-Vertrag. Die Jahresmiete wurde immer in Abschnitten gezahlt. Nachdem ich drei Monate gearbeitet hatte, dachte ich, dass es in Ordnung ist. Als die nächste Drei-Monats-Rate fällig wurde, haben sie die Preise erhöht, sehr erhöht. Als ich den Laden gerade gemietet hatte, lagen die Preise bei 7.000 Yuan, dann haben sie auf 13.000 erhöht. Da habe ich mich nicht mehr getraut, ihn zu mieten. Ich habe gedacht, man verdient dabei so wenig Geld. Nachdem ich ihn nicht mehr gemietet hatte, fand ich an einem anderen Ort einen winzigen Stand, ungefähr 4-5 m² groß, der immer noch 6.000 Yuan im Monat kostete. Und die Lage war auch nicht gut. So habe ich jeden Morgen von 9:00 Uhr bis abends um 21:00 Uhr gearbeitet, jeden Tag zwölf Stunden. Das habe ich drei Jahre gemacht. Per Telefon habe ich meine Ware von Guizhou bestellt. Jeden Tag war ich von morgens bis abends unterwegs. Das habe ich drei Jahre lang gemacht. In Shanghai hatte ich immer noch keine Freunde, keine Verwandte. Ich hatte nur eine Freundin, und die war auch sehr beschäftigt. Deshalb habe ich nur sehr selten mit Freunden Kontakt gehabt. Ich habe sehr gelitten. Wenn die Geschäfte gut liefen, ging es. Wenn die Geschäfte nicht gut gingen, hatte ich eine harte Zeit, dann habe ich an meine Mama zu Hause gedacht. Wenn man so einem starken Druck ausgesetzt ist, fühlt man sich psychisch/im Herzen unwohl. Es war bitter, niemanden zu haben, mit dem man sprechen konnte, oder dass ich nicht einfach völlig natürlich meine Freunde anrufen konnte. Mein erstes halbes Jahr in Shanghai habe ich geweint. Es war grundsätzlich hart und der Druck sehr stark. Jeden Monat musste ich 6.000 Yuan für die Miete aufbringen. Ich habe mich damals nicht getraut, eine teure Wohnung zu mieten, also habe ich eine 500 Yuan teure Wohnung gehabt, die war echt rott.“ S: „Hast du dort allein gelebt?“ X: „Ja. Und dann noch die Telefonrechnung, Nahrungsmittel, die zusätzlich auf die 6.000 Yuan Standmiete kamen. Ich brauchte jeden Monat 7.000-8.000 Yuan. Für so einen kleinen Stand musste ich sehr viel aufbringen. Das habe ich zwei Jahre gemacht, jeden Tag, 365 Tage. Zum Frühlingsfest bin ich nicht

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heimgefahren, ich habe mich keinen Tag ausgeruht. Manchmal waren die Geschäfte schlecht, wie sollte ich da den Stand behalten?“ […] S: „Findest du, dass sich dein Leben in Shanghai verändert hat?“ X: „Ich finde schon, dass sich mein Leben verändert hat. Das heißt, mein eigenes Leben, meine eigene Unzulänglichkeit ändert sich langsam. Früher hätte ich nie so ein Gespräch wie jetzt führen können. Wenn ich früher Handel getrieben habe, dann habe ich nur um den Preis gefeilscht und oberflächliche Worte benutzt, für meine eigene Zukunft hat mir das nicht geholfen. Ich hatte überhaupt kein Selbstbewusstsein, ich konnte auch kein Make-up auftragen oder mich mit Leuten unterhalten. Wenn nur der Handel gut war, war ich glücklich. Liefen die Geschäfte schlecht, habe ich ein Gesicht gezogen. Dann war es echt scheiße. Körperlich ging es mir auch nicht gut, ich hatte Magenprobleme. Wenn ich viel zu tun hatte, habe ich nichts gegessen, hatte ich nichts zu tun, habe ich was gegessen. Auf diese Weise ging es mir körperlich immer beschissener.“ […] S: „Was war dein erstes Gefühl, als du in Shanghai angekommen bist?“ X: „Das erste Gefühl? Ich fand die Häuser hier sehr schön, die Menschen fand ich auch schön. Alle waren gut gekleidet. Ich fand die Menschen in Shanghai sehr gut. Und die Häuser. Mein Gefühl war, dass hier alles sehr kommerzialisiert ist. Ich mochte diesen Ort der Herausforderung sehr. Als ich aus dem Zug stieg, fragte ich mich, wo in dieser endlosen Masse von Menschen mein Platz ist.“

2.3.b Exkurs: Amway An dieser Stelle soll Einblick gegeben werden in die Methoden des weltgrößten und weltweit operierenden Amway Strukturvertriebs, der sich auf den Handel mit Kosmetika, Nahrungsergänzungs-, und Reinigungsmitteln spezialisiert hat. Fünf offizielle und ein inoffizieller Interviewpartner kamen im Laufe des Jahres 2004 mit dieser Firma in Kontakt und auch selbst ließ ich mir das Vertriebssystem vorstellen und nahm an einer der Schulungssitzungen teil, die von Xie Zhili, Xiuxiu, Lin Xiaoke, Zhang Jixiao, Wang Shuhua und Lan Qian regelmäßig besucht wurden. Wang Shuhua & Lan Qian S: „Amway ist in China sehr groß. Was ist das für ein Unternehmen?“ L: „Das Beste daran, zu Amway zu gehen ist, dass man viele gute Freunde findet. Dann sind sie zu allen sehr gut, alle sind fröhlich. In dieser Gemein-

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schaft gibt es immer Menschen, die dir etwas beibringen können. Ich finde, in der Gesellschaft ist das schon schwieriger.“ W: „Ich finde ihre Produkte wirklich gut. Wenn man es vergleicht, sind sie wirklich sehr gut. Hier kannst du nicht nur Produktkenntnis erlernen, sondern auch etwas über menschliches Verhalten. Ich bin hier die Schwächste. Hier kann ich über Gesundheit lernen und ich kann noch Freunden helfen. Wissen über Kosmetik bringt mehr Selbstbewusstsein. So ist es einfacher, einen Job zu finden.“ S: „Wie seid ihr in dieses Umfeld gekommen? Haben euch Freunde eingeführt oder wie lief das?“ L: „Ich bin eher zufällig in dieses Umfeld gekommen. Als ich nach Shanghai gekommen bin, suchte ich einen Ort zum Wohnen. Im Park habe ich Xie Zhili kennen gelernt. Sie hat gesagt, ich könnte bei ihr wohnen. Ich bin also vorbei gekommen und habe es mir angesehen, gerade als ihr großer Bruder AmwayUnterricht gehalten hat. Ich habe mich hingesetzt und zugehört. So bin ich also in dieses Umfeld gekommen.“ W: „Ich wurde von Zhou Xiao Ying angerufen, sie ist Suzhouerin. Als wir damals in Suzhou waren, war sie erst 19 Jahre alt. Sie hat Japanisch studiert. Sie hat abends bis 22:00 Uhr gearbeitet. Morgens ist sie um 5:00 Uhr aufgestanden, um Japanisch zu lernen. Ich habe sie sehr bewundert. Gleichzeitig war sie sehr ehrlich und aufrichtig gegenüber Freunden. Sie hat mich angerufen und gesagt, dass man bei Amway lernen kann. Deswegen bin ich hergekommen. Bei Amway gibt es das nicht, dass irgendwer der Chef eines anderen ist, denn die Bestimmungen des Unternehmens sagen, dass ich und er zusammenarbeiten.“ […] S: „Ihr verdient momentan kein Geld, richtig? Wann könnt ihr Geld verdienen?“ W: „Richtig, wenn unsere Denkart und unser Können den Anforderungen gerecht werden, dann können wir [Geld verdienen]. Am wichtigsten ist die Kompetenz.“ S: „###“ W: „Unsere eigenen Wissensbereiche sind zahlreich, also können wir sie auf noch mehr Produkte anwenden.“ S: „Wie viel Geld könnt ihr monatlich maximal verdienen?“ L: „Man muss das so sagen: du kannst sehr viel Geld verdienen. Amway hat ein Prämiensystem. Wenn wir uns anstrengen, können wir später mehrere Millionen im Monat verdienen.“ S: „Aber jetzt gebt ihr Geld aus?“ L: „Ja. Ich finde, das kann man als eine Art Investition bezeichnen, eine Investition ins Studium. Ich bin nach Shanghai gekommen, um weiter zu lernen. Ich lerne zu coachen. Wenn ich damit fertig bin, will ich selbst Coach werden.

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Jetzt, wo ich lerne, Amway zu machen, muss ich auch einen Teil meines Geldes ins Studium stecken.“ S: „Unterstützen euch eure Eltern dabei oder finanziert ihr das selbst?“ L: „Mir helfen meine Eltern.“ W: „Ich finanziere mich selbst.“ […] S: „Was ist das Beste an Amway?“ L: „Ich finde, das Beste sind die Freunde, die mir Mut machen und dass ich daran glauben kann, mich zu verbessern.“ W: „Das Beste ist, hier eine Hoffnung zu haben.“ […] S: „Was sind eure Wünsche?“ L: „Ich habe hier in Shanghai zwei Dinge, das eine ist Amway, das zweite ist Fortbildung. Diese zwei Dinge sind alles in meinem Leben. Wenn ich diese zwei Sachen gut mache, dann kann ich alle meine Träume verwirklichen.“

Lin Xiaoke S: „Wie habt ihr euch kennen gelernt?“ L: „Meine traditionelle Profession ist im Verkauf, da bin ich draußen ziemlich viel rumgelaufen. Mittags habe ich mich im Xujiahui Park ausgeruht, Zeitung gelesen und dort ein kleines Mädchen kennen gelernt. Sie hat gesagt, sie macht eine Marktumfrage. So haben wir uns kennen gelernt und Kontaktnummern ausgetauscht. Wir haben Kontakt gehalten und sie hat mich in so eine gute Umgebung gebracht. Ich hatte Glück, gleichzeitig so viele Freunde kennen zu lernen.“ […] S: „Hast du eine Freundin?“ L: „Momentan nicht, früher auch nicht, denn früher war ich Student, hatte eigene Gründe und Pläne. Und jetzt in Shanghai arbeite ich von 9:00-17:00 Uhr, früher habe ich auch in der Firma gewohnt, habe sehr wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt. Außerdem, nachdem ich hierher gekommen bin, diese Tür hier geöffnet habe, wo alle Spaß miteinander haben, bin ich sehr glücklich.“ S: „Findest du es einfach, in Shanghai Freunde kennen zu lernen?“ L: „Sehr einfach.“ S: „Warum?“ L: „Weil ich hier viele Freunde habe, die wiederum viele Freunde haben, die sie mir vorstellen. Wenn ich jemanden kennen lerne, kann ich niemals wissen, was er/sie für Freunde hat und mir vorstellt. Deshalb finde ich es sehr einfach, neue Freunde kennen zu lernen. Das hängt vom Umfeld ab. Früher hatte ich in Shanghai keinerlei Bewusstsein dafür. Früher war mein Umfeld nicht groß. Heute finde ich, neue Freunde kennen zu lernen ist kein schweres Ding.“ S: „Woher kommen deine neuen Freunde?“

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L: „Die meisten meiner Freunde kommen aus Zhejiang, nördlich davon kenne ich nicht viele.“ S: „Was ist Freundschaft?“ L: „Freundschaft ist echt, kein Gefühl. Wirtschaftlich gesehen haben sie keine bösen Absichten. Alle kommen aus echten freundschaftlichen Gefühlen zusammen. Alles was ich weiß, sage ich dir, alles was du weißt, sagst du mir.“ S: „Hast du einen besten Freund?“ L: „Weil ich noch nicht lange in Shanghai bin, sind die Amway-Freunde meine besten Freunde. Als ich in Hangzhou auf die Schule gegangen bin, hatte ich einige sehr gute Freunde. Meine Freunde sind an diesen beiden Orten. Weil ich noch nicht lange inmitten der Gesellschaft arbeite, denke ich, dass meine Freunde langsam mehr werden.“ S: „Als du das Mädchen getroffen hast, das eine Marktumfrage machte, woher wusstest du da, dass sie Amway macht (೚‫ܓڜ‬, zuo anli)?“ S: „Sie hat mir nicht gesagt, dass sie Amway macht. Sie war Studentin, die gleichzeitig einen Nebenjob gemacht hat. Nachdem wir uns kennen gelernt haben, hat sie mich in das Studentenumfeld eingeführt. Da ich im SalesBereich in dieser Umgebung sehr viel lernen kann, dachte sie, mir in dieser Hinsicht nützlich zu sein. Denn das ist eine Chance. Weil das damals ein Sonntag war, bin ich einfach vorbeigegangen. Nachdem ich in das Umfeld eingetreten war, wusste ich, dass ich hier bleiben soll.“ […] S: „Wo liegt bei dir der Druck?“ L: „Als ich hergekommen bin hatte ich wenig Kontakt zu Leuten, habe nicht richtig gelebt, wenig verdient, nicht viel gelernt. Ich hatte das Gefühl, nicht weiter zu kommen. Aber nachdem ich in diese Gemeinschaft gekommen bin, war alles ganz anders. Ich habe ein paar echte Freunde hier, ich kann hier etwas über Gesundheit und Schönheit lernen und gleichzeitig mein Wissen weitergeben. Ich habe hier einen Freund aus meinem Heimatort. Ich habe ihn meinen Freunden vorgestellt. Er hat mir so sehr gedankt, darüber war ich sehr glücklich. […] Ich hoffe, lange in Shanghai bleiben zu können. In Shanghai werde ich mich weiterhin anstrengen. […] Momentan steht noch die Weiterbildung an erster Stelle, denn jetzt, wo ich gerade in die Gesellschaft eingetreten bin, habe ich noch nicht vergessen, was ich gelernt habe. Ich denke, das Wissen, das ich mir über mein Business erarbeitet habe, will ich in der Gesellschaft erweitern, denn Spezialwissen muss erst mit Lebenserfahrung angereichert werden. Noch kann ich nicht leben, noch fehlen mir einige Erkenntnisse.“

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Xiuxiu „Im zweiten Jahr habe ich dann die taiwanische Lehrerin Li Zhu kennen gelernt.“ S: „Ist das die, die heute Abend kommt?“ X: „Heute Abend kann sie nicht herkommen, eine gute Freundin von ihr kommt heute. Als ich die Lehrerin kennen gelernt habe, war sie auch nur sehr selten in Shanghai. Damals hat sie ein Team in Shandong, Qingdao aufgebaut. Sie ist von Qingdao nach Shanghai geflogen und wieder nach Shandong, von da nach Shenzhen und nach Taiwan. Ein, zwei Mal habe ich abends mit ihr Kaffee getrunken. Ich fand, sie hatte viel an sich, was/wovon ich lernen konnte. Danach bin ich zu Amway gekommen. Ob ich Amway mache oder nicht, ist egal. Die Freunde hier sind supergut. Die Lehrerin hat mir auch nicht beigebracht, wie man Amway macht. Ich denke, weil ich Handel getrieben habe, habe ich ein wenig Energie. Auf jeden Fall war ich glücklich, jeden Abend zu Freunden zu gehen, das war wie eine eigene Familie, das gab mir ein Gefühl wie bei der eigenen Familie. Damals war die Arbeit auch sehr stressig, wir waren nicht jeden Tag zusammen. Manchmal bin ich mit ihnen ausgegangen. Nach ein, zwei Jahren habe ich wieder einen Laden auf dem Xiangyang Markt aufgemacht, einen großen Laden. Ich fand, dass die Geschäfte dort nicht schlecht sind, ich wollte den Laden nur für eine bestimmte Zeit aufmachen und dann abstoßen. Ich wollte nicht mehr leiden, wollte es etwas lockerer angehen, mir eine eigene Wohnung kaufen. Aber im letzten Jahr, im März, April habe ich keine Geschäfte gemacht. Aber ich bin jemand, der mit einem Laden Geld verdienen muss. Und beide Läden haben Defizite gemacht. Dabei ist all mein erspartes Geld draufgegangen. Genau zu der Zeit kam die Lehrerin wieder nach Shanghai. Da habe ich zwei Leute angestellt, ich habe gedacht, wenn ich da bin, verdiene ich nur wenig, wenn ich nicht da bin, verdiene ich auch nur wenig. Also war ich jeden Tag mit der Lehrerin unterwegs. Ich habe die Lehrerin dabei begleitet, als sie Kosmetik angewandt hat, als sie die Produkte angewandt hat, ich habe die Amway-Dinge gelernt. Die Lehrerin hat gesagt, dass die Geschäfte auch sehr gut laufen. Ich sagte: ,Wirklich?‘ Danach hat sie mir das Verdienstprinzip vorgestellt. Ich dachte, wenn ich das wirklich machen sollte, wäre das nicht schlecht. Wenn du diese Position übernimmst, verdienst du so viel Geld. Später, nachdem ich nach und nach verstanden habe, hätte ich immer noch nicht gedacht, bei Amway einzusteigen. […] Die Lehrerin hat gesagt: ,Such dir einen Hinterausgang, solange du Profit machst. Wenn du frustriert bist, kannst du diesen als Rückzugsmöglichkeit nutzen.‘ Mein traditionelles Business hat mir Verlust eingebracht, ich habe keinen anderen Job, den ich ausüben könnte. Sollte ich mir Geld leihen, um die Chance zu ergreifen, mein Business gut zu machen? Was sollte ich machen außer Handeln? Ich habe keine Ausbildung, um in einer Firma zu arbeiten, keiner will mich. […] Später hat die Lehrerin einen Satz gesagt, der mir bewusst geworden ist: ,Wenn du deinen Weg gut gehen willst, dann musst du immer eine Alternative parat haben. Ein Beispiel: Ein Mercedes oder ein

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BMW haben hinten einen Ersatzreifen. Diese Autos können alle zehn Jahre lang fahren und hinten haben sie immer eine Alternative drin liegen. Wir Menschen können Jahrzehnte umherlaufen, einige Menschen können sogar hundert Jahre rumlaufen, es hängt nur davon ab, ob wir Alternativen haben.‘ Damals hatte die Lehrerin absolut Recht. Als mein direkter Weg nicht funktionierte, habe ich also meine Alternative genutzt. Auf diese Art und Weise habe ich meine Profession geändert. Die Lehrerin sagt immer, die Ansichten/Ideen der Eltern seien die Startlinie der Kinder, denn wir selbst haben von kleinauf noch keine guten Ansichten/Ideen. Unsere Eltern können uns nur groß ziehen. Ich habe schon auf der Startlinie verloren. Heute ist mein Wendepunkt. Ich habe so eine tolle Chance bekommen, die ich sehr gut ergreifen werde. Ich hatte immer viele Lehrer, die mir geholfen haben, die mich unterstützt haben. Ich glaube fest daran, dass ich in diesem Umfeld Erfolg haben werde. So bin ich also zu Amway gekommen. Das war ein Prozess von der Kindheit bis hin zum Eintreten in die Gesellschaft.“ […] S: „Hast du jetzt deinen Platz gefunden?“ X: „Ja.“ S: „In dem Umfeld von Amway?“ X: „Ja. Als ich zu Amway gekommen bin, haben die Lehrer den Platz für mich erschaffen. Als ich noch in meinem alten Geschäft tätig war, war ich immer zu beschäftigt, um mich orientieren und mir einen Platz suchen zu können.“ […] S: „Bei Amway hast du jetzt eine ganze Menge gelernt…“ X: „Ich finde, eine formale Schulbildung hat nichts Gutes. Was Konversation angeht, so habe ich sie sehr vervollständigt. Früher habe ich keine Gesprächsthemen gefunden, über die ich mit Leuten reden konnte, da hatte ich auch keine hochgradigen Lehrer oder Freunde mit viel Geld. Alle Freunde haben Handel getrieben. Erst nachdem ich da raus gekommen bin, habe ich Freunde mit unterschiedlichem Status gefunden. An ihrer Seite habe ich eine Menge gelernt, ich habe die schlechten Seiten an mir abgelegt und von ihren Stärken gelernt, um mich selbst zu perfektionieren.“

Nachdem ich durch die oben zitierten Interviewpassagen und durch Xie Zhili auf Amway aufmerksam wurde, da ich den Eindruck hatte, dass immer wieder gleich klingende Formeln über Freundschaft, Gemeinschaft und Umfeld vorgebracht wurden, wollte ich selbst am Amway „Unterricht“ teilnehmen, um mir ein eigenes Bild zu verschaffen. In einem Gebäudekomplex, in dem sich sowohl Büros als auch Schulungsräume und Wohnbereiche befinden, erfolgte der „Unterricht“. Es stellte sich heraus, dass Xiuxiu zusammen mit fünf anderen Personen in dem Schulungsraum und zwei angrenzenden Räumen lebt. Dort befanden sich etliche Klappstühle, ein Tisch und eine Tafel.

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Ein Rentner, genannt Li laoshi (Lehrer Li), führte zusammen mit Zhang Jixiao den „Unterricht“ durch. Folgende Beschreibungen der Schulungssituation sind direkt nach dem Unterricht aufgezeichnet worden und fast wortwörtlich meinem Forschungstagebuch entnommen. „Geschaffen wird eine Atmosphäre der Empathie, an Gefühle appelliert, von Schicksalen berichtet. Zunächst wird kein Bezug zu Amway deutlich. Erfolge Einzelner werden herausgestellt. In die Schicksalsgeschichten fließen durch Produktvergleiche und Beispiele allmählich die herausragenden Qualitäten der Amway-Präparate mit ein: ‚Amway Geschirrspülmittel ist so natürlich und verträglich, dass ein Bauer sogar die Verdauungsprobleme seiner Schweine und eine offene Wunde an seinem eigenen Bein damit kurieren konnte‘, so Li laoshi. Das Auditorium klatscht, nickt und stöhnt. Li laoshi verlangt Zustimmung für seine Behauptungen, indem er seine Sätze mit „richtig, oder nicht?“ (㢑լ㢑, dui bu dui) endet, und er erhält die erwartete Reaktion auf seine Emphase. Die Sprache ist blumig und beispielhaft, sehr leicht eingängig und scheint das Publikum in seinen Bann zu ziehen. „Jeder weiß“ (Օ୮वሐ, dajia zhidao) ist ebenso ein rhetorisches Mittel der Manipulation, das seine Wirkung nicht verfehlt. Gruppenchöre wiederholen bestimmte einstudierte Formeln, wenn das Stichwort vom Lehrer fällt. Es geht um Geld und Träume und um traumhafte Verdienstmöglichkeiten bei Amway, die an der Tafel dargelegt werden.4 Shanghai als Ort der Chance spielt eine gewichtige Rolle, an dem jeder mit Amway sein Glück machen kann. Aber auch Shanghai als Ort der Konkurrenz, an dem man nur erfolgreich sein kann, wenn man all seine Energie in das Amway Business steckt. Am Ende gibt es stehende Ovationen und Verbeugungen, man findet sich in kleinen Gruppen zusammen, stellt sich vor und findet neue Freunde, denn Freundschaft ist das Wichtigste bei Amway, man tauscht Kontaktdaten aus und verspricht sich, füreinander da zu sein und Erfahrungen miteinander auszutauschen.5“ Im Großen und Ganzen war diese Schulungserfahrung ziemlich erschreckend, da das Zusammentreffen für mein Empfinden schon fast Sektencharakter hatte.

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Amway verkauft Schulungsmaterialien, in denen entsprechende Methoden gelehrt werden. Hier wird bewusst die eigene Betroffenheit über diese Art der Schulung aus dem Forschungstagebuch entnommen und die Situation recht dicht beschrieben, da der Charakter der Zusammenkunft deutlich mehr Ideologie stiftenden denn informativen Charakter hatte.

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Mit der Orientierungslosigkeit, der Einsamkeit oder Naivität Arbeitsuchender und neu nach Shanghai gekommener Waidiren wird kalkuliert und Versprechen werden gemacht, die letztlich nicht erfüllbar sind. Später eingeholte Informationen über das mir bis dahin unbekannte Unternehmen, sollten meine Skepsis bestätigen: Unternehmenskultur und -Philosophie basieren auf einem Strukturvertriebsnetz, das vorwiegend durch Freundschaft und Beziehungen bestimmt wird. Und dies in zweifacher Hinsicht: Verkauft werden Amway-Produkte an Freunde, Bekannte und Verwandte, noch mehr Profit kann jedoch erzielt werden, wenn ein Verkäufer gleichzeitig neue Amway-Verkäufer rekrutiert, von deren Verkäufen dann ein gewisser Prozentsatz an Boni an den Werber geht. Je mehr Verkäufer geworben werden, desto mehr Boni können zusätzlich zu den erzielten Direktverkäufen erlangt werden. Der Einstieg bei Amway wird also über freundschaftliche Kontakte generiert, ohne dass Geschäftsabsichten dargelegt werden. Die geworbene Person wird in ein „Umfeld“ eingeführt, nimmt an Schulungen teil, es werden große Gewinne versprochen, zudem werden Versprechen an eine Steigerung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls gegeben, an Erweiterung des Horizontes und Erhöhung des Bildungsniveaus. Niemand muss große Investitionen tätigen, um bei Amway als Berater einzusteigen, egal, welchen Schulabschluss jemand hat, jeder habe dort die Möglichkeit, zu einem erfolgreichen, von Amway ausgezeichneten Berater zu werden, der von der Gesellschaft anerkannt wird. Soweit die Lockungen von Amway. In eine Gesellschaft wie die chinesische, wo Beziehungen (䤤ߓ, guanxi) von enormer Wichtigkeit sind und auch in jeder Lebenslage gepflegt werden, passt das Amway-System geradezu perfekt. Das Motto „eine Hand wäscht die andere“ trifft hier auf Selbstverständlichkeit. Jemand, der allein in einem Park sitzt oder nach einer Wohnmöglichkeit sucht (Beispiel Lin Xiaoke, Lan Qian), wird angesprochen, und ihm werden neue „Freunde“ vorgestellt. Er ist dankbar dafür, nicht mehr allein zu sein und nimmt an den (kostenpflichtigen) Schulungen teil, erwirbt Produktkenntnis, verkauft Produkte und wirbt neue Mitglieder (Lin Xiaokes Freund aus dem Heimatdorf). Im Namen der Freundschaft wird ein Geschäftsmodell immer weiter ausgebaut, das letztendlich nur einigen wenigen tatsächlichen Nutzen bringt, nämlich denen an der Spitze der Pyramide, die Schulungen organisieren und etliche Verkäufer unter sich haben. Letzten Endes führen bei den weniger Geschäftstüchtigen die anfallenden Seminarkosten, mögliche Reisekosten, das Werben um Freunde, das teilweise auch mit finanziellen Mitteln betrieben werden muss, der Ankauf von Amway-Produkten und gescheiterter Abverkauf

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zu erheblich höherem Geldaufwand als Einnahmen. Und bei den Meisten bleibt nach Abzug aller anfallenden Kosten nur ein kleines Taschengeld übrig, wenn überhaupt. Entsprechend kann darauf hingewiesen werden, dass Wang Shuhua und Lan Qian mittlerweile nicht mehr in Shanghai sind, bei Amway sind sie gescheitert. Xie Zhili hat sich ebenfalls von dem Unternehmen distanziert. Ihr Bruder Zhang Jixiao und Xiuxiu sind weiterhin dabei, allerdings lassen ihre monatlichen Einkommen um die 2.000 RMB nicht auf übermäßigen Erfolg schließen und das Versprechen von mehreren Millionen RMB Gewinn pro Monat, in ein realistischeres Licht gerückt, für sich stehen. Dieser Exkurs steht beispielhaft für mehrere Aspekte, die für Waidiren, die in eine neue Stadt kommen, von existentieller Wichtigkeit sind: Zwischenmenschliche Kontakte, Freundschaft, Perspektiven, Hoffnung, Hoffnung auf einen Platz in der Gesellschaft, eine Aufgabe, Bestätigung, etc. Ebenso zeigt er, wie hilflos und bzw. oder anfällig diese Personen für Versprechungen jeglicher Art sind. Hinzu kommen bei vielen keine bis niedrige Schulbildung, Naivität und fehlende Erfahrungen in einer Großstadt. Überwiegend geleitet von medial vermitteltem Wissen haben sie erschwerte Ausgangspositionen, um sich in Shanghai aufs Meer hinaus zu wagen (Հ௧, xia hai)6.

3. Sicht auf individuelle Kontexte Dem sozialen System Familie kommt in den folgenden Themenkomplexen ein besonderer Stellenwert zu, da sich aufgrund der in ihm immanenten emotionalen Bindungen, Abhängigkeiten, Traditionen und Wertevorstellungen eine jeweils ganz spezifische Auseinandersetzung mit der Außenwelt ergibt. Aber auch umgekehrt wirkt die Außenwelt auf jede Familienkonstellation anders ein. Durch die tägliche Auseinandersetzung des Individuums mit beidem, Familie und Außenwelt, ergeben sich wiederum gänzlich unterschiedliche Verhaltensmuster, Argumentationsstrukturen, aber auch Erlebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen etc. Wegen des enorm großen Stellenwertes von Familie im Leben der meisten Befragten, insbesondere der Shanghairen, die fast alle bis zur 6

Chinesisches Wortspiel: Der Name Shanghai (Ղ௧) heißt wörtlich „aufs Meer hinaus“. Xia hai (Հ௧) heißt „aufs Meer hinaus fahren“, aber auch „von einem Amateur zum Profi werden“, sich also im Meer Shanghai zurechtzufinden lernen.

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eigenen Heirat mit den Eltern zusammenleben, muss um die Beschreibung der familiären Ausgangssituation und allen eng damit verbundenen Themen wie hier z.B. Liebe, Sexualität und Heirat, ein verhältnismäßig großer Rahmen gesteckt werden. Im Laufe der Sozialisation kommen innerhalb der Familie und der Gesellschaft generelle Entwicklungsmechanismen bei der Entstehung von Werten und Normen hinzu, die sich auf alle lebensweltlichen Fragestellungen projizieren lassen und entsprechend auf grundsätzlich alle Themen innerhalb der Interviews und auf bestimmte Identitätszuschreibungen Einfluss nehmen. Somit werden die Bereiche Beruf, Freizeit und Freundschaft ebenso von Familie und familial geprägten Einstellungen durchdrungen, wie auch die im Abschnitt V.4. folgenden allgemeinen Themen.

3.1 Familiensituation Familiensituation Shanghairen Sam Zhang S: „Ich möchte mir dir über deine Eltern reden. Sind sie beide Shanghairen?“ Z: „Ja, beide.“ S: „Wie ist eure Beziehung zueinander?“ Z: „Unsere Beziehung ist in Ordnung. Sie schätzen mich sehr und ich sie auch. So halt.“ S: „Sind sie streng?“ Z: „Nein, sie finden, junge Leute sollten offen sein, sie kümmern sich nicht um besonders viele Dinge. Von kleinauf habe ich ein ziemlich selbständiges Leben. Sie sagen nicht, das ist so und so.“ S: „Würdet Ihr euch als Freunde bezeichnen?“ Z: „Das kann man nicht so nennen, ich stehe zu ihnen nicht so close [engl.] wie zu Freunden. Ich schätze sie bloß. Manchmal habe ich das Gefühl, ihnen Respekt zeigen zu müssen und ein Geschenk vorbeizubringen, so ist das.“ […] S: „Ist deine Familie groß?“ Z: „Ist okay, nicht besonders groß. Meine Mutter hat viele Verwandte. Sie ist meine Stiefmutter. Meine leibliche Mutter ist verstorben, deshalb ist meine Familiensituation etwas kompliziert. Ich habe Verwandte auf zwei Seiten, von meiner Stiefmutter und meiner richtigen Mutter. Deswegen sind es recht viele.“ S: „Warst du als kleines Kind glücklich?“

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Z: „Bevor meine Mutter gestorben ist, war ich wirklich sehr glücklich. Danach war es [das Glücklichsein] nie mehr so wie vorher. Jetzt fühle ich mich sehr gut.“ S: „Ist das Verhältnis zu deiner Stiefmutter gut?“ Z: „Ziemlich gut.“ S: „Fährst du oft nach Pudong, um sie zu besuchen?“ Z: „Zukünftig werde ich oft zu ihnen fahren. Früher nur einmal alle zwei Wochen.“ […] S: „Mit wie viel Jahren hast du dein Zuhause verlassen?“ Z: „Als ich auf die Uni nach Nanjing ging. Danach bin ich wieder nach Hause gekommen, habe dort kurz gewohnt, bin dann aber wieder ausgezogen, sobald ich mein erstes Geld verdient hatte. Ich war es nicht mehr gewohnt, mit ihnen zusammen zu leben.“ […] S: „Wenn du ziemlich viel Geld verdient hast, hast du dann deinen Eltern was abgegeben?“ Z: „Nein, manchmal habe ich ihnen etwas gegeben.“ S: „Haben sie viel Geld?“ Z: „Sie haben nicht viel Geld, aber es fehlt ihnen an nichts. Wenn man ihr Alter betrachtet, dann fehlt es ihnen an nichts. Denn was sie im Monat verdienen und das, was sie im Monat ausgeben, davon können sie sehr gut leben. Denn sie gehen nicht in Bars oder Karaoke singen oder kaufen Gucci und Prada.“

Xu Hongwei S: „Du wohnst mit deinen Eltern in einem Zimmer, nicht wahr?“ X: „Ja, richtig. Wohnungen in Shanghai sind ziemlich teuer. Es kann sein, dass ich mich innerhalb kurzer Zeit dazu entschließen werde, eine Wohnung zu kaufen. Es kann sein, dass wir von diesem Ort wegziehen müssen. Wenn es soweit ist, wird uns die Regierung so etwas wie Unterstützungsgeld zahlen. Wenn es soweit ist, kann es sein, dass wir uns dazu entscheiden, in eine etwas größere Wohnung zu ziehen.“ S: „Wie ist eure Beziehung im Zusammenleben? Denn sie sind ja schon ziemlich alt.“ X: „Meine Eltern gehören zu den einfachen Leuten. Ich gehöre auch zu den vergleichsweise Traditionellen. Deswegen sprechen wir normalerweise während des Abendessens über momentan aktuelle Themen und Dinge. Aber über die eigenen Probleme und Gefühle, Freunde und so, spreche ich sehr wenig mit ihnen.“ S: „Warum?“ X: „Das ist nicht so einfach zu sagen. Wenn ich ihnen sage, dass ich eine etwas bessere Freundin habe, für die meine Gefühle stabil sind, dann kann ich

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mit meinen Eltern darüber reden. Aber meistens mache ich das nicht, denn manchmal gehst du aus, um dich zu amüsieren. Wenn du wiederkommst, ist es schon spät und deine Eltern bequatschen dich ziemlich stark. Anschließend vermeide ich unnötige Heiterkeit. Junge Menschen sind ein wenig leichtfertig. Und wenn ich mit ihnen rede, sprechen sie darüber ziemlich häufig. “ S: „Streitest du dich mit deinen Eltern?“ X: „Hin und wieder kommt es vor, dass wir uns streiten. Manchmal, wenn ich eigene Sachen machen will, kümmern sich meine Eltern zu sehr darum. Manchmal erwidere ich ihnen dann zwei scharfe Worte (咇㤋‫ ؁‬ding liang ju ).“ S: „Bist du recht gehorsam oder ziehst du dein eigenes Ding durch?“ X: „Ich bin ziemlich gehorsam, weil ich mit meinen Eltern zusammenlebe. Normalerweise gehe ich abends gegen neun Uhr schlafen, denn meine Eltern sind schon alt und müssen arbeiten, deshalb darf es nicht zu spät werden, und ich gehe jeden Abend um neun Uhr schlafen. Keiner meiner Freunde geht so früh schlafen wie ich. Das ist schon ziemlich speziell.“

Wang Jun S: „Wie findest du die Ansichten deiner Eltern? Altmodisch oder eher offen?“ W: „Ich finde, genau richtig. In einigen Dingen sind sie recht altmodisch, aber sie akzeptieren auch leicht Neues.“ S: „In welchen Bereichen sind sie altmodisch?“ W: „Zum Beispiel beim Wohnungskauf und den Möbeln die da rein sollen. Sie mögen Mahagoni, antiquarische Möbel. Und die Zuneigung zur Familie. ,Du musst unbedingt heiraten, uns einen Enkel schenken, um den wir uns kümmern können.‘ Da sind sie sehr altmodisch.“ […] S: „Üben deine Eltern Druck auf dich aus? Indem sie dir zum Beispiel sagen, du sollst bald heiraten und ein Kind bekommen, um das sie sich kümmern können?“ W: „Schon ein bisschen, meine Mama ein bisschen. Mein Vater sagt, das eilt noch nicht, ich soll mir Zeit lassen beim Suchen.“ S: „Ich finde das sehr interessant. Die meisten Interviewten sagen, dass die Mutter Druck macht. Warum ist das wohl so?“ W: „Mütter glauben, dass Söhne eine Ehefrau finden sollten, wenn der Job gesichert ist. Väter sind da recht locker, aber im Herzen denken sie doch auch so, sie sagen es nur nicht.“ […] S: „Redest du mit deinen Eltern über Probleme bei der Arbeit?“ W: „Über die alltäglichen Dinge, und wie ich mit meinen Kollegen zurechtkomme, da frage ich sie schon um Rat, aber was Gefühlsfragen angeht, darüber rede ich mit Freunden. Über Schwierigkeiten bei der Arbeit rede ich mit

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Freunden und hole mir dort Rat, frage sie um ihre Meinung und lasse mir von ihnen mit Ideen helfen.“

Qiuqiu „Ich denke, das ist auch ein kultureller Unterschied. Ich denke, dass der Generationsunterschied zwischen uns und unseren Eltern noch wesentlich geringer ist als zwischen unseren Eltern und noch jüngeren, denn wir sind noch unter traditioneller Erziehung groß geworden, will sagen, ich kann meine Eltern verstehen. Noch jüngere Kinder können nicht mal mehr ihre eigenen Eltern verstehen. Wenn wir ausgehen, um uns zu amüsieren, dann denken unsere Eltern, dass wir wirklich eine glückliche Generation sind, die alles machen kann, was sie will, die studieren kann, die neueste Mode tragen, der es materiell sehr gut geht. Ich sage ihnen dann, dass wir zwar materiell gesehen gut dran sind, aber dass das Bewusstsein/die Seele sehr lost [engl.] ist. Tatsache ist, dass die Generation unserer Eltern eine wirklich hart arbeitende ist. Ich finde, dass die Generation unserer Väter viel bemerkenswerter ist als unsere, sehr intelligent. Sie sind zur Zeit der Befreiung geboren, sind in den 50ern, 60ern ausgebildet worden. Sie waren alle sehr intelligent, aber als es dann auf die Universität gehen sollte, hatten sie dazu keine Chance mehr wegen der Kulturrevolution. Sie wollten studieren, aber hatten keine Möglichkeit und haben keine weitere Ausbildung bekommen. Stattdessen wurden sie zur Umerziehung aufs Land geschickt. Ihr Geist wurde gehemmt. Diese Bitterkeiten haben sie alle verdaut. Später, nach der Hochzeit in den 80ern, 90ern sind sie dann durch die wirtschaftlichen Umbrüche gegangen. Ich finde, sie haben gelitten. Sie sind absolut außergewöhnlich. Und nun ist diese Stadt so. Ich glaube, es gibt hier viel, was sie nicht verstehen. Deshalb will ich mit meinen Eltern einen Ausgleich finden. Und außerdem lieben sie uns. Das sollten wir auch verstehen. Ich versuche, einen Ausgleich zu finden, damit es uns allen gut geht, deshalb kommen wir ganz gut miteinander zurecht. Manchmal gehe ich mit ihnen aus, Kaffe trinken, irgendwo essen, ins Kino, damit sie auch die neuen Dinge dieser Stadt erleben, damit sie auch mich verstehen können. Ich denke, so kommen wir recht gut miteinander aus.“

Lu Jingjing „Ich mag meine Eltern sehr, aber das bekommen sie nicht mit. Wenn sie mir sagen, wie ich was machen soll, dann mache ich es nicht so, deswegen akzeptieren sie mich nicht ganz so. Ich bin die ältere Schwester und trage Verantwortung gegenüber meinem Bruder. Ich finde, diese Verantwortung ist ein großes Opfer, das sie von mir verlangen. Ich finde, ich habe mein eigenes Leben. Ich kann nicht seinetwegen mein Leben aufgeben. Ich mag die Methode, mit der meine Eltern meinen Bruder erzogen haben, nicht besonders. Ich bin nicht bereit, da mitzumachen und da auch noch viel Zeit für aufzubringen. Wenn ich denke, dass es ein Problem gibt, sage ich, dass sie ein kleines Kind so nicht erziehen können. Ich sage es ihnen zwar, aber sie sind damit über-

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haupt nicht einverstanden. Meine Mutter findet mich dann sehr egoistisch, meint, dass ich ihm nicht helfen will. Das ist ein sehr großes Problem. Zu Hause hat nun alles mit meinem Bruder zu tun, denn er kommt bald auf die Uni. Wenn wir in dieser Hinsicht Kontroversen haben, dann spreche ich oft mit meinen Eltern darüber. Aber ich habe bemerkt, dass ich mit ihnen nicht darüber reden kann, denn ihre Ansichten verlaufen parallel zu meinen. Niemals kann ich ihnen Vernunft einreden. Und schließlich habe ich aufgegeben. Aufzugeben ist meine erste Methode. Meine zweite Methode ist, ihnen einige Dinge nicht ehrlich zu sagen, z.B., dass meine ehemaligen Mitbewohner zwei französische Männer waren und was meine Mutter mit Sicherheit nicht hätte akzeptieren können, egal, was passiert wäre. Deswegen habe ich ihr erzählt, ich würde mit einem Mädchen und einem Typen zusammen wohnen. Das konnte sie noch hinnehmen, aber zufrieden war sie noch nicht. Sie hat es nie erfahren. Wenn sie vorbeigekommen ist, waren sie nie da, trotzdem war sie recht erleichtert, denn sie weiß, dass ich mein Gehirn benutze, wenn ich etwas mache, dass ich weiß, was ich machen kann und was nicht. Vor vielen Dingen hat sie keine Angst, aber sie mag nicht, dass ich so bin. Ich finde, Lügen zu erzählen, ist eine gute Methode, weil ich keine allzu großen Konflikte mit meinen Eltern will. Bei manchen Dingen hat man einfach keine Möglichkeit, es ihnen klar zu machen. Die Beziehung zu meiner Mutter ist etwas besser als die zu meinem Vater. Ich weiß, dass er mich sehr mag. Ich glaube, ich liebe und respektiere meinen Vater etwas mehr [als meine Mutter]. Mit meiner Mutter rede ich mehr. Sie ist eine sehr traditionelle Frau, die schwer etwas akzeptieren kann. Wenn ich permanent mit ihr rede, kann sie mich vielleicht langsam akzeptieren. Sie verabscheut Menschen, die lügen, einmal lügen. Beim zweiten Mal glaubt sie dir schon nicht mehr. Wenn ich sie anlüge, darf ich mich nicht erwischen lassen. Wenn ich ihr von Dingen erzähle, dann versteht sie sie vielleicht mit der Zeit und versucht, mich zu akzeptieren. Aber mein Vater ist ein vollkommen anderer Mensch. Ich respektiere ihn, weil er ein absolut nicht einfacher Mensch ist. Seit meine Mutter meinen Bruder bekommen hat, hatte sie keine Arbeit mehr. In Shanghai war es zu der Zeit sehr teuer, eine Wohnung zu kaufen. Er hatte nichts in Shanghai, er hatte gerade begonnen, einige Beziehungen aufzubauen, deswegen hat er angefangen, seine eigene Firma aufzubauen. Unseretwegen hat er sehr hart gearbeitet. Erst jetzt können wir sehr gut leben. Das haben wir meinem Vater zu verdanken. Ich bewundere ihn sehr. Er kann in einer fremden Stadt dafür kämpfen, innerhalb der Gesellschaft seinen Platz zu bekommen. Aber etwas mag ich überhaupt nicht an meinem Vater. Er ist absoluter Patriarch. Seine Ansicht ist krass. Er denkt, er ist der Herr im Haus, er verdient das Geld. ,Ihr seid die Kinder und meine Ehefrau. Ihr müsst alle auf mich hören.‘ Meine Natur ist so, dass ich auf jemanden höre, der Recht hat. Wenn jemand Unrecht hat, egal wer, dann höre ich nicht darauf. Er ist der Meinung, ich bin seine Tochter, er ist so gut zu mir, und ich höre nicht. Wenn ich mit meinem Vater Konflikte habe, ist er nicht froh darüber und spricht nicht mehr mit mir und ich auch nicht mit ihm. Mit meiner Mutter kann ich streiten. Ich finde Auseinandersetzung recht gut, zumindest weiß

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dann jeder, wo der Konflikt ist, wie deine Ansicht ist, wie meine Ansicht ist und wo dazwischen unsere Probleme liegen. Aber mein Vater ist so, wenn ich nicht auf ihn höre, dann analysiert er das auch nicht mit mir. Ich kann nicht akzeptieren, dass er so ist. Deshalb ist mein Konflikt mit meiner Mutter und der mit meinem Vater sehr unterschiedlich. Er diskutiert grundsätzlich nicht mit mir, er gibt mir keine Chance zu diskutieren. Er denkt, was er mir sagt, ist richtig. Wenn du nicht auf mich hörst, dann rede ich kein Wort mehr mit dir. Ich finde, ich habe einen Riesenkonflikt mit ihnen. Ich kann mich nicht in ein Kind verwandeln, das nicht mehr mit ihnen spricht. Wenn ich zu Hause bin, dann rede ich mit ihnen, aber fange nicht an, irgendetwas mit ihnen zu diskutieren. Meistens ist dann unsere Beziehung auch sehr gut, und das wissen sie auch. Tatsächlich haben sie mich in mancher Hinsicht aufgegeben. Mich wieder erziehen zu wollen ist dann wieder genau so [stressig], also lassen sie es. Du bist ein großes Kind, mach halt keine zu exzessiven Dinge. […] Ich mag meine Eltern sehr, aber das bekommen sie nicht mit. Wenn sie mir sagen, wie ich was machen soll, dann mache ich es nicht so, deswegen akzeptieren sie mich nicht ganz so. Vor einiger Zeit gab es zwischen uns einen Bruch, weil ich ausziehen wollte. Ein Grund war meine Arbeit, die war zu der Zeit sehr stressig, ich musste viele Überstunden machen, bis nachts 23:0024:00 Uhr. Ich wollte sie nicht in ihrem Schlaf stören, außerdem war das Büro sehr weit von zu Hause entfernt. Natürlich waren meine Eltern nicht glücklich. Warum willst du ausziehen und nicht mehr in unserer Nähe sein? Wir wissen überhaupt nicht, was du machst. Ich habe sehr lange mit meiner Mutter ständig gestritten. Ich konnte auch nicht sehr heftig mit ihr streiten, denn ich wusste ja, dass sie nur mein Bestes wollte. Streiten ist keine schöne Sache. Später bin ich doch ausgezogen. Danach hat meine Mutter mich grundsätzlich jeden Tag angerufen, manchmal zwei Mal. Das habe ich manchmal nicht ertragen können und ihr gesagt, sie solle mich nicht anrufen, wenn nichts anliege. Am schrecklichsten war, wenn sie angerufen hat und mich nicht erreichen konnte. Dann hat sie alle meine Freunde angerufen und gefragt, wo ich bin, aber alle anderen haben geschlafen. Das fand ich überhaupt nicht in Ordnung und sie es wiederum auch nicht, dass ich mein Handy ausgestellt hatte, dass ich sie mich nicht habe finden lassen. Aber ich hatte echt keine andere Möglichkeit. Erst, nachdem ich schon ein Jahr allein gewohnt habe, hat sie sich daran gewöhnt. Sie ist immer noch sehr dagegen, dass ich ausgezogen bin, aber daran kann ich nichts ändern. Das war in den letzten Jahren, aber ich denke, das Problem ist immer noch ziemlich ernst, weil ich noch einen jüngeren Bruder habe. Meine Familie ist sehr traditionell.“ S: „Wie findet dein Bruder das?“ L: „Ich glaube, mein Bruder wird später mal ein großes Problem haben. Was ich an ihm überhaupt nicht mag, ist, dass er gegenüber meinen Eltern sehr unhöflich ist. Ich habe zwar auch Konflikte mit meinen Eltern, aber ich bin ihnen gegenüber immer höflich. Ich explodiere gegenüber meinen Eltern nicht…,

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nur aus einer Laune heraus. Meistens erträgt es meine Mutter, weil er gut in der Schule ist. Dann führt sie es auf seinen großen Schuldruck zurück und findet es nicht schlimm, wenn er mal wütend wird. Ich finde, das geht nicht. Wenn jemand jetzt schon so zu den Eltern ist, dann wird er so auch später zu anderen sein. Sein zweites Problem wird sein, dass er überhaupt keine Fähigkeit hat, mit irgendwelchen Schwierigkeiten fertig zu werden. Was macht er später bloß? In seinem Leben trifft man auf sehr viele Schwierigkeiten. Vielleicht sind deine Eltern nicht immer bei dir. Aber meine Eltern kümmert das nicht, denn sie sind jetzt bei ihrem Kind. Bei vielen Problemen müssen wir ihm noch helfen. Sie denken, das ist ihre Verantwortung. Ihm zu helfen ist auch meine Verantwortung. Aber ich finde, das ist keine gute Art, Verantwortung zu zeigen. Denn was ist, wenn wir irgendwann mal nicht mehr hinter ihm stehen können? Denn später ist das seine Sache. Deswegen finde ich, dass mein Bruder ein sehr großes Problem ist. Ich habe schon nicht mehr das Recht, ihn zu erziehen. Ich möchte schon, aber meine Eltern wollen nicht, dass ich ihn so erziehe. Außerdem denkt meine Mutter, dass ich egoistisch bin und deshalb keine Verantwortung übernehmen will und nur deshalb so rede. Tatsächlich hat mein Bruder auch einen sehr großen Konflikt mit meinen Eltern, aber das beeinflusst nicht unsere Beziehung untereinander, denn ich mag sie immer noch sehr. Ich bin ihnen gegenüber sehr dankbar. Gäbe es sie nicht, wäre mein Leben heute nicht so wie es ist. Deshalb ist es egal, wie unsere Konflikte sind und wie schlecht unsere Beziehung ist. In jedem Land haben die Generationen ihre Probleme.“

Ren Dongqing & Ma Yan R: „Die Beziehung. Alles ist sehr gewöhnlich. Es ist nicht so wie bei euch im Ausland, dass die Eltern wie Freunde sind. Wir sind alle recht…, weil wir alle Einzelkinder sind, wir alle sind Einzelkinder, deswegen kümmern/sorgen sich unsere Eltern mehr um uns, als das bei ausländischen Eltern der Fall ist. Also meistens umsorgen sie uns liebevoll, machen nichts anderes. Wenn es ums Essen geht, um Kleidung…, über alles denken sie endlos nach, über die Zukunft, alles ziehen sie in Betracht. Sie wollen nicht, dass ich an einen anderen Ort ziehe. Sie sagen, dass ihrem Kind alles völlig egal sei, dass es sich um nichts kümmert. Sie sollen sich nicht den Kopf wegen eines erwachsenen Menschen zerbrechen. Wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, können sie sich selbständig machen und selbst Geld verdienen, sich selbst versorgen. Aber die chinesische Gesellschaft, im chinesischen Sozialismus kann man nicht…, bekommst du das nicht hin. Nur wenn du heiratest. Nur, wenn du irgendwann verheiratet bist. Aber auch dann noch verlässt du dich auf deine Eltern, deswegen ist unsere Abhängigkeit ziemlich groß. Das Wichtigste von allem ist, was unsere Eltern uns mitgeben. Von kleinauf, alles hängt von den Eltern ab. Deswegen, auch wenn wir erwachsen sind, ist da halt diese Gewohnheit.

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Manchmal wünsche ich mir schon, dass sich das ändert, aber das passiert nur, wenn du heiratest. Soviel dazu.“ S: „Und du?“ M: „Ich muss sagen, dass meine Eltern in jedem Altersabschnitt anders waren. Als ich klein war, während der Grundschulzeit und auf der Unterstufe der Mittelschule, da war die Erziehung für uns Jungen ziemlich streng, wir mussten jeden Tag pünktlich in der Schule sein und rechtzeitig wieder zu Hause. Nachdem wir zu Hause ankamen, mussten wir Hausaufgaben machen. Natürlich hatten wir auch Spaß. Natürlich durften wir uns erst vergnügen, nachdem wir unseren Verpflichtungen nachgekommen waren. … Wir konnten auch nicht immer rausgehen, um zu spielen. Die meiste Zeit haben wir in der Schule verbracht, oder nach dem Unterricht mit Klassenkameraden gequatscht und gespielt. Später, wenn man auf die Oberstufe der Mittelschule oder die Universität kommt, dann gewöhnt man sich langsam daran. Ich denke, auch die Rolle der Eltern fängt dann natürlich an, sich zu verändern. Von einer fürsorglichen Art langsam hin zu, man könnte sagen, freundschaftlichen Gesprächen. Auch manche Probleme kann man dann schon selbst bewältigen, sie ausreichend reflektieren. Natürlich denke ich, dass die Ansichten und Gedanken meiner Eltern sehr wichtig sind. Natürlich geben sie dir nur Ratschläge, die du dir anhören kannst oder auch nicht. Auf jeden Fall solltest du sagen, dass du gründlich über sie nachdenkst. Mittlerweile sind meine Eltern mir gegenüber auch recht offen, fortschrittlich. Da ich schon arbeite, sage ich viele Dinge einfach. Denn, wie soll ich sagen? Weil Eltern ihre Kinder immer noch am besten verstehen, nicht wahr? Will sagen, wenn man langsam älter wird, mal unterwegs ist und abends später nach Hause kommt, oder sich mit Freunden von der Arbeit trifft, dann können sie das verstehen. Sie rufen höchstens mal an, wenn man abends um 23:00, 24:00 Uhr immer noch nicht wieder zurück ist, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Dann sind sie beruhigt. Andere Dinge wie neue Freundschaften, oder wie das in unserem Alter so ist, wenn man sich in irgendwelche Gefühlsangelegenheiten verstrickt, dann sind sie in dieser Hinsicht recht offen, ziemlich gleichgültig. Ich kann nach Belieben Freundschaften schließen. Richtig? Klar trifft man auf einige Schwierigkeiten, bei denen sie dir weiterhelfen, denn schließlich haben unsere Eltern das auch alles einmal durchgemacht. Viele chinesische Kinder leben mit ihren Eltern zusammen, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass Chinesen sehr viel Wert auf familiäre Bande legen. Du sagst, wenn ich jetzt bei meinen Eltern wohne, dann werde ich meine zukünftigen Kinder genauso aufwachsen lassen, mich genauso um sie kümmern. Bei Chinesen ist das halt schon seit Generationen so. Jedes Land hat seine Besonderheiten. Du kannst zwar mit 18 Jahren ausziehen und dir eine eigene Wohnung mieten, einmal im Monat deine Eltern besuchen kommen, nicht mehr mit ihnen gemeinsam essen, dein Zimmer auf ewig selber putzen, das kannst du zwar. Kein Problem, aber wie soll ich sagen?“ S: „Das ist sehr praktisch.“ (lacht)

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M: „Das ist zwar sehr praktisch, aber wir haben uns schon an einen gewissen Lebensstil gewöhnt. Du lässt uns plötzlich erkennen, dass eine ganze Generation diesen Weg geht, jeden Tag mit Vater und Mutter zusammenlebt und in ihre Fußstapfen tritt. Auch wenn ihr das nicht gewohnt seid, Hauptsache ist schließlich, dass wir untereinander daran gewöhnt sind. Du bist deins [Leben] gewöhnt, ich meins. Im Großen und Ganzen finde ich, dass die Beziehungen zu unseren Eltern ganz gut sind.“ […] S: „Wenn ihr irgendwann heiratet, zieht ihr dann auf jeden Fall aus?“ R: „Ja, klar.“ M: „Das muss so sein.“ R: „Das muss so sein. Wie soll ich sagen?“ (alle lachen) M: „Wie soll ich sagen? Die Meinungen der Leute unterscheiden sich, deine und meine Ansichten sind unterschiedlich. Meine Eltern und mich trennen 2530 Jahre. Die Erziehung, der kulturelle Hintergrund und die Erfahrungen sind unterschiedlich. Du kannst nicht von deinen Eltern erwarten, 100%ig mit dir überein zu stimmen. Klar ist es so, dass du dich mit ihnen streitest, wenn man so lange zusammen wohnt. Vielleicht streiten wir uns wegen des Generationenunterschieds. Das ist ein ziemlich neues chinesisches Wort. Wenn das so ist, wie soll man dann diese Widersprüchlichkeiten lösen? Wenn sie sich jeden Tag unaufhörlich weiterentwickeln, zieht man dann einfach aus und lebt unabhängig? Und auszuziehen ist ein weit verbreiteter Trend, nicht wahr? Schließlich ist eine Heirat mit anderen Worten eine Unabhängigkeitserklärung, nicht wahr?“ S: „Ja. Und ihr wollt heiraten.“ R: „So ungefähr.“

Meng Yingying „Unsere Beziehung ist wie bei vielen anderen Familien, manchmal streiten wir uns, manchmal ist es sehr lustig. Eigentlich in Ordnung. So wie in allen anderen Familien.“ S: „Wie alt ist dein Vater?“ M: „Mein Vater ist im Jahr der Ratte geboren, 1948. Wenn man nach Zahlen rechnet, dann ist er 56.“ S: „56 Jahre.“ M: „Wenn man das nach Chinesischer Rechenart zählen würde, dann ist er 58.“ S (lacht): „Zählt er zu den alten Menschen?“ M: „Er sagt von sich selbst, er sei ein alter Mann. Ich sage ihm immer, dass die Ausländer sagen, das Leben hätte mit 40 gerade erst begonnen. Ich sage, du bist noch jung. Wie soll ich das sagen? Mein Vater fühlt sich manchmal

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selbst noch jung, aber manchmal, gerade dann, wenn er pensioniert wird, kann es gut sein, dass er dann sagt: Ich bin alt.“ S: „Ist er schon in Rente?“ M: „Er ist noch nicht in Rente. Eigentlich geht es nach dem Alter, wann man pensioniert wird, eigentlich mit 55. Aber seine Fabrik ist nicht besonders produktiv. Außerdem kommt in China momentan noch der Umstand hinzu, dass das Rentensystem bei sehr vielen Leuten erst mit 93 Jahren wirksam wird, denn viele haben sich früher nicht an den Renteneinzahlungen beteiligt. Das ist für China natürlich eine sehr große finanzielle Bürde. Deshalb wurde das Renteneintrittsalter erhöht, bei Männern auf 60 Jahre. Es wird auch gesagt, dass Frauen und Männer gleichgestellt werden sollen, dass alle mit 60 pensioniert werden.“ S: „Aha.“ M: „Aber das ist noch nicht durch die letzte gerichtliche Instanz gegangen, deswegen denkt er von morgens bis abends an seine Pensionierung.“ S: (lacht) „Bei uns ist es so, dass man heute mit 65 in Rente geht, aber in einigen Jahren wird das Eintrittsalter auf 67 erhöht.“ M: „67 Jahre. Die Rentenzahlungen sind für jedes Land eine sehr große Bürde.“ S: „Allerdings.“ M: „Wenn man von der monatlichen Rente ausgeht, so ist das jetzige Gehalt meines Vaters wesentlich höher als das, was er bekommen wird. Eigentlich ist es doch so: Das Geld, das ich einzahle, ist dafür da, den Rentnern zu helfen. Ich bezahle die Rente. (M lacht) Ich spaße nur. Aber auf der einen Seite ist es sicher so, weil ein Teil des monatlichen Einkommens Einzahlungen in die Rentenkasse sind.“ […] S: „Na, dein Vater ist bestimmt auch sehr glücklich, dass du noch bei ihm wohnst.“ M: „Ja, ja, ja, ja, ja, ja. Meinem Vater geht es ziemlich gut, denn er führt ein amüsantes Leben. Er züchtet zu Hause Tauben. Manchmal quatschen wir miteinander, mal kümmert er sich um seine Tauben. Grundsätzlich ist es seine Verantwortung, dass ich heirate. Denn es ist das Ende der Elternschaft, wenn das Kind heiratet und Karriere macht. Der zweite Teil seiner Verantwortung ist schon abgegeben. Wenn man erst einmal Arbeit gefunden hat, ist es schon gut. Ein Job ist der erste Schritt zur Selbständigkeit. Wenn du dann deine eigene Familie gründest, ist das dann der zweite Schritt zum Erwachsenwerden. Damit geben sie dann ihre Verantwortung ab.“

Li Yuwen & Zhao Jing S: „Was habt ihr für Gefühle euren Eltern gegenüber?“

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L: „Die Beziehung zu meinen Eltern ist immer noch sehr gut. Meine Eltern gehören zu den Aufgeschlossenen/Liberalen. Sie haben sich nicht viel um mich gekümmert. Sie haben mir von Anfang an Selbständigkeit beigebracht, denn sie hatten auch keine Zeit, sich um mich zu kümmern.“ S: „Arbeiten eure Eltern noch?“ L: „Ja, beide. Meine Mutter ist 57, mein Vater 58.“ Z: „Ich glaube, die Beziehung zu meinen Eltern geht noch (䬗具㪦ጩ‫ܣאױ‬, yinggai suan hai keyi ba), das heißt, sie ist nicht besonders eng, aber auch nicht besonders schlecht. Jedenfalls denke ich, dass ich für sie tue, was ich denke, das ich tun sollte. Sie sind, finde ich, schon sehr gut zu mir, auf jeden Fall lieben sie mich sehr. Ich finde halt, sie quatschen und meckern zu viel.“ […] L: „Ich finde, sie gehören zur älteren Generation.“ Z: „Sie sind sicher keine Freunde. Denn ich kann keine intimen Dinge mit ihnen besprechen, sicher nicht.“ L: „Meistens ist das nur Gerede mit den Eltern. Wenn es irgendetwas sehr wichtiges gibt, das mich betrifft, dann kann es schon sein, dass ich ihren Rat einhole. Wenn es z. B. darum geht, meine Arbeit zu wechseln.“

Vicky Cao „Ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Klar, dass es Reibungen gibt, wenn eine Beziehung so eng ist. Es kann schon sein, dass man da nicht besonders freundlich ist, kann sein, dass man Kontroversen hat. Außerdem leben zwei verschiedene Generationen zusammen und deren Anschauungen und Erziehungen sind völlig unterschiedlich. Oft denke ich, dass etwas richtig ist, aber meine Mutter kann das überhaupt nicht unterstützen. Zum Beispiel, wenn ich von meinem eigenen Geld Kleidung kaufe, die mir gefällt. Sie findet das zu teuer, findet, dass ich leichtsinnig Geld ausgebe. Aber was mich betrifft, gebe ich Geld aus, das ich selbst verdient habe, und ich möchte mir davon Kleidung kaufen. Aber meine Mutter meint, ich solle das Geld sparen und es nutzen, wenn ich es brauche. Für manche Leute ist Geld manchmal Geld, und manchmal ist es kein Geld. Wenn es dazu dient, verpulvert zu werden, ist es kein Geld, aber wenn du es brauchst, dann ist das Geld unheimlich viel wert. […] Ich habe in meinem ganzen Leben nie mit meinem Vater zusammen gelebt. Kann sein, dass ich mich mit meinem Vater noch mehr austausche [als mit meiner Mutter]. Manchmal denke ich, dass wir Freunden gleichen. Über einige Dinge rede ich viel lieber mit ihm. Chinesen sagen: Distanz schafft Gutes. Wir haben keine Reibereien. Ich bin der Meinung, zwischen Menschen braucht es eine gewisse Distanz. Warum nicht auch zwischen Verwandten? Distanz lässt die Menschen eine gute Beziehung wahren. Jeder hat seine eigenen Ansichten, jeder sein Maß an Freiheit.“ […]

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S: „Hat dein Vater eine neue Frau gefunden?“ V: „Ja, und sie ist zehn Jahre jünger als er.“ S: „Wie kommst du mit ihr zurecht?“ V: „Ich habe sie noch nie gesehen, denn obwohl Shanghai sehr offen ist, ist es in einigen Angelegenheiten noch nicht offen, denn gegenüber einer Frau ist es noch immer recht engstirnig. Kann sein, dass sie weiß, dass mein Vater bestimmte Erfahrungen gemacht hat, vielleicht weiß sie einige Dinge. Aber sie hat mich noch nie gesehen. Sie wurde noch nicht offiziell vorgestellt. Vielleicht ist das die Meinung meines Vaters. Ich respektiere sie, deshalb habe ich sie noch nie gesehen.“ S: „Bist du nicht neugierig?“ V: „Klar, sehr neugierig, aber das ist die Ansicht meines Vaters, ich muss ihn respektieren. Außerdem ist er momentan gut zu mir, da ist es nicht notwendig, seine Ansichten zu zerstören oder etwas zu machen, worüber er nicht glücklich ist.“ […] S: „Du bist kein sehr braves Kind.“ V: „Richtig. Manchmal bin ich sehr böse, wenn ich mit meinem Opa zusammen bin. In China ist es so, alles, was die Alten sagen, ist richtig. Egal, was er sagt, du darfst deine Meinung nicht äußern. Du darfst nur seine Meinung ausführen. Deshalb glaube ich, mag mein Opa meine jüngere Schwester so sehr und mich nicht. Meine Schwester ist sehr gehorsam. Sie ist ein Jahr jünger als ich und gehorsamer als ich. Sie stimmt allem zu, was mein Opa sagt. Selbst wenn sie nicht damit einverstanden ist, tut sie, was er sagt. Mein Opa findet, dass sie kindlichen Gehorsam/kindliche Pietät zeigt. Und wenn ich nicht einverstanden bin, dann bin ich es nicht, und dann, mit chinesischen Worten gesagt, ,verstehe ich es nicht‘.“

Marie Chen „Unser Verhältnis ist in Ordnung. Aber meine Eltern waren schon ziemlich alt, als ich geboren wurde, sind sie jetzt beide schon über sechzig. Deshalb haben wir manchmal Reibereien. Aber im Großen und Ganzen, im Großen und Ganzen geht es, denn meine Eltern verwöhnen mich ziemlich. (M lacht) Meistens kann ich machen, was ich will, mein eigenes Ding machen, da gibt es keine großen Hindernisse. Aber wegen ihres Alters widersprechen ihre Ansichten manchmal den Meinen, und es kommt zum Ärger, aber nicht zu zu großem. […] Meine Eltern haben keinerlei Druck auf mich ausgeübt.“ S: „Ah…, Während des Studiums? Keinerlei Druck?“ M: „Sie haben sich nicht besonders um mich gekümmert. Ich konnte immer mein eigenes Ding machen. Und dann lief auch ihr Geschäft nicht ideal, deswegen haben sie nie von mir gefordert, sehr erfolgreich zu studieren. (beide

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lachen) Darum kümmerten sie sich von Anfang an nicht so überfürsorglich um mich, wie so viele andere chinesische Eltern das tun. Meine Eltern haben mich nie gefragt, wie ich in Prüfungen abgeschnitten habe. Wenn ich 100 % hatte, war das gut, wenn ich 60 % hatte, war das gut, sie schienen sich das nie besonders zu Herzen zu nehmen.“

Connie Peng „Meine Eltern sind sehr offene und demokratische Menschen. Unsere Beziehung ist wie unter Freunden. Aber trotzdem gehören sie zur älteren Generation. Außerdem kann ich von ihren Erfahrungen profitieren und sie um Rat fragen. Meine Eltern gehen Hand in Hand und werden alt. [Zitat aus einem TangGedicht] Wenn zwei sich lieben, gehen sie ein Leben lang Hand in Hand und werden so zu Einem. Das ist eine gesunde Beziehung zwischen Ehemann und -Frau.“ S: „Sind deine Eltern Shanghairen?“ C: „Ja. Mein Vater hat früher im Krankenhaus gearbeitet, in der Administration. Meine Mutter hat in einer strengen Firma in der Administration gearbeitet. Jetzt sind beide im Ruhestand.“ […] S: „Üben deine Eltern Druck auf dich aus, weil du noch nicht verheiratet bist?“ C: „Ja. ,Sie ist erwachsen und kann heiraten.‘ Oder anders: ,Wenn sie nicht bald verheiratet wird, dann wird das nichts mehr.‘“ S: „Du hast gesagt, dass deine Eltern Druck auf dich ausüben. Du wohnst noch bei deinen Eltern. Ist die Situation angemessen?“ C: „Warum nicht? Es kann sein, dass das mit meiner Arbeit und meinem Studium zusammen hängt. In erster Linie kann ich meine Freizeit frei gestalten. Und wenn du mit Menschen zusammen lebst, die du selten siehst, dann findest du es gut, wenn du sie mal siehst.“ S: „Stimmt. Du wohnst bei deinen Eltern und verdienst 2.000 Yuan RMB im Monat. Kannst du das Geld selbst ausgeben, oder…“ C: „Alles gehört mir.“ S: „Das ist nicht schlecht, da musst du keine eigene Miete zahlen.“ C: „Ich habe schon mal daran gedacht, auszuziehen und mir eine Wohnung zu mieten, aber das würde meine Eltern verletzen. Wenn alle zusammen wohnen, kann jeder auf den anderen achten, sich um ihn kümmern. Wenn ich eine eigene Wohnung hätte, wäre das anders. Wir können gegenseitig auf uns aufpassen. Zudem kann ich nicht komplett selbständig sein. Ich persönlich bin recht abhängig, deshalb ist das so sehr vernünftig und ideal.“

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Familiensituation Waidiren Jin Jing J: „Meine Eltern sind beide ‘45 geboren, werden dieses Jahr schon 60 Jahre alt.“ […] S: „Wie ist die Beziehung zwischen dir und deinen Eltern?“ J: „Ach, nicht schlecht.“ S: „Wie oft seht Ihr euch im Jahr?“ J: „Wenigstens ein Mal im Jahr. Wenigstens ein Mal.“ S: „Ist das dann zum Frühlingsfest?“ J: „Ja, zum Frühlingsfest. Oder als ich noch studiert habe, war ich in den Semesterferien vergleichsweise häufig dort. Damals war ich jedes Jahr ungefähr zweimal dort, habe sie also zweimal gesehen. Aber jetzt nur noch einmal.“ […] „Ihre Ansprüche an mich? Früher waren Ihre Ansprüche an mich ziemlich hoch. Sie wollten, dass ich weiter studiere und so. Wollten, dass ich den Magister mache, den Magister, wollten, dass ich den Doktor mache, den Doktor. Wenn ich die Möglichkeit hätte, ins Ausland zu gehen, hätte ich dort studieren sollen. So hat meine Mutter gedacht. Sie wollte, dass ich so viel studiere. Wie dem auch sei, in der Hinsicht haben wir uns etwas widersprochen, aber man kann auch nicht sagen, dass sich das zugespitzt hat oder irgendwie so, sie haben sich auch nach mir gerichtet. So ist das. Jetzt, nachdem ich fertig studiert habe, halten sie sich da raus. Wahrscheinlich ist es so, dass, wenn man erwachsen geworden ist, die Ansprüche sehr sinken. Es ist bestimmt so.“ […] S: „Was hatte deine Mutter für eine Arbeit?“ J: „Meine Mutter war früher Technikerin. Sie war für irgendwelche Messgeräte in ihrer Fabrik verantwortlich.“ S: „Du hast gesagt, ihr Traum wäre es, dass du den Doktor machst.“ J: „Ihr Traum war es, dass ich weiter studiere, dass sie mich mehr studieren lässt.“ (J lacht) S: „Weißt du, warum das so war? “ J: „Das? Das weiß ich auch nicht. Darüber hat sie nie gesprochen. (S, J lachen) Das, worüber wir uns nicht tiefer gehend ausgetauscht haben, war, warum sie mich so viele Bücher hat lesen lassen. Sie nimmt wahrscheinlich an, dass die Berufsaussichten später besser aussehen, wenn man mehr studiert hat.“

Li Nan, Zheng Leibin & Wang Xin S: „Wie ist die Beziehung zu euren Eltern?“ L: „Sehr gut.“ Z: „Alles gut.“

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L: „Ich finde recht gut, besonders wenn du dein Zuhause schon verlassen hast. Früher habe ich mich hin und wieder mit meinen Eltern gestritten. Aber nun, wo ich weit weg bin… Wenn ich nach Hause komme, ist es recht gut, ich kann alle Probleme ansprechen.“ […] S: „Eure Familien sind alle nicht in Shanghai, sondern in eurer Heimat. Wann seht ihr sie?“ W: „Wir haben alle zwei Mal Ferien pro Jahr. In den Ferien fahren wir fast alle für einen Monat nach Hause, um unsere Familien zu sehen.“ Z: „Mein Zuhause ist nicht sehr weit von hier entfernt, manchmal kann ich auch zwischendurch nach Hause fahren, wenn mal zwei Tage frei sind.“ […] L: „Unsere Familien haben große Erwartungen in uns gesetzt und sind glücklich, dass wir an der Jiaoda studieren können, denn sie ist eine sehr gute Universität in China. Und obwohl wir sehr weit von zu Hause entfernt sind, ist es in China für erwachsene Kinder eine ganz normale Sache, weit weg zu gehen um zu studieren.“ Z: „In China hoffen alle Eltern, dass die Kinder auf eine Universität kommen und sind glücklich, wenn die Kinder es schaffen.“ […] S: „Üben eure Eltern oft Druck auf euch aus? Bezüglich Freund/in, Heirat, Kinder kriegen…?“ Z: „Ja, ein wenig. Sie hoffen, dass ich früh heirate, dass ich bald eine Freundin finde und dann bald heirate und ein Kind bekomme.“ S: „Dein Vater oder deine Mutter?“ Z: „Meine Mutter, von Seiten meiner Mutter. Mein Vater sagt nichts dazu.“

Lin Xiaoke „Unsere Beziehung ist sehr gut, weil ich der Jüngste bin. Meine Mutter und meine Schwester haben mich immer abgöttisch geliebt. Mein Vater hat für mich mit viel Schweiß bezahlt. Von kleinauf hat er mir bei allem geholfen, das beinhaltet auch, auf welche Schule ich gehen konnte.“ […] S: „Was haben sie für Ansprüche an dich?“ L: „Momentan wollen sie nur, dass ich selbständig werde. Außerdem hoffen sie, dass ich in Shanghai bleibe. Shanghai ist eine Großstadt, die Möglichkeiten sind zahlreich.“ […] S: „Und deine finanzielle Situation?“ L: „Meine finanzielle Lage sieht so aus, dass ich über die Runden komme. Ich frage meine Familie nicht nach Geld.“ […]

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S: „Fährst du oft nach Hause, um deine Familie zu sehen?“ L: „Grundsätzlich fahre ich zweimal im Jahr heim, zum Frühlingsfest und den regulären Ferientagen. Und wenn irgendetwas ist, kann ich auch zurück.“ S: „Üben deine Eltern Druck auf dich aus, weil du eine Freundin finden sollst?“ L: „Grundsätzlich nicht. Sie schätzen mich alle sehr. Weil meine Schwester schon verheiratet ist, hoffen sie, dass ich mich damit nicht so beeile.“

Wendy Ding & Min Hao S: „Wie sind die Beziehungen zu euren Eltern?“ M: „Sie sind zu Hause. Wir telefonieren häufig. Zum Frühlingsfest fahren wir heim um sie zu besuchen. Wenn wir Zeit und Gelegenheit haben, fahren wir heim.“ S: „Sind deine Eltern schon mal nach Shanghai gekommen?“ M: „Nein.“ S: „Die Beziehung zu deinen Eltern ist bestimmt nicht schlecht.“ W: „Da meine Mutter schon verstorben ist, will ich nicht, dass mein Vater draußen alleine wohnt, denn er ist schon alt. Ich hoffe, dass er mit uns zusammen wohnt.“ S: „Warum? Bist du recht traditionell oder…?“ W: „Ja, denn ich wollte nicht, dass mein Vater nach dem Tod meiner Mutter alleine bleibt. Auch hätte er sich keine neue Familie gesucht. So können wir gegenseitig auf uns aufpassen. Er war auch geneigt, zu uns zu ziehen. Altenheime sind keine gute Lösung, die Zustände dort sind nicht gut. Außerdem ist das nicht pietätvoll gegenüber den Eltern, sie dorthin zu schicken. Es gibt Vorurteile gegenüber den Altenheimen. Obwohl dort viele Alte sind, die sich unterhalten können… aber die Umstände sind dort nicht gut.“ […] S: „Ihr drei wohnt auf engem Raum zusammen. Wie kommt ihr miteinander aus? Gibt es Probleme?“ W: „Keine großen Probleme. Denn hier sind Vater und Tochter zusammen plus Schwiegersohn. Wäre seine Mutter oder sein Vater hier, hätten wir vielleicht mehr Probleme, denn traditionell gibt es mehr Probleme mit Schwiegermutter und Schwiegertochter, sie kommen recht schlecht miteinander aus. Das ist schwer zu erklären, ist aber so.“

Ye Yiqun „Ich habe eine ältere Schwester, die ist vier Jahre älter als ich. Sie hat dieses Jahr geheiratet und ist schon Mutter. Ich habe meinen Neffen noch nicht gesehen. Meine Schwester sagt, er ist sehr dick und niedlich.“ S: „Hast du vor, zurückzufahren, um ihn zu sehen?“ Y: „Ja, das habe ich vor.“

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[…] Y: „Mein Vater ist schon pensioniert. Gesundheitlich geht es ihm sehr schlecht. Sein Leben war sehr hat. Er ist dieses Jahr 60 geworden. Er wirkt schon sehr verbraucht und alt. Deswegen sage ich ihm, dass er sich zu Hause ausruhen soll, sich amüsieren. Meiner Mutter geht es körperlich noch recht gut, sie arbeitet noch, gönnt sich keine Ruhe. Sie muss einfach irgendetwas machen. Obwohl ich meine Mutter sehr vermisse und mich um meinen Vater kümmern möchte, ist es sehr schwer. Denn man muss selbst ausziehen und Geld verdienen und sich eine eigene Familie suchen. Meine Mutter ist sehr gut, sie ist eine liebenswerte alte Frau, ich liebe sie sehr.“

Liu Songwei S: „Wie ist die Beziehung zu deinen Eltern?“ L: „Recht gut. Seit ich zum Arbeiten weggegangen bin, fahre ich zum Frühlingsfest heim. Wenn irgendetwas sein sollte, kann ich auch jederzeit nach Hause fahren, aber normalerweise fahre ich sehr selten heim. Ich komme aus einem Dorf. Meine Eltern züchten Pilze. Bis zum Frühjahr kann man Pilze kaufen. Das ganze Jahr über ist das so. Aber Pilze zu züchten ist harte Arbeit, meine Eltern machen das jetzt sieben, acht Jahre. Ihre Haare sind schon weiß. Die Arbeit ist echt hart, ich bin jetzt schon seit über zwei Jahren in Shanghai. Dieses Jahr bin ich zum ersten Mal heimgefahren und ihre Haare waren viel weißer. Sie sind schon über 50, aber auf dem Land ist die Arbeit ziemlich hart, da werden die Leute schnell alt.“

Cai Zhihong S: „Wo sagtest du noch mal, bist du geboren?“ C: „In Nanning“ S: „Sind deine Eltern noch dort?“ C: „Ja, meine Eltern sind beide noch dort. Sie sind beide noch nicht im Ruhestand, aber in ein bis zwei Jahren ist es soweit.“ S: „Wie alt sind sie?“ C: „Meine Mutter 53, mein Vater 58. Vielleicht kommen sie nach Shanghai, wenn sie in Rente sind, vielleicht bleiben sie auch in Nanning. Mal sehen, wie bis dahin ihre Pläne sind. Sie sind ein ganz durchschnittliches chinesisches Ehepaar, ihre Beziehung war immer recht stabil. Es gab nichts besonders Schlechtes, aber auch nichts besonders Gutes, (lacht) denn Leute in ihrem Alter haben alle ungefähr gleiche Ansichten. Ich bin in einer ganz normalen Umgebung aufgewachsen. Es gab keine besonderen Umstände, alles war sehr stabil. Finanziell nicht gut situiert, aber wir hatten genug, um die Ansprüche des Lebens zu erfüllen. Meine Eltern sind nicht gebildet. Wir sind eine typische chinesische Familie. Mehrere Generationen leben unter einem Dach, meine Großeltern, Eltern, meine beiden Schwestern und ich. Nachdem meine Großel-

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tern gestorben waren, sind meine Schwestern und ich zum Studium an verschiedene Orte gegangen. So sieht mein Background aus.“ […] S: „Hilfst du deinen Eltern finanziell?“ C: „Ja, ich gebe ihnen Geld, aber das ist nicht, um ihnen zu helfen, denn beide haben Arbeit und brauchen meine finanzielle Unterstützung nicht. Wir nennen das Geldgeschenk, um unseren Eltern Respekt zu zeigen. Ich sollte ihnen etwas geben, aber sie verbrauchen es nicht. Das ist in China eine geläufige Situation.“ S: „Mögen es deine Eltern, das Geld zu bekommen, oder ist es ihnen unangenehm?“ C: „Sie bekommen es gerne, aber es ist nicht, weil sie es bräuchten. Sie glauben, das drückt unsere Liebe aus. Ja, sie bringen das Geld zur Bank und sagen, dass es später mal für mich ist.“ S: „Deine Eltern sind also wie eine Bank.“ C: „Ja, aber trotzdem sind sie sehr glücklich, wenn sie das Geld bekommen. Sie würden es niemals nutzen, denn sie denken, dass es immer noch meins ist.“

Zhu Miaomiao „Ich bin in Wuhan geboren. Mein Vater ist Lehrer auf der Mittelschule. Meine Mutter hat auch immer in der Mittelschule gearbeitet, aber sie ist keine Lehrerin, sie macht dort die Buchhaltung. Mein Vater ist 61, meine Mutter 56. Ich habe einen zwei Jahre älteren Bruder. Aus meiner Sicht ist die Beziehung zwischen meinen Eltern sehr, sehr gut, obwohl sie natürlich auch mal streiten, aber ihre Beziehung ist sehr gut. Ich glaube, sie könnten sich niemals verlassen. Finanziell ist es wie sie auch schon gesagt hat, sie sind nicht reich, können aber uns beide ernähren und uns auf die Uni schicken. Nachdem ich meinen Abschluss hatte, haben sie aufgeatmet. Früher konnten sie nie etwas beiseite legen. Ich kann sie momentan nicht finanziell unterstützen. Sie behalten ihr Geld für sich. Mein Bruder arbeitet außerhalb. Er gibt unseren Eltern in regelmäßigen Abständen Geld. Ich gebe ihnen manchmal Geld, es ist auch so wie bei Xiao Cai.“

Zhu Miaomiao & Cai Zhihong C: „Sie sind und bleiben Eltern. Mein Leben ist zu selbständig. Natürlich erzähle ich ihnen von meinem Leben, aber das ist eher in Berichtsform, ich spreche nicht über Probleme oder so, weil sie sich sonst Sorgen machen würden.“ Z: „Früher habe ich mit meinen Eltern über alles gesprochen. Aber jetzt können sie nicht mehr verstehen, was mich bewegt, weil ich zu weit weg bin, auch das, was ich mache [ist zu fremd für sie]. Jetzt ist es eher so, dass sie Eltern sind, die sich um ihre geliebte Tochter sorgen. Sie sagen ,Pass ja gut auf dich auf, iss genug‘ usw.“

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[…] Z: „Noch eine Sache, ich sage ihnen nicht, was mich bedrückt, wenn es mir schlecht geht, denn das würde sie nur zu sehr beunruhigen. Klar, dass ich Stress habe, das sage ich schon, aber über andere Sorgen rede ich nicht.“ S: „Es scheint als würden Chinesen alle ihre Eltern nicht beunruhigen wollen.“ C: „Es gibt ein chinesisches Sprichwort das sagt: ,Erzähle nur das Gute, halte das Schlechte zurück.‘ Oder spiel das Schlechte soweit runter, als würde es überhaupt nichts ausmachen.“ Z: „Ja, sag einfach ein paar Sätze.“ C: „Sag, dass du das Problem auf jeden Fall lösen kannst, erzähle es Ihnen so, als würde es dir nichts ausmachen.“

Xiuxiu S: „Erzählst du deinen Eltern von den Dingen in Shanghai?“ X: „Ich erzähle grundsätzlich nur von den guten Dingen, von den schlechten sage ich nichts.“ S: „Warum?“ X: „Erstens, weil meine Eltern sowieso keine Möglichkeit haben, mir zu helfen, außerdem würde es sie nur beunruhigen. Damit setzt du deine Eltern nur unter Druck. Was sollte es auch bringen, wenn sie dir sowieso nicht helfen können? Ich kann sie nur an den schönen Dingen teilhaben lassen und davon erzählen, was ich gelernt habe.“ S: „Sind die jungen Leute in China immer so?“ X: „Größtenteils sind sie so. Denn unsere Eltern haben schon ihr Leben lang gelitten, da will man ihnen nicht noch mehr Sorgen bereiten. Deshalb berichten wir nur vom Guten und halten das Schlechte zurück. Warum sollte ich mir Sorgen machen, wenn meine Eltern mich fragen? Auch wenn mein Geschäft ein totales Chaos ist, kann ich immer noch sagen, dass alles gut läuft.“

3.2 Einstellungen der Eltern Einstellungen der Eltern der Shanghairen Vicky Cao S: „Findest du, dass deine Mutter fortschrittlicher eingestellt ist oder dein Vater?“ V: „Ich finde, mein Vater.“ S: „Warum?“ V: „Das hängt mit seiner Arbeit zusammen. Er ist bei der Jinjiang Group und mischt dort Lehm/Ton. Sie haben dort mit Chemie zu tun, deswegen unterhält er sich mit Leuten. Er ist Chairman of the Board [engl.]. Er unterhält sich mit sehr vielen modernen Leuten, deshalb sind seine Ansichten ähnlich denen vie-

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ler junger Leute. Er muss die gesellschaftlichen Trends/Moden verstehen. Erst wenn er weiß, wie die anderen denken, kann er seine Arbeit noch besser machen. Deshalb finde ich, dass die Ansichten meines Vaters recht modern sind, fast so wie meine. Meine Mutter ist eine gewöhnliche Frau. Sie hat ihre eigene Wohnung und ist deshalb auch eine unabhängige Frau. Sie kann arbeiten oder auch nicht und sich selbst versorgen. Deshalb kommt sie sehr wenig mit der Außenwelt in Kontakt. Ihre Ansichten sind deshalb noch ihre früheren, recht traditionellen, moralischen Ansichten. Deshalb kann sie manchmal meine Gedanken nicht akzeptieren, deswegen gibt es Widersprüche zwischen uns.“

Marie Chen „Recht modern sind sie in der Hinsicht, dass sie uns niemals an irgendetwas hindern. Wir sind zwei Kinder. Sie ähneln nicht vielen anderen Eltern, die ihre Kinder dazu zwingen, alles nach dem Willen der Eltern zu tun. Meine Eltern haben niemals Druck auf mich ausgeübt. Ich konnte machen, was ich wollte. Eltern von Leuten in unserem Alter sind relativ offen. Das Traditionelle, das Traditionelle, sie mögen es nicht, wenn ich herumtrödele. Sie mögen es, wenn ich friedliche Dinge tue, wenn ich handfeste Dinge tue. Beispielsweise, als ich gesagt habe, dass ich das Land verlassen will, haben sie mich nicht besonders unterstützt. Außerdem wollen sie, dass ich eine nicht allzu anstrengende, die täglichen Arbeitszeiten von acht Stunden nicht überschreitende, relativ nah an zu Hause liegende und leichte Arbeit finde. (beide lachen) Sie wollen nicht, dass ich eine herausfordernde, wettbewerbsbezogene Arbeit mache. Dass sie nicht wollen, dass ich solche Arbeiten mache, gehört mit zu ihren traditionellen Einstellungen. […] Ich, eigentlich bin ich ein ziemlich altmodischer Mensch. Was das Herausputzen und Schminken betrifft, so trage ich keine modischen Klamotten. Ich gehöre nicht zu den besonders Rebellischen. Auch richte ich mich nach den allgemein anerkannten Regeln, zum Beispiel: fleißig studieren, auf das hören, was die Eltern sagen, keine unschicklichen Dinge machen, an die Familie denken und keine unmoralischen Dinge tun. Deshalb sind auch meine Eltern relativ beruhigt. Sie wissen, dass ich nicht losgehe und irgendwelche unvorhergesehenen Sachen mache. Das ist auch ein Grund, warum sie mich an nichts hindern. Ich denke, das hängt von beiden Seiten ab. Wenn du oft losgehst und irgendwelche unerwarteten Dinge machst, dann sorgen sich die Eltern natürlich. Und da ich von kleinauf relativ, sagen wir mal, mich in der Gewalt hatte, deswegen mischen sie sich bei mir recht wenig ein, sie wissen, dass ich keine Grenzen überschreite.“

Connie Peng „[Meine Eltern sind] vergleichsweise traditionell. Aber sie können definitiv neue Dinge akzeptieren. Aber bei einigen Einstellungen, moralischen Ansichten oder so, da sind sie traditionell, denn schließlich ist das China.“ S: „Zum Beispiel die moralische Seite…“

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C: „Sie können zum Beispiel die Hochzeits-Versuche junger Leute akzeptieren (內ദ, shihun) oder Wohngemeinschaften, aber sie können nicht hinnehmen, wenn es die eigenen Kinder machen. So ist das.“ […] C: „Wie soll ich sagen, wenn es um neue technische Errungenschaften oder Informationen oder solche Sachen geht, dann nehmen sie das hin/auf.“

Sam Zhang S: „Sind deine Eltern eher traditionell oder modern eingestellt?“ Z: „Dazwischen, in manchen Fragen sind sie ziemlich altmodisch.“ S: „Bei welchen Fragen?“ Z: „Beispielsweise sollte man heiraten und Kinder kriegen, fleißig arbeiten und Geld verdienen, um sich etwas leisten zu können. Man soll nicht immer Geld verschwenden. Modern nichtsdestotrotz, jetzt amüsierst du dich außerhalb, singst, tanzt. Da mischen sie sich nicht ein.“ S: „Weil du ein Junge bist?“ Z: „Kann sein.“

Li Yuwen & Zhao Jing Z: „Ich finde, meine Eltern sind sehr konservativ, extrem konservativ.“ S: „In jeder Hinsicht?“ Z: „Grundsätzlich in allem recht konservativ. Auf jeden Fall spreche ich nicht mit ihnen über avantgardistische Ideen/Einstellungen, die ich habe. Mit Sicherheit nicht.“ S: „Wie alt sind deine Eltern?“ Z: „Meine Mutter ist 54, mein Vater 56.“ L: „Meine Eltern gehen so.“ S: „In welcher Hinsicht sind sie modern?“ L: „Zumindest in Hinsicht auf meine Hochzeit sind sie noch recht modern. Sie drängen mich nicht zu heiraten. Das finde ich ziemlich gut. Sie üben keinen Druck auf mich aus. Das war es. “

Meng Yingying „Mein Vater ist eher ein recht altmodischer Mensch, aber bei einigen Fragen besteht er nicht auf seine Einstellung, vielleicht, weil ich schon erwachsen und selbständig bin. Ich habe einen Job und bin selbständig. Ich bin ein bisschen kämpferisch, verlange Demokratie. Da ist er auch kompromissbereit. Aber in seiner Vorstellung gibt es sicherlich einige Dinge, die er nicht akzeptieren kann. Zum Beispiel, vor der Hochzeit zusammen zu ziehen, könnte er nicht akzeptieren. Natürlich war ich noch nicht in dieser Situation, richtig? Richtig! Aber ich weiß, dass er mit Sicherheit so eine Tatsache nicht einfach so akzeptieren kann. So ist mein Papa.

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[…] Aber einmal habe ich einen Roman geschrieben, in dem die Homosexuellenproblematik vorkam. Mein Vater hat da zu mir gesagt, ich solle mal zum Huaihai Park gehen, das sei Shanghais bekannteste Schwulenecke. Ich wusste nicht genau, wo das ist, aber ich habe schon davon gehört.“ S: „Mir ist schon in der Huaihai Lu, am Huaihai Park aufgefallen, dass…“ M: „Gut möglich, dass es von dort ausgeht, denn es wird gesagt, dass das Shanghais bekannteste Schwulenecke sei. Mein Vater hat mir vorgeschlagen, dort Nachforschungen zu betreiben. Ich glaube, mein Vater hat davon eine merkwürdige Vorstellung, vielleicht weil er selbst nicht so eine Veranlagung hat, weil er nur andere Leute davon hat reden hören, weil das mit ihm selbst nichts zu tun hat. Er redet einfach so darüber, aber er hat auch keine explizite Abneigung dagegen.“

Einstellungen der Eltern der Waidiren Jin Jing „Sie zählen zu den Mittleren, man kann nicht sagen, dass sie besonders altmodisch wären, man kann aber auch nicht sagen, dass sie sehr, sehr, sehr modern wären. Ich denke, das ist so. Ihre Einstellungen sind schon vergleichsweise offen, sie können neue Dinge akzeptieren, aber nicht unbedingt die Vorreiter, die können sie eher nicht hinnehmen. Sie gehören irgendwo in die Mitte. […] Genau genommen kann ich selber auch nicht genau sagen, was altmodisch ist und was modern. Nur soviel: die beiden haben meiner Meinung nach, um über das Moderne zu reden, den Willen zu lernen. Stell dir vor, meine Mutter ist jeden Tag zu Hause und spielt ständig am Computer rum. Eine sechzigjährige Person, die in China am Computer rumspielt.“ (J, S lachen) S: „Nicht schlecht.“ J: „Mein Vater spielt auch noch mit der Webcam rum, will sich mit mir über msn zum Chatten treffen.“ S: „Echt?“ J: „Und dabei ging die Initiative bei diesen Sachen überhaupt nicht von mir aus.“ (S, J lachen) S: „Super.“ J: „Das ist meiner Ansicht nach, was die beiden sehr schnell annehmen, solche neuen Dinge. Was das Altmodische angeht, so haben sie noch vor einigen Jahren, haben sie noch zu mir gesagt: „Such dir ein Unternehmen mit einer danwei, ich weiß nicht, ob du verstehst, wenn ich so rede, Unternehmen mit einer danwei, sie nehmen an, dass so eine Arbeit vergleichsweise sicher ist, oder wie man so zu einem Mädchen redet. Das ist so die Seite, die möglicherweise noch ein wenig veraltet ist. Was gibt’s noch? Das scheint es gewesen zu sein. Mehr fällt mir jetzt nicht ein, das war es wohl.“

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Li Nan, Zheng Leibin, Wang Xin S: „Sind deine Eltern traditionell oder…?“ Z: „Traditionell.“ W: „Meine sind traditionell.“ L: „Meine sind aufgeschlossen.“ S: „Und ihr selbst? Eher traditionell oder eher modern? Oder so: wann seid ihr traditionell, wann modern?“ W: „Ich denke, ich bin recht traditionell (lacht), weil, wenn ich daran denke, mit einem anderen zusammen zu ziehen, dann kommt das für mich nicht in Frage. (lacht) Was eine Heirat angeht, so müssen erst Gefühle vorhanden sein. In der Hinsicht bin ich etwas modern. Auf keinen Fall werde ich auf irgendwelche Ehestiftungen meiner Eltern eingehen. Erst müssen zwei Menschen Gefühle füreinander entwickeln, dann kann man heiraten.“ L: „Ich bin traditionell und modern. Alles für uns Traditionelle ist für unsere Elterngeneration modern. Unsere Ansichten sind in Bezug auf ihre alle etwas offener, das können sie selbst nicht akzeptieren, denn sie finden, dass das alles noch vernünftig ist, und sind deshalb so. Aber meistens geht man den goldenen Mittelweg.“ (lacht) Z: „Unsere Ansichten unterscheiden sich ein wenig. Für mich ist es kein Problem, schon vor der Hochzeit mit meiner Freundin zusammen zu wohnen. Aber letztendlich muss man natürlich heiraten.“ S: „Findest du das altmodisch?“ Z: „Ja.“ S: „In welcher Hinsicht bist du modern?“ Z: „Beim Zusammenwohnen. Das ist eine Frage der Einstellung.“

Wendy Ding & Min Hao W: „Halb, halb, was Probleme der Jugend angeht, wie Beziehungen, Popmusik, Schminken, Konsum, recht traditionell. Meine Eltern haben in der Uni gelehrt, deshalb glaube ich, dass sie in mancher Hinsicht recht fortschrittlich sind, was zum Beispiel meine Ausbildung angeht, da wollten sie, dass ich mich fordere. Sie wollten nicht, dass ich bei ihnen bleibe, sondern dass ich meinen Horizont erweitere. In der Hinsicht sind sie recht offen.“ S: „Und deine?“ M: „Sie sind recht altmodisch. Sie sind über 60. Da das Dorf recht abgeschnitten ist, sind sie kulturell nicht entwickelt. Die Dinge sind dort nicht neu. Deshalb ist auch im Denken das Althergebrachte noch überwiegend.“

Jimmy Yang „Tradition. Meine Heimat ist ein Dorf, da gibt es traditionelle Ansichten. Es ist unmöglich, dass das Gehirn plötzlich modern denkt, schließlich sind sie noch

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nicht raus gekommen und haben nicht viel von der Welt gesehen. Sie sind den ganzen Tag zu Hause und kultivieren Land. Sie sind Bauern.“ […] S: „Du hast gesagt, dass deine Eltern kein Problem damit haben, dass du mit deiner Freundin zusammen wohnst.“ J: „Ja, kein Problem. Da haben sie keine radikalen Ansichten. […] Ich denke, in der Hinsicht sind sie recht modern.“

3.3 Liebe und Heirat Liebe und Heirat Shanghairen Xu Hongwei „Ich denke selber, dass ich auf der Gefühlsebene altmodisch bin. Ich kann nicht leichtfertig zu einem Menschen gehen, der mir gefällt und mich mit ihm anfreunden. Das geht erst durch einen Prozess des Verstehens, und danach nähere ich mich langsam an, ganz langsam, Schritt für Schritt. Was neue Freundschaften betrifft, ich meine weibliche Freundschaften, wenn du wirklich eine finden willst, dann suche gut, nicht einfach nur so, deshalb sind Mädchen, die eine Beziehung von eins anfangen, ziemlich selten.“ S: „Warum?“ X: „Ich denke, das hängt mit dem Charakter zusammen. Ich selber bin ziemlich introvertiert. Ich bin nicht so einer, der sich ständig amüsieren geht. Natürlich gehe ich mit meinen Freunden gemeinsam aus, aber doch selten.“ S: „Hast du jetzt eine Freundin?“ X: „Ich sollte sagen, dass ich eine haben könnte. Aber ich denke, der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen.“ S: „Wo habt ihr euch kennen gelernt?“ X: „Ein Freund hat sie mir vorgestellt. Kurz nachdem wir mit einander in Kontakt gekommen sind, waren Gefühle vorhanden. Wir sind gerade dabei, uns kennen zu lernen. “ S: „###“ X: „Das kann man so sagen. Wir gehen manchmal zusammen essen und uns amüsieren. Gegenwärtig kommen wir nur oberflächlich in Kontakt.“ S: „Wie ist ihr Charakter?“ X: „Sie ist das genaue Gegenteil von mir. Ich bin relativ introvertiert, sie ist ziemlich optimistisch, lebhaft. Wenn ich mit ihr zusammen bin, redet sie sehr viel.“ […] S: „Willst du später mal eine Shanghaier Frau haben oder wie stellst du dir das vor?“ X: „Mir ist das egal.“ S: „Und deinen Eltern?“

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X: „Meine Eltern wollen, dass ich eine gute und pflichtbewusste Frau finde, die eher traditionell ist, die aufrichtig ihr ganzes Leben mit mir verbringen will. Natürlich muss sie nicht unbedingt hübsch sein, sie muss zumindest nett anzusehen sein.“ S: „Was bedeutet das?“ X: „Schönheit hat viele Seiten, die Figur, das Gesicht. Das Gesicht muss relativ gut aussehen, sie muss nicht extrem hübsch sein.“ S: „Wann planst du zu heiraten?“ X: „Erstens muss die wirtschaftliche Seite abgesichert sein, ich will mindestens eine Wohnung haben. Mein persönliches Ziel liegt bei ungefähr 28 Jahren, denn wenn man noch zu jung ist, ist das Herz gefühlsmäßig nicht in der Lage, genug zu ertragen, ich muss mich noch abhärten.“ […] S: „Kannst du dir vorstellen, mit deiner Freundin zusammenzuziehen ohne verheiratet zu sein?“ X: „Ich denke, das sollte dem Lauf der Dinge folgen. Gemäß der Entwicklung der Dinge, Schritt für Schritt. Meine eigene Ansicht ist, erst zu heiraten und dann zusammenzuziehen, denn ich bin relativ altmodisch.“ S: „Ist das wegen deiner Eltern?“ X: „Nein, ich denke, das ist wegen mir selbst. Schließlich ist es meine eigene Hochzeit. Auch wenn meine Eltern sich vielleicht aufregen, so denke ich doch, das wichtigste ist immer noch man selbst.“ […] X: „Ich bin selber ein ziemlich altmodisch eingestellter Mensch, ich möchte, dass die ganze Familie zu einem Festmahl zusammenkommt, auch Freunde werde ich zum Essen einladen. Vielleicht gedenke ich auch, eine Hochzeitsreise zu machen. Aber mit Verwandten und Freunden zusammen zu essen, das darf nicht fehlen. Das ist das Traditionelle an einer Hochzeit.“

Wang Jun S: „Hast du eine Freundin?“ W: „Noch nicht.“ S: „Was muss deine Freundin für einen Charakter haben, wie muss sie sein?“ W: „Am Besten wäre es, wenn sie einen milden Charakter hätte. Sie sollte sich nicht bei jeder Kleinigkeit aufregen. Sie muss Vater und Mutter ehren. Ihre Interessen und Vorlieben sollten breit gefächert sein und sie sollte einen festen Job haben. Wenn ihr Aussehen mittelmäßig ist, ist es in Ordnung.“ S: „Hattest du schon mal eine Freundin?“ W: „Nein.“ S: „Woran liegt das? Sind deine Ansprüche zu hoch?“

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W: „Nein, ich glaube, das hängt mit den persönlichen Situationen zusammen. Manchmal trifft man nicht die Richtige, manchmal trifft man auf eine, aber die Beziehung kommt nicht zustande. So ist das halt.“ […] S: „Wann planst du zu heiraten?“ W: „Mit 28, 29 will ich eine Freundin gefunden haben. Bis dahin habe ich eine feste Grundlage. Wenn ich finde, dass es passt, kann ich heiraten und meine Karriere starten. Wenn ich natürlich finde, dass dieser Mensch für mich bestimmt ist, dann werde ich auch das bedenken.“ S: „Findest du, dass Liebe am Wichtigsten ist oder die Situation?“ W: „Ich finde, Liebe ist am Wichtigsten. Wenn es soweit ist, die konkrete Situation, dann muss man genau analysieren. Wenn es grundsätzlich okay ist, dann geht es. Denn schließlich ist nach der Hochzeit nicht die Liebe das Wichtigste, sondern dass sich die gesamte Familie gegenseitig versteht und toleriert.“ S: „Ist eine Heirat für die Ewigkeit oder ist eine Scheidung, wenn es Probleme gibt, für dich in Ordnung?“ W: „Diese Frage macht unserer Generation Sorgen/ beschäftigt uns. Auf der einen Seite ist die chinesische Tradition, die besagt, dass du mit deinem Partner bis ins hohe Alter in gemeinsamer Glückseligkeit leben sollst. Aber jetzt sind die Ansichten schon offener. Wenn zwei Menschen nicht mehr zusammen passen, kann das sehr schmerzlich werden, dann sollte man sich lieber trennen.“ […] S: „Wie soll deine Hochzeit sein?“ W: „Es soll eine ganz normale Hochzeit sein. Normalerweis laden Chinesen Familie, Freunde und Kollegen aus der danwei ein und trinken und essen gemeinsam. Das war’s. Ich habe gerade an der Hochzeit eines Lehrers teilgenommen, das war sehr lustig. Sie haben drei Tage lang gefeiert. Die Freunde und das ganze Dorf sind zum Essen gekommen.“ […] S: „Wie ist deine Ansicht, wenn jemand eine Freundin hat. Sollten sie erst heiraten und dann zusammen ziehen oder können sie schon vor der Hochzeit zusammen wohnen?“ W: „Erst heiraten.“ S: „Warum? Wegen der Eltern oder wegen der Gesellschaft?“ W: „Es ist so. Wenn es soweit kommen sollte, bin ich nicht dagegen. Ich selbst denke halt, dass man erst heiraten sollte und dann zusammen ziehen. Wenn es soweit ist, können wir wieder darüber reden.“ S: „Wenn ihr noch nicht zusammen gewohnt habt, wie willst du dann wissen, ob sie zu dir passt?“ W: „Wenn man in einer Beziehung ist, versteht man sich gegenseitig.“

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S: „Wenn zwei Leute zusammen sind und zusammen wohnen, können sie feststellen, ob der andere vielleicht zu faul ist. So kannst du es erkennen. Aber wenn du erst heiratest, wie willst du dann herausfinden, ob die Person zu dir passt?“ W: „Aber bei uns in China ist das so, wenn Leute aus unserer Generation unverheiratet zusammen leben, dann macht das nichts, aber die Leute in deiner Umgebung, die Nachbarn werden darüber reden, die werden das nicht gut finden. Ich denke einfach, in China gehen die Leute sehr lange miteinander, zwei, drei Jahre, vier, fünf Jahre, all das gibt es. Wenn man so lange zusammen ist, kennt man sich ausreichend. Und dann vereint man sich. Da sind die Ansichten meiner Familie vielleicht anders, denn in China ist eine Heirat immer sehr wichtig, das ist eine große Sache im Leben eines Menschen. Aber mittlerweile wird das ein wenig heruntergespielt, obwohl der Großteil eine Hochzeit immer noch als sehr wichtig empfindet.“

Lu Jingjing & Qiuqiu S: „Habt ihr einen Freund?“ Q: „Könnte man so sagen.“ S: „Wann habt ihr euch kennen gelernt, wie habt ihr euch kennen gelernt und wann seid ihr zusammen gekommen?“ Q: „Ich habe ihn letztes Jahr im August kennen gelernt. Wir sind gerade erst ein, zwei Monate zusammen. Er ist der Kommilitone eines Freundes, deshalb weiß ich noch nicht genau, ob er als solcher zählt oder nicht…jeder hat eine andere Vorstellung von einem festen Freund. Ich achte mehr auf den Geist.“ […] S: „Der wievielte ist deiner?“ Q: „Der dritte.“ S: „Warum hast du dich von den früheren getrennt?“ Q: „Vom ersten habe ich mich getrennt, weil ich ihn plötzlich nicht mehr mochte, beim zweiten weiß ich nicht, warum wir uns getrennt haben. Ich weiß es bis heute nicht. Er wollte sich von mir trennen. Ich weiß auch nicht genau, warum.“ L: „Meiner war 4 Jahre älter.“ Q: „Mein erster war genauso alt wie ich, der zweite sieben Jahre älter als ich, mein jetziger Freund ist ein Jahr jünger als ich. Ich finde, einen zu finden, der 3-4 Jahre älter ist als ich, wäre recht gut, denn dann sind sie schon etwas erwachsener. Mein eigenes Bewusstsein sagt mir, dass es wichtig ist, ob einer reif ist oder nicht. Deshalb hoffe ich, einen etwas älteren zu finden.“ […] L: „Ich hatte einen Freund, aber wir haben uns schon getrennt. Aber das Gute ist, dass wir bis jetzt recht gute Freunde geblieben sind, sehr, sehr gute Freunde. Wir telefonieren noch häufig und schreiben uns SMS. Wir haben uns letztes Jahr im Juni kennen gelernt. Das erste Mal haben wir uns vier Monate spä-

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ter getrennt, danach sind wir wieder zusammen gekommen. Das zweite Mal haben wir uns nach Weihnachten richtig getrennt. Wir haben gesagt, das macht nichts, denn wir bleiben Freunde. Die Zeit zusammen war ganz schön kurz, aber ich finde, die Zeit mit ihm war sehr glücklich, denn er war mein erster Freund.“ […] Q: „Meine Freundin sagt, sie weiß nur, was sie nicht will, sie weiß nie, was sie selbst will. Bei mir ist es so, dass ich mich immer besser kenne. Mein Ideal wäre jemand, der mir charakterlich ähnelt. Mein jetziger Freund ergänzt sich charakterlich mit mir, wir werden nicht aneinander geraten. Ich suche jemanden, mit dem ich jeden Tag zusammen sein kann und lesen und Filme gucken. Ich denke, so etwas hält ziemlich lange. Ich finde, momentan ist wirklich eine Zeit ohne Sicherheitsgefühl.“ […] S: „Wollt ihr heiraten?“ Q: „Vielleicht, aber jetzt denke ich noch nicht über diese Frage nach. Ich habe meine Eltern gefragt, warum die Leute heiraten wollen. Sie haben gesagt: ,Warte bis du alt bist, dann weißt du es.‘ Ich sagte: ,Verstehe‘. Alle meine Freunde um mich herum haben schon geheiratet. Einige vielleicht etwas später, Männer bis 30, Frauen bis 28.“ L: „Wenn ich etwas mache, muss es für mich einen Grund dafür geben. Eine Hochzeit ist nichts Notwendiges. Wenn ich einen Freund finde, mit dem ich zusammen bin, sehe ich keinen großen Unterschied darin, ob ich ihn heirate oder nicht. Warum soll man heiraten? Dafür gibt es keinen Grund. Wenn es keinen Grund gibt, bin ich nicht bereit, etwas zu tun. Ich glaube, ich habe selbst noch nicht herausgefunden, was ich machen möchte. Wenn ich nach der Hochzeit noch mal ins Ausland möchte um zu studieren oder um mein wahres Selbst zu finden, was soll ich dann mit ihm machen? Vielleicht kann er nicht mit mir gemeinsam fahren. Dann musst du dich entscheiden. Diese Entscheidung ist sehr schmerzlich. Bevor ich mich nicht selbst gefunden habe, verspreche ich mich niemandem. Ich denke, ich kann den Anforderungen nicht entsprechen. Ich will das selbst nicht tun, deshalb ist es eher unwahrscheinlich, dass ich heirate. Außerdem sagen chinesische Weissager, dass es eher unwahrscheinlich ist, und dass ich auch eher spät dran bin. Also, ich glaube daran, auf meinen Charakter trifft das zu.“

Ren Dongqing S: „Also, ihr beide wollt heiraten.“ R: „Ja.“ S: „Und deine Freundin wohnt jetzt noch bei ihren Eltern?“ R: „Ja, ja. Wir leben noch getrennt. Am Wochenende treffen wir uns und besprechen, was wir noch alles vorbereiten müssen, zukünftige Sachen, wie wir

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was planen. Das bereden wir gerade, das ist etwas, was nur uns beide angeht. Das Wichtigste wird von ihr entschieden.“ (S, R lachen) S: „Wann hast du deine Freundin kennen gelernt?“ R: „Wann ich sie kennen gelernt habe? Sie ist eine Klassenkameradin.“ S: „Eine Klassenkameradin?“ R: „Ja.“ S: „Wann seid Ihr dann zusammen gekommen?“ M: „Nach dem Abschluss.“ (M lacht) R: „Ja, nach dem Abschluss.“ S: „Nach dem Abschluss auf der Oberstufe der Mittelschule?“ R: „Äh, ja. Gerade nachdem ich angefangen habe zu arbeiten. Direkt nach dem Abschluss habe ich in einer bestimmten danwei mit einem Praktikum angefangen, um Erfahrungen zu sammeln, ein bisschen zu lernen. Da habe ich sie kennen gelernt, da kamen wir uns näher und haben oft miteinander gesprochen.“ S: „Wann habt ihr euch entschieden zu heiraten?“ R: „Wann? Immer.“ S: „Immer?“ R: „Sie hat schon immer daran gedacht. Seit letztem Jahr, vorletztem Jahr hat sie schon immer mit mir darüber geredet, denn die erwachsenen Mädchen hier bei uns haben die Angst, nicht geheiratet zu werden. Verstehst du? (R, S lachen) Sie ist ein Jahr jünger als ich, also fast so alt wie ich. Deswegen ist sie ziemlich nervös, starrt mich immer an, will mich sofort heiraten.“ S: „Üben ihre Eltern Druck auf sie aus?“ R: „Ihren Eltern ist das egal. Weil sie sehr selbstbewusst ist, hofft sie, früh zu heiraten. Denn Mädchen, die jünger sind als sie haben teilweise schon geheiratet. (S, R lachen) Ihre Psyche widerspricht sich, nicht wahr? Deswegen drängt sie mich sehr. Eigentlich habe ich mir immer vorgestellt, so ungefähr mit 30 wäre es am besten. Schließlich läuft mein Unternehmen noch nicht so gut, damit meine ich noch nicht stabil.“ S: „Warum heiratest du dann jetzt?“ R: „Weil sie mich jeden Tag damit nervt. (M; S lachen) Bei jedem Telefonat fragt sie mich, wann wir endlich heiraten, wann sie mit ihren Eltern alles besprechen kann, ach ja, das nervt zu Tode. Die Hauptsache ist jetzt, dass die Wohnung fertig wird. Momentan ist eine Renovierung nicht angebracht, denn jetzt ist die huangmei-Zeit, alles sehr feucht. Deswegen warte ich bis es wieder heiß wird. Okay.“ S: „Okay.“ R: „Alle wissen davon.“

Ma Yan S: „Unter welchen Umständen kannst du dir vorstellen zu heiraten?“

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M: „Wenn ich eine passende Frau gefunden habe. Von der ich glaube, dass sie die Verantwortung für eine Familie übernehmen kann.“ S: „Woher weißt du, dass sie genügend Verantwortungsgefühl hat?“ M: „Verantwortung, das ist ziemlich abstrakt. Alle Menschen denken unterschiedlich. Meiner Meinung nach sollten zwei Menschen, die zusammen sind, in erster Linie glücklich sein. Das zweite ist, dass in China die Vorstellung vom Mann als führende Person in einer Beziehung sehr wichtig ist. Das beinhaltet auch, dass der Mann die Familie ernähren muss. Du kannst nicht darauf zählen, dass deine Frau unheimlich reich ist und dich ernährt. Diese Einstellung oder diese Situation kann sich bei Leuten wie uns nicht auf dieses Ziel richten.“ S: „Ist das so?“ M: „Ja.“ S: „Warum?“ M: „Wie soll ich das sagen? Wenn du eine unglaublich reiche Ehefrau willst, dann musst du schon ein hervorragendes Äußeres haben, du muss auf jeden Fall jemanden dazu bringen, dich zu lieben, richtig? Denn wenn du finanzielle Stärke erreicht hast, dann musst du die Gedanken eines anderen annehmen [hinnehmen]. Außerdem glauben wir, dass dieses Leben sicherlich nicht zu uns passt. Wir leben ein ziemlich gewöhnliches Leben, eher an der Realität orientiert. Natürlich muss ich sie nach der Hochzeit immer noch davon überzeugen, dass es kein Fehler war, mich zu heiraten, dass es ihr an nichts fehlen wird. Oder, dass es ein Glück ist, mit mir zusammen zu sein, dann ist es in Ordnung. Viel mehr Ansprüche habe ich nicht. Das Leben soll geruhsam verlaufen, nicht allzu anspruchsvolle Wünsche sollen erfüllbar sein. Ich will zufrieden sein mit dem, was ich habe, ist es nicht so? Warum muss man für so viele Dinge viel Geld und Energie verschwenden? Das alltägliche Glück ist es, eine eigene kleine Familie zu haben, eine geruhsame Arbeit. Nicht wahr? Dann geht das schon. Vielleicht ist das eine Art Pflicht? Ein Mädchen davon zu überzeugen, dass sie mit dir genug zu essen, genug zum Anziehen und für das alltägliche Leben haben wird, ohne sich Sorgen machen zu müssen? Und wenn man später ein Kind hat und du nicht in der Lage bist, ihm ein gutes Lebensumfeld zu gewährleisten und ihm eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, dann verschuldest du dich an deiner eigenen Folgegeneration.“

Ren Dongqing & Ma Yan S: „Ich habe einen Satz gehört, den mir ein chinesischer Freund gesagt hat. Er hat gesagt: ,Erst auf den Zug aufspringen und später den Fahrschein lösen.‘ (M, S lachen) Könnt ihr euch vorstellen, schon vor der Hochzeit mit eurer Freundin zusammen zu ziehen?“ R: „Jetzt ist das Leben schon so offen, das ist egal.“ S: „Das ist egal?“

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R: „Das ist egal. Diese Anschauung ist bei uns jungen Leuten schon veraltet, existiert schon gar nicht mehr. Denn schließlich nehmen wir täglich von außen kommende neue Dinge auf, deswegen sehen wir das ganz gelassen. Hauptsache, du lässt deine Eltern das nicht wissen.“ S: „Was wäre, wenn sie es wüssten?“ R: „Natürlich wäre es nicht gut, wenn sie es wüssten. Aber grundsätzlich, wenn man schon darüber spricht zu heiraten, dann kann man auch über das Zusammenziehen reden. In unserer Generation, unter den Studenten, kommt das ziemlich häufig vor, denn sie sind schon von zu Hause ausgezogen und leben ein selbständiges Leben. Deshalb ist es unter denen schon ziemlich verbreitet. Aber für uns macht das keinen Sinn (S, R lachen), geht das sicherlich nicht.“ S: „Und du? Was meinst du?“ R: „Wenn meine Eltern das wüssten, würden sie bestimmt etwas sagen.“ M: „Wenn die Beziehung schon einen festen Grund hat, dann kann man das Problem sicher lösen. Außerdem geht es um die Verantwortung, von der ich schon gesprochen habe. Wenn du die Verantwortung tragen kannst, kannst du es tun, dann ist es kein Problem, wenn du meinst, diese Verantwortung noch nicht übernehmen zu können, dann wäre das nicht redlich, echt nicht.“ (M lacht) S: „Was wäre, wenn du deinen Eltern jetzt sagen würdest, dass du mit deiner Freundin zusammen ziehen willst?“ M: „Sie wären wahrscheinlich dagegen. Ich glaube, sie wären dagegen. Aber wie soll ich sagen, das ist nur eine Meinung, und zudem können sie die Dinge nicht ändern. Sie sind bestimmt dagegen, aber sie können sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. […] Außerdem sind wir erwachsen, und wenn wir zusammenziehen wollen, dann ist das klar für sie, dann heißt das doch, dass wir heiraten wollen. Und wenn wir heiraten wollen, dann ist es auch egal, ob wir erst zusammen ziehen.“

Meng Yingying M: „Ja, hatte ich schon mal.“ S: „Früher?“ M: „Ist auseinander gegangen. (M lacht) Wir haben uns getrennt.“ S: „Warum?“ M: „Vielleicht wegen des Charakters. Einige Männer denken, ich würde sehr viel reden, andere denken, ich sei nicht hübsch.“ […] S: „Sag mir, wie dein Idealmann sein sollte, was für einen Charakter er haben sollte.“ M: „Ich finde, sein Charakter sollte offen und heiter sein, Humor sollte er haben und ein guter Redner sein. Aber das Wichtigste ist, dass er ein guter

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Mensch ist. Er muss ein guter Mensch sein, das ist charakterlich am Wichtigsten. Was das Äußere angeht, so habe ich keine besonderen Ansprüche, auf jeden Fall sollte er ein bisschen größer sein als ich.“ (M lacht) […] S: „Wenn du einen Freund hast, unter welchen Umständen kannst du dir vorstellen, ihn zu heiraten?“ M: „Unter welchen Umständen? Ich denke, wenn die Gefühle gefestigt sind. Auf jeden Fall muss ich ihn heiraten wollen. Sollte dies nicht der Fall sein, wären meine Gefühle auch nicht stark genug. (beide lachen) Wahrscheinlich kann ich nur dann heiraten. Außerdem gibt es noch etwas, nämlich die Wohnung, die wir uns kaufen. Damit meine ich die finanzielle Situation. Also, es sind zwei Faktoren ausschlaggebend, ob ich heirate: Erstens das Gefühl, zweitens die finanziellen Konditionen.“ S: „Du hast von Gefühlen (ტൣ, ganqing) geredet, ist das mit Sicherheit Liebe (䵋ൣ, aiqing)?“ M: „Ja, das ist auf jeden Fall Liebe. Also, meiner Meinung nach ist das auf jeden Fall Liebe. Neben der Liebe gibt es noch andere Faktoren wie z. B. Geld, die für andere in Frage kommen, aber ich werde auf jeden Fall nur heiraten, wenn ich den Mann liebe.“ […] S: „Übt dein Vater Druck auf dich aus, weil du noch nicht verheiratet bist?“ M: „Oh, mein Vater sollte mich damit drängen, „Such dir einen Freund“. Grundsätzlich ist das so. Aber er sagt nicht, „Es ist okay, wenn du nicht heiratest“. Ich weiß nicht, wie ich den Druck beschreiben soll. Es kann sein, dass andere Leute hinter meinem Rücken auf mich zeigen oder so, aber ich denke, das ist noch nicht so. Ich denke, dass das schon in den Köpfen einiger Shanghairen rumgeht, dass wenn eine mit 26 Jahren oder älter, über 30, noch nicht verheiratet ist, dass viele denken, sie sei eine alte Jungfer, die nicht gern ausgeht, oder die diese oder jene Probleme hat. Aber mittlerweile gibt es so viele, die ein Singleleben führen, ohne dass irgendwelche Leute mit dem Finger auf sie zeigen. In der Nachbarschaft gibt es einige Enthusiasten, die dir einen Freund vorstellen, so was gibt es auch.“ […] S: „Kannst du dir vorstellen, schon vor der Hochzeit mit deinem Freund zusammen zu ziehen?“ M: „Du meinst, vor der Hochzeit zusammen zu wohnen?“ S: „Ja.“ M: „Ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht, ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin nicht dagegen, aber erst wenn man die erste Heiratsurkunde hat, ist man relativ sicher/hat man eine Garantie. Aber wenn beispielsweise zwei Leute erstmal zusammen wohnen wollen, um zu sehen, wie sich die Gefühle entwickeln, auch wenn man die Absicht hat zu hei-

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raten und beschließt, vorher schon eine Zeitlang zusammen zu wohnen, dann kann ich das auch verstehen. Wie soll ich sagen, ich finde, eine Hochzeit ist immer noch etwas Handfesteres. Denn eine Hochzeit bedeutet ein Versprechen. Daran glaube ich.“ […] M: „Was Liebe ist? Diese Frage ist aber ziemlich schwer zu beantworten. Vielleicht wenn du an diesen Menschen denkst und unwillkürlich anfangen musst zu lächeln, oder dass du permanent an ihn denken musst und ihn vermisst, wenn er nicht da ist. Und dann, wenn du ihn wieder siehst, sind alle deine Sorgen und Probleme vergangen. Oder du hast jemanden, der bereit ist, sich deine Sorgen anzuhören und der Verantwortung für alle deine Sorgen übernimmt. Ich glaube, ganz oft haben Liebende ein sehr nahes Gefühl, das Gefühl, dass sie immer zusammen bleiben.“

Li Yuwen „Zumindest in Hinsicht auf meine Hochzeit sind sie noch recht modern. Sie drängen mich nicht zu heiraten. Das finde ich ziemlich gut. Sie üben keinen Druck auf mich aus. Das war es.“ S: „Keinen Druck.“ L: „Nein. Ich glaube, sie wollen nicht, dass ich heirate [und weggehe]. Sie lassen mich sehr viel selbst entscheiden, deshalb gehören sie meiner Meinung nach zu den überzeugbaren [Menschen]. Sie lassen mich gern selbst entscheiden und respektieren meine Meinung. […] Meine Eltern respektieren mich, deshalb lassen sie mir auch in Hinblick auf meinen zukünftigen Ehemann und solche Fragen, meine eigenen Ansichten. Meine Mutter hat früher zu mir gesagt, ich soll mir klar darüber werden, was ich will. ,Wenn du groß bist, werde ich mich nicht mehr um dich kümmern, ich werde mich nicht gegen dich stellen, denn du musst mit dem Mann leben, den du auswählst, nicht wir.‘“ S: „Echt?“ L: „Ja, und wenn mein Freund zu Hause anruft, dann sind meine Eltern sehr freundlich zu ihm, nicht wie die Eltern vieler anderer Mädchen, die ihre Töchter bevormunden. Sie sind auch nicht dagegen, wenn ich mit einem Mann ausgehe, sie stellen keine lästigen Fragen. Das finde ich ziemlich gut.“ S: „Mögen deine Eltern deinen jetzigen Freund?“ L: „Sehr.“

Zhao Jing S: „Wie sind deine Eltern?“ Z: „Meine Eltern mischen sich in diese Angelegenheiten ein. Wenn ich erzähle, dass ich einen Freund habe, dann mögen sie ihn oder mögen ihn nicht, aber sie sagen es mir nicht direkt, z.B. „Den Freund darfst du nicht treffen“, oder: „Der Typ ist sehr gut, den mögen wir“. So etwas sagen sie nicht, aber sie machen ununterbrochen irgendwelche Anspielungen, dass sie es nicht mögen,

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wenn ich ihn mit nach Hause bringe usw., usw. Das kann ein Grund sein, warum ich mit dem Typen nicht zusammen komme. Sie versuchen, heraus zu bekommen, was ich denke. Ich versuche auch, heraus zu bekommen, was sie denken. Wenn eine Beziehung dann schon weiter fortgeschritten ist, lassen sie mich wissen, was sie denken…“ […] S: „Was für einen Charakter sollte dein Traummann haben?“ Z: „Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, was ich damals darüber gedacht habe. Aber He Ping z.B. passt sehr gut zu mir. Ausgesprochen gut, besonders gut passt er zu mir. Und sein Verhalten als Ehemann ist echt nicht schlecht. Denn mein Temperament ist nicht besonders gut. Er ist mir gegenüber definitiv sehr tolerant und nimmt sehr viel Rücksicht auf mich und liebt mich sehr. Manchmal kann man tatsächlich sagen, dass es eine Art gegensätzliche Liebe ist, kennst du das? Offensichtlich weiß er, dass das, was ich tue, nicht richtig ist, aber um zu verhindern, dass es zu Schwierigkeiten, zu einem clash [engl.] kommt, oder weil er fürchtet, dass ich unglücklich werde, macht er es genauso. Das finde ich extrem schwierig, deshalb kann man nicht sagen, dass er ideal ist, aber ich finde, so einen Mann geheiratet zu haben, ist schon zufrieden stellend.“

Li Yuwen „Ein idealer Freund sollte mich ausreichend verstehen, zumindest hoffe ich, dass ich in meinem Job vor der Hochzeit noch eine Weiterentwicklung schaffe. Deshalb hoffe ich, dass er sich nicht zu viel in meine Angelegenheiten einmischt, ich hoffe, dass er an mich glaubt. Dass er an mich glaubt, ist ziemlich wichtig. Ich hoffe, dass er sich im Leben nicht allzu sehr um mich kümmert. Ich denke, ich kann mich um mich selbst kümmern. Aber zumindest sollte er mich in dem unterstützen, was ich tue.“

Zhao Jing & Li Yuwen S: „Ich frage jetzt eine ziemlich schwierige Frage: Was ist Liebe?“ L: „Was Liebe ist?“ Z: „Ich finde, jetzt, nachdem ich schon ein halbes Jahr verheiratet bin, ist Liebe für mich, jeden Tag nach Hause zu kommen, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen, dann jeden Tag Abendessen zu bereiten und wenn mein Mann nach Hause kommt, mit ihm zusammen zu essen. Nach dem Abendessen mit ihm spazieren zu gehen, danach mit ihm gemeinsam fern zu sehen, danach schlafen zu gehen. Vor einigen Tagen habe ich He Ping eine E-Mail geschickt und ihm gesagt, obwohl das schon eine Art Gewohnheit ist, mag ich diese Gewohnheit doch sehr, und dass ich diese Gewohnheit genieße. Es ist nicht so, dass ich jeden Tag sofort von der Arbeit nach Hause eile, um Hausarbeit zu

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machen. Das ist ermüdend und ätzend. Dieses Leben, wie es momentan ist, das mag ich sehr, und ich mag diesen Geschmack der Liebe.“ L: „Liebe. Kann sein, dass wir uns in dieser Hinsicht etwas unterscheiden. Meiner Ansicht nach ist Liebe, wenn man auch noch so viel zu tun hat, inne zu halten und an diesen Menschen zu denken und zu wissen, dass dieser Mensch auch an mich denkt. Ich denke, das ist Liebe.“ Z: „Ja, ich finde, die Vorstellungen von Liebe vor der Hochzeit und nach der Hochzeit sind absolut unterschiedlich.“ S: „Warum?“ Z: „Auf jeden Fall finde ich, weil ich eine frisch Verheiratete bin, dass meine Vorstellungen vor der Hochzeit, als ich mit He Ping verlobt war, wenn wir über Probleme geredet haben und so… ich finde, das war vollkommen anders als heute.“ S: „Merkwürdig.“ Z: „Echt merkwürdig.“ L: „Der Lebensstil hat sich geändert. Weil ihr Lebensstil jetzt recht gefestigt ist. Ich denke, falls mein jetziger Freund und ich heiraten sollten, dann wird es nicht so sein wie bei ihnen. Beide kommen nach Hause…“ Z: „Wir beide, sie und ich, sind zwei völlig unterschiedliche Typen.“ L: „Ja, wir beide sind ehrlich gesagt zu beschäftigt. Wir haben einfach keine Zeit, nach Hause zu gehen und zu kochen, oder nach dem Essen Spazieren zu gehen, das sind extravagante Hoffnungen. Wir haben nur Samstag und Sonntag Zeit.“ Z: „Tatsächlich ist He Ping auch sehr beschäftigt. Weißt du, wann er gestern heim kam? Als wir gegessen haben, war es schon 21:30 Uhr.“ S: „So beschäftigt?“ Z: „Ja, zudem warte ich jeden Tag, bis er nach Hause kommt. Ich mache das Essen. Wenn er aus der Firma kommt, ruft er mich an, dann fange ich erst an. Egal, wann er nach Hause kommt, einmal hat er mit Kenson [einem Kollegen] bis 21:30 etwas zu besprechen gehabt, da habe ich erst so spät angefangen zu kochen. Unsere [Yuwens und Jings] Charaktere sind da vollkommen unterschiedlich. Sie ist ein Mädchen, das sich in alles hinein stürzt. Ich bin ziemlich nachlässig. Aber ich mache meine Arbeit gut, ich vollende die Dinge bei meiner Arbeit, aber dann gehe ich nach Hause und mache dort was. Alles, was mit Dingen außerhalb zu tun hat, muss mein Mann erledigen. Er kann das. Ich unterstütze seinen Job. Und vielleicht kann ich ihn auch unterstützen, wenn er sehr viel zu tun hat, ihm bei Dingen helfen, indem ich mit ihm darüber rede. Aber wenn ich raus muss und mich hetzen, wenn beide draußen kämpfen müssen, dann kann ich das nicht akzeptieren, deswegen ist unsere Familie ziemlich klassisch: Der Mann lebt draußen, die Frau drinnen, absolut typisch.“ […] S: „Wann haben He Ping und du euch entschlossen zu heiraten?“

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Z: „Wir wollten zusammen sein. Als wir die Wohnung gekauft haben, du weißt, dass viele junge Shanghairen, die eine Wohnung kaufen, schon registriert sind. Weil ich damals aber noch nicht unbedingt heiraten wollte, habe ich zu He Ping gesagt, wenn du die Wohnung kaufen willst, will ich dich jetzt aber noch nicht heiraten. Trotzdem hat er die Wohnung gekauft. Ein halbes Jahr nach dem Kauf hat er noch einmal um meine Hand angehalten und ich habe zugestimmt.“ S: „Wie hat er dich gefragt?“ Z: „Er hat mich nicht direkt gefragt. Er hat sehr lange geredet, ich habe schon vergessen, was, aber ich war sehr gerührt und ohne nachzudenken habe ich zugestimmt. Ich glaube, er hat mich nicht direkt gefragt, er hat für eine sehr, sehr, sehr romantische Atmosphäre gesorgt und ich habe ja gesagt. Aber ich denke, wenn ich zu dem Zeitpunkt wirklich nicht einverstanden gewesen wäre, dann hätte ich auch nicht zugestimmt. Hauptsache ist, dass ich im Herzen bereit war, ihn zu heiraten. Wir sind jetzt schon über zwei Jahre zusammen und seitdem haben wir uns jeden Tag gesehen, fast täglich.“ S: „Und du? Wann könntest du dir vorstellen zu heiraten?“ L: „Wir haben schon darüber geredet. Wir würden uns dazu entscheiden, uns erst registrieren zu lassen. Über die Feier haben wir noch nicht nachgedacht, denn wir beide finden das unwichtig. Die Feier ist nur Formsache, das ist alles. Die Hauptsache ist, dass wir beide zusammen sein können. Wir denken nur darüber nach zu heiraten, weil wir dann einfacher zusammen sein können. Außerdem, wenn zwei Leute mehr oder weniger miteinander auskommen, dann denken sie schon daran, zu heiraten.“

Vicky Cao V: „Ich habe einen [Freund]. Auf der Oberstufe der Mittelschule waren wir Klassenkameraden. Später waren wir auf unterschiedlichen Unis, aber das hat bis heute gehalten. Wir sind naiv/rein, wir haben kein Geld und wir haben eine Beziehung aufgebaut. Es hat zu einem naiven Zeitpunkt begonnen und bis jetzt gehalten. Deshalb finde ich, dass ich [diese Beziehung] verdiene.“ S: „Wie lange seid ihr zusammen?“ V: „Vom dritten Jahr auf der Oberstufe der Mittelschule bis jetzt. Er macht jetzt ein Praktikum.“ S: „Wo?“ V: „Er ist in Europa, auch in Frankreich, für vier Jahre.“ S: „So lange. Deine Eltern wissen es nicht?“ V: „Sie wissen es. Aber sie denken, wir wären sehr gute Freunde, denn wir haben ihnen nie gesagt, dass wir zusammen sind. Seine Eltern wissen es vielleicht. Aber China ist recht unfrei/zurückhaltend. Jetzt, wo wir gesagt haben, dass wir Kommilitonen sind, sind wir halt Kommilitonen.“ S: „Warum erzählt ihr es nicht euren Eltern?“

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V: „Es ist nicht so, dass wir uns nicht trauen würden, es ist, weil Chinesen alle relativ zurückhaltend sind. Erst wenn es darum geht zu heiraten, sagt man, dass man schon zusammen war. Wenn etwas Zeit vergangen ist, werden wir heiraten. […] Außerdem hoffen die Eltern, wenn man auf der Oberstufe der Mittelschule ist, dass man die Aufnahmeprüfungen für eine gute Uni schafft. Sie wollen nicht, dass die Kinder eine Liebesbeziehung haben, weil man noch so jung ist und die aufgebauten Gefühle nicht stark sind. Zu der Zeit sollte man lernen und alles weitere aufschieben. Sie sind der Meinung, dass man so eine gute Lernzeit nicht verschwenden darf.“ […] S: „Wo trefft ihr euch normalerweise?“ V: „Zu Studienzeiten haben wir uns am Wochenende getroffen und sind zusammen bummeln gegangen. Da wir wenig Geld hatten, sind wir zu Mc Donalds gegangen, KFC, haben dort Cola getrunken und uns unterhalten. Wir waren sehr glücklich. Oder jetzt ist der Frühling sehr schön, da gehen wir Fotos machen. Wir treffen uns mit meinen und seinen Freunden und unternehmen gemeinsam etwas.“ […] S: „Wann könntest du dir vorstellen zu heiraten?“ V: „Er hat schon darüber geredet. Er hat gesagt: „In zwei Jahren heiraten wir, okay?“ Manchmal denke ich, wie lange werden wir wohl noch so reden? Wenn er so redet, kann ich nicht so recht daran glauben. Deshalb denke ich, dass es besser ist, der Natur ihren Lauf zu lassen. Wenn es nach meinen Eltern geht, wollen sie, dass ich einen jungen Mann finde, der ein eigenes Unternehmen hat und Potentiale. Deswegen, angesichts dessen, dass er gerade angefangen hat zu arbeiten, geht es noch nicht.“ […] S: „Ist dein Freund dein Traummann?“ V: „Kann man sagen. Ich war es, die sich damals an ihn rangemacht hat, denn damals war ich beim Schulradio Nachrichtensprecherin. Er war in einer anderen Klasse. Er hat sehr gut Basketball gespielt und ist sehr groß. Ich habe ihm gesagt, er könne sich ein Lied auswählen, ein Mal, zwei Mal. Er hat gedacht, “Warum will dieses Mädchen immer, dass ich Lieder auswähle?“, dann hat er sich meine Telefonnummer besorgt. Er fand mich ziemlich gut. Also haben wir per Telefon Kontakt aufgenommen. Er war damals sehr gut in Mathe, ich sehr schlecht, er hat mir Nachhilfe-Unterricht gegeben. Sehr reine Gefühle.“ S: „Erzähl mir, was du an seinem Charakter am meisten magst.“ V: „Am meisten mag ich das Gefühl, das er mir gibt. Das Gefühl, das man hat, wenn der Freund einen so ansieht, als wenn er seine erste große Liebe ansieht. Dieses Gefühl kann man nicht mit Worten ausdrücken.“

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Marie Chen S: „Du hast mir erzählt, du hättest einen Freund. Du hast mir erzählt, welche Probleme ihr habt. Wann habt Ihr euch kennen gelernt? Wo habt Ihr euch kennen gelernt?“ M: „Er war mein Kommilitone.“ S: „Aha.“ M: „… Weil er und ich früher kalligraphiert haben, waren wir häufig zusammen und haben uns so kennen gelernt. Wir sind jetzt ungefähr zwei Jahre zusammen, zweieinhalb Jahre. Es scheint, als wären wir nicht von der Art …, denn wir beide gehören zu den Leuten, die sich mit konkreter Arbeit befassen. Wir sind nicht solche Leute, die einfach nur wegen der Liebelei miteinander ausgehen, nur um Zeit miteinander zu vertrödeln. Wir beide sind relativ ... Er ist auch ein sehr gewissenhafter Mensch, ich bin auch ein gewissenhafter Mensch. Deswegen gibt es auch zwischen uns keine großen Streitereien, keine großen Auseinandersetzungen, deshalb ist unser Leben recht friedlich, aber es hat auch unsere eigene Art.“ S: „Aha, ist dein Freund Shanghairen?“ M: „Seine Eltern sind es nicht. Er aber schon. Seine Eltern sind von außerhalb, aber seine Eltern sind schon über 20 Jahre in Shanghai, deshalb ist er hier groß geworden.“ […] S: Aha. Ist er dein Traummann? M: Mein Traummann? Nein, ist er nicht, aber er kümmert sich um mich. (beide lachen) S: „Wie sollte dein Traummann sein?“ M: „Mehr Mann, nein, ist nicht so. Ich denke, ich denke, die Frage ist ziemlich nervig, denn mein eigener Charakter ist ziemlich sanft, recht traditionell, aber ich mag Leute, die nicht so sehr traditionell sind. Doch denke ich, dass solche Leute nicht zu mir passen. Und am Ende werde ich mir doch einen altmodischen Menschen aussuchen.“ (beide lachen) S: „Also ist dein Freund eher traditionell eingestellt.“ M: „Wenn man es relativ sieht, ist er recht traditionell. Aber, aber er ist ziemlich lustig und humorvoll, deswegen können wir jetzt beisammen sein. Einige Menschen …, weil ich nicht allzu sehr solche modischen amusement center [engl.] mag, z. B. in der Disco tanzen gehen. Solchen Lebensstil mag ich nicht besonders, deshalb hoffe ich, jemanden zu finden, der mit meinem Lebensstil übereinstimmt. Das so zu sehen, finde ich für mich selber ziemlich gut.“ S: „Was macht ihr, wenn ihr zusammen seid?“ M: „Was wir machen?“ S: „Was macht ihr?“ M: „Weil er nicht viel Geld verdient und ich auch recht wenig habe, suchen wir uns Freizeitbeschäftigungen, bei denen man nicht zu viel Geld ausgeben

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muss, zum Beispiel bummeln gehen. Aber nichts kaufen. (beide lachen). Was dann noch? Dann gucken wir noch gemeinsam zu Hause DVD.“ S: „Größtenteils bei wem zu Hause?“ M: „Bei mir zu Hause.“ S: „Haben deine Eltern nichts dagegen, wenn dein Freund zu dir nach Hause kommt?“ M: „Das macht nichts. Entweder gucken wir fern oder quatschen. […] Was noch? Wir gehen auch im Park spazieren. Was noch? Manchmal gehen wir mit Kommilitonen essen, so sind die Ausgaben nicht besonders groß, und außerdem machen wir noch andere Dinge, die Spaß bringen“ […] S: „Was fühlst du im Herzen für deinen Freund?“ M: „Was ich im Herzen fühle? Was ich im Herzen fühle? Ich finde, er ist niemand, der nach höheren Idealen strebt. Er gehört zu denjenigen, die ein friedliches Leben bevorzugen. Es könnte sein, dass ich irgendwann einmal hoffe, dass er eine große Sache vollbringt, aber er, wie soll ich sagen, es kann sein, je größer der Sieg ist und desto größter das Risiko ist, dass er, so denke ich, nicht Manns genug ist, diese großen Dinge zu erfüllen. Aber er ist mit Sicherheit ein sehr guter Ehemann, ein sehr guter Vater, und deshalb stelle ich momentan keine allzu hohen Anforderungen an ihn.“ S: „Kannst du sagen, dass du deinen Freund liebst? Ist das Liebe?“ M: „Ich denke, das ist es.“ S: „Was ist Liebe?“ M: „Das ist eine Art Harmonie, will sagen, manchmal muss ich nicht unbedingt etwas sagen, aber er weiß genau, was ich sagen will. Ich finde, so etwas ist etwas Besonderes. Manchmal muss ich, geht es um einen Gefühlsausdruck oder eine Bewegung, dann muss ich das gar nicht ausdrücklich sagen. Er weiß es auch so. Wenn ich an etwas denke, ist seine hellseherische Kraft noch stärker als meine. Wenn er an etwas denkt, bin ich mir hingegen nicht klar darüber. Ich finde, das ist ein wesentlicher Grund. Außerdem ist der zweite Grund, dass er sehr optimistisch ist. Er sieht in allen Dingen immer das Positive. Ich will damit sagen, er ist nicht … denn ich bin recht pessimistisch. Deshalb kann er mir, wenn ich meine pessimistischen Phasen habe, beistehen und mir ein wenig Zuversicht geben. Also, er gehört zu denen, die mich, wenn ich mich schlecht fühle, wieder aufheitern können.“ […] S: „Unter welchen Umständen könntest du dir vorstellen zu heiraten?“ M: „Was ich hoffe, ist, dass er seine eigene Wohnung und zusätzlich ein ziemlich gesichertes Einkommen hat. Soweit grundsätzlich, denn wir beide sind ja immerhin schon über zwei Jahre zusammen. Deswegen kennen und verstehen wir uns gegenseitig schon. Deswegen sind das Wichtige nicht Gefühlsfragen, sondern Fragen des wirtschaftlichen Fundamentes. Weil im Leben zweier

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Menschen die Wohnung eine ziemlich wichtige Rolle spielt und das Decken fixer Kosten und so etwas. Deswegen ist für mich persönlich augenblicklich das wirtschaftliche Einkommen eine vergleichsweise wichtige Frage.“ […] S: „Du hast mir schon erzählt, dass du demnächst nach Frankreich fahren willst, du somit in Betracht ziehst, deinen Freund zu verlassen, um nach Frankreich zu gehen.“ M: „Weil ich mindestens für drei Jahre wegfahre und man sich innerhalb von drei Jahren sehr verändern kann. So kann es sein, dass er auf Dinge stößt, die für ihn viel besser sind. Es kann sein, dass ich auf Dinge stoße, die für mich viel besser sind. Außerdem denke ich, nachdem ich nach Frankreich gegangen sein werde, werden sich auch meine Einstellungen ändern. Vielleicht mag ich es dann umso mehr, Risiken einzugehen. Damit meine ich, dass die französische Gesellschaft noch offener ist. Vielleicht mag ich dann auch Menschen mit seinem Lebensstil nicht mehr. Deswegen denke ich, das ist noch keine endgültige Frage.“ S: „Weiß dein Freund, dass du nach Frankreich gehst? Solltest du nach Frankreich gehen, wie wird sich dann dein Freund fühlen?“ M: „Er will, dass ich mache, was ich selber machen möchte, obwohl er damit nicht einverstanden ist. Aber weil ich schon, weil ich es schon beschlossen habe, kann er mir nicht den Weg versperren. Er will auch, dass ich das tue, wozu ich bereit bin, es zu tun. Andernfalls würde ich ihm das auch sehr verübeln, deswegen kann er mich nicht daran hindern. Aber natürlich hat er sich zu wünschen, dass ich nicht gehe.“ (M lacht) S: „Heißt das, dass ihr euch, wenn du nach Frankreich gehst, definitiv trennt?“ M: „Nicht unbedingt, das hängt von der Situation ab.“

Daisy Ding D: „Weil ich in diesem Land meinen Abschluss gemacht habe, bin ich sehr daran interessiert, weiter zu studieren, aber an der chinesischen Lehre habe ich schon kein Interesse mehr. Natürlich gibt es in China gute Lehre und gute Universitäten, nur kann ich mich mit dieser Lehre nicht identifizieren, hier gibt es noch das klassische Tafelschreiben, und in vielen Bereichen gibt es Defizite, ich mag mehr interaktive Methoden. Allmählich wandelt sich China auch in diese Richtung, aber noch nicht genug. … Früher in der Schule hatte ich Möglichkeiten, aber ich habe nicht danach gestrebt. Jetzt will ich heiraten, aber das wird meine Pläne nicht ändern. Ich werde keine pflichttreue Hausfrau. Ich denke, niemand sollte mich von irgendwas abhalten: Und niemand kann mich abhalten.“ S: „Und wenn du ein Kind hast?“ D: „Ein Kind kann in die Pläne integriert werden. Ein Kind kann man für die Zeit unterbringen, ich kann auch weitermachen, wenn ich ein Kind habe, denn

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ich denke, dass meine eigene Entwicklung auch einen großen Einfluss auf das Kind hat. Ich will, dass es weiß, dass es machen kann, was es machen möchte. Das ist sehr wichtig. Meine Eltern haben mir nicht die Möglichkeit gegeben…. Aber ich will nicht, dass die nächste Generation es so hat wie ich, das wäre nicht gut. […] aber in China ist es so, Shanghainese say there is a deadline for a woman [engl.]. Wenn eine Frau bis 30 nichts Besonderes erreicht hat, dann heiratet sie und bekommt ein Kind … und macht viele Dinge zu Hause.“

Connie Peng S: „Wünscht du dir einen Freund?“ C: „Ja.“ S: „Wie sollte der Traummann sein?“ C: „Ich habe schon ein gewisses Alter erreicht. Da kann ich schon nicht mehr wirklich etwas erhoffen. Die Einschränkungen sind gestorben, nach welchen Bewertungen, Umständen und Normen ich gehen würde. Ich kann nur sagen, wenn er mir über den Weg läuft, dann läuft er mir über den Weg.“ […] S: „Frauen, die in China mit 29 noch nicht verheiratet sind…“ C: „… gibt es nicht viele. In Shanghai gibt es wohl einige, in der chinesischen Gesellschaft nicht viele.“ S: „Heute heiraten junge Menschen immer später, bekommen immer später Kinder.“ C: „Weil sie sich fürchten, Verantwortung zu übernehmen oder weil sie meinen, noch nicht weise und reif genug zu sein. Sie haben keine richtige Anpassungsfähigkeit. Sie warten darauf, bis alle Umstände, die materiellen und mentalen, bis die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges relativ hoch ist, erst dann wird geplant.“ […] S: „Fühlst du dich selbst unter Druck gesetzt?“ C: „Ehrlich gesagt, nur aus der Perspektive, einen Freund zu finden, habe ich keinen Druck, aber wenn ich heiraten möchte, schon ein wenig.“ S: „Junge Leute kennen zu lernen, Männer kennen zu lernen ###“ C: „Da gibt es niemanden. Sind zu unterschiedlich. Das sind die jungen Männer, die keiner will.“ […] S: „Unter welchen Umständen könntest du dir vorstellen zu heiraten?“ C: „In erster Linie muss sich der Mensch mit mir verstehen ( 冚 ൓ 䝢 , tandelai). Zweitens finde ich, dass das Vertrauen zwischen zwei Menschen sehr wichtig ist, man muss sich gegenseitig vertrauen. Ich habe noch niemals jemanden getroffen, dem ich einen Heiratsantrag gemacht hätte.“ (beide lachen) […]

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S: „Ich habe eben noch etwas vergessen, dich zu fragen. Hättest du ein Problem damit, vor der Hochzeit schon mit deinem Freund zusammen zu ziehen?“ C: „Ich hätte kein Problem damit, aber meine Familie hätte eins.“ S: „Warum?“ C: „In China kann ein Mädchen vor der Hochzeit mit dem Freund einer anderen eine Beziehung anfangen, aber nicht unbedingt mit ihm zusammen wohnen. Wenn zwei Personen zusammen wohnen, dann ist die eine Person mit dem Label beklebt, schon eine verheiratete Ehefrau zu sein. Da denken andere möglicherweise, dass diese Frau nicht ehrbar ist.“ S: „Also würdest du erst heiraten und dann mit deinem Mann zusammen ziehen.“ C: „Ja.“ S: „Wegen der Eltern.“ C: „Wegen Mama und Papa, aber auch meinetwegen. Natürlich ist eine Hochzeit für einen selbst eine persönliche Sache, aber Menschen können nicht in einem Vakuum leben. Zudem gibt es so schöne Hochzeitskleider, wie käme ich dazu, so was nicht zu tragen???“

Liebe und Heirat Waidiren Li Nan, Zheng Leibin, Wang Xin S: „Wie sollte euer Idealpartner sein?“ W: „Zuerst sollte er recht introvertiert sein, beide sollten die gleiche Sprache sprechen, wir sollten einfach miteinander reden können. Das ist das erste Wichtige, außerdem gleiche Interessen und Vorlieben. Zudem sollte sein Charakter gut sein. (lacht) Soweit so gut.“ S: „Und was meint ihr?“ Z: „Zuallererst muss sie dich verstehen. Sie muss an allen deinen Seiten interessiert sein. Dass sie dich verstehen kann, ist das Wichtigste.“ L: „Er sollte schon auf derselben Rangstufe sein, sollte zum Beispiel die gleichen Erfahrungen gemacht haben, z.B. was das Wissen angeht. Ich muss ihn definitiv mögen.“ […] S: „Überlegt mal bitte, unter welchen Umständen ihr euch vorstellen könnt zu heiraten.“ Z: „Erst braucht man einen Job und dann eine Wohnung.“ S: „Mit Job und Wohnung kannst du daran denken zu heiraten?“ Z: „Ja.“ L: „Erst, wenn die Idealvorstellungen erfüllt sind, daran glaube ich. Aber wenn es echt ist, dann beeinflussen das mit Sicherheit einige Faktoren wie das junge Alter, die Zeit …. Das Wichtigste bei einer Hochzeit ist, dass die Person einen gefühlsmäßig anzieht.“

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W: „Ich denke auch so. Wenn zwei sich absolut vertrauen, dann kann man heiraten.“ S: „Wollt ihr unbedingt heiraten?“ Z: „Unbedingt.“ L: „Eine Hochzeit ist eine große Sache, tatsächlich das Herzblut. Das ist der Weg, den die Chinesen gehen. Es gibt eine Gedichtzeile: Nachdem die Seele ruht, fließt das Blut noch tausend Jahre (㣞㦦Ꮢ‫ڜ‬ஒհ‫෈ۨ ٿ‬㰒ੌࠩՏ‫ڣ‬, dang linghun anxi zhihou, xueye jiang liudao qian nian). Deshalb ist eine Heirat eine große Sache. Für einen selbst ist eine Heirat eine sehr persönliche Frage, aber es besteht dafür definitiv keine Notwendigkeit.“ W: „Ich finde auch, dass eine Heirat nur eine Formsache ist, das ist alles. Man muss nicht unbedingt diesen formalen Weg gehen. Ich finde, man muss nicht unbedingt heiraten.“ […] S: „Wenn ihr mit der Freundin, dem Freund nicht verheiratet seid, könntet ihr dann mit ihr/ihm zusammen leben?“ Z: „Ja.“ S: „Also kein Problem? Ihr müsst nicht unbedingt heiraten, um mit eurem Partner/eurer Partnerin zusammen zu leben?“ Z: „Richtig.“ L: „Für Chinesen ist das ziemlich offen.“ S: „In Shanghai könntet ihr euch das vorstellen, wie ist es in euerem Heimatort?“ Z: „Fast genauso. Fast genauso.“ L: „Die Elterngeneration kann das vielleicht nicht verstehen.“ W: „Bei uns ist es grundsätzlich so. Wenn du so etwas machst, dann werden Gerüchte über dich verbreitet werden (‫܃‬㢸๯Գ円叿ࠩ࿍ऱ, ni hui bei ren shuo chang dao duan de) (W lacht), dann hängst du davon ab, ob es den anderen etwas ausmacht oder nicht, wie die öffentliche Meinung ist. Wenn es in Ordnung ist, kann man zusammen wohnen.“ […] S: „Ihr habt alle keinen Freund oder Freundin. Was haben eure Eltern gegenüber einem Partner, einer Partnerin für eine Einstellung? Haben sie irgendwelche Einflussmöglichkeiten?“ L: „Sie können mir Ratschläge geben. Wenn du jemanden kennen lernst, dann machen sie sich schon Gedanken über seinen Hintergrund, die Familie, sein Alter und seinen Charakter. Meistens helfen sie dir beim Erwägen, teilen ihre Meinung mit. Meine Eltern sind nicht besonders streng. Wenn du mit ihren Ansichten nicht einverstanden bist, dann bestehen sie auch nicht darauf.“ W: „Ja, meistens ist das so.“ (lacht) Z: „Es ist unvermeidbar, dass sie dich beraten, aber sie erzwingen nichts. Wichtige Entscheidungen soll ich treffen. Aber bevor ich mich entscheide,

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kann ich sie um Rat fragen. Das mache ich auch aus Respekt ihnen gegenüber, dann sagen sie ihre Meinung. Anschließend entscheide ich.“

Lin Xiaoke S: „Wie sollte deine Freundin sein?“ L: „Sie sollte lebhaft sein, liebenswert, aber gleichzeitig nicht zu abhängig. Man sollte im gleichen Business tätig sein, man sollte sich gegenseitig verstehen und einander Gefühle entgegenbringen.“ […] S: „Wann planst du zu heiraten?“ L: „So etwa mit 30, denn ich will erstmal finanzielle Stärke erreichen, zudem will ich die Familie ernähren können. Oder anders gesagt: Sollte ich kein finanzielles Potential haben, ist es ziemlich schwierig.“

Peng Yongyang S: „Bist du schon verheiratet oder noch nicht?“ P: „Ich bin schon verheiratet.“ S: „Deine Frau…“ P: „Für chinesische Verhältnisse bin ich für mein Alter sehr früh verheiratet, sehr, sehr früh. Es kann sein, dass sehr viele Leute uns für traditionell halten, aber das ist nicht so. Wir sind seit der Mittelschule zusammen, haben uns gemeinsam entwickelt. Letztes Jahr haben wir geheiratet.“ S: „Kommt deine Frau auch aus Anhui?“ P: „Ja, ja, ja, denn wir waren Klassenkameraden und sind dann zusammen gekommen.“ S: „Warum habt ihr euch entschlossen zu heiraten?“ P: „Das weiß ich auch nicht so genau, vielleicht war mein Kopf so heiß, und dann haben wir geheiratet. Ich habe nicht so darüber nachgedacht. Ich habe früher nie daran gedacht zu heiraten, ich fand, das ist keine wichtige Sache. Mein Gefühl war, zu warten, bis ich ein eigenes Unternehmen habe und erst dann zu heiraten. Aber ich weiß auch nicht, damals war ich benommen, ich weiß auch nicht, was war, auf einmal wollte ich heiraten, und dann habe ich geheiratet. (lacht) Ich denke, diese Sache [Liebe] ist, wie soll ich sagen, ist etwas, was du nicht ausdrücken kannst, was du nicht in Worten ausdrücken kannst. So ist das, so fühle ich, denn schließlich habe ich noch nicht viele Beziehungen gehabt. Kann sein, dass ich da relativ einzigartig bin. Ich denke mir das so, ich denke, die wahre Liebe gibt es nur einmal, und die muss man sich greifen. Viele Leute glauben, dass man beliebig mit einer Frau gehen kann und wenn es als stabil angesehen wird, dann nimmst du sie zur Frau. Meiner Meinung nach verlierst du so, wirst du so unglücklich. Denn es geht nicht darum, ob du unglücklich wirst oder nicht. Wenn es wahre Liebe ist, wirst du es nicht bereuen. Wenn du z.B. nur vorgibst zu lieben, wirst du es mit Sicherheit bereuen. Wenn du je-

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manden mit ganzem Herz und ganzer Seele liebst, dann kannst du es nicht bereuen. Und obwohl ich ziemlich früh geheiratet habe, viele Leute sagen, du hast so früh geheiratet, du wirst es bereuen, dann sage ich ihnen mit sehr, sehr lauter Stimme, dass ich es nicht bereue, weil ich meine Frau liebe, dass ich sie sehr liebe. Wir waren halt noch sehr jung, als wir zusammengekommen sind.“ S: „Wie alt?“ P: „15,16 und letztes Jahr haben wir geheiratet. Meiner Ansicht nach ist Liebe eine Kraft, an die du im Herzen und im Kopf denkst. Wenn dir jemand oder etwas sehr wichtig ist, das was du liebst, und es diese Liebe nur einmal im Leben gibt, dann musst du es dir greifen, ansonsten, wenn du es nicht machst, dann wirst du danach nicht mehr glücklich sein.“ […] S: „Mögen deine Eltern deine Frau?“ P: „Sie mögen sie, denn meine Frau ist, wie man es mit chinesischen Worten sagt, moralisch gut und verständnisvoll. Sie ist keine Zicke, sie ist sanft und zart. Mein Vater und meine Mutter mögen sie sehr und machen nicht viele Schwierigkeiten.“ S: „Ihr zwei seid jetzt schon ziemlich lange zusammen. Habt ihr auch schon vor der Hochzeit zusammen gewohnt?“ P: „Ja. Das war kein Problem.“ S: „Deine Eltern hatten damit auch kein Problem?“ P: „Nein, denn wir sind schon so lange zusammen. Auf der Mittelschule bin ich oft mit zu ihr gegangen, ihre Eltern sind auch sehr gut zu mir. Sie ist auch oft zu mir gekommen. Beide Familien kannten die Situation, und später, als wir nach Shanghai ziehen wollten, war das überhaupt kein Problem. Alle haben es gewusst, niemand war dagegen. Meine Liebe war zu dem Zeitpunkt schon so groß und wie soll ich sagen, sie ist meine erste Liebe, sie ist auch mein Lebenspartner.“ S: „Hatten eure Eltern einen Einfluss auf eure Beziehung?“ P: „Nein, sie haben gesagt, dass das unsere Sache ist, sie waren sehr kooperativ, haben keine Unruhe gestiftet oder so. Sie hat nach unserer Hochzeit noch ein halbes Jahr bei ihren Eltern gewohnt. Sie ist erst dieses Jahr zum Frühlingsfest mit mir nach Shanghai gekommen. Nach unserer Hochzeit hat sie für kurze Zeit hier gewohnt, ist dann zurückgegangen, hat für etwa ein halbes Jahr zu Hause gewohnt und ist dann dieses Mal mit mir zusammen nach Shanghai gekommen.“ […] S: „Hat deine Frau hier Arbeit?“ P: „Ja, auf dem Kleidungs-Großhandelsmarkt hilft sie beim Verkauf. Die Arbeitszeit ist genauso lang wie bei uns, 12 Stunden, bei ihr manchmal auch nur 11 Stunden, denn sie fangen sehr früh an. Wir hier fangen spät an und hören spät auf. Bei ihr ist es das genaue Gegenteil, sie fängt früh an und hört früh

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auf, um 17:00 Uhr. Wenn ich aufhöre zu arbeiten, schläft sie schon längst. Wenn ich um elf nach Hause komme, ist sie schon im Tiefschlaf, wenn ich sie wecke.“ S: „Wann seht ihr euch dann?“ P: „Gar nicht, momentan wohnen wir nur zusammen. Wenn ich nach Hause komme, dann steht sie wieder auf, wir reden oder essen noch was. Wenn ich nach Hause komme und noch was essen kann, fühle ich mich sehr glücklich.“

Wang Shuhua & Lan Qian S: „Wie sollte euer Traummann sein?“ L: „Er sollte auf jeden Fall finanzielle Stärke und eine Karrieregrundlage haben, denn wir sind keine kleinen Mädchen mehr. Wir wollen Stetigkeit.“ W: „Ich habe mehr Anforderungen an die Region, und dann ist es sehr wichtig, dass er in seinen Gedanken reif ist. Früher hatte ich drei Ansprüche: er muss groß sein, seine Bildung muss hoch sein, sein moralischer Charakter muss gut sein. Mittlerweile finde ich es am wichtigsten, dass man in seinen Ansichten auf der gleichen Wellenlänge ist.“ S: „Muss euer Freund unbedingt älter sein als ihr?“ L: „Früher war das so, aber heute muss das nicht unbedingt sein. Das Alter ist kein Problem, man muss sich nur verstehen.“ W: „Ich bin recht konservativ. Ich finde, er sollte 1-3 Jahre älter sein als ich, zu alt darf er nicht sein.“ S: „Und was ist mit deinen Ansprüchen an die Region?“ W: „Am besten wäre, wenn er aus Xinjiang käme.“ L: „Mir ist es egal, woher er kommt, Hauptsache, wir kommen miteinander aus.“ […] S: „Unter welchen Umständen könnt ihr euch vorstellen zu heiraten?“ L: „Wenn wir beide heiraten wollen. Das beinhaltet finanzielle Stärke und einen friedlichen Ort. Wenn wir ein wenig Fähigkeiten haben und wir meinen, heiraten zu müssen, dann geht das auch.“ W: „Ich denke so ähnlich wie sie. Grundsätzlich erst, wenn die Gefühle gefestigt sind und wenn man eine bestimmte finanzielle Stärke erreicht hat.“ S: „Warum sind die wirtschaftlichen Komponenten in Shanghai so wichtig?“ L: „Weil Shanghai eine Wirtschafts-Metropole ist. Wenn die Finanzen nicht stimmen, dann kann das Leben für zwei Eheleute sehr bitter werden, und außerdem ist es auch für die Hochzeit selbst nicht besonders gut.“

Jimmy Yang S: „Du hast geschrieben, dass du mit deiner Freundin zusammen wohnst.“ J: „Richtig.“ S: „Gibt es irgendwelche Probleme, weil ihr zusammen wohnt?“

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J: „Nein, eigentlich nicht. Solange zwei Menschen, ihre Beziehung, auf gegenseitigem Verständnis, gegenseitiger Kommunikation, basiert, auf …, kann man sich miteinander verbinden. Erst dann kommen zwei Leute richtig miteinander aus, richtig?“ S: „Und in der Gesellschaft gibt es keine Probleme?“ J: „Gesellschaft. Ich finde die Gesellschaft sehr realistisch. Wenn zwei Menschen kein Problem damit haben, zusammen zu sein, dann können sie zusammen sein.“ S: „Wie lange wohnt ihr jetzt schon zusammen?“ J: „Ungefähr ein gutes halbes Jahr.“ S: „Und wie lange seid ihr schon zusammen?“ J: „Noch nicht sehr lange. Als das gerade mit uns angefangen hat, haben wir noch nicht zusammen gewohnt. Zusammen sind wir ungefähr 4 Monate.“ S: „Ah? Findest du es bequem, mit ihr zusammen zu wohnen?“ J: „Ja, das ist sehr bequem, es gefällt mir sehr. Es gibt keinen Druck.“ […] S: „Also seid ihr ziemlich frei?“ J: „Ich finde, so frei ist das nicht. Wenn ich manchmal alleine ausgehe, ich bin schließlich erst über 20, oder wenn ich irgendwie an die Zukunft denke, an meine Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist schon schwer, sich allein zu fordern, aber wenn du neben dir eine Freundin hast, zudem noch eine enge Freundin, dann ist das schwer. Wenn du hin und wieder auf ein sehr hübsches Mädchen triffst, das du schon sehr magst, dann ist es noch schwieriger, nicht wahr? Ich denke, da ich sie jetzt schon gefunden habe, muss ich sie auch gut schützen/in Ehren halten, nicht wahr?“ S: „Ist sie deine erste Freundin, mit der du zusammen wohnst oder hast du früher schon mit anderen Freundinnen zusammen gewohnt?“ J: „Sie ist nicht meine erste Freundin, sie ist schon meine (lacht) soundsovielte Freundin.“ S: „Erinnerst du dich noch an deine früheren Freundinnen?“ J: „Die zweite, sie zählt als zweite.“ S: „Also hast du schon mit deiner Exfreundin zusammen gewohnt?“ J: „Ja, kurze Zeit, aber die Gefühle waren nicht sehr gut, dann haben wir uns getrennt.“ S: „Jetzt habe ich eine recht merkwürdige Frage.“ J: „Das macht nichts.“ (lacht) S: „Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, was deine Freundin für einen Charakter haben sollte?“ J: „Also, was ich an meiner Freundin mag, richtig? Ich mag aufrichtige, gute und intelligente Menschen. Und sie muss optimistisch sein, ich will keine introvertierte Freundin. Ich finde, ob sie hübsch ist oder nicht, ist egal.“ S: „Echt? Egal?“

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J: „Eigentlich ist es egal, aber hübsch ist natürlich besser.“ (lacht) […] S: „Wann könntest du dir vorstellen, sie zu heiraten?“ J: „Wenn ich mich entwickelt habe, wenn ich mein eigenes Ding habe, dann kann ich darüber nachdenken, sie zu heiraten. Wenn ich keine Karriere mache, dann werde ich sie nicht so bald heiraten, denn dann habe ich nicht die Fähigkeit sie zu ernähren, richtig? Wenn ich mein eigenes Geschäft habe, dann kann ich auch die Verantwortung eines Ehemanns übernehmen.“ S: „Wenn du vorhaben solltest, sie zu heiraten, haben dann eure Eltern irgendeinen Einfluss?“ J: „Sie sollten keinen Einfluss haben. Sie stimmen mir da vollkommen zu.“ S: „Wissen sie, dass ihr zusammen wohnt?“ J: „Sie wissen das.“ S: „Und wie finden sie das?“ J: „Ziemlich gut. Ihr Wunsch ist, dass wir beide harmonisch miteinander auskommen, dann haben sie nichts dagegen.“ […] S: „Was ist Liebe für dich?“ J: „Liebe, wie soll ich diese Frage beantworten? Liebe scheint alles zu sein, wie soll ich sagen, auf jeden Fall ist Liebe sehr wichtig.“ S: „Liebst du deine Freundin?“ J: „Mein momentanes Gefühl ist, dass wir zwei schon die Liebe erreicht haben. Es gibt keine Worte, um sie zu beschreiben. Natürlich könnte ich sie beschreiben, kein Problem.“

Ye Yiqun & Liu Songwei L: „Momentan haben wir beide keine [Freundin].“ S: „Wie soll eure Freundin sein?“ Y: „Genauso hübsch wie du. Sie muss sich gut mit mir verstehen. Ich muss sie von Herzen mögen. Ich mag glückliche, romantische Liebe.“ L: „Meine Anforderungen an meine Freundin sind, dass sie mich in meiner Arbeit unterstützt, dass sie ein guter Mensch ist, dass sie selbst einen relativ sicheren Job hat. Jeder Mensch muss arbeiten. Ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld kein Leben. Du kannst nicht den ganzen Tag nur Spaß haben. Den ganzen Tag nur Spaß haben, wie soll das gehen?“ S: „Woher sollte eure Freundin kommen?“ Y: „Das ist egal. Wenn man nur aufrichtig miteinander umgeht, reicht das. Ich habe keine Regionenbegrenzung. Das ist mir egal, das ist nicht notwendig. Mir ist egal, woher sie kommt.“ L: „Wichtig ist, dass sich beide verstehen.“ Y: „Unsere Ansichten müssten ähnlich sein. Wir haben nicht das Recht, Anforderungen zu stellen, wie sie sein soll. Wir können nur selbst versuchen, al-

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les so weit wie möglich besser zu machen. Nur so können wir irgendwelche Mädchen auf uns aufmerksam machen und dazu bewegen, uns zu mögen.“ […] S: „Was ist Liebe?“ Y: „Liebe ist Leben.“ S: „Wie erklärst du ,Liebe ist Leben‘?“ Y: „Liebe ist mitten im Leben, sie durchdringt sehr viele Bereiche, sehr viele Elemente. Wenn man morgens aufwacht, kann man sich gegenseitig Glück wünschen, kann man sich Grüße senden, kann man den ganzen Tag glücklich arbeiten. Oder du denkst den ganzen Tag an sie, strengst dich ihretwegen, aber auch deinetwegen an. Das bewegt das Herz. Jemanden zu haben, der sich um dich sorgt, das bewegt mich. Dafür bin ich dankbar, das kann das Leben sehr schön machen. Selbst wenn es ein Regentag ist, fühlst du dich im Herzen gut. Erst mit der Liebe fühlst du dich glücklich. Wenn du keine Liebe hast, wird dein Leben viel dumpfer und uninteressanter sein. Zum Beispiel habe ich keine Freundin, keine Liebe, deshalb ist mein Leben ein wenig bemitleidenswert. Aber nichts desto trotz glaube ich, dass es eine Freundin für mich gibt, das wird nicht mehr lange dauern, bis ich eine habe. Ich finde, ich selbst bin gar nicht so übel, sie muss mir nur über den Weg laufen, eine passende, dann werden wir uns lieben.“ L: „So ungefähr hat er schon gesagt, wie es sein sollte.“ […] S: „In welcher Situation könntest du dir vorstellen zu heiraten?“ L: „Da brauche ich definitiv finanzielle Stärke, bevor ich heiraten kann. Du kannst nicht heiraten ohne finanziell abgesichert zu sein. Erst musst du dich selbst ernähren können, erst dann kannst du darüber nachdenken, noch jemanden zu ernähren, richtig? Das ist sicher. Zudem will ich ein Unternehmen haben.“ Y: „Meine Antwort ist ziemlich einfach. Wenn ich sie liebe und weiß, dass auch sie mich liebt, dann denke ich über Heirat nach. Denn ich denke, eine Hochzeit lässt zwei Menschen erst perfekt werden. Lässt die Liebe noch vollkommener werden. Ich finde, eine Heirat ist sehr wichtig im Leben eines Menschen. Zu einer Hochzeit gehört eine aufrichtige Einstellung, denn sie ist schließlich für ein ganzes Leben. Wenn du jemanden sehr liebst und umgekehrt, dann musst du sie dir schnappen, dann solltest du heiraten. Wenn du nicht heiratest, können dir sehr viele Dinge verloren gehen. Ich finde, eine Heirat ist etwas sehr Gutes.“

Cai Zhihong „In China kann man auch schon vor der Hochzeit zusammen wohnen. Ich habe auch schon sehr lange vor der Hochzeit mit ihm zusammen gewohnt.“ S: „Wie lange vor der Hochzeit habt ihr euch kennen gelernt?“

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C: „Wir kennen uns sieben, acht Jahre. Als ich auf der Uni war, habe ich ihn kennen gelernt. Aber nach dem Abschluss bin ich nicht in Shanghai geblieben, ich bin nach Hause zurückgekehrt. Ich habe drei Jahre in Nanning gearbeitet. Danach habe ich mein Studium in Shanghai fortgesetzt [Magister]. Während des Magisterstudiums hat er eine Wohnung gekauft. Manchmal habe ich hier gewohnt. Als ich auf Arbeit gewartet habe, habe ich eine zeitlang im Wohnheim gewohnt, danach hatte ich keinen Ort, wo ich wohnen konnte, da bin ich dann hierher gekommen. Wir haben erst letztes Jahr geheiratet.“ S: „Wie lange wart ihr vorher zusammen?“ C: „Wir haben uns noch nicht lange gekannt, da sind wir schon zusammen gekommen, also sieben, acht Jahre.“ S: „Und was war, als du in Nanning warst?“ C: „Als ich in Nanning war, hatten wir keine Beziehung, wie sie normalerweise zwischen Mann und Frau ist, aber wir blieben immer in Kontakt. Er hatte während der Zeit auch keine Freundin in Shanghai, ich in Nanning, ähm, auch keinen Freund. Ich hatte viele Freunde. Und ich wusste ja auch nicht, ob ich wieder nach Shanghai kommen würde. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob es gut ist, eine alte Beziehung wieder aufleben zu lassen. Aber da ich schließlich doch wieder nach Shanghai gekommen bin und es in diesen Dingen keine Veränderung und keinen Fortschritt gab, war das halt so. […] Und letztes Jahr haben wir offiziell geheiratet und vorher habe ich hier schon ziemlich lange gewohnt. Wir haben in einigen Wochen unseren ersten Hochzeitstag.“ S: „Wird er gefeiert?“ C: „Wenn ich will, wird er gefeiert. Wenn ich ihn nicht feiern werde, vergisst er ihn sowieso. (alle lachen) Kurz nach unserer Hochzeit hatte er schon vergessen, an was für einem Tag das war. Ich erinnere ihn immer wieder daran, damit er es nicht vergisst. Er hat schon ein ganz schlechtes Gewissen.“ S: „Warum habt ihr geheiratet?“ C: „Es gab viele Gründe. Aber der Wichtigste war natürlich, dass die Gefühle sehr gut sind, bis zu diesem Grad. Natürlich erklärt das nicht, warum man heiratet, denn schließlich waren wir schon zusammen, wir haben schon vorher regulär zusammen gewohnt. Warum wollten wir heiraten? Wenn du wissen willst, warum wir geheiratet haben, dann ist meine Antwort: Weil ich sehr glücklich bin, wenn ich mit ihm zusammen bin. Aber wenn du fragst, warum wir die rechtliche Prozedur auf uns genommen haben? Dafür gibt es viele Gründe, auch den Background. Anders herum: Es gab keinen Grund, nicht zu heiraten.“ S: „Und wie war das von Seiten eurer Eltern? Haben sie Druck gemacht?“ C: „Ähm, also Druck gab es schon. Sie haben jedenfalls sehr gehofft, dass es nicht so weitergeht. […] Eltern kriegen heute sehr viele Informationen. Und sie wissen auch, wann sie sich bei den Kindern einmischen sollten. Sie wissen zwar, dass sie sich nicht einmischen sollen, aber sie können trotzdem nicht an-

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ders als ständig nachzufragen, obwohl sie es nie direkt aussprechen. Aber schließlich war das allein meine Entscheidung, die Hochzeitsformalitäten doch noch durchzuführen. Ich hatte keine Gründe nicht zu heiraten. Schließlich sind wir in China. Hier etwas Unkonventionelles zu machen, ohne sich um die Meinung der anderen zu kümmern, ist sehr schwierig. Bei euch ist das vielleicht etwas anderes, aber hier kann man nicht so einfach seine familiären Beziehungen zerstören. Wir achten auf die Gemeinschaft und nicht auf das Individuum.“

Zhu Miaomiao S: „Üben deine Eltern oft Druck auf dich aus?“ Z: „Oh, das Thema ist … (lacht) Das sagen sie mir auch nicht direkt. Eigentlich üben sie keinen Druck auf mich aus. Das ist, aus ihrer Sicht ist das Sorge. Aber aus meiner Sicht müssen sie sich keine Sorgen machen. Aber sie machen sich halt Sorgen, das beinhaltet auch, dass ich promoviere. Sie finden, dass ein Mädchen mit einem Magister schon sehr hoch gebildet ist. Und ich mache noch den Doktor, zudem noch im Ausland. Sie glauben, dass sich kein chinesischer Mann an mich herantraut, sie fühlen sich unter Druck gesetzt. Meine Eltern haben die Hoffnung schon aufgegeben. Wenn du das studierst, dann…“ S: „…wie findest du dann einen Mann, der intelligent genug ist?“ Z: „Kann sein, dass es das ist. Sie finden, dass es für mich allein hart ist, sie wollen, dass sich jemand um mich kümmert, der mir hilft usw. Das ist auch eine Art Druck. Aber meine Eltern gehen noch, das ist nicht so ein Druck wie bei Xiao Cais [Spitzname Cai Zhihongs] Eltern. Ich möchte erstmal studieren. Wenn ich einen Freund habe, dann habe ich einen, wenn nicht, dann nicht. Ich lasse der Natur freien Lauf. Macht euch keine übermäßigen Sorgen.“ S: „Was wäre, wenn du deinen Eltern einen deutschen Freund vorstellen würdest?“ Z: „Daran denke ich lieber nicht. (großes Lachen) Sie wären sehr verletzt, wenn es so wäre. Sie respektieren meine Ansichten. Sie sind nicht herrisch, sie würden nie sagen, dass ich mit dem und dem keinen Kontakt haben darf, dass ich keinen Ausländer als Freund haben darf. Aber wenn ich einen Ausländer als Freund hätte, könnten sie mich verstehen, aber sie selbst würden finden, dass es viele Probleme gibt, sprachlich z.B. In China ist es so, dass der Schwiegersohn wie ein halber Sohn ist. Wenn alles gut läuft, ist die Beziehung sehr eng. Aber wenn es ein Ausländer ist, hätten sie das Gefühl, dass sie etwas trennt, die Kultur. Ich kann das vielleicht akzeptieren, sie aber nicht unbedingt. Sie würden sich auch fragen, ob er sich genug um mich kümmert, ob die Ehe wirklich stabil ist, ob er mich vielleicht verlassen würde… Wenn ich einen chinesischen Mann finden würde, wären sie erleichtert. Meine Eltern sind in der Hinsicht aber noch in Ordnung. Die Verwandten sind schlimm. Sie fragen permanent, ob ich schon einen Freund habe, reden mit

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meinen Eltern, sagen, es sei nicht gut, dass ein Mädchen so viel studiert, dass es ins Ausland geht. Aber ich weiß, dass meine Eltern mich verstehen.“

Jin Jing S: „Reden wir über dich und deinen Mann. Du, wann habt Ihr euch kennen gelernt?“ J: „Wir haben uns ziemlich früh kennen gelernt. Wir, als ich auf die Uni ging, habe ich ihn kennen gelernt, 1995.“ S: „1995?“ J: „Aber damals sind wir noch nicht miteinander gegangen.“ S: „Wann seid Ihr zusammen gekommen?“ J: „Das war ‘99. ‘99, 2000 ungefähr hat es angefangen.“ S: „Vor fünf Jahren.“ J: „Genau.“ S: „Wann habt Ihr bemerkt, dass…“ J: „…wir verhältnismäßig gut zusammen passen?“ S: „Ja.“ J: „Das wird ungefähr zu der Zeit gewesen sein. Damals, als wir noch zur Uni gingen, habe ich nicht daran gedacht, mit ihm zusammen zu kommen oder so. An so was habe ich gar nicht gedacht.“ S: „Wie hast du es bemerkt?“ J: „Danach [nach der Uni] war die Zeit lang, besonders weil ich ‘99 gearbeitet habe. Nachdem ich gearbeitet habe, erst danach schien sich das Umfeld geändert zu haben, seine Ansichten hatten sich geändert. Die Beziehung war vergleichsweise gut. Wenn ich mich mit ihm unterhalten habe, fühlte ich mich sehr optimistisch. Je mehr Zeit verging, desto lieber mochte ich mit ihm zusammen sein.“ […] S: „Ist dein Mann Shanghairen?“ J: „Nein, er auch nicht, er ist auch von außerhalb und hat hier die Hochschulzulassung bekommen.“ S: „Von wo kommt er?“ J: „Er kommt auch aus Weihai.“ S: „Auch aus Weihai?“ J: „Richtig. Eigentlich waren wir beide in der Grund-, Mittel- und Oberstufe auf derselben Schule. Aber wir haben uns nie kennen gelernt, denn wir waren nie in einer Klasse. Wir haben uns nicht gekannt. Später, weil ein, weil ich einen Kommilitonen hatte, der wiederum einen anderen Kommilitonen hatte, haben wir uns kennen gelernt. Sie haben uns gesagt, dass wir beide in einer Schule waren. Danach haben wir uns dann regelmäßig gegenseitig besucht. Wir waren halt häufig zusammen und haben uns so kennen gelernt.“ […]

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S: „Sag mir, ist dein Freund dein Traummann? Ich weiß nicht, ist dein Ehemann der ideale Mann für dich?“ J: „Ob er mein Traummann ist? Ehrlich gesagt habe ich darüber noch gar nicht so genau nachgedacht. Darüber, wie mein Ehemann sein könnte oder darüber, wie mein Freund sein sollte, um überhaupt mein Freund werden zu können. Um mir zu gefallen, habe ich immer gedacht, sollte er natürlich sein, kein schlechter Mensch, mit dem man sich zusammen amüsieren kann. Also habe ich später gedacht, der Mensch ist in Ordnung/ziemlich gut/nicht schlecht, also können wir heiraten. So war das, ich hatte kein sehr, sehr, sehr klares Bild vor mir.“ […] S: „Ihr habt letztes Jahr im März geheiratet?“ J: „Ja, stimmt.“ S: „Wann habt Ihr euch entschlossen zu heiraten?“ J: „Anscheinend haben wir so natürlich darüber gesprochen, was wir wollen, dass er gesagt hat: ,Also heiraten wir.‘ (S, J lachen) Da habe ich einfach ,Okay‘ gesagt.“ S: „So war das?“ J: „Das war nichts besonderes, ich war immer ziemlich verärgert deswegen. Er hat sich kein Beispiel genommen und anständig um meine Hand angehalten. (J, S lachen) Nicht so, wie die Leute das im Fernsehen machen, nicht so romantisch wie die Franzosen das machen, oder so oder anders.“ (J lacht) […] S: „Das heißt, kurz nachdem Ihr euch kennen gelernt habt, kurz nachdem Ihr zusammen gekommen seid, habt Ihr daran gedacht, ein Leben lang zusammen zu bleiben?“ J: „Eigentlich, eigentlich habe ich nie daran gedacht, dass eine Heirat bedeutet, ein Leben lang zusammen zu sein.“ S: „Warum nicht?“ J: „In dem Fall glaube ich, dass sich die Ansichtsweisen der Leute wirklich mit der Zeit, mit den Situationen, ändern können. Vielleicht kann ich versichern, dass ich mein Leben lang mit ihm zusammen sein werde, aber wer weiß, wie es in dem Herzen des Mannes aussieht? Stimmt’s? Deswegen habe ich in meinem Herzen immer so gedacht, ich kann nicht, kann nicht erzwingen oder so, dass, wenn er wirklich jemand anderen mag, dass er dann sein Leben lang mit mir verbringt. Das kann ich von niemandem fordern. Aber wie dem auch sei, habe ich nicht in dem Maße, habe ich noch nicht sonderlich über solche Dinge nachgedacht.“ […] S: „Warum habt Ihr geheiratet?“ J: „Heiraten, warum geheiratet? Ich glaube, man kann sagen, dass das eine chinesische Einstellung ist, wenn ihr zusammen leben wollt, dann muss das of-

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fen und ehrlich sein, also musst du heiraten. (J, S lachen) Ich glaube, das ist hier anders als im Ausland. Und es ist auch so, wenn du eine Hochzeit feiern willst, ist das in China eine vergleichsweise nervige Sache, du musst an die Freunde deiner Eltern denken und so, denn das betrifft die ältere Generation. Mir bereitet diese Angelegenheit Kopfschmerzen, weswegen wir das Ganze aufgeschoben haben. Später werden wir noch mal darüber reden.“ […] S: „Ich habe einen sehr interessanten Satz gesehen. Der Satz lautet: ,Erst auf den Zug springen, dann die Fahrkarte kaufen‘.“ (J, S lachen) J: „Ja, ja, sehr viele. In China gibt es diese Situation mittlerweile ziemlich häufig. Die Allgemeinheit kennt kaum dergleichen Phänomene, das ist überhaupt nicht zu vergleichen mit der Konservativität von vor einigen Jahren.“ S: „Habt Ihr vor der Hochzeit hier gewohnt?“ J: „Wir haben immer hier gewohnt. Sobald die Wohnung fertig war, sind wir hier eingezogen. Erst danach haben wir gedacht, jetzt, wo die Wohnung steht, alles in Ordnung gebracht ist, dann können wir auch unsere Heiratsurkunde beantragen.“ S: „Hatten Eure Eltern keine Probleme damit, dass Ihr zusammen gezogen seid? Noch unverheiratet?“ J: „In dem Fall hatten wir keine Probleme. Wir haben mit ihnen auch nicht über solcherlei Dinge geredet.“ […] S: „Was ist Liebe?“ J: „Es scheint, ich denke, wenn zwei Menschen zusammen glücklich sind.“ S: „Also liebst du deinen Ehemann?“ J: „Ich denke, das kann man so nennen, das sollte so sein, nicht wahr? Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll? Wie sage ich das? Auf jeden Fall fühle ich nichts dergleichen, wenn wir zusammen sind, aber wenn wir getrennt sind, dann vermisse ich ihn sehr.“ (J lacht) S: „Aha, so ist das.“ J: „Ich finde, das sollte man so gelten lassen können.“ (J lacht) S: „Sagt Ihr euch, dass Ihr euch liebt oder etwas Ähnliches?“ J: „Er sagt das ziemlich selten, ich, kann sein, dass ich das hin und wieder mal sage. Vielleicht ist es so, dass die Ausdrucksweise von Liebe unterschiedlich ist. Bei uns ist es nicht so, dass wir aus dem Nichts heraus den Satz ,Ich liebe dich‘ sagen, (J lacht) aber, aber in vielen anderen Dingen kann man es erkennen. Zum Beispiel, wenn ich krank bin, dann kümmert er sich sehr um mich oder so. Ich finde, das ist alles eine Ausdrucksform der Liebe.“ S: „Heute habe ich das erste Interview mit einem Chinesen geführt, der gesagt hat ,Ich liebe meine Freundin‘, da habe ich plötzlich gemerkt, dass ich vorher noch nie jemanden habe sagen hören ,Ich liebe meine Freundin‘ (J lacht) oder ,Ich liebe meinen Freund‘. Das fand ich sehr merkwürdig. Deshalb habe ich

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dich gefragt, was Liebe ist, woher du weißt, dass du einen Menschen liebst.“ (S, J lachen) J: „Ich denke, dass sie das hinter dem Rücken schon sagen können.“ S: „Hinter dem Rücken?“ J: „Aber mir ins Gesicht, oder seiner Freundin ins Gesicht, ich weiß nicht, ob er das dann sagen kann, sagen ,Ich liebe dich‘. Ich kann es nicht sagen, eigentlich habe ich nie genau darüber nachgedacht, was, was Liebe ist. Ich fühle mich einfach ziemlich wohl, wenn wir zwei zusammen sind, ich finde das natürlich. Ich glaube, so ist es wie ich es sehe.“ […] S: „Haben du und dein Mann vor, Kinder zu haben?“ J: „Ehrlich gesagt wissen wir noch nicht genau, was wir wollen, ich, ich fürchte mich eigentlich ziemlich davor, ich finde das ziemlich gefährlich.“ (J lacht) S: „Warum? Für dich selbst oder…?“ J: „Ja, für mich selbst, außerdem, außerdem ist ein Kind schon eine recht große Verantwortung, insbesondere in China. In Anbetracht der chinesischen Umstände ist die Verantwortung noch größer. Auch für ein Kind ist das Großwerden hier ziemlich hart, deswegen bin ich noch dagegen. Ich habe noch nicht ans Kinderkriegen gedacht, wie…, und außerdem haben wir uns darauf geeinigt, das Thema erst einmal beiseite zu schieben, sprechen erst mal nicht darüber. Aber ich habe schon mit vielen Freunden darüber geredet, alle sagen, dass China nicht mehr diese Traditionen hat, wie, dass man keine Pietät hat, wenn man kein Kind in die Welt setzt. Wir können uns dem familiären und gesellschaftlichen Druck widersetzen und vielleicht später ein Kind bekommen. Ich denke auch, wir werden später noch mal darüber sprechen.“ […] S: „Vielleicht bist du in der Hinsicht ziemlich entspannt, aber dein Mann, wie ist das für deinen Mann? Wie soll ich sagen? Will er denn auf jeden Fall ein Kind haben?“ J: „Für ihn ist es noch kein fester Wunsch, unbedingt ein Kind haben zu wollen, denn ich habe ihm bisher immer ziemlich deutlich gemacht, dass ich das nicht will (J lacht), danach hat er gesagt, er will auch nicht, also wollen wir nicht. (J, S lachen). Offen gestanden bin ich mir sicher, dass, wenn Leute älter sind, wenn sie langsam älter werden, auch ihre Meinungen ändern. Wer weiß, vielleicht sitzen wir beide irgendwann zu Hause und uns ist ziemlich langweilig, dann machen wir halt ein kleines Kind, mit dem wir spielen können. (J, S lachen) Ja, das kann sein. Also, ich habe noch keine klaren Vorstellungen.“

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3.3.a Exkurs: Beispiel Daisy Ding Daisy Ding „Das haben mich schon ganz viele Freunde gefragt. Früher war es in China so, im Osten, dass die Frauen niemals einen Job hatten. Nach der Hochzeit haben sie erst recht nicht mehr gearbeitet. Sie haben nur zu Hause auf die Kinder aufgepasst, sie waren also housewifes [engl.]. Klar ist das heute nicht mehr so. Grundsätzlich gibt es jetzt in Shanghai natürlich auch komplette Hausfrauen, weil der Mann, der husband [engl.], ziemlich viel Geld verdient und die gesamte Familie versorgen kann. Dann muss seine Frau nicht arbeiten, dann will er auch nicht, dass seine Frau arbeitet. Natürlich gehöre ich nicht zu dieser Sorte. Ein Hausfrauenleben passt nicht zu mir. Eine Heirat kann viele Dinge nicht einfach verändern, ich kann immer noch die Dinge tun, die ich machen will. Im Gegenteil, ich würde noch härter arbeiten, denn ich will im Haushalt keep the balance [engl.], denn ich bestehe auf meiner Position/Rolle. Mir ist bewusst, dass ich zu einer Ehefrau werde, aber in erster Linie habe ich meine eigenen Vorstellungen. Ich bin independent [engl.]. Und ich will meinen eigenen, selbständigen Freiraum haben, meine eigene freedom [engl.]. Und dann mache ich die Sachen, die ich machen will. Ich hoffe, dass ich das erhalten kann, was ich schon erreicht habe. Und ich will nicht, dass mich irgendwelche hausfraulichen, trivialen Dinge davon abhalten, auch wenn mich das belasten würde. Das will ich nicht, dann wäre ich nicht glücklich. Was ich letztendlich will, davon habe ich schon immer eine Idee/Vorstellung, denn mein Spezialgebiet ist Außenhandel, Import und Export. Deshalb ist mein Wunschtraum, den ich schon immer hatte, eine eigene Im- und Exportfirma zu haben. Außerdem hat China jetzt den Im- und Export Handel freigegeben. Jeder kann Außenhandel betreiben, deshalb hoffe ich, später mal eine recht beschäftigte business woman [engl.] zu werden. (lacht) Natürlich will ich nicht, dass andere Leute sagen, ah, das ist aber eine erfolgreiche Geschäftsfrau (Ֆ㺞 Գ, nüqiangren). Das Wort hört sich absolut nicht gut an. Ich möchte nicht, dass jemand sagt, das ist eine sehr tough [engl.] Frau, denn ich finde, eine gute Frau zu sein, ist ziemlich schwierig. Sie will mit mehr als nur ihrer Familie zu tun haben, sie will ein business [engl.] haben, sie will noch eine gute Mutter sein, sie will ihr Kind beschützen… Deshalb ist diese Frage für mich plötzlich sehr schwierig.“ S: „Ist dein zukünftiger Ehemann damit einverstanden?“ D: „Er ist der Ansicht, dass ich machen kann, was ich will, aber ich muss mich auch um die Familie kümmern. Das ist für mich ein Problem.“ S: „Und wie bekommt ihr dieses Problem in den Griff?“ D: „Das können wir nur abwarten. Denn jetzt kann das keiner von uns sagen, also wer letztendlich Opfer bringt und Kompromisse eingeht. Wir sind beide recht individuelle Charaktere, wollen beide gerne unsere Vorstellungen durchsetzen/bewahren. Keiner wird einfach totale Kompromisse eingehen. Aber meine Eltern sagen immer, dass einer immer ein Opfer bringen muss. Aber ich

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habe noch nicht darüber nachgedacht, wer mehr aufgeben muss als der andere. Außerdem haben wir noch keine trivialen Haushaltspflichten, auch noch kein kleines Kind, deshalb nehme ich an, dass die Probleme noch nicht so groß sind. Aber wenn es dann soweit ist, kann es sein, dass sehr viele Probleme auftreten. Deswegen denke ich, dass es der gegenseitigen Diskussionen bedarf. Die gegenseitigen Diskussionen sind sehr wichtig. Wenn es die nicht gibt, gibt es trouble [engl.].“ S:„Ja.“ D: „It’s a big problem for every youth, in America or here in Shanghai [engl.].“ (beide lachen) S: „Wohnst du mit deinem zukünftigen Ehemann zusammen?“ D: „Noch nicht.“ S: „Zieht ihr sofort nach der Hochzeit zusammen?“ D: „Ja, weil wir eine eigene Wohnung haben.“ S: „Hat er sie gekauft oder habt ihr sie zusammen gekauft?“ D: „Er hat sie gekauft.“ S: „Er hat sie gekauft.“ S: „Ist er Shanghairen?“ D: „Ja, er ist Shanghairen.“ S: „Wann und wie habt ihr euch kennen gelernt?“ D: „Vor mehr als einem Jahr. Tatsächlich war die Art und Weise recht old [engl.], traditionell. Seine Mutter ist eine gute Freundin meiner Mutter. Über diese Beziehung haben wir uns kennen gelernt. Eigentlich hatte ich einen eigenen boyfriend [engl.], den ich auf der Uni kennen gelernt habe. When I was a college girl, I met my first boyfriend [engl.]. Aber er ist kein Shanghairen. Er ist Waidiren. Außerdem kommt er aus einer ziemlich poor province [engl.]. Aus Jiangxi. My mummy and daddy just say no, yeah [engl.].“ S: „Was hat das für deine …“ D: „It’s also a trouble, you know, sometimes [engl.]… Manchmal bin ich unglücklich, und zwar genau aus diesem Grund und ich streite mich auch deswegen mit meiner Familie, aber, aber, how can I say that? you know [engl.], manchmal habe ich schon daran gedacht. Es geht um das Glück vieler Leute. Ich habe letztes Mal mit einer Freundin darüber geredet, über einige Besonderheiten in Ost und West, dass Westler sehr viel Wert auf ihre eigenen Ansichten legen und entsprechend leben, dann ist man glücklich, andere freuen sich mit dir. Und die Leute aus dem Osten sind bis heute ziemlich traditionell. Sie haben den Anspruch, sich zugunsten der Nachfolgegeneration aufzuopfern. Sie wollen, dass noch mehr Menschen glücklich werden, erst dann sind auch sie glücklich. Deswegen ist meine Familie nicht glücklich darüber, wenn ich mit meinem ersten Freund zusammen bin. Aus dem Grund bin auch ich nicht glücklich und deswegen habe ich aufgegeben/nachgegeben. So ist das.“ S: „Ist dir denn das Glück deiner Familie oder dein eigenes wichtig?“

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D: „Ja, wie ich gerade gesagt habe, ist mein Ziel, dass ich meine Familie glücklich mache. Wenn sie nicht glücklich sind, kann ich es auch nicht sein.“ S: „Liebst du denn deinen ersten Freund?“ D: „Ja, ich liebe ihn sehr.“ S: „Wieso habt ihr euch dazu entschlossen? Wie hast du dich von ihm getrennt?“ D: „Für mich war das auch sehr schmerzlich, für mich war das wirklich sehr schmerzlich, aber, aber ich liebe meinen früheren Freund sehr. Doch meine Eltern liebe ich noch mehr, also compare the two loves, so I just [engl.]…ich konnte nur… I have to make one choice, only one choice. I can not choose two sides. [engl.] So, ach ja…“ S: „Liegt es daran, dass er Waidiren ist?“ D: „Ja. Denn China legt viel Wert auf ein Zusammenpassen des sozialen und wirtschaftlichen Status. Ich weiß nicht, wie man das auf Englisch sagt, also wer mit wem zusammenpasst. Ich kenne den Ausdruck nicht auf Englisch. I just don’t know how to say the same in English…I know…[engl.]“ S: „Pair.“ D: „Yeah, pair, two pair [engl.], sein familiärer Hintergrund, sein background for the family, you know, so many conditions and my whole family will not accept a boy from that province. I am a shanghai girl, I am Shanghainese, my daddy and mummy, you know, my daddy is a mechanical engineer, you know [engl.], er ist ein, wir sind eine Gelehrtenfamilie, aus dem Grund sind sie nicht damit einverstanden, dass ich ihn heirate. So ist das. Yeah, it is a too old story [engl.]. Das ist eine sehr alte Geschichte, aber trotzdem ist sie mir widerfahren, ich weiß auch nicht, warum.“ S: „Wie fühlst du dich jetzt? Mit einem neuen Freund.“ D: „Ähm, das ist eine Art Lebensaufgabe. Das habe ich in den letzten Tagen mit meiner Familie durchdiskutiert. Sie sagen: ,Du heiratest nächsten Monat, was denkst du?‘ Ich sage: ,Ich weiß nicht. Bei zu vielen Dingen glaube ich nicht an den Erfolg.‘ Ich sage: I don´t know, I can not be sure about something, you know [engl.], ich bin etwas beunruhigt. I do worry about something. [engl.] Ich kann nur sagen I have to try. I just try, you know. Ähm, no one knows what is right. We have to try something, all right? [engl.] Ich hoffe nur, dass ich die Dinge gut genug machen kann. Es so gut machen, wie ich kann. Das ist das einzige, was ich garantieren kann. Aber wie soll ich es gut machen? How could I do good? What is right? I don’t know [engl.].“ (lacht) S: „Do you love him?“ [engl.] D: „Ich denke, ich kann noch nicht sagen love [engl.]. Ich kann nur sagen, genauso wie er auch, we just agree with that it fits, fits so well. (lacht) My mummy and daddy just say [engl.], sie sagen, dass er zu unserer Familie passt, er passt auch sehr gut zu dir. Both, you two are Shanghainese, and got graduate from university, got Bachelor degree and he has a … Er hat einen guten

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Job…you know, he just does service for Siemens. [engl.] (lacht) Yeah, ähm, er war schon mal in Deutschland, in Hamburg, Frankfurt. Er spricht Englisch. Wir können beide in der gleichen Sprache kommunizieren, wir können uns sogar auf Englisch streiten. Aber niemand nennt love [engl.], dieses Wort. Vielleicht, weil es nicht sehr wichtig ist. Aber ich finde sie [Liebe] trotzdem sehr wichtig. Tatsächlich erkenne ich jetzt, was alles mit diesem Wort zusammenhängt. Ich denke, niemand kann dieses Wort einfach verdrängen.“ S: „I think it would be very difficult for me, it would be hard to think about marriage if I couldn’t say I love him... [engl.]“ D: „Das ist das chinesische Bewusstsein von Selbstopferung, Spirit, so wie ich vorhin gesagt habe. Man denkt an die größeren/übergeordneten Interessen/Vorteile, man berücksichtigt die grundsätzliche Situation. Man geht von der allgemeinen Situation aus und dann lernt man, für die gerechte Sache zu sterben. Vielleicht ist das nicht so ernst, aber meine Familie hat zu mir gesagt. ,Du musst wissen wie du dich entscheidest, für wen du dich entscheidest, für wen du etwas tust.‘ So ist das. So sometimes I just think ,Oh Daisy, you are so brave, you just got a brave heart, right?‘“ [engl.] [...] S: „How old is your husband [engl.]?“ D: „He is just five years older than me [engl.].“ S: „Five years is not so much [engl.].“ D: „Not too much [engl.].“ S: „Not too much. And what do you think the difference could be [engl.]?“ D: „Du meinst den Unterschied zwischen uns, richtig? Ähm, den gibt es, am auffälligsten ist der charakterliche Unterschied. Ich bin ein Mädchen, das seine Grenzen recht sorglos zieht. Er hingegen ist in vielen Bereichen genauer als ich, viel genauer. But sometimes I got..., I am careless. This is ok, that is ok. No matter. But he will say, let me think about this, think about that, is that ok? Oh, let me think about that. Think about too much things [engl.].“ S: „I am interested in your future. I really like to know how it will go on [engl.].“ D: „Maybe you can take another research on ,Daisy’s future‘[engl.].“ (lacht) S: „What do you think about your parents [engl.], wie siehst du...“ D: „Okay, Sonia, you know why [engl.]. Du weißt, warum ich damit einverstanden war, dieses Interview mit dir zu machen. Weil Andrew gesagt hat, dass du solche Probleme untersuchen willst. Fragen über das Familienleben stellen willst. Asiatische, Shanghaier Jugendliche und die Beziehungen zu ihren Eltern. Dass du viele unterschiedliche Menschen befragen willst. Da habe ich gedacht, okay, ich willige in das Interview ein, weil ich denke, dass mein Fall ein besonderer ist. Du willst so viele interviewen und jeder hat seine eigene story [engl.], jeder eine andere Situation. Mag sein, dass es einige generelle Aspekte gibt. I think I get along with my parents so well, I love them so much

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and I love them for so long time, you know. [engl.] Weißt du, warum ich so viel trouble [engl.], so viele Probleme habe? When I was a little girl, when I was grown up [engl.] hatte ich immer meinen Platz. Alle Dinge, alles rührt von da her. I just got the key for the point, you know. With that, [engl.] letztlich habe ich Probleme mit meinen Eltern. Ich bin ein besonderer Fall, a special case. There are so many stories in the relationship to my parents. [engl.] Von kleinauf habe ich Probleme mit meinen Eltern besprochen. Bis heute versuche ich, mit ihnen darüber zu diskutieren, wie ich mit Problemen umgehen soll, aber sie realisieren das nicht. Sie lieben mich sehr, ich liebe sie auch sehr, ich liebe sie bedingungslos, exceptionless [engl.]. Sie tun sehr viel für mich, sie kümmern sich sehr um mich, machen sehr viele Dinge für mich. Aber sie wissen nicht, wie sie mich lieben sollen. Sie sorgen dafür, dass ich die grundsätzlichen Notwendigkeiten (۪ଇ۰۩, yishizhuxing) bekomme, dafür gibt es ein Wort: ,control‘ [engl.]. Du weißt, ich bin ein Einzelkind, a single baby in the family. Whatever, no matter how old you are, you are always a little baby, like six years old. [engl.] In Asien scheinen die Menschen sich sehr um ihre Einzelkinder zu sorgen. Deshalb lieben sie mich sehr, sie sehen mich als ihren Besitz an. Alle meine Sachen gehören ihnen. Sie denken, du bist ewig ein Kind, egal wie alt du bist, du bist immer ein Kind. Aber ihnen fällt nicht auf, dass ich ein fast 30-jähriger Mensch bin, und sie realisieren auch nicht, dass ich bald verheiratet sein werde, selbständig. Auf der Unterstufe der Mittelschule hatten wir eine adolescence party [engl.], aber sie haben immer noch nicht verstanden, dass ich schon selbständig bin. Sie können mich nie loslassen, like a little bird, they always think there is too much danger everywhere. [engl.] Sie wollen mich immer beschützen, ich wehre mich gegen ihren exzessiven Beschützerdrang. Aber das ist sehr anstrengend. Und dann denke ich daran, sie zu verlassen und sie wären so verletzt, so traurig. Das möchte ich natürlich nicht, also läuft es weiter so. Sie machen so viel für mich, das beinhaltet, dass ich im Kindergarten malen kann, sie helfen mir dabei, aber sie realisieren nicht, dass ich noch besser sein könnte, und dann werde ich manchmal so wütend, aber sie lieben mich immer noch und kümmern sich um mich. Das macht mich manchmal so wütend, so schlecht, dass ich explodiere, nicht wie eine Erwachsene, sondern ich ähnle einem kleinen Kind, das wütend wird. Das kann man nicht unterscheiden, und das macht mir angst. So geht das weiter, ich kann nicht viel machen. Sie rufen mich im Büro an, in der Uni, überall können sie mich finden. Jeden Tag rufen sie auf meinem Handy an, fragen, ob es mir heute gut geht. Ich weiß, dass sie sich Sorgen machen, aber ich finde das beängstigend. Als ich noch klein war, haben sie mich geschlagen, wenn ich schlechte Noten bekommen habe. In China kann man Kinder schlagen, im Ausland darf man das nicht. Um nicht geschlagen zu werden, habe ich Lügen erzählt, habe gesagt, dass ich diesmal eine gute Note bekommen hätte. Deshalb war ich manchmal nicht glücklich, war ich sehr besorgt. Deshalb habe

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ich mich manchmal versteckt. Um nicht mit ihnen in Konflikt zu geraten, habe ich Dinge gesagt, die sie glücklich machen, habe lustige Sachen erzählt. Ich konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Das hat dazu geführt, dass ich nicht direkt/offen mit ihnen kommunizieren kann, ich muss daran denken, was ich ihnen sagen darf und was nicht. Das verursacht mir großen Stress und Schmerz. Ich habe diese Probleme nur bei mir bemerkt, andere Freunde haben das nicht. Deren Eltern sind sehr demokratisch, sie können mit ihren Eltern wie mit Freunden diskutieren. Aber bei mir ist das nicht so. Ich konnte ihnen nicht mal erzählen, dass ich auf der Uni einen Freund gefunden habe, denn das hätten sie nicht akzeptiert. Deshalb habe ich nichts gesagt, sie hätten es sonst verboten. Deshalb habe ich gelitten. Ich habe gewartet, bis ich mit 24 angefangen habe zu arbeiten. Dann haben sie sich Sorgen gemacht, dass ich keinen Freund habe, dabei hatte ich schon einen. Sie wussten es nicht, weil ich nichts erzählt habe. Als ich es ihnen dann gesagt habe, waren sie sehr wütend. Viele Dinge sind einfach genau so. […] Wenn du so viele Menschen befragst, und wenn sie dir offen und ehrlich viele Dinge erzählen, dann bekommst du viele Geschichten zu hören. Jede ist anders. Es gibt lustige und traurige. Das ähnelt vielen bunten Luftballons, das ist sehr schön. Ich entschuldige mich dafür, dass die Farbe meines Luftballons nicht schön ist. Ich erzähle Freunden nur von positiven Dingen, von traurigen Dingen erzähle ich Freunden nichts, denn ich möchte nicht, dass sie sich unglücklich fühlen. They always say: Oh Daisy, you always smile, your smile is so beautyful. Yeah, I often smile, but I also cry, but not so many people can see my tears, because I just want to be alone. [engl.] [...] My boyfriend understands me and he loves me so deep. So that’s why I feel so sad. [engl.] Mein Freund liebt mich sehr. Ich weiß, dass meine Eltern Unrecht haben, denn sie denken nur an sich und nicht an mich. Trotzdem lieben sie mich sehr, wollen mich besonders beschützen. You know they just got a great misunderstanding. There is just a great misunderstanding with my boyfriend. [engl.] Was soll ich sagen? I have to say that, I don’t know...maybe...[engl.] Aber ich werde heiraten….Like the Americans always say: life will go on. Right? [engl.] Aber es gibt viel, von dem die Menschen nichts wissen. You know there ist hat film, „Forrest Gump“. His mother always says there is that box of chocolates. Sure. So I just take this chocolate, I taste it and I will tell my Daddy and Mommy how it feels. [engl.] Ich hoffe, dass sie letztendlich ihre Fehler einsehen, aber ich werde sie ihnen nicht vor Augen führen…I don’t want to patch them. I just want to show them what life ist, what love is. Life will be the lesson for everyone [engl.].“

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3.3.b Exkurs: Wohnungskauf Wohnungskauf Shanghairen Li Yuwen & Zhao Jing S: „Wann haben He Ping und du euch entschlossen zu heiraten?“ Z: „Wir wollten zusammen sein. Als wir die Wohnung gekauft haben, du weißt, dass viele junge Shanghairen, die eine Wohnung kaufen, schon registriert sind. Weil ich damals aber noch nicht unbedingt heiraten wollte, habe ich zu He Ping gesagt, wenn du die Wohnung kaufen willst, will ich dich jetzt aber noch nicht heiraten. Trotzdem hat er die Wohnung gekauft. Ein halbes Jahr nach dem Kauf hat er noch einmal um meine Hand angehalten und ich habe zugestimmt.“

Wang Jun S: „Wie viel gibst du jeden Monat aus? Planst du schon, eine Wohnung zu kaufen?“ W: „Nicht in der näheren Zukunft. Ich wohne jetzt mit meinen Eltern zusammen. Ich warte bis zur Hochzeit, dann kaufe ich eine Wohnung.“

Sam Zhang S: „Hast du vor, dir hier eine Wohnung zu kaufen?“ Z: „Ich habe eine Wohnung, die meine Eltern mir geben wollen. Deshalb denke ich darüber nach, mir in der Stadt eine Wohnung zu kaufen. Aber erstens sind die Preise sehr hoch, zweitens habe ich nicht so viel Geld zur Verfügung. Wenn ich es hätte, würde ich mir natürlich eine kaufen. Ich will mir auf jeden Fall eine gute Wohnung im Zentrum kaufen, in der auch meine Eltern wohnen können. Das sind alles tolle Gedanken, aber ich habe nicht den finanziellen backup [engl.]. Und zudem werde ich nicht heiraten und auch kein Kind haben, wem sollte ich also meine Wohnung hinterlassen?“

Meng Yingying „Die Mieten in Shanghai, ich weiß nicht, ob du das schon in den Nachrichten gehört hast, sind in den letzten Jahren sehr in die Höhe gegangen. Sie haben schon die Mietpreise in Beijing überholt.“ S: „Echt?“ M: „Ja, ja, ja. Sie haben die Beijinger Mieten überholt. Einige Bezirke, z. B. der Jing´an Distrikt und der Huangpu Distrikt und alles rund um den Bund, die Nanjing Lu und solche Gegenden… Die Quadratmeterpreise für Wohnungen liegen schon bei über 10.000 Yuan RMB.“ S: „Über 10.000 für einen Quadratmeter?“ M: „Ja, ein Quadratmeter über 10.000 RMB“

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S: „Wahnsinn!“ M: „Und erst in Pudong drüben, ich weiß nicht, ob du den Bingjiang Park kennst…“ S: „Bingjiang Park…“ M: „Ja. Der ist drüben an der Bingjiang Allee. Dort kostet der Quadratmeter über 20.000 Yuan. Das ist wirklich teuer. In den Vororten wie Jinshan oder Jinqiao kostet der Quadratmeter auch schon 4.000 bis 5.000.“ S: „4.000 bis 5.000…“ M: „Außerdem sind dort die Verkehrsanbindungen ungünstig. Aber daran kann man nichts ändern. Die fortschreitende Urbanisierung bringt das halt mit sich.“ S: „Hast du vor, dir mal eine Wohnung zu kaufen?“ M: „Also, wenn ich heirate, dann auf jeden Fall. Aber momentan, da ich noch nicht mal einen Freund habe, kann ich noch ein wenig natürlicher und uneingeschränkter leben. Wenn ich eine Wohnung kaufen sollte, dann kann ich mit Sicherheit nicht mehr so leben.“

Xu Hongwei „Ich habe keinen Druck. Aber wenn ich daran denke, mir in Zukunft eine eigene Wohnung zu kaufen, bin ich wahrscheinlich auf die finanzielle Unterstützung meiner Eltern angewiesen, denn sich nur auf mein eigenes Einkommen zu stützen, das geht nicht. In näherer Zukunft werde ich mir keine Wohnung leisten können. Die Wohnungen in Shanghai sind zu teuer.“ S: „###“ X: „Das verstehe ich selber nicht so genau, denn der Abteilungsleiter meiner Firma für die Werbung des Shanghaier Immobilienmarktes sagt, dass in den innerstädtischen Bezirken die Wohnungen normalerweise unter 10.000 RMB pro qm nicht zu haben sind.“ S: „Und die billigsten?“ X: „Die billigsten habe ich für 9.000 RMB gesehen, die teuersten ungefähr bei 3.000 – 4.000 US-Dollar.“ S: „Oh, wo das denn?“ X: „Hier gleich in der Nähe. 3.000 bis 4.000 Dollar pro qm, durchschnittliche Wohnungen belaufen sich auf 9.000 bis 10.000 RMB. Außerdem sind die innerstädtischen Wohnungen selten für Kleinfamilien ausgerichtet. Durchschnittlich haben sie 80 bis 100 qm. Da einfache laobaixing sich das nicht leisten können, kaufen sie sich außerhalb Wohnungen für 6.000 bis 8.000 RMB pro qm.“ S: „Was hältst du davon? Wie findest du das?“ X: „Ich finde das ist alles ziemlich teuer.“ S: „Und diese Wohnung hier?“

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X: „Diese Wohnung ist mit etwas mehr als 10 qm vergleichsweise klein. Aber wenn man die Lage hier berücksichtigt, es kostet hier 150.000 bis 200.000 RMB ungefähr. Der Ort hier ist ein guter Bezirk, gehst du über die Straße, wird das hier zukünftig ein Ort für die reiche Gesellschaft sein.“

Marie Chen S: „Unter welchen Umständen könntest du dir vorstellen zu heiraten?“ M: „Was ich hoffe, ist, dass er seine eigene Wohnung hat, zusätzlich ein ziemlich gesichertes Einkommen. Soweit grundsätzlich, denn wir beide sind ja immerhin schon über zwei Jahre zusammen. Deswegen kennen und verstehen wir uns gegenseitig schon. Deswegen sind das wichtige nicht Gefühlsfragen, sondern Fragen des wirtschaftlichen Fundamentes. Weil im Leben zweier Menschen die Wohnung eine ziemlich wichtige Rolle spielt und das Decken fixer Kosten und so etwas. Deswegen ist für mich persönlich augenblicklich das wirtschaftliche Einkommen eine vergleichsweise wichtige Frage.“

Ren Dongqing „Und auszuziehen ist ein weit verbreiteter Trend, nicht wahr? Schließlich ist eine Heirat mit anderen Worten eine Unabhängigkeitserklärung, nicht wahr?“ S: „Ja. Und ihr wollt heiraten.“ R: „So ungefähr.“ S: „Habt ihr die finanzielle Kraft, auszuziehen?“ R: „Wenn ich sie habe, wenn ich mir meine eigene Fähigkeit ansehe, vom Geld her gesehen kann ich das nicht. Meine finanziellen Ansparungen stammen aus dem Vermögen meiner Eltern. Aber wie ich vorher schon gesagt habe, ist meine Abhängigkeit ziemlich groß. Ich konnte nicht in den paar Jahren, die ich arbeite, einige 100.000 Yuan verdienen. Hier in Shanghai sind die Wohnungspreise ziemlich hoch. Das heißt, wenn es mal so weit ist, muss ich mich auf meine Eltern stützen und packe noch meine Ersparnisse dazu. Wenn ich mich entschieden habe, in welchem Distrikt, in welcher Gegend eine Wohnung ist, die mir gefällt, wo zwei Personen, also ich und meine Partnerin, leben können, wenn ich eine Wohnung kaufen sollte, dann muss ich mir überlegen, ob ich mich von meinen Eltern unterstützen lasse oder ob ich eine andere Alternative finde, einen Bankkredit zum Beispiel.“ M: „Die tatsächliche Stärke.“ R: „Die Familie hat die Fähigkeit. Also Hauptsache, die eigene Familie hat die finanzielle Möglichkeit. So kann ich mir die Wohnung leisten, dann mache ich meine Kalkulation, wie viel muss ich anlegen, wie viel muss ich mir von der Bank leihen. Gesetzt den Fall, ich sollte eine Wohnung haben, dann haben meine Eltern mir schon dabei geholfen.“ S: „Wie machen sie das?“

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R: „Was gekauft werden muss, muss gekauft werden. Wenn ich eine Wohnung kaufen will, dann muss erst der endgültige Preis ausgehandelt werden. Er darf nicht unsere finanzielle Grenze überschreiten. Das wird also momentan noch verhandelt, wie viel jede Familie zahlt. Ist es sie letztendlich oder ich oder sind es wir beide. Diese Frage besprechen wir gerade. Wenn wir schon eine Wohnung hätten, wäre das egal. Gäbe es noch eine Wohnung außer der, in der ich mit meinen Eltern zusammen lebe, wenn wir noch eine Wohnung hätten, eine freie Wohnung, dann wäre das egal. Dann könnten wir die einfach renovieren, dann ginge das schon, dann könnten wir zwei einfach zusammen wohnen.“

Wohnungskauf Waidiren Wendy Ding & Min Hao S: „Wann habt ihr geheiratet?“ W: „Im Januar 2001.“ S: „Wann seid ihr zusammen gezogen?“ W: „Im September 2002.“ S: „Habt ihr diese Wohnung gekauft oder gemietet?“ W: „Gekauft. Davor hatten wir sie gemietet.“ S: „Warum wolltet ihr euch eine Wohnung kaufen?“ M: „Wenn man eine Wohnung mietet, gibt man das Geld dem Besitzer, kauft man sie, ist es die eigene.“ W: „Wir hatten die Möglichkeit, eine Wohnung zu kaufen, wir hatten nur die Möglichkeit, diese Wohnung zu kaufen. Mittlerweile haben wir das Vermögen, uns eine größere Wohnung zu kaufen.“ S: „Konntet ihr einen Kredit aufnehmen, als ihr die Wohnung gekauft habt?“ W:„Ja, aber der Zinsanteil ist sehr hoch.“ S: „Wie hoch?“ W: „5,4 %.“ S: „In wie viel Jahren habt ihr die neue Wohnung abbezahlt?“ M: „In 15 Jahren. Jeden Monat zahlen wir 3.500. Das ist sehr viel, fast die Hälfte seines Einkommens.“ […] W: „Viele Leute, die sich hier eine Wohnung kaufen, machen das, wenn sie Geld verdienen. Besonders viele junge Leute kaufen sich Wohnungen, denn erst, wenn sie ein sehr gutes Einkommen haben, bekommen sie einen Kredit. Alte Leute über 60 können nicht zur Bank gehen und einen Kredit fordern, da ihre Rente nicht ausreicht. Das Einkommen der jungen Leute ist hoch, deshalb kaufen sie Wohnungen.“ S: „Shanghaier Eltern kaufen ihren Kindern eine Wohnung.“ W: „Ja, dafür nutzen sie alles Geld, was sie in ihrem Leben angespart haben.

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Diese Wohnung kostet zum Beispiel 600.000 Yuan. Da hat er seine zusammengesparten 200.000 genommen, damit wir eine erste Anzahlung machen konnten. Es gibt auch Eltern, die sehr reich sind und die ganze Wohnung kaufen.“

Chen Chunzhao „Ich will mir ganz sicher eine Wohnung kaufen, daran besteht gar kein Zweifel. Schließlich will ich mir ein eigenes Nest bauen.“ S: „Wenn du dir eine Wohnung kaufen willst, hast du dann schon darüber nachgedacht, dir einen Kredit bei der Bank zu holen?“ C: „Mit Sicherheit. Tatsächlich ist ein Wohnungskauf der Traum aller jungen Menschen. Und alle jungen Menschen begeistern sich dafür. Aber manchmal ist es gar nicht so einfach zu bewerkstelligen, denn unsere Flügel sind noch nicht hart genug. Und alle Dinge in dieser Hinsicht gut hinzukriegen, ist ziemlich schwierig. Deshalb muss man sich von anderer Seite Hilfe suchen, von der Bank zum Beispiel. Andere können einem dabei helfen.“ S. „Wenn du dir eine Wohnung kaufst, bekommst du dann von deinen Eltern Geld dazu?“ C: (lacht) „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Am Besten ist es natürlich, wenn man alles so weit wie möglich mit eigenen Kräften schaffen kann. Ich will nicht noch anderen Menschen zusätzlichen Druck aufbürden.“

Jin Jing S: „Du hast es mir schon erzählt, bitte erzähl noch mal, wann Ihr die Wohnung gekauft habt, mit welchen Risiken das verbunden war und wie das mit dem Kredit läuft.“ J: „Wir haben die Wohnung 2001 gekauft, im Mai 2001, ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr ganz genau, ja, Mai 2001. Als wir die Wohnung gekauft haben, war sie noch nicht ganz fertig gestellt, aber willige Käufer konnten schon eine Kaufgenehmigung bekommen, die Regierung erlaubt dir, diese [unfertige] Wohnung zu kaufen. Was wir uns damals angesehen haben, waren nur Planzeichnungen der späteren Wohnung. Wir warteten dann bis Ende 2001, Dezember 2001. Erst dann bekamen wir den Schlüssel zur Wohnung und konnten mit den Verputz- und Ausbauarbeiten anfangen. 2002, im Oktober, sind wir eingezogen, sind wir in diese Wohnung gezogen. Wie ich eben gesagt habe, war das Haus noch gar nicht fertig gebaut, als wir unsere Wohnung gekauft haben. Das ist mit Risiken verbunden, Risiken, falls das Unternehmen pleite gemacht hätte. Falls also während des Baus kein Geld mehr vorhanden gewesen wäre, wäre es nicht fertig gebaut worden, unsere Wohnung, und unser investiertes Geld wäre auch weg gewesen. Das hat natürlich Risiken, aber von so einem Fall geht eigentlich niemand aus, denn der Wohnungsbau hängt eng mit der Regierung zusammen. Darauf kann man sich ziemlich verlassen. Dazu muss ich noch sagen, weshalb wir so eine risikobe-

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lastete Wohnung gekauft haben. Als wir damals den Kauf vorgenommen haben war schon…, ähm, also…, wäre die Wohnung schon fertig gebaut gewesen, dann hätten wir sie uns nicht leisten können. (J lacht) Das war damals eine wirklich ernste Frage. Wenn wir uns eine Wohnung kaufen wollten, blieb uns gar nichts anderes übrig, als eine auf dem Papier zu kaufen. Und außerdem haben sehr viele unserer Freunde, die sich auch eine Wohnung gekauft haben, es auf dieselbe Weise getan.“ S: „Auch in diesem Viertel hier?“ J: „Nicht in diesem Viertel aber in vielen anderen ist es genauso. In ganz Shanghai ist das so. Und was den Kredit angeht, damals haben wir 20% des Wohnungspreises gezahlt, die restlichen 80 % zahlen wir mit einem Bankkredit ab. Jeden Monat zahlen wir eine bestimmte Summe an die Bank, plus viele Zinsen. Offen gestanden, obwohl wir eigentlich ziemlich planlos sind, haben wir trotzdem diese Wohnung gekauft.“ S: „Als ihr sie gekauft habt, habt Ihr 20 % angezahlt, wie viel war das?“ J: „Mehr als 70.000 Yuan [7.000 €].“ S: „70.000, und jetzt zahlt Ihr jeden Monat an die 4.000.“ J: „Nicht so viel, jeden Monat über 1.000. 1.800 bis 2.000. Die 4.000, von denen du sprichst, beinhalten noch den Kredit für das Auto.“ S: „1.800, auf zwanzig Jahre?“ J: „1.800, ich glaube, es sind zwanzig Jahre.“

3.4 Sexualität Sexualität Shanghairen Marie Chen S: „Wenn ihr noch nicht verheiratet seid, aber schon eine Wohnung habt, wäre es dann schon möglich, zusammen zu wohnen? Vor der Ehe, wie soll ich das sagen, wäre vorehelicher Geschlechtsverkehr möglich?“ M: „Relationship [engl.]?“ S: „Geschlechtsverkehr.“ M: „Okay.“ S: „Kommt das für dich in Frage oder nicht?“ M: „Nein, es kommt für mich nicht in Frage.“ S: „Warum nicht?“ M: „Weil es sein könnte, dass ich ihn nicht unbedingt heirate. Es könnte sein, dass ich letztendlich jemand anderen auswählen könnte. Deswegen bin ich dazu nicht bereit.“

Li Yuwen & Zhao Jing S: „Wie sieht es mit vorehelichem Sex aus?“

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Z: „Wenn für zwei Personen feststeht, dass man heiraten will, man muss auch noch nicht die Registrierung beantragt haben, wenn man davon ausgehen kann, dass keine unvorhergesehenen Dinge geschehen, also, wenn man davon ausgeht, zu heiraten, dann habe ich kein Problem damit. Wenn für einen aber alles unklar ist, dann mache ist es gewiss nicht.“ S: „Und du?“ L: „Da haben wir ungefähr die gleichen Ansichten.“

Ren Dongqing & Ma Yan S: „Das, was ich meinte, war: ob es für euch in Frage kommt, nachdem ihr ein paar Monate mit einer Freundin zusammen seid, mit ihr zu schlafen? Oder ob ihr wartet, bis ihr die Hochzeit beschlossen habt?“ R: „Das hängt von meiner Einstellung ab. Tatsächlich hat das etwas damit zu tun.“ M: „Was Liebe angeht, hat jeder gute Hoffnungen, will, dass eine Liebe ein gutes Ende nimmt. Wir nehmen das sehr, sehr ernst. Natürlich entwickelt sich bei einigen die Beziehung recht schnell. Es kann sein, dass ich mich auf den ersten Blick in ein hübsches Mädchen verliebe oder in ein besonders gutes Mädchen. Es kann auch sein, dass es einen halben Monat, ein halbes Jahr oder etliche Monate dauert, bevor ich sagen kann, dass die Beziehung ein ganzes Leben lang hält. Vielleicht dauert es auch sehr lange, bis wir uns aneinander gewöhnt haben. Natürlich sollte es so sein, dass du nur mit den besten Absichten Sex hast und nicht, um irgendwelche Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist wieder eine Frage von Moral und Anstand.“ S: „Was meinst du?“ R: „Ich meine, zwei Menschen sollten wissen, ob sie miteinander gehen wollen oder nicht, oder ob sie sich nur miteinander amüsieren wollen.“ […] S: „Wisst ihr, warum ich euch das frage? Ich habe in einem Buch von einem amerikanischen Professor gelesen, der über die sexuelle Öffnung der Shanghairen schreibt. Er schreibt, die Shanghairen wären alle so offen, genauso offen wie Westler, ein One-Night-Stand wäre vollkommen normal. Aber ich habe festgestellt, dass das gar nicht zutrifft.“ R: „Ja.“ S: „Fast alle Leute, mit denen ich bisher gesprochen habe, sagen, sie wollen auf jeden Fall zuerst heiraten, bevor sie Sex haben.“ R & M: „Ja.“ M: „In manchen Zeitungen kann man darüber lesen, wie freizügig die Westler sind, auch über One-Night-Stands, oder dass in Bars zwei Leute einen Drink miteinander trinken und dann zu dem einen oder anderen gehen und das und das machen (‫װ‬೚৻Շ㱐৻Շ㱐, qu zuo zenme yang, zenme yang). Ich denke, diese Phänomene gibt es, das sind Ausnahmen, die machen nur einen geringen

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Prozentsatz aus. Ich will nicht lügen/lästern, aber es gibt natürlich welche, die ihre Integrität wahren. Oder von unserer altmodischen Warte aus gesprochen kann es schon sein, dass es noch einige gute Mädchen gibt. Man kann das nicht verallgemeinern. Das sind nur vereinzelte Phänomene, nur wie viel Prozent? Vielleicht ist die Prozentzahl im Westen etwas höher als die in Shanghai, wenn man es vergleicht. Aber in Shanghai gibt es das sicherlich. Ich sage nicht, dass es in Shanghai keine One-Night-Stands gibt. Die gibt es, das weiß ich auch, aber ich weiß nicht genau, wie viel Prozent das ausmacht. Aber bei uns [beiden] gibt es das nicht, diese Situation. In Deutschland ist es sicher auch so. Man sagt, dass es sehr viel Pornographie in Deutschland gibt. Stimmt’s?“ S: „Überall gibt es Traditionelles.“ M: „Überall gibt es Traditionelles.“ S: „Auch One-Night-Stands gibt es.“ M: „Das gibt es alles. Wenn man das erkennt, ist es gut, wenn man es nicht erkennt, kann man daran nichts machen, ist es egal. Wenn du dich in diese Gegenden begeben magst, dann genießt du halt dein Leben, Freude, nicht wahr? Wenn du das nicht machen willst, ist es in Ordnung, dann hütest du dich davor. Die Leute, die One-Night-Stands mögen, finden immer Leute, die ebenso denken. Und Leute, die lieber den traditionellen Weg gehen, werden auch immer einen Partner finden.“ S: „Ja.“ M: „So ist die Lage.“

Meng Yingying S: „Vor der Hochzeit miteinander zu schlafen, kommt das für dich in Frage oder nicht?“ M: „Wie soll ich das sagen? Ich nehme diese Angelegenheit ziemlich ernst. Für Frauen ist die Jungfräulichkeit ziemlich wichtig. Ich finde, am besten wäre es, sich diese zu bewahren, bis zum ersten Geschlechtsverkehr in der Hochzeitsnacht. Denn wenn ich heirate, dann den Mann, den ich in meinem ganzen Leben am meisten liebe und dem sollte ich mich komplett/intakt hingeben. Aber es kann natürlich auch sein, dass du nicht die große Liebe deines Lebens heiratest, es kann sein, dass das ein früherer Freund war. Und wenn er die Beziehung wieder aufleben lassen will, dann sind natürlich die Gefühle in Hochstimmung, dagegen habe ich auch nichts. Aber möglicherweise, wie soll ich sagen, ist er trotzdem nicht derjenige, der mich später heiratet, dann hat dieser Mann Schuld gegenüber meiner Zukunft. Natürlich kann ich nicht garantieren, dass es für meinen zukünftigen Ehemann das erst Mal sein wird, aber trotzdem möchte ich mich für den Geliebten aufheben.“

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Sexualität Waidiren Jin Jing S: „Ich möchte dich noch etwas fragen, was mir etwas unangenehm ist.“ J: „Das macht nichts, das macht nichts.“ S: „Vor der Hochzeit miteinander zu schlafen, war das in Ordnung?“ J: „Das hat auch keine Probleme bereitet.“ S: „Überhaupt keine Probleme?“ J: „Wir hatten eigentlich nie eine Hochzeit geplant, wir sind dann zur Zivilverwaltung gegangen und haben uns registrieren lassen. (J, S lachen) So werden wir nicht, wenn wir zu einer Reise aufbrechen, festgenommen und aufs Amt geschleppt, das geht nun einfach so.“

Lin Xiaoke S: „Wie ist das, meinst du, du wirst erst nach der Hochzeit Sex haben oder wie?“ L: „Das ist mir egal. Meine Traditionalität ist nicht sehr stark. Wenn wir meinen, das geht vorher, dann geht es halt. Es muss nicht unbedingt vorher sein, es muss nicht unbedingt nachher sein.“

Peng Yongyang S: „Hattet ihr schon vor der Hochzeit Geschlechtsverkehr oder habt ihr gewartet, bis nach der Hochzeit?“ P: „Wie soll ich sagen, sehr viele chinesische Mädchen sagen, dass es auf der Welt keine guten Männer gibt. Nachdem ich das gehört habe, fühlte ich mich wirklich nicht gut, denn dazwischen gibt es… wie soll ich sagen… es sind bestimmt nicht 100 % gut, denn niemand ist absolut perfekt, nicht wahr? Ich weiß auch nicht, wie ich sagen es sagen soll.“

Jimmy Yang S: „Kommt für dich vorehelicher Sex in Frage?“ J: „Ich finde, in unserer Gesellschaft ist diese Sache…. Wenn zwei Menschen zusammen sind, müssen sie nicht unbedingt bis nach der Hochzeit warten, bevor sie Sex haben, nicht wahr? Wenn zwei Menschen wirklich/ehrlich zusammen sind, dann ist es egal, ob vor oder nach der Hochzeit. Das Wichtigste ist die Psyche der Frau, nicht wahr? Wenn ich sie sehr schätze, dann kann ich auch bis nach der Hochzeit warten.“ S: „Wenn deine Freundin sagen würde, dass ihr erst nach der Hochzeit zusammen kämt, wie würdest du das finden?“ J: „Ich würde mich fragen, warum. Wenn sie sagt, dass sie erst nach der Hochzeit mit mir zusammen sein will, dann hat sie einen Grund dafür, nicht wahr. Das gibt mir kein Minderwertigkeitsgefühl.“

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S: „Wenn sie sagen würde, dass sie erst nach der Hochzeit mit dir zusammen sein will, würdest du dann eine Hochzeit in Betracht ziehen?“ J: „Ich würde eine Zeitlang mit ihr darüber reden, warum sie unbedingt bis nach der Hochzeit warten will, und genau darüber nachdenken.“

Ye Yiqun & Liu Songwei Y: „Ich kann mir vorstellen, erst mit ihr zusammen zu ziehen, denn so lernt man den anderen noch viel besser kennen, den Charakter, man kann sich aneinander gewöhnen. Nach der Hochzeit kann ich mich verändern, um mich an sie anzupassen. So wird die Beziehung zwischen zwei Menschen noch besser, das Leben noch schöner.“ L: „Ich finde, man sollte vor der Hochzeit mit der Freundin zusammen wohnen, so kann man gegenseitig die Gefühle vertiefen, sich gegenseitig besser kennen lernen. Das ist für alle Bereiche des späteren Lebens von Nutzen. So sollte das sein.“ S: „Wäre eure Ansicht genauso, wenn ihr in der gleichen Stadt wie eure Eltern leben würdet?“ Y: „Unsere Väter unterstützen uns normalerweise in dem, was wir tun. Sie geben uns bei den Dingen, die wir tun, höchstens Ratschläge, behindern würden sie uns nicht. Mein Vater ist genial. Er versteht mich vollkommen.“ S: „###“ L: „Aber wenn du Shanghai, eine so große Stadt, mit unserem Dorf vergleichst, ist das schließlich was vollkommen Unterschiedliches.“ Y: „Im östlichen und westlichen Denken gibt es einige Unterschiede. Einer ist, dass wir Chinesen traditionell sind. Unsere Ansicht von Frauen ist recht traditionell, beschützend, außerdem ist das Schutzbedürfnis der Frauen recht stark. Ihre Eltern hoffen, dass die Tochter vor der Hochzeit eine Jungfrau bleibt, die in ihrem Zimmer lebt und die in eine reiche und einflussreiche Familie [einheiratet]. So waren die althergebrachten Ansichten. Frauen mussten tugendhafte Witwen bleiben, auch wenn sie noch jung waren, und ewig in Keuschheit leben. Sie waren der Ansicht, dass ein Zusammenleben unmoralisch ist. Mittlerweile hat sich diese Einstellung schon geändert, sehr stark geändert, aber nichts desto trotz ist sie noch existent.“ S: „Soll eure zukünftige Freundin oder Ehefrau noch Jungfrau sein?“ Y: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich glaube, das ist egal.“ L: „Wichtig ist, dass beide sich lieben.“ Y: „Du hast nicht den geringsten Grund, von ihr zu fordern, dass sie noch Jungfrau ist. Das ist absolut nicht notwendig. […] Ich finde, das ist nicht wichtig. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit, jeder hatte in der Vergangenheit Gefühle, nicht wahr? Wir haben auch unsere vergangenen Gefühle. Deswegen dürfen wir nicht in ihrer Vergangenheit wühlen. Und außerdem, Jungfrau oder nicht, es hat keine Bedeutung.“

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L: „Auf der anderen Seite, was wäre, wenn die Frau vom Mann fordern würde, Jungfrau zu sein? Das ist genau das Gleiche.“ Y: „Was wir heiraten, ist eine Ehefrau und nicht eine so genannte Jungfrau. Nicht das intakte Jungfernhäutchen bringt uns dazu, sie noch mehr zu lieben. Was wir lieben, ist unsere Ehefrau. Auf mich persönlich hat das keinen Einfluss, die Gefühle für sie betreffend.“

Zhu Miaomiao & Cai Zhihong S: „Was ist mit dem Spruch: erst auf den Wagen springen, dann die Fahrkarte kaufen?“ (großes Lachen) C: „Ich würde sagen, das ist ein weit verbreitetes Phänomen. Aber man macht das nicht groß publik, also man zeigt das nicht nach Außen.“ Z: „Usw., usw., usw. Das ist auf jeden Kontext anwendbar, denn das hat verschiedene Kontexte.“ C: „Du meinst das grundsätzlich …“ S: „Vor der Hochzeit.“ C: „Das ist ein allgemeines Phänomen. In der jetzigen Zeit gehört die gesamte Gesellschaft dazu. Das Phänomen ist gewöhnlich, aber die Ansichten dazu sind nicht gewöhnlich. Generell kann man sagen, dass es immer mehr Menschen so machen, sie haben dazu schon eine normale Haltung, das ist etwas ganz Normales, aber von der ganzen Gesellschaft wird es noch als…“ Z: „…Tabu gesehen.“ C: „Ja, es ist ohne Frage ein Tabu, aber das heißt nicht, dass es nicht öffentlich diskutiert wird. Es wird nicht einfach so diskutiert. Wenn es öffentlich diskutiert wird, dann habe ich nicht das Gefühl, dass es etwas Schlechtes ist. Zumindest wird es nicht normal diskutiert. Es ist nicht so wie früher. Das finden vielleicht einige Menschen merkwürdig, aber so sind halt die Ansichten. Aber heute gibt es auch noch solche Situationen, zum Beispiel, dass alle sich darüber unterhalten, wer mit wem zusammen wohnt. In der Uni ist das ganz normal. Aber in der Gesellschaft, z.B. in einer Firma, besonders in einer altmodischen Firma, einer danwei, wenn die sich darüber unterhalten, wer mit wem zusammen wohnt, dann ist das heute so, dass das niemand weiter diskutiert. Aber tatsächlich ist das keine normale Reaktion. Aber das Phänomen ist weit verbreitet. Aber man kann es definitiv nicht mehr diskriminieren und kritisieren.“ S: „Was meinst du dazu?“ Z: „Ich denke, das ist wahrscheinlich so, weil Shanghai so ist. In anderen Städten grämt man sich da wahrscheinlich noch mehr darum.“ C: „Was ,erst auf den Wagen springen und dann das Ticket kaufen‘ angeht, muss man das trennen. Wenn du darauf hinaus willst, dass man vor der Hochzeit zusammen wohnt, dann ist das etwas, was man sehen kann, deshalb gibt es das wohl nur in Großstädten häufiger. Wenn du auf vorehelichen Sex anspielst, dann ist das ein weit verbreitetes Verhalten und nicht nur auf Groß-

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städte begrenzt. Es wird halt nicht publik gemacht oder mündet nicht in einer Wohngemeinschaft. Das Phänomen existiert, aber es ist versteckt, zwischen zwei Personen. Die meisten Menschen wissen nichts davon.“ Z: „Ja, denn zusammen zu ziehen hat einen viel größeren öffentlichen Aspekt. Egal, ob es um vorehelichen Sex oder um Zusammenwohnen geht, beides gibt es noch sehr wenig in Großstädten und beides ist noch Tabu. Es wird viel diskutiert. In Kleinstädten ist das noch nicht möglich. Auch unter den Jugendlichen sind die Ansichten teilweise noch weit voneinander entfernt. Männer haben eine andere Ansicht als Frauen. Wenn ich in Deutschland bin, gehe ich manchmal ins Internet und sehe mir Kommentare an, die im chinesischen Netz veröffentlicht werden. Darunter gibt es solche Foren, die diskutieren, wie Männer Frauen sehen, wenn diese sich so oder so verhalten. Oder ob du es akzeptieren/erlauben könntest, wenn deine Freundin früher ein bestimmtes Verhalten hatte. Ich habe bemerkt, dass sehr, sehr viele Männer so ein Verhalten verachten/nicht ertragen können. Aus unserer Perspektive sollte so eine natürliche Sache nicht als unmoralisch verurteilt werden. Trotzdem gibt es viele Leute, die nicht verstehen, warum das der Moral schaden sollte oder so. Sie sagen, sie akzeptieren es, wenn jemand anderes das macht, aber für sie selbst kommt das nicht in Frage. Solche Umstände gibt es. Sie sind noch nicht vollständig frei und unbeschwert. Für sich selbst ziehen sie das nicht in Betracht.“ S: „Ich bin hier in sehr vielen Zeitschriften auf One-Night-Stand Geschichten gestoßen …“ C: „Ich habe auch sehr viel darüber gelesen. Aber über unser vorheriges Thema, vorehelichen Sex, weiß ich nur sehr, sehr wenig aus Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen. Darin scheint [ein One-Night-Stand] kein vereinzeltes Phänomen zu sein, sondern sehr häufig vorzukommen, besonders in Großstädten. Aber ich weiß darüber sehr wenig. In meinem Freundeskreis, in meinem Lebensumfeld, weiß ich nicht, ob es das gibt, in unserem Umfeld gibt es das nicht. Wir diskutieren nicht darüber, deshalb glaube ich, dass es das nicht gibt, zumindest denke ich das. Ich weiß, dass es ein gewöhnliches gesellschaftliches Phänomen ist, besonders im Internet. Es ist merkwürdig, ich habe das Gefühl, dass es dort ein absolut alltägliches Phänomen ist. Aber für mich persönlich ist das ein sehr weit entferntes Phänomen.“ Z: „Ich finde, One-Night-Stand, diese Sache, ist ein Phänomen in der arbeitenden Gesellschaft, denn ich glaube, auf der Uni gibt es das nicht.“ C: „Ich kann es nicht sagen.“ S: „Ich habe gehört, dass es auf dem Uni Campus schon Kondomautomaten gibt.“ Z: „Das kann sein, das ist vielleicht aus dem Gesundheitsaspekt.“ C: „Das gehört zur Sexualhygiene-Propaganda. Das heißt aber nicht, dass es dort schon bis zu solch einem Grad entwickelt ist. Das ist eine Art der Regierung, die Massen zu erziehen. Das ist eine Art der Instruktion. Das heißt nicht, dass dieses Phänomen schon so weit vorgedrungen ist. Ich denke, obwohl es

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so etwas gibt, heißt es noch nicht, dass die Leute das kaufen. Wenn jemand das kaufen will, dann bestimmt nicht dort.“ Z: „Er geht in die Apotheke.“ C: „Ja, ja, ja. Das ist schon durch einen langen Forschungsprozess gegangen. Und dann, wenn sie sie in der Apotheke kaufen wollen, aber sich nicht richtig trauen, dann schmeißen sie das Geld einfach direkt auf die Theke, als würden sie Kaugummi kaufen. (großes Lachen) Nein. Das wird in der Realität nicht passieren, sie gehen dann vielleicht mitten in der Nacht los welche kaufen. (großes Lachen) Ich habe jedenfalls noch nie jemanden dort [auf dem Campus] welche kaufen sehen.“ Z: „Es scheint, auf der Tongji haben sie so was.“ C: „Ja.“ Z: „Das ist genauso etwas wie Gesundheitspflege, Gesundheitsschutz.“ C: „Die Regierung muss solche Sachen einrichten. Sie hoffen, so die öffentliche Hygiene zu gewährleisten.“

3.4.a Exkurs: Homosexualität am Beispiel Sam Zhangs Sam Zhang S: „Hattest du schon mal eine Liebesbeziehung?“ Z: „Hatte ich noch nie, ich finde, das zählt alles nicht als Liebesbeziehung.“ S: „Als was denn dann?“ Z: „Als triebhaftes Sexualleben (ጩ‫ء‬౨ऱࢤ‫س‬੒, suan benneng de xing shenghuo). Eine formale Liebesbeziehung hatte ich schon mal. Im dritten oder vierten Jahr der Uni. Aber ich erinnere mich nicht daran, jemanden schon mal so richtig gemocht zu haben.“ S: „Du bist 25. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du noch nie eine Beziehung hattest.“ Z: „Ich bin momentan available [engl.].“ […] S: „Der perfekte Partner, wie müsste er für dich sein?“ Z: „Vom Äußeren groß und schlank, so was mag ich. Was den Charakter angeht, weiß ich auch nicht genau, ich bin noch niemandem begegnet. Ich wünsche mir, dass er belesen ist, er darf mich nicht zu sehr pushen, overcome [engl.]. Man muss sich gegenseitig Freiraum lassen, aber nicht so, dass der eine dem anderen egal ist. Ich habe keine besonderen criteria [engl.] an Menschen. Du kannst niemanden nach deinen Vorstellungen suchen, das ist unvorstellbar […]“ […] S: „Hattest du schon mal eine Freundin?“ Z: „Nein, ich hatte noch nie eine Freundin.“ S: „Wann hast du bemerkt, dass du keine Mädchen magst?“

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Z: „Sehr früh, auf der Oberstufe der Mittelschule, Unterstufe der Mittelschule. Da hat es angefangen, aber war noch nicht definierbar/endgültig. Sehr beängstigend. Aber nachdem ich auf die Uni kam, hat sich das confirmed [engl.]. Am Anfang gefiel mir das überhaupt nicht.“ S: „Wie ist es dir aufgefallen?“ Z: „Weil ich den Jungen hinterher gesehen habe.“ […] S: „Wissen deine Eltern das?“ Z: „Nein.“ S: „Üben sie Druck auf dich aus?“ Z: „Der Druck ist nicht schlimm. Mein Vater redet mit mir nicht darüber. Meine Mutter manchmal, Verwandte schon mal. Der Druck geht noch. Weil meine leibliche Mutter gestorben ist, meine Großeltern [väterlicherseits] ebenso, sind nur noch die Eltern meiner Mutter übrig, und die lassen mich mein eigenes Ding machen. Nur die älteste Schwester meiner Mutter fragt, ,Hat er eine Freundin? Wie kann es sein, dass so ein guter Junge keine Freundin hat?‘“ […] S: „Habt ihr schon mal ungezwungen über Homosexualität gesprochen?“ Z: „Nein, manchmal, wenn die ganze Familie beisammen ist, dann kommt es schon mal vor, dass irgendein Verwandter darauf zu sprechen kommt. Dann sage ich nichts dazu. Und wenn sie mich fragen, dann sage ich, ,Ich weiß nicht.‘“ S: „Hast du vor, es ihnen zu sagen?“ Z: „Das hängt von der Situation ab. Ich gedenke nicht zu heiraten. Ich will, dass es ihnen gut geht, ich will einen Weg finden, mehr Geld zu verdienen. Wenn du ihnen nicht die Freude eines Enkels geben kannst, dann lasse ich sie auf der Grundlage von Geld ein etwas besseres Leben haben. Und wenn ich mal so viel Geld haben sollte, ihnen ein besseres Leben ermöglichen zu können, dann hoffe ich, dass sie selbst darauf kommen. Schließlich sind sie keine Dummköpfe.“ […] S: „Wenn du einen Freund finden solltest, den du unglaublich liebst, erzählst du es ihnen dann?“ Z: „Möglich. Liebe kann einen um den Verstand bringen.“ S: „Was ist denn Liebe?“ Z: „Liebe ist, wenn du den ganzen Tag Angst hast, diesen Menschen nicht zu sehen. Und dann noch ein Gefühl. Jemanden [männlich] romantisch zu lieben, kann nicht sehr lange andauern. Am Ende verwandelt sich das in Zuneigung/Liebe, dann gewöhnst du dich an diesen Menschen als Teil deines Lebens. Dann verwandelt sich die romantische Liebe in Zuneigung/Liebe [impliziert höheres Niveau]. Du kannst immer noch sagen, dass du diesen Menschen

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sehr, sehr liebst. Ich bin noch nie bis zu diesem Stadium gekommen, ich sage das nur unklar.“ […] S: „Wenn du jemanden sehr lieben solltest, könntest du dir dann vorstellen, ihn zu heiraten? Ich habe im Internet Bilder von zwei chinesischen Homosexuellen gesehen, die geheiratet haben.“ Z: „An Heirat an sich glaube ich schon mal nicht wirklich. Ich glaube auch nicht sehr an dieses commitment [engl.], denn ich höre von zu vielen, dass es heute so ist und morgen anders. Meiner Ansicht nach sind alle Menschen widersprüchlich. Männer sind noch widersprüchlicher. In unserer Community [engl.] gibt es kein Gesetz, keine Liebe, keine moralischen Kontrollen. Eher noch brauchst du einmaligen Mut, um zu sagen, wir zwei soundso. Kann sein, dass ich sage, nicht zu heiraten ist soundso, aber im Herzen denke ich, wenn Menschen die Zeit, die sie miteinander verbringen, zu schätzen wissen [ist es gut], bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr zusammen sein können [es nicht mehr ertragen] und sich trennen.“ […] S: „Magst du den Shanghaier Lebensstil?“ Z: „Am Ende des Monats fahre ich nach Beijing. Ich will mir Beijing ansehen. Ich bevorzuge Beijing. Shanghaier Männer sind zu weich, soft. Beijinger sind, was Gefühle angeht, recht solide. Sie sind groß und robust.“ S: „Warst du schon mal in Beijing?“ Z: „Nur zum Arbeiten, nicht zum Spaß. Zum Spaß will ich hinfahren, um Leute kennen zu lernen. Bin schon einmal hingeflogen, ohne meinen Eltern davon zu erzählen. War echt lustig.“ […] S: „Ist die Community in Shanghai groß?“ Z: „Groß. Gemessen an der Einwohnerzahl 10 %.“ S: „Echt? Männer und Frauen…“ Z: „Das beruht auf einer internationalen Studie.“ […] S: „Habt ihr innerhalb der Gesellschaft Probleme?“ Z: „Nein, keine Probleme.“ S: „Wenn du und dein Freund gemeinsam auf der Straße entlanggeht, erkennen dann die anderen, dass ihr homosexuell seid?“ Z: „Wenn sie es erkennen, dann erkennen sie es halt. Sie sind überall auf der Straße, ich könnte dir sofort welche zeigen.“ S: „Echt? Warum kannst du das?“ Z: „Es gibt kein warum. Die Leute denken, das ist ganz normal. Schwul ist halt schwul. Besonders die jungen Leute.“ S: „Findest du, dass die Shanghairen besonders gut aussehen?“ Z: „Der da sieht z.B. sehr gut aus.“

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S: „Wer?“ Z: „He is my style [engl.].“ S: „Ist er homosexuell?“ Z: „Keine Ahnung, habe ich nicht gesehen.“ S: „Erkennst du es nicht?“ Z: „Er hat mich nicht angesehen. Hätte er mir in die Augen gesehen, dann hätte ich es erkannt. Er hat mich nicht angesehen. Wenn ich Typen auf der Straße ansehe, sie mich, dann weiß ich es. Ansonsten guckt er, was ich mache.“ […] S: „So, wie dich einige alte Leute ansehen, ist das gut oder schlecht?“ Z: „Wenn die mich ansehen, wissen sie gar nicht, dass ich es bin. Sie denken höchstens, der Junge ist aber liebenswürdig. Ich küsse mich auch nicht vor alten Leuten [‫ ؚ‬kiss (da kiss), sino-englische Abwandlung]. Sie reden höchstens darüber, wie der Typ ist. Aber wenn sie zu Hause nicht auch jemanden haben, der so ist, dann werden sie nicht weiter darüber reden.“ […] S: „Du scheinst sehr frei zu sein.“ Z: „Ich bin ziemlich frei“ […] S: „Solltest du mit deinem Freund auf der Straße spazieren gehen und plötzlich deine Eltern treffen, was machst du?“ Z: „Erstmal ist die Wahrscheinlichkeit nicht groß. Sie kommen nicht hier her. Und treffe ich sie, dann treffe ich sie halt. Dann kann ich sagen, das ist mein Kommilitone oder Kollege oder so.“ S: „Meinst du, deine Eltern haben sich noch nie gefragt, ob du nicht homosexuell bist?“ Z: „Kann sein. Sie haben noch nie darüber geredet. Sie fragen mich nicht und ich antworte also auch nicht.“ […] S: „Magst du Ausländer?“ Z: „Ja, ich mag Europäer, weiß, groß, oder Holländer, Dänen, Blondhaarige. Ich habe schon einige getroffen. Ausländer und Chinesen haben einige Besonderheiten, ihre Köpfe sind sehr klein. Wenn der Kopf klein ist, wirken die Körperproportionen sehr klein. Außerdem mag ich ihre Nase und Augen, die sind sehr hübsch. Auch Englisch mit ihnen zu sprechen ist für mich kein Hindernis, deshalb sagen sie, ,Sam, du musst ins Ausland gehen.‘ Ich sage, ,Mein Schicksal ist noch nicht gekommen, ich weiß auch nicht.‘ Ich habe mal einen Holländer getroffen, der aussah wie Orlando Bloom, so very cute, so cute [engl.].“ S: „Hattest du schon mal eine Beziehung zu einem Ausländer?“ Z: „Das heißt nicht tan lianai (冚㰫䵋) [Liebesbeziehung haben], das ist eine sexuelle Beziehung, die war sehr gut.“

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S: „Zwischen Chinesen und Europäern gibt es ja große kulturelle Unterschiede. Wie ist das in der internationalen Community?“ Z: „Es geht, wir sind alle ziemlich Western Style [engl.], wir feiern bis in den frühen Morgen, schlafen bis 12:00 Uhr, wie bei ,Sex and the city‘ [engl.], so ein Leben.“

3.4.b Umgang mit Homosexualität Umgang mit Homosexualität Shanghairen Lu Jingjing & Qiuqiu L: „Ich finde das absolut normal. Und auch die Ansichten über Homosexualität werden in Shanghai immer offener. Natürlich denken noch viele Leute, dass das nicht geht. Meine Freunde und meine Familie können nicht sagen, dass sie es akzeptieren, aber sie können sagen, dass es ein gesellschaftliches Phänomen ist.“ Q: „Ich stimme dem, was sie sagt, nicht zu, was die Akzeptanz Shanghais gegenüber Homosexualität angeht. Ich glaube grundsätzlich, dass die meisten Shanghairen das noch immer nicht akzeptieren können, aber sehr viele Leute reden auch nicht über das Thema. Und wenn sie darüber reden, dann, dass sie es mit Sicherheit nicht akzeptieren können. Aber ich verstehe nicht, warum sie es nicht akzeptieren können. Ich finde, solange es um Liebe geht, kann man es akzeptieren. Warum können wir heterosexuell lieben, aber er oder sie darf nicht homosexuell lieben? Ich habe sehr viele Bücher über Homosexualität gelesen. Sehr viele Leute reden so wie ich, dass es zwei Gründe für Homosexualität gibt. Der eine ist eine Frage der Gene, du bist so geboren und [der andere] dein familiäres Umfeld, in dem du groß wirst. Wenn du dich dazu entscheidest, homosexuell zu lieben, dann gibt es keinen Grund, das zu kritisieren. Ich denke, das ist Liebe. Im Namen der Liebe ist alles möglich. Ich denke nicht, dass das irgendein Problem ist. Ich kann das voll und ganz akzeptieren.“ L: „Ich denke, wir beide können das akzeptieren, weil wir um uns herum solche Freunde haben. Früher hat mal ein Freund zu mir gesagt, er sei von Geburt an so. Als er gerade seine ersten Kontakte hatte, gab es in Shanghai viele Orte, wo sie diskriminiert wurden, er wurde auch um sein Geld gebracht, seine Sachen wurden ihm gestohlen. Er wurde erpresst, so und so viel Geld zu zahlen, ansonsten hätte die Person herumerzählt, dass er schwul sei. In Shanghai gibt es solche Menschen. Aber mittlerweile haben sie ihre Räume, wie Bars. Außerdem haben sie ihre Zeitschriften und ihre Communities. In China gibt es eine ganz bekannte Zeitschrift, die wird öffentlich herausgegeben.“ S: „In vielen Ländern wollen Homosexuelle heiraten.“ L: „Ich habe eine Diskussion in einer chinesischen Zeitschrift gesehen. Dort stand, dass in Qingdao ein männliches Paar geheiratet hätte. Sie hätten eine

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Zeremonie durchgeführt, aber ihre Eltern haben nicht daran teilgenommen. Aber alle Freunde haben teilgenommen.“ S: „Kann man in China heiraten?“ L: „Nein, das geht nicht, definitiv nicht. In den USA diskutiert man darüber.“ Q: „Aber die USA sind selbst so ein konservatives Land. Europa ist sehr offen.“

Xu Hongwei „Ich selbst finde [Homosexualität] sehr schwer akzeptierbar. Ich weiß relativ viel von Homosexualität. Ich denke, das hat möglicherweise einen erblichen oder genetischen Grund. Natürlich gibt es bei den Menschen und in der Tierwelt das Problem der Homosexualität, aber mein individuelles Gefühl lässt mich Homosexualität als schwer akzeptabel hinnehmen, außerdem kann man sagen, dass das etwas Ekel erregendes ist.“

Meng Yingying „In Shanghai, ob sie in Shanghai darunter leiden, mit Vorurteilen behandelt zu werden oder so…? Was Shanghai angeht, so haben sie nicht unbedingt darunter zu leiden, aber in vielen chinesischen Gebieten haben sie sicher Probleme. Shanghai ist halt eine sehr offene Stadt, die mit Dingen von Außerhalb konfrontiert wird. Es ist halt eine junge Generation. Außerdem gibt es momentan sehr viele japanische Manga und dann noch Romane, ähnlich den danmei (౜ ભ՛円, danmei xiaoshuo)7 Das ist ein neuer Name, sie beschreiben alle homosexuelle Themen.“ S: „Echt?“ M: „Ja. Sehr viele.“ S: „In Mangas gibt es das auch?“ M: „Ja, japanische Mangas auch. Tatsächlich kann ich Homosexualität verstehen, weil ich japanische Mangas gelesen habe, das gebe ich zu. Früher habe ich keinen Zugang dazu gehabt, es nicht verstanden. Aber später, als ich mir das angesehen habe, ist mir aufgegangen, dass es genauso um Liebe geht, nur dass es halt gleichgeschlechtliche Liebe ist. Meiner Ansicht nach gibt es daran nichts Richtiges oder Falsches. Überhaupt, dass Shanghairen nicht nach Richtig und Falsch trennen, das schätze ich an ihnen, besonders an den jungen Leu7

౜ ભ ࣹ რ , danmei zhuyi heißt übersetzt Schönheitssinn, auch ભ ტ , meigan oder 䪢ભ, shenmei haben diese Bedeutung. Allerdings lässt sich in den gängigen Wörterbüchern ౜ભ, danmei nicht finden. Möglicherweise ist das Wort aus dem Japanischen nach China gekommen (Kanji: ౜ ભ, Ästhetik). ౜, dan allein heißt u.a. „für etwas schwärmen; (einem Laster) erlegen sein“ und wird meist in Zusammenhang mit homosexuellen Thematiken verwandt.

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ten. Sie akzeptieren so etwas relativ schnell. Obwohl wir es nicht ausprobieren gehen, aburteilen wir doch auch nicht die anderen. Das ist halt deren Lebensstil. Aber im chinesischen Inland gibt es sehr viele verschlossene ungebildete Gegenden, in denen die Leute, weil sie in Kleinstädten leben, Gerüchte verbreiten und [die Homosexuellen] verleumden. Dort kann es schon sein, dass sie diskriminiert werden. Ja, das ist sicher so. Aber Shanghai ist so groß, 17 Millionen Einwohner, da kannst du machen, was du willst. (M lacht) So ist das.“

Connie Peng „Es gibt nicht sehr viele Schwule. Ich weiß, dass es nicht viele sind. Denn sie ertragen definitiv einen gesellschaftlichen Druck. Angenommen…, Homosexualität wird nicht publik gemacht. Dabei ist nichts Besonderes daran. Zwei Menschen reden über Gefühle, sie sind nur in einiger Hinsicht anders als andere, weil sie gleichgeschlechtlich sind. Homosexualität, Heterosexualität, was dabei am meisten Angst macht, ist doch, betrogen zu werden.“ […] S: „Weißt du, was deine Eltern für eine Einstellung zur Homosexualität haben?“ C: „Sie haben keine Vorurteile gegen Schwule, denn ich habe einen sehr guten Freund, der schwul ist.“

Vicky Cao S: „Meinst du, dass Homosexuelle in der Shanghaier Gesellschaft Probleme haben?“ V: „Sehr viele können es vielleicht nicht akzeptieren, ihre Ansicht war immer, dass man heterosexuell sein muss. Vor kurzem gab es einen sehr berühmten Star namens Zhang Guorong, der hat sich von einem Hochhaus gestürzt. Er war sehr berühmt. Er war ein sehr introvertierter Mensch. Er war homosexuell. Am 1.4. hat er sich umgebracht. Ich selbst kann das nicht akzeptieren, aber ich bin sehr neugierig. Ich kann es akzeptieren, wenn zwei Frauen zusammen sind, aber wenn zwei Männer zusammen sind, dann kann ich das nicht hinnehmen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht, weil ich eine Frau bin. Aber ich kann jetzt auch Männer akzeptieren, wenn ich sie direkt vor mir sehe, wenn ich sie direkt ansehen kann. Ich bin echt neugierig, frage mich, warum sie so sind, ich finde ihr Verhalten sehr merkwürdig.“

Li Yuwen & Zhao Jing Z: „Meine Eltern können das mit Sicherheit nicht akzeptieren, aber sie gehen da auch nicht voreingenommen ran, für sie ist das eine witzige Unterhaltung beim Tee, das ist alles.“ […]

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L: „Meine Eltern sind der Ansicht, wenn es bei Freunden oder anderen auftritt, dann ist es deren Sache. Sie können das akzeptieren, aber ich denke, wenn es in der eigenen Familie vorkommt, dann können sie das nicht einfach so hinnehmen.“ S: „Und ihr selbst?“ L: „Mir ist das egal. Die Interessen eines jeden sind unterschiedlich.“ Z: „Ja, das ist egal.“ S: „Habt ihr schon mal einen Homosexuellen gesehen?“ Z: „Nein.“ L: „Nein.“ S: „In Shanghai gibt es bestimmt viele.“ L: „Ja.“ Z: „Ja, es gibt sie zwar, aber sie machen es meistens nicht publik. Du kommst nur darauf, wenn er es dir selbst erzählt. Dann, auf einmal, erkennst du an seiner Art, dass er es ein bisschen ist. Ansonsten kannst du es nur vermuten, es ist sehr schwierig, das zu prüfen.“ L: „Das wird nicht öffentlich gemacht. Sie haben ihre eigenen Kreise, Orte, wo sie sich treffen. Das wird nicht sehr öffentlich gemacht.“

Umgang mit Homosexualität Waidiren Lin Xiaoke S: „Hast du homosexuelle Freunde?“ L: „Nein.“ S: „Schon mal welche gesehen?“ L: „Nein, nur in Zeitschriften oder im Fernsehen.“ S: „Wie ist deine Einstellung dazu?“ L: „Ich behalte meine Meinung zurück, weil ich darüber noch keine besonderen Nachforschungen angestellt habe. Aber ich habe nicht extrem was gegen solche Beziehungen. Konkreter kann ich nichts dazu sagen.“

Peng Yongyang „Gegenüber dem Thema bin ich absolut gleichgültig. Ich habe nichts gegen Homosexuelle, aber ich kann sie auch nicht unterstützen, denn erstens hätte es keinen Nutzen, wenn ich gegen sie wäre. Würde ich sie unterstützen, dann…und außerdem…wie soll ich sagen, hey, das kann ich nicht sagen. Für diese Sache empfinde ich nichts, absolut nichts. Kein Interesse, habe nicht darüber nachgedacht.“ S: „Meinst du, dass sie es in der chinesischen Gesellschaft schwer haben?“ P: „Was Homosexuelle angeht, so habe ich in Shanghai schon sehr, sehr viele gesehen, aber ich bin nicht mit ihnen in Kontakt gekommen, hatte keine Verbindung, auch nicht beruflich oder so.“

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S: „Und in Anhui?“ P: „In Anhui sind es nicht viele. Meiner Ansicht nach sind die Homosexuellen hauptsächlich mehr in den Großstädten. In kleineren Städten sehr, sehr, sehr wenig.“ S: „Warum meinst du, ist das so?“ P: „Schließlich ist es so, dass die…ich denke mir das so. Ich glaube, Homosexuelle sind auf jeden Fall sehr reich, das denke ich, außerdem haben sie die Gefühle für das andere Geschlecht schon verloren. Oder sie haben irgendwelche anderen Gründe, um das eigene Geschlecht zu wählen. Meiner Meinung nach haben diese Leute sehr viel Geld oder keine Empfindungen mehr für das andere Geschlecht. Bei uns daheim ist die Stadt nicht groß. Und je größer die Stadt ist, desto mehr reiche Leute gibt es, nicht wahr? Je kleiner die Stadt, desto weniger Leute mit Geld. Ich denke mir das so. In den kleinen Städten sind weniger Menschen, weil in den großen Städten sehr viele Menschen sind. Es gibt ziemlich viele Großstädte. Dann ist da noch der Geldaspekt, der ist überall unterschiedlich. Und je größer die Städte, desto offener die Menschen, desto mehr folgen sie der Mode. Kleine Städte folgen großen Städten. Großstädte folgen der Gesamtheit, den Modetrends der gesamten Welt.“

Jimmy Yang „Habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Natürlich sind die Homosexuellen auch Menschen, sie haben auch Gefühle, nicht wahr? Wenn es möglich wäre, sollten sie zusammen sein. Aber ich, ich hoffe nicht, dass es in China Homosexuelle gibt. Ich denke, die Homosexuellen in der chinesischen Gesellschaft sind sehr wenige. Die meisten sind heterosexuell. Es gibt sie zwar, aber ich empfehle, dass das nicht vorkommen sollte, denn ich finde das nicht gut.“ S: „Kennst du Homosexuelle?“ J: „Ich glaube, früher waren einige Freunde so. Auf jeden Fall verstehe ich das absolut nicht. Ich denke, wenn mir bewusst wird, dass einer homosexuell ist, werde ich danach nicht mehr mit ihm zusammen sein.“

Wendy Ding & Min Hao S: „In Shanghai gibt es recht viele Homosexuelle, nicht wahr?“ W: „In unserem Umfeld nicht, nicht in unserem Freundeskreis. Kann sein, dass die Homosexuellen ihre eigenen Kreise haben. Sie sind nicht mit uns zusammen. In meinem Verständnis sind sie wie Schlagersänger, Stars, Sportstars, ziemlich linglei. Wir kommen grundsätzlich nicht mit solchen Leuten in Kontakt.“ S: „Diskutiert ihr darüber? Ob sie heiraten können oder so?“ W: „Wir sind da nicht so enthusiastisch, aber klar diskutieren wir hin- und wieder darüber. Klar haben sie viele Probleme, weil unsere Gesetzgebung

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noch so zurückgeblieben ist. Deswegen werden solche Fragen früher oder später auch aufkommen.“ M: „Gesetzlich werden sie das nicht erlauben, sie werden keine Erlaubnis bekommen…“

Jin Jing „Das, ich finde, das ist ziemlich weit weg von mir, kann sein, dass ich rings um mich herum noch nie mit solchen Leuten in Kontakt gekommen bin. Das ist ziemlich weit von mir entfernt, aber ich kann das akzeptieren. Aber für mich selbst kann ich mir das nicht vorstellen. (J lacht) Aber ich glaube, ich kann ihre Gefühle ziemlich gut verstehen. Ich glaube, in Shanghai denkt der Großteil der Leute, dass das die Sache eines jeden persönlich ist. Ich meine, junge Leute denken so. Dass es die Sache jedes Einzelnen ist.“

249

SHANGHAI XXL

3.5 Arbeit Bevor die beruflichen Situationen vorgestellt werden, soll eine komprimierte Übersicht über die jeweiligen Berufe der Informanten einen direkten Vergleich zwischen Schulabschluss, Einkommen und Wochenarbeitsstunden ermöglichen. Entnehmen lässt sich daraus, dass ein Universitätsabschluss nicht mit einem hohen Einkommen gleichzusetzen ist, bzw. dass das Einkommensverhältnis unausgeglichen ist. Tabelle 3: Übersicht Schulbildung im Verhältnis zu Beruf und Einkommen.8 Name

ƃ Ƃ

Alter

Herkunft

Abschluss

Jimmy Yang

m

24

W

chuzhong

Friseur

Peng Yongyang

m

21

W

chuzhong

Friseur

Li Yuwen

w

27

S

daxue

Zahntechnikerin

Zhao Jing

w

27

S

daxue

Zahnärztin

Yan Beibei

w

24

W

daxue

Buchhalterin

Zhang Jixiao

m

25

W

daxue

Verkäufer

Wang Xin

w

24

W

daxue

Li Nan

w

25

W

daxue

Zheng Leibin

m

25

W

daxue

Connie Peng

w

29

S

daxue

Buchhalterin

㩯 2.000,00

40

Wang Jialing

m

30

S

daxue

Programmgestalter am Staatstheater

㩯 3.000,00

40

Zhu Miaomiao w

26

W

daxue

Doktorandin

㩯 4.000,00

Cai Zhihong

w

30

W

daxue

Wendy Ding

w

28

W

daxue

8

Beruf

Biomedizinstudentin Biomedizinstudentin Biomedizinstudent

Heizungs- und Klimaanlagentechnik Ingenieurin Elektroingenieurin

Gehalt 㩯 3.000,00 㩯 5.000,00 㩯 4.000,00 㩯 2.500,00 㩯 2.000,00 㩯 2.200,00

WA St 72 84 4550 40 40 40

㩯500,00 㩯600,00 㩯500,00

㩯 7.000,00

40

㩯 2.700,00

45

Übersicht zum chinesischen Schulsystem und Erklärungen für „Abschluss“ vgl. Anhang, S. 323.

250

POLYPHONIE DER STIMMEN

Name

ƃ Ƃ

Alter

Herkunft

Min Hao

m

30

W

daxue

Marie Chen

w

24

S

daxue

Vicky Cao

w

22

S

gaodeng

Daisy Ding

w

27

S

daxue

Sun Ye

m

24

S

daxue

Ling Jiaqing

m

20

S

gaodeng

Huang Yigu

m

24

W

daxue

Zhu Baixi

m

25

S

daxue

Coco Pan

w

23

S

daxue

Lu Jingjing

w

24

S

daxue

Qiuqiu

w

25

S

daxue

w

26

S

daxue

m

27

W

daxue

w

26

W

daxue

Ren Dongqing m

26

S

gaozhong

Ma Yan

m

25

S

daxue

Sam Zhang

m

25

S

daxue

Wang Jun

m

26

S

daxue

Ai Guo

m

31

W

daxue

Ye Yiqun

m

21

W

gaozhong

Liu Songwei

m

25

W

chuzhong

Chen Jia

w

23

W

daxue

Xu Hongwei

m

24

S

gaozhong

Wang Shuhua w

29

W

gaozhong

Lan Qian

27

W

gaodeng

Meng Yingying Chen Chunzhao Jin Jing

w

Abschluss

Beruf

Gehalt

Automatisierung 㩯 Software8.000,00 ingenieur gelernte Bank㩯600,00 kauffrau, Stud. 㩯 Sekretärin 2.000,00 㩯 Chefassistentin 3.000,00 㩯 Englischlehrer 2.000,00 㩯 Musiker 2.000,00 Berater in Elekt㩯 ronikladen 2.000,00 㩯 Modedesigner 2.500,00 Rechtsanwalts㩯 Gehilfin 4.800,00 Marketing & PR 㩯 Executive 4.000,00 㩯 Marktforscherin 4.000,00 Redakteurin in 㩯 Lexikonverlag 3.200,00 Student Auto㩯310,00 mation Material㩯0,00 kundlerin Lieferwagen㩯 fahrer 1.500,00 Außenhandels㩯 Kaufmann 3.000,00 Versicherungs㩯 Vertreter 10.000,00 Schulpsycho㩯 loge 1.800,00 je nach Maler Verkauf 㩯 Masseur 1.500,00 㩯 Masseur 2.000,00 studiert Litera㩯800,00 turwissenschaft 㩯 Graphiker 2.000,00 Amway 㩯900,00 Verkäuferin Amway 㩯150,00 Verkäuferin

WA St 45

40 40 40 40 48 45 50 60 45 40

40 40 40 40

70 72

40

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SHANGHAI XXL

Name

ƃ Ƃ

Alter

Herkunft

Lin Xiaoke

m

22

W

zhiye

Wang Shuo

m

27

W

daxue

Andrew Tan

m

30

S

daxue

Liu Jian

m

26

W

daxue

Xiuxiu

w

29

W

kein

DVD

w

29

W

kein

Melissa Liao

w

28

W

daxue

Xie Zhili

w

23

W

gaozhong

Han Jing

w

26

W

daxue

Gong Weiying w

28

S

daxue

Ma Ye

30

S

daxue

w

Abschluss

Beruf

Gehalt

㩯 1.100,00 㩯 Musikstudent 1.200,00 㩯 Arbeit suchend 3.000,00 bis max. ¥ Schriftsteller 5.000,00 Amway Verkäu㩯 ferin 2.000,00 Straßen? händlerin 㩯 Sekretärin 3.000,00 Arbeit suchend 㩯400,00 㩯 Sekretärin 2.500,00 arbeitslos ? freie Journalis㩯 tin 3.500,00

WA St

Amway Verkäufer

70

40

40

Vgl. chinesische Schulabschlüsse Abbildung 20, S. 323.

Arbeit Shanghairen Wang Jun „Schulpsychologe ist ein recht neuer Beruf, früher gab es das noch nicht. Jetzt hat jede Schule grundsätzlich einen. Ein Schulpsychologe ist für den gesamten Psychologieunterricht an einer Schule verantwortlich. Hauptsächlich gebe ich den Schülern psychologische Unterstützung/Ratschläge. Das sind Gruppen-Tutorien, nicht Einzelsitzungen. Inhalt sind die Beziehungen zwischen Mitschülern, wie Schüler mit ihren Familien reden können und manchmal geht es auch darum, wie man mit Prüfungen umgeht, um Prüfungstechniken, Entspannungstechniken, um den Druck abzubauen. Da gebe ich den Schülern einige Tipps. Außer psychologischer Unterstützung hat unsere Schule auch noch einen Beratungsraum, einen kleinen Raum mit einem Sofa, einem Stuhl und einem Tisch. Wenn einige wenige Schüler Probleme haben, können sie dorthin kommen und Hilfe bekommen. Erst eruieren wir Lehrer die Situation und dann helfen wir. Auch müssen wir Kolumnen über Psychologie publizieren, psychologisches Wissen verbreiten, indem wir Probleme von Schülern erklären. Außerdem haben wir noch ein psychologisches Telefon, über das man um Rat fragen kann. Alle Schüler können mit allen Fragen und Problemen anrufen. Die Zeit wird jede Woche festgelegt, von wann bis wann man anrufen kann. Schüler und Eltern können anrufen. Früher gab es so was nicht, wo Eltern mit Lehrern kommunizieren konnten, aber jetzt versucht man das durchzusetzen, denn Eltern haben auch sehr viele Fragen. Wir stellen eine große Zuhörerschaft für die Eltern dar

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und geben Ratschläge, was sie tun sollten und wo sie dem Kind mehr Selbständigkeit einräumen sollten. Das sind so die Aufgaben eines Schulpsychologen.“ S: „Rufen dich die Schüler meistens an oder kommen sie in deinem Büro vorbei?“ W: „Unser Beratungszimmer ist ein Ort, wo man sprechen kann, da können einige Schüler Kameradschaft finden, sich entspannen, es gibt nichts Peinliches, keinen Ärger, deshalb kommen die meisten Schüler selbst vorbei und fragen. Es wird sehr wenig angerufen, denn außerhalb gibt es mittlerweile auch sehr viele Beratungshotlines. Wir haben zum Beispiel eine Jugendhotline. Wenn es Probleme gibt, helfen einem dort Experten weiter.“ S: „Macht ihr das kostenlos?“ W: „Ja. Es kostet so viel wie ein normales Telefongespräch.“ […] S: „Magst du deine Arbeit?“ W: „Ich mag sie ziemlich, denn in Psychologie habe ich meinen Abschluss gemacht, außerdem ist die Schule nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Das finde ich sehr angenehm und mit den Schülern zusammen zu sein, macht mich auch recht glücklich.“ S: „Hast du dir während deines Studium schon überlegt, Schulpsychologe zu werden?“ W: „Nein, denn unser Gebiet ist sehr weit. Ich habe sehr viele Jobs gefunden, einige hatten nichts mit dem zu tun, was ich studiert habe, einige waren sehr weit weg. Dann habe ich irgendwann die Ausschreibung meiner Schule gesehen. Ich habe mich dafür interessiert und erst später gemerkt, dass das ganz in der Nähe meines Zuhauses ist. Ich habe es also ausprobiert, sie fanden mich in Ordnung, also bin ich dort Lehrer geworden.“ S: „Und du arbeitest dort nun schon seit zwei Jahren?“ W: „Ja, genau zwei Jahre.“ S: „Wie ist das Verhältnis unter euch Kollegen?“ W: „Generell ganz gut, sehr angenehm. Ich teile mir mit einem Gleichaltrigen das Büro. Es ist so, dass die einjährigen Lehrer zusammen sind, dann die zweijährigen. Ich finde, zwischenmenschlich passen wir ganz gut zusammen, verstehen uns gegenseitig.“ S: „Wie ist der Altersschnitt bei euch?“ W: „Einige sind jünger als ich, andere sind kurz vor der Pensionierung. Der Altersunterschied ist recht groß. Es gibt mehr junge Lehrer.“ […] W: „Ich finde, das Verhältnis ist nicht wie Lehrer-Schüler, sondern wie Lehrer-Freund, denn der Psychologieunterricht ähnelt nicht dem anderen Unterricht. Wenn ich dir Mathe beibringe, musst du unbedingt deine Hausaufgaben machen. Mein Unterricht ist ziemlich entspannt, da machen wir Spiele. Die Beziehungen sind freundschaftlich, und die Schüler sind damit einverstanden.

253

SHANGHAI XXL

Ich persönlich bin sehr freundlich, moralisch und milde, mein Unterricht ist nicht streng, und die Schüler haben keine Angst vor mir.“ […] S: „Du verdienst recht wenig Geld, 1.800 Yuan, obwohl du einen Universitätsabschluss hast. Warum ist das so?“ W: „Die ersten zwei Jahre verdient man um die 2000. Nach mehreren Jahren wird das mehr. Es ist jetzt nicht mehr so wie früher, wo jeder Uni-Absolvent auf jeden Fall einen guten Job mit hohem Gehalt gefunden hat. Jetzt ist das Gehalt bei 2.000-3.000 Yuan. Du verdienst nicht automatisch sehr viel, nur weil du einen Universitätsabschluss hast.“ S: „Beinhalten die 1.800 deine Krankenversicherung?“ W: „Nein.“ S: „Wie viel kostet die Versicherung pro Monat?“ W: „Ungefähr 200-300. Da ist sehr viel mit drin, auch die Altersrente, ein Sparfonds und eine Krankenversicherung.“ […] S: „Hast du dir selbst ausgesucht, Psychologie zu studieren?“ W: „Ja, das war meine eigene Entscheidung.“ S: „Warum hast du dich dazu entschieden?“ W: „Ich fand, dass Psychologie etwas Besonderes ist. Daran hatte ich Interesse, denn es gab nicht viele [Universitäten], die dieses Fach angeboten haben. In Shanghai vielleicht nur zwei bis drei Unis. Die Shanghaier Pädagogische Schule hat das vielleicht, andere nur sehr wenig. Erst als ich mit dem Studium begonnen hatte, wusste ich, wie interessant das ist, und je tiefer ich in die Materie einstieg, desto mehr veränderte ich mich.“

Meng Yingying M: „Mein Hauptfach an der Uni war sehr alte klassische Literatur. (S lacht) Jetzt editiere ich ein Wörterbuch für Hongkonger Grund- und Mittelschulschüler. Das ist eine wirklich mächtige Arbeit.“ (lacht) […] S: „Bist du mit deinem Gehalt zufrieden?“ M: „Mit meinem Gehalt?“ S: „Ja.“ M: „Nicht besonders. Aber wie soll ich es sagen? Weil ich deswegen in letzter Zeit deprimiert war, sage ich mir: something is better than nothing. [engl.] Ich habe jetzt etwas mehr als 3000 Yuan Gehalt, mit denen ich auch ganz gut über die Runden komme. Und weil ich momentan noch mit meinem Vater zusammen wohne, trage ich auch nicht die Last einer Kreditabzahlung. Falls ich eine eigene Wohnung haben sollte oder ein Auto, dann ist das natürlich fraglich [kann ich mir das nicht einfach so leisten]. Das ist mit Sicherheit eine große Last.“

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Li Yuwen & Zhao Jing S: „Mögt ihr eure Arbeit?“ L: „Ich mag sie, ich mag sie sehr.“ Z: „Es geht so. Früher habe ich sie sehr gemocht, jetzt mag ich sie nicht mehr so. Ich finde sie zu hart, und außerdem mag ich sie sowieso nicht so sehr. Ich finde die Verantwortung zu groß, die trage ich jeden Tag schwer im Herzen. Ich komme jeden Tag mit Kranken in Kontakt und ich trage gegenüber den Kranken eine sehr große Verantwortung, denn schließlich kommst du mit einem Menschen in Kontakt. Es sind keine Maschinen oder so. Wenn du eine Sekretärin bist, dann schreibst du ein bisschen, machst ein bisschen, da fühlst du dich psychisch wesentlich entspannter.“ […] L: „Meine Arbeit unterscheidet sich doch von ihrer. Ich komme nicht mit Patienten in Kontakt. Ich habe mit Modellierung zu tun. Ich stelle Gebisse her und mir gefällt die Arbeit. Denn ich mochte es von kleinauf, handwerkliche Arbeiten herzustellen. Und die Fälle, mit denen ich recht häufig zu tun habe, sind Mädchen, die wegen ihrer Schönheit kommen, die ihre Zähne erneuern lassen wollen. Und wenn ich dann die Veränderung sehe, gibt mir das ein gutes Gefühl.“ S: „Wie habt ihr die Arbeit, die ihr jetzt habt, gefunden?“ Z: „Das war direkt auf der Uni, nach unserem Abschluss gab es dort einen Talent-Markt, dort haben wir ein Jobangebot angenommen.“ L: „Bei mir war das auch so, ich habe zuerst im Krankenhaus gearbeitet und dann später in die Klinik gewechselt.“ […] Z: „Meine Arbeit ist ziemlich klar, von morgens 8:00 bis 17:00 Uhr nachmittags. Wenn He Ping [der Ehemann] zu tun hat, bleibe ich zu Hause, telefoniere mit Kommilitonen, treffe mich mit ihnen oder surfe im Internet oder begleite meine Eltern. Meine Arbeit ist normal, nicht stressig, ich muss keine Überstunden machen wie He Ping. Aber am Wochenende sind wir zusammen.“

Vicky Cao „Was mich betrifft, ich habe mehr Glück als andere. Als ich damals gerade meinen Abschluss gemacht hatte, wollte ich eigentlich nach Europa, um zu studieren. Damals stieß ich auf Shanghais Schlechtes: Ich konnte nicht einfach ein Visum bekommen. Da entschloss ich mich, die Zeit zu nutzen und eine Sprache zu lernen. Ich mag Französisch sehr gern, weil es die schönste Sprache der Welt ist. Wenn man viele Sprachen lernt, hat man mehr Chancen. Außerdem ist das Französische Kulturzentrum in Shanghai in ganz China sehr berühmt. Hier habe ich sechs Monate Französisch gelernt. Der Direktor hat nach dem Unterricht mit mir geredet, danach habe ich gemerkt, dass ich nicht in Frankreich studieren will. Während der Unterhaltung hat er vielleicht auch

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gemerkt, dass ich nicht schlecht bin und hat mich gefragt, ob ich nicht bleiben will und hier ein Praktikum machen möchte. Das war im Dezember. Und als ich meinen Unterricht beendet hatte, fing ich mit dem Praktikum an. Seit einem Monat renovieren sie hier. Sie haben gesagt, sie bräuchten hier jemanden für die Rezeption, also mache ich das.“ […] S: „Die Studiengebühren sind sehr hoch. Haben deine Eltern dir das Geld gegeben?“ V: „Ja, da ich gerade fertig war mit der Schule und keinen Job hatte. Ich hatte nicht die Fähigkeit, das selbst zu bezahlen, also habe ich es von ihnen bekommen.“ S: „Studierst du jetzt weiter Französisch?“ V: „Ja, denn bei der Arbeit brauche ich Französisch. Bei der Arbeit kann ich mit meinem Französisch umgehen, aber ich muss noch mehr Fortschritte machen, um mich mit Leuten unterhalten zu können, um mit Franzosen ein Gespräch zu führen. Für einen noch besseren Job ist mein Französisch noch nicht ausreichend, deshalb arbeite ich hier von Montag bis Freitag und am Samstag lerne ich selbst Französisch. Ich bin jetzt in der zweiten Mittelstufe, obwohl ich eigentlich in der zweiten Oberstufe sein müsste, aber ich bin mit meinem Studium nicht zufrieden, deshalb habe ich den Kurs noch mal wiederholt, um die Grammatik besser zu verstehen.“

Sam Zhang S: „Was machst du bei der Arbeit, die du momentan hast?“ Z: „Ich bin dort für sales & marketing [engl.] zuständig. Die Firma ist nicht sehr groß. Als sie aufgemacht wurde, hat der Chef mich wegen meiner gesellschaftlichen Kontakte losgeschickt, um den Absatz des business [engl.] zu steigern. Aber nachdem ich damit angefangen hatte, merkte ich, dass das gar nicht so einfach ist. Erstens, weil seine Firma sehr klein war, zweitens, weil sie keinen festen Kundenstamm hatte, drittens, weil ihre charge [engl.] auch sehr teuer war. Es ist sehr schwierig, in so einer Nische Marketing zu machen [...] Nach kurzer Zeit wollte ich das nicht mehr machen. Ohne herausragende Ergebnisse kein Gesicht. Das tat mir sehr Leid für das Vertrauen des Chefs. Ich habe ihm gesagt, dass ich zwei Jahre etwas anderes machen möchte und dann wiederkomme. Das habe ich dann nicht gemacht.“ S: „Ist es für dich einfach, in Shanghai einen Job zu finden?“ Z: „Nicht schwer!“ S: „Warum?“ Z: „Wegen meines Charakters, mein Englisch ist auch nicht schlecht und ich habe einige Erfahrungen im industrial management [engl.].“ S: „Und deine jetzige Arbeit?“ Z: „Meine Hauptaufgabe sind momentan Versicherungen, denn ich habe schon immer in Versicherungen gemacht. Unter mir ist kein sehr großes Team und

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ich muss die schon ganz schön pushen, damit sie gute Ergebnisse bringen, persönliche Beförderung. In einer anderen Firma bin ich noch verantwortlich für deren Expansion. Ich muss für [die Firma] ein neues Betriebsgelände finden und die Grundstückspreise verhandeln. Und bald will ich noch mit einem Freund eine Grafik[Design]-Agentur aufmachen. Auf diese Weise mache ich mein eigenes business [engl.]. Bei diesem business arbeitest du auf eigene Rechnung. Dafür brauche ich gesellschaftliche Beziehungen, muss Designer finden und einen kleinen printshop [engl.]. Das sind die drei wichtigen Dinge.“ […] S: „Wenn du dich jetzt entscheiden solltest, noch mal den Job zu wechseln, wie findest du dann neue Arbeit?“ Z: „Wenn du Arbeit suchst, gibt es mehrere Möglichkeiten: erstens Zeitung, dann Internet, zweitens kannst du dich auf die Beziehungen deiner Freunde verlassen, denn wenn manchmal jemand eine recommendation [engl.] ausspricht, macht das schon einen großen Unterschied.“ S: „Hast du viele guanxi (䤤ߓ) [Beziehungen]?“ Z: „Nicht wenig.“ S: „Warum ist das so?“ Z: „Weil Freunde andere Freunde vorstellen. Ich treffe gerne neue Freunde und die Leute finden es lustig, mit mir zusammen zu sein, und mit der Zeit sind meine Freunde immer mehr geworden.“ […] S: „Hast du schon mal bei der Bank einen Kredit aufgenommen?“ Z: „Ich denke gerade darüber nach, aber ich weiß nicht, in welches Projekt ich investieren soll.“ S: „Warum nicht?“ Z: „Wenn du ein großes Geschäft aufziehen willst, musst du es erst mit einem kleinen Sack Gold lernen. Wenn du ein 20 Millionen business aufbauen willst, musst du zwei Millionen aufnehmen und damit ein großes Projekt erarbeiten. Wenn ich also einen Plan habe, brauche ich 100-200.000 Yuan Kapital. Die kann ich nicht auf einmal aufbringen, also gehe ich zur Bank und nehme einen Kredit auf. Zuerst habe ich einen Plan, dann fange ich im Internet damit an, ihn zu verwirklichen, indem wir Werbung für unsere Graphik-Design Agentur machen. Gesetzt den Fall, eine große Firma will, dass wir für sie arbeiten, weil unsere sozialen Kontakte so gut sind, also, wenn das ein großer Kunde für uns ist, und wenn wir diesen Kunden maintain [engl.], dann wollen wir in einem Jahr eine Million Profit machen. Aber wenn wir eine Million Profit machen wollen, dann müssen wir 300.000 in das Geschäft stecken. Also müssen wir 300.000 Yuan finden, die wir da reinstecken können.“

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Marie Chen „Ich habe Bankwesen studiert. Mein Nebenfach war Englisch.“ S: „Warum erzählst du mir das jetzt erst? Warum willst du nicht in einer Bank arbeiten?“ M: „Weil ich die Arbeitsmethoden dort nicht mag. Zu monoton und abgeschmackt. Zudem ist es in der Bank eine ziemlich hierarchisch. Du erzielst dort nur sehr, sehr schwer einen [Karriere-] Durchbruch. Obwohl das Gehalt dort nicht schlecht ist, erhoffe ich mir doch einen freieren Lebensstil. Außerdem bin ich ziemlich unsorgfältig. Ich finde, dass ich nicht besonders gut bin in dieser Arbeit.“ (M lacht)

Daisy Ding D: „Ich bin in einem ausländischen Network-Unternehmen und dort Management-Assistentin.“ S: „Den Job hast du schon seit über zwei Jahren?“ D: „Meinen Abschluss habe ich vor vier Jahren gemacht. In der Zwischenzeit war ich bei vielen Unternehmen. Diesen Job habe ich jetzt seit zwei Jahren, seit fast zwei Jahren.“ S: „Wie hast du ihn bekommen?“ D: „Der Job wurde mir angeboten, und ich habe ihn angenommen.“ S: „Magst du deine Arbeit?“ D: „Als ich angefangen habe, hat sie mich noch interessiert. Aber bei mir gibt es etwas Besonderes… Ich komme überall ziemlich schnell rein, vielleicht bin ich recht intelligent, ich habe einige Skills, aber wenn ich bemerke, dass sich die Aufgaben wiederholen, wenn der Job mechanisch wird, dann finde ich das boring [engl.]. Dann wünsche ich mir eine Aufgabe, die interessanter ist. Schließlich habe ich meine eigenen Vorstellungen.“

Xu Hongwei „Ich habe in den Jobanzeigen in den Zeitungen nachgesehen und bin anschließend zu Vorstellungsgesprächen gegangen.“ S: „Und, magst du deine Arbeit?“ X: „Ja, ich mag sie ziemlich, denn ich selber mag keine sich laufend wiederholenden Arbeiten. Als Graphiker ist die Arbeit jedes Mal anders. Ziemlich neuartig. Das passt vergleichsweise zu meinem Charakter.“

Connie Peng „Ich bin Buchhalterin. Ich hantiere mit langweiligen Zahlen. Aber ich finde das ziemlich interessant und mag es auch. Das ist ein Überlebenstrick. Tatsächlich ist es eine ehrbare Arbeit, alles daran.“ S: „Du hast schon den Fragebogen ausgefüllt und geschrieben, dass du arbeitest, aber nebenbei noch studierst.“

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C: „Ja.“ S: „Was studierst du?“ C: „Das gleiche, was ich auch beruflich mache. Denn darin bin ich gut. Weil ich ein ziemlich einfacher Mensch bin, kann ich mich für eine Weile nur auf eine Sache konzentrieren, ich kann nicht mehrere Dinge gleichzeitig machen, das schaffe ich nicht.“ S: „Warum hast du dich dazu entschieden noch zu studieren? Denn du bist schon sehr beschäftigt mit einer 40-Stunden-Woche.“ C: „Um mich stetig weiter zu bilden, denn Menschen dürfen nicht in einer abgeschlossenen Umwelt sitzen, denn das begrenzt den Horizont. In erster Linie bin ich wegen der Weiterbildung auf die Uni gegangen. Und außerdem wegen der Beeinflussung durch den Informationsaustausch, man lernt neue Leute kennen und unterschiedliche Dinge. Erst wenn du viele Informationen sammelst, kannst du selber welche generieren, was meinst du?“ […] S: „Magst du Buchhaltung?“ C: „Ja, ziemlich“ S: „Warum?“ C: „Weil es gut zu mir passt. Mein Beruf macht mich nicht nervös, ist ziemlich inaktiv. Er passt zu meinem Charakter.“ (lacht) S: „In was für einer Firma arbeitest du? In einer chinesischen oder…“ C: „In einer chinesischen, alle sind Chinesen, alle sind Shanghairen, alle sind ziemlich ähnlich.“ […] S: „Du hast gesagt, du magst deine Arbeit. Kannst du dir vorstellen, sie ein Leben lang auszuüben?“ C: „Nicht unbedingt. Das kommt darauf an. Der Mensch kann manchmal nicht sicherstellen, was man in der eigenen Zukunft macht. Ich kann nur sagen, dass ich momentan diese Arbeit machen kann.“ […] S: „Stimmt. Ist die Konkurrenz stark?“ C: „Ja, der Wettkampf, der Überlebenskampf, der Lebensrhythmus ist sehr schnell, denn es gibt nur wenige Chancen, aber wenn du dich anstrengst und weiterstrebst, dann reicht das.“ […] S: „Wird dein Gehalt nach deinem Uni-Abschluss höher sein?“ C: „In meiner jetzigen Firma wird das Gehalt nur ganz wenig erhöht werden. Wenn ich die Möglichkeit habe, dann werde ich mir vielleicht einen anderen Job suchen.“ S: „Aber du willst in Shanghai bleiben. Oder kannst du dir vorstellen, in einer anderen Stadt zu arbeiten?“

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C: „Hauptsächlich in Shanghai, hier gibt es mehr Möglichkeiten, außerdem bin ich mit dem System hier vertraut. Zweitens ist mein Bekanntenkreis und mein Lebensnetz in Shanghai, deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier bleibe, sehr groß. Ja, die Wahrscheinlichkeit, an einen fremden Ort zu gehen, ist sehr gering.“

Arbeit Waidiren Li Nan, Zheng Leibin, Wang Xin L: „Die Konkurrenz ist zwar groß, aber wir werden später schon alle eine zufrieden stellende Arbeit bekommen, es ist nur eine Frage, wie hoch oder niedrig die Ansprüche sind. Ich bereite mich gerade darauf vor, da draußen ähnliche Dinge zu machen [mit Bezug zu Biomedizin], bis zum Erfolg muss ich mich noch etwas anstrengen.“ (lacht) […] S: „Habt ihr vor, in Shanghai zu bleiben oder geht ihr nach Hause zurück?“ Z: „Ich hoffe, hier zu bleiben.“ S: „Warum?“ Z: „Hier ist das Umfeld gut, besser als zu Hause.“ W: „Ich möchte in Shanghai bleiben, denn schließlich bin ich schon sehr viele Jahre hier, hier kenne ich mich aus. Man kann sagen, das ist meine zweite Heimat, deshalb habe ich Gefühle [für Shanghai].“

Lin Xiaoke „Momentan steht noch die Weiterbildung an erster Stelle, denn jetzt, wo ich gerade in die Gesellschaft eingetreten bin, habe ich noch nicht vergessen, was ich gelernt habe. Ich denke, das Wissen, das ich mir über mein Business erarbeitet habe, will ich in der Gesellschaft erweitern, denn Spezialwissen muss erst mit Lebenserfahrung angereichert werden. Noch kann ich nicht leben, noch fehlen mir einige Erkenntnisse.“

Peng Yongyang „Die Leute, die in dieser Branche arbeiten, angefangen vom Auszubildenden, müssen sich langsam Schritt für Schritt nach oben arbeiten. Ich selbst kann nicht sagen, dass ich schon bis zur höchsten Position aufgestiegen bin, mindestens erst bis zur Hälfte. Wenn du in dieser Branche bist, musst du erst lernen. Wenn du die Ausbildung durchlaufen hast, kannst du erst Assistent werden. Erst nachdem du Assistent warst, kannst du die Technik erlernen. Wenn du das fertig gemacht hast, kannst du Friseurmeister werden. Danach, wenn du einige Zeit Friseurmeister warst, denken wir darüber nach, unser eigenes Geschäft aufzumachen, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Im Ganzen habe ich schon mehr als die Hälfte des Weges hinter mich gebracht. Seit ich nach

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Shanghai gekommen bin…, wie soll ich sagen…, wenn ein Junge vom Land nach Shanghai kommt, gerade am Anfang ist er es überhaupt nicht gewöhnt, nach und nach wird er immer mehr fasziniert von der Metropole, in der er lebt. Das Gefühl sagt einem letztendlich, dass das Stadtleben ziemlich gut ist, deswegen fühle ich wohl den inneren Drang, der mich dazu bringt, immer weiter bergauf zu laufen. Kann sein, dass mich mein Gefühl sehr schnell bis auf den höchsten Punkt rennen lässt.“ (beide lachen) […] S: „Magst du keinen Trubel?“ P: „Das kommt drauf an, was für Trubel. Gegen solchen Trubel habe ich etwas. Der Trubel, den ich mag, ist während unserer Geschäftszeiten mit den Kunden zu quatschen. Das mag ich sehr. Wenn ich mit Kunden zusammen bin, dann mag ich das Gefühl, dass der Mensch wirklich existiert. Einige Leute, sehr viele Kunden, ignorieren dich selbstgefällig, wenn du mit ihnen sprichst. Für sie bist du nur ein Arbeiter und sie sind Konsumenten. Das ist gleichbedeutend mit Verabscheuung gegenüber solchen Leuten wie uns. Deshalb bin ich richtig wütend auf solche Leute. Da wir schließlich eine Dienstleistungsbranche sind, muss man diesen Ärger herunterschlucken und mit einem Lächeln dienen, richtig, du musst das Lächeln beibehalten, nach Außen hin sehr freundlich sein. Weil es Kunden sind, musst du freundliche Worte finden, der Kunde ist Gott. Weil er Kunde ist, musst du ihn als Gott behandeln. Und dann gibt es noch Kunden, da brauchst du nur einen Satz zu sagen und sie antworten dir mit zwei. Da braucht man keine Angst zu haben, etwas zu sagen, wenn er dir doppelt antwortet. Mit solchen Leuten kann die Unterhaltung echt lustig sein und bringt dich nicht in Verlegenheit, das sind die offenen Menschen. Ich mag die Shanghairen nicht, die schon älter sind, die sind echt dumm, man kann das so sagen, sehr, sehr nervig, nervig, extrem nervig.“

Wendy Ding „Ich kann nicht sagen, dass ich [meine Arbeit] nicht mag, aber ich mag sie auch nicht überaus. Anfangs habe ich diesen Job aus Lebensnotwendigkeit angenommen. Wenn es eine bessere Alternative gibt, werde ich diese wählen.“ […] S: „Ist es für Männer und Frauen gleich gerecht, Arbeit zu finden?“ W: „Nein, besonders nicht in meinem Fachgebiet. Ich bin Ingenieurin. In dem Bereich finden Männer etwas leichter Arbeit. Frauen müssen oft ihre Arbeit wechseln, denn viele Leute denken, dass Frauen nicht in diesen Job passen. Einige danwei nehmen an, dass die Frauen heiraten und Kinder kriegen wollen und das ist nervig. Deshalb wollen sie keine unverheirateten Frauen ohne Kinder einstellen. Da das chinesische Arbeitsgesetz vorschreibt, dass eine danwei jederzeit eine Lösung für schwangere Frauen finden muss, lehnen einen viele

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danweis ab. Viele Berufe wie Buchhaltung, Lehrer und Salesmanager nehmen Frauen sehr leicht auf. Unterschiedliche Berufe und Fachbereiche haben unterschiedliche Tendenzen gegenüber Frauen.“

Jimmy Yang S: „Super… Du arbeitest hier.“ J: „Ja.“ S: „Wie lange schon?“ J: „Hier, noch keinen Monat, so in etwa einen Monat.“ S: „Einen Monat?“ J: „Ja, ich bin gerade hergekommen.“ S: „Gerade erst nach Shanghai?“ J: „Nein, ich bin gerade erst in diesen Laden gekommen. Ursprünglich habe ich nicht hier gearbeitet.“ S: „Wo hast du vorher gearbeitet?“ J: „In Zhabei.“ S: „Hast du da auch in einem Friseurladen gearbeitet?“ J: „Ja. Ich bin schon seit drei Jahren in diesem Business. Ich weiß schon nicht mehr, in wie vielen Geschäften ich gearbeitet habe, in großen, kleinen, in wirklich sehr vielen.“ S: „Warum arbeitest du jetzt hier? Hast du dir das selbst ausgesucht?“ J: „Weil, obwohl der Laden hier klein ist, hier für mich recht viel Entwicklungsraum ist. Ich sehe den Haardesign Beruf als möglichen Wendepunkt im Leben.“ S: „Wie hast du diesen Job gefunden?“ J: „Das war so: die wollten diesen Laden aufmachen als Teil einer Kette. Dann haben sie Jobangebote ausgehängt. Da bin ich vorbei gekommen, mit einer „ich-versuch’s-mal-Mentalität“. Glücklicherweise habe ich überlebt.“ S: „Hast du dich an die Arbeit hier gewöhnt?“ J: „Klar war es etwas ungewohnt, als ich gerade neu angefangen hatte.“ S: „Und mit deinen Kollegen…“ J: „Wir verstehen uns in stillem Einvernehmen, denn mein Charakter ist ziemlich freundlich, ich komme leicht mit Leuten in Kontakt. Eigentlich komme ich mit allen gut aus.“ S: „Also ist dieser Job hier für dich eine Art Fortschritt, besser als deine frühere Arbeit?“ J: „Ja, ja, ja.“ S: „Verdienst du auch mehr Geld?“ J: „Eigentlich ist es mir egal, wie viel Geld ich verdiene, ich bin hergekommen, um Techniken zu erlernen, richtig?“ S: „Ja. Ist dieser Friseurladen in?“

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J: „In? Auf dem gegenwärtigen Markt sollten diese Läden alle recht avantgardistisch sein, modisch, nicht wahr?“

Liu Songwei „Ich bin 2002 nach dem Frühlingsfest allein nach Shanghai gekommen. Als ich hergekommen bin, hatte ich weder Freunde noch Verwandte hier. Ich bin ganz allein nach Shanghai gekommen. Ich habe in einem Gebäude am Bahnhof gewohnt. Genau dort nebenan war ein Massagesalon. Genau zu dem Zeitpunkt war der Chef im Laden, an dem Tag bin ich glücklicherweise auf ihn getroffen. Ich habe ihn massiert und er fand es in Ordnung, also hat er mich hierher geschickt um ihm zu helfen.“ S: „Und das war gleich als du angekommen bist?“ L: „Ja, am nächsten Tag habe ich an einem neuen Ort angefangen zu arbeiten. Das ist eine strenge Firma. Ich habe später gemerkt, dass man sehr wenig Zeit hat, um Spaß zu haben, aber egal, ich wünsche mir auch eine gute Arbeit, so ist das Leben realer.“

Ye Yiqun & Liu Songwei S: „Wo habt ihr Massieren gelernt?“ L: „Ich habe es mit meinem älteren Cousin gelernt. Eigentlich hat er Medizin studiert. Nachdem er studiert hatte, kam er für ein Jahr aufs Land, um dort in einem Krankenhaus zu arbeiten. Danach ist er als Soldat nach Beijing gegangen, dort hat er weiter studiert. Nachdem er zurückgekommen ist, hat er einen eigenen Laden aufgemacht. Bei ihm habe ich gelernt.“ Y: „Ich habe es genauso gelernt wie er. Bei dem älteren Cousin meines Vaters. Ich fand, das passt zu mir und deswegen habe ich es gelernt. Ich wollte nicht, dass mein Vater sein Geld verschwendet hat, also habe ich mir eine Arbeit gesucht. Wir müssen es gut machen. Wir müssen alles gut machen, denn wir sind nicht lange zur Schule gegangen. Sehr viele in meinem Alter sind noch in der Ausbildung. Ich habe Massage gewählt, ich denke, das ist auch ein Können, das einen ernähren kann. Ich habe Glück, bis jetzt mache ich es fünf Jahre, und es ist echt gut.“ S: „Warum hast du Massieren gelernt?“ L: „Bevor ich [Massagen] gemacht habe, habe ich in einer Fabrik gearbeitet oder an anderen Orten kleine Geschäfte gemacht, das war ziemlich hart. In der Fabrik habe ich ziemlich gefährliche Arbeit gemacht, denn bei der Maschine musstest du die Hand reinstecken. Angenommen, du hättest deine Hand nicht schnell genug raus gezogen, dann hätte die Maschine sie zerdrückt. Andere Arbeiter haben sich normalerweise alle zwei bis drei Tage Finger abgehackt oder andere Verletzungen davon getragen. Immerzu sind solche Dinge passiert. Ich fand diese Arbeit zu gefährlich und habe sie deshalb nicht weiter gemacht. Außerdem war sie sehr schmutzig. Wenn du einen halben Tag gearbeitet hast, sahst du aus wie eine gesprenkelte Katze. Das war wirklich sehr

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anstrengend. Stell dir vor, im Sommer steht da noch ein Brennofen, der über 1000°C heiß ist. Im Sommer kannst du es dort kaum aushalten. Ich fand die Arbeit zu anstrengend, deshalb habe ich aufgehört. Dann habe ich angefangen, bei meinem älteren Cousin die Ausbildung zu machen, denn dabei ist es egal, ob die Sonne scheint oder es regnet, im Laden gibt es sommers wie winters eine Klimaanlage, und die Leute sind ziemlich sauber. Das ist angenehmer.“ S: „Ist es schwierig, massieren zu lernen?“ L: „Es ist schwer zu lernen aber sieht sehr einfach aus. Wenn du das wirklich ernsthaft lernen willst, es verstehen, dann ist es recht schwierig. Wenn du es wirklich erlernen willst, ist es sehr schwer, aber das Massieren selbst ist schnell erlernt, meistens in drei Monaten bis einem halben Jahr.“ S: „Wer hat dir das Zertifikat ausgestellt?“ L: „Das Arbeitsamt hat mir ein Zertifikat gegeben. In jeder Stadt gibt es damit die Möglichkeit, einen Job zu übernehmen. Als wir nach Shanghai gekommen sind, mussten wir noch eine spezielle Prüfung machen.“ S: „Musstet ihr für die Prüfung bezahlen?“ L: „Ja, wir mussten 100 Yuan zahlen, einen Tag lang vormittags Unterricht besuchen, nachmittags die Prüfung ablegen und einen Monat später konnten wir den Schein abholen.“ […] S: „Was ist in eurem Job am besten? Ihr kommt schließlich jeden Tag mit unterschiedlichsten Leuten zusammen.“ L: „Ich treffe jeden Tag auf Kunden, mit denen ich reden kann. Ich massiere und unterhalte mich gleichzeitig mit vielen Kunden. Das gefällt mir sehr gut. Die Leute sind entspannt, denn unsere Massage ist sehr angenehm. Wenn ich so massiere, habe ich das Gefühl, dass die Zeit besonders schnell vergeht, das ist nicht so wie mit Kunden, die schlafen. Dann ist die Arbeit unglaublich anstrengend, das macht gar keinen Spaß.“ Y: „Wir können von dem Kundenkontakt echt profitieren, da wir jeden Tag mit unterschiedlichen Leuten zusammen kommen. Manche sind schon gute Freunde geworden. Wenn wir gleichzeitig mit den Kunden gut zurechtkommen, dann bereichert das unser Leben, dann ist das entspannt.“ L: „Die meisten Leute, die zu uns kommen, haben Geld. Ich habe einige Stammkunden, die ich schon sehr lange massiere. Mit denen habe ich ein sehr gutes Verhältnis, sie sind recht gute Freunde. Einige sind echte Freunde, besser als die normalen Stammkunden, herzlicher, sie können mir viele Freunde vorbeischicken, die ich massiere.“ […] L: „Die Leute, die zur Massage gehen, sind meistens zwischen dreißig und fünfzig, ein Drittel weiblich, zwei Drittel männlich. Es sind mehr Männer, weil sie mehr Arbeitsdruck haben, sie haben es härter, sind oft geschäftlich unterwegs, fahren Auto. Das ist jeden Tag sicher sehr anstrengend. Sie kommen

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vorbei, um sich zu entspannen. Deswegen sind es sicher mehr Männer als Frauen.“ […] S: „Warum seid ihr von zu Hause weggegangen?“ L: „Wir jungen Leute wollen halt raus und uns fordern, wollen in große Städte, wollen nicht ein Leben lang zu Hause bleiben. Wenn man weg ist, kann man die Familie auch finanziell unterstützen, und für einen selbst ist das auch gut. Viele von uns gehen außerhalb arbeiten. Jeder kann ein kleiner Boss werden, oder ein großer Boss. Sie haben alle mit kleiner Arbeit angefangen. Und später, wenn sich ihnen die Chance geboten hat, sind sie Chef geworden. So ist das normalerweise.“ S: „Wie sind eure Chancen, einen Job zu finden?“ L: „Eigentlich muss man sagen, dass sie mehr geworden sind. Als ich gerade angekommen war, ohne einen einzigen Freund, da muss man ganz allein einen Job suchen. Nicht so wie bei ihm [Y], er hat es viel besser, da ich schon über zwei Jahre hier bin. Als er kam, hatte er jemanden, auf den er sich stützen konnte, einen Ort zum Schlafen. Nicht so wie bei mir, ich hatte niemanden, keinen Ort zum Schlafen. Als ich kam, war es ziemlich hart. Er hat es viel besser.“ Y: „Ich finde, Shanghai ist sehr groß, es gibt für jeden Chancen hier, große Chancen. Es braucht nur Können und gute Vorbereitung. Jeder kann in Shanghai Arbeit finden, jeder kann sich selbst ernähren. Shanghai bringt jedem Glück.“

3.6 Freizeit Freizeit Shanghairen Wang Jun „Meistens bleibe ich zu Hause. An die Orte, wo ich aufgewachsen bin, fahre ich sehr selten, denn die Verbindung ist nicht gut. Am Bund gibt es eine deutsche Bar, da war ich einmal. Es ist schon sehr lange her, dass ich dort war. Jetzt wohne ich in Pudong, und es ist zu weit. Ich fahre höchstens mal nach der Arbeit nach Puxi, um dort mit Freunden zu essen.“

Connie Peng S: „Du arbeitest in der Huaihai Lu. Dort gibt es viele Bars, Cafés und Teehäuser. Gehst du dahin?“ C: „Ich bin dort schon mal gewesen.“ S: „Gehst du nicht oft dorthin?“ C: „Meiner Meinung nach ist es Zeit, mich zu beruhigen, wie soll ich sagen? Wenn ich dorthin gehen sollte, dann, weil mir die Atmosphäre gefällt, zu einer

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Weihnachtsfeier oder wenn ein Kollege eine Party gibt, wenn einen eine Gelegenheit hinführt. Ansonsten komme ich dort eher nicht hin, weil ich finde, dass das in keiner Beziehung zu mir steht.“

Vicky Cao S: „Was macht ihr [du und dein Freund] abends, seht ihr euch Filme an?“ V: „Er ist ein recht sparsamer Mensch. Er sagt, sich jetzt in Shanghai einen Kinofilm anzusehen, ist recht teuer. Wir gehen manchmal ins Teehaus, manchmal zu ihm nach Hause oder zu mir.“

Li Yuwen & Zhao Jing Z: „Ich gehe meistens nach der Arbeit nach Hause, außer wenn ich mit Kommilitonen verabredet bin, aber das kommt nicht oft vor. Denn ich trage auf der Arbeit eine große Verantwortung. Wenn ich abends lange ausgehe, klappt am nächsten Tag nichts, habe ich keine Energie.“ L: „Fast genauso. Ich gehe auch nach Hause.“ S: „Was macht ihr zuhause?“ Beide: „Fern sehen, Bücher lesen.“ L: „Wir gehen mit Freunden essen, mal Karaoke singen, Kaffee trinken, bummeln, aber keine Bars, keine Discos. Discos sind für kleine Kinder, zu laut, wir sind nicht öfter als zwei, drei Mal dort gewesen.“ […] Z: „Außerdem haben wir früher gedacht, dass dort nicht sehr ehrbare Leute hingehen.“ L: „Jugendliche Kriminelle gehen dort hin.“ Z: „Auf der Unterstufe der Mittelschule haben dir die Erwachsenen erzählt, dass du dort nicht hingehen darfst, usw., usw. Später mochten wir es dann nicht und sind nicht hingegangen.“

Meng Yingying S: „Wenn du abends ausgehst, wohin gehst du dann?“ M: „Meistens gehe ich mit Kollegen bummeln oder ich gehe ins Teehaus Karten spielen, alles mit Leuten, die ich kenne, z.B. Kommilitonen oder so. In Bars gibt es zu viele schlechte Menschen. In Bars gibt es zu viele schlechte Menschen.“ S: „Echt?“ M: „Ja, das sagen meine Kollegen.“ S: „Wer sind schlechte Menschen?“ M: „Schlechte Männer gibt es viele, das sagt mein Kollege/meine Kollegin, ich selbst war noch nie dort. Ich finde, wenn ich alleine gehen sollte, ist es zu gefährlich. Natürlich wollte ich schon andere dazu bringen, mit mir dorthin zu gehen, aber sie waren nicht willens. Da kann ich nichts machen.“ S: „Was zählt zu diesen Orten?“

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M: „Teehäuser, Teehausrestaurants, Bars, generell, die Läden, die Alkohol ausschenken. Man sagt, in der Maoming Lu gäbe es viele Bars.“ S: „Ja, sehr viele.“ M: „Warst du schon da?“ S: „Ja.“ M: „Und, sind da nicht viele schlechte Menschen?“ S (lacht): „Das weiß ich nicht.“ M: „Aber ich denke, wenn du dort allein…“ S: „Wahrscheinlich habe ich mich schon daran gewöhnt, denn bei uns gibt es sehr viele Bars, ohne dass es dort schlechte Menschen gibt.“ M: „Ich denke auch so, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, das sind dort keine schlechten Menschen.“ S: „Sicher gibt es dort gute Menschen und schlechte Menschen.“ M: „Mein Kollege, er sagt das, weil die Bars grundsätzlich erst abends gegen 21:00, 22:00 Uhr anfangen, ihr Gewerbe zu betreiben. Er sagt, er wollte lieber schlafen, er war dort deprimiert. (beide lachen) Egal, auf jeden Fall hoffe ich, die Gelegenheit zu bekommen, selbst dorthin zu gehen. Ich werde nach Kräften versuchen, mit ihm zusammen dorthin zu gehen, wenn er nicht will, wenn ich allein gehen sollte … Ich traue mich nicht, allein zu gehen. (beide lachen) Einmal war ich mit Kollegen in einer Disco in Xujiahui, bekannt für…, bekannt für…, habe ich vergessen. Wahrscheinlich hat mich jemand eingeladen. Wenn mich niemand einlädt, gehe ich nicht. Damals war es eine InternetBekanntschaft, die Gäste eingeladen hat. Damals gab es ein Problem, wir wollten die U-Bahn nehmen, um nach Hause zu fahren, aber die Disco hat erst um 22:00 Uhr geöffnet und die letzte U-Bahn fährt um 22:30. Wir haben dann eine halbe Stunde lang getanzt und sind dann nach Hause gefahren.“ (lacht) S: „Echt?“ M: „Ja, ja. Deswegen sagen auch viele Leute, dass das Shanghaier Nachtleben nicht gut sei, weil die U-Bahn zu früh den Betrieb einstellt. Außerdem wohne ich so weit weg. Wenn ich mit dem Taxi heimfahren müsste, vergiss es!“ S: „Zu teuer.“ M: „Ja.“ S: „Dann bleib doch bis 04:00 Uhr morgens und nimm die erste U-Bahn.“ (beide lachen) M: „Dann muss ich zur Arbeit, dann muss ich zur Arbeit, nicht wahr?!“ S: „Ja, stimmt.“ M: „Um 6:00 Uhr morgens…“

Freizeit Waidiren Peng Yongyang S: „Wenn du abends losgehst, um Spaß zu haben, wo gehst du dann hin?“

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P: „Wenn ich mit meinen Freunden aus dem Geschäft losgehe, dann gehen wir meistens tanzen oder Feuertopf essen oder trinken etwas Alkohol. Wenn ich mit meiner Frau ausgehe, dann bummeln wir, dann gehe ich mit meiner Frau spazieren. Wenn wir etwas machen, dann auf jeden Fall Spazieren gehen, in einem ruhigen Park. Und wenn ich mit Freunden losgehe, dann tanzen wir, trinken oder essen wir gemeinsam.“ S: „Geht ihr in Discos?“ P: „Ja.“ S: „Oft?“ P: „Jetzt gehe ich sehr selten, denn der Arbeitsdruck ist momentan stärker als früher. Als wir den Laden gerade erst aufgemacht hatten, sind wir fast jeden Abend in Discos gegangen.“ S: „In welche?“ P: „Hier in der Sichuan Bei Lu. […] aber jetzt gehe ich sehr selten, weil der Arbeitsdruck immer größer geworden ist. Da bin ich einfach nur müde. Außerdem ist jetzt das erste, an das ich denke, nach Hause zu kommen. […] Alkohol trinken wir meistens in der Disco oder beim Feuertopf essen, wir gehen nicht in Cafés. Wir gehen dort hin, wo die Kosten nicht so hoch sind. Denn vom monatlichen Einkommen müssen wir Miete und solche Sachen abziehen…“

Wendy Ding S: „Wenn ihr mit Freunden ausgeht, wo geht ihr dann hin?“ W: „Karaoke singen oder wir gehen Tee trinken und quatschen und Karten spielen.“ […] S: „Was macht ihr am Wochenende?“ W: „Manchmal gucken wir zu Hause fern, gehen aus, gucken Filme, manchmal gehen wir Ball spielen, obwohl wir schon sehr lange nicht mehr spielen waren.“ S: „Was für Ballspiele macht ihr?“ W: „Badminton und Tischtennis.“ S: „Und wo geht ihr abends hin?“ W: „Wir gehen abends nur sehr selten aus. Meistens ist es schon spät, wenn wir von der Arbeit kommen, und am nächsten Tag muss man wieder arbeiten. Gewöhnlich bleiben wir abends zu Hause.“

Jimmy Yang „Wenn ich früh Schluss habe, dann gehe ich mich noch relaxen, wenn ich spät Schluss habe, gehe ich nur noch nach Hause schlafen [Frühschicht von 9:0021:00 Uhr, Spätschicht von 11:00-23:00 Uhr].“ S: „Wenn du mit Freunden losgehst, wo geht ihr dann hin?“

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J: „Wenn es abends ist, dann gehen wir gemeinsam essen, was trinken, quatschen, reden über die Arbeit. Manchmal gehen wir singen, tanzen oder relaxen.“ S: „Geht ihr in die Disco?“ J: „Oft, hier in der Nähe. Ins Cafe oder in eine Bar gehen wir nicht oft.“

Zhu Miaomiao S: „Wenn ihr abends ausgeht, was macht ihr dann meistens?“ Z: „Mit Freunden Filme gucken.“

Jin Jing S: „Du hast mir vorhin schon erzählt, dass du und dein Mann nicht allzu gern abends losgeht, um euch zu amüsieren. Warum ist das so?“ J: „Dafür gibt es keinen bestimmten Grund. Diese Orte haben einfach nichts besonders Anziehendes. Wenn es bei uns beiden darum geht, uns zu unterhalten, dann können wir das an jedem Ort tun. Wenn wir uns amüsieren wollen, dann sind Kneipen oder andere Orte zu laut und entsprechen nicht meinem Geschmack. Zu laut. Auch andere Orte haben meiner Ansicht nach nichts Besonderes, nichts besonders anziehendes, deswegen sind wir beide nicht sehr…“ S: „Na, was macht Ihr beide dann abends?“ J: „Abends, eigentlich sind unsere Abende ziemlich kurz, da ich schon ziemlich früh schlafen gehe.“ S: „Wie früh denn?“ J: „Spätestens, für gewöhnlich, wenn nichts Besonderes anliegt, dann gehe ich spätestens um 22:00 Uhr ins Bett. 22:00 Uhr. Somit bleiben vom Abendessen um 19:00 Uhr bis 22:00 Uhr nur drei Stunden, da gucken wir dann fern, oder reden miteinander, lesen oder gehen ins Internet und chatten, danach gehe ich schlafen. Wenn er noch nicht einschlafen kann, geht er noch ins Netz, telefoniert oder macht ähnliche Dinge. Eigentlich ist unser alltägliches Leben ziemlich langweilig.“ S: „Also seid Ihr abends in der Regel zu Hause.“ J: „Ja, fast immer zu Hause, oder wenn das Wetter gut ist, dann gehen wir draußen spazieren.“ S: „Wo geht ihr spazieren?“ J: „Hier in der Umgebung, direkt neben unserer Wohnanlage. Wir gehen dann ungefähr eine halbe Stunde spazieren und kommen dann zurück. Manchmal gehen wir mit seinen Kollegen gemeinsam aus. Hin und wieder ist das Abendprogramm ganz vielfältig, dann gehen wir mit Freunden gemeinsam essen und kommen dann auch nicht früh zurück. Meistens jedenfalls. Am Wochenende kann es sein, dass wir mit Kommilitonen oder Kollegen etwas unternehmen.

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Aber das kommt auch nicht jedes Wochenende vor. Wenn wir ausgehen, dann jedenfalls verhältnismäßig selten in Bars oder so.“ S: „Also, wenn Ihr dann am Wochenende ausgeht, wohin dann?“ J: „Das kommt drauf an, manchmal müssen wir Einkäufe tätigen, Gebrauchsgüter kaufen, dann gehen wir shoppen. Wenn das Wetter gut ist, gehen wir im Park spazieren oder machen ähnliche Sachen, also amüsieren uns draußen. Wenn das Wetter schlecht ist, bleiben wir zu Hause, spielen dort, machen nichts Besonderes.“

Li Nan, Zheng Leibin & Wang Xin W: „Abends bleiben wir meistens zu Hause (lacht). Wir gehen selten aus. Und wenn, dann zu einem Freund/einer Freundin nach Hause. Wir sind selten draußen.“ S: „Was machst du bei dem Freund/der Freundin zu Hause?“ W: „Quatschen oder wir spielen Spiele. Hauptsächlich ist das so.“ L: „Wenn ich abends ausgehe, dann immer gemeinsam mit Freunden, manchmal gehen wir was essen, manchmal gehen wir singen.“ Z: „So ähnlich. Ich gehe auch nur aus, wenn man was mit Freunden gemeinsam macht oder wenn ich zum Supermarkt gehe, oder in ein Café zum Quatschen.“ S: „Geht ihr in Discos?“ Z: „Nein.“ W: „Nein.“ L: „Sehr selten, manchmal.“ S: „Warum geht ihr nicht?“ W: „Mir ist es dort zu gedrängt, ich mag laute Orte nicht besonders, ich mag es ruhig.“ Z: „Ich mag das Umfeld dort nicht.“ S: „Warum nicht?“ Z: „Es ist laut, verqualmt, es gibt Alkohol. Ich mag das nicht.“ S: „Du gehst manchmal.“ L: „Ja, zum Beispiel, wenn alle gehen, wenn ein Kommilitone Geburtstag hat oder so.“

Ye Yiqun & Liu Songwei S: „Was macht ihr hier noch außer zu arbeiten?“ L: „Mit Freunden ausgehen. Singen. Wir gehen zum Bund oder in der Nanjing Lu bummeln. Oder mit Freunden Karten spielen.“ S: „Was machst du jeden Sonntag von morgens bis abends?“ Y: „Sehr lange schlafen, danach einfach rumlaufen, denn die Arbeit beengt einen ganz schön. Einfach laufen, das fühlt sich gut an. Manchmal gehe ich ins Internet. Über das Internet kann ich mit vielen Freunden Kontakt aufnehmen.

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Hin und wieder treffe ich mal jemanden, mit dem ich gut chatten kann. So miteinander zu reden bringt Spaß. Ich kann auch rausgehen und Freunde besuchen, oder wir gehen gemeinsam bummeln, quatschen. So geht ein Tag vorbei. Ich kann es kaum fassen, wie schnell so ein Tag vergeht. Wenn mich Freunde anrufen um weg zu gehen, dann bin ich überglücklich und kann eine ganze Nacht durchmachen, ich habe so gerne Spaß.“ L: „Ich gehe nicht besonders viel aus, ich habe auch nicht die Zeit dafür. Wenn im Laden Kunden sind, dann komme ich nicht weg, denn ich habe viele Stammkunden. Manchmal, wenn ich ausgehe, werde ich genau nach wenigen Minuten angerufen und man sagt mir, dass ein alter Stammkunde von mir da ist. An meinem freien Tag schlafe ich erst einmal aus, dann esse ich etwas Gutes, dann gehe ich bummeln, in der Nanjing Lu, am Volksplatz oder am Bund. So steigert sich meine Laune sofort, das ist nicht so, wie den ganzen Tag im Laden rumzuhängen. Da ist die Stimmung sehr gedrückt, sehr unwohl. Manchmal möchte ich rausgehen und mich entspannen, aber die Zeit ist zu kurz.“

3.7 Freundschaft Freundschaft Shanghairen Sam Zhang S: „Du bist Shanghairen. Hast du viele Freunde von früher?“ Z:„ Ja, aber nicht sehr viele. Freunde von ganz früher habe ich eigentlich nicht mehr, da wir mehrmals umgezogen sind und ich danach kaum noch Kontakt mit alten Freunden hatte.“ S: „Wo lernst du jetzt größtenteils Freunde kennen?“ Z: „Größtenteils in Bars.“ S: „In was für Bars gehst du hauptsächlich?“ Z: „Wir gehen in Bars unserer Community, das ehemalige „Vogue“, jetzt „Home“. Ich lerne aber nicht alle Freunde nur in Bars kennen. Mit einigen Typen komme ich ziemlich gut aus. Sie bringen ihre guten Freunde mit und wir gehen zusammen essen, beim Essen lernt man sich dann kennen. Nachdem man sich kennen gelernt hat, finden einige deinen Charakter gut, dann rufen sie dich das nächste Mal an, wenn sie losgehen. So schließt man langsam Freundschaft.“ […] S: „Du hast bestimmt viele weibliche Freunde“ Z: „Ja, viele.“ S: „Warum ist das so?“ Z: „Ich sehe aus wie ein Mädchen. Wenn sie mit mir zusammen sind, ist es sehr sicher. Erstens bin ich nicht klein und nicht hässlich. Zweitens fühlen sie sich mit mir sicher, drittens, wenn sie mit so einem Mann unterwegs sind, gibt

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ihnen das Gesicht. Viertens Sicherheit. Fünftens können sie mit mir über alles reden, es ist lustig mit mir, ich kann sie amüsieren, ich erzähle Witze.“ […] S: „Was ist Freundschaft?“ Z: „Freundschaft ist, wenn du immer an jemanden denkst, egal, ob in guten oder in schlechten Zeiten, wenn du ihm/ihr beistehst und umgekehrt. Wenn du glücklich bist, wenn er/sie glücklich ist und umgekehrt. Wenn man nicht zusammen ist, nur um etwas zu machen.“ S: „Hast du einen besten Freund?“ Z: „Ich weiß nicht, ob sie meine besten Freunde sind, denn viele habe ich kennen gelernt, als wir uns amüsiert haben und ich habe auch keinen lebenslangen Freund. Es gibt jedenfalls einige Leute, die sich gegenseitig ständig anrufen, Kontakt halten und sich treffen. Aber ob diese nun meine wirklich guten Freunde sind, das weiß ich nicht, denn sehr wenige Leute sagen so etwas. […] Geld leihen, manche großzügig, manche denken an ihre eigene Zukunft, wissen vielleicht nicht, ob sie sich auf dich verlassen können, das muss man in langjähriger Freundschaft herausfinden. Meine jetzigen Freunde habe ich alle erst maximal zwei Jahre, weil ich jetzt ein anderes Leben führe. Meine Kommilitonen sind überall verstreut. Ich weiß nicht, ob sie meine wahren Freunde sind, würde sie aber wie wahre Freunde behandeln und hoffen, dass sie ebenso handeln.“ S: „Das hat Konfuzius gesagt, nicht wahr?“ Z: „Ja, das hat er gesagt.“

Vicky Cao „Für mein Leben sind Freunde sehr wichtig. Ein Mädchen braucht unbedingt jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten kann. Deine Freunde sind die Gegenüber, denen du dein Herz ausschütten kannst. Ich habe sehr gute Freundinnen. Sie sind seit der Oberstufe der Mittelschule meine guten Freundinnen. Ich denke, meine besten Freundinnen habe ich auf der Oberstufe der Mittelschule kennen gelernt. Von der Unterstufe der Mittelschule habe ich sehr wenige, damals konnte man noch nicht quatschen. Auf der Oberstufe der Mittelschule hat man dann langsam angefangen, einige Dinge zu verstehen. Man hatte mit Sicherheit viele Dinge im Kopf, bei denen die Erwachsenen dir nicht weiterhelfen konnten oder sie dich nicht verstehen konnten. Da hat man dann Freunde gefunden. Ich finde, die Freunde aus der Zeit sind die besten. Als man auf die Uni kam, hatte jeder schon seine eigenen Ansichten und sein eigenes Leben, und jeder hat sich um sich selbst gekümmert. Meine besten Freundinnen sind zwei Mädchen, die ich auf der Oberstufe der Mittelschule kennen gelernt habe.“ S: „Sind eure Charaktere ähnlich?“

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V: „Eigentlich finde ich, dass mein Charakter von ihnen beeinflusst wurde. Ich bin relativ introvertiert, eine meiner Freundinnen ist sehr offen und gerade heraus. Jeder kann sehr gut mit ihr reden. Und die andere ist sehr reif. Wenn wir drei zusammen sind, ist es sehr gut. Ihre Offenheit beeinflusst mich, ich bin ein ruhiger Typ, aber auch offen. Ich finde, wir ergänzen unsere Schwächen mit den Stärken der anderen.“ S: „Freundschaft ist für dich sehr wichtig.“ V: „Ich finde, wenn man keine Freunde hat, fühlt man sich auf der Welt sehr einsam, dann hat man niemandem, dem man sein Herz ausschütten kann, niemanden, mit dem man reden kann, dann hat die lärmende Welt da draußen nichts mit einem selbst zu tun. Wenn du einen Freund hast, kannst du dir die Welt da draußen ansehen, du kannst mit ihnen die Dinge da draußen verstehen. Wenn zwei Menschen eine Liebesbeziehung haben, ist das ihre eigene Welt, aber es ist Freundschaft, die dich die Welt verstehen lässt. Ich finde auch, gute Freunde und Freund unterscheiden sich sehr.“ S: „Warum?“ V: „Weil ich über einige Dinge nicht mit meinem Freund reden möchte, obwohl man ihn auch als Freund bezeichnen kann. Aber über die Sachen, die ihn und mich betreffen, möchte ich mit meinen Freundinnen reden. Sonst scheint es, als wäre ich mit ihm nicht zufrieden. Ich finde es besser, mit einem Dritten darüber zu sprechen. Früher, als wir gerade zusammen gekommen sind, wollten alle gleich ihre Meinung dazu geben, das war vielleicht nicht gut.“ S: „Ist es jetzt immer noch so?“ V: „Nein, jetzt nicht mehr. Unsere Freunde haben alle ihre eigene Arbeit. Auf der Schule war es vielleicht so. Jetzt kann man sie aufsuchen, wenn man ein Problem hat.“

Wang Jun „Freunde sollten aufrichtig sein, das reicht. Die Interessen und Vorlieben sind gleich, der Charakter ähnlich oder die Charaktere ergänzen einander. Man kann miteinander über Ansichten sprechen, manchmal geht man zusammen aus, das sind Freunde.“ S: „Wenn du ein Problem hast, helfen dir deine Freunde dann auf jeden Fall?“ W: „Das kommt darauf an, was für Probleme es sind. Manche Probleme kann man selber lösen. Manche Probleme kann man Freunden aufbürden, zum Beispiel über existenzielle Probleme kann man mit ihnen reden, kann sie bitten, ihre Meinung dazu zu äußern, dann können sie dir helfen.“ S: „Redest du mit ihnen über Liebesprobleme?“ W: „Ja, aber über einige Hochzeitsfragen/-probleme sollte man mit seinen Eltern reden. Wenn es bei der Arbeit Probleme gibt, kann man mit Freunden darüber sprechen, und unter Freunden kann man sich gegenseitig aufbauen, das ist auch sehr wichtig.“

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Marie Chen „Ich zähle nicht zu denen, die sehr viele Freunde haben, aber Freundschaften, die ich habe, halten sehr lange. Einige Freunde kommen noch aus der Mittelschulzeit. Aber obwohl wir uns schon viele Jahre kennen, halten wir immer noch Kontakt.“ […] S: „Was machst du gemeinsam mit deinen Freunden?“ M: „Die meiste Zeit unterhalten wir uns über unsere Gedanken der letzten Zeit, über das Studium, über unser Leben. Die meiste Zeit quatschen wir.“ […] „Wie Freunde zu mir sein sollten? […] Generell sollten Freundschaften nicht zu sehr auf gemeinsamen Interessen basieren. Es ist ganz einfach, sie sollten nicht auf gemeinsamen Nutzen ausgerichtet sein, sondern nur der Freundschaft wegen existieren. Es soll nicht so sein, dass ich sage: Ah, heute habe ich etwas vor, zum Beispiel ist jemand mein Gast oder alle haben eine bestimmte Absicht. Meiner Meinung nach halten zweckorientierte Freundschaften nicht lange. Wenn sich etwas auf einen Nutzen richtet, dann ist die Beziehung beendet, sobald der Nutzen nicht mehr gegeben ist. Die guten Freunde, die ich habe, sind hauptsächlich Kommilitonen von früher, mit denen ich jetzt eine Beziehung ohne Nutzen habe. Wir treffen uns nur alle zwei bis drei Monate einmal, um uns zu unterhalten, zu quatschen. Das ist eine unverfälschte/echte Beziehung. Manchmal, wenn sich die Gelegenheit bietet und ich denke, dass eine Person dazu passt, dann frage ich, ob sie bereit ist, da mitzumachen. Ich denke, Freundschaften, bei denen du den Zweck austauschen kannst, halten relativ lange. Machst du etwas, um dich bei ihm/ihr beliebt zu machen, um dich einzuschmeicheln (儺‫הړ‬/‫ڔ‬, taohao ta). Kannst du das verstehen?“ S: „Ja, das kann ich verstehen.“ M: „Um sich einzuschmeicheln, macht man mit der Person etwas, was sie rührt, erst dann wird man zu Freunden. Sie macht etwas für dich, damit habt Ihr euch verbunden. Ich mag so etwas nicht, ich mag das nicht. Deswegen sagt man auch, dass es sehr schwer ist, im Berufsleben echte Freunde zu finden, denn im Berufsleben sind die meisten Beziehungen zweckorientiert, während du auf der Universität relativ leicht Freunde findest.“

Xu Hongwei „Der beste Freund sollte, zum Beispiel wenn du einige Angelegenheiten hast, über die du mit deinen Eltern nicht sprechen kannst, aber mit deinen Freunden ziemlich gut… aber auch nicht mit Freunden von der Arbeit, mit denen du dich nur amüsieren gehst… also mit dem besten Freund kannst du solche Sachen besprechen, die deine Eltern nicht verstehen können. Mit gewöhnlichen Freunden kann ich nicht darüber reden. Es muss so sein, dass man sich gegenseitig das Herz ausschütten kann, das ist nicht immer so. Jeder Mensch kann auf unerfreuliche Dinge stoßen oder auf nicht wunschgemäße Dinge… Die glücklichen Dinge kann man mit allen teilen.“

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Connie Peng „Enge Freunde habe ich nicht viele, bei denen man auf den ersten Blick sieht, was sie denken und fühlen. Zwei habe ich, aber das reicht auch schon. Einer ist männlich, die andere weiblich. Mit den anderen quatscht man, hat Spaß, geht zum Unterricht oder essen. Jeder ist gut in etwas anderem. Jeder beeinflusst den anderen.“ (lacht) S: „Findest du leicht Freunde oder nicht?“ C: „Ich bin jemand, der recht leicht Freunde findet.“ S: „Was macht ihr, wenn ihr euch amüsieren wollt?“ C: „Manchmal fahren wir in die Shanghaier Umgegend und drehen dort eine Runde, manchmal gehen wir gemeinsam essen oder so. Aber weil alle viel zu tun haben, ist es schwierig, alle zusammen zu bekommen, deshalb kommt das auch nicht so häufig vor. Meistens regeln wir das über das Internet oder SMS und halten so Kontakt.“

Li Yuwen & Zhao Jing S: „Was ist Freundschaft?“ L: „Gegenseitiges Interesse.“ Z: „Chinesen sagen, eine Männer-Beziehung ist mehr [wert] als Wasser. Wenn du Hilfe brauchst, kommt jemand, um dir zu helfen. Alle haben mittlerweile einen Job, eine Familie und können nicht mehr, wie während des Studiums, täglich zusammen hängen, nicht wahr? Hauptsache, man kann helfen, wenn jemand irgendetwas hat, das reicht. Und wenn man Zeit hat, dann trifft man sich. Ich finde, das reicht schon aus.“ […] S: „Habt ihr viele wirklich gute Freunde?“ Z: „Nicht sehr viele. Die Leute in meiner Clique sind es schon, kann man sagen. Ich habe mit sehr vielen Leuten Kontakt, viele, mit denen man normalerweise Kontakt hat. Aber die wirklich guten Freunde sind auf einige wenige beschränkt. Die Leute, die ich sofort anrufe, wenn irgendetwas los ist, sind nicht viele. Nicht mehr als zehn.“ L: „So auch bei mir. Hauptsächlich sind es meine Kommilitonen. Denn zwischen denen gibt es keine Interessenkonflikte. Und wenn es keine Interessenkonflikte gibt, dann kann man relativ objektiv sein.“ […] S: „Ist euer Anspruch an eine Freundschaft hoch?“ Z: „Früher war er ziemlich hoch, heute nicht mehr.“ S: „Warum?“ Z: „Gerade als ich angefangen habe zu arbeiten, waren meine Ansprüche an Freunde noch sehr hoch. Später dann, wie soll ich sagen, vielleicht, weil man erwachsen geworden ist oder mit mehr Dingen in Kontakt kommt, fand ich es

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sehr schwierig, einen Freund zu finden. Deshalb muss der Mensch ein wenig toleranter werden.“ L: „Mein Anspruch ist nicht sehr hoch, weil alle ein unterschiedliches Leben haben, die Familienumstände anders sind, man Dinge anders sieht und angeht, sehr vieles einfach anders ist. Da kannst du nicht verlangen, dass der andere genauso ist wie du, deshalb gibt es sehr viele Dinge, die ich akzeptieren und verstehen kann, aber in die ich mich nicht einmische.“

Meng Yingying S: „Hast du viele Freunde?“ M: „Eigentlich habe ich recht viele Freunde, einige Kommilitonen, einige habe ich im Internet kennen gelernt, also Internetfreunde (᫪֖, wangyou).“ S: „Aha…, gehst du oft im Internet chatten?“ M: „Ja, ja, ja, oft.“ S: „Und dann lernt Ihr euch kennen?“ M: „Mit manchen treffe ich mich. Andere sind von der Art, dass ich mich nicht mit ihnen treffe. Weil ich Romane auf Chatseiten veröffentliche, habe ich danach sehr viel Kontakt mit Lesern. Mit vielen treffe ich mich nicht, weil sie aus dem ganzen Land kommen, einige aus dem Ausland, natürlich sind das welche, die Chinesisch studiert haben, Auslandsstudenten. Auch Männer und Frauen treffen sich über das Internet. Viele nutzen das Netzwerk, um mit Tricks andere kennen zu lernen, deshalb bin ich schon oft von jemandem sitzen gelassen worden (๯Գ୮࣋噗՗, bei renjia fang gezi). (lacht) Wenn er dich sieht und vielleicht bemerkt, dass du nicht zu ihm passt, das Äußere ihm nicht gefällt, dann ignoriert er dich, geht einfach weg und schaltet sein Handy aus. Diese Situationen gibt es. Dann noch die aufrichtigen Chats, die weitergeführt werden und in denen es um das tatsächliche Leben geht. Nachdem ich beide Seiten kennen gelernt habe, chatte ich ohne weitere Schritte zu unternehmen. Ich chatte mit QQ, ICQ, MSN und bei Yahoo.“

Freundschaft Waidiren Peng Yongyang „Ich kann nicht sagen, dass ich in Shanghai viele Freunde habe. Denn schließlich sind meine Freunde in Shanghai aus demselben Business. Es gibt viele, die in dieser Branche tätig sind. Wenn du zu jemandem gut bist, ist er auch gut zu dir. Ist jemand nicht gut zu mir, bin ich mit Sicherheit nicht gut zu ihm. Ich denke, ich bin ein ziemlich umgänglicher Typ, mich kannst du mit jedem zusammen tun, wir werden den ganzen Tag gut miteinander auskommen. Das Gefühl, mit jemandem nicht auszukommen, habe ich sehr selten, hatte ich fast noch nie […] Ich habe einige sehr enge Freunde von der Arbeit. Wenn wir zusammen sind, ist es besonders gut. Freunde, mit denen mich eine Freundschaft verbindet, habe ich nicht viele. Wenn du viele Freunde haben willst, dann

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brauchst du definitiv nicht viel Zeit dafür, aber das kostet viel Energie. Du musst erst bezahlen, um solche Dinge zu bekommen. […] Was mich betrifft, ist die Hauptsache, dass Freunde sich gegenseitig helfen. Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Wenn du zu Hause bist, verlässt du dich auf Vater und Mutter, wenn du raus gehst, verlässt du dich auf deine Freunde. Nur wenn du Freunde hast, kannst du noch bessere Dinge haben. Z. B. wenn du heute kein Geld hast, dann kann ich es dir leihen, wenn ich heute kein Geld habe, kannst du es mir leihen. Wenn du kein Geld hast, ich aber schon, dann kann ich es dir leihen. Wenn Freunde beisammen sind, dann führt das zu gegenseitigem Geben und Nehmen. Die Hauptsache ist Helfen, ich helfe dir, du hilfst mir. Vielleicht sehe ich Freundschaft ziemlich einfach, aber in der Realität ist es einfach so.“

Wendy Ding S: „Woher kommen die meisten deiner Freunde?“ W: „Waidiren.“ S: „Warum?“ W: „Vielleicht weil sie dieselbe Sprache sprechen und dieselben Lebenserfahrungen gemacht haben. Außerdem sind in unserem Freundeskreis sehr viele Kommilitonen. Shanghairen gehen nicht so gerne Freundschaften ein, die sich nicht durch Zufall ergeben. Mein Charakter ist recht extrovertiert, offen. Ich genieße es, mit dir zu sprechen, ich bin bereit, mich mit dir anzufreunden, aber Shanghairen geben sich nicht mit dir ab, weil sie mit dir befreundet sein wollen, weil sie gut mit dir zurechtkommen. Er kennt dich, also kennt er dich, er hat nicht den Wunsch Freunde zu machen. […] So wie du zu Freunden bist, so sollten sie auch zu dir sein. Wenn du Kummer hast, helfen sie dir, wenn du Ärger hast, hören sie dir zu. Auch wenn man sich lange nicht sieht oder lange keinen Kontakt hat und trotzdem noch befreundet ist.“

Jimmy Yang „Ich habe keine Ansprüche, wenn es um enge Freunde geht. Man sollte sich gegenseitig verstehen, helfen. Wenn ich irgendwelche Schwierigkeiten habe, hilft mir mein Freund, wenn er Schwierigkeiten hat, helfe ich ihm nach Kräften. Auf jeden Fall ist das ein so genannter enger Freund.“

Ye Yiqun & Liu Songwei L: „Freunde? Mittlerweile sind es recht viele. Freunde sollten ziemlich gut zu mir sein, mich anrufen, sich oft melden, wenn wir nicht zusammen arbeiten. Wenn wir frei haben, bei ihnen im Laden oder bei ihnen zu Hause etwas zu machen.“ S: „Was ist das Wichtigste an Freundschaft?“ Y: „Das Wichtigste ist Aufrichtigkeit. Zwischen Freunden darf es keine verletzenden Faktoren geben. Und wenn jemand so etwas tut, dann ist er kein

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Freund. Das machen nur Fremde. Unsere Ansprüche an Freunde sind sehr streng.“

Jin Jing J: „Freundschaft? Was ist Freundschaft? Wenn du Kummer hast, jemand der hilft, der dir hilft. Und wenn du glücklich bist, jemand, der die Freude mit dir teilt. Das ist meine Meinung.“ S: „So sollten Freunde also zu dir sein, dir helfen, wenn du Kummer hast.“ J: „Ja, genau so.“ S: „Hast du einen besten Freund, eine beste Freundin?“ J: „Also, eine ganz besonders gute Freundin, mit der ich alles bereden kann? Wie soll ich das sagen? Ich denke, meine beste, als ich auf der Oberstufe der Mittelschule war, hatte ich eine sehr gute Freundin, aber sie ist jetzt in Weihai. Große Dinge habe ich mit ihr nicht mehr besprochen. Und jetzt sind meine Freunde halt meine ehemaligen Kommilitonen. Wenn irgendetwas ist, grundsätzlich kann ich über alles mit ihnen reden, also, mit einer oder zweien. Das heißt aber nicht, dass, nur weil sich mein Wohnort geändert hat, dass die Beziehung zu meinen Freunden abgebrochen ist. Ich habe halt keine Freundin, die mit mir von kleinauf zusammen aufgewachsen ist. Das bedaure ich schon ein bisschen.“

4. Sicht auf kollektiv objektivierte Kontexte 4.1 Gesellschaft Perspektive der Shanghairen auf die Gesellschaft Qiuqiu „Die Leute, die du erforschst, sind die 20-30jährigen, sie sind 1975 bis in die 80er geboren. Die Leute aus unserer Generation sind ziemlich typisch/repräsentativ. Die Mehrheit sind Einzelkinder, oder sie haben einen Bruder oder Schwester. Wir mussten niemals leiden.“

Lu Jingjing „Ich denke, in unserer Generation gibt es sehr viele, die selbst nicht wissen, was sie wollen. In den 50ern, 60ern war das anders. […] Eins ist mir klar geworden. Das, was unsere Eltern uns beigebracht haben, ihr Einfluss, hat sich fortwährend in unserem Gehirn festgesetzt. Ich habe einige Dinge bemerkt, denn unsere Kommunikation ist mittlerweile sehr fortgeschritten. Alle Filme, die wir sehen und die Menge an Informationen, die wir bekommen, sind hundertmal mehr als damals. Das ist absolut anders als bei unseren Eltern damals. Und das, was du in der Schule lernst, ist wieder anders. Auf einmal weißt du

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nicht mehr, was richtig ist und was falsch. Obwohl ich nicht weiß, was ich mache, was ich machen sollte, bin ich mir aber doch einer Sache absolut klar. Nämlich, dass ich auf der Uni eine Chance hatte, die mich verstehen lässt. Es kann nicht sein, dass Menschen keine Ideale haben, vielleicht haben sie sie noch nicht gefunden, aber sie können nicht einfach nur so leben. Das geht nicht, das wäre zu schlecht, zu empfindungslos.“

Qiuqiu „Aber ich denke, es gibt momentan nicht viele Leute wie uns, die immer reflektieren. Die Uni hat uns beeinflusst, ständig die Gesellschaft zu reflektieren, unseren Platz zu finden und uns neu auszurichten. Aber die jetzigen jungen Leute überlegen nicht, was sie wollen, sie denken nicht darüber nach, ob sie Wunschträume haben oder was später mal passieren könnte. Aber man kann nicht sagen, dass sie abgestumpft wären. Wir nehmen vielleicht an, dass sie stumpf wären. Sie denken vielleicht, dass wir sehr pedantisch seien.“

Lu Jingjing „Ich denke, jeder kann sich sein eigenes Leben selbst aussuchen. Wenn ich es mir nicht aussuche, dann bekomme ich eins, das mir die Gesellschaft vorgibt. So sollte es sein, also ist es so. Aber das will ich nicht. Es kann nicht sein, dass ich etwas mache, was man mir sagt, und ich dann keine andere Möglichkeit habe, als so zu leben. Ich stimme mit ihr überein, dass nicht jeder Mensch so denkt. Ich glaube, dass viele den Anforderungen der Eltern folgen. Der wählt auch ununterbrochen und weiß nicht, was er letztendlich will. Wie kann es sein, dass andere Leute dir sagen, wie du zu leben hast? Und in den Bereichen, wo du dich nicht entschieden hast, ist es halt so.“

Qiuqiu „Deshalb gucke ich in letzter zeit sehr gerne den Film „Lost in Translation“, obwohl Shanghai nicht mit Tokyo zu vergleichen ist.“

Marie Chen „Noch ein Problem ist, noch ein Problem ist das Problem des Umgangs miteinander. Denn in China, vor Beginn der Achtziger Jahre, war die Gesellschaft total abgeschlossen. Ab den Achtzigern wurde China plötzlich geöffnet, dem Ausland geöffnet. Diese Öffnung brachte ein Problem mit sich. Und zwar, dass einige Leute, weil sie wussten, wie sie die Politik zu nutzen haben, sehr wohlhabend wurden, aber ein Großteil der Leute immer noch arm blieb. Dieser Gegensatz zwischen Reich und Arm bringt viele Widersprüche mit sich. Das ist ein ziemlich großes Problem Chinas. Ein Übel. Außerdem hat die chinesische Gesellschaft Ehrfurcht gegenüber den Eltern, gegenüber den Vorgesetzten. In China spielt die Ehrfurcht eine große Rolle, was aber nicht heißt, dass ich nicht auf dich höre, wenn du Recht hast, nur weil dein Status niedriger ist als meiner …“

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Connie Peng „Weil ich das Ausland nur durch Fernsehen, Zeitschriften und Nachrichten kenne und auch in China noch nicht weit herumgekommen bin, kann ich keinen Vergleich heranziehen. Ich kann nur sagen, dass die chinesische Gesellschaft sehr traditionell und auch sehr offen ist. Zumindest sind Shanghairen so.“ S: „Was kannst du an der chinesischen Gesellschaft überhaupt nicht ausstehen?“ C: „Gar nichts, wirklich, denn alles hat seine Existenz. Ein schlechtes Ergebnis hat oft einen guten Anfang.“

Li Yuwen „In meinem Leben gibt es noch feudalistische Ideen, die besagen, dass Frauen den Männern unterlegen sind. Kann sein, dass der Status von Männern etwas höher ist als der der Frauen, denn bei meiner Arbeit sollte es so sein, dass gleiche Leistungen gleich bezahlt werden, dass gleiche Anstrengungen bezahlt werden sollten. Kann sein, dass die Chancen der Männer größer sind. Und, wenn ich etwas erfolgreich mache, dann denken sehr viele, dass das auf mein hübsches Aussehen zurückzuführen ist, oder weil ich niedlich bin. Das macht mich rasend.“ S: „Meinst du, dass das eine Besonderheit der chinesischen Gesellschaft ist?“ L: „In China ist es bei Bewerbungen um Stellen so, dass Männer präferiert werden. Viele Firmen sind nicht bereit, weibliches Personal einzustellen. Das finde ich ziemlich ärgerlich.“

Zhao Jing „Meiner Meinung nach sind in China die zwischenmenschlichen Beziehungen komplizierter als im Westen. Ich finde, es gibt nichts Reines mehr zwischen den Menschen, nur noch unter Kommilitonen oder zwischen Freunden, die miteinander aufgewachsen sind. Auf jeden Fall sind die Beziehungen zwischen den Menschen, wenn sie angefangen haben zu arbeiten, nicht mehr rein freundschaftliche Beziehungen. Das ist für mich sehr unangenehm. Wenn du beispielsweise mit Leuten kommunizierst, musst du genau überlegen, was du ihm heute sagst, damit er es nicht morgen gegen dich verwenden kann. Ich glaube, in westlichen Ländern ist es nicht so, da sind die zwischenmenschlichen Beziehungen etwas ausgeglichener. […] Ich glaube, wir sind schon abgestumpft, wir leben einfach so. Wir leben nur unser eigenes Leben. Wenn es gut läuft, dann ist es in Ordnung.“

Wang Jun „Ich finde, eine angemessene Entwicklung ist für Schüler sehr gut. Wenn die Entwicklung aber in jedem Bereich zu schnell vorangeht, dann werden die Menschen ruhelos. Beispielsweise ist der momentane Lebensrhythmus sehr schnell. Wenn die Entwicklung zu schnell vorangeht, dann hat man das Ge-

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fühl, etwas zu verlieren, und das wieder zu bekommen ist sehr schwierig/anstrengend. Vor dem Wachstum konnte man sich alles ganz genau durch den Kopf gehen lassen, das war besser.“ S: „Ich habe sehr viele Chinesen getroffen, die nach Shanghai gekommen sind und unheimlich viel zu tun haben. Sie haben keine Möglichkeit, sich auszuruhen.“ W: „Ich habe diese Situationen auch so empfunden, insbesondere im Zentrum ist es recht laut/gedrängt. Es ist dort recht geschäftig. Dort, wo ich wohne, gibt es noch sehr viel Ackerland, aber in nicht allzu langer Zeit wird sich das ändern. Damit die Menschen das akzeptieren/hinnehmen können, braucht es einen Prozess. Wenn die Entwicklung zu schnell ist, funktioniert das nicht.“

Perspektive der Waidiren auf die Gesellschaft Peng Yongyang „Traditionalität. Chinesen sind hauptsächlich traditionell. Chinesen haben sehr viel traditionelle Kultur. Wenn du mich fragst, was das Besondere an den Chinesen ist, dann ihre Traditionalität.“

Wendy Ding „Das Besonderste ist, dass sie die Existenz von Fremden/Dissidenten nicht erlauben, sie tolerieren nur die Existenz von gleichen Dingen, deswegen ist die Entwicklung so langsam. Noch eine Besonderheit ist die Erreichung von Uniformität. Anstatt sehr vieler Methoden, Probleme zu lösen, benutzen sie immer ein und dieselbe Methode. Ich mag nicht, wie sie das in Angriff nehmen“ […] S: „Was magst du an der chinesischen Gesellschaft nicht?“ W: „Dass viele Menschen, wenn du eine andere Meinung hast als sie, sie dich nicht mögen oder denken, dass du irgendein Problem hast oder so. Sie können unterschiedliche Meinungen nicht akzeptieren. Außerdem finde ich die Gesellschaft zu chaotisch. Nachdem die VR China gegründet wurde, war die Gesellschaft zu abgeschlossen. Nach der Öffnung ging die Entwicklung zum anderen Extrem. So leidet die Gesellschaft an Unbeständigkeit. Ich finde, die Qualität der Menschen ist zu schlecht. Alle sind darauf konzentriert, ihre Interessen zu realisieren. Ihnen fehlt Liebenswürdigkeit, sie sind zu kalt und gleichgültig. Die Menschen sind soziale Tiere, sie müssten Interesse zeigen, aber solche Verhältnisse gibt es zu wenig. Und das einzig Besondere an der Regierung ist, dass sie ihre Verantwortung koordinieren/harmonisieren. […] Das Schlimmste ist die Korruption.“

Jimmy Yang S: „Was ist deiner Meinung nach besonders an der chinesischen Gesellschaft?“

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J: „Die chinesische Gesellschaft? Die chinesische Kultur ist besonders. […] Ich habe nichts Besonderes. Ich bin stolz darauf, in China geboren zu sein. Ich bin ein Teil der chinesischen Gesellschaft, einer unter Tausenden (ՕՏհ ࣥ, խ㧺հࣥ, da qian zhi lin, zhongguo zhi lin). Ich bin geehrt und stolz, ein Chinese zu sein, denn China ist so groß. Und ich bin glücklich, ein Mitglied Chinas geworden zu sein.“

Zheng Leibin „Die Wirtschaft ist in China jetzt sehr gut, aber es gibt noch sehr viel in Kultur und Wissenschaft, was noch nicht sehr ausgeglichen ist, was noch recht zurückgeblieben ist. Ich hoffe, dass sich China auf diesen Gebieten weiterentwickeln kann, nur so kann China wirklich erstarken. […] Ich finde, die Kultur ist noch zu weit zurück geblieben, die kulturelle Ausbildung ist zu weit zurück geblieben. Man sollte mehr Aufmerksamkeit auf die Ausbildung legen, man sollte unsere Kultur noch weiter entwickeln.“

Wang Xin „Erst wenn China wirtschaftlich erstarkt ist, können die Menschen ein materiell wohlständiges Leben führen und erst danach kann man über kulturelle Dinge nachdenken.“

4.2 Status Shanghairen und Status Connie „Eine gute und bescheidene Person zu sein. Wie soll ich sagen, eine Wohnung, ein Auto, ein dickes Gehalt sind Ausdruck von Status. Aber ich finde, dass einige Menschen, obwohl sie nicht so gut situiert sind, materiell gesehen, aufgeschlossen und großmütig sind, Menschen mit noblem Charakter, dann ist das meiner Meinung nach auch eine Art Status, egal ob er reich oder arm ist. Wenn er für die Gesellschaft von Nutzen ist, wenn er sich um andere Menschen kümmert, dann ist er ein Mensch mit Status.“ […] S: „Ist es in China wichtig, Status zu besitzen?“ C: „In Shanghai?“ S: „In Shanghai.“ C: „Weil in Shanghai der Status sehr wichtig ist, setzt du alles daran, dich gut zu kleiden, auf deinen Konversationsstil zu achten, auf deine Ausdrucksformen. Dann erkennt man deine soziale Schicht, dann behandelt man dich entsprechend.“ S: „Hast du selbst Statussymbole?“ C: „Ich glaube, ich habe keine, jedenfalls nichts, was nach Außen strahlt.“ […]

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S: „Ist ein Handy ein Statussymbol?“ C: „Nein, ein Handy ist ein Kommunikationsinstrument. Egal wie teuer oder wie wertvoll ein Ding ist, das du nutzt, zum Beispiel, wenn du Chanel trägst oder eine Cartier [Uhr], ist es immer noch ein Nutzgegenstand. Nur wenn du dessen Eleganz oder den kulturellen Wert unterhalb der Oberfläche schätzt, solltest du es kaufen, ansonsten ist es Verschwendung.“

Zhu Baixi & Huang Yigu S: „Was ist Status?“ Z: „Wenn ich mir jetzt einen neuen Job in einer anderen Firma suchen würde und sie mir 3.000 oder 4.000 RMB geben würden. Ein Platz in der Gesellschaft. Bei einem Künstler zum Beispiel der Grad der Akzeptanz innerhalb dieser Kreise. Je nachdem für wie viel ein Maler seine Bilder verkauft, so hoch ist sein Status. Und bei einem Sänger sind es die Auftrittsgagen, das ist Status. Es ist die Art und Weise wie man jemanden mit Geld bewertet. Das nennt man hauptsächlich Status. Anders kann man bei Kunsthandwerk keinen Status beschreiben. Status, diese zwei Zeichen [im Chinesischen zwei Zeichen: りચ, shenjia] haben letztendlich mit Geld zu tun.“ S: „Gibt es auch Dinge, die Status zum Ausdruck bringen?“ H: „Die [gesellschaftliche] Position und Geld.“ Z: „Geld ist noch grundlegender. Oberflächlich gesehen kann es auch Respekt/Ehre sein, für dich ist Respekt ein Ausdruck des sozialen Status, der Bildungsgrad ebenso.“ H: „Aber schlussendlich ist es immer noch Geld. In dieser Gesellschaft beurteilt dich jeder nach der Norm des Geldes. Wenn du eine hohe Bildung hast, dann hält dich die Gesellschaft für wertvoll.“ Z: „Bildung und deine Fähigkeit, Geld zu machen stehen definitiv im Zusammenhang.“

Li Yuwen & Zhao Jing Z: „Wenn du eine bestimmte Position erreicht hast, dann brauchst du keinerlei Statussymbole mehr, dann zeigt sich dein Status von selbst.“ L: „Ja, das denke ich auch.“ Z: „Z.B.: Ich gehe raus und fahre einen BMW, dann fühle ich mich unwohl, da ich noch nicht diese Position erreicht habe. Wenn ich einen BMW fahre, dann denken die Leute, die mich nicht kennen, vielleicht, dass ich unglaublich viel Geld habe, dass ich sehr reich bin, aber ich habe nicht diesen Background, ich reiche nicht an diesen Status heran. Deswegen denke ich, dass ich definitiv keinen BMW kaufen kann. Wie soll ich sagen? Welchen Status du erreicht hast, was du für Dinge machst, etc… Wenn du einen bestimmten Status erreicht hast, dann brauchst du das nicht, dann kaufst du dir keinen BMW, die Leute kennen dann auch so deinen Status.“

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[…] L: „Geld kann deinen Status nicht ausdrücken.“ Z: „Richtig. Das muss von Innen kommen. Nicht diese Neureichen (ᡨ䦡㡬, baofahu), das sind diejenigen, die keine Bildung haben, aber über Nacht steinreich geworden sind. Dann hat er sehr viel sozialen Status, aber ich sehe trotzdem nicht zu ihm auf, weil ich finde, dass er keine Kultur hat. Wenn er unzusammenhängend oder widersprüchlich mit mir spricht, dann hat das keinen Sinn.“

Wang Jialing S: „Ist ein Auto deiner Meinung nach ein Statussymbol?“ W: „Das…, das…, ja, ist es.“ S: „Sind in China Statusobjekte wichtig?“ W: „Das kommt auf die Situation an. Da wir jetzt noch nicht…, wie ich zum Beispiel, noch befinde mich nicht in so einem Stadium, denn ich muss schließlich noch alles überdenken. Ich habe zwei Hände, eine linke und eine rechte Hand, beide sind…, (beide lachen) eine ist die finance [engl.], die alles abwägen muss. Die Finanzhand ist in einem Dilemma, da das Einkommen noch nicht sehr hoch ist. Ich habe noch kein eigenes Unternehmen aufgemacht. […] Wenn ich später mal mein eigenes Unternehmen gründen sollte und wenn mein Einkommen meine Ausgaben decken sollte, wenn ich darauf keine Rücksicht mehr nehmen muss…, aber jetzt darf ich den Überblick nicht verlieren, und auch später bleibt das immer ein Prozess des Abwägens.“ S: „Und deine andere Hand?“ W: „Häh?“ S: „Deine andere Hand?“ W: „Meine andere Hand. Richtig. Dass sich die beiden abwiegen, ist sehr wichtig, aber ein Gleichgewicht…, vielleicht liegt das daran, dass wir Wirtschaftler immer am Kalkulieren sind…, die eine [Hand] handelt mit der anderen immer um den Wert. Finance [engl.] ist der eigentliche Wert…, und wenn man zwei Werte gegeneinander abwiegt, dann wiegt finance [engl.] meiner Meinung nach schwerer, … wenn sie bis zu einem gewissen Grad … schwerer wiegt, dann kann ich mir etwas kaufen.“ S: „Was ist, wenn du in der anderen Hand deinen Universitätsabschluss, zwei Jahre in Frankreich, deinen Arbeitsplatz wiegst, ist es dann immer noch so?“ W: „Nicht unbedingt.“ S: „Machst du es dann immer noch so?“ W: „Ja. Momentan ist das Gehalt noch nicht hoch, das konntest du im Fragebogen sehen.“ S: „Ja.“ W: „Bis hierher konnte ich hauptsächlich wegen meines Studiums kommen, wegen meines Studiums.“

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Waidiren und Status Peng Yongyang „Der Wert des Status hängt von dir selbst ab. Z. B. wenn du gerade geboren wurdest, hast du noch keinen Status. Meiner Meinung nach bildet sich der Status langsam heraus. Erstens gemessen an deiner Arbeit, gemessen an deinen Anstrengungen. […] Weißt du, was ich denke, was Status ist? In meinem Herzen ist Status nicht das Wissen, wie viel man besitzt. Aber ich glaube, wenn man Chinesen nach dem Status fragt, antworten 90 % damit, wie viel sie haben.“ S: „Und Statussymbole? Wie Handy, Auto, Uhr etc…?“ P: „Ich denke, das sind Dinge, nach denen die Leute streben, worauf sie hoffen. Ich hoffe, dass ich später mal ein Auto habe, ich hoffe, dass ich später mal das und das habe. Denn der Status… das, was du alles gebrauchen kannst, ist nicht gerade wenig…“ S: „Hast du welche?“ P: „Ich habe momentan keine. Ich habe schon darüber nachgedacht, wie ich später sein werde, aber diesen Zustand habe ich noch nicht erreicht. Aber später werde ich ihn haben, weil ich schon von kleinauf so denke, wie ich dir gerade schon gesagt habe, hoffe ich, dass das nicht in allzu weiter Ferne ist. Ich hoffe, dass das in naher Zukunft liegt. Ich muss mich nur ein wenig anstrengen und dafür kämpfen, dann klappt das schon. Alles, was ich mir wünschen will, wenn ich zur Arbeit gehe, ein eigenes Auto haben zu können, meine Familie herzuholen, dieses Gefühl umherzuwandern hinter mir zu lassen, mich zu amüsieren, mein eigenes Auto zu fahren, überall rumzuschauen, denn ich mag es besonders zu reisen, in alle Gegenden des Landes zu fahren. Bisher bin ich noch nicht an vielen Orten gewesen, nur dieses Jahr zum Frühlingsfest habe ich eine kleine Rundtour gemacht. Ich amüsiere mich so gern, ich mag Orte mit Bergen und Wasser, besonders ruhige Orte, da fühle ich mich sehr gut.“

Zhu Miaomiao & Cai Zhihong C: „Wenn man es von der materiellen Seite aus beurteilt, dann ist dein Status hoch, wenn du viele materielle Güter besitzt. Wenn man es von der gesellschaftlichen Seite aus betrachtet, dann beinhaltet das natürlich auch Bekanntheit und den Grad an Respekt, der einem entgegen gebracht wird. Von den meisten Leuten wird Status immer noch an Materiellem beurteilt. Ich beurteile das auch von der materiellen Seite aus. Wer viel besitzt, dessen Status ist hoch.“ Z: „Insbesondere eine Wohnung, eine Villa, ein Auto, Mercedes.“ (alle lachen) S: „Ist Status in China wichtig?“ C: „Wichtig, das ist immer noch wichtig.“

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Z: „Für die meisten Leute ist das ein Kriterium, ob man Erfolg hat oder nicht.“ C: „Danach kann man beurteilen, ob du Erfolg hast oder nicht.“ Z: „Vor zehn Jahren war ein Handy ein Statusobjekt. Wenn da jemand so einen Knochen in der Hand hatte, war er sehr reich. Heute ist es ein BMW oder eine Villa.“ C: „Was musst du heute haben, bevor du Status bekommst? Ich kann nicht sagen, was es dazu braucht.“ Z: „Ein Privatflugzeug.“ C: „Eine Yacht.“ S: „Ist ein Universitätsabschluss ein Statussymbol?“ C: „Mittlerweile nicht mehr, aber ein offizieller Doktortitel schon noch.“ Z: „Das ist von der immateriellen Seite gesehen so.“ C: „Oder es kann den Status erhöhen.“ Z: „Ja, der Doktortitel kann das noch. Manchmal betonen Leute das.“

4.3 Werte und Normen Shanghairen: Werte und Normen Vicky Cao „Ich denke, wenn andere gut zu mir sind, dann werde ich sie nicht vergessen. Dann werde ich zehnmal so gut zu ihnen sein. Wenn jemand schlecht zu mir ist, dann werde ich zehnmal so schlecht zu ihm sein. Außerdem finde ich, dass ich meinen Eltern Respekt zeigen sollte. Außerdem will ich eine gute Städterin sein und etwas zum Land beitragen. Ich versuche nach besten Kräften, das, was ich kann, gut zu machen, alles gut zu machen. Ich werde es nicht schaffen, dass jeder Mensch sagt, das hast du gut gemacht, aber ich will das, was ich kann, so gut wie möglich machen, so, dass andere keine Möglichkeit haben, mich zu beschuldigen. Ich bin nicht schlecht, ich mache alles nach bestem Vermögen. […] Als ich klein war, kam der größte Einfluss von Zuhause. Als ich älter wurde und anfing, Dinge zu kapieren, war es die Gesellschaft. Wenn du klein bist, bringen dir deine Eltern bei, wie du zu anderen höflich sein sollst, später lernst du dann, wie du dich selbst schützt. Wenn du zu anderen gut bist, geben sie es dir zehnfach zurück. Das hat mir meine Mama beigebracht als ich noch klein war. Das letztere, dass, wenn du schlecht zu mir bist, ich zehnmal so schlecht zu dir bin, das hat mir die Gesellschaft beigebracht. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass, wenn du nicht gut zu mir bist, ich trotzdem gut zu dir sein werde, damit in deinem Bewusstsein eine Entwicklung geschieht.“

Marie Chen „Meine Ansichten über Moral sind, dass man nichts tun darf, was der Gesellschaft schadet. Ich selbst mache nichts, was der Gesellschaft schaden könnte.

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Beispielsweise der 10. April, an jedem 10. des Monats ist der Eintritt in die öffentlichen Parks kostenlos. Das ist gerade erst eingeführt worden. Aber gestern habe ich in der Zeitung gelesen, dass sehr viele Leute in den Botanischen Park gegangen sind, Schaufeln mitgenommen und sich Wildgemüse ausgegraben haben. Das ist passiert, weil alle kostenlos Dinge haben wollen, weißt du? Sehr viele Pflanzen in dem Park sind zerstört worden. Weil viele nur ihre eigenen Ziele vor Augen haben, kümmern sie sich nicht um andere und ob sie die gesamte Umwelt schädigen. Genauso ist es mit den öffentlichen Toiletten. Wenn nur ein, zwei Menschen, weil sie die Toilette nicht sauber finden, sich obenauf stellen, kann danach niemand mehr das Klo benutzen, erst, wenn es wieder sauber gemacht wurde. Was ich damit sagen will, ist: die Leute denken nur an sich, an ihren eigenen Nutzen. Natürlich solltest du Dinge zu deinem eigenen Nutzen nicht machen, aber andere damit zu schädigen, ist eine andere Sache. Es ist nicht wünschenswert, dass du zu deinem eigenen Nutzen anderen schaden zufügst, der gesamten Gesellschaft schadest. Aber meiner Meinung nach ist dies mittlerweile ein sehr großes Problem geworden. Zum Beispiel das Spucken auf den Boden, Ausspucken, und noch viele andere Probleme scheint man in China nicht verbieten zu können. (beide lachen) Das ist eine Anschauung über Moral. Eine andere Sicht, die der größte Teil teilt, sind die über die eigene Familie. Über die Familie, Vater und Mutter. Vater und Mutter gegenüber pietätvoll zu sein. Das ist ziemlich wichtig. Was noch? Also, meiner Meinung nach ist den Eltern besonders wichtig, dass man erstens nichts tut, was anderen Menschen schadet und dass man sich zweitens um Familie und Freunde kümmert.“

Connie Peng „Ein aufrechter Mensch zu sein, höflich und bescheiden, keine Schuld auf mich zu laden. Die habe ich von kleinauf von meinen Eltern gelernt, das ist klar. Und in der Schule. Der Lehrer hat immer gesagt, du musst fleißig lernen und jeden Tag Fortschritte machen.“

Daisy Ding „Ehrlich gesagt … China sagt, wenn du keine Aufrichtigkeit hast, dann bist du kein richtiger Mensch. Das kann ich nur bestätigen.“

Li Yuwen & Zhao Jing S: „Wie sieht es mit euren Moralvorstellungen aus?“ Z: „Darüber haben wir noch nie diskutiert.“ L: „Darüber haben wir noch nie diskutiert.“ S: „Na, dann diskutieren wir jetzt.“ L: „Nur die Sachen zu machen, von denen ich meine, dass sie gut sind.“ Z: „So denke ich auch.“ S: „Was ist richtig? Woher wisst ihr, was richtig ist?“

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Z: „Ich denke, das muss man einfach wissen, man darf nicht gegen die Gesellschaft verstoßen. Innerhalb der moralischen Kategorien kann man alles machen. Grundsätzlich kann man alles machen, man darf nur andere nicht verletzen.“ L: „Richtig. Ich denke, man kann alles machen, was die Mitmenschen akzeptieren können, dann gehört es zum Richtigen.“ S: „Woher wisst ihr, was richtig ist?“ L: „Das wird uns schon zu Hause beigebracht, was man machen sollte, was nicht. Sie haben im Laufe ihres Lebens Erfahrungen gemacht und geben weiter, was korrekt ist. Und dann kommt noch hinzu, was wir in der Schule gelernt haben.“ S: „Warum gibt es dann immer noch Schlechtes?“ L: „Das hängt vom Lebensumfeld ab, die Lebenserfahrungen sind nicht gleich. Wir gehören zu einem familiären Umfeld, das ziemlich gut ist. Auch in den Lebenserfahrungen haben wir keine zu großen Rückschläge erlitten. Wir gehören zu den erfolgreichen, deswegen sind wir nicht allzu schlecht.“ […] Z: „Wir können mit Konfuzius und Menzius nichts mehr anfangen, das ist zu abstrakt.“

Ma Yan „Chinesen gehen den Weg der Mitte. Was andere Menschen mir nicht antun, das tue ich ihnen auch nicht an. Das ist vielleicht etwas frei formuliert, mittig halt, nicht links, nicht rechts. Sehr viele Westler drücken ihre Wünsche und Ansichten sehr klar aus, machen ihren Standpunkt sehr klar. Die meisten Chinesen reden über solche Dinge nur im Kreis der Familie, vielleicht über bestimmte Ansichten anderer oder über Ideen. Natürlich beschränkt sich das nur auf sehr persönliche Belange, auf sehr persönliche Ansichten. Das wird nicht nach Außen getragen. Das ist ein grundlegendes Prinzip der Chinesen. Das ist nichts Besonderes, wir mögen es nur nicht so, unsere Persönlichkeit nach Außen zu tragen.“

Ling Jiaqing „Auf Vater und Mutter hören, auf den Lehrer hören. Alles, was die Lehrer in der Schule sagen, ist richtig. Ich denke, so geht das schon.“

Meng Yingying „Moralvorstellungen sind dafür da, den Menschen zu hindern, sie zu brechen. Und ihn dazu zu bringen, für eine gerechte Sache einzutreten. Ich selbst bin ziemlich klein, kann so was nicht wirklich. Und schließlich braucht man noch das Gefühl für Richtig und Falsch, das muss klar sein. Einige Dinge sind einem vollkommen bewusst. Wenn ich von Bewusstsein rede, dann meine ich zum Beispiel, wenn ich einige Kinder sehe, die ihre Eltern

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vernachlässigen/sich nicht um sie kümmern. Ich meine keine kleinen Kinder, sondern Erwachsene, die sich nicht um ihre Eltern kümmern. Das ist mit Sicherheit nicht korrekt. Das chinesische Volk hat doch eine hervorragende moralische Tradition, die vorsieht, die alten Menschen zu pflegen und zu respektieren, das wird uns grundsätzlich von kleinauf beigebracht, das wurde schon in der Vergangenheit hochgeschätzt. Und, ein aufrechter Mensch zu sein, das Wichtigste, basiert auf dem Bewusstsein. […] Das haben mich meine Eltern gelehrt, das ist das erste, was sie mir beigebracht haben, was richtig ist und was falsch. Der Lehrer in der Schule hat es uns auch beigebracht. Und einige Sachen haben sich in mir selbst geformt. Das Wichtigste ist doch, dass jeder Mensch nach moralischer Perfektion strebt, dass jeder das in sich formt, andere Menschen können nur eine richtungsweisende Funktion einnehmen.“

Waidiren: Werte und Normen Peng Yongyang „Wenn Menschen auf dieser Welt leben, wenn du auf diese Welt kommst, für ein ganzes Leben, musst du dir erstens ein gutes Umfeld schaffen, einen guten Job suchen, zweitens musst du an deine Nachkommen denken. Das ist die Hauptsache, warum ich auf diese Welt gekommen bin. Erstens, nachdem du geboren wurdest, ziehen deine Eltern dich groß, bis du 18 Jahre alt bist. Danach musst du dein eigenes Leben beginnen, musst du selbst Geld verdienen. Da die meisten Chinesen Ambitionen haben, auch wenn sie ihr Ziel nicht erreichen, verlieren sie doch nicht ihre Ambitionen. D. h. ich will das unbedingt erreichen. Und wenn du dein eigenes Ziel erreicht hast, musst du es gut machen, danach musst du deinen Eltern helfen, dir selbst nützlich sein, danach musst du deiner Nachkommenschaft Nutzen bringen. Alles, wofür ich derzeit kämpfe, ist vollkommen, zu 100 % wegen dieser Überlegungen.“

Wendy Ding & Min Hao W: „Moralvorstellungen beinhalten sehr viel. Z.B. tue ich so, als wolle ich dir Gutes, aber hinter deinem Rücken erzähle ich dem Chef Schlechtes über dich, oder gegenüber anderen rede ich schlecht von dir. So etwas könnte ich definitiv nicht tun, egal, ob es sich um einen Freund handelt oder nicht. Ich kann so ein Verhalten nicht ertragen, aber es gibt viele, die aus anderen ihren Nutzen ziehen und sich selbst erhöhen und so die Dinge erreichen, die sie sich wünschen.“ M: „Ich denke, man muss bei allem gerecht sein. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Moral.“

Jimmy Yang „Meine Moralvorstellung ist, die Dinge zu machen, die ich machen sollte. Den Leuten zu helfen, die Hilfe benötigen. Ansonsten war es das.“

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Li Nan, Zheng Leibin & Wang Xin Z: „Gleichheit, am Wichtigsten ist Gleichheit zwischen den Menschen. Ich fordere Chancengleichheit.“ W: „Nicht den anderen antun, was man selbst auch nicht erleben möchte. Und man soll seine eigenen Ziele nicht aufgeben.“ L: „Kann sein, dass das schon in die Köpfe der Chinesen eingedrungen ist. (W lacht) Zum Beispiel die Alten zu respektieren und die Jungen zu hüten. Wenn ein kleines Kind andere so behandelt, wird es auch so behandelt. Bin ich gegenüber allen freundlich und moralisch, dann respektieren sie ganz natürlich die Dinge des Anderen, ebenso die Ansprüche und Rechte der anderen.“ S: „Findet ihr, dass Moral in unserer Gesellschaft wichtig ist?“ Z: „Sehr wichtig.“ L: „Sehr wichtig.“ S: „Warum?“ Z: „Weil das die Basis für die Entwicklung einer Gesellschaft ist. Nur mit einer guten Moral lässt sich eine gute Grundlage bilden. […] Und wir denken ja nicht nur an uns, sondern auch an unsere Folgegenerationen. Deswegen ist Moral das Grundsätzlichste. Recht, Politik, alle gründen auf der moralischen Basis.“ W: „Ich denke, Moral ist für den Menschen auch eine Art Fessel. Weil sie den Menschen sagt, was sie machen sollten und was sie nicht machen sollten, ist das eine Art Fessel der eigenen Fähigkeiten. Wenn es das alles nicht gäbe, wäre die Gesellschaft im Chaos und es würden viele Dinge auftreten, die besser nicht auftreten sollten. So beeinflusst das die Entwicklung der Menschheit. So denke ich.“

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4.4 Ein-Kind-Politik Familie wird mittlerweile in Shanghai meist als Kernfamilie definiert: Als zwei Ehepartner und ein Kind, da seit 1978 die Ein-Kind-Politik in chinesischen Großstädten vergleichsweise rigide durchgesetzt wird. Hinzu kommen die direkten Vorfahren bzw. Nachkommen, die in einer „Linie“ mit der Kernfamilie gesehen werden: Großeltern/Eltern und Kind plus Schwiegersohn und -tochter bzw. Schwiegereltern. Rein rechnerisch bildet sich nun erst maximal die zweite Generation Einzelkinder heraus. Selbst die untersuchte Generation wurde teilweise noch nicht von der neuen Gesetzgebung betroffen. So gibt es unter den 22 befragten Shanghairen vier Personen, die noch einen Bruder oder eine Schwester haben. In drei Fällen handelt es sich um den/die Zweitgeborene/n, die vor oder bis 1978 zur Welt gekommen sind. Bei Lu Jingjing haben die Eltern es in Kauf genommen, eine Strafe für die Geburt eines weiteren Kindes zu zahlen, da der Vater unbedingt einen Sohn haben wollte (Vgl. Lu Jingjing S.260). Dass Geburtenplanung in den Städten so erfolgreich durchgesetzt werden kann, liegt an mehreren Faktoren. Zunächst gilt das hukou-System, das die Einwohnerentwicklung kontrolliert. Auch kann es als schwierig angesehen werden, in einer Großstadt unbemerkt ein zweites Kind großzuziehen. Weitaus entscheidender dürfte allerdings die Tatsache sein, dass ein Stadtkind eher als Konsumeinheit denn als Produktionseinheit gewertet werden muss, das die Eltern vor nicht unerhebliche finanzielle Aufgaben stellt. Angesichts des Erfolgs dieser Politik, allerdings auch wegen der alarmierenden Vergreisung Shanghais, dürfen mittlerweile die ersten Familien, so denn beide Ehepartner Einzelkinder sind, ein zweites Kind bekommen. Bei den Waidiren, die an dieser Feldforschung teilgenommen haben, sieht das Ein-Kind-Verhältnis ganz anders aus. Hier sind nur zwei bis vier Einzelkinder 9 insgesamt dabei. Dies ist auf mangelnde Kontrollmöglichkeiten, aber auch auf etliche Ausnahmeregelungen zurückzuführen, die in den ländlichen Gebieten Chinas Geltung besitzen. Als ein wesentlicher Unterschied zwischen den Shanghairen und den Waidiren kann somit angeführt werden, dass die Shanghairen vorwiegend Einzelkinder sind, während fast alle Waidiren noch einen Bruder oder eine Schwester oder sogar mehrere Geschwister haben.

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Bei zwei Personen gibt es keine definitive Aussage dazu, ob sie Einzelkind sind oder noch Geschwister haben.

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Ein-Kind-Politik Shanghairen Connie S: „Du hast Glück, kein Einzelkind zu sein.“ C: „Ja, das ist ein echt glücklicher Umstand. Das hatte eindeutigen Einfluss auf meine Entwicklung, denn Einzelkinder denken weniger an andere/über andere nach. Dagegen, wenn du kein Einzelkind bist, denkst du über mehr nach.“

Li Yuwen & Zhao Jing S: „Wie ist eure Meinung zur Ein- Kind-Politik?“ L: „Ziemlich einsam, denn meine Eltern arbeiten ziemlich viel. Ich bin auch ziemlich beschäftigt. Normalerweise treffen wir gar nicht aufeinander, höchstens am Wochenende essen wir zusammen. Ansonsten gehe ich nur zum Schlafen nach Hause, um meine Kleidung zu wechseln. Wenn ich noch Geschwister hätte, dann wären auch noch junge Leute da, mit denen man reden kann, über Dinge, über die man mit den Eltern nicht unbedingt spricht.“ S: „Und du? Wie ist deine Meinung?“ Z: „Ich habe dazu keine Meinung. Denn von kleinauf haben wir mit Onkel und Tante zusammen gewohnt. Ich habe noch drei jüngere Cousinen, mit denen ich zusammen gewohnt habe. Deswegen fühle ich mich nicht wie ein Einzelkind. Außerdem ist unsere Beziehung jetzt immer noch sehr gut, wir haben eine Blutsverwandtschaft. Ich kenne nicht das Gefühl, Einzelkind zu sein, allein zu Hause bleiben zu müssen.“

Wang Jun S: „Was ist der Unterschied zwischen Einzelkindern und denen, die es nicht sind?“ W: „Ich glaube, es gibt keinen allzu großen Unterschied. Das ist hauptsächlich eine Frage der Politik, deshalb gibt es Einzelkinder. Aber mittlerweile geht das schon wieder.“ S: „Wenn du eine Frau findest, die auch Einzelkind ist, dann kannst du zwei Kinder haben.“ W: „Ja.“ S: „Wenn du so eine Frau findest, willst du dann ein oder zwei Kinder haben?“ W: „Das kommt darauf an, wie viele Kinder meine Frau will. Mir selbst ist das egal. Ich fand nur, dass ich als ich klein war, manchmal einsam war. Ansonsten gibt es nichts.“ S: „Du hast dich als Kind einsam gefühlt?“ W: „Ja, weil zu Hause nur ein Kind war. Wenn du draußen etwas unternehmen willst, musst du dir einen Mitschüler oder Kommilitonen suchen. Wenn man Gleichaltrige um sich hat, kann man mit ihnen über alles reden. Wenn ich eine

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Schwester oder einen Bruder hätte, könnte man über mehr reden. Ein bis zwei gehen, wenn es noch mehr sind, sind es halt noch mehr.“

Marie Chen „Dann noch die Probleme der chinesischen jungen Leute.“ S: „Was haben die für Probleme?“ M: „Weil es in China die Ein-Kind-Politik gibt, sind sie die Hoffnung ihrer Eltern. Denn die Elterngeneration, weil ihre Gesellschaft, weil in ihrer Generation sehr viele Leute keine gute Ausbildung bekommen haben, will damit nicht sagen, dass sie keine Fähigkeiten hätten, das war, weil es in der Gesellschaft viele Probleme gab, deswegen konnten sie keine ausreichende Ausbildung genießen. Aus diesem Grunde projizieren sie ihre Hoffnung auf ihre Kinder. Und weil es in jeder Familie nur ein Kind gibt, können sie [die Kinder] mit Gewissheit soviel Druck nicht ertragen. Sie haben zu Hause Druck, sie haben in der Schule Druck, deswegen haben sehr viele Jugendliche psychische Probleme. Sie wissen nicht, wie sie ihr psychisches Gleichgewicht erlangen können, wie sie sich selbst ausgleichen können, was sie selbst wollen, welche Wünsche sie haben und was die Wünsche der Eltern sind. Ganz viele junge Leute begehen Selbstmord, wenn sie keine guten Noten heimbringen. Das sind die Schattenseiten ihrer Psyche. Außerdem wissen sie nicht, wie sie mit anderen Menschen friedlich zusammenleben können, sie sind sehr egoistisch. Inmitten einer Gruppe oder eines Teams will jeder zum Anführer werden. Es gibt keinen Menschen, der den Wunsch hat, ein unbedeutender Teil des Ganzen zu sein. Deswegen wollen, grundsätzlich gesagt, alle chinesischen Studenten erfolgreich sein.“

Sam Zhang S: „Bist du ein Einzelkind?“ Z: „Ja.“ S: „Wie findest du es, Einzelkind zu sein?“ Z: „Kann ich nicht sagen, weil ich den Vergleich nicht habe, wie es mit Geschwistern wäre. Man sagt, dass Einzelkinder ziemlich von den Eltern abhängen, von Freunden.“

Lu Jingjing „Ich bin 1980 geboren, eigentlich 1979 nach chinesischer Rechnung. Da konnte man schon kein zweites Kind mehr bekommen, aber die Politik war noch nicht so streng. Damals hatte ich einen Zhejiang hukou. Später konnten wir Kinder nach Shanghai kommen, weil meine Mutter eine gebildete junge Frau war und Shanghairen. Damals war die Familienplanung noch nicht so strikt, deshalb war es kein großes Problem, noch ein Kind zu bekommen. Aber meine Eltern mussten Geld zahlen. Deshalb hätte ich nie gedacht, dass, wenn zwei Kinder da sind, eines so egoistisch werden könnte. Der Grund, warum meine Eltern noch ein zweites Kind wollten, war einmal, dass sie gerne einen Jungen

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haben wollten. Mein Vater hat gesagt, wenn sie gestorben sind, wollen sie nicht, dass ich ganz allein übrig bleibe. „So hast du einen Bruder, das ist gut.“ Ich glaube, die Art, wie unsere Eltern uns lieben, ist anders als im Ausland. Die Liebe der Chinesen äußert sich in Dingen, die sie tun. Sie würden niemals sagen, dass sie dich lieben, nicht so wie eure Eltern, die euch oft umarmen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Eltern unseretwegen sehr viel getan haben. Wirklich, manchmal denke ich, dass meine Eltern unseretwegen sehr viel gezahlt haben. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Liebe.“

Ein-Kind-Politik Waidiren Li Nan, Zheng Leibin, Wang Xin S: „Seid ihr alle Einzelkinder?“ L: „Ich nicht. Ich habe noch einen älteren Bruder und eine ältere Schwester.“ W: „Ich auch nicht. Ich habe noch einen jüngeren Bruder.“ Z: „Ich ja.“ S: „Drei Kinder.“ L: „Ja, unsere Familie ist ziemlich groß.“ S: „Was habt ihr für eine Einstellung zur Ein-Kind-Politik?“ L: „Keine besondere.“ Z: „Ich wünschte, ich hätte eine ältere Schwester. (W lacht) Ich möchte nicht nur allein sein.“ S: „Zwei Kinder, drei Kinder…Gab es früher keine Probleme wegen der EinKind-Politik?“ L: „Was für Probleme meinst du?“ S: „Wegen der Politik.“ L: „Ja, ja, ja. Das wurde gerade eingeführt. Ich bin ´79 geboren. Wäre ich 1980 geboren, wäre das was anderes gewesen, dann hätte es mich nicht gegeben (alle lachen). Das war Zufall, ich finde, ich habe Glück gehabt.“ S: „Und bei dir? Dein jüngerer Bruder?“ W: „Mein Bruder gehört zu den gesetzlich Geborenen (lacht), denn die Arbeit meines Vaters war recht speziell, denn er hat Polizeiarbeit gemacht, ziemlich gefährliche Arbeit, deswegen hat die Politik erlaubt, dass er noch ein Kind bekommt.“ S: „Ach so.“ L: „Ich habe davon auch das erste Mal gehört.“

Peng Yongyang S: „Was denkst du über die Ein-Kind-Politik?“ P: „Ich habe noch eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder, Wir sind drei Kinder. Ich bin der Älteste, mein jüngerer Bruder ist auch in Shanghai. Ich selbst habe nie darüber nachgedacht, mehrere Kinder zu haben, eins genügt, denn jetzt stellt China Jungen und Mädchen gleich. Einige sind wahr-

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scheinlich immer noch traditionell, wollen einen Jungen, sehr viele. Das ist wohl Tradition, das kann man nicht ändern. Grundsätzlich möchte ich nur ein Kind, das hat sich bei mir schon so herauskristallisiert. Das Resultat zweier Menschen.“ S: „Hatten deine Eltern Probleme, weil sie drei Kinder haben?“ P: „Ach, sie waren damals ziemlich abgelegen. Wir waren damals so viele Kinder, erst als ich gerade auf die Mittelschule kam, wurde die Familienplanung streng. Bis dahin war das bei uns ganz normal, drei bis vier Kinder zu haben, an die 80 % der Familien hatten drei Kinder.“

Liu Songwei S: „Wie kommt es, dass ihr trotz Ein-Kind-Politik zwei Geschwister seid?“ L: „In dem Alter zwei, drei Kinder zu bekommen, war kein Problem. Jüngere Frauen als meine Mutter dürfen nur ein Kind haben. Bei uns auf dem Dorf ist es so, dass wenn das Erstgeborene ein Mädchen ist, dann darfst du noch eins haben. Wenn das Erstgeborene ein Junge ist, dann darfst du keins mehr haben. Willst du doch noch eins haben, muss das heimlich passieren, die chinesische Regierung will, dass dafür ein Geldbetrag von ihnen gezahlt wird.“

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VI Schlus sbe tra c htung

Trotz der Verschiedenheit der Interviewteilnehmer und ihrer Aussagen lassen sich neben den schon erwähnten Hypothesen zu Generationenkonflikten und zu den Differenzen zwischen Shanghairen und Waidiren Wesensmerkmale nachzeichnen, die eine Existenz im ecdynamischen Raum Shanghai grundsätzlich mit sich bringt.1 Entkoppelt von Unterschieden der Herkunft, der Ausbildung und des Geschlechts rückt eine zentrale Aussage bei allen Interviewten immer wieder in den Vordergrund: Shanghai wird sich nicht für dich ändern. Du musst dich für Shanghai ändern. Dieser Satz stammt von der 27-jährigen Daisy Ding, die sich dem Dilemma gegenüber sieht, zwischen der Traditionalität des Elternhauses und eigener Lebensplanung entscheiden zu müssen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sie sich in folgendem Konflikt: Soll sie zugunsten der Familie und sozialer und wirtschaftlicher Erwägungen den ungeliebten Sohn der Freundin ihrer Mutter heiraten oder sich selbst nicht opfern für eine Status-Verbindung, die so gut [nach Shanghai] passt, und zu ihrem ehemaligen Freund aus der Provinz Jiangsu zurückkehren? Aus ih1

Noch einmal muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Interpretation vorangegangener Aussagen nur um die Interpretation bestreitbarer Repräsentationen handeln kann. Keinesfalls sollen sie als repräsentativ für die Shanghaier Gesellschaft gewertet werden. Jedoch können den Ergebnissen dieser Studie allgemeine Grundtendenzen entnommen werden.

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ren Beschreibungen wird die persönliche Betroffenheit deutlich, und es lassen sich zwei Aspekte herauslesen, die für alle Interviewpartner zutreffen: Erstens der Druck, den das Umfeld Shanghai in allen Instanzen des Lebens auf die jungen Leute ausübt, zweitens die Kluft, die teilweise zwischen den Erwartungen der Eltern und eigenen Wünschen liegt bzw. die Kluft zwischen den Ansichten von Eltern und Kindern. Shanghai steht in diesem Zitat stellvertretend für alle Konstellationen, auf die im ecdynamischen Raum Rücksicht genommen werden muss. Dazu gehört für die jungen Shanghairen auch die Familie, weil sie sich zwischen ecdynamischem Raum (außen/wai) und Familie (innen/nei) befinden und jeweils mit beiden interagieren. Die Anforderungen und Erwartungen von Familie und ecdynamischem Raum unterscheiden sich teilweise so extrem voneinander, dass es kaum möglich erscheint, Schnittpunkte zwischen beiden zu finden. In diesem Forschungskontext lassen sich unterschiedliche Vorgehensweisen im Umgang mit dieser Problematik finden. Qiuqiu beispielsweise reflektiert die Unterschiede zwischen ihrer und der Generation ihrer Eltern. Sie berücksichtigt Erfahrungen und durchgemachte Bitterkeiten ihrer Eltern und versucht, einen Ausgleich zwischen beiden Generationen zu schaffen, damit ihre Eltern lernen, sie zu verstehen (vgl. Qiuqiu S.170). Durch dieses Bemühen um gegenseitiges Verständnis hätten sie kaum Probleme und kämen recht gut miteinander aus. Lu Jingjing hingegen hat in der Auseinandersetzung mit ihren Eltern keine offenen Gegenüber, die versuchen wollen, sie zu verstehen. Sie sah sich gezwungen, einen Bruch mit ihnen in Kauf zu nehmen, um so ihre eigene Lebensplanung, nämlich den Auszug aus der elterlichen Wohnung, verwirklichen zu können. Sie ist in der Reihe der Shanghaier Befragten die Einzige, die diesen Schritt gewagt hat und alle damit verbundenen Konsequenzen wie Streit mit den Eltern, tägliche Telefonkontrollen und permanente Rechtfertigung eines als pietätlos empfundenen Handelns auf sich genommen und über ein Jahr lang durchgestanden hat. In ihrem Fall fiel die Entscheidung für ein selbständiges Leben im ecdynamischen Raum, und sie riskierte damit bewusst einen familiären Eklat. Als Konsequenz aus der Anpassung an den neuen Lebenskontext folgte die Entfremdung von der eigenen Familie (vgl. Lu Jingjing S. 170-173). Sam Zhang dagegen scheint keine Probleme gehabt zu haben, bei den Eltern auszuziehen, was sicherlich auf den Umstand zurückzuführen ist, dass er sein Studium schon fern von Zuhause in Nanjing absolviert hat und seine Eltern sich an diese Situation gewöhnen konnten. Andere Shanghairen, die ihr Verhältnis zu den Eltern schildern, bekunden keine außergewöhnlichen Konflikte mit ihnen. Jedoch sehen sie

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fast ausnahmslos in dem Generationenunterschied eine Problematik, auf die sie einzugehen gezwungen sind, sei es aus Pietätsgründen (vgl. Zhao Jing S.177), sei es, um Konflikte zu vermeiden, aus Gehorsamkeit (vgl. Xu Hongwei S.168f.) gegenüber den Eltern oder einfach aufgrund dessen, dass ihre sowohl finanzielle als auch psychische Abhängigkeit (vgl. Xu Hongwei S. 229, Ren Dongqing S. 173 und S. 230f., Connie Peng S.179) sehr groß ist. Ein weiteres Phänomen, das sich in der großen Diskrepanz zwischen Eltern und Kindern widerspiegelt, ist die Tatsache, dass vorwiegend nur unverfängliche, oberflächliche oder aktuelle Themen angesprochen und ausgehandelt werden. Sobald es um die Gefühlsebene der Jugendlichen geht oder um Fragestellungen und Probleme, die moderne Themen betreffen, werden die Eltern nicht mit einbezogen (Zhao Jing S. 187). Die Eltern werden höchstens aus Respekt um Rat gefragt (Zheng Leibin S. 209f.). Geben Eltern von sich aus Ratschläge, so wird zumindest gesagt, dass gründlich darüber nachgedacht würde (Ma Yan S.174). Auf der einen Seite steht hier respektvolles Einbeziehen der Eltern ins Alltagsleben, auf der anderen Seite das grundsätzliche Absprechen eines weitergehenden Verständnisses für alle Fragen, die über das Voraussehbare hinausgehen. Ergebnis ist ein Beieinander, das der Logik des geringsten Widerstandes folgt und das Harmonie als höchstes Gut anstrebt. Häufig endet diese Einstellung nicht nur bei einem Nichteinbezug der Eltern, sondern da, wo sich die Kinder nicht dem Willen der Eltern beugen wollen, mündet sie im Erzählen von Lügen, damit die Eltern nicht enttäuscht werden, ihre Ansprüche erfüllt werden, Konflikten ausgewichen wird oder aber dass schlicht nicht zutage tritt, was die Eltern als inakzeptabel auffassen würden. Daisy beispielsweise fing an zu lügen, um nicht geschlagen zu werden. Daraus entspann sich ein Lügengewebe, das das Miteinander mit den Eltern kompliziert und nicht offen werden lässt (Daisy Ding S. 227). Lu Jingjing lügt, um Streit zu vermeiden und weiß genau, dass sie sich, wie Daisy, nicht erwischen lassen darf (Lu Jingjing S. 171). Vicky, Sam Zhang und Ren Dongqing hingegen belügen ihre Eltern nicht, sondern verschweigen: Vicky erzählt nicht, dass sie einen Freund hat (S. 203), Sam Zhang verschweigt seine Homosexualität vor den Eltern und hofft, dass sie es irgendwann von selbst herausfinden (S. 241) und Ren Dongqing erzählt, dass die jungen Leute schon viele von außen kommende Dinge aufnehmen und prinzipiell einen vorehelichen Zusammenzug mit der Freundin akzeptieren, man dürfe nur die Eltern nichts davon wissen lassen. (Ren Dongqing S. 197). Den Eltern wird nur ein begrenztes Akzeptanzvermögen zugetraut und alles, was darüber hinausgeht, lieber von vornherein nicht thematisiert. Die entwi-

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ckelten Strategien des Smalltalks, Lügens und Verschweigens sind Ausdruck von Passivität und Hilflosigkeit gegenüber der elterlichen Autorität. Alle fast ausschließlich Einzelkinder, empfinden die jungen Shanghairen enormen Druck, da auf ihnen sämtliche Hoffnungen der Eltern lasten. Gute Ausbildung, erfolgreiches Studium, ein guter Arbeitsplatz sind nur einige der Forderungen. Die weiblichen Shanghairen sollen frühzeitig einen passenden Ehemann finden, denn erst mit einer Heirat geben die Eltern traditionell ihre Verantwortung für ihr Kind ab. Die Shanghaier Männer müssen im Beruf erfolgreich sein, um überhaupt heiraten zu können, sie müssen genügend Verantwortung für eine Familie übernehmen können, wozu unter anderem der Kauf einer eigenen Wohnung gehört. Druck existiert auch von daher, in das relativ enge Normenkorsett der Eltern zu passen und gleichzeitig von den sich bietenden neuen Möglichkeiten zu profitieren. Grundsätzlich handelt es sich bei den Shanghairen weniger um existenzielle Fragen, die den Druck erzeugen, sondern um solche, die durch das recht enge und bindende familiäre und gesellschaftliche Gefüge entstehen, in dem sich Shanghairen aufgrund ihrer Herkunft befinden. Zudem bringt ein Zusammenleben mit den Eltern, obwohl das Erwachsenenalter der Kinder mit dem Eintritt in die Gesellschaft, sprich dem Berufsleben, schon erreicht ist, Reibungspunkte mit sich, da die Eltern aufgrund der Dichte der Beziehungen nicht anerkennen würden, dass ihre Kinder schon erwachsen sind (Daisy Ding S. 226, Ren Dongqing S.173). Sich aus der Eltern-Kind-Konstellation zu lösen, sei nur möglich, wenn man heiratet und eine eigene Familie gründet, erst dann gäben Eltern ihre Verantwortung ab (Meng Yingying S. 176, Ren Dongqing S. 173). Zum einen sind es finanzielle Faktoren, die das lange Zusammenwohnen bedingen, zum anderen, so sagt Ma Yan, sei dies der Weg, den die Chinesen gehen, es sei schon seit Generationen so. Vicky ist überzeugt, dass Distanz Gutes schaffe, wobei sie auf die Beziehung zu ihrem Vater anspielt, mit dem sie nie zusammen gewohnt hat, weil die Ehe ihrer Eltern früh scheiterte. Distanz lässt die Menschen eine gute Beziehung wahren. Jeder hat seine eigenen Ansichten, jeder sein Maß an Freiheit. Mit ihrer Mutter trägt sie Kontroversen aus, führt dies aber nicht nur auf die Nähe zu ihr zurück, sondern auch auf deren starke Traditionalität (Vicky S. 186). Waidiren bestätigen, dass das familiäre Verhältnis besser würde, bestehe Distanz zwischen Eltern und Kindern. Allerdings sei es für die Familien aus ländlichen Regionen Normalität, dass die Kinder nach Beendigung

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der Schulzeit zum Studium weggehen oder sich draußen eine Arbeit suchen. Studenten kehren für gewöhnlich nur zwei Mal im Jahr in den Semesterferien nach Hause zurück, die arbeitenden jungen Leute häufig nur zum chinesischen Frühlingsfest. Mit dem Auszug von Zuhause findet bei den Waidiren der Schritt ins Erwachsenenleben statt, im Grunde ähnlich den Shanghairen, nur dass diese erst ausziehen, wenn sie heiraten. Die Selbständigkeit ist somit bei den Waidiren vorverlagert. Auch auf ihnen lastet ein enormer Druck. Dieser setzt schon während der Schulzeit ein, da auf dem Land die größte Chance, später Erfolg zu haben, darin liegt, einen Studienplatz auf einer der berühmten Universitäten Chinas zu bekommen (Meng Yingying S. 148f.). Da in China heute die Aufnahmekapazität der Universitäten für nur etwa zwanzig Prozent der Schulabgänger ausreicht, werden die Hochschulaufnahmeprüfungen als vergleichbar schwere Hürde konzipiert. Bezeichnend ist, dass nur etwa die Hälfte aller chinesischen Studenten aus ländlichen Regionen stammt. Um einen Studienplatz an einer der begehrten Universitäten zu erlangen, ist eine überdurchschnittlich gute Abschlussnote Voraussetzung. Als Beste/r der gesamten Provinz ist ein Zugang garantiert, als Beste/r einer Schule auf jeden Fall möglich. In China hoffen alle Eltern, dass ihre Kinder auf eine Universität kommen (Zheng Leibin S. 181) und entsprechend hoch sind die Anforderungen der Eltern und der Druck, der auf den Kindern lastet. Demgemäß mag es nicht erstaunlich sein, dass zur Zeit der jährlichen Aufnahmeprüfungen die Selbstmordraten der Schüler dramatisch ansteigen. Auf der anderen Seite sind es die Eltern, die das Schulgeld und Studiengebühren für ihre Kinder aufbringen müssen, und das unter teilweise schweren Bedingungen. Einige Eltern von heute in Shanghai erfolgreichen Waidiren sind einfache Bauern oder ungebildete Arbeiter (Eltern von Min Hao, Zhang Jixiao, Chen Chunzhao und Cai Zhihong). Bei ihnen und auch bei den Interviewpartnern, die nicht studiert haben, ist das Bewusstsein, den Eltern Dank zu schulden, ausgeprägt: Mein Vater hat mit viel Schweiß bezahlt (Lin Xiaoke S. 181). Das Leben und die Arbeit der Eltern seien echt hart gewesen (Ye Yiqun, Liu Songwei, beide S. 183). Ye Yiqun will nicht, dass sein Vater das Geld, das er in die Ausbildung seines Sohnes investierte, verschwendet hat und suchte sich deshalb eine Arbeit als Masseur. Auffällig ist, dass bei den Waidiren ein größeres Verantwortungsgefühl gegenüber den Eltern existiert, als dies bei den Shanghairen der Fall ist. Fast alle sind von dem Wunsch beseelt, ihren Eltern einen angenehmen Lebensabend ermöglichen zu können, sei es, dass sie sie irgendwann nach Shanghai holen oder sie finanziell unterstützen wollen.

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Dies scheint fest an den Vergleich gekoppelt, wie gut das Leben in einer Großstadt und wie hart das Leben auf dem Land ist. Wendy Ding und ihr Ehemann Min Hao leben mit Wendys Vater zusammen, da sie ihn nach dem Tod ihrer Mutter nicht allein lassen wollte. Ein Altersheim kam für sie nicht in Frage, da das nicht pietätvoll gegenüber den Eltern sei, obwohl ihre eigene Wohnsituation in einer Wohnung mit einem Schlafzimmer und einem zehn Quadratmeter kleinen Wohnzimmer für ein Zusammenleben Einschränkungen bedeutet (Wendy Ding S. 182). Eine weitere Parallele zu dem Verhalten der Shanghairen kann in dem Verschweigen von Unannehmlichkeiten gesehen werden, allerdings eher aus der räumlichen Distanz zu den Eltern zu erklären, denn aus der persönlichen Distanz. Erzähle nur das Gute und halte das Schlechte zurück. Oder spiel das Schlechte so weit herunter, als würde es überhaupt nichts ausmachen. Begründet wird diese Haltung damit, Rücksicht auf die Eltern nehmen zu wollen, da sie nicht in der Lage seien, ihnen zu helfen, weil sie erstens nicht die geringste Vorstellung vom Großstadtleben hätten, teilweise hunderte Kilometer entfernt lebten und dass sie sie deswegen gar nicht erst beunruhigen und unter Druck setzen wollten (Cai Zhihong und Zhu Miaomiao S. 184f., Xiuxiu S. 185). Zudem führt Xiuxiu an, dass unsere Eltern schon ihr Leben lang gelitten haben, da will man ihnen nicht noch mehr Sorgen bereiten. Es gibt aber auch Arten des Verschweigens, die auf ausgeprägte Selbständigkeit hinweisen, nämlich komplett eigenständige Lebensplanung beispielsweise, in die die Eltern nicht mit einbezogen werden, wie die Pläne Jin Jings, mit ihrem Freund zusammenzuziehen und erst später über eine Heirat nachzudenken (Jin Jing S. 220). Auch bei Cai Zhihong verhielt es sich vor ihrer Heirat so, dass sie schon lange mit ihrem Freund in dessen Wohnung zusammenlebte. Sie sagt, dass Eltern heutzutage wüssten, woher sie ihre Informationen beziehen und wann sie sich einmischen sollten, was sie dann letztendlich auch taten, bis Cai Zhihong heiratete (Cai Zhihong S. 217). Die Waidiren, die sich schon seit längerer Zeit in Shanghai aufhalten, sehen das Stadtleben als vorteilhaft an und möchten größtenteils nicht wieder nach Hause zurück. Die Studenten unter ihnen sehen gute Berufschancen für sich und sagen auch, dass Shanghai für sie mittlerweile zu einer zweiten Heimat geworden sei (Wang Xin S. 262). Das Umfeld sei besser (Zheng Leibin S. 260), sie seien das Leben in ihrer Heimat nicht mehr gewöhnt (Chen Chunzhao S. 128, Jin Jing S. 129), da sie sich schon an den Shanghaier Lebensrhythmus gewöhnt hätten. Xiuxiu, obwohl in Shanghai vor existenzielle Probleme gestellt, sagt

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sich, dass sie doch lieber alles riskieren wolle, bevor sie nach Hause zurückkehre, da sie dort keine Perspektive für sich sähe (Xiuxiu S. 155). Der Druck, der auf den Waidiren lastet, nachdem sie in Shanghai zum Studium zugelassen wurden und nachdem sie auf Arbeitsuche nach Shanghai gekommen sind, ist von anderer Natur als der der Shanghaier Befragten. Der Druck, den sie verspüren, ist vor allem als existenziell zu beschrieben: Dadurch, dass sie keinen familiären Rückhalt in Shanghai haben, müssen sie dort allein Fuß fassen (Xiuxiu S. 156, Ye Yiqun S. 127, Liu Songwei S. 263 und 265). Das beinhaltet den Erwerb eines hukou, die Suche nach einem Arbeitsplatz und damit Lebenssicherung, denn ohne hukou gibt es keinen Arbeitsplatz, ohne Arbeitsplatz keinen Lohn, ohne Lohn weder Unterkunftsmöglichkeit noch Nahrungsmittel. Effektiv muss ein Waidiren mehr Geld verdienen als ein Shanghairen, um in Shanghai überleben zu können (Meng Yingying S. 148, Ma Yan S. 145f., Wang Jun S. 149, Xiuxiu S. 157). Da für ihn/sie keine familiären Rückzugsmöglichkeiten im ecdynamischen Raum bestehen, sollte er/sie beruflich scheitern, bleibt keine andere Möglichkeit, als in die Heimat zurückzukehren oder von vorn zu beginnen. Der Shanghairen Sam Zhang beschreibt den Unterschied so: Sollte er arbeitslos werden, könnte er bei seinen Eltern unterkommen und bei ihnen essen, bis er eine neue Arbeit gefunden hätte und bräuchte während dieser Zeit keine Miete zu zahlen (Sam Zhang S. 150f.). Außerdem helfen den Shanghairen die Vertrautheit mit dem System und das soziale Netz, in dem sie sich bewegen können. Wird eine Empfehlung für jemanden ausgesprochen, so bekommt er/sie meist problemlos eine Arbeitsstelle (Sam Zhang S. 257, Daisy S. 258, Coco S. 117). Jemand von Außerhalb hingegen muss auf all jene Annehmlichkeiten bzw. Sicherheiten verzichten und durch gute Leistungen überzeugen (Ye Yiqun S. 263). Dessen sind sich alle bewusst. Geleitet von der positiven Einstellung, dass Shanghai jedem eine Chance böte oder Glück bringe, liefert Ye Yiqun für die eigentlich von allen als unausgeglichen empfundene Chancenverteilung zwischen Shanghairen und Waidiren eine ins Positive gekehrte These: Wenn es sehr viele Straßen gibt, weißt du vielleicht nicht, in welche Richtung du gehen sollst. In jeder Straße scheint die Sonne. Gehst du in die eine Straße, bemerkst du, dass sie gerade umgebaut wird und kehrst um, du hast Zeit verschwendet und erkennst vielleicht, dass die rückwärtige Straße nicht mehr existiert. Wir Waidiren, die nach Shanghai kommen, müssen nur an einem Glauben festhalten und die eine Chance ergreifen, das reicht schon. (Ye Yiqun S. 153f.)

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Seine Behauptung scheint in einigen Fällen zuzutreffen. Während die Waidiren größtenteils für ihren Lebensunterhalt und für den hukou arbeiten müssen (Yan Beibei S. 114, Wendy Ding S. 261), so gehen vor allem die Shanghaier Frauen mit dem Thema Arbeit relativ unbeschwert um: Marie ist gelernte Bankkaufrau. Da ihr die Arbeit nicht liegt, studiert sie lieber Französisch auf Kosten der Eltern. Qiuqiu macht mal hier einen Gelegenheitsjob, mal dort, je nachdem wie viel Lust sie dazu hat. Lu Jingjing hat kurz nach dem Interview ihre Arbeit gekündigt und ist einen Monat auf Rundreise durch Hunan gegangen, um sich, wie sie sagt, darüber klar zu werden, was sie mit ihrem Leben machen wolle. Daisy findet ihre Arbeit mittlerweile langweilig und denkt an einen Wechsel. Coco versucht sich in mehreren Nebenjobs gleichzeitig. Zhao Jing empfindet ihre Arbeit als Ärztin zu belastend und ist deshalb unzufrieden. Vicky absolviert ein Praktikum und lässt sich von den Eltern Französisch-Unterricht finanzieren. Dieses Verhalten ist darauf zurückzuführen, dass der jeweilige familiäre Rückhalt Sicherheiten schafft. Teilweise handelt es sich auch um eine Phase des freien Austestens, die vor einer Heirat genutzt wird bzw. in der noch vor einer Heirat eine Weiterentwicklung erreicht werden muss (Li Yuwen S. 200) und danach in einem Hausfrauendasein enden könnte, wie Daisy andeutet (Daisy Ding S. 206f.). Auch Zhao Jing beschreibt das typische chinesische Eheleben so, dass die Frau innen lebe und der Ehemann draußen kämpfen müsse (Zhao Jing S. 201f.). Die Arbeitslandschaft Shanghai ist geprägt von einer Atmosphäre der Dynamik und der Konkurrenz. Landesweit steigen die Zahlen der Hochschulabsolventen ständig an. 2004 fanden 14 % von ihnen keinen Arbeitsplatz. Fünf Jahre zuvor waren es nur 8 %.2 Gleichzeitig sinkt die allgemeine Beschäftigungselastizität, das heißt, trotz permanenten Wirtschaftswachstums werden durchschnittlich weniger neue Arbeitsplätze pro Prozent Wachstum geschaffen. Diese diametralen Entwicklungen sind für eine allgemeine Verschärfung der Arbeitsmarktsituation verantwortlich. Heute ist ein Universitätsabschluss in Shanghai keine Garantie mehr für einen guten Arbeitsplatz und ein hohes Einkommen (vgl. Tabelle 3 S. 250ff.). Der Wettkampf, der Überlebenskampf, der Lebensrhythmus ist sehr schnell, denn es gibt nur wenige Chancen, aber wenn du dich anstrengst und strebst, dann reicht das. (Connie Peng S. 259) Connies Einschätzung, dass die Konkurrenz groß sei, wird von allen geteilt. Allerdings 2

CHINA aktuell 4/2005, S.85.

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kann auch bei ihr als Shanghairen herausgelesen werden, dass sie nicht aus einer existenziell bedrohlichen Situation heraus argumentiert. Diese Einstellung ist den Shanghairen insgesamt zu Eigen. Wünsche wie die nach einem bequemen Leben mit „white-collar“ Arbeiten (Daisy Ding S. 139) oder nach einer kleinen Familie, erscheinen aus der Perspektive der Waidiren als Merkmale eines sich herausbildenden genügsamen Kleinbürgertums (Marie Chen S. 145). Ihrer Meinung nach seien Shanghaier nicht leidensfähig und würden nicht nach Großem streben (Meng Yingying S. 148, Marie Chen S. 205). Teilweise bestätigen dies einige Shanghaier Männer wie Ma Yan (S. 196), Ren Dongqing, Xu Hongwei und Wang Jun, die nach eigenen Aussagen keine besondere Karriere anstrebten, Hauptsache, sie hätten eine glückliche Familie und ihr Auskommen. Es erscheint aus der Perspektive der Waidiren verständlich, wenn sie im Vergleich die Einstellungen der Shanghairen als Bequemlichkeit auslegen. Sie können sich eine derartige Haltung nicht leisten, da sie keine vergleichbaren Rückhalte in Shanghai vorzuweisen haben. Ihre Anstrengungen sind auf eine notwendige Sicherung des Lebensunterhaltes gerichtet, immer mit dem Blick in die nähere Zukunft, in der das Leben in Shanghai auch weiterhin gewährleistet sein soll. Jene Waidiren, die keine universitäre Ausbildung erworben haben, müssen die größten existenziellen Hürden nehmen. Sie sind darauf angewiesen, eine Stelle in ihrem Berufsfeld zu bekommen. Verfügen sie über keine speziellen Qualifikationen, so müssen sie sich ihre Nischen suchen, in denen sie erfolgreich ihren Lebensunterhalt bestreiten können. DVD hat solch eine Nische gefunden. Sie verkauft nachts gefälschte Markenartikel zumeist an ausländische Touristen oder Expatriates, von denen sie je nach Verhandlungsgeschick ein Vielfaches des Herstellungspreises herausschlägt. Nach Abzug aller Aufwendungen bleibt das für sie ein äußerst lukratives Geschäft, trotz der Gefahr, von der Polizei aufgegriffen zu werden, denn ihr Geschäft ist illegal, aber meist geduldet. Mittlerweile ist sie Eigentümerin dreier Stadtwohnungen in Shanghai und damit bei weitem die wohlhabendste Person unter allen Interviewpartnern. Für sie ist die Existenz in Shanghai auf Dauer gesichert. Wang Shuhua und Lan Qian, die versuchen, bei Amway ihren Weg zu machen, sind im Endeffekt gescheitert. Nachdem ihre Geldreserven aufgebraucht waren und Amway sich doch nicht als die viel versprechende Karrierealternative herausstellte, wie sie hofften, gab es keine andere Möglichkeit, als nach Hause in ihre Heimatprovinzen zurückzukehren. Xiuxiu, die sich schon als Händlerin auf dem Xiangyang-Markt über längere Zeit beweisen konnte, ist im ecdynamischen Raum hingegen nicht gescheitert, sondern organisiert bei Amway Lehrveranstaltun-

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gen im großen Rahmen. (vgl. Kapitel V.2.3.a S. 155ff. ). Hier zeigt sich, dass ein Überleben im ecdynamischen Raum Flexibilität und Ausdauer fordert. Xiuxiu, die gelernt hat, sich stets eine Alternative (Xiuxiu S. 162f.) bereit zu halten, besitzt beide Eigenschaften und hat damit Erfolg. Einem geregelten Beruf nachgehende, wenig gebildete Waidiren arbeiten im Verhältnis übermäßig viel: Mit einer 70- bis 84-stündigen Arbeitswoche leisten sie fast das doppelte Pensum der meisten Shanghairen und der in einem gesicherten Arbeitsverhältnis stehenden hoch qualifizierten Waidiren (vgl. Tabelle 3 S. 250ff.). Liu Songwei bemerkt in diesem Zusammenhang: Ich habe bemerkt, dass man sehr wenig Zeit hat, um Spaß zu haben, aber egal, ich wünsche mir auch eine gute Arbeit. So ist das Leben realer (Liu Songwei S. 263). Auch Ye Yiqun sieht seine Chancen im Berufsleben realistisch: Wir müssen alles gut machen, denn wir sind nicht lange zur Schule gegangen (Ye Yiqun S. 263). Peng Yongyang führt auf einen inneren Drang zurück, dass er immer weiter bergauf läuft (Peng Yongyang S. 261), denn jeder kann in Shanghai ein kleiner Boss werden, oder ein großer Boss (Ye Yiqun S. 265). Und Jimmy Yang ist es egal, wie viel er verdient, er sei hergekommen, um Techniken zu erlernen. Der so genannte „Tellerwäschertraum“ ist in Shanghai allseits präsent. Dies ist ein wesentliches Merkmal des ecdynamischen Raumes. Das enorme Wachstum bietet Chancen. Zwar sind die Chancen mit existenziellen Risiken (vgl. Kapitel V.2.3.a S. 155ff.) verbunden, aber trotzdem gibt es genügend Glücksritter wie Xiuxiu, Peng Yongyang, Jimmy Yang, Liu Songwei, Ye Yiqun und Aiguo, die sich nicht davon abschrecken lassen und Shanghai als Sprungbrett sehen, auch wenn sie niemals vollkommen in Shanghai aufgehen könnten (Aiguo S. 130). Einige Waidiren, die sich in Shanghai eine Basis schaffen konnten, wie Cai Zhihong, Jin Jing und deren Ehemänner, sprechen von sich als xinshanghairen (ᄅՂ௧Գ), als Neuen Shanghairen (Cai Zhihong S. 133). Sie haben einen festen Arbeitsplatz, eine eigene Wohnung und ein stabiles Umfeld. Sie haben sich eigene lebensweltliche Strukturen im ecdynamischen Raum aufgebaut und sehen ihren Lebensmittelpunkt in Shanghai. Sie gehören zu der im Wachsen begriffenen Gruppe der dingke (ԭ‫)܌‬3, den relativ wohlhabenden berufstätigen jungen Ehepaaren. Beide Interviewpartnerinnen besitzen ein Auto, was für Shanghaier Verhältnisse eine sehr kostspielige Anschaffung ist. Beispielsweise zahlen Jin Jing und ihr Ehemann monatlich momentan genauso hohe Raten für ihr Auto wie für ihre Vier-Zimmer-Wohnung ab (Jin Jing S. 233).

3

DINK, double income – no kid.

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SCHLUSSBETRACHTUNG

Wendy Ding und Min Hao sind ebenfalls Wohnungseigentümer in Shanghai, jedoch sehen sie sich selbst nicht als Neue Shanghairen. Ihr Freundeskreis besteht ausschließlich aus Waidiren, die alle Hochchinesisch miteinander sprechen. Außer im Berufsleben gibt es bei ihnen keine ausgeprägten Berührungspunkte zu Shanghairen. Hier kann wiederum ein Merkmal aufgezeigt werden, das sich durchgängig durch die geschilderten Beziehungen zwischen Shanghairen und Waidiren verfolgen lässt: Vorwiegend sind die Beziehungen untereinander durch Stereotype und Vorurteile geprägt. Wiederholte Beobachtungen verdichten sich zum Typus und werden häufig grundsätzlicher Andersheit zugeschrieben. Damit werden unsichtbare Grenzen zwischen Shanghairen und Waidiren gezogen. Auf den ersten Blick lebt der ecdynamische Raum Shanghai von der Vielfalt seiner Bewohner und deren Durchmischung. Tatsächlich aber ist die Gesellschaft unübersehbar in kleine oder größere soziale Inseln aufgeteilt. Beispielsweise gibt es die Gruppen der Kommilitonen, die für viele eine wichtige Rolle spielen, oder die Gruppe der Arbeitskollegen. Es gibt die Gruppen der laoxiang (‫۔‬䢭), der Landsmänner, die sich aus Personen aus der gleichen Provinz zusammensetzen. Es gibt die homosexuelle Community, die Rockmusikfans, die Amway-Gemeinschaft, etc. Zudem existieren übergeordnete Gruppen wie Shanghairen und Waidiren. Über Zugehörigkeit zu diesen Gruppen wird explizit Gemeinsamkeit geschaffen. Jedoch findet sich im gesamten Forschungskontext keine zweckungebundene Verbindung zwischen Shanghairen und Waidiren. Immer wird die Kategorisierung Ich bin Shanghairen, sie sind Waidiren und umgekehrt genannt, immer manifestiert sich Differenz als WIR und SIE. Die Größe des Landes und die vollkommen unterschiedlichen Entwicklungsstadien von Siedlungsräumen, agrarischen und industriellen Nutzungen, unterschiedliche klimatische Zonen und damit verbundene ungleiche Lebensstile, zusammen mit einer Vielfalt von Dialekten, etc. zeichnen das Bild einer äußerst heterogenen chinesischen Bevölkerung. Von einigen Shanghairen werden regionale Stereotype zur Beschreibung von Waidiren angeführt, wie z.B. von Vicky Cao, die Waidiren aus dem Nordosten als barbarisch/unzivilisiert beschreibt (Vicky Cao S. 144). Kurz zuvor behauptet sie, Shanghairen seien sehr selbstbewusst, denn du bist Shanghairen und kein Waidiren. Derartige Aussagen zeugen von einer ausgeprägten Distinktion, und oftmals kann bei dem Verhältnis zwischen Shanghairen und Waidiren von teilweise großer innerkultureller Divergenz gesprochen werden, obwohl sie sich alle als Chinesen verstehen.

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SHANGHAI XXL

Bestätigt wird von einigen Waidiren, dass Shanghairen auf sie herabsehen würden (Wendy Ding S. 141f. und 154f., Peng Yongyang S. 261, Cai Zhihong S.151), und auch gestehen diese es indirekt ein, wenn sie sagen, man würde dies von den Shanghairen behaupten (Marie Chen S. 144, Sam Zhang S. 150, Meng Yingying S. 147f.). Die regionalen Stereotype und Vorurteile erfahren eine Relativierung durch leistungsbezogene bzw. ausbildungsbezogene Kategorisierungen und können nicht nur auf eine grundsätzlich waidirenfeindliche Haltung von Seiten der Shanghairen zurückgeführt werden. Das heißt, jene hervorragenden Waidiren, die für Shanghai von Nutzen sind und selbst eine Art Prestigeträger, werden anerkannt (Jin Jing S. 153, Vicky Cao S. 144, Sam Zhang S. 150, Cai Zhihong S. 151). Waidiren, die mindere Tätigkeiten ausüben, Wanderarbeiter beispielsweise, werden in die Kategorie der einen schlechten Einfluss ausübenden Ungebildeten geschoben (Meng Yingying S. 124 und 146, Ma Yan S. 145, Wendy Ding S. 152, Vicky Cao S. 144). Die Zwei-Klassen-Gesellschaft mit den Polen „gute Ausbildung“ Λ „schlechte bzw. keine Ausbildung“ wird bestätigt durch studierte, erfolgreiche Waidiren, die keine diskriminierenden Erfahrungen mit Shanghairen gemacht haben (Zheng Leibin und Wang Xin S. 155, Li Nan S. 141, Jin Jing S. 153, Cai Zhihong S. 151). Allerdings gibt es auch Grauzonen. Wendy Ding scheint etliche schlechte Erfahrungen mit Shanghairen und in Shanghai gemacht zu haben, da sie durchgängig ein recht negatives Bild der Shanghaier pflegt (Vgl. Wendy Ding S. 133, 154f., 290), obwohl sie und ihr Ehemann durchaus als erfolgreiche Waidiren bezeichnet werden können. Auch innerhalb der Shanghaier Gesellschaft gibt es gesellschaftliche oben/shang - unten/xia Typisierungen. So werden Neureiche, die keine Bildung besitzen, ebenso wenig anerkannt. Lu Jingjing und Qiuqiu beteuern, dass solche Leute nur das Ziel hätten, mit ihrem Verhalten andere zu kopieren, da das Leben dann Qualität habe (Lu Jingjing und Qiuqiu S. 130f.). Zhao Jing spricht Neureichen viel sozialen Status zu, sähe aber nicht zu ihnen auf, da sie keine Kultur hätten (Zhao Jing S. 284). Daisy Ding berichtet davon, dass ihre Eltern, dass China viel Wert auf das Zusammenpassen des sozialen und wirtschaftlichen Status lege. Ihr ehemaliger Freund passt nicht in die Vorstellungen von Daisys Eltern als Shanghaier Gelehrtenfamilie, und deshalb akzeptieren sie keinen boy from that province (Daisy Ding S. 224). Der neue Verlobte, Shanghaier, studiert und mit einem sehr gut bezahlten Arbeitsplatz, erfüllt die elterlichen Ansprüche an die Kongruenz des Status. Liebe spielt dabei keine Rolle (Daisy Ding S. 225).

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Insgesamt stellen sich die gesellschaftlichen Einflussfaktoren als ziemlich ausgeprägt dar. Gliedert man die Gesellschaft grob in „die Traditionellen“ (alt/lao) und „die Modernen“ (neu/xin), so kann die Elterngeneration den „Traditionellen“ zugeordnet werden und die Kindergeneration den „Modernen“. Obwohl es definitiv auf beiden Seiten Brüche und Überschneidungen gibt, gehen die Tendenzen doch eindeutig in Richtung dieser klaren Kategorisierung. Auch die Interviewpartner selbst nehmen es entsprechend wahr (vgl. u.a. Seite 185-190). Tabelle 4: Jeweilige Einflüsse auf die unterschiedlichen Generationen und damit prägende Merkmale, aus den Interviews zusammengeführt. Shanghai vor der Öffnung  Einfluss auf Elterngeneration (traditionell) Abgeschlossene Gesellschaft Einheitliche Sozialordnung Einheitliche Sinnwelt

ecdynamischer Raum Shanghai  Einfluss auf Kindergeneration (modern) Internationale Einflüsse auf alle Lebensbereiche Pluralisierte Sozialwelt

• Fragmentierte Sinnwelten • Orientierungslosigkeit • Unsicherheit

Werte und Normen sind verbindlich Vielfältige Entscheidungsoptionen Lebenslang gesicherter Arbeits• Harter Konkurrenzkampf platz, Wohngemeinschaft in fester • Anpassungsfähigkeit danwei • Keine Zeit, Besinnungslosigkeit • Verzicht/Aufopferung zuguns- Egoismus und Individualismus als existenzielle Notwendigkeit ten der Nachfolgegeneration

• Individuum zählt nicht Eingefahrenes Rollenverständnis Festes System „Bitterkeiten“ Politische Indoktrination

Multiple Rollenerwartungen je nach Kontext Schnelle Enttraditionalisierung Relativer Wohlstand Deutlicher Rückzug der Politik

Setzt man, wie in der Tabelle 4, das Shanghai vor der Öffnung dem heutigen ecdynamischen Shanghai gegenüber und damit die Elterngeneration der Kindergeneration, ist deutlich erkennbar, dass die prägenden Charakteristika einander fast vollkommen entgegengesetzt sind. Was aus dieser Gegenüberstellung ersichtlich wird, lässt sich grob vereinfacht folgendermaßen darstellen:

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Abbildung 18: Beeinflussungsmodell ecdynamischer Raum versus Elterngeneration.

ecdynamischer

Elterngeneration

Kindergeneration

Raum Shanghai

Es ergibt sich eine triadische Konstellation von Individuum (aus Kindergeneration), Gesellschaft (vorwiegend Elterngeneration) und ecdynamischem Raum Shanghai als ineinander greifende Dimensionen der gegenseitigen Beeinflussung. Dabei stehen die Individuen aus dieser Untersuchung genau zwischen den beiden Polen Elterngeneration und ecdynamischer Raum Shanghai. Erstmals gibt es seit der Reform und Öffnung einen gesellschaftlichen Teil, der sich innerhalb dieser beiden Polaritäten emanzipieren muss: Als kleinste soziale Einheit zwischen den Anforderungen des ecdynamischen Raumes und den traditionellen Ansprüchen der Eltern, ist das Individuum der stärksten Beeinflussung ausgesetzt. Zwar schicken die Eltern ihre Kinder hinaus in den ecdynamischen Raum (Schule, Universität, Beruf, etc), dargestellt durch den unteren Pfeil in Abbildung 18, nehmen aber im Gegenzug kaum selbst Impulse an, die sich aus diesem wieder zurückspiegeln, dargestellt durch den unterbrochenen oberen Pfeil vom ecdynamischen Raum Richtung Eltern. Das Individuum erhält Stimuli aus beiden Polaritäten und muss zwischen beiden verhandeln. Die Ansprüche des ecdynamischen Raumes unterscheiden sich teilweise radikal von denen des Elternhauses. Es kommt zu einer grundsätzlichen Zerrissenheit zwischen den Polen. Das Individuum, das für sich selbst den größtmöglichen Nutzen aus beiden Welten ziehen will, benötigt ein hohes Maß an Individualität, Selbstbewusstsein, Reflexion und Mut, denn eine Position in der Mitte verlangt einen permanenten Balanceakt, Zu- und Eingeständnisse. Ein erfolgreiches Ausbalancieren zwischen den beiden Polen ist ob der extremen Differenz mit Schwierigkeiten verbunden und zwingt das Individuum häufig dazu, sich zugunsten oder zuungunsten des einen oder anderen zu entscheiden. Je weiter ecdynamischer Raum und die Vorstellungen einflussreicher sozialer Gruppen auseinander driften, desto schwieriger

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SCHLUSSBETRACHTUNG

wird die vom Individuum zu leistende Entscheidung oder der Balanceakt zwischen beiden. Erschwerend kommt hinzu, dass die junge Generation als hybride Generation bezeichnet werden kann, denn während des größten Teils der Sozialisationsphasen haben die Eltern ihre Kinder geprägt, tradiertes Gedankengut, tradierte Moralvorstellungen weitergegeben und in den Köpfen die chinesischen Werte der kindlichen Pietät fest installiert. Nun, mit dem Eintritt in die Gesellschaft4, bekommt der ecdynamische Raum mehr und mehr Relevanz und führt durch seine den traditionellen Strukturen entgegen gesetzten Mechanismen zu allgemeiner Verunsicherung bei den jungen Leuten. Eins ist mir klar geworden. Das, was unsere Eltern uns beigebracht haben, ihr Einfluss, hat sich fortwährend in unserem Gehirn festgesetzt. Ich habe einige Dinge bemerkt, denn unsere Kommunikation ist mittlerweile sehr fortgeschritten. […] die Menge an Informationen, die wir bekommen, sind hundertmal mehr als damals. Das ist absolut anders als bei unseren Eltern damals. Und das, was du in der Schule lernst, ist wieder anders. Auf einmal weißt du nicht mehr, was richtig ist und was falsch. (Lu Jingjing S. 279) Mit der zunehmenden Bedeutung und Dominanz des ecdynamischen Raumes geht ein rasanter Enttraditionalisierungsprozess einher, der zu einer Infragestellung, zu Wandel und teilweisem Zerfall alter sinnstiftender Traditionen und Weltbilder bei den Jüngeren führt, während in den Köpfen der Älteren diese nach wie vor präsent sind und weiterhin gepflegt und gelebt werden. Für die Interviewten ergeben sich hier Unsicherheiten, denn besonders die Shanghairen leben in starker Abhängigkeit von ihren Eltern und sind verpflichtet, auf sie einzugehen. Durch das große Gefälle zwischen den Eltern und langsam einsetzendem Individualisierungsprozess bietet die Familie schließlich keine Stabilität mehr. Daisys Beispiel zeigt, zu welcher Zerrissenheit dieses Dilemma führen kann: Sie ist davon überzeugt, dass ihre Eltern Unrecht haben, da sie immer nur an sich denken würden. Sie sagt, alles sei ein großes Missverständnis, aber dass sie dennoch heiraten werde und hoffe, dass ihre Eltern letztendlich ihre Fehler einsehen, ohne dass sie selbst ihnen diese vor Augen führen müsse. Der Grad der Betroffenheit Daisys ist daran zu ermessen, dass sie während des Interviews mehrmals mit den Tränen 4

Gemeint ist mit dieser typisch chinesischen Redewendung der erste Schritt zum Erwachsenwerden, verbunden mit dem Beginn des Berufslebens.

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kämpft. Daisy ist sehr individualistisch, sie hat ihre festen Vorstellungen, was ihre berufliche Zukunft angeht und weiß sich und ihre Fähigkeiten sehr gut einzuschätzen. Zudem reflektiert sie ihre Situation sehr genau und spielt alle möglichen Zukunftsszenarien für sich durch. Doch im Grunde scheint sie sich zum Zeitpunkt des Interviews schon in ihre Opferrolle gefügt zu haben. Drei Tage später löst sie jedoch ihre Verlobung, bricht mit den Eltern und kehrt zu ihrer ersten großen Liebe zurück. Sie hat sich entgegen alle auferlegten Konventionen gegen das traditionelle Elternhaus und die arrangierte Ehe entschieden und für die Liebe, von der sie erst jetzt erkenne, was alles mit diesem Wort zusammenhängt (Daisy S. 225). Um zu der Graphik des Beeinflussungsmodells zurückzukommen: Daisy hat sich für das Individuum und gegen den Balanceakt zuungunsten der familiären und statusbezogenen Verbindung entschieden. Auch wenn das Interview als Tropfen gesehen werden kann, der das Fass voller Argumente gegen eine Vernunftehe zum Überlaufen brachte, ist es doch auch ein Bestandteil des ecdynamischen Raumes, in dem so ein Austausch erst möglich werden konnte. (Vgl. IV.13. S. 108-110) Die Altersgruppe der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, aus denen die Interviewpartner zusammengesetzt sind, stellt knapp ein Viertel der Shanghaier Gesamtbevölkerung. Zwanzig Prozent sind älter als sechzig Jahre und ca. 45 Prozent zwischen 35 und 59 Jahren alt.5 Abbildung 19: Überblick über die Altersgruppen in Shanghai 2005.

12,5%

0%

23,5%

20%

44,7%

40%

60%

19,3%

80%

100%

jünger als 17 Jahre 18-34 Jahre 35-59 Jahre älter als 60 Jähre

Gesamtbevölkerung Shanghais

Die Graphik veranschaulicht, wie groß der Anteil der älteren Generationen in Shanghai ist und wie entsprechend einflussreich und präsent damit die traditionellen Einstellungen sein dürften. Vor diesem Hintergrund werden die Aussagen der Befragten verständlich, wenn sie erzählen, man könne nicht in einem Vakuum leben (Connie Peng S. 208), oder dass man davon abhinge, wie die öffentliche Meinung sei (Wang Xin S. 5

Shanghai Statistical Yearbook 2006.

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SCHLUSSBETRACHTUNG

209). Sogar die moralische Grundhaltung, dass man alles tun könne, was die Mitmenschen akzeptieren (Li Yuwen S. 288), zeigt die Abhängigkeit des Einzelnen von der Meinung der ihn/sie umgebenden Menschen. So durchziehen auch Verbindlichkeiten gegenüber der Gesellschaft, und nicht nur den Eltern gegenüber, weitestgehend die privaten Lebensbereiche der jungen Interviewteilnehmer: Gerade in Fragen von Liebe, Heirat und Sexualität, die gesellschaftlich recht traditionell festgeschrieben werden, werden kaum Sonderwege beschritten, denn schließlich sei man in China. Hier etwas Unkonventionelles zu machen, ohne sich um die Meinung der anderen zu kümmern, sei sehr schwierig (Cai Zhihong S. 217). In diesem Kontext findet sich in den Köpfen der Beteiligten denn auch eine genaue Vorstellung der Lebensplanung: Bis zum Alter von etwa 30 Jahren soll eine feste Grundlage geschaffen sein, sprich ein stabiler Arbeitsplatz gefunden, nicht unerhebliche Ansparungen gemacht und ein Ehepartner gefunden sein. Durchgängig wird die Meinung vertreten, dass erst die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen müssten, bevor eine Heirat in Frage käme. Lediglich eine Ausnahme findet sich in Peng Yongyang. Der 21jährige ist schon verheiratet, für sein Alter sehr, sehr früh. Er gibt zu, dass seine früheren Vorstellungen eigentlich in die Richtung gingen, zunächst ein eigenes Unternehmen zu haben und erst dann zu heiraten. Auch kann er keine genaue Begründung für seine Entscheidung nennen. Er sagt, dass er damals benommen gewesen sei und dann auf einmal heiraten wollte (Peng Yongyang S. 210f.). Momentan arbeiten Peng Yongyang und seine Ehefrau in unterschiedlichen Zwölf-Stunden-Schichten und sehen sich deshalb kaum. Sie würden derzeit nur zusammen wohnen. In seinem Fall scheint das Eheleben aufgrund der noch nicht gefestigten finanziellen Basis tatsächlich in den Hintergrund zu rücken und, mit den Worten Lan Qians, für die zwei Eheleute bitter zu sein (Lan Qian S. 213). Jedoch betont Peng Yongyang mit, nach eigener Beschreibung, sehr, sehr lauter Stimme, dass er es nicht bereue, weil er seine Frau liebe (Peng Yongyang S. 211). Gefühle und Liebe benennen alle Interviewten ebenso wie finanzielle Absicherung als elementar wichtig für eine Heirat, wobei in einigen Fällen nicht explizit von Liebe gesprochen wird, statt dessen aber von gefestigten Gefühlen. So würde charakterliche Ähnlichkeit für ein Sicherheitsgefühl sorgen (Qiuqiu S. 194, Marie S. 204). Wieder kann hier auch Daisys Beispiel herangezogen werden, die letztendlich finanzielle Sicherheit, Eigentumswohnung und Statusheirat gegen Liebe eintauscht, indem sie sich von dem ungeliebten Verlobten lossagt und zu ihrem Exfreund zurückkehrt.

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Relativiert werden Ansprüche an Liebe und Ideale mit fortschreitendem Alter lediger weiblicher Interviewpartnerinnen. Die 29jährige Connie Peng gibt sich desillusioniert, was ihre Anspruchsmöglichkeiten an einen Mann angeht, da sie schon nicht mehr wirklich etwas erhoffen könne (Connie Peng S. 207). Melissa Liao, 28 Jahre alt, sagt deutlich, dass hoch gebildete Frauen, die bis 28 keinen Mann finden, es auf dem Heiratsmarkt sehr schwer hätten, da alle akzeptablen Männer schon vergeben wären. Für viele blieben größtenteils nur noch Überseechinesen oder Ausländer übrig, die ihnen etwas bieten könnten. Wang Shuhua, 29, und Lan Qian, 27, meinen ebenfalls, ihre Ansprüche schon herunter geschraubt zu haben (Wang Shuhua und Lan Qian S. 212). Daisy ist nach der Auflösung ihrer Verlobung aufgrund der Tatsache unruhig, dass ihr Freund sich von ihr distanziert und mittlerweile Lebensziele verfolgt, die sie nicht mit einbeziehen. Sie sieht sich mit 27 Jahren als erfolgreicher weiblicher Shanghaier Single viel versprechender Heiratschancen beraubt und begründet ihre Nervosität mit ihrer biologischen Uhr: Sie wolle binnen zweier Jahre ein Kind bekommen. Meng Yingying übernimmt mit 26 Jahren die Initiative, über das Internet potentielle Männerbekanntschaften zu machen und erzählt, dass sie schon einige Male bei einem Treffpunkt versetzt wurde, nachdem wohl festgestellt wurde, dass das Äußere nicht gefällt (Meng Yingying S. 276). Auch Ren Dongqing berichtet, dass seine Freundin Angst habe, nicht geheiratet zu werden und ihn deshalb unter Druck setze (Ren Dongqing S. 195). Diese Schilderungen belegen weitere Aspekte vorhandenen Druckes im ecdynamischen Raum: Vorwiegend bei den Männern Druck des beruflichen Erfolges, Druck, eine Eigentumswohnung erwerben zu können, bevor eine Heirat überhaupt in Frage kommt und die Verantwortung für eine Familie übernommen werden kann. Bei den Frauen besteht schließlich die Notwendigkeit, einen Ehemann zu finden, bevor sie als alte Jungfer abgestempelt würden (Meng Yingying S. 198). Dieser Druck wird wieder vorwiegend durch Eltern und Gesellschaft generiert: Durch tradierte Vorstellungen, die nicht einfach ignoriert werden können, und starke Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung. Vor allem in Hinsicht auf voreheliches Zusammenziehen stellt die Inakzeptanz der Älteren ein Problem für anders als in den herkömmlichen Bahnen denkende junge Leute dar. In dieser Hinsicht zeigt sich, dass Waidiren weitaus weniger Schwierigkeiten mit einem vorehelichen Zusammenziehen und der Meinung anderer haben als die im sozialen Shanghaier Netz eingebundenen Shanghairen. Beispielsweise befürchten Shanghaier Frauen, dass sich daraus negative Einflüsse auf ihren Ruf ergeben könnten (Connie Peng S. 208).

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An diesem Punkt kann zum Thema Sexualität übergeleitet werden, das in den Augen fast aller Shanghairen an eine Heirat gekoppelt ist. Vorehelicher Geschlechtsverkehr wird nur akzeptiert, wenn die Heirat schon feststeht, denn schließlich gäbe es erst Sicherheit, wenn man die Heiratsurkunde habe (Meng Yingying S. 200f.) oder wenn man davon ausgehen könne, dass keine unvorhergesehenen Dinge passieren (Zhao Jing S. 234). Waidiren sehen vorehelichen Geschlechtsverkehr eher als etwas Normales an, als, wie Cai Zhihong es formuliert, weit verbreitetes Verhalten, das nicht publik gemacht wird (Cai Zhihong S. 238f.). In Bezug auf Heirat ist die einheitliche Artikulierung traditioneller Genderrollen bei der Beschreibung des Partners interessant. So finden sich aus männlicher Perspektive folgende Attribute für die perfekte Ehefrau: Sie soll pflichtbewusst, treu, aufrichtig und verständnisvoll sein, den Eltern gefallen und sie ehren, einen milden Charakter haben und nicht zickig sein, dabei möglichst eine feste Arbeit haben und Verantwortung für eine Familie übernehmen können. Aus der Sicht der Frauen sollte der Ehemann ein guter Mensch mit hohem moralischem Charakter sein, mit hoher Bildung und reinen Gefühlen gegenüber der Frau. Zudem werden Ansprüche an das Alter und die Größe gestellt, ein bis drei Jahre älter und größer als die Frau sollte er sein. Liu Songwei fasst eine einfache grundsätzliche Problematik zusammen: Ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld kein Leben (Liu Songwei S. 214f.). Diese Einsicht kann ebenso auf die geschilderten Heiratsvoraussetzungen übertragen werden, wie auf viele andere Bereiche des alltäglichen Lebens. Zumindest braucht es im ecdynamischen Raum mehr Geld als an anderen Orten, da die Lebenshaltungskosten hier höher sind. Zudem weckt Shanghai mit seinem überbordenden Angebot an Allem das Bedürfnis, daran teilhaben zu können. Laut Connie Peng ist der Materialismus Shanghais groß und es sei schwierig, sich dem zu entziehen, da der Lebensraum einfach so sei (Connie Peng S. 137). Damit einher gehe ein Pragmatismus, der sich sehr an der Realität orientiere (Ma Yan S. 137f.). Besonders den Shanghaier Frauen wird dies nachgesagt. So würden sie sich besonders gut dem ecdynamischen Raum anpassen, sie hätten gelernt, einen Weg zu finden, mit der Umgebung zurecht zu kommen (Zhu Miaomiao und Cai Zhihong S. 140). Die Stereotypisierungen zu Shanghaier Frauen tendieren eindeutig zu negativen Charakteristika (vgl. u.a. S. 136-142). Beschreibungen wie, sie seien kindisch, modebewusst, freizügig, eigennützig, geldgierig, pragmatisch, berechnend, arrogant, verwöhnt, scharfsinnig bestimmen das Bild. Einzig Ye Yiqun wendet all diese negativen Stereotype ins Positive und erkennt damit möglicherweise die tatsächliche Situation der

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Shanghaier Frauen. Er sagt: Sie emanzipieren sich gerade selbst (Ye Yiqun S. 140). Umgekehrt deuten die stereotypen Ansichten zu den Shanghaier Männern ebenfalls auf eine starke Position der Shanghaier Frauen hin, denn sie besagen, dass sie besonders gut bei der Hausarbeit wären, zum Hausmann neigten und eine starke Familienaffinität besäßen. So meint Ren Dongqing, dass eine Familie gemeinsam aufgebaut werde, und dass man sich alle Aufgaben teilen müsse (Ren Dongqing S. 142). Obwohl Frauen in China nominell und verfassungsmäßig schon seit langem den Männern gleichgestellt sind, streben sie nach Gleichberechtigung, wie aus den zusammengestellten Diskursen hervorgeht. Insbesondere in der Berufswelt sind sie benachteiligter als Männer. Bei einigen Interviewpartnerinnen äußert sich deutlicher Unmut über diese Situation. So berichtet Wendy Ding, dass es für sie schwierig sei, als Ingenieurin in einer Männerdomäne Arbeit zu finden, da viele Leute denken, dass Frauen nicht in diesen Job passen würden (Wendy Ding S. 261). Viele Firmen seien nicht bereit, weibliches Personal einzustellen (Li Yuwen S. 280). Wendy Ding erwähnt weiterhin, dass viele danweis keine jungen Frauen einstellen wollen würden, da sie jederzeit eine Lösung für schwangere Frauen finden müssten, was gesetzlich vorgeschrieben sei (Wendy Ding S. 262). Zudem wird gefordert, dass gleiche Leistungen gleich bezahlt werden (Li Yuwen S. 281). In Anbetracht des vorhandenen Bewusstseins von geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeiten, kann angenommen werden, dass der ecdynamische Raum weibliche Emanzipation und daran gebundene Argumentationsmuster zulässt und sogar motivierende Funktion in Bezug auf Gleichberechtigungsforderungen übernimmt. Der homosexuelle Sam Zhang hat sich schon vor längerer Zeit, nämlich nach Beendigung seines Studiums in Nanjing und mit dem Beginn des Berufslebens in Shanghai vor zwei Jahren emanzipiert. In seinem Fall bedeutet das, dass er sich ganz klar zu einem Leben als Homosexueller bekennt und entsprechend in Shanghais homosexueller Community verkehrt. Allerdings geht diese Emanzipation nicht so weit, seinen Eltern von seiner sexuellen Orientierung zu erzählen. Trotzdem scheint er deswegen keinerlei Konflikte mit sich auszutragen. Die Auseinandersetzung mit seiner „Andersheit“ begann auf der Unterstufe der Mittelschule und er beschreibt diese Entdeckung als sehr beängstigend (Sam Zhang S. 241). Damit ist er mittlerweile durch einen langen Reflexionsprozess gegangen und scheint mit seiner zweijährigen Zugehörigkeit zur homosexuellen Community keinerlei gesellschaftliche Probleme zu haben. Er hat innerhalb der Gesellschaft seine Nische gefunden, innerhalb derer er sich frei fühlen kann.

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Der ecdynamische Raum bietet durch seine Größe, Toleranz, Aufnahmefähigkeit und Anonymität, wie viele beschreiben, etliche Möglichkeiten zur Selbstentfaltung, vorausgesetzt, diese Möglichkeiten werden auch genutzt. So lebt Sam Zhang in einer Gemeinschaft recht offen und frei, die von der übrigen Gesellschaft überwiegend als tabu ignoriert oder abgelehnt wird. Dabei zeichnet sich innerhalb der Interviews doch deutlich ab, dass die jüngere Generation mit Homosexualität schon weitaus weniger Probleme hat, als die Älteren, auch wenn einige es nur schwer akzeptabel finden (Xu Hongwei S. 245, Peng Yongyang S. 247f., Jimmy Yang S. 248). Noch etwas fällt auf: Sam Zhang spricht bei Homosexualität nicht von Liebe, sondern von triebhaftem Sexualleben (S. 240), während die zur Homosexualität Befragten von Liebe und Gefühlen reden. Ob bei ihnen Homosexualität mangels eigener sexueller Erfahrungen als nichtkörperlich betrachtet wird und daher eher auf Akzeptanz trifft, kann vermutet werden. Wissen über Homosexualität kann mittlerweile über öffentlich herausgegebene Magazine, Mangas und so genannte danmei-Romane6 erlangt werden, nachdem 1997 Homosexualität offiziell entkriminalisiert wurde und im Jahr 2001 Chinas Psychatrische Vereinigung Homosexualität aus ihrem „Handbuch der Geisteskrankheiten“ strich.7 Dies sind zumindest Indizien für eine allmählich einsetzende Gewöhnung an Erscheinungen, die während der Ära Mao geächtet, verfolgt und öffentlicher Demütigung ausgesetzt wurden. Momentan befindet sich die junge Generation in einer Phase der Veränderungen und des Umdenkens und bekommt aufgrund der Rasanz dieser Prozesse nicht die Möglichkeiten, nachzudenken, wie Wang Jun bemerkt. Wenn die Entwicklung zu schnell vorangeht, dann habe man das Gefühl, etwas zu verlieren, und das wieder zu bekommen sei sehr schwierig (Wang Jun S. 281). Andererseits wirft Wendy Ding ein, dass die Entwicklung in Bezug auf Fremdes so langsam sei, weil Probleme immer nur auf ein und dieselbe Art angegangen würden und unterschiedliche Meinungen nicht akzeptiert würden (Wendy Ding S. 282). Wang Jun kann dagegen wieder angeführt werden, der sagt, damit die Menschen etwas akzeptieren können, bräuchte es einen Prozess. Wenn die Entwicklung zu schnell sei, funktioniere das nicht (Wang Jun S. 281).

6 7

Siehe Fußnote 7, S. 245. GEO Special Nr. 4 Aug./Sept. 2003, S. 38.

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Diese widersprüchlichen und doch verständlichen Aussagen beschreiben im Grunde das Dilemma, in dem sich die befragte Gruppe befindet: Auf der einen Seite zieht die massive Globalisierung einen langen Schwanz an Veränderungen hinter sich her, mit einer Schnelligkeit, die für die betroffene Gesellschaft kaum, wenn überhaupt, fassbar ist. Auf der anderen Seite stehen Menschen und ein System, die zu träge sind, um mit dem Tempo mitzuhalten und immer, so scheint es, den Neuerungen mit teilweise extrem verzögerter Reaktionszeit hinterher hetzen. Die Älteren bleiben dabei noch ein deutliches Stück hinter den Jungen zurück, da sie es sich, häufig schon im Rentenalter oder kurz davor, erlauben können, vorwiegend in ihren traditionell gewobenen Kokons weiter zu leben. Ihre Kinder hingegen werden gezwungen, immer schneller immer weiter dem Wandlungs-, Neuerungs- und damit auch Enttraditionalisierungsprozess zu folgen, wenn sie im ecdynamischen Raum erfolgreich sein und nicht den Anschluss verlieren wollen. Letztendlich waren es die Eltern, die ihren Kindern von kleinauf beigebracht haben, erfolgreich zu sein, zu streben und ihr Bestes zu geben. Im Klima der Konkurrenz werden dabei Egoismus und Individualismus gefordert und gefördert. Hieraus erwachsen nun Unsicherheiten, da die erlernten Werte und das Erstrebenswerte miteinander zu kollidieren drohen. Wahrscheinlich sind dies entscheidende Gründe dafür, warum Konstanten für die jungen Leute in Shanghai eine gewichtige Rolle spielen. Freundschaften beispielsweise wird großer Wert beigemessen. Fast jeder der Interviewpartner hat einen bis einige wenige beste Freunde, und zwar meist seit der Schulzeit. Diese Beziehungen werden als rein und aufrichtig charakterisiert und zeichnen sich dadurch aus, nicht auf gegenseitigen Nutzen ausgerichtet zu sein, sondern nur um der Freundschaft selbst zu bestehen. Die Definitionen von wirklicher Freundschaft sind sehr genau und grenzen davon ganz klar berufliche Freundschaften und solche ab, bei denen man sich nur zusammen amüsieren ginge (Xu Hongwei S. 275, Connie Peng S. 275, Jin Jing S. 269f.). Zhao Jing klingt desillusioniert, wenn sie feststellt, dass es nichts Reines mehr zwischen den Menschen gebe, nur noch unter Kommilitonen oder zwischen Freunden, die miteinander aufgewachsen sind. Wenn man angefangen habe zu arbeiten, seien das keine rein freundschaftlichen Beziehungen mehr und man müsse sich genau überlegen, was du ihm heute sagst, damit er es nicht morgen gegen dich verwenden kann. (Zhao Jing S. 281) Hier spiegelt sich wieder der Konkurrenzkampf im Berufsleben wider, wo Egoismus und eigenem Weiterkommen oberste Priorität eingeräumt zu werden scheint.

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In dieser Atmosphäre kommt Freunden die Funktion eines Hortes der Verlässlichkeit und der Stabilität zu. Stabilität, die, wie schon festgestellt wurde, die Familie nicht mehr erfolgreich zu gewährleisten imstande ist. Ein weiterer Hort und Rückzugsort ist die eigene Wohnung oder das jeweilige Zuhause. Die Tatsache, dass die meisten Befragten ihre Freizeit zu Hause oder an ruhigen Orten verbringen, lesend oder fern sehend, zeigt einmal mehr, dass das Leben im ecdynamischen Raum als anstrengend empfunden und daheim Erholung gesucht wird, die der ecdynamische Raum nicht bieten kann. Deshalb kommt es zu den polaren Innen/nei-außen/wai-Lebenswelten, die teilweise vollkommen voneinander getrennt werden. Schlussbetrachtend kann zusammengefasst werden, dass Shanghai als ecdynamischer Raum die allumfassende Einheit darstellt, die das Leben der jungen Interviewpartner maßgeblich beeinflusst. Damit wirkt er ebenso identitätsstiftend als auch identitätsverunsichernd. Das Individuum sieht sich alltäglich mit diesem Raum konfrontiert, agiert und orientiert sich innerhalb seiner Grenzen und wird damit zu einem Teil einer äußerst komplexen, diffusen und anspruchsvollen Sozialwelt, in der es sich permanent mit anderen Individuen auseinandersetzt. Die Beziehungen zu Umwelt und Sozialwelt sind wesentlich identitätsstiftend. Auf diese Weise wird der ecdynamische Raum Teil der eigenen Identität und ist entscheidend für die jeweilige Existenz, als Arbeitsraum, Wohnraum, Freizeitraum. Nicht nur die Inhalte der Interviews selbst, sondern auch die Modi der Erzählstrukturen lassen Rückschlüsse auf eigene Identitätszuschreibungen zu. So finden sich vorwiegend individuell subjektive Aussagen zu persönlichen Situationen, Erlebnissen und Erfahrungen und direkte kollektiv subjektive Äußerungen, die gruppenaffirmativen oder gruppenabgrenzenden Charakter besitzen.8 Vorwiegend sind dies die Distinktionen in Shanghairen und Waidiren sowie in junge Generation und ältere Generationen. Aber auch innerhalb der einzelnen Gruppen gibt es Aspekte der Identifikation und Distinktion, was vor allem bei Charakterbeschreibungen deutlich zutage tritt. Interessanterweise werden zumeist die beschriebenen negativen Eigenschaften zwar Personen der eigenen Gruppe zugeordnet, der Erzähler/die Erzählerin dann aber über persona8

Augé 1995, S.92: „Identität vereint individuelle wie unterschiedliche kollektive Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Jegliche kollektive Identität definiert sich zuerst im Gegensatz zum anderen, so wie sich jede individuelle Identität […] über die Beziehung zum anderen bestimmt“.

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le Emanzipation 9 von diesen Zuschreibungen ausgeschlossen. 10 Woher die Nichtinbezugsetzungen zu den Erzählern herrühren, kann in dieser Arbeit nicht geklärt werden, jedoch ist es wahrscheinlich, dass neben nicht affektiver Betroffenheit auch kulturell geprägte und milieubedingte Distinktionen eine Rolle spielen. Ebenso kann es daran liegen, dass Fragestellungen als peinlich empfunden werden oder dass Äußerungen nicht auf eigenen Erfahrungen basieren, sondern auf Hörensagen oder tradierten Stereotypisierungen. Festgehalten werden kann jedoch, dass klare Identifikationen mit und Distinktionen von Gruppen artikuliert werden und damit die Hypothesen bestätigen. Insbesondere die Gruppe der Shanghairen zeichnet sich durch eine starke kollektive Identität aus. Deren Besonderheiten und Tugenden werden sowohl von ihnen selbst als auch von den Waidiren stets betont, was darauf hinweist, dass sie innerhalb Chinas eine gewissen Ruf erlangt haben, wobei sowohl positive als auch negative Charakteristika diesen Ruf ausmachen. Dahingegen bleiben die Waidiren in Shanghai stets Waidiren. Ein Hunanren11 verortet seine Wurzeln stets in Hunan, auch wenn er schon lange Zeit in Shanghai verweilt und dort seinen Lebensmittelpunkt hat. Ein, nach eigenen Worten, Neuer Shanghairen wie Cai Zhihong grenzt sich auch weiterhin von den Shanghairen ab und sagt, dass sie diese nicht besonders möge (Cai Zhihong S. 133). Was insgesamt die Beziehungen zwischen Shanghairen und Waidiren auszeichnet, ist weitestgehende Ignoranz und Beschränkung der gegenseitigen Interaktionen auf ein Maß des Notwendigen. Daraus folgernd kann konstatiert werden, dass trotz gemeinsamer Gegenwart und Gestaltung des ecdynamischen Raumes beide Gruppen parallele Existenzen führen. Hier spiegelt sich die Einstellung von Toleranz in den Köpfen wider, die aber immer auch besagt, dass etwas nur toleriert, im wörtlichen Sinne somit nur geduldet und ertragen, und nicht integriert wird. Diese Einstellung wird gelebt und mündet daher nur in Koexistenz. 9

Hermann Schmitz schreibt hierzu: „Der Neutralisierung von Bedeutungen in personaler Emanzipation muß sie [die Person] eine Resubjektivierung, eine Aneignung von Bedeutungen an das affektive Betroffensein, entgegensetzen, um den Faden ihres Selbstbewusstseins nicht zu verlieren.“ Auf diese Weise nimmt die personale Emanzipation Abstand, neutralisiert Bedeutungen und setzt die Grenze zwischen dem Eigenen und Fremden. Vgl. Schmitz 2005, S.95. 10 Vgl. u.a. Lu Jingjing und Qiuqiu S. 130f., Daisy Ding S. 131f. und 139, Vicky Cao S. 136, Marie Chen S. 136f., Connie Peng S. 137, Ma Yan S. 137f., Cai Zhihong S. 133ff. 11 Wörtlich: eine Person aus der Provinz Hunan.

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SCHLUSSBETRACHTUNG

Auf die Wahrnehmung des ecdynamischen Raumes haben die unterschiedlichen Integrationsstadien der Shanghairen und Waidiren keinen eklatanten Einfluss. So findet sich das positive Stadtimage als international, vital, jung, fortschrittlich, wohlhabend, flexibel und besser als andere auf die eigene Identität projiziert oder zumindest als Leitziel für die eigene Persönlichkeit, um in Shanghai erfolgreich sein zu können, wieder. Aber auch die Nachteile des ecdynamischen Raumes, die als identitätsverunsichernde Momente wirken, werden beschrieben: Existenzielle Unsicherheit, Orientierungslosigkeit, Zwang der Anpassung und Konkurrenz nennen vorwiegend die Waidiren, während Shanghairen monieren, dass es in Shanghai nichts Eigenes gäbe, dass Shanghai keine Substanz hätte und sie sich dadurch verloren fühlen würden. Mit dieser neuen Generation, so einige Vertreter aus Sozial- und Kulturwissenschaften12, würde sich eine Gesellschaft herausbilden, bei der eine so genannte „moralische Anomie“13 in den Vordergrund rücke, die jeglicher moralischer Standards entbehre. Die in dieser Studie erlangten Einsichten weisen darauf hin, dass diese Behauptungen zumindest für die befragten Personen keineswegs zutreffen. Im Gegenteil sind bei fast allen klare Ansichten über Werte und Normen präsent und sie werden mehr oder weniger differenziert vorgetragen. Dabei fällt auf, dass erstaunliche Übereinstimmungen in Bezug auf das, was richtig ist und was falsch, bestehen. Die hauptsächlichen Grundwerte sind die der kindlichen Pietät gegenüber den Eltern, der Goldenen Regel14 und des Wegs der Mitte15. 12 Vgl. Atteslander 1995, S.295-308. Atteslander/Gransow/Western 2000. 13 In die Soziologie wurde der Begriff Anomie von Emile Durkheim eingeführt und bezeichnet bei ihm einerseits das Schwinden von Solidarität, sozialen Beziehungen und Abhängigkeiten in einer Gesellschaft (Vgl. Durkheim 1977), andererseits einen Zustand der Angst und Unzufriedenheit, der sogar in Selbstmord enden könne (Vgl. Durkheim 1973). Robert Merton legt den Begriff so aus, dass bestimmte Werte und Normen in einer Gesellschaft durchgesetzt werden sollen, die Mittel dafür aber nicht ausreichten (Vgl. Merton 1967, S.131-160). Im Zuge vermehrter Forschungen, die sich mit Globalisierungsprozessen auseinandersetzen und Anomie auf Zustände beziehen, die sich durch rasanten Strukturwandel auszeichnen (Vgl. Atteslander 1995, 2000, Western 1995, Gern 1995), kann von keiner allgemeinen Definition mehr gesprochen werden, sondern eher von einem Nebeneinander mehrerer Auslegungen des AnomieBegriffs. 14 Die Goldene Regel besagt vereinfacht: Was du nicht willst, dass dir zugefügt werde, das füge auch selbst niemandem zu. (Vgl. ausführlich in Roetz 1995, S. 70-79.) 15 Vgl. Fußnote 20, S. 78.

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Diese moralischen Grundhaltungen würden vorwiegend im Elternhaus beigebracht, wie einmütig geäußert wird. Die Schule sei die zweite Instanz, die das Erlernen von Richtig und Falsch fördere. Nur Gesellschaft schließlich sei es, die als letzte Instanz einige Grundwerte obsolet werden ließe bzw. sie in Frage stelle (Vicky Cao S. 287, Marie Chen S. 287f.), das Individuum selbst aber grundsätzlich nicht. Legt man den Anomie-Begriff indes nur soweit aus, dass er die Auflösung von sozialen und kulturellen Werten aufgrund eines rasanten sozialen Wandels beschreibt, der zu Orientierungs- und Verhaltensunsicherheit führt, und nicht zwangsläufig mit moralischer Entwertung einhergeht, trifft er vollkommen auf die heutige Generation der Zwanzigbis Dreißigjährigen zu. Abschließend kann festgehalten werden, dass die erste, in der Zeit der Reform und Öffnung aufgewachsene Generation, eine hybride ist. Hybrid deshalb, weil sich ihre „Eltern“ in mehreren „erblichen Merkmalen“ erheblich voneinander unterscheiden. Der eine Elternteil ist der leibliche, das Traditionelle repräsentierend, der andere der ecdynamische Raum Shanghai, Ausdruck des Modernen. Beide Elternteile fordern ihre „Kinder“ und stellen Ansprüche, sodass diese sich, wie aus den Darlegungen klar hervorgeht, in einer zerrissenen Position zwischen beiden befinden. Sie entnehmen sich aber auch aktiv aus beiden Polaritäten unterschiedliche Verhaltensmodelle, Wahrnehmungsmuster, Werte und Normen und synthetisieren diese zu einem Lebensstil, der sich ihrer dichotomen Lebenswelt, wo Ecdynamik und Traditionalität den Überbau bilden, erstaunlich gut anpasst. Ergebnis dieser Gratwanderung zwischen beiden Polen, zwischen Anpassung und Entfremdung, Abhängigkeit und eigener Lebensplanung und zwischen multiplen Rollenerwartungen, sind zwar omnipräsenter Druck, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Auch fordert die Schnelligkeit des Wandels eine besinnungslose Reaktions- und Anpassungsgeschwindigkeit, aber die Anforderungen, denen die jungen Leute ausgesetzt sind, werden vermehrt registriert und reflektiert. Und so sind die Bewusstmachung der eigenen Person und Situation im ecdynamischen Raum der erste Schritt dahin, die Ecdynamik zu einem Teil der eigenen Identität werden zu lassen und sich damit ebenso wie der ecdynamische Raum einem Häutungsprozess zu unterziehen, aus dem sie anpassungsfähiger und gefestigter hervorgehen.

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An ha ng

Ü b e r s i c h t ü b e r d a s c h i n e s i s c h e S c h u l s ys t e m Abbildung 20: Übersicht über das Schulsystem der Volksrepublik China

allgemeine Schulpflicht 9 Jahre

Grundschule ՛䝤 xiaoxue 6 Jahre

7.-13. Lebensjahr

Unterstufe der Mittelschule ॣխ chuzhong 3 Jahre

13.-15. Lebensjahr

Abschlussprüfung Berufsfach-schule 侴䢓䝤ீ zhiyexuexiao 2-4 Jahre

Oberstufe der Mittelschule ೏խgaozhong 3 Jahre

Fachoberschule ೏伀䢑ઝ gaojizhuanke 2-4 Jahre

Hochschulaufnahmeprüfung ೏‫ ە‬gaokao

Berufsleben

Universität Օ䝤 daxue 4 Jahre

Fachhochschule ೏࿛䢑ઝ Gaodengzhuanke 2-3 Jahre

Berufsleben

Möglichkeit zur Fortsetzung des Studiums ઔߒ‫ س‬yanjiusheng (M.A.) ໑Փ‫ س‬boshisheng (PhD)

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Ab b i l d u n g s v e r z e i c h n i s Abbildung 1: Die ausländischen Konzessionen 1920 Abbildung 2: Manifestationen des Wandels. Aufnahmen verschiedener Orte in Pudong früher und heute im Vergleich. Abbildung 3: Stadtteile Shanghais Abbildung 4: Satellitenaufnahmen Shanghais Abbildung 5: Ausgewählte Beispiele von extremer Vertikalität. Abbildung 6: Beispiele für das Nebeneinander von Alt und Neu Abbildung 7: Hochkreuzung Yan’an dong lu Abbildung 8: Beispiele für Begrünung im Innenstadtbereich Abbildung 9: Lilong alten Stils in Shanghai Abbildung 10: Abrissflächen in der Südstadt Abbildung 11: Dichotomie-Modell zur Erfassung des ecdynamischen Raumes und seiner Bewohner Abbildung 12: Zentrum-Peripherie-Grobsegmentierung Shanghais Abbildung 13: Multizentralismus, Konsumachsen und Fließräume Abbildung 14: Karte der Shanghaier Metrolinien Abbildung 15: A Mosaic of Mores in New Shanghai. Abbildung 16: Wahrnehmungs-Modell Abbildung 17: Die Herkunftsprovinzen der Interviewteilnehmer Abbildung 18: Beeinflussungsmodell ecdynamischer Raum versus Elterngeneration Abbildung 19: Überblick über die Altersgruppen in Shanghai 2004. Abbildung 20: Übersicht über das Schulsystem der VR China

17 29 30 31 32 33 34 35 42 42 53 55 57 58 69 73 94 312 315 323

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten Shanghais zwischen 1991 und 2004 (in Prozent) Tabelle 2: Strukturwandel der Shanghaier Wirtschaft (Anteile in Prozennt) Tabelle 3: Übersicht Schulbildung im Verhältnis zu Beruf und Einkommen. Tabelle 4: Jeweilige Einflüsse auf die unterschiedlichen Generationen und damit prägende Merkmale.

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26 27 250 311

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Doris Agotai Architekturen in Zelluloid Der filmische Blick auf den Raum März 2007, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-623-6

Sonia Schoon Shanghai XXL Alltag und Identitätsfindung im Spannungsfeld extremer Urbanisierung

Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City

April 2007, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-645-8

März 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-612-0

Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik

Björn Bollhöfer Geographien des Fernsehens Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken

April 2007, 328 Seiten, kart., 19,90 €, ISBN: 978-3-89942-676-2

Februar 2007, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-621-2

Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung

Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity

April 2007, 403 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-622-9

Februar 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-614-4

Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin

Jutta Zaremba New York und Tokio in der Medienkunst Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung

April 2007, 330 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-679-3

2006, 236 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-591-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Urban Studies Andrej Holm Die Restrukturierung des Raumes Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin: Interessen und Machtverhältnisse 2006, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-521-5

Helmuth Berking, Sybille Frank, Lars Frers, Martina Löw, Lars Meier, Silke Steets, Sergej Stoetzer (eds.) Negotiating Urban Conflicts Interaction, Space and Control 2006, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-463-8

Martin Heller, Lutz Liffers, Ulrike Osten Bremer Weltspiel Stadt und Kultur. Ein Modell 2006, 248 Seiten, gebunden, durchgängig farbig mit zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-485-0

Georg Glasze, Robert Pütz, Manfred Rolfes (Hg.) Diskurs – Stadt – Kriminalität Städtische (Un-)Sicherheiten aus der Perspektive von Stadtforschung und Kritischer Kriminalgeographie 2005, 326 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-408-9

Nicole Grothe InnenStadtAktion – Kunst oder Politik? Künstlerische Praxis in der neoliberalen Stadt 2005, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-413-3

Franziska Puhan-Schulz Museen und Stadtimagebildung Amsterdam – Frankfurt/Main – Prag. Ein Vergleich 2005, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-360-0

Angela Schwarz (Hg.) Der Park in der Metropole Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert 2005, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-306-8

Uwe Lewitzky Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität 2005, 138 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-285-6

Frank Eckardt Soziologie der Stadt 2004, 132 Seiten, kart., 12,00 €, ISBN: 978-3-89942-145-3

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